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Der Angriff, der die Welt verändert


PUTINS KRIEG
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HAUSMITTEILUNG

Titel  | Seiten 8, 46, 50

Es ist eine Zeitenwende. Am frühen


Donnerstagmorgen hat Russland die
Ukraine angegriffen. Damit herrscht
ein großer Krieg mitten in Europa,
Anastasia Vlasova / DER SPIEGEL

wie ihn viele Menschen nicht mehr


Maxim Babenko / DER SPIEGEL

für möglich gehalten hätten. Russ­


lands Präsident Wladimir Putin at­ta­
ckiert die Friedensordnung des Kon­
tinents und nimmt den Tod Tau­sen­
der Zivilisten in Kauf. Wie sich der
minutiös vorbereitete Feldzug Ende
der Woche entfaltete, verfolgte ein
SPIEGEL-Team vor Ort. Christian
Esch recherchierte unter anderem im
ukrainischen Kramatorsk. Christina
Hebel konnte auf russischer Seite der
Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL

Front beobachten, wie Putins Trup­


pen im Grenzgebiet zum Donbass
75 Gesichter
Sara Naomi Lewkowicz

wenige Stunden vor der Offensive in


Stellung gingen. Jonathan Stock und
Alexandra Rojkov berichten aus Kiew,
wo sie mit verängstigten Ukrainern
Deutschlands
sprachen, die inzwischen beispiels­
weise in Metrostationen Zuflucht suchen. Was bedeutet der Krieg für die Weltordnung, für die fast Wer gehört auf eine
kaputtgesparte Bundeswehr, die Nato, die Wirtschaft? Putins Angriff auf die Ukraine beende die
Hoffnung des Westens auf ein »gemeinsames ›Wir‹ der Menschheit«, schreibt der Politikwissen­ Liste mit prägenden
schaftler Herfried Münkler in einem Essay: »Was wir jetzt erleben, ist eine Ordnung, wie wir sie
aus der europäischen Geschichte kennen: ein permanenter Kampf um Einflussgebiete und die Figuren? Diese
­daraus resultierende ständige Furcht, es könnte zu einem großen Krieg kommen.«

Emix  | Seite 36
Edition präsentiert
Für eines der größten Rätsel rund um die Maskenbeschaffung in der Pandemie stehen vier Buchstaben:
unsere Auswahl.
Emix. Nicht nur die Staatsanwaltschaft München fragt sich, wie Schweizer Jungunternehmer
mit einer Minifirma öffentliche Aufträge für knapp eine Milliarde Euro ergattern konnten. Auch der
Wie hätten Sie sich
SPIEGEL , der den Fall vor gut einem Jahr publik machte und eine Verbindung zur CSU aufdeckte, re­
cherchierte weiter. Dabei stieß das Team auf abenteuerliche WhatsApp-Chats und andere Interna aus
entschieden?
dem Emix-Lager. Demnach flossen offenbar nicht nur die bekannten rund 48 Millionen Euro Provision
an Andrea Tandler, Tochter des früheren Strauß-Vertrauten Gerold Tandler, und ihre Partner. Auch ein
Schweizer Geschäftsmann könnte als Makler Millionen an den Deals verdient haben. Tandler schweigt
eisern. »Man hat den Eindruck, die öffentliche Empörung ist in den Millionen eingepreist – Augen zu
und durch«, sagt Reporter Jürgen Dahlkamp. Trösten kann sich Tandler zum Beispiel mit gleich zwei
Villen, die sie sich inzwischen mit ihrem Partner im Münchner Nobelvorort Grünwald gesichert hat.

Südkorea  | Seite 82

Als Redakteurin Katharina Graça Peters (r.) die Grundschule in


Jetzt
Jun Michael Park / DER SPIEGEL

dem südkoreanischen Dorf Bugil besuchen wollte, musste sie


erst die Hühner vorbeilassen, die über den Hof liefen. Die ­Schule
ist ein idyllischer Ort – doch es fehlt an Kindern und damit an
im Handel
Chancen für die Zukunft. Südkorea hat die niedrigste Geburten­
rate der Welt und versucht, mit Milliardenaufwand gegenzu­
steuern, trotzdem entscheiden sich immer mehr Paare gegen ein
Baby. Auf der Suche nach Erklärungen hat Peters mit einem
­Dutzend Frauen auch in der Hauptstadt Seoul gesprochen, unter ihnen die Barmanagerin Lee
Chan-kyung, 37. Eine Familie zu gründen sei in Südkorea nicht nur teuer. Für Frauen bedeute sie
oft das Ende des Berufslebens, sagt Peters: »Ein Baby zu bekommen würde heißen, dass sie sich
selbst aufgeben müssen.«

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 3


INHALT TITEL

6 | Leitartikel  Putins Angriff gilt


nicht nur der Ukraine, sondern
der demokratischen Welt
DER SPIEGEL 76. Jahrgang | Heft 9 | 26.2.2022

8 | Ukraine  Die Chronik eines


angekündigten Krieges

12 | Militärexperte
Carlo Masala über die Folgen
für die Nato

15 | Die Wiedergeburt der Nato

17 | Sicherheit  Der Überfall


auf die Ukraine offenbart
das Scheitern der deutschen
Russlandpolitik

21 | Ex-Außenminister
Sigmar Gabriel fordert eine
Mobilisierung der Nato

Ukrainian State Emergency Ser vice / REUTERS


an der Ostgrenze zu Russland

23 | Deutschlands Naivität
gegenüber Putin

24 | Migration  Bund und Län-


der bereiten sich auf die Aufnah-
me ukrainischer Flüchtlinge vor

DEUTSCHLAND

Der Epochenbruch 26 | Gab Russlands Staatschef


den Auftrag zum Berliner
­Tiergarten-Mord? / Petitions­
UKRAINE  Russlands Diktator Wladimir Putin entfesselt mit seinem Angriff den ausschuss fordert Neu­bewertung
­größten Krieg auf europäischem Boden seit 1945. Russische Truppen rücken der deutschen Taiwanpolitik /
Die Gegen­darstellung /
aus mehreren Richtungen auf Kiew vor. Die Invasion folgt einem von langer Hand So gesehen: Kriegstreiber!
geplanten Drehbuch. Und sie wird die Welt verändern. | 8 bis 24
30 | Regierung  In der Ampel
herrscht Frust über die FDP

33 | Klima  Karl Lauterbach


wirbt im SPIEGEL -­Gespräch für
neue Einschränkungen zum
Schutz der Umwelt

36 | Provisionen  Wie Monika


Hohlmeier Millionendeals für
die Maskenfirma Emix einfädelte
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

Mathias Bothor / photoselection

40 | Berlin  Ein Familien­


unternehmer baut den höchsten
Hotelturm der Stadt
Francesco Scavullo

42 | Prognosen  Anfang Dezem-


ber warnten Experten vor der
Triage – war das Panikmache?

Karl Lauterbach Doris Dörrie Jil Sander 44 | Zeitgeschichte  Ein


Der Bundesgesundheitsminister Warum ist das Werk der Autorin Die Modekönigin blickt zurück ­ enscher-Vertrauter über
G
fordert, den Fleischkonsum und Regisseurin gerade für junge auf ihre Kindheit und die ­Versprechen von 1990 – und die
drastisch zu senken. | 33 Frauen so interessant? | 110 ­Anfänge ihrer Karriere. | 102 spätere Nato-Osterweiterung

4 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022 Die Themen zum Ukraine-Krieg sind blau hervorgehoben.
DEBAT TE 82 | Demografie  Südkorea
leidet an Kindermangel
46 | Krieg in Osteuropa Das
Ende der alten Weltordnung
SPORT

Andrey Rudakov / Bloomberg / Getty Images


REPORTER 85 | Wohin Geld von Gazprom
fließt / Warum sind deutsche
48 | Familienalbum / Wie lange Kufensportler so gut?
zittern Sie?
86 | Fußball  Christian Streich
49 | Eine Meldung und ihre und das ungewöhnliche
Geschichte Dagmar Berghoffs Erfolgsmodell des SC Freiburg
schönes Leben
89 | Paralympics  Monoski­
50 | Heimat  Wie ein Haus­ fahrerin Anna-Lena Forster
meister in Kiew versuchte, über China und die deutsche Geschäfte unter Feinden
sich auf den Krieg vorzubereiten Nachwuchsarbeit
Über Jahrzehnte hat die deutsche Wirtschaft von offenen
Welt­märkten profitiert. Auf geopolitische Krisen ist sie schlecht
55 | Kolumne  Leitkultur
vorbereitet. Braucht es ein härteres Auftreten? | 60
WISSEN

WIRTSCHAF T 90 | Botschaft vom Nahtod? /


Überlastete Kinderpsychologen /
58 | Gebrauchtwagenpreise Analyse: Schwindende
vor dem Absturz / 25 Milliarden Bakterienvielfalt gefährdet die
Euro russisches Vermögen in Gesundheit
Deutschland
92 | Umwelt  Was hilft gegen
60 | Globalisierung  Ist die Vermüllung der Welt?
Deutschlands Wirtschaft für geo­
politische Krisen gerüstet? 97 | Technik  Das Mobilfunknetz
von übermorgen
63 | Interview mit Ökonom
Johan Ordonez / AFP

­Gabriel Felbermayr über die wirt­ 98 | Corona  Nasenspray-


schaftlichen Folgen des Krieges Impfungen sollen vor
­Ansteckungen schützen
65 | Arbeitswelt  Wie man bei
­Tesla einen Betriebsrat wählt
KULTUR Was hilft gegen die Plastikflut?
66 | Verschwendung  Aus­
Die Menschheit vermüllt den Planeten – die ökologischen Folgen
gerechnet der Europäische Rech­ 100 | Neuer Roman von
sind unabsehbar. Auf einer Umweltkonferenz in Nairobi beraten
nungshof gibt unnötig Geld aus Leïla Slimani / Pasolinis
­Experten jetzt, wie sich das globale Problem eindämmen lässt. | 92
­Meisterwerk »Mamma Roma«
68 | Karrieren  Der Aufstieg wieder im Kino
der Marketingfrau Hildegard
Wortmann in den VW-Vorstand 102 | Mode  Jil Sander über ihre
womöglich letzte Kollektion
70 | Immobilien  Teure
­Energiespartechnik fürs Haus 108 | Zeitzeuginnen  Eine Psy­
hält nicht, was sie verspricht chologin schreibt aus Afghanistan

110 | Autorinnen  Junge


AUSLAND Frauen entdecken das Werk
von Doris Dörrie
72 | Frankreichs Demokratie­
defizit / Angst um Lulas 112 | Karrieren  Die Irrwege
­Sicherheit der Kabarettistin Lisa Fitz
Eibner / IMAGO

74 | USA  Warum Donald 115 | Literaturkritik  Vendela


Trumps treue Fans auf seine Vida erzählt vom Kalifornien der
Rückkehr hoffen Achtziger

80 | Österreich  Der grüne Ein Philosoph und Macher


Vizekanzler Werner Kogler über Bestseller | 109 SPIEGEL-TV-Programm | 114 Christian Streich ist der Kopf hinter dem erstaunlichen Erfolg
Impressum, Leserservice | 116
seinen skandalgeschüttelten Nachrufe | 117 Personalien | 118
des Fußballbundesligisten SC Freiburg. Was steckt dahinter? Harte
Koalitionspartner ÖVP Briefe | 120 Hohlspiegel / Rückspiegel | 122 Arbeit, sagt der Trainer. | 86­

Titel-Foto: Mary Ostrovska / AP Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 5


Angriff auf Europa
LEITARTIKEL  Mit Putins Krieg gegen die Ukraine beginnt eine neue, gefährliche Epoche in der Weltpolitik.
Die Europäer müssen sich besser aufstellen, wenn sie überleben wollen.

im Zweifelsfall die Amerikaner. Nun gilt es, sich von


einigen lieb gewonnenen Lebenslügen zu verabschieden.
Da ist die Annahme, dass sämtliche Konflikte durch
Zureden zu lösen sind. »Im Dialog bleiben« ist das Man-
tra deutscher Politik, egal ob gegenüber Putin, Erdoğan
oder Xi Jinping. Aber was, wenn Typen wie Putin gar
nicht reden wollen, wenn sie negieren, dass Geschichte
stattgefunden hat, wenn sie Verhandlungen nur als Vor-
wand nehmen, um einen Angriffskrieg vorzubereiten?
Die Empörung über Putins Täuschungsmanöver ist in
Europas Hauptstädten gerade groß. Sie kommt zu spät.
Tatsächlich hätten die Europäer sehr viel früher auf Kon-
frontation zu dem Machthaber im Kreml gehen müssen.
Falsch ist auch der Glaube, man könnte einen Großteil seiner
fossilen Rohstoffe aus Russland beziehen und sich gleich-
zeitig seine Unabhängigkeit gegenüber Moskau bewahren.
Es war geradezu peinlich, wie lange die Bundesregierung
Sergei Grits / AP

an der Gaspipeline Nord Stream 2 festhielt. Man hätte die


Sanktionen, die nun diskutiert werden, bereits nach Putins
Annexion der Krim 2014 verhängen sollen. Der Opportu-
nismus der EU-Staaten gegenüber Russland hat Putin nur

E
Beschädigte s gibt Dekaden, in denen passiert nichts, soll Lenin animiert, sein mörderisches Spiel immer weiterzutreiben.
Radaranlage bei gesagt haben. Und dann gibt es Wochen, in denen Und schließlich müssen sich die Europäer mit dem
Mariupol werden Dekaden gemacht. Wie in dieser. Russlands Gedanken anfreunden, dass Militär auch im 21. Jahrhun-
Diktator Wladimir Putin hat am Donnerstag wahr ge- dert ein Faktor bleibt. Viele dachten, das Schicksal von
macht, wovor insbesondere die US-Regierung gewarnt Nationen würde einzig durch Wirtschaftsdaten bestimmt,
hatte: Er hat die Ukraine überfallen. Er hat sich dabei durch Technologie. Nun demonstriert Putin, dass sich
nicht auf den Osten beschränkt. Sein Militär attackiert auch mit sehr viel archaischeren Mitteln Politik machen
das gesamte Land, auch die Hauptstadt Kiew. lässt, mit Panzern, Kampfjets, Artillerie.
Putin hat früh bewiesen, wie skrupellos er seine Ziele Es wäre naiv zu denken, dass der Konflikt mit dem
verfolgt. Er hat Tschetschenien zu Beginn seiner Amtszeit Putin-Regime auf die Ukraine begrenzt bleibt. Putin führt
in Schutt und Asche bomben lassen. In Syrien fliegt seine seit Jahren einen hybriden Krieg gegen Europa, etwa in-
Luftwaffe Angriffe gegen Schulen und Krankenhäuser. dem er autoritäre Parteien finanziert. Diesen Krieg dürf-
Auch aus seinen Plänen für die Ukraine hat er keinen te er noch forcieren.
Hehl gemacht. Bereits vergangenen Sommer sprach er in Die Europäer müssen sich dagegen wappnen, indem
einem Aufsatz dem Land das Existenzrecht ab. Trotzdem sie das entwickeln, was Frankreichs Präsident Emmanu-
haben Politiker, insbesondere in Deutschland, bis zuletzt el Macron »strategische Autonomie« nennt. Sie müssen
seine Aggressionen relativiert. Man konnte oder wollte sich dagegen verwahren, dass ihre Institutionen durch
sich nicht vorstellen, wie weit Putin gehen würde. Die Moskau von innen heraus zerstört werden. Putins Krieg
Putin-Versteher überall auf der Welt, sie tragen eine Mit- gegen die Ukraine muss der Anlass sein, Russland endlich
schuld an diesem Krieg. aus dem Europarat zu verbannen.
Putins Angriff gilt nicht nur der Ukraine. Er gilt Euro- Sie müssen sich wirtschaftlich unabhängig machen
pa. Er gilt der gesamten demokratischen, regelbasierten von Russlands Öl und Gas. Wenn es noch ein Argument
Welt. Und deshalb müssen sich die Demokratien dieser gebraucht hat für den massiven Ausbau von erneuer­baren
Welt jetzt wehren. Energien – Putin hat es mit seinem Krieg gegen die
Mit dem Überfall auf die Ukraine endet eine Epoche. ­Ukraine geliefert.
Die europäische Ordnung, die dem Kontinent nach Eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik ist
Es gilt, sich dem Ende des Kalten Krieges drei Dekaden relativer überfällig, auch um weniger auf die USA angewiesen zu
von einigen Sicherheit beschert hat, zerbricht. Eine neue, gefährliche sein. Man mag sich nicht vorstellen, was wäre, wenn in
Zeit beginnt. Und die Frage ist, ob Europa darauf vor- der gegenwärtigen Krise Donald Trump statt des Trans-
lieb gewon­ bereitet ist. atlantikers Joe Biden im Weißen Haus säße.
nenen Lebens­ Die Europäer haben sich bequem in der alten Ordnung Die Welt ist mit dem 24. Februar 2022 eine andere
eingerichtet. Sie haben in Reden Demokratie und Men- geworden. Die Europäer müssen sich darauf einstellen,
lügen zu schenrechte hochgehalten und gleichzeitig Geschäfte mit um darin zu überleben.
verabschieden. Diktaturen wie Russland gemacht. Für Sicherheit sorgten Maximilian Popp  n

6 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


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TITEL UKRAINE-KRIEG

Chronik eines angekündigten Kriegs


UKRAINE  Wladimir Putins brutaler Überfall läutet eine dunkle Epoche ein: die Rückkehr des
Faustrechts in Europa. Westliche Geheimdienste sahen die Katastrophe kommen,
konnten sie aber nicht stoppen. Die Aggression könnte die gesamte Weltordnung verändern.

