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Wie deutsch ist die deutsche Literatur?

Anmerkungen zur Interkulturellen Germanistik in Germersheim


(8. Dezember 1994)1

Im Februar 1991 veröffentlichte Die Zeit ein Stellenangebot der Mainzer Johannes
Gutenberg-Universität. Deren Germersheimer Fachbereich Angewandte Sprach-
wissenschaft suchte einen Universitätsprofessor für „Interkulturelle Germanistik“.
Das war nun ein in den 70er Jahren entdecktes germanistisches Neuland, gegen
das ich zunächst recht ausgeprägte Vorurteile hegte. Nichts als Unverstand und
Spott wird man finden in meiner ersten Publikation, die den Begriff „Interkultu-
relle Germanistik“ enthält, in jener 1988 in fröhlichster Zusammenarbeit mit dem
Slavisten und sehr kundigen Übersetzer Holger Siegel im makedonischen Skopje
entstandenen Satire auf einen bestimmten DaF-Jargon Interkultureller Germanis-
tik, einer Satire mit dem verführerischen Titel „Aspekte transkulturellen kommu-
nikativen Handelns. Zur Dichotomie von Fremdem und Eigenem im tripolaren
Ansatz“.
Deutlich erinnere ich nicht mehr, warum ich also nicht gleich weitergeblättert
habe im Stellenteil der Zeit an jenem Februartag 1991. Denn die Erläuterung der
ausgeschriebenen Professur machte mir die Sache nur noch kurioser. Da hieß es
nämlich, dass der künftige Interkulturelle Germanist – ich lasse die feministischen
Movierungen der Sprechbarkeit zuliebe ausnahmsweise beiseite – sein Fach in
Forschung und Lehre auf drei Gebieten vertreten solle: Sprachwissenschaft, Über-
setzungswissenschaft und Kulturwissenschaft. Diese Reihung mehrerer Diszipli-
nen mag einem alteingesessenen Germersheimer ganz harmlos oder gar charmant
erscheinen, aber als gelernter Germanist reibt man sich da denn doch die Augen:
Für erstens Sprachwissenschaft soll der Mensch zuständig sein (in toto wohl? wo
doch schon überschaubarste Teilbereiche dieses Faches je ansehnliche Forscher-
scharen in Lohn und Arbeit halten), zweitens für Übersetzungswissenschaft (von
deren Vorhandensein viele Germanisten gewiss schon gehört haben, deren
Themen aber doch nur wenige von ihnen zumindest als Randbereich in ihrer For-
schung und Lehre berücksichtigen) und drittens auch noch für eine sog. Kultur-
wissenschaft, die deutlich mehr umfassen dürfte als nur jenen Kulturbereich, mit

1Öffentliche Antrittsvorlesung für die Professur für Interkulturelle Germanistik am Fach-


bereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz, gehalten in Germersheim am 8. Dezember 1994; publiziert in: Jahrbuch Deutsch als
Fremdsprache 21 (1995), S. 37–60.
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 2

dem sich unsereins traditionell befasst – und auch das wieder nur in kleineren bis
kleinsten Ausschnitten: die deutsche Literatur nämlich von den „Merseburger
Zaubersprüchen“ aus der Zeit vor 750 bis zu, sagen wir: Thomas Klings Gedicht-
band Brennstabm von 1991.
Nichts gegen den frischen Wind interdisziplinärer Forschung und Lehre – aber
wurde da nicht doch ein bisschen viel auf einmal verlangt, von den Bewerbern um
die Germersheimer Professur für Interkulturelle Germanistik? „Nur rasch
weiterblättern, das ist unseriös, ist Anstiftung zu Hochstapelei“, mag meine Reak-
tion gewesen sein, aber dann folgten da noch drei weitere Sätze in der Ausschrei-
bung, und die klangen so: „Als Leiter des Germanistischen Instituts betreut er
insbesondere die Ausbildung der nichtdeutschsprachigen Studierenden im Fach
Deutsch in den Studiengängen Diplom-Übersetzer und Diplom-Dolmetscher […]
Gefordert werden […] gründliche Kenntnisse in zwei Fremdsprachen sowie inter-
nationale Erfahrung; erwünscht ist eine Zusatzqualifikation in Nordistik.“
Es ging also gar nicht um ein Studium des Faches Germanistik, wie ich es vor
15 Jahren an der Kölner Universität selbst kennen gelernt hatte, nicht um einen
Magister-Studiengang und auch nicht um die Ausbildung künftiger Deutsch-
Lehrer für die Sekundarstufe II. Ferner ging es nicht um jenes Fach „Deutsch als
Fremdsprache“, in dem deutsche Studenten vorbereitet werden z. B. auf Aufgaben
als künftige Sprachlehrer oder Lektoren im Ausland. Die Rede war vielmehr von
einem Studium des Übersetzens und Dolmetschens und zudem von der Aus-
bildung „nichtdeutschsprachiger Studierender“.
Von so etwas hatte ich bisher nichts gehört und auch in den Publikationen der
Interkulturellen Germanistik bzw. des Faches Deutsch als Fremdsprache nichts
gelesen: dass da an einem Institut der Johannes Gutenberg-Universität ausländi-
sche Studenten zu Übersetzern und Dolmetschern ausgebildet werden, und zwar
mit Deutsch als Hauptfach. Die Konstruktion allerdings leuchtete mir unmittelbar
ein. Denn wo sonst als an einer deutschen Universität sollen Ausländer so umfas-
send mit deutscher Sprache und Kultur vertraut werden, dass sie künftig als
Sprach- und Kulturmittler, als Übersetzer eben und Dolmetscher, kompetent und
erfolgreich arbeiten können? Das zumindest habe ich in den vielen Jahren seit 1984
als „Parliermeister“ und Verantwortlicher für die Übersetzer-Ausbildung am
Institut für Deutsche Sprache und Literatur im fernen österbottnischen Vaasa
begriffen: Im Ausland allein schaffen ausländische Studenten das kaum.
Der Schock kam später, als ich Genaueres über die Arbeitsbedingungen in
Germersheim erfuhr. Es geht hier nämlich nicht nur – wie ich aufgrund der An-
nonce in der Zeit naiv vermutet hatte – um die germanistische Ausbildung von
Studenten aus Nordeuropa (wozu sonst war jene Zusatzqualifikation in Nordistik
gewünscht worden?), nein, es geht überhaupt nicht um Leute aus Dänemark,
Schweden, Norwegen oder Island, sondern um Studenten aus ganz anderen Län-
dern, und zwar aus über sechzig. Welche Vielfalt an Sprachen und Kulturen am
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 3

Germanistischen Institut herrscht, ich will es nur an ein paar Daten vorführen, für
das laufende Wintersemester 1994/95: Wir haben Studenten aus Frankreich 81, die
traditionell größte Gruppe, aus Belgien und den Niederlanden 20, aus Italien und
Spanien je gut 50, aus Portugal und Griechenland je 10, aus Großbritannien, Irland
und Hongkong 20, aus den USA knapp 30, ebenso viele aus Finnland. Aus Ost-
europa kommen vor allem Studenten aus Polen und den GUS-Staaten, zusammen
sind es über 100, dazu einzelne aus Lettland, Litauen, Kroatien, Albanien und der
Slowakei. Das ist aber erst die eine Hälfte, die andere stammt von viel weiter her:
Aus acht arabischen Ländern einschließlich Palästinas kommen 100 Studenten,
eine weitere Gruppe ist in den südlicher gelegenen afrikanischen Ländern zu
Hause, in Mali und im Senegal im äußersten Westen; und rings um den riesigen
Golf von Guinea liegen ihre Heimatländer: von der Elfenbeinküste über Ghana,
Togo, Benin, Nigeria und Kamerun bis nach Gabun, dazu kommen noch einzelne
Studenten aus dem Sudan, aus Uganda, aus Zaire und aus Madagaskar. Und wel-
che Sprachen sind da vertreten, über ein Dutzend wie Senufo, Wolof, Luandisch,
Swahili, alles Sprachen, die keiner unserer Dozenten beherrscht und die auf irgend
absehbare Zeit auch nicht an diesem Fachbereich vertreten sein werden. Das aber
heißt: Unsere gut 40 afrikanischen Studenten können ihre Übersetzerausbildung
nicht auf der Basis ihrer jeweiligen Muttersprache absolvieren, sondern sie müssen
eine Trägersprache wählen, und das ist in der Regel die Sprache der ehemaligen
Kolonialmacht, also Englisch bzw. Französisch. Analoges gilt für Studenten von
den Philippinen und aus Indien, die auch nicht ihre Muttersprachen Hindi,
Gujarati oder Marathi benutzen können, sondern auf das Englische angewiesen
sind. Da ich nun schon so viele Sprachen und Länder genannt habe, muss ich auch
noch die letzten beiden großen Gruppen erwähnen, das sind zum einen die je
ca. 20 Studenten aus der Volksrepublik China und aus Taiwan, zum anderen
unsere Studenten aus acht Ländern Lateinamerikas, gut 50 sind das und sie
studieren hier zusammen mit ihren Kommilitonen aus Spanien bzw. Portugal.
Das also war der erste Schock, diese große Zahl an Sprachen und Kulturen, die
ja – neben allen möglichen sprachdidaktischen Schwierigkeiten – eine kaum zu
bewältigende Herausforderung für jeden Lehrenden ist, der es für sinnvoll erach-
tet, auch nur ein wenig über den Bildungshintergrund seiner Studenten zu wissen.
Denn wie soll es sonst funktionieren, das interkulturelle Lernen, das
interkulturelle Gespräch?
Ein zweiter Schock stellte sich ein, als mir im Wintersemester 1993/94 deutlich
wurde, wie sich die Studentenzahlen am Institut entwickeln: Von knapp 200
auf 700 ist die Zahl gestiegen, und ein Ende des Booms ist nicht in Sicht. Im
Gegenteil: Fast wöchentlich kommen Anfragen aus Skandinavien, aus den neu
erstandenen baltischen Republiken, aus Ost- und Ostmitteleuropa, aus der Türkei,
aus Afrika, Japan und aus Südamerika – Anfragen von Studenten, von Doktoran-
den und Anfragen von gestandenen Germanisten, die informiert werden möchten
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über universitäre Übersetzer- und Dolmetscherstudiengänge. Die jungen Leute