Ziviles Opfer eines


russischen
Raketenangriffs in
Tschuhujiw

8 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


K
rieg stellt man sich als etwas Lau- säule zu sehen, auf Twitter zeigen Videos, wie Angriffskrieg gegen ein souveränes europäi-
tes vor: Man erwartet Einschläge, russische Hubschrauber einen Flughafen nahe sches Land.
Bomben, fliehende Menschen, der Stadt angreifen. Schließlich folgen die Was die Menschen in der Ukraine und in
Panik. Als der Krieg am Donners- ­Berichte, dass russische Truppen sich in einer weiten Teilen Europas an diesem Donnerstag
tag früh nach Kiew kommt, ist er Zangenbewegung auf Kiew zubewegen sollen. verbindet, ist die Ungläubigkeit. Das Unvor-
zunächst vor allem eins: leise. Die Am Nachmittag ertönen in der Stadt die stellbare ist geschehen: Wladimir Putin hat
Straßen der Innenstadt sind leer, kaum ein Auto ­Luftsirenen. Der Krieg kommt Stunde für eine Invasion gegen die Ukraine in Gang ge-
ist unterwegs. Die wenigen Passanten huschen Stunde näher. setzt, mit geschätzt 200 000 Soldaten, mit
lautlos vorbei. Die Plätze, auf denen sonst Men- Kaum jemand in der Ukraine hat einen Boden- und Luftlandetruppen, mit Panzern
schen in der Morgensonne Kaffee trinken, sind Angriff auf die Hauptstadt wirklich für mög- und Kampfhubschraubern, mit Marschflug-
verwaist, der Stadtlärm ist verstummt. Es ist lich gehalten, obwohl die US-Geheimdienste körpern und Schiffen, mit dem ganzen kon-
die Ruhe vor dem Sturm der Hauptstadt. seit Wochen davor gewarnt haben. Viele Be- ventionellen Arsenal der russischen Armee.
Von einem Hochhausdach in der Kiewer wohner haben weder Vorräte aufgestockt Das Szenario, vor dem amerikanische Nach-
Innenstadt ist in weiter Ferne eine Rauch- noch sich um sichere Schutzräume geküm- richtendienste seit Oktober warnen, ist tat-
mert. Was tut man in einem solchen Moment: sächlich eingetreten. Und das ist in der Nach-
Bleiben? Fliehen? Oder kämpfen? betrachtung vielleicht das Erstaunlichste: Die
Stadtauswärts bilden sich viele Kilometer Geheimdienste haben das meiste, was Wla-
lange Staus, am Bahnhof drängen sich Men- dimir Putin schließlich getan hat, in vielen
schenmassen, viele Kiewer wollen sich in Details vorhergesehen, sie haben die Pläne
Richtung Westen in Sicherheit bringen. Der seit Wochen und Monaten immer wieder neu
öffentliche Verkehr, so hat es der Bürger- offengelegt. US-Präsident Joe Biden und
meister Vitali Klitschko angeordnet, ist an Außenminister Antony Blinken präsentierten
diesem Tag kostenfrei – aber kaum jemand Putins Pläne in Live-Pressekonferenzen und
will damit fahren. Die Busse sind leer, mit vor dem Uno-Sicherheitsrat. Sie hofften, ihn
der Metro nur jene unterwegs, die sich unter dadurch noch abzuhalten. Vergebens. Die
der Erde in Sicherheit bringen wollen: Die USA wirkten in dieser Krise allwissend und
Stationen dienen als Schutzbunker. Ober- ohnmächtig zugleich.
halb, auf den Straßen Kiews, wird es mit je- Wann Putin die endgültige Entscheidung
der Stunde stiller. Hotels stellen ihren Dienst gefällt hat, in der Ukraine einzumarschieren,
ein, Bankautomaten, vor denen sich am Mor- ist unklar. Aber wie er diesen Einmarsch vor-
gen lange Schlangen gebildet hatten, spucken bereitet hat, ist in geradezu verwunderlicher
kein Geld mehr aus. Wer noch nicht die Stadt Weise öffentlich geworden. Wie Putin sein
verlassen hat, wartet zu Hause auf das Militär aufbaut, war sogar für einfache Inter-
Schlimmste. netnutzer nachzuvollziehen. Satellitenbilder,
Nastja und Ljowa gehören zu den wenigen TikTok-Videos, vor allem aber die – in Euro-
Menschen, die in einem Café sitzen, beide pa lange skeptisch betrachteten – Warnungen
hängen an ihren Telefonen, sie haben Ver- der US-Regierung und Leaks westlicher Ge-
wandte, die nahe der Front leben. Nastjas heimdienste erweckten den Eindruck, man
Familie wohnt in Charkiw, Ljowa stammt aus könne der militärischen Invasion in Zeitlupe
der Hafenstadt Mykolakjiw – an beiden Orten zuschauen.
hält die ukrainische Armee große Stützpunk- Was Putin vorbereitete, war für die ganze
te. Sie erzählen, dass ihre Eltern und Freunde Welt sichtbar. Und dennoch haben führende
in Kellern sitzen und den Einschlägen der Politiker und Journalisten in der Ukraine, in
Raketen lauschen, die auf die Stellungen der Europa, in Russland bis zuletzt nicht für mög-
ukrainischen Armee niederregnen. lich gehalten, dass er tatsächlich einen bruta-
Nastja sagt, sie habe in der Nacht zum len Krieg in Europa beginnen würde, um sei-
Donnerstag sogar noch als Barkeeperin ge- ne politischen Ziele zu erreichen.
arbeitet; Kiew war europaweit berühmt für Es gibt keine zweite Ebene im Krieg. Es
sein Nachtleben. Es sei voll gewesen, sagt geht um nackte Gewalt. Putin ist die unab-
Nastja, sie habe Drinks serviert und Gäste hängige, ins westliche Bündnis strebende
bedient, so wie immer. Erst als die 24-Jährige Ukraine ein Dorn im Auge, also zerstört er
im Morgengrauen nach Hause ging, sah sie sie mit militärischen Mitteln. Das macht­
die Nachrichten: Angriffe auf die gesamte seine Entscheidung im 21. Jahrhundert so
Ukraine. Sie ist den Tränen nahe, als sie da- ungeheuerlich. Sein Angriff ist ein Bruch des
rüber redet, so wie viele Menschen an diesem Völkerrechts, eine Rückkehr zu einer krie­
Tag in Kiew. In jedem Satz schwingt Angst gerischen Großmachtpolitik in Europa, wie
mit. »Von wem werden wir ab morgen re- es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht
giert?«, fragt ein Passant, der gerade sein Auto mehr gegeben hat.
vollpackt. »Man weiß es nicht.« Was das für die Menschen in der Ukraine
An diesem 24. Februar 2022, dem Beginn bedeutet, findet sich an diesem denkwürdigen
der russischen Militärinvasion der Ukraine, Tag in einem Tweet wieder. Eine Literatur-
erlebt Europa den vielleicht schwärzesten dozentin der Nationalen Universität Kiew-
Tag für seine Sicherheit seit dem Zweiten Mohyla-Akademie schrieb, alle Vorlesungen
Alex Lourie / Redux / laif

Weltkrieg. Es ist ein Tag, der in die Geschich- seien abgesagt. »Meine Studenten melden
te eingehen wird, er markiert eine düstere sich jetzt bei der Armee.« So klar, so brutal
Zeitenwende. Eine der am stärksten hoch- einfach. Die beiden Sätze zeigen eine Er­
gerüsteten Militärmaschinerien der Geschich- fahrung, die in der europäischen Hemi­
te, die Atommacht Russland, beginnt einen sphäre lange vergessen war: Man kann eines

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 9


TITEL UKRAINE-KRIEG

Morgens aufwachen, und der Machthaber und ein »Imperium der Lüge« darstelle, wie übt hätten. Das scheint eine Bestätigung der
eines anderen Staates greift das eigene Land »amerikanische Politiker, Politologen und US-Warnungen zu sein, wonach Russland
an. Man kann eines Morgens aufwachen, und Journalisten« mittlerweile selbst sagten. Der bereits Listen von Gegnern angelegt hat.
das alte Leben ist weg. Man wollte zur Vor- Westen zwinge Russland fremde Werte auf, Wer nicht die Seite wechselt oder flieht, wird
lesung gehen und streift stattdessen eine Uni- die »zu Niedergang und Aussterben führen, inhaftiert oder getötet. Das Ziel scheint zu
form über. weil sie der Natur des Menschen widerspre- sein, ein russlandtreues Marionettenregime
Die Zerstörung einer Ordnung – das ist es, chen« (offenbar ein Hinweis auf die Ehe für in Kiew zu installieren. Und ausgerechnet
was die Welt am Morgen des 24. Februar er- alle). »Trotzdem« habe Russland im Dezem- Wolodymyr Selenskyj, den jüdischen Präsi-
lebt. Putin zeigt, dass diese Ordnung wackli- ber 2021 das Gespräch über Sicherheitsgaran- denten der Ukraine, erklärt Putin damit
ger und morscher war, als der Westen es wahr- tien und ein Ende der Nato-Erweiterung ge- ­indirekt zum Nazi.
haben wollte. Was an dem Tag eingetreten sucht, vergebens. Außerdem will Putin offenbar Referenden
ist, sollte eigentlich nie wieder passieren: ein Der argumentative Bogen führt von in allen ukrainischen Gebieten abhalten. »Alle
Angriffskrieg in Europa, der Grenzen und Schwulenehe bis zur Nato-Erweiterung, be- Völker auf dem Territorium der Ukraine«
Machtsphären gewaltsam verschieben soll. vor er endlich bei der Ukraine landet. Der sollten endlich die »Freiheit der Wahl« haben,
Der deutsche Sicherheitsexperte Carlo Nachbarstaat werde von der Nato »militärisch ob sie dem Staat überhaupt angehören woll-
­Masala sagt: »Der Westen ist durch seinen angeeignet« und zu einem »feindlichen Anti­ ten. Er spricht also nicht nur von den Russen.
eigenen Idealismus blind geworden für die russland« ausgebaut. »Für unser Land ist es Am Mittwoch hatte das russische Staatsfern-
Tatsache, dass es Akteure gibt, die bereit sind, eine Frage von Leben und Tod, eine Frage sehen bereits eine Karte gezeigt, auf der alle
hohe Kosten zu zahlen und militärisch sehr unserer historischen Zukunft als Volk.« Es Gebiete markiert waren, die der Ukraine an-
rücksichtslos vorzugehen.« Er fügt hinzu: verblüfft, welch geringe Rolle das bislang geblich »geschenkt« worden seien. Als eigent-
»Ich glaube, dass wir in eine Phase offener, ­vorgeschobene Argument eines angeblich liche Ukraine war nur ein kleines Fleckchen
rücksichtsloser Macht- und Interessenpolitik ­unmittelbar drohenden »Genozids« an den in der Mitte markiert.
seitens der Großmächte eintreten. Und dass russischsprachigen Bewohnern der selbst Eines der ersten Opfer von Putins Krieg
Europa die Bildung von Gegenmacht – ­ernannten Separatistenrepubliken im Don- ist ein Vater aus Tschuhujiw im Osten der
militärisch, politisch, ökonomisch – viel stär- bass in Putins Rede spielt: Es war noch am Ukraine. Er stirbt, als am Donnerstag eine
ker in den Blick nehmen muss als bisher Montag als Hauptgrund für ein militärisches Rakete in einem Wohnviertel einschlägt. Sei-
­geschehen.« (Siehe auch Seite 12.) Eingreifen genannt worden. Am Ende gibt ne Angehörigen verhüllen den Leichnam mit
Am Donnerstag um sechs Uhr früh Mos- Putin sich noch nicht einmal Mühe, einen einer Decke.
kauer Zeit meldet sich Wladimir Putin zu halbwegs glaubwürdigen Vorwand für seinen Zehn Minuten nach der Ausstrahlung von
Wort, mit einer Rede an die Nation. Es ist Krieg zu schaffen. Putins Rede sind in der ostukrainischen Stadt
faktisch eine Kriegserklärung an die Ukraine, Die Ziele der Invasion, die Putin in seiner Kramatorsk die ersten Explosionen zu hören;
aber sie ist fahrig und verworren, man ver- Rede nennt, sind weitreichend: Putin erklärt, in der Stadt befindet sich ein Hauptquartier
steht auch nach 25 Minuten nicht ganz, was dass er eine »Demilitarisierung« der Ukraine der ukrainischen Armee im Kampf gegen die
denn nun eigentlich der Grund für die »spe- wolle – faktisch bedeutet das wohl eine voll- Separatistenrepubliken im Osten. Auch in der
zielle militärische Operation« ist, wie Putin ständige Zerstörung ihrer Streitkräfte. Weiter Hauptstadt Kiew, in der Grenzstadt Charkiw,
den Angriff nennt. Die beginnt mit einer At- kündigte er eine »Entnazifizierung« und eine der zweitgrößten Stadt des Landes, und selbst
tacke gegen die Vereinigten Staaten und den »gerichtliche Verfolgung jener, die zahlreicheGRAinFIKIwano-Frankiwsk, einem Ort weit im Wes-
Westen überhaupt, der in Jugoslawien, Liby- und blutige Verbrechen gegen die friedliche ten, WinIRRichtung Polen, sind Explosionen zu
D HE
en, Syrien und dem Irak Unheil gestiftet habe Bevölkerung, darunter russische Bürger«, ver- hören. UTE
ABE
ND A dringen aus fast allen
Russische Streitkräfte
KTU
Himmelsrichtungen in die AUkraine
LISI ein. Sie
In Putins Zange kommen aus der Luft, über dasERWasser, T zu
Land.
Der russische Überfall auf die Ukraine Russische Kriegsschiffe blockieren den
Schwarzmeerhafen Odessa im Süden. Von
russische Truppenkonzentration
Osten rollen Panzer nach Charkiw. Überwa-
Truppeneinmarsch chungskameras zeigen, wie Militärfahrzeuge
Tschernobyl
BELARUS (außer Betrieb) von der russisch besetzten Halbinsel Krim
RUSSLAND
aus die Grenze zur Ukraine überqueren. Und
selbst aus Belarus im Norden rücken russische
Truppen ein. Moskau hatte rund 30 000 Sol-
Sumy
POLEN Hostomel daten in das Nachbarland verlegt – offiziell
Kiew für Militärübungen.
Charkiw Dass Russland von Belarus aus mit Rake-
Tschuhujiw ten und Truppen den Nachbarstaat Ukraine
angreift, zeigt, wie Putin den Staat von
Iwano-Frankiwsk Kramatorsk ­Diktator Alexander Lukaschenko sieht: als
UKRAINE
Luhansk Territorium, über das er nach Belieben mili-
s

Donezk tärisch verfügen kann, als Puffer zur Nato


as

MOLDAU
nb

Militärflughafen und als Aufmarschgebiet für Offensiven. Es


Do

Mykolakjiw macht deutlich, wie geschwächt Lukaschenko


Militärhauptquartier inzwischen ist. Der sah sich lange Jahre als
moskautreue
Ölraffinerie Odessa Cherson Separatisten- Vermittler zwischen Moskau und Kiew, weil
gebiete in seiner Hauptstadt zweimal über eine Bei-
Atomkraftwerk legung des Donbass-Konflikts verhandelt und
200 km RUMÄNIEN von Russland die Minsker Vereinbarungen geschlossen wor-
annektierte Krim den waren. Doch seit er nach der gefälschten
S Quellen: Rochan Consulting, Stand: 24. Februar; Estonian Foreign Intelligence Service Präsidentschaftswahl Proteste niederschlagen
ˆ

10 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


ließ, ist Lukaschenko weitgehend internatio-
nal isoliert und vollständig von seinem Für-
sprecher Putin abhängig. Dass nun russische
Panzer ohne eindeutige Kennzeichnung aus
seinem Land in die Ukraine einrücken, vom
belarussischen Boden russische Kampfhub-
schrauber abheben, Raketen abgeschossen
werden, macht viele Menschen in Belarus
fassungslos.
Der ukrainische Präsident Selenskyj ver-
hängt das Kriegsrecht und ruft seine Lands-
leute zur Verteidigung ihrer Heimat auf. Alle
Bürger, die bereit seien zu kämpfen, sollten

Ukrainian Police Depar tment / dpa


sich melden, sagte er. Das Innenministerium
teilt mit, man habe 10 000 automatische Ge-
wehre an Bürger verteilt. Russische Jets grei-
fen unterdessen in der gesamte Ukraine Ein-
richtungen des ukrainischen Militärs an, vor
allem Luftabwehreinheiten, Luftwaffenstütz-
punkte, Waffen- und Munitionslager, aber
auch Flugplätze. Moskau habe sich in der
ersten Phase des Kriegs darauf konzentriert,
kritische ukrainische Infrastruktur auszu-
schalten, schreibt der US-Militärexperte Mi-
chael Kofman.
In einer ersten Einschätzung deutscher Si-
cherheitskreise heißt es, das russische Militär
habe an verschiedenen Orten gleichzeitig zu-
geschlagen, um eine mögliche Gegenwehr der
ukrainischen Armee zu unterbinden und zu
verhindern, dass diese sich sammeln könne.
In den ersten Stunden des russischen Groß-
angriffs werden nach Angaben ukrainischer
Behörden mehr als 40 ukrainische Soldaten
Sergei Malgavko / ITAR-TASS / IMAGO

und etwa 10 Zivilisten getötet, stündlich wur-


den es mehr.
Luftschutzsirenen ertönen im Laufe dieses
Tages in Kiew, Lwiw und in anderen ukraini-
schen Städten. Die Behörden beklagen mas-
sive Cyberangriffe. Websites einiger ukraini-
scher Banken und des Außen- und Verteidi-
gungsministeriums waren nicht erreichbar.
Im russischen Staatsfernsehen bemüht man Russische Kampfhubschrauber bei Kiew, Soldaten auf der Krim: Weitreichende Ziele
sich in den ersten Stunden, das Bild einer Spe-
zialoperation im Donbass aufrechtzuerhalten. Im Donbass, wo sich seit acht Jahren ukrai­ die Regierung abgesetzt, das Land geteilt,
Von dem umfassenden Angriff auf das Nach- nische Soldaten und prorussische Rebellen seine militärische Infrastruktur zerstört wer-
barland, den Putin angeordnet hatte, bekom- gegenüberstehen, kommt es zu heftigen den – und die Armee damit zu einer schnellen
men die russischen Fernsehzuschauer zu- ­Gefechten. Auch in den Städten Cherson, Kapitulation getrieben werden. Die ukraini-
nächst nichts mit. Charkiw und Sumy wird erbittert gekämpft. sche Armee ist zwar kampferprobt – der rus-
In der Ukraine macht sich derweil Panik Am Donnerstagabend besetzt die russische sischen aber hoffnungslos unterlegen; kaum
breit. Eine Mutter, die mit ihrem Sohn und Armee das Gelände des ehemaligen Atom- ein westlicher Militärexperte glaubt, dass sie
den Großeltern an den Stadtrand von Odes- kraftwerks Tschernobyl. lange durchhalten kann. Und dennoch melden
sa geflüchtet ist, berichtet unter der Bedin- Russische Fallschirmjäger nehmen zu- sich in diesen Tagen zahlreiche Ukrainer frei-
gung, dass ihr Name nicht genannt wird, von nächst den strategisch günstig gelegenen Flug- willig, um ihr Land zu verteidigen.
heftigen Explosionen. »Wir haben die ganze hafen Hostomel ein, 25 Kilometer nordwest- Darja traf ihre Entscheidung um sechs Uhr
Nacht nicht geschlafen«, sagt sie am Telefon. lich von Kiew. Erkennbar sei inzwischen, dass früh am Donnerstag, als sie in Kiew die Explo-
»Die russischen Truppen versuchen aus Rich- die russischen Truppen Kiew einkesseln woll- sionen hörte. Erst heulte die Sirene vor ihrem
tung Cherson vorzudringen. Selbst Lutsk und ten, heißt es am Abend vonseiten deutscher Haus, dann folgte ein Knall. Kiew, die Haupt-
Lwiw weit nordwestlich von hier werden Dienste. Ob Soldaten dann tatsächlich in die stadt der Ukraine, wurde aus der Luft angegrif-
bombardiert, wir können uns nirgends mehr Stadt einrücken oder ob sie nur Versorgung fen. Die Stadt, in der sich die 34-Jährige gerade
sicher fühlen.« und Verbindungen abschneiden wollen, sei erst ein neues Leben aufgebaut hatte.
Odessas Bürgermeister gibt die Anordnung noch offen. Es gebe Hinweise aus bereits ein- Elf Stunden später steht Darja, die bittet,
aus, das Haus nur noch in Notfällen zu ver- genommenen Gebieten, dass Moskau Schlüs- ihren Nachnamen nicht zu nennen, mit ihrem
lassen. Es kursieren Videos von den Raketen- selpositionen mit Getreuen besetze – mög- Lebensgefährten auf einem Innenhof in Kiew.
einschlägen in einem Gewerbegebiet. Bei licherweise sei dies ein Zeichen dafür, dass Hier, zwischen grauen Plattenbauten, befin-
einem Angriff auf den Militärstützpunkt man einen Vasallenstaat errichten wolle. det sich ein Militärkommissariat, wo sich
­Lypezke nordwestlich von Odessa sterben Die Vorstöße der russischen Armee zeich- Ukrai­ner freiwillig zum Kriegsdienst melden
18 Menschen. nen ein klares Bild: Kiew soll eingenommen, können. Darja und ihr Freund haben am Don-

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 11


SICHERHEIT

»Wir treten in eine Phase rücksichtsloser


Großmachtpolitik ein«
Carlo Masala, 53, von der Bundeswehr-Universität München erklärt den russischen Krieg
gegen die Ukraine und die Folgen für die europäische Ordnung.
SPIEGEL: Herr Masala, die Masala: Er kann, weil er weiß, dass die USA nukleare Langstreckenraketen ins Spiel –
schlimmsten Befürchtungen und die Nato nicht aktiv in diesen Konflikt und das ist eine Schwelle, die auch Putin
sind wahr geworden – Prä- eingreifen werden. nicht übertreten wird.
Lennar t Preiss / MSC

sident Putin hat einen An- SPIEGEL: Gibt es denn nichts, was die Nato SPIEGEL: Wie kann die westliche Diplomatie
griffskrieg gegen die Ukraine tun kann? Putin das Heft des Handelns entreißen?
begonnen. Was kann man an Masala: Sie kann jetzt massiv den Sicher- Masala: Überhaupt nicht. Der Westen ba-
der bisherigen Entwicklung heitsbedürfnissen ihrer osteuropäischen und sierte seine Politik auf der Annahme, dass
militärisch ablesen? südosteuropäischen Mitgliedstaaten nach- Sanktionen Putin davon abhalten würden,
Masala: Die russische Armee verhält sich kommen und diese Flanken verstärken. zu eskalieren. Er hat aber die wirtschaft­
nach Handbuch, es gibt keinerlei Überra- Dazu zählt auch die Präsenz in der Ostsee lichen Verluste in seine Pläne eingepreist.
schungen. Wir haben derzeit die erste Pha- und im Schwarzen Meer. Und die Allianz SPIEGEL: Ein Autokrat mit Großmacht­
se mit massivem bodengestützten Feuer, muss sich überlegen, ob sie ihrerseits nicht ambitionen will die bestehende Nachkriegs-
Artillerie, ballistischen Raketen, Raketen- endlich erklärt, dass die Nato-Russland- ordnung in Europa verändern – welche
werfern und Luftschlägen. Die Flugabwehr Grundakte, die die Russische Föderation Lehren sollten vor allem die Europäer für
der Ukrainer scheint ausgeschaltet zu sein. längst aufgekündigt hat, obsolet ist – sprich die Zukunft ziehen?
Ich würde davon ausgehen, dass wir im die Stationierung permanenter Nato-Ver- Masala: Ich glaube, dass wir in eine Phase
nächsten Zug den massiven Einsatz von Luft- bände in den neuen Mitgliedstaaten zu offener, rücksichtsloser Macht- und Interes-
landetruppen sehen werden, die strategisch ­planen. Außerdem sollte die Nato, anders senpolitik seitens der Großmächte eintreten.
wichtige Punkte in der Ukraine besetzen. als es Praxis ist, Schweden und Finnland die Und dass Europa die Bildung von Gegen-
Danach werden wohl mechanisierte gepan- Nato-Mitgliedschaft anbieten. macht viel stärker in den Blick nehmen muss
zerte Verbände in die Ukraine einrücken. SPIEGEL: Halten Sie es für realistisch, dass als bisher. Vor allem die Europäer geben
SPIEGEL: Kann Putin mit dem bisherigen als Nächstes auch die baltischen Staaten in sich immer noch der Illusion hin, dass man
Aufgebot die Ukraine einnehmen und hal- Gefahr geraten könnten? sich dem entziehen könnte, wenn man gute
ten? Sind auch russische Soldaten in den Masala: Ich halte Putin für einen sehr ratio- Beziehungen mit allen Seiten pflegt; dass
Straßen von Kiew vorstellbar? nalen Akteur und keinen Selbstmordatten- Handel und Diplomatie bestimmte Akteure
Masala: Ich halte es für ausgeschlossen, dass täter. Er hat genauso wenig Interesse an gewissermaßen sozialisieren könnten. Wir
Putin mit 190 000 Mann die Ukraine kom- einem Konflikt mit der Nato und den USA müssen uns wieder mehr einlassen auf das,
plett besetzen kann. Wahrscheinlich ist es wie die mit ihm. Deswegen wird er die bal- was man früher Realpolitik genannt hat.
sein Ziel, die Regierung von Präsident Se- tischen Staaten nicht so unter Druck setzen, Mehr Abschreckung also. Mit der Andro-
lenskyj abzusetzen oder zumindest zum wie er es mit der Ukraine gemacht hat, weil hung von Militär erreicht man manchmal
Rücktritt zu bewegen und eine ihm genehme er weiß, dass dann der Beistandsartikel mehr als mit dem Einsatz von Militär. Putin
Regierung einzusetzen. Aber auch eine Ma- greift und die Situation unkalkulierbar wird macht es vor.
rionettenregierung bräuchte die ukraini- für ihn. Im schlimmsten Fall kämen dann Interview: Özlem Topçu n
schen Sicherheitskräfte, Armee und Polizei
auf ihrer Seite. Und die Bevölkerung müss-
te zu einem großen Teil apathisch zusehen.
Das halte ich derzeit für unwahrscheinlich.
Russische Soldaten könnte man in den Stra-
ßen sehen, weil die russische Armee wahr-
scheinlich versuchen wird, strategisch wich-
tige Positionen einzunehmen – und davon
sind einige auch in Kiew. Aber einen Häu-
serkampf halte ich ebenfalls für eher un-
wahrscheinlich. Dafür sind viel zu wenig
Truppen vor Ort.
SPIEGEL: Wie schätzen Sie die Widerstands-
kraft der ukrainischen Armee ein?
Masala: Sie wird nicht zerfallen wie die
Bai Xueqi Xinhua / Eyevine / ddp

­afghanische Armee, sie wird Widerstand


leisten. Die Frage ist, ab wann Widerstand
aussichtslos ist, weil das taktische Vorgehen
der russischen Truppen erdrückend ist. Ich
glaube, die ukrainische Armee wird nach
ein paar Wochen aufgeben müssen.
SPIEGEL: Wie kann es angehen, dass Putin
das alles machen kann? Machthaber Putin: »Ein rationaler Akteur, kein Selbstmordattentäter«

12 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


TITEL UKRAINE-KRIEG

nerstagnachmittag ihre Papiere abgegeben.


Nun warten sie darauf, in den Kampf zu
­ziehen.
»Das Geräusch hat mich überzeugt«, sagt
Darja. »Der Donnerschlag vor meinem Fens­
ter.« Sie hat ihn schon einmal gehört, vor sie­
ben Jahren. Die Anwältin stammt aus Donezk
in der Ostukraine: Dort lebte sie, bis pro­
russische Separatisten im Jahr 2014 in der
Gegend ihre »Volksrepublik« ausriefen und
einen Krieg mit der ukrainischen Armee be­
gannen. Darja schaffte es damals zu Fuß aus
der Stadt, sie erinnert sich bis heute, wie die
Raketen über sie hinwegflogen. »Ich dachte
nicht, dass ich das noch einmal erleben muss«,
sagt sie.
Sie zog nach Kiew, kaufte eine Dreizim­
merwohnung, die sie renovierte: »Ich war fast
Emilio Morenatti / dpa

fertig, nur die Decke fehlte noch.« Hier rich­


tete sie sich mit ihrem Partner ein. Und hier
lebten sie in Frieden – bis heute, Donnerstag­
nacht. »Als ich die Einschläge hörte, war mir
klar – ich fliehe nicht noch einmal.« Und Flüchtende am Kiewer Bahnhof: Kaum jemand hat den Angriff wirklich für möglich gehalten
wenn sie schon nicht fliehe, sagt Darja, kämp­
fe sie lieber. »Wer tut es denn sonst? Niemand aus, steigt tief hinab in die Geschichte. Es ist den Faden verliert. »Die Rede hatte keinen
wird uns verteidigen.« ein giftiger Angriff auf das Nachbarland – Anfang, kein Ende, kein Thema, keine Ab­
Darja und ihr Partner Ruslan, der sie zum nicht auf dessen Regierung, nicht auf dessen sicht«, spottete ein russischer Politologe.
Kommissariat begleitet, haben noch nie eine Politik, sondern auf das Land selbst. Aber hier droht ein Staatsoberhaupt damit,
Waffe in ihren Händen gehalten. Trotzdem Am Ende seiner Rede wird Putin die An­ den Nachbarstaat zu zerlegen. Hier will
werden sie in den nächsten Tagen oder Stun­ erkennung der moskautreuen Separatisten­ ­jemand den Zerfall der Sowjetunion nach
den wahrscheinlich an die Front geschickt. So republiken im Donbass erklären, aber bis er 30 Jahren neu aufrollen – und er hat die Mi­
wie die anderen Männer und einige Frauen, dahin kommt, wird klar: Dieser Mann will litärmaschine, das tatsächlich zu versuchen.
die sich mit ihnen in diesem Innenhof in Kiew eigentlich etwas ganz anderes, Wichtigeres Die Geschichte von Putins Krieg begann
versammelt haben. Da sind Reservisten in sagen. Er will dem Nachbarstaat Ukraine die im Frühjahr 2021, als erstmals große Truppen­
Flecktarn, die schon 2014 gegen die russischen Anerkennung entziehen. Die Ukraine in ihren verbände an der ukrainischen Grenze auf­
Kräfte gekämpft haben und sagen, sie hätten jetzigen Grenzen, so sagt er sinngemäß, sei marschierten, angeblich eine Übung, und sie
geahnt, »dass es früher oder später wieder ein Missverständnis der Weltgeschichte. Sie nahm vom Herbst an konkret Gestalt an: nach
passieren wird«. Da sind erfahrene Soldaten, habe kein Recht zu existieren. Und er droht, dem Ende eines russisch-belarussischen Groß­
die offenbar den Neulingen erklären, was zu dieses Gebilde zu zerschlagen. manövers namens »Sapad 2021«. Truppen
tun sein wird. Denn da sind auch Studenten, Die Ukraine, so behauptet Putin, »ist voll aus Sibirien, die angeblich für dieses Manöver
Künstler, Softwareentwickler. Jungs in Sweat­ und ganz von Russland gegründet worden – an Russlands Westgrenze gehalten worden
jacken und Turnschuhen, manche keine vom bolschewistischen, kommunistischen waren, kehrten damals schon nicht heim. An­
20 Jahre. Viele haben sich, wie Darja, erst am Russland«. Sie sei ein Produkt der Oktober­ dere Truppen wurden aus dem Moskauer
Morgen entschieden zu kämpfen. »Wir wollen revolution, von Wladimir Lenin reichlich mit Umland Richtung Ukraine verlegt. Die
unser Land verteidigen«, sagt ein 19-Jähriger. russischen Territorien bedacht. Die heutige »Washington Post« berichtete darüber aus
Er hat seine Sachen in einer Plastiktüte dabei. Ukraine »kann man mit vollem Recht ›Wla­ anonymen US-Regierungsquellen, und kurz
Andere ziehen mit einem Turnbeutel in den dimir-Iljitsch-Lenin-Ukraine‹ nennen. Er ist darauf reiste CIA-Chef William Burns nach
Krieg. ihr Urheber und ihr Architekt«, behauptet Moskau. Es waren Signale an Russland: Wir
Die Geschichte von Darja und Ruslan er­ Putin. Wenn man in der Ukraine Lenin-Denk­ sehen, was ihr tut. Was habt ihr vor?
innert daran: Krieg herrscht in der Ukraine mäler stürze und eine »Entkommunisierung« Nur einen Monat später sagten die US-
nicht erst seit dieser Woche. Nach dem demo­ propagiere, sei das widersinnig. Dienste den Truppenaufbau, der jetzt seinen
kratischen Umsturz auf dem Maidan ließ »Ihr wollte eine ›Entkommunisierung‹?«, Abschluss gefunden hat, mit erstaunlicher
­Putin die Halbinsel Krim annektieren und fragt Putin mit stechendem Blick in die Ka­ Genauigkeit vorher. Russland plane eine Of­
prorussische Separatisten in der Ostukraine mera. »Nun denn, die könnt ihr haben. Aber fensive gegen die Ukraine früh im Jahr 2022,
bewaffnen. Mehr als 14 000 Menschen sind dann dürft ihr nicht auf halbem Weg stehen so zitierte die »Washington Post« Anfang
seither gestorben, viele Europäer hatten das bleiben. Wir zeigen euch gern, was eine ech­ ­Dezember eine anonyme US-Quelle. Um­
längst vergessen. Erst in den vergangenen te Entkommunisierung für die Ukraine be­ fang: 100 taktische Bataillonsgruppen, also
Tagen erlangte der Krieg im Donbass wieder deutet.« Es ist klar, was er wohl meint: die kampfbereit zusammengestellte Einheiten,
international Bedeutung: Putin nutzte ihn als Amputation von weiten Teilen des Staats­ 175 000 Soldaten.
Brandherd, an dem sich ein größeres Feuer gebiets. Das russische Fernsehen wird bald Zwei Wochen später begann Moskau eine
entzünden lässt. darauf eine Karte der Ukraine zeigen, die in überraschende diplomatische Offensive, die
Am Montagabend, dem 21. Februar, wand­ mehreren Farben zeigt, welche Gebiete der womöglich nichts weiter als ein Ablenkungs­
te sich Putin zum ersten Mal in dieser Woche Ukraine nur »geschenkt« worden seien. Es manöver war: Mitte Dezember überreichte
in einer Rede an sein Volk, bevor er am Don­ bleibt nur ein kleiner Zipfel übrig. es schriftliche Vorschläge für ein Abkommen
nerstag dann seinen Krieg erklärte. Die Rede Wäre dies nicht der Herr über eine Atom­ mit den Vereinigten Staaten und eine Verein­
vom Montag wird in die Geschichte eingehen, macht, man könnte ihn für einen giftigen barung mit der Nato. Russland erhob in nahe­
weil Putin sich an diesem Abend festlegte. Sie Rentner halten, der vor seinen gelangweilten zu ultimativer Form Forderungen, auf die sich
dauert knapp eine Stunde, Putin holt weit Enkeln über die Weltgeschichte doziert und Washington und die Nato so nicht einlassen

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 13


TITEL UKRAINE-KRIEG

konnten – unter anderem wollte es eine for- Theoretisch könnte Biden die russische Anerkennung der beiden »Volksrepubliken«
male Absage an eine Erweiterung der Nato Armee mit Cyberangriffen behindern, laut als »genial«. Soldaten, wie sie Moskau jetzt
und eine Rücknahme der Nato-Truppenprä- US-Medien seien ihm entsprechende Optio- in die östliche Ukraine entsendet, könne
senz auf den Stand von 1997. Überraschend nen vorgelegt worden – doch die Gefahr einer man auch an der Südgrenze der USA gut ge-
war außerdem, dass Moskau die Forderungen russischen Gegenreaktion im Cyberraum ist brauchen.
sogleich veröffentlichte. Es müsse formal ga- für die USA und den Westen zu gefährlich. Man kann sich den Zynismus vorstellen,
rantiert werden, dass die Ukraine »nie – nie Fest steht: Die Umrisse der neuen Welt- mit dem die Führung im Kreml Äußerungen
– nie« dem Bündnis beitreten werden, sagte ordnung, die sich gerade abzeichnet, 30 Jah- wie die von Trump zur Kenntnis nimmt. Das
Vizeaußenminister Sergej Rjabkow nach Ver- re nach dem Ende der Sowjetunion, erinnern Gleiche gilt für die Führung in Peking. Vor
handlungen in Genf. fatal an jene des Kalten Kriegs. Selbst die genau 50 Jahren war Trumps und Bidens Vor-
Die Antwort aus Brüssel fiel schroff beiden Hauptakteure sind dieselben, die gänger Richard Nixon nach China aufgebro-
aus – dass Russland sich überhaupt von der sich schon damals gegenüberstanden, von chen, um einen Keil zwischen die beiden eu-
Nato bedroht fühlen könnte, wurde darin Berlin bis Kuba und Afghanistan. Nicht zu- rasischen Großmächte zu treiben und Peking
schlicht in Abrede gestellt. Der Brief aus rück in die Zukunft scheint sich der Weltgeist auf seine Seite zu ziehen. Das gelang. Auf den
­Washington war dagegen konziliant, mit de- zu bewegen, sondern vorwärts in die Vergan- Erfolg dieser Reise gehen nicht zuletzt der
taillierten Zugeständnissen in Fragen der genheit. Niedergang der Sowjetunion und die Welt-
Rüstungskontrolle und Festigkeit in den Prin- Die Wiederkehr der Machtpolitik legt vor ordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs
zipien. Sollte Wladimir Putin überhaupt allem Europas Schwäche offen. Putins An- zurück.
ernsthaft geglaubt haben, mit seinen Forde- griffs macht deutlich, dass sich die EU von Heute, sagt der frühere Diplomat Winston
rungen durchzukommen, dann waren beide alten Gewissheiten verabschieden muss, ob Lord, der Nixon damals begleitete, erscheine
Antworten eine Enttäuschung. Nach ihrem sie will oder nicht. Er zeigt, dass militärische es mitunter, als sei Amerika »der Außensei-
Eintreffen, am 26. Januar, dürfte irgendwann Abschreckung nicht schön ist, man ohne sie ter« in diesem »Dreiecksverhältnis«. Russland
seine Entscheidung für eine Invasion gefallen aber scheinbar nicht auskommt. Bisher sind und das massiv erstarkte China stehen einan-
sein. Das würde mit den von da an immer die USA in der westlichen Welt die einzige der so nahe wie nie in den vergangenen
dringender klingenden Warnungen aus Wa- Nation, die zu einer solchen Abschreckung 50 Jahren. Ihr Einverständnis sei »grenzen-
shington zusammenpassen. Am 11. Februar imstande ist. Wie kann der Westen die Rück- los«, hatten die Staatschefs Putin und Xi ver-
hieß es dort, Russland werde womöglich kehr zum Faustrecht verhindern, wenn er sich kündet, als sie sich vor zwei Wochen zur Er-
nicht einmal das Ende der Olympischen Spie- der Atommacht Russland nicht militärisch in öffnung der Olympischen Winterspiele in
le in Peking abwarten, bevor es angreife. den Weg stellen kann und will? Es bleibt ihm Peking trafen.
Genau eine Woche später, am 18. Februar, nur das Mittel wirtschaftlicher Sanktionen: Der neue Russlandkonflikt verschärft die
sagte US-Präsident Biden in einer Presse- Sie werden Russland massiv treffen; aber of- Folgen dieser Entente für die USA: Sie bindet
konferenz: Er sei überzeugt, Putin habe die fenbar ist ihr Schrecken nicht groß genug, um amerikanische Ressourcen in einer Weltge-
Entscheidung zur Invasion getroffen. Woher Putin aufzuhalten. gend, in der Washington sein Engagement
er das wisse, wurde Biden gefragt. »Wir In Washington ist es US-Präsident Joe Bi- langfristig reduzieren wollte, um sich auf Chi-
­haben signifikante nachrichtendienstliche den bisher gelungen, die Politik weitgehend na zu konzentrieren.
Fähigkeiten«, beschied er knapp, dankte hinter sich zu versammeln. Wie haltbar dieser Nur was, wenn nach Putin auch Xi terri-
der Presse und verschwand. Konsens ist, wenn sich die Krise verschärft toriale Supermachtgelüste verspürt?
Er behielt recht. Genützt hat es ihm nichts. oder über Monate hinzieht, ist allerdings of- Als am Donnerstag die russischen Panzer
Nun beginnt die Debatte: Hätten die USA fen. Im November stehen die Kongresswahlen rollten, versicherte der chinesische Außen-
und die Europäer mehr machen müssen, als an, und Bidens Vorgänger Donald Trump be- minister Wang Yi seinem Amtskollegen
Putins Taten nur vorherzusehen und mit reitet sich auf die Präsidentschaftswahl 2024 ­Lawrow jedenfalls, Peking verstehe Russlands
Sanktionen zu drohen? Nur was genau, an- vor. In einem Interview mit zwei konservati- »legitime Sorgen« um seine Sicherheit. Am
gesichts der unerfüllbaren Forderungen? ven Radiomoderatoren bezeichnete er Putins selben Tag weigerte sich Außenamtsspre-
cherin Hua Chunying, den russischen Einfall
in die Ukraine als »Invasion« zu bezeichnen.
Was für Verrenkungen. Offiziell verfolgt
China eine Politik der Nichteinmischung in
die Angelegenheiten anderer Staaten. Damit
ist kein Angriffskrieg, auch keine Anerken-
nung separatistischer »Volksrepubliken« auf
dem Territorium eines souveränen Staats in
Einklang zu bringen – zumal China nichts
mehr erzürnt als ausländische Unterstützung
für die vermeintlichen Separatisten, die es in
Taiwan verortet. Und trotzdem macht Peking
nun eine Ausnahme für Putin.
Chinas Haltung unterscheidet sich eklatant
von seiner bemüht neutralen Position 2014,
als Russland sich die Krim einverleibte. Da-
mals enthielt sich Pekings Vertreter bei der
entscheidenden Abstimmung im Uno-Sicher-
heitsrat der Stimme, genauso unterließ die
Volksrepublik Schuldzuweisungen an den
Westen. Seither haben sich Chinas Beziehun-
Daniel Leal / AFP