stellen sich ein auf die sich rasant beschleunigenden europäischen und weltweiten
Integrationsprozesse, auf die ungeheuer anwachsende Kommunikation in allen
Bereichen von Wirtschaft, Kultur und Politik, die ja ohne eins gar nicht möglich ist,
ohne das Übersetzen, das Dolmetschen…
Ein dritter Schock war zu verkraften, und der nun betraf meine Identität als
Germanist, sei es auch als sog. „interkultureller“. Dass die aus über 60 Ländern
angereisten Studenten des Germanistischen Instituts nämlich den größten Teil
ihres Hauptfach-Unterrichts gar nicht in germanistischen Lehrveranstaltungen
absolvieren (also in Übungen, Pro- und Hauptseminaren oder Vorlesungen zur
deutschen Sprache und Literatur), sondern in Übersetzungskursen. Aus der Mut-
ter- bzw. Trägersprache wird da ins Deutsche übersetzt und umgekehrt, einmal
geht es um gemeinsprachliche Texte für Anfänger, dann für Fortgeschrittene,
schließlich für Examenskandidaten, das andre Mal um fachsprachliche Texte aus
den Bereichen Wirtschaft oder Technik, wieder in beide Richtungen; in der Mitte
und am Ende des Studiums wird in zwei- und dreistündigen Klausuren geprüft,
ob die „übersetzerische Kompetenz“ hinreichend erworben wurde – und das heißt
am Germanistischen Institut, dass zum Abschluss jeden Semesters Klausuren
organisiert werden müssen, mindestens sechs verschiedene für jede Sprach-
kombination (also Finnisch – Deutsch – Finnisch oder Spanisch – Deutsch – Spa-
nisch usw.), macht bei zurzeit elf am Institut vertretenen Sprachen insgesamt
66 unterschiedliche Prüfungstexte. Und der Leiter des Instituts soll dann, bitte
schön, je einen Blick auf diese Texte in elf Sprachen werfen und darauf achten,
dass die Länge stimmt und der Schwierigkeitsgrad auch und dass es überhaupt
irgendwie gerecht zugeht bei diesen Klausuren für fast ein Dutzend Sprachkom-
binationen. Aber ich will nicht erneut von Hochstapelei sprechen.
Die sich durch alle acht Semester des Grund- und Hauptstudiums erstrecken-
den Übersetzungskurse bilden also das Zentrum unserer Ausbildung im Fach
Deutsch als Fremdsprache, und gewissermaßen um diesen acht bis zwölf Unter-
richtsstunden pro Woche umfassenden Kernbereich herum gibt es dann Veran-
staltungen in Germanistik – und auch das noch immer nicht im Sinne einer deut-
schen, auf deutsche Abiturienten zugeschnittenen Germanistik. Denn zunächst
müssen die ausländischen Studenten ja ihre Sprachkenntnisse weiter vervoll-
kommnen, sind Phonetik, Morphologie, Lexik, Syntax, Stilistik usw. usf. so
gründlich zu lernen, dass die Ausländer auf Deutsch Texte schreiben können, die
sich von denen ihrer deutschsprachigen Kommilitonen nicht mehr wesentlich
unterscheiden, zumindest nicht, was die sprachliche Korrektheit betrifft. Die
Ausländer studieren hier ja nicht nur Deutsch, sie alle müssen ein weiteres Fach
wählen, eine zweite Sprache, und hier werden sie gemeinsam mit ihren deutschen
Kommilitonen unterrichtet, konkret: Ein Portugiese muss dann z. B. aus dem
Deutschen ins Russische und umgekehrt übersetzen. Dass man aus einer fremden
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Sprache in eine fremde Sprache übersetzt oder gar dolmetscht, das verlangen wir
in Germersheim nur von unseren ausländischen Studenten – und ich persönlich
habe sehr großen Respekt vor jedem Studenten, der dies schafft.
Diese drei Schocks also waren zu verkraften. Sie wurden, das muss ich aller-
dings gleich hinzufügen, erheblich gemildert durch Erfahrungen, die ich in den
allerersten Wochen in Germersheim machen konnte, im Frühsommer 1993: dass
diese so kompliziert anmutende inter- und multilinguale Sache nämlich funktio-
niert. Und sie funktioniert, weil das Programm des Germanistischen Instituts
durch Jahrzehnte entwickelt, erprobt und verbessert worden ist, wofür meinem
Vorgänger Professor Gerhart Mayer große Anerkennung gebührt, und weil dem
Institut zudem sehr erfahrene Dozierende angehören, die vom Handwerk einer
germanistisch-akademischen Übersetzerausbildung allemal mehr verstehen, als
ihr neu installierter Chef davon auf die Schnelle wird lernen können.
Insgesamt glaube ich nach nunmehr drei Semestern in Germersheim sagen zu
dürfen: Auf das, was mein Vorgänger, was meine Kolleginnen und Kollegen am
Germanistischen Institut und am ganzen Fachbereich seit zwanzig, ja seit vierzig
Jahren im Bereich Deutsch als Fremdsprache aufgebaut haben, darauf können die
Johannes Gutenberg-Universität Mainz und das Land Rheinland-Pfalz stolz sein,
nicht nur, weil es sich um ein in Deutschland, ja in ganz Europa einzigartiges und
renommiertes Ausbildungsangebot handelt!