gen zu den USA im selben Maße verschlech-


tert, wie sie sich zu Russland verbessert h
­ aben.
Die Frage, die derzeit wohl am schwersten
Ukrainische Militärfahrzeuge in Kiewer Innenstadt: 10 000 automatische Gewehre verteilt zu beantworten ist, betrifft Russland selbst:

14 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


RUSSLAND UND NATO
Putin hat dafür gesorgt, dass der Pa-

Einsatz auf breiter Front


tient wieder quicklebendig ist. Die Nato
hat in den Überlegungen der politisch
­Verantwortlichen eine Bedeutung wieder-
Vor wenigen Jahren war die Nato noch für »hirntot« erklärt worden. erlangt wie zuletzt im Kalten Krieg.
In mancher Hinsicht ist das Bündnis
Plötzlich ist sie so wichtig wie zur Zeit des Kalten Krieges. noch attraktiver geworden. In Schweden
und Finnland, beide fest im Westen veran-
kert, aber militärisch neutral, wird eine
Mitgliedschaft in der Nato wieder intensiv
diskutiert.
Dabei kommen auf die Allianz Heraus-
forderungen zu, für die sie bislang kaum
gerüstet ist. Kurzfristig brauchen Polen
und die baltischen Staaten konkrete Zusa-
gen für weitere Truppen und eine Ver­
stärkung der Flugabwehr. Die Gefahr einer
­Eskalation – ja selbst der Ernstfall, dass
Putin auch Nato-Partner angreift – wird im
­Brüsseler Hauptquartier ernst genommen.
­Pläne für eine weitere Verstärkung gibt es
bereits. Nun müssen diese umgesetzt wer-
Laurie Dieffembacq / BELGA / dpa

den, auch von der in den vergangenen Jah-


ren dramatisch geschrumpften Bundeswehr.
Mittelfristig muss das Bündnis seine ge-
samte Strategie überdenken. Wie in Zeiten
des Kalten Krieges kommt es für die Allianz
darauf an, eine wirksame Abschreckung
gegenüber Moskau garantieren zu können.
Generalsekretär Stoltenberg (M.)*: Für die neuen Herausforderungen kaum gerüstet
»Ein Angriff auf ein Mitglied ist ein Angriff
auf alle Mitglieder«, betonte Stoltenberg am
Der Begriff schien Jens Stoltenberg so ent- das exakte Gegenteil von dem erreicht, Donnerstag. Das klingt entschlossen. Aber
scheidend, dass er ihn mehr als einmal was er nach eigenen Worten beabsichtigt ist die Nato auf die Rückkehr des Kalten
verwendete. Die jetzige Situation sei das hatte. Putin wollte dem Westen einen Krieges wirklich vorbereitet?
»new normal«, sagte der Nato-General­ Sicher­heitsabstand aufzwingen und ihn In Westeuropa wurde nach dem Ende
sekretär beim ersten öffentlichen Auftritt anweisen, US-Soldaten aus den Nato- der Konfrontation zwischen Ost und West
nach dem russischen Überfall auf die Staaten im Osten abzuziehen. Stattdessen die Zahl der Soldaten drastisch reduziert.
­Ukraine – die neue Normalität. ist die Nato im Osten nun gestärkt, nicht Die Einsicht, dass militärische Stärke für
Die sieht so aus: Die USA verlegen dramatisch, aber immerhin. den Frieden notwendig sein kann, ver-
Kampfhubschrauber, Kampfjets und Fall- Der russische Staatschef hat der Allianz schwand weitgehend aus dem politischen
schirmjäger in das Baltikum. Die Briten damit etwas verschafft, wonach sie mehr Diskurs. Es schien zu unwahrscheinlich,
stocken ihre Truppen dort um rund als zwei Jahrzehnte gesucht hat: einen Da- dass es je noch einmal zu einem Krieg mit-
900 Soldaten auf, die Deutschen um 350. seinszweck. Vielen Europäern wird gerade ten in Europa kommen könne.
Der Nordatlantikrat beschließt nach bewusst, dass nicht nur die EU das euro- Die Attacke auf die Ukraine zeige,
einem Vorschlag des obersten Befehlsha- päische Lebensmodell absichert, sondern heißt es im Hauptquartier, dass Moskau
bers, US-General Tod Wolters, die Akti- dass dieses Modell angesichts von Putins alle geltenden Regeln der europäischen
vierung der »Graduated Response Plans«. brutaler Großmachtpolitik auch militärisch Sicher­heit nicht mehr akzeptiere. »Wir
Wolters steht nun die gut 40 000 Soldaten geschützt werden muss. müssen uns ganz neu aufstellen«, sagt ein
starke Nato Response Force zur Verfü- Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Nato-Militär, »nicht nur mit konventionel-
gung, die an die Ostflanke der Allianz ver- war die Allianz in eine Sinnkrise geraten. len Truppen, sondern auch mit unserer
legt werden kann. Die schnelle Eingreif- Mal verstrickte sie sich in Missionen, die nuklearen Abschreckungsdoktrin.«
truppe soll künftig in sieben Tagen einsatz- völkerrechtlich umstritten, aber erfolg- Ob der Nato die Umstellung gelingen
bereit sein, deutlich schneller als bisher. reich waren, wie im Kosovo, wo man 1999 wird, ist offen. Als Macron seine Bemer-
Die Ukraine grenzt an mehrere östliche ein Massensterben verhinderte. Der Ein- kungen über den Hirntod des Bündnisses
Nato-Staaten. Sollte Russland das Land satz in Afghanistan endete dagegen nach machte, meinte er damit auch die Haltung
erobern, wovon in Brüssel viele ausgehen, 20 Jahren vor wenigen Monaten mit des damaligen US-Präsidenten Donald
stünden sich erstmals seit dem Zusam- einem desaströsen Abzug. Trump, der in den Mitgliedern der Allianz
menbruch der Sowjetunion wieder auf Die Verteidigung gegen einen Angriff vor allem Kostgänger zulasten Amerikas
breiter Front russische Kampfeinheiten aus Moskau, ursprünglich Kernaufgabe der sah. Sein Nachfolger Joe Biden behandelt
und Nato-Truppen gegenüber. Allianz, verlor zumindest im Bewusstsein sie nun wieder mit dem Respekt, der Ver-
Der russische Präsident Wladimir Putin ihrer westeuropäischen Mitglieder an bündeten gebührt.
hat in Europa innerhalb weniger Monate ­ edeutung. Das änderte sich mit der russi-
B In zweieinhalb Jahren wird in den USA
schen Annexion der Krim 2014 nur gradu- wieder der Präsident gewählt. Gut mög-
ell. Noch vor zweieinhalb Jahren diagnosti­ lich, dass Trump erneut antritt. Ein Sieg
* Mit dem US-Präsidenten Joe Biden und dem
belgischen Premierminister Alexander De Croo zierte der französische Präsident Emmanuel Trumps wäre auch ein Sieg Putins.
beim Nato-­Gipfel in Brüssel im Juni 2021. Macron den »Hirntod« der Nato. Matthias Gebauer, Ralf Neukirch n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 15


Wie wird Putins Krieg sein Land verändern kauer Dmitrij, 32 Jahre. »Zum ersten Mal reits am Morgen schnell Geld abgehoben,
– und was erzählt seine Wandlung über ihn schäme ich mich dafür, dass ich Russe bin«, ­bevor der Rubel weiter an Wert verlor. Der
selbst? sagt Pawel Kramorenko, 27. Wirtschaftlich ­russische Leitindex wurde vorübergehend
Viele Russen können nicht glauben, dass sorgt ihn der Absturz des Rubelkurses, Kra- ausgesetzt und brach kurz darauf um fast die
Putin so weit gegangen ist. »Für alle, die ihr morenko führt ein Unternehmen in der Be- Hälfte ein.
Gewissen noch nicht verloren haben, ist es kleidungsbranche, muss Stoffe und Garne Dabei fangen die Sanktionen gerade erst
an der Zeit, auf die Straße zu gehen und gegen einführen. »Buchstäblich über Nacht sind an. Und das wird vor allem für die Elite
diesen Krieg zu protestieren«, erklärte der unsere Produktionskosten um 30 Prozent ge- schmerzhaft. Der Oppositionspolitiker Alexej
ukrainische Präsident Selenskyj in einer An- stiegen.« Es sei schwer vorstellbar, was als Nawalny schrieb aus seiner Haft, so wie
sprache, auf Russisch an die Menschen in Nächstes passieren werde. jetzt Putin die Ukraine angreife, habe das
Russland gewandt. Mehr als 1000 Menschen trauten sich am Politbüro einst entschieden, Truppen nach
Die politische Elite des Landes und Ver- Donnerstagabend in Sankt Petersburg, Mos- Afghanistan zu schicken. »Dank Putin werden
treter der Wirtschaft schweigen allerdings kau und Nowosibirsk sogar zu Friedenspro- Hunderte ukrainische und russische Bürger
bisher – kaum ein Wort der Kritik ist zu ver- testen auf die Straßen, trotz der massiven sterben, und in Zukunft können es Zehntau-
nehmen. »Heute ist der Tag, an dem Wladi- Repressionen, die inzwischen in Russland sende sein. Ja, er wird die Ukraine an ihrer
mir Putin auf die dunkle Seite der Geschich- herrschen. Sie riefen »kein Krieg«, Sicher- Entwicklung hindern und sie in einen Sumpf
te gewechselt ist. Es ist der Anfang vom Ende heitskräfte waren überall präsent, es gab allein ziehen, aber Russland wird denselben Preis
seines Regimes. Es kann sich jetzt nur noch in Moskau 900 Festnahmen. zahlen.«
auf Bajonette stützen«, so urteilt die Mos- Als Putin die Halbinsel Krim besetzte, war In Kiew heulen Donnerstag Nacht nur ab
kauer Politologin Tatjana Stanowaja über das noch anders. Damals war die große Mehr- und zu einzelne Sirenen in der Stadt, hört
Putins Schritt. Er habe für seinen Krieg keine heit der Russen begeistert von dem Vor- man einen Knall oder den Schall eines Flug-
Unterstützung der Eliten, schreibt sie auf Te- marsch, er hat Putins Zustimmungswerte für zeugs, das den Himmel überfliegt. Die meis-
legram: »Das bedeutet nicht, dass es irgend- Jahre in die Höhe getrieben. Vom »Krim- ten Läden und Schulen sind geschlossen, nur
eine Art von Opposition geben wird: Natür- Frühling« war 2014 die Rede. Einen »Ukrai- einige Supermärkte haben noch geöffnet. Von
lich wird sich jetzt niemand aus dem inneren ne-Frühling« wird es kaum geben. hier eilen die Menschen schnell nach Hause,
Kreis gegen Putin stellen, aber die Vorstel- Die Krim-Annexion war eine Antwort auf kiloweise Vorräte auf dem Arm, die sie nun
lung, dass der Chef verrückt geworden ist, die Maidan-Revolution in Kiew und verlief auf die Schnelle gekauft haben.
beschränkt sich nicht mehr auf die liberale fast ohne Tote. Die Halbinsel verbanden vie- In der Metrostation Olimpijska, mitten in
Opposition.« le Russen mit sonnigen Ferien am Meer, ihre der Stadt, in der Nähe des Olympiastadions
Es sind Künstler, Sänger, Regisseure, Jour- Hafenstadt Sewastopol war über Jahrzehnte kauern Dutzende Menschen: Frauen, Kinder,
nalisten und Oppositionelle, die sich zu Wort hinweg Sitz der russischen Schwarzmeerflot- Rentnerinnen. Ein Vater, der einen Kinder-
melden, auf Instagram und in Aufrufen for- te, auch wenn sie in der Ukraine lag. wagen schaukelt. Sie haben sich hierher ge-
dern, diesen Krieg zu beenden, oft ohne Pu- Die Ukraine ist vielen Russen emotional rettet, nachdem Luftalarm ausgelöst worden
tin dabei beim Namen zu nennen. nah, es gibt vielfältige familiäre Bande zwi- war, nun warten sie – aber auch sie wissen
Auf der Straße in Moskau unterstützt kei- schen den beiden Ländern. Ein Krieg gegen nicht, worauf. »Das ist das Schlimmste«, sagt
ner der vom SPIEGEL Angesprochenen Putins die Ukraine – das konnten sich viele Russen Marija Lasarjewa. »Selbst Schmerzen kann
Offensive, »schrecklich«, hört man, »einen bisher nicht vorstellen, und ihr Präsident hat man besser ertragen, wenn man auf sie vor-
Krieg brauchen wir nicht«. »All das ist be- ihnen noch nicht einmal einen nachvollzieh- bereitet ist. Aber wir wissen nicht, wie stark
ängstigend, Krieg kennt keine Gewinner«, baren Grund geliefert. Dennoch werden sie der Schmerz sein wird.«
sagt Swetlana, 45, Mitarbeiterin eines Schön- für diesen Krieg einen hohen Preis zu zahlen Lasarjewa, eine Psychologin, hat sich mit
heitssalons. Manch einer glaubt nun, dass haben. In Moskau gab es am Donnerstag an ihren beiden Nachbarinnen zusammengetan,
Putin zu weit gegangen ist: »Ich glaube, das vielen Bankautomaten keine Dollar- und gemeinsam haben sie eine Isomatte ausgelegt
ist der Anfang seines Endes«, sagt der Mos- Euroscheine mehr, viele Menschen hatten be- und warten. Es gibt keine Stühle oder Liegen
in der Metrostation, nur den Steinboden –
und die Hoffnung, hier, unter der Erde, sicher
zu sein. Die Frauen haben einen Welpen und
zwei Katzen mitgebracht, sie wollten sie nicht
alleinlassen. Aber für wie lange kann man
eine Katze in einer Tasche in der Metro hal-
ten? »Ich hoffe, wir können in ein paar Stun-
den wieder in unsere Wohnung«, sagt Lasar-
jewa. Dann mag der Luftalarm vorbei sein.
Der Krieg ist es sicher nicht.
Allen, die in der Metrostation Olimpijska
Schutz gesucht haben, ist der Schock anzu-
merken. »Warum tut Putin das?«, fragt eine
75-Jährige, die erschöpft an einer Säule lehnt.
»Was haben wir ihm denn getan?«
Als es dunkel wird, bleiben auch viele
Ukrainian Presidential Press Office / AP

Fenster in der Stadt dunkel, die Bewohner


sind geflohen. Nur die Reklametafeln an den
Rändern der Boulevards erhellen die Nacht.
Sie zeigen ein Bild: die Flagge der Ukraine.
Alexander Chernyshev, Christian Esch,
Georg Fahrion, Matthias Gebauer,
Christina Hebel, Katja Lutska, Walter Mayr,
Maximilian Popp, Mathieu von Rohr,
Präsident Selenskyj (M.) bei Krisensitzung: Auf Russisch an die Russen appelliert Alexandra Rojkov, Özlem Topçu, Bernhard Zand n

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UKRAINE-KRIEG TITEL

Sean Gallup / Getty Images


Verteidigungsministerin Lambrecht, Bundeswehrsoldaten bei Übung in Munster: In der Truppe hat man verlernt, auch nur mittelgroß zu denken

Da können Moskaus Generäle


nur lachen
SICHERHEIT  Der russische Angriff auf die Ukraine legt die Irrtümer der deutschen Russlandpolitik
offen. Zu lange gab es Verständnis statt Härte, vor allem die Bundeswehr steht
nach Jahrzehnten der Abrüstung fatal schwach da. Nun beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