Doch hat die so gewiss noch nicht hinlänglich gerühmte Sache für einen Germa-
nisten, der seinen Beruf liebt und ihn ernst nimmt, auch einen Haken. Denn Ger-
manisten bildet der „Interkulturelle Germanist“ ja nicht aus, sondern Übersetzer
und Dolmetscher, die „nicht einmal“ Deutsch als Muttersprache sprechen, die
auch über gänzlich andere Bildungsgrundlagen verfügen, als sie das deutsche
Abitur vermitteln soll. Das hat nicht zu unterschätzende Konsequenzen für unse-
ren Studiengang, und damit meine ich natürlich nicht den Grad an Wissenschaft-
lichkeit oder gar die Fähigkeit, sich intensiv nachdenkend mit bestimmten Fragen
der Sprache, der Literatur oder des Übersetzens zu befassen. Denn an wissen-
schaftlichen Primärtugenden wie Aufgeschlossenheit, Toleranz und Neugier kann
es einem jungen Menschen gar nicht mangeln, der sich mit 18 Jahren oder mit 22
auf das in seinen Folgen ja völlig unwägbare Wagnis einlässt, sein ganzes Studium
in einem fremden Land zu absolvieren, in einem Land zudem, das sich im
Umgang mit Fremdem und Fremden immer noch und schon wieder beklagens-
wert schwer tut.
Wer als Fremder nach Deutschland kommt, dem mag man raten, sich über die
Etymologie des deutschen Wortes „elend“ (also: unglücklich, jammervoll) zu in-
formieren, seine Herkunft aus Formen wie mhd. „ellende“, ahd. „elilenti“ aus wg.
„*alja-landja“, etwa in Jacob Grimms Artikel im Deutschen Wörterbuch: „Urbedeu-
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tung dieses schönen, vom Heimweh eingegebnen Wortes ist das Wohnen im
Ausland, in der Fremde […].“ Noch das 18. und frühe 19. Jahrhundert benutzen
„Elend“ in dieser Bedeutung, Grimms jüngster Beleg stammt aus einem Lied von
Uhland: „Wo dem einen Rosen lachen, / Sieht der andre dürren Sand; / Jedem ist
das Elend finster, / Jedem glänzt sein Vaterland.“ Jacob Grimm erläutert: „Da nun
Fremde und Verbannung wehtun und unglücklich machen, nahm Elend nach und
nach den Begriff von miseria an und der ursprüngliche trat vor diesem endlich
ganz zurück.“
Doch zurück zum Thema Interkulturelle Germanistik, zu den Konsequenzen,
über die ich nachzudenken mich in Germersheim gezwungen sehe. Welche das
sind, darf ich Ihnen heute an nur einem Beispiel zu erläutern versuchen, an der
Beschäftigung mit deutscher Literatur und Literaturgeschichte, wie sie mir für die
kommenden Jahre vorschwebt, in der Lehre und in der Forschung auch.
Da ich als germanistischer Literarhistoriker vor angehenden Akademikern
stehe, die aus so vielen Ländern und also sehr unterschiedlichen Sprach- und Kul-
turregionen kommen, passiert es fast automatisch, dass ich mich unwohl zu fühlen
beginne, wenn ich nur immer und ausschließlich von mir und meinen Leuten und
von unserer deutschen Kultur spreche. Wenn meine Vorlesung von „deutscher
Barockliteratur“ handelt und ich dabei nur kurz in das Auditorium aufschaue, so
sehe ich Gesichter von Italienern, Engländern, Polen, die doch auch etwas von
dieser oder einer zeitlich ähnlich gelagerten Epoche wissen, oder ich schaue in die
Gesichter von Russen, Letten, Griechen, Arabern, Chinesen und muss dann
denken: Was bedeutet für die wohl „Barock“?
Natürlich lässt sich solcher Blickkontakt vermeiden. Man kann wegschauen,
sich ganz in das doch schon ausgearbeitete Manuskript vertiefen… aber wenig
später wird von „deutscher Aufklärung“ zu sprechen sein, ein andermal von
deutscher Literatur der Klöster, vom Heliand etwa, der ersten deutschen Messiade,
vom deutschen Tristan-Roman, von deutscher Renaissance und deutschem Hu-
manismus, vom deutschen Luther und seiner Biblia Deudsch von 1534 natürlich,
von deutscher Klassik mit ihren deutschen Odenmaßen und ihrem deutschen
Hexameter, von deutscher Romantik, von deutschen Sonetten, deutschen Balladen
und deutschen Ghaselen, vom deutschen Realismus und Naturalismus, deutschen
Symbolismus, deutscher Fin-de-siècle-Literatur, vom deutschen Expressionismus
und der deutschen Kahlschlag-Literatur, von deutschen Shortstorys und deutscher
Pop-Lyrik und deutschen Literatur-Happenings… und wird sich das dann
wirklich jedes Mal vermeiden lassen, der Blick ins nichtdeutsche Publikum, der
mir doch überdeutlich klar signalisiert: Was redet der da vorne immer von
„deutsch“, das kennen wir doch auch, haben wir ebenfalls, zumindest etwas ver-
blüffend Ähnliches gibts auch bei uns, in Frankreich, in England, in Italien, in
Russland, in Finnland, in Amerika.
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Nochmals: Der Blickkontakt mit den Zuhörern lässt sich vermeiden, aber es
könnte doch anstrengend werden, mit der Zeit, mit den Semestern. Warum also
hier in Germersheim dann nicht gleich und von vornherein diesen Blick der An-
deren, der Fremden (der noch Fremden, bald wahrscheinlich schon gar nicht mehr
so Fremden) aufnehmen? Und ihn ernst nehmen, das heißt z. B. ihn in die Frage
übersetzen: Wie fremd ist diesen Germanistik-Studenten die deutsche Literatur?
Wie viel Eigenes mögen sie in ihr erkennen, wieder erkennen? Wie viel vielleicht
also sogar Gemeinsames haben wir in unseren Kulturen, unseren Literaturen?
Oder halt: Wie deutsch, wie selbständig, wie autochthon oder autark ist die deut-
sche Literatur eigentlich, wie sehr hat sie sich nur aus sich selbst heraus entwickelt,
frei von Anregung von außen? Es handelt sich, wenn Sie so wollen, um die
Übertragung des „ius sanguinis“, des im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht seit
1913 geltenden Abstammungsprinzips, auf den Bereich der deutschen Literatur.
Woher stammt sie?
Beim ersten Nachdenken über mögliche Antworten auf die Frage, wie deutsch
die deutsche Literatur sei, fällt mein Blick ein wenig neiderfüllt auf den germa-
nistischen Sprachforscher, der sich mit der historischen Entwicklung des deut-
schen Wortschatzes befasst. Denn er verfügt seit langem über ein ebenso ausge-
klügeltes wie kohärentes Begriffs- und Beschreibungssystem, das die auf „Impor-
ten“ beruhenden immensen Erweiterungen des deutschen Wortschatzes durch fast
zwei Jahrtausende überschaubar macht. Vom „Lehngut“ ist da die Rede im
Gegensatz zum „Erbgut“, und dieses „Lehngut“ teilt sich dann in „Lehnprägung“
und „Wortentlehnung“, diese in „Fremd-“ und „Lehnwort“, jene in „Lehnbil-
dung“ und „Lehnbedeutung“, die „Lehnbildung“ wiederum in „Lehnschöpfung“
und „Lehnformung“, und die Letzte (zum Glück brauchen wir hier keinen Dol-
metscher!) verzweigt sich dann nochmals in „Lehnübersetzung“ und „Lehnüber-
tragung“.
Hätten wir eine solche für die deutsche Lexik mit fast linnéscher Perfektion
ausgetüftelte Schubladisierung auch für unseren Bereich, den der deutschsprachi-
gen literarischen Texte, so könnte ich die Frage, wie deutsch die deutsche Literatur
ist, vielleicht sogar mit schlichten Prozentzahlen beantworten: 13 % sind
hebräisch-jüdisch-christlicher Provenienz, 24 % verdanken sich Adaptionen aus
den griechisch-römisch-antiken Literaturen, 32 % sind unter französischem, 8 %
unter spanisch-portugiesischem, 3 % unter slavischem, 1,7 % unter skandinavi-
schem und 15 % unter englisch-amerikanischem Einfluss entstanden und unter
persisch-arabischem 0,001 %, nämlich Goethes West-östlicher Divan und einige von
der zünftigen Germanistik nicht immer geschätzte Gedichte August von Platens,
des äußerst Sprachbegabten, der von „Portugiesisch bis Persisch fast alle indo-
europäischen Dialekte beherrschte“ (Hubert Fichte). Und die verbleibenden
3,299 %, das wäre unser germanisch-deutsches „Erbgut“ mit Stabreim, Volkslied,
Nibelungenstrophe und Wagner-Opern.
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Ich muss es kaum sagen: Diese Prozentzahlen entbehren jeder empirischen


Grundlage, sie sind unhaltbar und lächerlich. Aber mir ist es dennoch ernst mit
der Frage nach den internationalen Mischungskomponenten bei der Ausbildung
der deutschen Nationalliteratur. Nur: Auf welchem Weg lässt sich bestimmen, was
an ihr autochthon ist und was von draußen kam?
Eine Möglichkeit wäre, sich einmal die Bücherschränke deutscher Schriftsteller
anzuschauen, also zu fragen, wo sie selbst mit ihrem Schreiben je angeknüpft, wo
sie ihr Handwerk gelernt haben. Stehen in diesen Bibliotheken nur die Werke ihrer
deutschen Vorläufer, finden sich dort nur jene Autoren, die in unseren Lite-
raturgeschichten als ihre jeweiligen Vorgänger und Wegbereiter genannt werden?
Oder kommen da nicht ganz andere Namen ins Spiel? Man könnte auch die Auto-
ren selbst befragen nach sie besonders prägenden Lektüreerlebnissen, könnte in
Briefen, poetologischen Texten, Biographien nach entsprechenden Hinweisen auf
die produktive Rezeption ausländischer Werke fahnden. Und wir können eine
weitere Frage gleich anschließen, nämlich die nach den Sprachkenntnissen der
deutschen Schriftsteller. Haben sie die griechische, lateinische, französische, engli-
sche, italienische, arabische, russische, skandinavische Literatur im Original gele-
sen oder in Übersetzungen – und wenn in Übersetzungen, waren das dann deut-
sche Übersetzungen oder wiederum lateinische oder französische oder englische?
Die Antworten werden je nach Autor und Epoche höchst unterschiedlich ausfal-
len. Die großen englischen Romane des 18. Jahrhunderts z. B. werden von deut-
schen Autoren zunächst in französischer Übersetzung zur Kenntnis genommen,
bis zur Mitte des Jahrhunderts wird Homer in Deutschland ebenfalls auf Franzö-
sisch rezipiert, mit allen damit verbundenen Verwerfungen und Missdeutungen,
über die der 22-jährige Herder 1767 klagt: „Die Franzosen, zu stolz auf ihren
Nationalgeschmack, nähern demselben alles, statt sich dem Geschmack einer an-
dern Zeit zu bequemen. Homer muss als Besiegter nach Frankreich kommen, sich
nach ihrer Mode kleiden, um ihr Auge nicht zu ärgern: sich seinen ehrwürdigen
Bart und einfältige Tracht abnehmen lassen: Französische Sitten soll er an sich
nehmen, und wo seine bäurische Hoheit noch hervorblickt, da verlacht man ihn,
als einen Barbaren.“
Eine andere – und zu klaren Ergebnissen führende – Möglichkeit ist, die von
deutschsprachigen Autoren benutzten Formen, die Vers- und Strophenmaße, die
Gattungen, Unterarten, die literarischen Textsorten einmal unter dem Aspekt ihrer
Herkunft durchzusondern; meinetwegen in alphabetischer Folge vom Absurden
Drama, dem Agentenroman, der Anekdote und dem Aphorismus über Elegie,
Essay, Fabel, Haiku, Idylle, Kriminalroman, Novelle, Ode, Robinsonade, Parabel,
Romanze, Schelmenroman, Stanze, Terzine bis hin zu den Xenien und zum
Zauberstück. Der Befund ist eindeutig – und das ist gewiss nicht meine Ent-
deckung, das steht in jedem Handbuch –, fast keine jener Formen, in denen in
deutscher Sprache seit dem Aufkommen der Schriftlichkeit gedichtet wurde, ist in
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deutschsprachigen Gegenden entwickelt worden, fast alle sind von außen ge-
kommen, sind Import.
Eine solcherart alphabetisch geordnete Liste ins Deutsche importierter literari-
scher Formen lässt sich chronologisch ordnen, und es zeigen sich dann bestimmte
Phasen besonders intensiver Aneignung fremder Muster. Bei genauerem Hinsehen
mag sich ergeben, dass solche Importschübe auffällig mit jenen Zäsuren über-
einstimmen, mit denen deutsche Literaturgeschichten Epochengrenzen beschrei-
ben. Woraus sich der Verdacht ergibt – und eine wissenschaftlich fundierte Bestä-
tigung dieses Verdachts habe ich heute mitnichten, aber vielleicht in sieben oder
zwölf Jahren –, der Verdacht also, dass der Import (konkret: das Übersetzen,
Nachdichten und Nachahmen) an den entscheidenden Wendepunkten der Ent-
wicklung der deutschen Literatur eine bisher weit unterschätzte Rolle spielt. Wie-
der als Frage formuliert: Ist deutsche Literatur, dort, wo wir sie im Rückblick als
innovativ, sich verändernd erkennen, nicht sehr häufig eingedeutschte Literatur?
Natürlich können wir es noch als einen reinen Zufall verbuchen, dass das ältes-
te schriftlich überlieferte Dokument deutscher Sprache ausgerechnet eine Art
zweisprachigen Wörterbuchs ist, die deutsche Bearbeitung einer lateinischen
Synonymensammlung, die nach ihrem ersten Lemma als Abrogans bezeichnet
wird, entstanden in der Karolingischen Renaissance im 8. Jahrhundert. Aber ist es
nicht doch bezeichnend, dass am Anfang der schriftlich überlieferten deutsch-
sprachigen Literatur fast ausschließlich Übersetzungen, Nachahmungen, Adap-
tionen lateinischer Texte stehen? Solcher Befund deckt sich mit dem der Sprach-,
der Worthistoriker. Wenn wir auf Deutsch über Schreiben und Schriftlichkeit
reden, so benutzen wir lateinische Lehnwörter: Wir „lesen“ (lat. legere) und
„schreiben“ (scribere) mit „Tinte“ (tincta), wir schreiben einen „Brief“ (brevis) oder
auf einer „Tafel“ (tabula) oder auf „Pergament“ (pergamentum), und das lernen wir
natürlich in der „Schule“ (scola). Der ganze Wortschatz der Schriftlichkeit stammt
aus dem Lateinischen, wie auch die Schrift selbst. Und mit der lateinischen Spra-
che und Schrift kommt die christliche Religion, mit all ihren bisher unbekannten
Wörtern und Begriffen und Fachtermini – dieser gewaltige, sich über Jahrhunderte
erstreckende historische Prozess lässt sich auch als ein gewaltiger und oft
gewaltsamer Übersetzungsprozess erzählen, beschreiben. Gewiss teilt die deutsche
Literatur diese historische Phase mit all ihren europäischen Nachbarkulturen. Das
ist trivial, aber vielleicht dennoch nicht ganz unwichtig, wenn zu überlegen ist,
wie einem Studenten aus einer nicht europäisch-christlich geprägten Kultur
Charakteristika deutscher Kulturgeschichte vermittelt werden sollen. Damit kann
man sich hier in Germersheim gewiss nicht semesterlang befassen, aber zwei, drei
Stunden einer Überblicksvorlesung sollte man dafür schon ansetzen.
Und spätere Phasen der deutschen Literatur? Was bleibt von der Dichtung des
12. und 13. Jahrhunderts, von Minnelyrik und Artusepik, wenn man all das abzu-
rechnen versuchte, was durch Übersetzung, durch Nachahmung französischer,
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provençalischer Dichtung entstanden ist? Fast überflüssig, an Luthers Tat zu erin-


nern, an seine Bibelübersetzung und ihre gar nicht zu unterschätzende Wirkung
auf die deutsche Literatur und Sprache bis heute.
Und selbst uns häufig als ganz besonders deutsch erinnerte Epochen wie der
Sturm und Drang oder die Romantik haben bedeutende Anregungen von draußen
bezogen, man denke nur an Herders Aufsatz über „Ossian und die Lieder alter
Völker“, das ist eine polemische Streitschrift über die adäquate, sprich: treue
Übersetzung fremder Poesie, oder an die vielen romanischen Dichtungsformen,
die gerade von den Romantikern eingedeutscht worden sind, ganz zu schweigen
von den Bemühungen der Romantiker Schlegel und Tieck um Shakespeares
Dramen.
Überhaupt das 18. Jahrhundert: Wer nur einmal flüchtig den Katalog der
Weltliteratur-Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach von 1982
durchgeblättert hat, kann durchaus zu dem Verdacht gelangen, dass die deutsche
Literatur erstmals internationales, d. h. damals europäisches Format nur durch
einen quantitativ wie qualitativ besonders imposanten Importschub erreicht hat,
durch eine vorher nicht gekannte „Lust am Übersetzen“, so der Titel der Marba-
cher Ausstellung.
Deutsche Literatur, das könnte ein etwas veränderter, ein interkultureller Blick
auf sie zeigen, ist sehr stark verwoben mit ihren Nachbarkulturen, sie ist in hohen
Graden ein interkulturelles Mischprodukt, ist weit mehr internationale denn
autark-nationale Literatur. Mir will sogar scheinen, dass für die Entwicklung der
deutschen Literatur – und für die manch andrer Länder gewiss auch – der Begriff
„Nationalliteratur“ überhaupt nicht taugt. Er ist irreführend, er gaukelt uns etwas
vor, was es in der historischen Realität so überhaupt nicht gegeben hat.
Aber bin ich da gegenüber meinem Fach nicht ungerecht? Denn es gibt doch
eine Fülle germanistisch-philologischer Detailstudien über Goethe und die arabi-
sche Welt, über die Dante- oder die Shakespeare-Rezeption im George-Kreis, über
den deutschen Homer und die immensen Schwierigkeiten der Übersetzung und
Nachbildung des antiken Hexameters, der horazischen Odenmaße… Gewiss, aber
was bisher nicht gelungen ist, das ist die konsequente Einbeziehung und ange-
messene Würdigung dieser Übersetzungs- und Adaptionsschübe in den Gesamt-
darstellungen der Geschichte der deutschen Literatur. Ausnahme: Max Wehrlis
Buch über die deutsche Literatur des Mittelalters. Erst eine solche, über das Mit-
telalter hinausreichende Einbeziehung jedoch würde uns klarer erkennen lassen,
wie deutsch bzw. wie international die deutsche Literatur ist: Translationshisto-
riographie, intensive Erforschung der Kulturgeschichte des Übersetzens als
Provokation, als Korrektiv nationaler Literaturgeschichtsschreibung – auf diese
Formel könnte man es bringen. Und gewiss hat eine solche Translationshistorio-
graphie auf mehr und andres auch zu achten als nur auf den Import von Formen,
z. B. auf ideen- und mentalitätsgeschichtliche Korrespondenzen zu den Nachbar-
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 11