F
ür Oberstleutnant Daniel Andrä hat sich insgesamt etwa 1600 Männer und Frauen, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht
die Welt in den letzten Tagen dramatisch davon rund 1000 aus Deutschland. Die Trup- (SPD) zu Besuch bei der Truppe.
verändert. Seine Mission ist dieselbe wie pe kommt auf 9 Kampfpanzer und 25 Schüt- »Wir sind dafür ausgebildet und ausgerüstet,
vorher, sein Auftrag ist geblieben, aber die zenpanzer, das ist nichts im Vergleich zu Russ- hier im Ernstfall unseren Beitrag zur Verteidi-
Bedeutung hat sich schlagartig erhöht und lands Kräften, aber genug, um Präsenz zu gung des Landes zu leisten«, sagt Andrä, der
damit die Aufmerksamkeit. Andrä ist nun demonstrieren. »Enhanced Forward ­Presence« mit seinen Soldatinnen und Soldaten einer
mittendrin in dieser Zeitenwende. heißt die Mission denn auch, sie läuft seit Jah- ­litauischen Brigade unterstellt ist. »Wir sind das
»Natürlich stehen wir jetzt viel stärker im ren, die Nato schickt dafür rotierend Truppen schärfste Schwert, das diese Brigade aufbieten
Fokus«, sagt er in einem Telefonat am Mitt- in die baltischen Staaten. kann, und wir spüren hier in jedem Gespräch,
wochmorgen. »Plötzlich ist es von breiterem Die Bundeswehr ist für Litauen zuständig, wie dankbar man für unseren Beitrag ist.«
öffentlichen Interesse, wie die Nato ihre Ost- sie soll dort gemeinsam mit der litauischen Estland, Lettland und Litauen sind Nato-
flanke sichert.« Armee ihren Beitrag zur Abschreckung leisten Mitglieder, ein Angriff auf sie würde den
Keine 24 Stunden später wird Russland in und, falls Russland im Baltikum angreifen Bündnisfall auslösen, deshalb galt ein solches
der Ukraine einmarschieren. sollte, die Attacke zumindest verzögern. Bis Szenario eigentlich als ausgeschlossen – doch
Andrä, 43, hat vor zwei Wochen das Kom- vor Kurzem hätte man von der Mission in auch mit einem Angriff auf die Ukraine hatten
mando über den multinationalen Gefechts- Deutschland kaum Notiz genommen, doch noch im vergangenen Jahr die wenigsten ge-
verband der Nato in Litauen übernommen, das hat sich geändert. Erst diese Woche war rechnet. Deutschland jedenfalls hat gerade

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TITEL UKRAINE-KRIEG

erst 350 zusätzliche Soldaten als


­ erstärkung nach Litauen geschickt,
V
außerdem sechs Panzerhaubitzen,
schweres Gerät.
»Die Litauer haben eine andere
Wahrnehmung der Bedrohung«, sagt
Andrä. »Zu diesem Bedrohungsgefühl
trägt bei, dass sich mittlerweile starke
russische Kräfte in Belarus befinden,
also in direkter Nachbarschaft.«
Er macht eine Pause.
»Be prepared«, sagt er, das sei das
Motto seiner Mission. Sei vorbereitet.
Wenn es um Russland ging, konn­
te man von Deutschland zuletzt nicht
sagen, dass es gut vorbereitet gewe­
sen wäre – insofern könnte Oberst­
leutnant Andrä so etwas wie die Sym­
bolfigur einer neuen Zeit sein.
Der russische Angriff auf die Ukrai­
ne markiert eine Zäsur, für die Welt,
für Europa, die deutsche Außenpolitik
und speziell die Russlandpolitik. Viele
Jahre lang konnte Wladimir Putin tun,

HC Plambeck
was er wollte, konnte Grenzen ver­
letzen und Gegner ermorden lassen –
hierzulande setzten sich in Regierung
und Parlament stets diejenigen durch, Außenministerin Was bedeutet es für die Deutschen? demokraten bislang als heilige Ver­
die noch bei jeder neuen Eskalations­ Baerbock bei Und wie sieht es militärisch aus? pflichtung – doch sie vergaßen dabei
Ankunft im
stufe beschwichtigten: Reden sei bes­ Krisenreaktions­ Nachdem Putin die Krim annek­ meist, dass Brandt als Berliner Bür­
ser als drohen, Dialog besser als Sank­ zentrum: Vor den tiert hatte, besann man sich in der germeister erst den Kalten Krieger
tionen. Zum Äußersten werde es nicht Trümmern der Nato auf das Konzept der Landes- gab und Härte zeigte, bevor er sich
kommen, schließlich sei Putin ein ra­ deutschen Ostpolitik und Bündnisverteidigung zurück. als Außenminister und Kanzler um
tional agierender Mensch. Nach dem Ende des Kalten Kriegs Entspannung bemühen konnte. Der
Sie lagen vollkommen falsch, der war es in Vergessenheit geraten, statt­ Part mit der Härte war in der SPD
russische Präsident hat sich als Mann dessen hatte sich das Bündnis auf Ein­ zuletzt aus der Mode geraten.
entpuppt, dem es nicht um Verstän­ sätze wie den in Afghanistan konzen­ Stattdessen warnten auch höchst­
digung geht, sondern um sein Bild in triert. Nach 2014 sollte sich auch die rangige Genossen wie Frank-Walter
der Geschichte, um den Traum vom Bundeswehr wieder ihrer ursprüng­ Steinmeier gern vor »Säbelrasseln«
Großreich, um Kategorien wie Rache lichen, im Grundgesetz festgelegten gegenüber Moskau, vor zu viel Härte
und Vergeltung. Die Bundesrepublik Bestimmung widmen und dafür grö­ und Druck. Noch kurz vor dem Ein­
steht vor den Trümmern ihrer Ost­ ßer, schneller, schlagkräftiger werden. marsch in die Ukraine redete Frak­
politik, das gilt politisch, wirtschaft­ Die Truppe sollte von der Lachnum­ tionschef Rolf Mützenich lieber über
lich, militärisch. mer zu einer Armee werden, die man Versäumnisse der USA als über die
Politisch ist der Ansatz gescheitert, ernst nimmt, im besten Fall fürchtet. russische Aggression. Entsprechend
Russland an den Verhandlungstisch zu Seither ist einiges passiert, aber nachdenklich war die Stimmung, als
bringen. Das Normandie-Format, das längst nicht genug. Es fehlt vor allem am Dienstagabend die SPD-Bundes­
Minsker Abkommen, es waren Begrif­ an Geld, Ministerin Lambrecht for­ tagsfraktion zur digitalen Diskussion
fe, die in Deutschland bis zuletzt hoch­ dert nun einen höheren Wehretat. zusammenkam. Die eigentliche Inva­
gehalten wurden. Putin hat sie mit Noch im Wahlkampf 2017 hat ihr sion hatte da noch gar nicht begonnen.
einem Handstreich beiseite gewischt ­Parteifreund Martin Schulz gewarnt, Etwa eine Stunde lang tagten die
wie ein Gewalttäter das Blatt Papier, Deutschland dürfe keinesfalls zum Sozialdemokraten, ein gutes Dutzend
auf das er seinen Besinnungsaufsatz »Militärbullen« im Herzen Europas Abgeordneter meldete sich, der Tenor
schreiben sollte. Was folgt daraus, wel­ werden, das mache nur den Nachbarn vieler Beiträge: Wir wurden von Pu­
che Ansätze sieht die Bundesregierung, Angst. Auch hier also: Zeitenwende. tin getäuscht. Man müsse sich selbst­
um noch Schlimmeres zu verhindern? Doch wie steht es acht Jahre nach der kritisch fragen, wo man in der Ver­
Wirtschaftlich rächt sich, dass Annexion der Krim um die Bundes­ gangenheit falsch abgebogen sei,
Deutschland seine Energieversorgung wehr? Was kann sie, was muss sie erst mahnte dem Vernehmen nach der
von Russland abhängig gemacht hat, wieder lernen, was braucht sie? Abgeordnete Jens Zimmermann.
speziell vom Gas. Egal wie laut die ost­
europäischen Nachbarn warnten – so­
»Wir waren zu Auf all diese Fragen muss die Bun­
desregierung Antworten finden, mög­
»Wir waren zu optimistisch, so
selbstkritisch sollten wir sein«, so sagt
wohl Union als auch SPD hielten an optimistisch, lichst rasch. Das fängt damit an, die es nach der Sitzung der Abgeordnete
der Gaspipeline Nord Stream 2 fest. Es so selbstkri- Fehler der Vergangenheit zu benennen. Axel Schäfer. »Wir handelten Moskau
musste erst zum Angriff auf die Ukrai­ Besonders viele Gründe dafür hät­ gegenüber immer mit friedlich ausge­
ne kommen, und es brauchte den grü­
tisch sollten te die SPD. Die Ostpolitik Willy streckter Hand – jetzt antwortet Putin
nen Wirtschaftsminister Robert Ha­ wir sein.« Brandts gehört zum politischen Gold­ mit geballter bewaffneter Faust.«
beck, um das Projekt zu stoppen. Doch Axel Schäfer, schatz der Partei, ein gutes Verhältnis Eigentlich habe man nach der Anne­
ist das wirklich das endgültige Aus? SPD-Abgeordneter zu Russland galt den meisten Sozial­ xion der Krim 2014 richtig agiert – aber

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das sei offensichtlich eine »Einbahn- Die entscheidenden Fehler wurden wenn der erste Schritt dort gut ange-
straße« gewesen, sagt Schäfer. »Es ist lange vor Scholz’ Besuch in Moskau Schrumpf- kommen ist. »Das war ein wichtiges
eine Zeitenwende, womöglich eine gemacht. Der symbolträchtigste trägt Armee Zeichen«, sagt ein Brüsseler Beamter.
ähnliche wie nach dem 11. September.« den Namen Nord Stream 2. »Aber das Projekt ist ja nur ausgesetzt,
Und Fraktionschef Mützenich? Er Um die Gaspipeline hatte sich hier- Deutsche nicht abgesagt.« Woran man mit
Streitkräfte*, Auswahl
möchte zwar die bisherige Linie nicht zulande in den vergangenen Jahren Deutschland sei, werde sich erst zeigen.
für falsch erklären, hält die Politik ein politisches Ritual entwickelt. aktuelle Anzahl Putins Attacke hat die Koordina-
der Entspannung nach wie vor für Nach jeder russischen Provokation, seit 1989 reduziert ten der deutschen Politik ruckartig
richtig – doch auch er klingt jetzt an- jedem innen- oder außenpolitischen verschoben, plötzlich passieren Din-
Soldaten
ders als noch Tage zuvor. Er nennt Übergriff kam die Forderung, die ge, die jahrelang nicht möglich waren.
Putin einen »von der Geschichte be- Pipeline durch die Ostsee endlich zu
180.000 Das wird einschneidende Folgen ha-
sessenen Präsidenten«, der »zuneh- stoppen – doch nichts passierte. Die ben, womöglich für Jahre, für Jahr-
mend beratungsresistent« sei und Regierung hielt an dem Projekt fest, zehnte. Die deutsche Wirtschaft ist
»geradezu autistisch« agiere. ob unter Merkel oder Scholz, bis zu eng mit der russischen verflochten,
Auch Olaf Scholz steht in der Tra- dieser Woche. Da war endlich Schluss. – 310.000 reprä- ein Wirtschaftskrieg gegen Russland
dition der russlandfreundlichen SPD, Das Zertifizierungsverfahren für sentiert je wird teuer, die Bürgerinnen und Bür-
hinzu kommt, dass er sich selbst für die Pipeline werde ausgesetzt, ver- 10.000 ger werden das spüren.
einen begnadeten Verhandler hält. kündete Scholz am Dienstag, einen Einheiten Was die Energie angeht, sieht die
Als er Mitte Februar nach Moskau Tag nachdem Putin erste Truppen in Kampfpanzer EU-Kommission auch mittelfristig
reiste, hielt er eine diplomatische Lö- den Donbass geschickt hatte. Es wirk- 300 keine Anzeichen von Entspannung
sung zumindest für möglich. te wie eine arg späte, aber immerhin – im Gegenteil. Inzwischen herrsche
Und sah es nicht zunächst sogar halbwegs entschlossene Reaktion des eine »wachsende Gaskrise«, heißt es
danach aus? Nach dem Gespräch mit Kanzlers – doch in Wahrheit ging sie in einem vertraulichen Entwurf einer
Scholz sagte Putin: »Wir sind auch auf Vizekanzler Robert Habeck von Mitteilung der Kommission. Die
bereit, den Weg der Verhandlungen den Grünen zurück. – 4700 100 Energiepreise würden »noch bis min-
zu gehen.« Nach der gemeinsamen Als Habeck Ende des vergangenen destens 2023 volatil« und überdurch-
Pressekonferenz lud er den Bundes- Jahres ins Wirtschaftsministerium Kampfflugzeuge schnittlich hoch bleiben.
kanzler zu einem Glas Champagner eingezogen war, galten dort, was 230 Viele Deutsche sehen eine Kon-
ein, ohne Berater, ohne Übersetzer, Nord Stream 2 anging, seit Jahren frontation mit der Macht im Osten
Putin spricht sehr gut Deutsch. Es zwei Dogmen: Wenn die Pipeline ohnehin skeptisch. Geht es an den
fühlte sich, bei aller gebotenen Skep- nicht in Betrieb gehe, sei die »Ver- eigenen Geldbeutel, könnte der Rück-
sis, wohl wie ein leises Angebot an. sorgungssicherheit« gefährdet. Das halt rasch schwinden. Auch mit mili-
Danach deutete Scholz in einem Wort wirkte stets wie eine rhetorische tärischer Aufrüstung konnte die
10
Gespräch mit den Botschafterinnen Allzweckwaffe, es ließ die Bürger an – 390 Mehrheit der Bundesbürger in der
und Botschaftern der EU-Partner so- unbeheizte Wohnungen und kalte Vergangenheit nichts anfangen. Das
gar an, dass man Russland entgegen- Herdplatten denken. Dogma zwei: Schiffe könnte sich jetzt ändern.
kommen könne. Er habe Putin gesagt, Werde Nord Stream 2 gestoppt, müs- 60 Im Verteidigungsministerium wer-
dass die Nato zwar grundsätzlich of- se Deutschland eine hohe Entschädi- den dieser Tage haufenweise Über-
fen für jedes europäische Land sei – gung zahlen. stunden gemacht, in der Bundeswehr
doch was die Ukraine angehe, habe Habeck ließ seine Beamten beide – 130 10 ist Inventur angesagt. Der General-
er ihm zugesichert: »Es wird nicht Dogmen hinterfragen, Papiere durch- inspekteur hat die Planer in den Kom-
passieren.« Die Frage stehe »einfach forsten, Gutachten lesen. Ergebnis: U-Boote mandostäben damit beauftragt, sie
nicht auf der Tagesordnung«. Dafür Mengenmäßig braucht es die Leitung 6 sollen feststellen, welche Truppen-
werde er, Scholz, »nicht in den Krieg nicht, um Deutschland mit Erdgas zu teile der Nato kurzfristig als Verstär-
ziehen«. Dafür zog ein paar Tage spä- versorgen. Die bestehenden Verbin- 1 kung angeboten werden könnten. Es
ter Putin in den Krieg. dungen, insbesondere Nord Stream 1, – 18 geht darum, die Ostflanke des Bünd-
Im Kanzleramt sieht man nun, reichen dafür aus. Und wenn das Zer- nisgebiets zu stärken, inzwischen lie-
dass die Freundlichkeit Bluff war, eine tifizierungsverfahren scheitert, so die * gerundet gen erste Ergebnisse vor.
perfide Inszenierung. Putin spielte, Einschätzung des Ministeriums, ist S Quelle: Military Balance Das Heer meldete, man könne um-


Scholz ließ mit sich spielen. keine Entschädigung zu zahlen. Ge- gehend eine Infanteriekompanie
Es war in Wahrheit wohl schon zu nau diesen Kniff wandte Habeck an durchhaltefähig anbieten, also länger
spät, als der Kanzler in Moskau an- – er setzte das Verfahren aus, genauer: als nur ein paar Monate – das wären
kam. Vielleicht, heißt es unter Diplo- Er zog die notwendige Bescheinigung rund 150 Soldaten mit einem guten
maten, habe man unterschätzt, wie zur Versorgungssicherheit zurück. Dutzend »Boxer«-Radpanzer. Etwas
weit sich der russische Präsident vom Nord Stream 2 liegt damit auf Eis. später könnte eine zweite Kompanie
Westen wegbewegt habe. Nun zeigt Die endgültige Entscheidung traf hinzukommen. Eine Idee ist, sich mit
sich, dass all die Gespräche der ver- Habeck in der Nacht von Montag auf diesem Minipaket den Franzosen an-
gangenen Jahre und Jahrzehnte Dienstag. Um acht Uhr am Dienstag- zuschließen, die in Rumänien einen
nichts gebracht haben, all die Tele- morgen telefonierte er mit Scholz, der Nato-Gefechtsverband aufstellen
fonate, die Merkel mit Putin führte, Kanzler war einverstanden – und ver- wollen.
der ständige Austausch der Berater kündete die Entscheidung vier Stun- Bereits am Donnerstag schickte die
in Kanzleramt und Auswärtigem Amt den später öffentlich: Er habe Habeck Luftwaffe drei weitere »Eurofighter«
mit ihren russischen Kollegen. Der gebeten, die Zertifizierung auszuset- zur Luftraumüberwachung nach Ru-
Gesprächskanal zwischen Kanzler- zen. Plötzlich klang es so, als hätte mänien. Dorthin oder nach Litauen
amt und Kreml ist nun weitgehend Scholz die Idee gehabt. könnte die Bundeswehr mög­
tot. Was soll man auch bereden, wenn Ist das Projekt nun endgültig tot? licherweise auch das »Patriot«-Luft-
russische Panzer durch die Ukraine Bei den Partnern in der Europäischen abwehrsystem entsenden. Hinzu
rasseln? Union überwiegt noch Skepsis – auch kommt ein Flottendienstboot, das die

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TITEL UKRAINE-KRIEG

Truppe herausholen wollten, bissen sich in


den vergangenen Jahren regelmäßig die Zäh-
ne am Finanzminister aus. Der hieß Olaf
Scholz, ist jetzt Kanzler und dürfte demnächst
erklären müssen, warum er an der Ausrüstung
der Truppe gespart hat.
Zudem krempelt man eine Großorganisa-
tion wie die Bundeswehr nicht in ein, zwei
Jahren um. Der Fortschritt kommt, wenn
überhaupt, im Tempo einer Wanderdüne,
deshalb trifft die Eskalation die Truppe in
einem heiklen Stadium: Sie ist noch nicht so
weit. Bis Anfang des kommenden Jahrzehnts
wollte man die Wende geschafft haben, nun
wird es sehr viel schneller gehen müssen. Die
aktuelle Krise wirke wie ein »mentaler Kata-
lysator«, sagt ein hoher Offizier.
In einem internen Papier des Heeres wird

Markus Schreiber / dpa


aufgelistet, woran es nach wie vor mangelt.
Immer noch seien viele Kampfeinheiten nicht
voll ausgestattet, heißt es darin, die Einsatz-
bereitschaft der Waffensysteme sei trotz aller
Kanzler Scholz: Es geht nun um die »totale Isolation« Russlands Anstrengungen zu niedrig. Der Truppe fehle
es deshalb an der »Kaltstartfähigkeit«, um im
Marine bereits in Richtung Ostsee entsandt lich unter 200 000, die Wehrpflicht wurde Ernstfall schnell größere Einheiten zu mobi-
hat. Eine Korvette und eine Fregatte sollen ausgesetzt und viel Geld gespart. Die heutige lisieren. »Was wir zwei Jahre vorher geplant
ebenso ins deutsche Angebot, die beiden Offiziersgeneration ist durch die Auslands- haben, können wir leisten«, sagt ein hoher
Kriegsschiffe müssten allerdings aus laufenden einsätze auf dem Balkan, in Afghanistan und Offizier, »alles andere wird schwierig.«
Missionen im Mittelmeer abgezogen werden. in Mali geprägt, der große Landkrieg galt als Schon die regulären Versprechen, die
Verglichen mit dem russischen Aufmarsch Szenario aus dem vorigen Jahrhundert. Deutschland vor Putins Kriegszug gegen die
im Osten der Ukraine ist das kümmerlich. Was Als Russland 2014 die Krim annektierte, Ukraine gegeben hat, machen der Bundes-
hierzulande bereits als Erfolg gilt, dürfte in Mos- setzte das Umdenken ein, es begann mit einer wehr zu schaffen. Für dieses Jahr hat die Trup-
kaus Generalstab allenfalls müdes Lächeln her- bestürzenden Erkenntnis: Offenbar hatte man pe 13 700 Soldatinnen und Soldaten für die
vorrufen. Das liegt daran, dass man in der Bun- es mit dem Sparen etwas übertrieben, die »Nato Response Force« gemeldet, die schnel-
deswehr verlernt hat, auch nur mittelgroß zu Bundeswehr war so ausgehungert, dass sie le Eingreiftruppe der Allianz. Mehrere Tau-
denken. Man musste es viele Jahre ja auch nicht. nur noch aus Haut und Knochen bestand. send von ihnen müssen seit Ende vergangener
Es war Generalleutnant Alfons Mais, der Diese Truppe schreckte niemanden mehr ab. Woche innerhalb einer Woche abmarschbe-
die Lage am Donnerstag, kurz nach Beginn der Seither hat sich einiges getan. Noch 2014 reit sein. Aber was, wenn die Nato noch mehr
russischen Invasion, auf den Punkt brachte. lag der Verteidigungshaushalt bei 32,4 Mil- verlangt, wenn die Militärführung neben der
»Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden liarden Euro jährlich, mittlerweile ist er auf Eingreiftruppe noch etwas mehr Abschre-
nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu rund 50 Milliarden gestiegen. Allerdings sind ckung für die Ostflanke will? Dann, so heißt
müssen«, schrieb der Inspekteur des Heeres das immer noch deutlich weniger als die zwei es bei der Bundeswehr, werde es schnell eng.
im Netzwerk LinkedIn. »Und die Bundeswehr, Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, Dass die Truppe von Oberstleutnant An-
das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder die perspektivisch mit den Nato-Verbündeten drä in Litauen kurzfristig mit 350 Soldaten
weniger blank da. Die Optionen, die wir der vereinbart sind. Haushalts- und Verteidi- samt Panzerhaubitzen verstärkt werden
Politik zur Unterstützung des Bündnisses an- gungspolitiker, die noch mehr Geld für die konnte, war ebenfalls keine spontane Aktion.
bieten können, sind extrem limitiert.« Schon vor Monaten hatten die Militärplaner
Derart offen äußern sich Generäle meist in Berlin gesehen, dass die Lage im Osten sich
erst nach dem Ende ihrer Karriere. Und Mais Wieder hochgeschraubt zuspitzen könnte – und vorsorglich begonnen,
ging noch weiter: »Wir haben es alle kommen die Verstärkung zusammenzustellen. Vertei-
sehen und waren nicht in der Lage, mit unse- Deutschlands Verteidigungsausgaben*, digungsministerin Lambrecht musste sie dann
in Mrd. US-Dollar
ren Argumenten durchzudringen, die Folge- 2014 nur noch in Marsch setzen.
rungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und 60 Annexion der Wie weit man mit dem Umbau ist, in wel-
umzusetzen.« Krim durch chem Zustand sich die Truppe befindet, lässt
Noch aufgebrachter klang seine frühere Russland sich gerade nur ungefähr einschätzen. Die
Chefin. »Ich bin so wütend auf uns, weil wir 52 offiziellen, von der Bundeswehr selbst ver-
historisch versagt haben«, twitterte die ehe- 40 öffentlichten Zahlen jedenfalls sind geschönt.
malige Verteidigungsministerin Annegret So meldete die Truppe im jüngsten »Bericht
Kramp-Karrenbauer (CDU). Man habe »nach zur materiellen Einsatzbereitschaft der
Georgien, Krim und Donbass« nichts vorbe- Hauptwaffensysteme« stolz eine Bereit-
reitet, »was Putin wirklich abgeschreckt hätte«. 20 schaftsquote von 77 Prozent. Doch das ist
Nach dem Ende des Kalten Kriegs waren bestenfalls die halbe Wahrheit.
die Streitkräfte in fast allen westlichen Län- In der vertraulichen internen Datenbank
dern drastisch geschrumpft. Noch 1989 hatte der Bundeswehr wurde am Dienstag dieser
die Bundeswehr über 5000 Kampfpanzer im 0 Woche ein Bestand von insgesamt 119 Stück
Bestand, heute sind es nicht einmal mehr 300. 1990 2000 2010 2020 der »Panzerhaubitze 2000« aufgeführt. Genau
Die Zahl der Soldatinnen und Soldaten sank * inflationsbereinigt 56 davon wurden als einsatzbereit deklariert,
in der gleichen Zeit von fast 500 000 auf deut- S Quelle: IW also weniger als die Hälfte – dennoch wies die


20 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


VERTEIDIGUNG

»Putin hält uns alle für Weichlinge«


Sigmar Gabriel, 62, Vorsitzender der Atlantik-Brücke und ehemaliger Außenminister, fordert angesichts
des russischen Angriffskriegs eine sofortige Mobilisierung der Nato – inklusive deutscher Soldaten.

SPIEGEL: Herr Gabriel, Russland führt nen und Bürger vor dramatisch höheren Friedensdividende, die wir lange Jahre ge-
einen Angriffskrieg in der Ukraine. Energiekosten schützen müssen, denn der nossen haben. Dem hat Russland jetzt ein
Wie groß ist die Gefahr für ganz Europa? Stopp für Nord Stream 2 wird ja erst der Ende gesetzt. Die Staaten in Europa wer-
Gabriel: Ich bin entsetzt von Wladimir Anfang sein. Deutschland und Europa den wieder mehr eingreifen. Das wird teu-
­Putins Entscheidungen. Er liefert den Be- werden sich unabhängiger von russischen rer, ist aber nun leider unvermeidlich.
weis, dass es ihm nicht um Sicherheit sei- Energieimporten machen müssen. Das SPIEGEL: Muss der Wehretat steigen?
nes Landes vor der Nato geht, sondern wird teurer als russisches Pipelinegas. Gabriel: Die Erhöhung des Verteidigungs-
darum, wieder eine Art »zaristisches« SPIEGEL: Welche Härten kommen auf uns haushalts ist eher eine Frage der Fairness
Russland zu schaffen, das als Großmacht zu in Deutschland? gegenüber den USA, als dass wir damit
über Europas Schicksal entscheidet. Gabriel: Viele. Die Energiepreise werden Russland einschüchtern. Europa und die
SPIEGEL: Wie kann er gestoppt werden? steigen, die Inflation wird sich verstärken, USA sind gleich große Volkswirtschaften,
Gabriel: Das Einzige, was ihn daran hin- Zinsen werden nach oben gehen. Es muss deshalb kann man den Amerikanern
dert, noch weiterzugehen, ist die Nato- klar sein: Wir kommen hier nicht mit busi- nicht zumuten, 70 Prozent unserer Vertei-
Mitgliedschaft der baltischen Staaten. ness as usual weiter. Politik muss jetzt digungsausgaben zu finanzieren. Deutsch-
Deshalb wird die Nato jetzt das tun müs- ­völlig neu formuliert werden. Putins Krieg land sollte vor allem mehr tun für die
sen, was sie bisher mit Rücksicht auf das durchkreuzt praktisch alles, was wir uns ­ erteidigungsfähigkeit der osteuropäischen
V
russische Sicherheitsbedürfnis vermieden vorgenommen haben, die Klimaziele vor- Nato-Mitgliedstaaten.
hat: Sie wird auch in den osteuropäischen neweg. Deutschland, ganz Europa muss SPIEGEL: Sie selbst waren lange gegen
Mitgliedstaaten mit einer Grenze zu Russ- sich jetzt unabhängig machen vom russi- einen höheren Wehretat. Bereuen Sie das?
land Truppen und Waffensysteme statio- schen Gas. Das können wir schaffen. Aber Gabriel: Ich habe sehr früh dafür plädiert,
nieren müssen. Deutsche Soldaten sollten ohne die absehbar steigende Abgabenlast nicht einfach 2 Prozent des Bruttoinlands-
ebenfalls Teil einer solchen Nato-Mission für die Bevölkerung abzufedern, wird es produkts in die Bundeswehr zu investie-
sein, wenn es von den osteuropäischen massive Akzeptanzprobleme geben. ren, sondern 1,5 Prozent plus 0,5 Prozent
Staaten gewünscht ist. Würden wir uns SPIEGEL: Wir hätten uns schon früher un- in die Verteidigungsfähigkeit Osteuropas.
verweigern, entstünde wieder der Ein- abhängig von Putins Gas machen können. Das war ein Vorschlag, den ich mit dem
druck deutscher Wankelmütigkeit – auch Welche Fehler sehen Sie rückblickend? früheren polnischen Botschafter in Deutsch-
in Russland. Das dürfen wir auf keinen Gabriel: Wir haben vor 30 Jahren den ge- land, Janusz Reiter, entwickelt habe, da-
Fall zulassen. Wir sind zurück in der Zeit samten Energiemarkt liberalisiert und die mit Deutschland zeigt, dass es auch Ver-
der Abschreckung. Eine wirklich furcht­ Politik bewusst aus ihrer Verantwortung antwortung für Osteuropa übernimmt.
erregende Realität. für die Versorgungssicherheit entlassen. Denn das tun bislang nur die USA. Mehr
SPIEGEL: Hätte Putin damit nicht erst Angebot und Nachfrage sollten am Markt Geld ist insbesondere bei der Bundes­
recht ein Argument, Krieg zu führen? das alles besser und preiswerter regeln. wehr kein Selbstzweck. Ich wäre schon
Nach dem Motto: Wir richten die Waffen Das hat geklappt – mit großen Vorteilen froh, wenn die Bundeswehr das Geld, das
auf ihn, er dann doppelt so viele auf uns? für Verbraucher und für Wirtschaft. Es sie bereits hat, vernünftig ausgeben wür-
Gabriel: Es bleibt uns nichts anderes übrig. gab auch in der Energiepolitik eine Art de. Derzeit muss man befürchten, dass
Putin hält uns alle für Weichlinge. Aller- zehn Milliarden Euro mehr gar nichts be-
dings will er den direkten Konflikt mit der wirken, weil alles in einem völlig ineffi-
Nato ebenso vermeiden wie wir den mit zienten Apparat verschwindet. Bevor man
ihm. Stärke dürfen wir nicht nur militä- die Ausgaben erhöht, wäre eine dras­
risch zeigen. Wir müssen vor allem bei tische Reform der Beschaffungsstrukturen
den Sanktionen durchziehen. Das klingt der Bundeswehr dringend nötig.
so simpel, aber es ist eine offene Frage, SPIEGEL: Altkanzler Schröder hat mehrere
wie lange wir das durchhalten. Topjobs in Russland, gilt als Putins
SPIEGEL: Warum haben Sie daran Zweifel? Freund. Was erwarten Sie jetzt von ihm?
Gabriel: Es braucht jetzt historisch harte, Gabriel: Ich bin nicht in der Position,
langfristige Sanktionen. Das Problem ­Gerhard Schröder öffentliche Ratschläge
ist, dass sie auch uns treffen, vor allem die zu erteilen. Das fände ich angesichts des-
wirtschaftlich schwächeren Staaten in sen, was er als Kanzler für Deutschland,
Europa – nicht zuletzt Italien. Europa und auch für die USA geleistet hat,
SPIEGEL: Also besser weiche Sanktionen? regelrecht unanständig. Dass er in seiner
Gabriel: Nein, natürlich nicht. Aber wir Haltung zu Russland nicht für die SPD
müssen die Konsequenzen in Europa ab- spricht – wie ich übrigens auch nicht –, ist
federn. Wir müssen bereit sein – ähnlich offensichtlich. Und dass ich in der Russ-
wie in der Pandemie –, ein großes Hilfs­ landfrage völlig anderer Meinung bin als
paket aufzulegen, einen Recovery-Plan, er, ist auch keine Neuigkeit. Trotzdem
Sonja Och

um den Absturz einiger europäischer Volks- fühle ich mich ihm politisch und mensch-
wirtschaften zu verhindern. Und auch in lich verbunden.
Deutschland werden wir unsere Bürgerin- Ex-SPD-Chef Gabriel Interview: Veit Medick n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 21


TITEL UKRAINE-KRIEG

möglichst ohne Ausreißer. Aber schon bei den


Sanktionen gab es unter den europäischen
Partnern bereits Diskussionen.
Will die EU die russische Wirtschaft massiv
treffen, muss sie Öl und Gas ins Visier neh-
men, doch manche EU-Länder sind noch stär-
ker von den russischen Lieferungen abhängig
als Deutschland. Italien etwa nimmt Russland
fast ein Viertel seiner Flüssiggasexporte ab.
Am Donnerstag zog Deutschland den Ärger
vieler EU-Partner auf sich, als es sich dagegen
aussprach, Russland vom internationalen Ban-
kensystem Swift auszuschließen.
Auch weil sie um derartige Schwierigkeiten
wissen, richten deutsche Diplomaten ihren
Blick nun auf China. Das Riesenreich ist bis-
lang ein treuer Verbündeter Russlands. Stra-

HC Plambeck / DER SPIEGEL


tegisch, so schätzen es Diplomaten ein, be-
werte man die Eskalation dort positiv, schließ-
lich müsse Moskau sich nun wirtschaftlich
ganz nach Osten ausrichten. Doch wer will
schon gern in die Nähe eines Kriegstreibers
Pro-Ukraine-Demonstranten in Berlin: Was hilft noch reden, wenn die Panzer rasseln? gerückt werden? China, so die Hoffnung in
Berlin, könnte daher eine wichtige Vermittler-
Datenbank eine Einsatzbereitschaft von 65,9 metovic sagt: »Die Nato muss jetzt mobili- rolle einnehmen – und die Deutschen wären
Prozent aus. Der Trick: Die 34 Haubitzen, die sieren, was sie hat.« Sämtliche Grenzen müss- wegen ihrer guten Kontakte dorthin wieder
gerade von der Industrie gewartet werden und ten gesichert werden, in Polen und in der im Spiel. Am Donnerstag allerdings stellte
damit auch nicht eingesetzt werden können, Slowakei, im Baltikum, aber auch auf dem sich Peking an die Seite Moskaus. Es könnte
hatte man einfach nicht mitgerechnet. westlichen Balkan. »Dieses Einfallstor in Süd- die nächste Hoffnung sein, die sich zerschlägt.
Beim Schützenpanzer »Puma«, einem der osteuropa hat niemand so richtig im Blick«, Welche Optionen bleiben sonst? Man wer-
problematischsten Rüstungsprojekte der ver- sagt der Bundestagsabgeordnete Ahmetovic. de nun »robust« gegenüber Russland auftre-
gangenen Jahre, wirken die Zahlen noch ab- »Da hängen vielerorts schon Russlandfahnen, ten, heißt es aus der Bundesregierung, das
surder. Am Dienstag waren gerade mal 137 ich war vor wenigen Wochen dort.« Natürlich, gelte speziell für die künftige Ausstattung der
von 350 Fahrzeugen einsatzbereit – doch die sagt der Außenpolitiker, müsse man jetzt über Bundeswehr. Und Wirtschaftsminister Habeck
Truppe meldete intern eine Bereitschaftsquo- eine Erhöhung des Wehretats reden. will Deutschlands Abhängigkeit vom russi-
te von 57,4 Prozent. Ähnlich äußert sich der ehemalige SPD- schen Erdgas möglichst schnell reduzieren.
Gut möglich, dass die Planer angesichts sol- Vorsitzende und Außenminister Sigmar Ga- Dafür plant er radikale Schritte. Unter an-
cher Rechentricks selbst nicht genau wissen, briel, heute Chef der Atlantik-Brücke (siehe derem, so seine Idee, könne man den Ausbau
wie es um die Truppe bestellt ist. Dabei gibt Seite 21): Die Nato werde »auch in den ost- der erneuerbaren Energien mit einer nationalen
es auch Indizien, dass es langsam besser wird. europäischen Mitgliedstaaten mit einer Gren- Notlage begründen und damit deutlich be-
Als die Bundeswehr 2015 zum ersten Mal ze zu Russland Truppen und Waffensysteme schleunigen. Windkraftanlagen würden dann
den Kern der schnellen Nato-Speerspitze stationieren müssen«, sagt Gabriel. nicht mehr bis zu sieben Jahre von der Planung
stellte, mussten die Panzergrenadiere aus Ma- In der FDP klingt das ähnlich. »In Putins bis zur Fertigstellung brauchen. Auch die Ver-
rienberg noch eine Art groß angelegten Raub- Welt bedeutet Entgegenkommen Schwäche«, sorgung mit Flüssiggas will das Wirtschaftsmi-
zug durch die Truppe veranstalten und sich sagt Michael Link, europapolitischer Sprecher nisterium deutlich aufstocken, unter anderem
15 000 Ausrüstungsgegenstände bei anderen der liberalen Bundestagsfraktion und Russ- mit neuen Terminals. Eines soll schwimmend
Einheiten besorgen. landkenner. Es müssten nun »alle Optionen geplant werden und möglichst bald fertig sein.
Wenn die Panzergrenadierbrigade 37 im wirtschaftlicher und finanzieller Sanktionen Deutschland wird sich auf die neue Zeit ein-
nächsten Jahr die Führung des Verbands über- der EU und militärischer Abschreckung durch stellen müssen, flexibler werden, wehrhafter,
nimmt, bringt sie immerhin schon etwa 80 die Nato« auf den Tisch. und es muss sich von Illusionen verabschieden,
Prozent der Ausrüstung selbst mit. Das offi- Von einer »kopernikanischen Wende in die viele sich über Wladimir Putin gemacht
ziell ausgegebene Ziel allerdings, bis 2023 der deutschen Außenpolitik« spricht bereits haben. Selbst in der Linkspartei hat man das
eine ganze Brigade vollständig auszurüsten, Piotr Buras, Deutschlandexperte des Think- begriffen, die Spitzen von Partei und Fraktion
wird die Bundeswehr im nächsten Jahr ver- tanks European Council on Foreign Relations. verurteilten die Invasion am Donnerstag scharf
fehlen – obwohl es der Nato so zugesagt war. »Die Idee, dass immer engere Wirtschafts- und eindeutig. Doch ausgerechnet in der Kanz-
Der Druck auf die Truppe wird nun zu- beziehungen und eine politische Zusammen- lerpartei haben manche noch immer nicht ver-
nehmen – zugleich dürfte in der Politik freier arbeit in multilateralen Organisationen die standen, was da gerade passiert.
als bisher diskutiert werden, wie die Armee beste Sicherheitsgarantie seien, ist geschei- »Militärisch lassen sich Probleme nicht lö-
ausgestattet sein muss. »Ich will keinen Krieg, tert«, sagt er. Deutschland müsse in Europa sen«, schrieb der SPD-Linke Ralf Stegner am
ich will keine Aufrüstung«, sagt die Juso-Vor- jetzt seine Führungsrolle annehmen. Morgen des Angriffs auf Twitter. Es dürfe keine
sitzende Jessica Rosenthal. »Aber wir müssen Wie könnte die aussehen? Auch Außen- »neue Eiszeit mit Krieg + Wettrüsten« geben.
uns natürlich fragen, was man einem Auto- ministerin Annalena Baerbock (Grüne) wird Kurz danach meldete die ukrainische Re-
kraten wie Putin, der zu allem bereit zu sein jetzt gefordert sein. gierung die ersten 40 Toten.
scheint, entgegensetzen muss und was das für Das Einzige, was helfen könne, sei die »to-
die militärische Dimension bedeutet.« tale Isolation« Russlands, so drückt es ein Melanie Amann, Markus Becker, Matthias
­Gebauer, Kevin Hagen, Konstantin von Hammer-
Wenn eine Parteilinke wie Rosenthal von deutscher Diplomat aus. Es werde Sanktionen stein, Christoph Hickmann, Martin Knobbe, Veit
der »militärischen Dimension« spricht, ist es geben, Finanzströme müssten stillgelegt, Ver- Medick, Ralf Neukirch, Fidelius Schmid, Christoph
weit gekommen. Ihr Parteifreund Adis Ah- mögen eingefroren werden, gnadenlos und Schult, Christian Teevs, Gerald Traufetter n