kulturen. Wie weit das hier nur knapp umrissene wissenschaftliche Arbeitsfeld ist,
kann jeder ermessen, der z. B. mit dem Göttinger Sonderforschungsbereich Die
literarische Übersetzung vertraut ist, mit Arbeiten von Armin Paul Frank, Jürgen
von Stackelberg, Brigitte Schultze, Horst Turk oder auch von Rainer Kohlmayer,
um zumindest einen unserer Germersheimer Forscher zu nennen.
Warum aber ist das so mit unserer Vorstellung von der deutschen Literatur,
warum konnte ihre starke multikulturelle Prägung nicht in unser Alltagsbewusst-
sein durchdringen? Warum entspricht das Bild, das wir uns gewöhnlich von ihrer
historischen Entwicklung machen, so wenig dem hier nur äußerst knapp ange-
deuteten Bild von einer Literatur, die sehr erfolgreich immer wieder Anläufe
unternommen hat, aus der Beschränktheit eigener Traditionen sich herauszu-
schreiben? Man könnte vermuten, dass die für die Konstruktion dieses Bildes
primär Zuständigen, also wir Germanisten, halt Leute sind, die sich zwar für
Sprache und Literatur sehr interessieren, dass wir aber leider zu harte Schädel
haben, um auch noch fremde Sprachen zu lernen, und dass wir uns daher auf so
heikle Dinge wie das Übersetzen nicht einlassen wollen. Aber das ist es natürlich
nicht, zumindest nicht nur.
Die Ursachen für das Ausblenden kultureller Einflüsse auf die deutsche Litera-
tur liegen in der Geschichte der Institution Germanistik, in ihren Ursprüngen im
19. Jahrhundert. Ich darf aus Wilhelm Grimms Antrittsrede vor der Berliner Aka-
demie vom Juli 1841 zitieren: „Die deutsche Altertumswissenschaft“, so hieß unser
Fach damals, „hat den Ruhm, zu einer Zeit entstanden zu sein, wo fremde Gewalt
auf Deutschland lastete.“ Das meint die Zeit der napoleonischen Besetzung
Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts. „Sie wollte, soweit es bei ihr stand,
den Geist stärken, dessen Kraft langsam wächst, dessen Erfolg sicher ist. Sie wird
diesen Ursprung nicht verleugnen, sondern daran festhalten, dass Sicherung und
Wiederbelebung des Vaterländischen ihr letztes Ziel ist.“ Und das erreicht man, so
Wilhelm Grimm 1843, indem man „den Baum des deutschen Lebens tränkt aus
eigenem Quell“.
Die Idee der deutschen Nation, das war das Verbindende romantischer und
nachromantischer Sprach- und Literaturgeschichtsschreibung. „Den Baum des
deutschen Lebens aus eigenem Quell zu tränken“, das hieß dann aber konsequen-
tes Ausklammern, ja Leugnen fremder Einflüsse. „Alle Sprachen“, lesen wir in
Jacob Grimms von mir durchaus sehr geschätzter Vorrede von 1854 zum Deutschen
Wörterbuch, „alle Sprachen, solange sie gesund sind, haben einen Naturtrieb, das
Fremde von sich abzuhalten […].“ Und wenn das in der Wirklichkeit, also im
alltäglichen Sprechen und Schreiben der Deutschen, schon nicht hinreichend
erfolgte, so konnte man es zumindest in der eigenen germanistischen Forschung so
halten. Was die Brüder Grimm für die lexikographische Darstellung der Sprache
unternahmen, haben andre, oft weit unbesonnener, für die Literatur geleistet: das
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 12

Ignorieren des Fremden. Und wo es sich nicht ignorieren ließ, da wurde es


abgekanzelt, als undeutsch.
Nur ein Beispiel – und Dutzende und Aberdutzende könnten genannt wer-
den –: Andreas Heuslers immens gelehrtes, bis heute nicht ersetztes Standardwerk
Deutsche Versgeschichte in drei Bänden von 1925–1929. Schon 1964 – also vor der
mit dem Münchener Germanistentag von 1966 einsetzenden Vergangenheits-
bewältigungswelle der westdeutschen Germanistik – wird sie von einem Berliner
Germanisten und Versspezialisten als „vaterländischer Gewaltakt“ kritisiert: Denn
für Heusler war der deutsche, korrekter: der germanische Vers „ursprünglich,
wurzelhaft, heimisch, sprachgemäß, natürlich, einfach, gesund und kerndeutsch,
ehrlich, rein, klar, gut. Alles in tausend Jahren Hinzuerworbene“ – also die kaum
überschaubare Fülle antikisierender, romanischer oder auch persisch-arabischer
Gedicht- und Versformen – „aber Bruch, Missbildung, Verarmung, Abirrung,
Ausländerei, Verwelschung […] Diese klare Scheidung in gut und böse, gesund
und krank geht durch die 1268 §§ dieser Geschichte“ des deutschen Verses. Und
das ist keine einzelne Entgleisung, nur eine auf besonders hohem Niveau. Denn
Heusler verstand nun wirklich was von seinem Metier.
„Vaterländische Gewaltakte“, das Herauslösen der deutschen Literatur aus
ihren internationalen Verknüpfungen, das ist wohl das Charakteristikum der
Germanistik von der Nationalromantik bis zum Nationalsozialismus, was immer
sonst es auch für sehr gewichtige Unterschiede gegeben hat. Und die Germanistik
ist in jenen 150 Jahren ja nicht irgendeine Universitätsdisziplin unter anderen,
sondern sie mausert sich zur ideologischen Führungswissenschaft, der es u. a.
immer auch darum geht, ihre deutschvölkischen Ideale im Schul- und Hoch-
schulunterricht durchzusetzen, z. B. gegen die Altphilologen, die vom Bildungs-
wert antiker Sprachen nicht vollständig lassen wollen. Über die Geschichte dieses
meines Faches möchte man als Motto ein Herder-Zitat setzen, aus seinem
113. „Brief zur Beförderung der Humanität“ von 1797: „Der Nationalruhm ist ein
täuschender Verführer. Zuerst lockt er und muntert auf; hat er eine gewisse Höhe
erreicht, so umklammert er den Kopf mit einer ehernen Binde. Der Umschlossene
sieht im Nebel nichts als sein eigenes Bild, keiner fremden neuen Eindrücke mehr
fähig. Behüte der Himmel uns vor solchem Nationalruhm.“
Aber was soll uns das heute noch, bald 50 Jahre nach der militärischen Nie-
derlage des Nationalsozialismus? Die Frage, wie deutsch die deutsche Literatur
sei, sie weckt bloß unangenehme Erinnerungen an jene Jahrzehnte, in denen dem
Nationalen ein gar zu überragender Rang in unserem Fach zugesprochen wurde.
Vielleicht auch rührt daher mancher Vorbehalt unter Kollegen gegen die Etablie-
rung der Interkulturellen Germanistik. Denn wenn das Fremde in Forschung und
Lehre zur zentralen Kategorie erhoben wird, bin ich dann nicht wieder auch
gezwungen zu sagen, worin denn das Eigene, das Nationale womöglich, bestehen
soll? Und das hatten wir ja nun gründlich genug erforscht, so gründlich, dass wir
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 13