22 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


ANALYSE nicht häufig genug zu Wort. Stattdessen

Abschied von einer Illusion


wird in diesen Runden seit Jahren den ewig
gleichen Figuren Platz eingeräumt, die die
ewig gleichen Geschichten von der russi-
Deutschland hat viele recht glückliche Jahre hinter sich, nur wurde die schen Seele erzählen, der deutschen
Schuld und einer historischen Verantwor-
große Gefahr übersehen – wie konnte es dazu kommen? tung, die sich nur auf Russland bezieht.
Dann geht es auch oft gleich um das Recht
Es kommt nicht so häufig vor, dass man Gleichzeitig war immer Verlogenheit im Russlands auf eine Einflusssphäre. Als
live zusehen kann, wie eine außenpoliti- Spiel. Die Verständigung der vergangenen wäre eine ausgewogene Darstellung darauf
sche Doktrin in Trümmer fällt. In der 30 Jahre wies Russland allein die alte Rolle angewiesen, dass auch jemand die Fakten
Nacht auf Donnerstag war es so weit. Wla- der Großmacht Sowjetunion zu. Dabei verdreht. »False bias« nennt das die Me-
dimir Putin hat eine umfassende militäri- wurden die Verbrechen der Wehrmacht dienwissenschaft, falsche Ausgewogenheit.
sche Invasion der Ukraine begonnen, Russ- einst auf einem breiten Landstreifen be- Sie spielt der russischen Propaganda in
lands Armee beschießt das Nachbarland, es gangen, der sich vom Baltikum und von die Hände, deren Macht auf der Einebnung
ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass in Russland über Polen, das heutige Belarus von Wahrheit und Lüge basiert. Noch am
Europa auf diese Weise ein Krieg begonnen und die Ukraine zieht; in der Ukraine ha- Dienstag, einen Tag nachdem der russische
wird: Es ist nackte militärische Aggression. ben die Deutschen sogar besonders gewü- Präsident behauptet hatte, die Ukraine sei
Damit ist auch die deutsche Russland- tet. Jene Männer, die auf dem berühmten kein richtiger Staat, sondern nur ein »Terri-
politik der vergangenen Jahrzehnte am Foto vom Mai 1945 die rote Fahne über torium«, saß Gabriele Krone-Schmalz bei
Ende. Sie ist in sich zusammengesunken dem zerstörten Reichstag schwenken, ka- »Markus Lanz« und begründete diese Sicht.
wie eine Sandburg, über die ein paar Wel- men aus allen Teilen der Sowjetunion, die Krone-Schmalz, die vor 30 Jahren einmal
len hinweggegangen sind. Jahrzehntelang Rote Armee war multinational. Das Ge- vier Jahre lang Moskau-Korrespondentin
glaubte man in Deutschland, dass Sicher- fühl, in tiefer Schuld zu stehen, bezog sich war und darauf ihre Karriere als Chef-Russ-
heit und Frieden in Europa nur in Koope- jedoch nur auf Russland. Nicht auf die an- landversteherin aufgebaut hat, wiederholt
ration mit Russland zu haben sind – nicht deren Staaten. Die Ukraine? Egal. Belarus? in solchen Sendungen zuverlässig die Pro-
in Konfrontation. Wenn man nur lange Egal. Die baltischen Staaten? Egal. paganda der russischen Staatsmedien.
genug spreche, gut genug zuhöre, sich in Die Selbstverständlichkeit, mit der die
den anderen hi­neinversetze, seine Inter- deutsche Politik lange über die Sorgen und Die Bundesrepublik hat 30 ziemlich glück-
essen berücksichtige, ihn nicht provoziere, auch über die jüngere Geschichte dieser liche Jahre hinter sich. Eine Ära des wach-
dann funktioniere das schon. Das war Länder hinweggegangen ist und sie zuguns- senden Wohlstands und der Stabilität. We-
eine der Grundannahmen deutscher ten des deutsch-russischen Verhältnisses nige Länder haben so sehr von der europäi-
Außenpolitik. ­ignoriert hat, dürfte einer der Hauptgründe schen Integration und der Globalisierung
Damit ist es nun vorbei. Schon Putins für die Fehleinschätzung Russlands durch profitiert wie Deutschland. Von der Vernet-
Rede am Dienstag legte offen, dass mit die deutsche Politik sein. Und natürlich ist zung, die überall auf der Welt neue Märkte
ihm keine Verständigung zu haben ist. russisches Kapital nach Deutschland geflos- eröffnete, und von einer Weltordnung, die
Und die Bundesrepublik steht zu Beginn sen. Geld, mit dem Häuser, Unternehmen, auf wundersame Weise wirtschaftliche Dy-
des Kriegs, den der russische Präsident der Anteil an Schalke 04 und ein Ex-Kanzler namik und politische Stabilität zu verbin-
losgebrochen hat, ziemlich hilflos da. mitsamt seinem Netzwerk gekauft wurden. den schien. Es lief so gut, dass viele sich
Es ist ja nicht nur so, dass man in den Wer das Versagen der deutschen Russ- einredeten, so werde es immer bleiben,
vergangenen Wochen die osteuropäischen landpolitik verstehen will, muss auch über und viele sich nicht einmal mehr vorstellen
Partner verstört hat mit dem langen Zö- deutsche Talkshows sprechen. Es mangelt konnten, dass diese Welt trotzdem noch
gern, entschieden zu handeln mit einem in Deutschland nicht an Osteuropa-Exper- immer auf Interessen und Macht ruht.
Verzicht auf die Pipeline Nord Stream 2 tinnen und -Experten. Sie kommen nur Doch diese Ära geht zu Ende. Russland
oder dem Liefern von Waffen an die Ukrai- ist jetzt eine offen revisionistische Macht,
ne. Die deutsche Außenpolitik hat insge- die einen Teil ihres früheren Einfluss­
samt keinen Plan mehr. Das, woran man bereichs ultimativ zurückfordert – der sich
jahrelang (und zuletzt ziemlich verzweifelt) auf Staaten im Osten Europas erstreckt,
geglaubt hat, hat sich als falsch erwiesen. die nun demokratische EU-Mitglieder sind.
Wie konnte es dazu kommen? Russland fordert Europa militärisch heraus,
Es gab gute Gründe für die deutsche aber auch zwischen China und dem Wes-
Russlandpolitik. Sie war ein Generationen- ten gibt es größere Konflikte. Kurzfristig
projekt der Kinder jener Männer, die die wird es darum gehen, die russischen Ag-
Sowjetunion einst angegriffen und mit gression zurückzuweisen. Aber mittel- und
einem Vernichtungskrieg überzogen hat- langfristig müssen die Deutschen mehr da-
ten. Sie war auch von der Dankbarkeit der rüber nachdenken, wie unsere nationalen
Nachwendejahre getragen, weil die Sow- Interessen aussehen und wie sie zu sichern
Alexander Zemlianichenko / AP / dpa

jets den Deutschen trotz ihrer Verbrechen sind. Die neue Außenministerin Annalena
die Wiedervereinigung erlaubt hatten. Baerbock hat angekündigt, die deutsche
Und natürlich war sie nicht nur von hehren Außenpolitik ökologisch und feministisch
Motiven getragen – sie ruht auf wirtschaft- auszurichten. Das kann eine Chance sein.
lichen Interessen, gerade hat der Ostaus- Aber es wäre gut, wenn die Bundesrepub-
schuss der deutschen Wirtschaft verkündet, lik nicht von einer Illusion in die nächste
dass der Handel mit Russland 2021 ein All- stolpern – und wenn die deutsche Außen-
zeithoch erreicht hat: Der Gesamtumsatz politik auch endlich realistisch würde.
übertraf 500 Milliarden Euro. Gesprächspartner Putin, Merkel 2015 Tobias Rapp  n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 23


TITEL UKRAINE-KRIEG

pazitäten in den Erstaufnahmen aufzu­


stocken.
Denn natürlich haben die Menschen allen

Der Weg nach Westen


Grund, sich zu fürchten. Die Ukrainerin Ole-
na K., 36, Wissenschaftlerin, lebt in Berlin
und möchte ihre 66-jährige Mutter Galyna in
Sicherheit wissen. Die Mutter lebt seit Jahren
in Kiew. Seit vor acht Jahren prorussische
MIGRATION  Die Europäische Union rechnet mit vielen Flüchtlingen Separatisten Donezk und Luhansk besetzten,
war sie nicht mehr in ihrer eigentlichen Hei-
aus der Ukraine. Die Bundesländer bereiten sich schon auf die Aufnahme mat im Donbass. Sie konnte nicht mehr die
der Menschen vor. Gräber ihrer Eltern besuchen, nicht mehr ihre
Verwandten. Eine Reise wäre zu gefährlich
gewesen. Nun fürchtet Olena K., dass ihre

M
ittwoch in Berlin-Kreuzberg. Es ist Die EU-Kommission schätzt, es könnten Mutter ein zweites Mal Abschied nehmen
kurz nach acht, die Bar Space Me- eine Million oder mehr Flüchtlinge aus der muss – diesmal von der Ukraine.
duza füllt sich langsam. Heute ist Ukraine kommen. Amerikanische Regie- Noch vor Putins Angriff ist die ältere Dame
Filmabend, passend zur angespannten Welt- rungsbeamte halten bis zu fünf Millionen für in Berlin gelandet, im Gepäck Fotoalben mit
lage stehen ukrainische Kurzfilme auf dem denkbar. Die US-Botschafterin bei den Ver- Schwarz-Weiß-Bildern der Familie und einige
Programm. Die Bar ist ein beliebter Treff- einten Nationen, Linda Thomas-Greenfield, Ruschnyky, aufwendig bestickte traditionelle
punkt der ukrainischen Gemeinde in der wird deutlich: »Wenn Russland diesen Weg ukrainische Tücher. Inzwischen ist sie weiter-
Hauptstadt. Und noch greift Russland die weitergeht, könnte es nach unseren Schätzun- gereist zu ihrem Sohn in die USA.
Heimat nicht auf breiter Front an. gen eine neue Flüchtlingskrise auslösen, eine Olena K. ist in ständigem Kontakt mit
Hinter dem Tresen steht Wladyslawa Wo- der größten, mit denen die Welt heute kon- ihren Bekannten in der Ukraine. »Meine
robjowa. Die 18-Jährige lebt mit ihrem Vater frontiert ist.« Freundinnen mit kleinen Kindern versuchen,
und ihrer Schwester in Berlin, sie kam vor vier In Deutschland weckt das Erinnerungen aus Kiew rauszukommen, in die Westukraine.
Jahren aus der Stadt Charkiw nach Deutsch- an die Jahre 2015 und 2016, als sich vor allem Mein Bruder aber sagt, er bleibt, wird alles
land. Der Großteil ihrer Familie lebt noch in Syrer, Afghanen und Iraker auf den Weg nach tun, um die Ukraine und Kiew zu schützen.
der Ukraine, und die Panik dort wachse stünd- Europa machten. Sie brachten die Asylsyste- Er will sich als Freiwilliger zum zivilen Schutz
lich, sagt sie. »Meine Mutter hat den Koffer me an ihre Grenzen und rechten Populisten melden. Mein Gefühl ist, dass die Haltung zu
für den Notfall schon gepackt.« Auch Ver- Aufwind. bleiben sehr ausgeprägt ist – solange es ir-
wandte und Bekannte seien vorbereitet: »Sie Nun stellt sich Deutschland erneut auf gendwie geht.« Es überwiege die Hoffnung,
haben genug Benzin im Auto und Geld bei- steigende Zahlen von Schutzsuchenden ein. dass das Schlimmste vielleicht bald vorbei sei.
seitegelegt, um schnell reagieren zu können.« Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Und wenn nicht? »Alle wollen auch dann
Gute acht Stunden später war der Notfall trommelte schon am Donnerstag ihre Län- so schnell wie möglich zurück. Keiner sagt,
da. Am frühen Donnerstagmorgen meldete derkollegen zusammen. Faeser ging in der er will dauerhaft weg, nach Westeuropa – alle
der ukrainische Innenminister den Einschlag Runde zwar davon aus, dass ein Großteil der haben in der Ukraine ihr Leben.«
von Raketen und Artilleriegranaten. Der Flüchtlinge aus der Ukraine zunächst in Mehrere Hundert Menschen protestieren
Krieg ist zurück in Europa, auf den Ausfall- Polen oder anderen Nachbarstaaten wie Ru- am Donnerstagmorgen vor dem Branden-
straßen der Hauptstadt Kiew stauten sich im mänien, Ungarn oder der Slowakei unter- burger Tor in Berlin mit Fahnen, Plakaten
Morgengrauen die Autos der Menschen, die kommen werde. Aber wie viele davon letzt- und Sprechgesängen gegen den russischen
versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Und endlich in Deutschland landen würden, kön- Angriffskrieg. Die Gemeinde der Exilukrainer
es werden sich wohl noch viel mehr auf die ne man wegen der dynamischen Situation in in Deutschland ist schwer getroffen. Men-
Flucht begeben, auch nach Deutschland. Die der Ukraine nicht sagen. Die Bundesländer schen weinen und umarmen sich, fast alle
Frage ist nur: wie viele? richten sich jetzt schon darauf ein, ihre Ka- haben Verwandte und Freunde in der Ukrai-
ne. »Meine Eltern sind heute Morgen in Char-
kiw von den Angriffen aufgeweckt worden«,
klagt der 27-jährige Jan, »die Lage ist einfach
nur gruselig.« Er möchte, dass seine Eltern zu
ihm nach Deutschland kommen. Nahezu alle
seine Bekannten hätten Koffer gepackt und
wichtige Dokumente bereitgelegt, um jeder-
zeit fliehen zu können. Doch die Fluchtwege
seien verstopft. Die Straßen seien komplett
überfüllt, und an den Grenzen gebe es bereits
kilometerlange Staus. Andere wollten ihr Zu-
hause aber auch nicht verlassen. Einige fühl-
ten sich zu alt, um noch einmal neu anzufan-
gen, sagen Demonstranten. Zudem sei es auf
den Straßen in der Ukraine zurzeit noch ge-
fährlicher als zu Hause. Viele würden sich
deshalb zunächst in ländliche Regionen ret-
ten, erst einmal.
Emilio Morenatti / AP

Im Land Berlin kümmert sich ein Krisen-


stab um die Lage, Schätzungen zufolge könn-
ten mehrere 10 000 Menschen in kurzer Zeit
aus der Ukraine in der Hauptstadt ankom-
Schutzsuchende in Kiew: Natürlich haben die Menschen allen Grund, sich zu fürchten« men, weil dort ohnehin viele Ukrainer leben.