von diesem Thema am liebsten gar nichts mehr hören wollten. Mit allem Mögli-
chen haben wir uns nach 1945 befasst, mit der jedem Historisch-Politischen
abholden „Kunst der Interpretation“, nach 1968 dann mit Sozialgeschichtlichem
und Ideologiekritischem, mit Kommunikations- und Rezeptionstheorien, mit
Strukturalismus und Semiotik, mit feministischer Literaturwissenschaft, Dis-
kursanalyse und Postmoderne – und nun droht erneut das leidige nationale
Thema, wenn auch in modisch-interkultureller Verpackung. Da mag mancher
seufzen: Muss das denn schon wieder sein?
Nun habe ich aber schon lange nicht mehr aufgeschaut in mein multikulturelles
Publikum. Ob das die Studenten von nah und weiter her überhaupt interessiert,
wie wir Deutschen uns im 19. und 20. Jahrhundert ein Bild unserer eigenen Kultur
durch Ausblendung alles Fremden konstruiert haben? Oder erinnert das den einen
oder anderen an analoge Prozesse in seinem eigenen Land, vor 150 Jahren oder in
neuerer Zeit? Nationalismen sind sich ja zum Verwechseln ähnlich, nicht nur in
äußeren Attributen wie Flaggen, Orden, Erbfeinden und Nationalheiligen, in
Nationalhymnentexten und Nationalhymnenmelodien, sondern leider auch in
ihrer oft besinnungslosen Besinnung auf das je Eigene und gar nichts anderes. „Im
Geiste Herders“, so berichteten mir sehr liebe Kolleginnen aus Vilnius auf den
Herder-Tagungen in diesem Jahr, habe man im 19. und frühen 20. Jahrhundert
über eine Million eigener litauischer Volkslieder gesammelt. Mag sein, dass sich
Herder über solch ungeahnte Wirkung seiner Anregungen gefreut hätte. Seine
Volkslieder-Sammlung von 1778/79 allerdings sah anders aus, die enthielt 162 Texte
aus 20 verschiedenen Literaturen, sie war die erste Anthologie internationaler
Poesie in deutscher Übersetzung. Im Geiste Herders, das heißt für mich: Blick auf
das Fremde, um dadurch auch sich selbst zu finden, den eigenen Ort.
Ein solcher „Wechseltausch“ bildet heute das zentrale Anliegen jener neuen
wissenschaftlichen Disziplin, die seit Anfang der 70er Jahre im „Koordinatendrei-
eck von Grundsprachengermanistik, Deutsch als Fremdsprache und Fremdspra-
chengermanistik“ (Alois Wierlacher) entwickelt worden ist (allen voran von Alois
Wierlacher, Dietrich Krusche und Bernd Thum) und an die unser Germersheimer
Fachbereich nicht nur durch die Umbenennung seines Lehrstuhls im Fach Deutsch
Anschluss zu finden versucht: die Interkulturelle Germanistik.

Ich darf noch kurz auf zwei weitere Aspekte eingehen, die zu meinem Thema
gehören und einen eigenen Akzent Interkultureller Germanistik in Germersheim
bilden könnten: Das ist zum einen die sog. Migrantenliteratur, zum anderen deut-
sche Literatur, die sich die Begegnung mit Fremdem und Fremden zum Thema
macht, worunter ich nicht nur die Reiseliteratur verstehe.
Die Frage nach dem Deutschen der deutschen Literatur lässt sich ja auch ganz
primitiv mit einem Blick auf die Herkunft (oder gar in den Pass) ihrer Autoren
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 14

behandeln. Und hier haben wir nun eine in ihren ersten Äußerungen vielleicht
ästhetisch noch anspruchslose, aber wachsende Aufmerksamkeit verdienende
neue literarische Entwicklung. Sie resultiert aus der nicht überraschenden Tat-
sache, dass es unter den Millionen Ausländern, die seit den 50er Jahren nach
Deutschland gekommen sind, auch Leute gibt, die schreiben können und sich
dafür zunehmend nicht ihrer Muttersprache, sondern der Fremdsprache Deutsch
bedienen, schon um sich untereinander über ihre gemeinsamen Sorgen als in
Deutschland lebende Fremde zu verständigen. (Als gewesener Literatur-Tages-
kritiker frage ich mich übrigens manchmal, wann ein ernst zu nehmender deut-
scher Schriftsteller uns ein ernst zu nehmendes literarisches Werk über jene in
vielen Betroffenheitsdeklarationen ausreichend erwähnten sieben oder acht Mil-
lionen ausländische Neubürger vorlegen wird. In welchem ethnisch und sozial
homogenen Ghetto schreiben die deutschen Schriftsteller von heute eigentlich?)
Die eben erwähnte Verständigungsphase innerhalb der Migrantenliteratur wird
dabei zunehmend von einer Literatur abgelöst, in der die als Gastarbeiter oder
auch als Studenten nach Deutschland gekommenen Autoren über ihre eigene Kul-
tur auf Deutsch erzählen, und das mit einer erfrischenden Fabulierfreude. Ich
erwähne nur die aus Malatya stammende Düsseldorfer Dichterin Emine Sevgi
Özdamar und ihren vor drei Jahren erschienenen faszinierenden Roman Das Leben
ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus.
Dass ich in größeren Abständen Seminare über diese Migrantenliteratur anbie-
ten werde, heißt nicht, dass ich Irmgard Ackermanns und Harald Weinrichs Pio-
nier-Engagement in dieser Sache für unzureichend hielte (Stichwort: der seit 1985
in München verliehene Adelbert-von-Chamisso-Preis). Es hat auch nicht nur damit
zu tun, dass sich ein Student aus Damaskus vielleicht besonders dafür interessiert,
was sein Landsmann Rafik Schami auf Deutsch geschrieben hat und warum die
Deutschen diese Bücher so gerne lesen, sie in hunderttausenden Exemplaren
kaufen. Ein anderer Punkt ist mir noch wichtiger: Ich kann nämlich von diesem
arabischen Studenten lernen, was denn an den Themen, Motiven, sprachlichen
Bildern und anderen Besonderheiten in Schamis Werk sich dessen Herkunft aus
der Kultur des Nahen Ostens verdankt und was originäre Erfindung des Autors
ist. Ich bekomme im günstigen Fall also Antworten auf eine Frage, die ich als
Germanist – mangels Kenntnis der fremden Kultur – selbst nicht beantworten
könnte: Was ist eigentlich deutsch, was ist arabisch und was ist „schamisch“ an
Rafik Schamis auf Deutsch geschriebenen Büchern? Analoges gilt für Autoren wie
Franco Biondi, Gino Chiellino, Adel Karasholi (den „DDR-Lyriker aus Da-
maskus“), für Chima Oji (ein Nigerianer, dessen Bericht Unter die Deutschen gefallen
man gar nicht genug Leser wünschen kann), für Suleman Taufiq oder Galsan
Tschinag (auch er, der Chamisso-Preisträger von 1992 und heutige Suhrkamp-
Autor aus der Mongolei, am Leipziger Herder-Institut in den 60er Jahren zur
deutschen Sprache konvertiert).
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 15

Schließlich, als letztes Beispiel dafür, wie sich germanistischer Literaturunter-


richt in Germersheim von dem der Mainzer oder Greifswalder Muttersprachen-
Germanistik unterscheiden wird, ein Blick auf die deutsche Literatur, die sich die
Fremde zum Thema macht – auch so lässt sich ja der Titel meiner Vorlesung ver-
stehen: Wie deutsch sind die Inhalte, die Themen der deutschen Literatur? Wo
und wie versucht sie, über den Tellerrand der eigenen Kultur hinauszuschauen?
Wiederum ist es einmal das Interesse einer z. B. finnischen Studentin, die sich statt
mit einem deutschen Heimatroman vielleicht eher durch einen deutschen Roman
über ihre finnische Heimat zum extensiveren und wissenschaftlich genauen Lesen
wird animieren lassen; selbst zur Lektüre von in der Muttersprachen-Germanistik
nicht sonderlich beachteten Werken wie Theodor Mügges Roman Erich Randal von
1856 oder Carl Spittelers, des Schweizer Nobelpreisträgers, „Erzählung aus Finn-
land“ mit dem Titel Das Bombardement von Åbo, erschienen 1889, oder auch Karl
Springenschmids Roman Aktion Eisvogel. Die finnischen Freiheitskämpfer von 1956.
Und für mich wird es wiederum nicht uninteressant sein, wie in den Augen der
Studentin dieses durch deutsche Texte vermittelte Bild einer fremden Kultur, eines
fremden Landes und seiner Geschichte, mit ihrem eigenen Bild von ihrer Kultur
korreliert.
Also drei in ihrem Gewicht gewiss sehr unterschiedliche Bereiche, in denen von
einer interkulturell orientierten Germanistik in Germersheim eigene Akzente
gesetzt werden können, nicht aus Profilierungssucht, sondern weil Interessen und
Voraussetzungen der ausländischen Studenten und Doktoranden das nahe legen:
1. Kulturgeschichte des Übersetzens in Deutschland, sein Einfluss auf die Ausprä-
gung der sog. Nationalliteratur, 2. Migrantenliteratur und 3. imagologische Stu-
dien zur Darstellung der Fremde in der deutschen Literatur der letzten Jahrhun-
derte. Vielleicht ist das für den Anfang sogar schon zu viel, denn nochmal: Ger-
manisten sollen hier ja gar nicht ausgebildet werden, sondern Übersetzer, und
zwar keineswegs nur oder auch nur primär Übersetzer literarischer Texte. Daher
muss ich mich auch der Frage stellen, ob überhaupt der Beschäftigung mit Litera-
tur und Literaturgeschichte in unserem Diplom-Studiengang Zeit eingeräumt
werden soll und wenn ja, wie viel. Den Besuch einer Einführung in die Analyse
literarischer Texte, eines literaturwissenschaftlichen Pro- und Hauptseminars so-
wie den Besuch von drei je ein Semester umfassenden Vorlesungen zur deutschen
Literatur, das ist es dann auch schon, was wir den Studierenden derzeit abverlan-
gen. Zu viel? Zu wenig? Darüber mag ich heute nicht räsonieren. Aber was immer
wir in den kommenden Semestern da hinzutun können oder wegstreichen müs-
sen, ein Buch zumindest sollte jeder unserer Diplomanden gelesen haben, Uwe
Johnsons Roman Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, entstanden zwi-
schen 1968 und 1983. Warum nun gerade dieses Buch, das mit seinen vier Bänden
und seinen über 1900 Seiten schon von einem muttersprachlichen Germanistik-
Studenten erhebliches Durchhaltevermögen verlangt? Zunächst natürlich, weil die
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 16

Jahrestage zu den fünf, wenn nicht drei bedeutenden Prosawerken der deutschen
Gegenwartsliteratur zählen. Dann, weil sie ein sehr deutsches Buch sind, das von
deutscher Geschichte in diesem Jahrhundert ausführlicher und beharrlicher
handelt als jeder andere Roman und als sehr viele Geschichtsbücher.
Und außerdem ist es zugleich ein Buch, das von der Fremde und den Fremden
erzählt, z. B. vom Leben des mecklenburgischen Kunsttischlers Heinrich Cresspahl
im englischen Richmond, wohin er 1931 seine Frau Lisbeth, geborene Papenbrock,
holt und wo sie nicht heimisch wird, weil die englische Sprache und die englische
Kultur so anders sind. Zwar hatte sie, in den 20er Jahren, in der „Rostocker
Töchterschule ein schottisches Englisch“ gelernt, aber nur ein ganz bestimmtes:
„Sie konnte ein Gespräch führen über John Galsworthy oder Sir Thomas Beecham,
aber auf einen Schmortopf, ein Passiersieb musste sie mit dem Finger zeigen.“ Die
strenge Protestantin „erkannte“ zudem „ihren Gottesdienst in dieser Sprache nicht
wieder […] Der Prediger mochte sich Pastor nennen, sein prächtiger lila Umhang
machte ihn für sie zum Priester.“ Der Alltag in der deutschen Tischlersfamilie im
englischen Richmond ist mit all seinen interkulturellen Hürden so präzis
beschrieben, nämlich immer auf die Sprache und die Realien bezogen, dass man
als Leser versteht, warum Lisbeth Cresspahl ihren Mann, den gestandenen
Sozialdemokraten und Hitler-Gegner, schließlich nötigt, im Herbst 1933 aus
England nach Deutschland zurückzukehren. In einen Staat, der gerade dabei ist,
einen nicht unerheblichen Teil seiner ureigenen Bürger zu Fremden zu stempeln
und aus ihrem Vaterland ins Elend zu jagen. Wie das nicht hunderttausendfach
und somit anonym unfassbar geschieht, sondern im ganz Kleinen und
überschaubar Privaten, das kann in den Jahrestagen wie in keinem zweiten deut-
schen Buch studiert werden.
Ein Buch über Fremde und Fremdes, das gilt auch für jene langen Passagen, die
von der Ankunft der russischen Soldaten in Mecklenburg erzählen, von ihrem
Nichtheimischwerden in Jerichow und von der Errichtung des stalinistischen
Gangstersozialismus im Osten Deutschlands. Man lese die Beschreibung der
cresspahlschen Haft im von den sowjetischen Besatzerbefreiern weiterbetriebenen
KZ Fünfeichen am Tollense-See – und man versteht nicht mehr, wieso es für
westdeutsche Journalisten nach 1990 eine solche Sensation war, was nach 1945 in
Lagern wie dem von Fünfeichen verbrochen worden ist. Johnson hat uns das
schon vor über zehn Jahren in allen noch eben erträglichen Details erzählt.
Die Jahrestage sind schließlich ein Buch über New York, denn dort lebt die
wichtigste Person des Romans, Gesine Cresspahl, seit April 1961, mit ihrer Tochter
Marie. Und was Anfang der 30er Jahre in England nicht gelang, das gelingt nun
dreißig Jahre später diesem Kind, dem Enkel des Kunsttischlers aus Jerichow: Sie
lernt die englische Sprache, sie findet hinein in den Alltag der großen Stadt New
York. Der wiederum erstaunlich präzis beschrieben wird. Und das ergibt nicht das
Bild einer multikulturellen Megaidylle, sondern wir bekommen Konflikte und
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 17

Entwicklungen beschrieben, wie wir sie heute in Ansätzen auch aus deutschen
Städten kennen. Aber für die zehnjährige Marie ist das 1967 (im August 1967
setzen die Jahrestage ein, sie enden mit dem 20. August 1968) dennoch schon
Heimat geworden:

„Sie misst vier Fuß zehn Zoll. Ihre Schrift hat die Bogen und Schleifen der
amerikanischen Vorlage. Beim Malnehmen schreibt sie den Multiplikator
unter, nicht neben den Multiplikanden. Sie denkt in Fahrenheitgraden, in
Gallonen, in Meilen. Ihr Englisch ist dem Gesines überlegen in der Artikula-
tion, der Satzmelodie, dem Akzent. Deutsch ist für sie eine fremde Sprache,
die sie aus Höflichkeit gegen die Mutter benutzt, in flachem Ton, mit ameri-
kanisch gebildeten Vokalen, oft verlegen um ein Wort. Wenn sie achtlos
Englisch spricht, versteht Gesine sie nicht immer […] Sie hat das Ubahn-
system Manhattans im Kopf […] Sie wippt in den Knien, wenn sie sich ver-
sprochen hat und gesagt, dass Neger eben Neger sind, sie wippt in den
Knien und bewegt die aufgestellten Handflächen wie schiebend gegen Ge-
sine und sagt: O. K.! O. K.!“

Solch genaues Beobachten (und winzige Beispiele nur konnte ich zitieren) von
Fremdsprachenerwerb und von Aneignung fremder Kultur und fremder Vorur-
teile, von Heimatgewinn also, langte allerdings noch immer nicht hin, einem
Germersheimer ausländischen Studenten die Lektüre dieser Romantrilogie in vier
Bänden (kein Versprecher!) zuzumuten, käme nicht das Entscheidende hinzu –
beim Blick auf mein Publikum entscheidend –, nämlich dass die Hauptperson eine
Übersetzerin ist, eine erfolgreiche zudem, aufsteigend in höhere Etagen (bis in den
28. Stock!) einer großen New Yorker Bank. „Dschi-sain“ wird sie dort von ihren
amerikanischen Kollegen gerufen. Darum auch ist es für den Erzähler erwäh-
nenswert, dass sie das Englisch ihrer Tochter manchmal nicht versteht, dass sie
einzelne phraseologische Wendungen nachschlagen muss, denn studiert hat Ge-
sine das Englische schließlich, sie hat sogar ein Übersetzer-Diplom.
Und dieses Übersetzer-Diplom, so behauptet die umfängliche Sekundärlitera-
tur mit unglaublicher und wahrscheinlich nur schwer zu erschütternder Sturheit,
habe sie in Frankfurt am Main erworben. Die Johnson-Forschung stützt sich dabei
auf eine Passage in seinem zuerst veröffentlichten Roman, den Mutmaßungen über
Jakob von 1959. Da heißt es in einem kursiv gedruckten Absatz, in dem zunächst
von Heinrich Cresspahl die Rede ist: „[…] er hatte eine Tochter, geboren 1933,
Oberschule in Jerichow, Studium der Anglistik in Leipzig, Dolmetscherschule in
Frankfurt am Main, am Main.“ Nur muss man bedenken, dass diese Informatio-
nen aus einem Bericht der Stasi im mecklenburgischen Jerichow stammen. Die
norddeutschen Stasi-Mitarbeiter hatten nicht mal herausgefunden, was Gesine
Cresspahl im Anschluss an ihr Studium trieb, dass sie nämlich Übersetzerin war
bei der NATO, beim Amt für Manöverschäden in Mönchengladbach… Also: Diese
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 18

(in den Mutmaßungen zitierte) mecklenburgische Stasi-Akte über Cresspahl und


seine Tochter Gesine, das ist keine sehr zuverlässige Quelle, die wussten dort in
der tiefsten DDR-Provinz einfach nicht, wo in Westdeutschland Übersetzer-
Diplome vergeben werden. Das ist schlimm, aber deshalb muss man solche Akten
nicht gleich wegschließen oder gar verbrennen, nur kritisch behutsam sollte man
mit ihnen umgehen, sie nicht mit kaltkriegerisch ideologischem, sondern mit kri-
minalistisch-philologischem Eifer studieren.
25 Jahre nach Erscheinen der Mutmaßungen, im Schlussband der Jahrestage von
1983, wird nun der Jerichower Stasi-Bericht aus den 50er Jahren korrigiert. Denn
Uwe Johnson legte außerordentlichen Wert auf die Zuverlässigkeit der in seiner
Prosa verarbeiteten Realien und Fakten. Wo also hat Gesine Cresspahl studiert?
An der Universität in Frankfurt am Main, an deren „Englischem Seminar“? „Als
ich die Gebührentafel sah, gab ich auf“, das lässt Johnson sie in New York am
17. August 1968 (zwei Tage vor dem Aufbruch Richtung Prag und Prager Spätest-
frühling) ihrer Tochter Marie erzählen. Denn Marie hatte sich einen Bericht „be-
stellt“ über die „Studentin Cresspahl an einer westdeutschen Universität“.
Mit einem Anglistik-Studium hatte Gesine Cresspahl noch in der DDR, in
Halle, begonnen (auch in diesem Punkt also wird der Stasi-Bericht vom Erzähler
der Jahrestage korrigiert). Aber die Arbeit als Lehrerin kam für sie nicht mehr in-
frage, das „Verlangen nach einem solchen Beruf war mir ausgetrieben auf der
sozialistischen Oberschule von Gneez. Vor einer Klasse stehen mit dem Wissen,
etwas zu verschweigen, von den Schülern des Lügens verdächtigt; mir wollt ich es
ersparen.“ Doch in Westdeutschland, „in einem freien Lande“, sagt die Tochter,
„durftest du lehren was du wolltest.“ Darauf Gesine: „In der Grammatik, in der
Metrik, in den Formen gewiss. Aber keine Betrachtung des Inhalts mit jener Art
von Dialektik, die mir eingeleuchtet hatte, 1953!“ Da würden wir gerne Genaueres
wissen. War das 1953 im westdeutschen Englisch-Unterricht an Gymnasien tat-
sächlich verboten oder unerwünscht, literarische Werke statt nach den Regeln der
staigerschen Kunst der Interpretation mit einer dialektisch-materialistischen
Methode zu analysieren? Welcher unserer englischen Studenten wird das einst in
welchen Archiven erforschen?
Jedenfalls wollte Gesine kein Anglistik-Studium mehr (das ja außerdem in
Frankfurt am Main viel zu teuer war), keinen Lehrerberuf mehr, sondern „bloß die
Sprache“. „Mir genügte“, erzählt sie ihrer Tochter, „eine Dolmetscherschule, und
stehe sie am linken Ufer des Rheins in einem Talgraben, da sieht es bei Nebel aus
wie Flandern nach der Schlacht. Wo die Geschicklichkeiten von Hitlers Chef-
dolmetscher dir geläufig sein mussten wie die Sprüche Salomons. Da wurden die
Schüler zu Diplomaten, wenn sie hinüberwechselten aus dem Naturschutzpark
eines Pensionsberechtigten in die freie Wildbahn der Aktiven. Viel abgebrochene
Riesen darunter. Schmalspur-Akademiker. Einer wurde mir gezeigt, der kam aus
einer Dolmetscher-Kompanie, der hatte für Hitlers Abwehr gearbeitet, ehemals
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 19

Schauspieler in Leningrad; Hände weg. Ein anderer, im Suff brüstete der sich mit
Entführungen; deswegen machte ich einen Bogen um das Fach Russisch. Italie-
nisch, Französisch, ja. Wenigstens lernten wir reden, sprechen.“
Dolmetscherin wäre Gesine Cresspahl gerne geworden, Mitglied in der
A. I. I. C., der „Association Internationale des Interprètes de Conférences [sic!]. Die
nehmen einen erst nach zweihundert Tagen Konferenz, und fünf Kollegen sollen
für dich bürgen. Dafür hätte ich zehn Semester bezahlen müssen am Rhein bei
Schifferstadt, statt meiner sechs, von denen mir noch zwei sind erlassen worden“,
wegen des vorangegangenen Anglistik-Studiums in Halle.
Gesine Cresspahls Sottisen über die „Schmalspur-Akademiker“ weisen wir
zurück, selbst wenn sie sich nur auf die frühen 50er Jahre beziehen. Wir sind
schließlich keine Fachhochschule, sondern Fachbereich einer Universität! Auch
ihre sonderbaren Phobien vor der russischen Abteilung und den Fakt, dass Ger-
mersheim namentlich gar nicht genannt wird, können wir wegstecken. Der Roman
Jahrestage bekommt dennoch einen Ehrenplatz in unserer Bibliothek und auf den
Lektürelisten unserer ausländischen Studenten. Denn das ist das Mindeste, was
wir dieser auf Dauer gewiss berühmtesten Germersheimer Absolventin schulden,
dass wir uns erzählen lassen über ihren Lebensweg vor und nach ihrem Diplom-
Studium hier „am Rhein bei Schifferstadt“. Dieser von Johnson aufgeschriebene
Weg der Gesine Cresspahl von Jerichow im Mecklenburg der Hitler-, Stalin- und
Ulbrichtzeit an den Riverside Drive im New York der Jahre 1967/68, der Zeit des
Vietnam-Krieges, des Prager Frühlings und der Regierung Kiesinger/Brandt,
beweist, dass es sehr nützlich, sinnvoll und wichtig ist, unser Germersheimer
Übersetzer-Studium, dass es aber außerdem noch sehr viel Wichtigeres gibt im
Leben eines Menschen, der den Versuch wagt, ein anständiges Leben zu führen.

Gestatten Sie mir noch – auch wenn sich das für eine Antrittsvorlesung vielleicht
nicht ganz schickt – drei Minuten für drei persönliche Bemerkungen.
Die erste gilt meinem im Sommer 1985 verstorbenen Vater Bruno Kelletat. Er
wurde heute vor 75 Jahren, am 8. Dezember 1919, in Königsberg in Preußen gebo-
ren. Ihm verdanke ich das Allerwichtigste auf dem nun auch schon recht lang
gewordenen Weg vom ersten Kinderbuch zum Germanistik-Professor, nämlich die
Freude am Lesen. Von ihm habe ich die Gewissheit, dass Literatur mehr ist als
Tandaradei, dass sie einem Leben auch Tiefe und Festigkeit geben kann, dass in
ihr etwas aufbewahrt ist, das durch keinen Fachtext, keinen Dokumentarfilm und
keinen Video-Clip ersetzt wird, etwas, das sogar ein eigenes Studium also recht-
fertigen kann.
Kaum weniger verdanke ich dem Bruder meines Vaters, dem Berliner Germa-
nisten Alfred Kelletat. Der mich in den 70er Jahren zwar immer wieder – mit sehr
bedenkenswerten Argumenten – vor unserem Fach gewarnt hat, der mir aber
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 20

zugleich Vorbild war und Vorbild ist bei der schwierigen Frage, wie eine wissen-
schaftliche Beschäftigung mit deutscher Literatur aussehen kann; Vorbild aber
auch für einen Umgang mit Studenten, der auf Anmaßung und auf Bluff zu ver-
zichten zumindest sich bemüht.
Meine zweite persönliche Bemerkung gilt meinen Kollegen an der Universität
Vaasa, im finnischen Österbotten. Meine akademische Laufbahn habe ich im
Sommer 1984 in Nordeuropa mit dem Aufbau eines Instituts für Deutsche Sprache
und Literatur, mit der schrittweisen Etablierung einer ganzen Fakultät beginnen
können – in Jahren übrigens, in denen frisch promovierte Germanisten in
Deutschland nicht gebraucht wurden, nicht an Hochschulen, nicht in Verlagen,
nicht bei öffentlichen wie privaten Arbeitgebern. Als – zweifellos sehr privilegier-
ter – Gastarbeiter habe ich an dieser finnischen Universität als gerade 30-jähriger
Nachwuchswissenschaftler Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten in Forschung,
Lehre und Hochschulverwaltung bekommen, die wir an Deutschlands geistes-
und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen selten einem 45-Jährigen einräumen.
Ich bitte Professor Henrik Nikula, den heute hier anwesenden Dekan der Philoso-
phischen Fakultät der Universität Vaasa, nach Finnland meine Grüße zu übermit-
teln und meinen Vorsatz, den Kollegen dort auf Dauer verbunden bleiben zu
wollen, im Fachgespräch und in der Freundschaft erst recht.
Drittens schließlich danke ich der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und
dem Minister für Wissenschaft und Weiterbildung des Landes Rheinland-Pfalz für
das Vertrauen, das sie mir, auch als in Deutschland nicht ordentlich Habilitiertem,
durch die Berufung auf die Germersheimer Professur für Interkulturelle
Germanistik entgegengebracht haben. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen in
Mainz wie in Germersheim, hier besonders die Dozierenden des Germanistischen
Instituts und die ausländischen Studierenden des Faches Deutsch als Fremdspra-
che, um jene Geduld und um jene zweifellos mehr als 100 Tage, die nötig sein
werden, um dieses Vertrauen hoffentlich zu rechtfertigen.
Antrittsvorlesung (8. Dezember 1994) 21

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