24 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Emilio Morenatti / AP

Flucht-Stau in der ukrainischen Hauptstadt: »Meine Mutter hat den Koffer für den Notfall schon gepackt«

Das würde die bisherigen Aufnahmekapazi- diesen schwierigen Tagen müssen wir auf al- dings »nicht aktivieren«, sagt Thym. »Dafür
täten Berlins überlasten. Das Land müsste len Ebenen Solidarität zeigen.« Die Menschen wäre ein Beschluss der EU notwendig. Das
deshalb wie 2015 und 2016 Notunterkünfte seien auf der Flucht, um ihr Leben zu ver- ermöglicht auch eine Verständigung der EU-
etwa auf dem Gelände einer Spandauer Ka- teidigen. »Wir werden alles tun, um sicherzu- Mitgliedstaaten darüber, welches Land wie
serne einrichten. Auch im kleinen Bremen stellen, dass jeder, der Hilfe braucht, diese bei viele Ukrainer aufnimmt.«
hat man Respekt vor dem, was da kommen uns findet.« Polen hat schon neun Aufnahme- Noch sind alle Szenarien vage. Jana Lysen-
kann. Von den 5400 Erstaufnahmeplätzen in zentren im Südosten des Landes eröffnet. Es ko kommt ursprünglich aus Donezk und arbei-
der Stadt seien nur rund zehn Prozent frei, soll dort Essen geben, medizinische Versor- tet jetzt an der Forschungsstelle Osteuropa
sagt ein Sprecher der Sozialsenatorin . Immer- gung, Transporte zu anderen Anlaufstellen. der Universität Bremen. Seit 2021 spricht sie
hin sei Corona auf dem Rückzug, das bedeu- Bereits seit Donnerstag, so das Innenminis- regelmäßig mit Menschen aus dem Donbass
te, dass »ein gewisser Spielraum« bestehe, terium, steige die Zahl der Menschen, die – und geht nach all den Interviews davon aus,
die Einrichtungen stärker zu belegen als wäh- kommen. Man könne an den Grenzübergän- dass zumindest aus der Ostukraine nicht mit
rend der Pandemie. gen zur Ukraine 50 000 Menschen pro Tag vielen Flüchtlingen zu rechnen ist. »Die Men-
In Hessen will man die Zahl der Plätze für durchlassen. schen in den ›Volksrepubliken‹ sind gegenüber
Schutzsuchende anpassen. In Nordrhein- Auch die Bundesregierung hat signali- den realen Gefahren abgestumpft, durch Ge-
Westfalen sind 3500 Plätze in Erstaufnahmen siert, unbürokratisch helfen zu wollen. Nach wöhnung etwa an Beschuss«, sagt sie.
frei. »Generell gilt, dass NRW sich immer Deutschland einreisen können Ukrainer be- Und doch treibt die Debatte in Deutsch-
solidarisch gegenüber Menschen in Not reits jetzt ohne Visum. Aber statt dann ein land bereits merkwürdige Blüten. So musste
zeigt«, so NRW-Flüchtlingsminister Joachim Asylverfahren durchlaufen zu müssen, könn- sich die deutsch-ukrainische Politikerin Ma-
Stamp. te den Flüchtlingen ein Aufenthalt zum »vo- rina Weisband auf Twitter rechtfertigen, wa-
Auch Sachsen, das an Polen grenzt und rübergehenden Schutz« gewährt werden, hieß rum sie ihre Familie nicht nach Deutschland
somit auf der möglichen Flüchtlingsroute es laut Teilnehmern der Schalte mit den Län- geholt habe. Viele der rund 40 Millionen
liegt, sieht sich gewappnet. Die Erstaufnah- derinnenministern am Donnerstag. Menschen in der Ukraine könnten ihre Hei-
men im Land sind derzeit nur zu 50 Prozent Der entsprechende Paragraf wurde als Lek- mat gar nicht verlassen, »selbst wenn sie es
ausgelastet. Zudem könnten seit der Flücht- tion aus den Balkankriegen der Neunziger- wollten«, schreibt die Grüne. Ihr Tweet endet
lingskrise leer stehende Gebäude relativ jahre ins Aufenthaltsgesetz aufgenommen, mit einer eingehenden Bitte: »Bei allem, was
schnell reaktiviert und in einem letzten Schritt bisher allerdings noch nie angewendet. »Die- euch heilig ist«, schreibt sie, »haltet euch heu-
auch Zelte und Container aufgebaut werden. se Regelung hätte den Vorteil, dass ukraini- te mal einen Tag damit zurück, Menschen
Bis zu 2000 zusätzliche Plätze könne man so schen Geflüchteten schnell und unkompliziert Vorwürfe zu machen, die sich um ihre Lieben
zügig schaffen. ein vorübergehender Schutztitel ausgestellt sorgen.«
Polen bietet bereits Hilfe an. Sein Land werden könnte«, sagt der Konstanzer Rechts- Katrin Elger, Helge Hoffmeister, Peter Maxwill,
könne viele Menschen kurzfristig unterbrin- experte Daniel Thym. Im Alleingang könne Anna Reimann, Marta Solarz,
gen, so Innenminister Mariusz Kamiński: »In Deutschland den besagten Paragrafen aller- Wolf Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter  n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

Roland Weihrauch / dpa


Zwölf Augen auf vier Beinen: Der 35 Kilogramm schwere Laufroboter »Spot« der nordrhein-westfälischen Polizei kommt dorthin, wo es für Menschen
oder Flugdrohnen zu gefährlich ist. Das Gerät ist mit zwölf Kameras, darunter eine hochauflösende 360-Grad-Kamera, und einem Akku für etwa
90 Minuten ausgestattet. In dieser Woche lieferte »Spot« Bilder aus einem ausgebrannten Wohnkomplex in Essen. Von den Daten, die der Roboter
aus der Ruine sendete, erhoffen sich die Ermittler Hinweise auf die Statik der zerstörten Gebäude und die bislang ungeklärte Brandursache. Bei dem
Großfeuer, das in der Nacht zu Montag ausgebrochen war, wurden drei Menschen leicht verletzt. Der Sachschaden geht in die Millionen.

Richter zeigen auf Putin


JUSTIZ  Im Urteil zum Tiergarten-Mord spricht das Gericht Klartext: Aussagen des russischen Präsidenten seien
Indizien für einen staatlichen Mordauftrag.

D as Berliner Kammergericht macht den russischen Präsiden-


ten Wladimir Putin mitverantwortlich für den Auftragsmord
im Kleinen Tiergarten in Berlin 2019. Das geht aus der
schriftlichen Urteilsbegründung gegen den Attentäter Vadim Krasi-
dass die Russische Föderation in Khangoshvili einen »Staatsfeind«
gesehen habe, »dessen Liquidierung sie als gerechtfertigt ansah«.
Im Urteil wird dies als eines von mehreren Indizien für einen staat-
lichen Mordauftrag gewertet.
kov hervor, die dem SPIEGEL vorliegt. Darin zitiert der 2. Strafse- Der Attentäter Krasikov hatte sich am 23. August 2019 im Kleinen
nat über mehrere Seiten Aussagen Putins über das Anschlagsopfer Tiergarten seinem Opfer auf einem Fahrrad genähert und den
Zelimkhan Khangoshvili. Demnach bezeichnete der russische ­Asylbewerber, der seit 2016 in Deutschland lebte, mit einer schall-
­Präsident den einstigen Tschetschenien-Kämpfer unter anderem als gedämpften Pistole erschossen. Bei seiner Flucht konnte der Russe
»blutrünstigen Mörder« und »Terroristen« und sagte mit Blick nahe der Spree von der Polizei festgenommen werden. Das Ber­
auf Deutschland: »Bei Ihnen gehen solche Banditen in Berlin liner Kammergericht verurteilte ihn im Dezember zu lebenslanger
­spazieren.« In den Augen des Senats hat Putin mit seinen Aussagen Freiheitsstrafe und stellte eine besondere Schwere der Schuld fest.
das Attentat »ausführlich gerechtfertigt« und deutlich gemacht, Das Urteil ist rechtskräftig. FIS, MBA, WOW

26 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Grüne im Visier von mentalisieren und aufzublähen«,
DIE GEGENDARSTELLUNG
heißt es dazu. Die Beiträge sei-
Staatsmedien
Ein Schauermärchen
en ȟberproportional negativ
PROPAGANDA Von den aus- gegenüber den Grünen einge-
ländischen Staatsmedien, die stellt« gewesen. Auch die Denk-
in Deutschland aktiv sind, sind fabrik Institute for Strategic
die russischen am erfolgreichs- Dialogue Germany kommt zu Von Alexander Neubacher vor allem darin, die menschli-
ten in sozialen Netzwerken. dem Schluss, dass während des che Kreativität zu unterschät-
Das ergab eine Analyse der
Beiträge und Nutzerreaktionen
von chinesischen, iranischen,
türkischen und russischen
Bundestagswahlkampfs beson-
ders die Grünen im Fokus der
Kreml-Medien standen: So hät-
ten sich von den erfolgreichsten
S ollte nächste Woche die
Welt noch stehen, gibt
es für die Pessimisten
unter uns immerhin ein Jubi-
zen. Man hatte den Rechner
akkurat mit Daten befüllt,
aber den technischen Fort-
schritt leider vergessen. So
Staatsmedien in deutscher Videos, die der russische Sender läum zu feiern: »Die Grenzen kam es zum Märchen von der
Sprache während des Bundes- RT DE zwischen März und Juli des Wachstums«, die berühm- geraubten Zukunft.
tagswahlkampfs. Sie wurde 2021 bei YouTube zur Bundes- te Schreckensvision des Club Hat das Prognosedebakel
von der Nonprofit-Organisation tagswahl hochlud, alle mit den of Rome, die Johannes-Offen- den Beteiligten geschadet? Er-
Alliance for Securing Demo- Grünen oder ihrer Spitzenkan- barung für die deutsche Um- staunlicherweise nicht. Der
cracy durchgeführt. Die rus- didatin Annalena Baerbock be- weltbewegung, wird 50. Da- Club of Rome wird bis heute
sischen Staatsmedien hätten schäftigt. Die fraglichen Videos rauf einen Magenbitter. rauf und runter zitiert, von
die »übergreifende Strategie« hatten den Angaben zufolge Wenige hätten bei der Vor- Maja Göpel bis Eckart von
verfolgt, »kontroverse innen- insgesamt mehr als 1,2 Millio- stellung am 2. März 1972 in Hirschhausen. Selbst der Jah-
politische Themen zu instru- nen Aufrufe. AKM Washington damit gerechnet, reswirtschaftsbericht der Bun-
ein solches Jubiläum zu errei- desregierung ist mit Wachs-
chen. Am wenigsten die Auto- tumskritik gewürzt, seit Ro-
Wagenknecht und wiederholt kritisch über Imp- rinnen und Autoren selbst. bert Habeck das Sagen hat.
fungen geäußert. Auch der AfD- Mithilfe eines Supercompu- Ich glaube, hinter der The-
Chrupalla begrüßen Bundesvorsitzende Tino Chru- ters hatten sie ausgerechnet, se von den Grenzen des
neuen Impfstoff palla, der sich ebenfalls mit dem dass die zivilisierte Welt vor
Coronavirus infiziert hatte und dem Exitus steht: Überbevöl- Die falsche Prognose
CORONAPANDEMIE In den zu seinem Impfstatus öffentlich kerung, Unterernährung, alle
impfkritischen Lagern von AfD schweigt, zeigte sich gegenüber Rohstoffe aufgezehrt.
wird weiter rauf und
und Linken bröckelt offenbar Novavax aufgeschlossen. »Wir Im Basisszenario sagte der runter zitiert, von
der Widerstand gegen Corona- begrüßen, dass den Bürgern zu- Computer voraus, dass bereits Maja Göpel bis Eckart
schutzimpfungen. Prominente
Politiker beider Parteien äußer-
künftig eine größere Auswahl
an Impfstoffen zur Verfügung
im Jahr 1979 alle bekannten
Goldvorkommen erschöpft
von Hirschhausen.
ten sich positiv über den neuen stehen wird«, erklärte er auf sein würden, dicht gefolgt von Wachstums steckt eine men-
Impfstoff Novavax. Es sei »gut, Anfrage. Die Entscheidung, sich Silber (1983), Zinn (1985), schenfeindliche Ideologie.
dass jetzt eine Alternative zu impfen zu lassen, müsse aber Zink (1988), Erdöl (1990) und Dennis Meadows, einer der
den genbasierten Impfstoffen »jeder für sich selbst treffen Erdgas (1992). Im optimisti- Hauptautoren, gab sich ir-
verfügbar ist«, sagte die linke dürfen«. Anders als mRNA- schen Szenario, einer Verfünf- gendwann als Zweifler an der
Bundestagsabgeordnete Sahra Vakzinen wie die von Biontech fachung der damals bekann- Volksherrschaft zu erkennen;
Wagenknecht dem SPIEGEL . oder Moderna ist Novavax ten Reserven, gab es ein paar demokratische Systeme seien
Wagenknecht ist nach einer Co- ein proteinbasierter Impfstoff. Jahre Aufschub: Um 2019/ offensichtlich unfähig, die
ronavirusinfektion frisch gene- Diese Woche wurden die ersten 2020 herum werde der Planet Menschen zur Opferbereit-
sen, zuvor war sie ungeimpft. In 1,4 Millionen Dosen in Deutsch- weitgehend ausgeplündert schaft für die Umwelt zu mo-
der Vergangenheit hatte sie sich land erwartet. MRC, SEV sein, so die Vorhersage. bilisieren. Sein Co-Autor
Nun hat sich der Super- Jørgen Randers legte 2016
computer, wie wir inzwischen einen aktualisierten Bericht
wissen, in fast allen Punkten des Club of Rome vor mit der
Nachgezählt geirrt. Zwar hat sich die Welt- Forderung, Frauen in Indus-
bevölkerung etwa verdoppelt. trieländern eine Prämie von
An Apotheken 2021 Bis 2020 nur importier- Doch der Untergang ist ausge- 80 000 US-Dollar zu zahlen,
geliefertes Cannabis
für medizinische 9007 tes Cannabis, ab 2021
auch ein Teil aus blieben. Es gibt nicht weniger wenn sie bis 50 höchstens ein
Zwecke, in Kilogramm deutschem Anbau.* zu essen, sondern mehr. Die Kind bekommen haben.
Lebenserwartung ist nicht ge- Im besten Fall lässt sich sa-
sunken, sondern gestiegen. gen, dass »Die Grenzen des
2020 Die Weltwirtschaft ist nicht Wachstums« vor 50 Jahren
6292 kollabiert, sondern gewach- geholfen haben, den Blick für
2019
sen. Und auch viele bekannte Umweltprobleme zu schärfen.
4321 Rohstoffreserven sind auf Im schlechtesten Fall trug es
wundersame Weise nicht klei- dazu bei, den Glauben an den
ner geworden, sondern größer. Fortschritt zu zerstören. So
Der Fehler des Computers oder so ist das Buch ein Fall
2018
und seiner Programmierer lag fürs Altpapier.
2017 2699
994
An dieser Stelle schreiben Alexander Neubacher und Markus Feldenkirchen
2016 * In Deutschland dürfen
2015 im Wechsel.
89 163 jährlich bis zu 2600 Kilo
S Quelle: Bundesregierung angebaut werden.


Nachgezählt Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 27


CHAPPATTES WELT Taiwan anerkennen?
DIPLOMATIE  Der Petitions­
ausschuss des Deutschen
­Bundestags hat die Bundesre­
gierung aufgefordert, ihre
Außenpolitik gegenüber Taiwan
zu überprüfen. Hintergrund
ist eine Bürgerpetition mit der
Forderung, vollständige diplo­
matische Beziehungen zu dem
Inselstaat im chinesischen Meer
aufzunehmen. Der Meeres­
biologe Michael Kreuzberg aus
Rostock hatte die Petition im
Bundestag eingebracht und
­innerhalb weniger Wochen
mehr als 50 000 Unterschriften
gesammelt. Das Auswärtige
Amt hatte in dem Petitionsver­
fahren dagegen ­argumentiert:
Eine ­Anerkennung Taiwans
sei geeignet, »zu schwerwiegen­
den Differenzen mit der VR
China zu führen«. Die Volks­
republik China, die Taiwan
nicht anerkennt, sei »ein strate­
gisch wichtiger Partner« der
Bundesrepublik. Der Petitions­
ausschuss kam in seinem Ab­
schlussbericht jedoch zu der
Nachhilfe für die her der Bund die Möglichkeit Unter der letzten Regierung Auffassung, »dass eine erneute
bekommen, »zivilgesellschaftli­ war das »Wehrhafte-Demokra­ Bewertung der außenpoli­
Demokratie che Projekte mit überregionaler tie-Gesetz« am Widerstand der tischen Position der Bundes­
REGIERUNG  Familienministerin Bedeutung« zu fördern, etwa Unionsfraktion gescheitert. Sie regierung gegenüber Taiwan
Anne Spiegel (Grüne) und In­ zur Unterstützung von Opfern verlangte von Förderempfän­ unter Berücksichtigung des
nenministerin Nancy Faeser politischer Gewalt oder zur Be­ gern ein Bekenntnis zur demo­ sich dynamisch verändernden
(SPD) haben Eckpunkte für ein ratung von Aussteigern aus ex­ kratischen Grundordnung, um Umfelds internationaler Politik
Demokratiefördergesetz vorge­ tremistischen Gruppen. Es gehe zu verhindern, dass Linksradi­ angezeigt ist«. Dabei solle
legt, ein zentrales Vorhaben der um ein »Bekenntnis zu einer kale an Gelder gelangen. Im auch »die Frage nach einer
Ampel im Kampf gegen Rassis­ angemessenen Finanzierung« neuen Eckpunktepapier heißt es grundlegenden Anerkennung
mus und Extremismus. Laut solcher Initiativen. Bestehende nun, dass »selbstverständlich« Taiwans als ­souveräner Staat
dem Diskussionspapier habe Strukturen sollen »längerfristig« nur Maßnahmen unterstützt neben der Volksrepublik
insbesondere die »rechtsextre­ abgesichert werden können. würden, die eine den »Prinzipi­ ­China« erörtert werden, teilte
mistische Bedrohung« massiv Bisher sind solche Förderungen en des Grundgesetzes förderli­ die Vorsitzende des Petitions­
zugenommen. Künftig soll da­ nur zeitlich begrenzt möglich. che Arbeit leisten«. HÖH, WOW ausschusses mit. CSC

Kriegstreiber!
In aller Schärfe verurteilt Die es so aussehen zu lassen, als ob herrsche. Daran werde auch
Linke Alternative für Deutsch­ unser verehrter Herr Präsident der provokante Selbstbeschuss
land (DLAfD) die Kriegstrei­ Putin eine Invasion befohlen ukrainischer Städte durch »von
berei des westatlantischen An­ hätte, ist eine Frechheit.« Ver­ der Nato bewaffnete Rowdys«
SO GESEHEN  Neue
griffsbündnisses Nato in der mutlich sei ein in den Medien nichts ändern.
Partei DLAfD auf russischen Teilrepublik Ukrai­ verbreitetes Video, in dem Pu­ Nachfragen waren auf der
Friedenskurs ne. »Die Welt darf nicht auf tin einen Militäreinsatz ankün­ Pressekonferenz in der
diese perfide Manipulation he­ digt, Ergebnis einer Computer­ ­pro­visorischen DLAfD-Partei­
reinfallen«, sagte die Bundes­ manipulation. Womöglich sei zentrale in der russischen
sprecherin Sevim Dagdelen auch eine animierte Wachs­ ­Botschaft nicht zugelassen,
auf einer Pressekonferenz der puppe zum Einsatz gekommen, ­verwiesen wurde lediglich
noch jungen, im Bundestag jedenfalls sei in der Aufzeich­ auf eine für den Abend geplan­
aber bereits mit 119 Abgeord­ nung »offensichtlich kein ech­ te Erklärung des DLAfD-­
neten vertretenen Partei. ter Mensch« zu sehen. Ehrenvorsitzenden Gerhard
Dagdelens Co-Sprecher Nur der Geduld des russi­ ­Schröder. Er wird sie gegen
Tino Chrupalla ergänzte: »Wir schen Staatslenkers sei es in­ 19 Uhr Moskauer Zeit abgeben
wissen zwar noch nicht genau, des zu verdanken, dass in der – allerdings nur an den Meist­
wie sie es gemacht haben, aber Ukraine weiterhin Frieden bietenden. Stefan Kuzmany

28 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Wer verdient, Mitarbeitern und 150 Millionen
Euro Jahresumsatz entlang
der haftet ihrer Lieferketten Sorgfalts­
UNTERNEHMEN  Die Bundesre­ pflichten auferlegt bekommen
gierung geht davon aus, dass es und etwa die Einhaltung von
im umstrittenen Lieferkettenge­ Menschenrechten und Umwelt­
setz der EU erstmals Haftungs­ standards garantieren müssen.
regeln für Unternehmen geben Andernfalls könnten sie auch zi­
wird. Man sei »zuversichtlich«, vilrechtlich belangt werden. Im
dass die Vorschläge der Euro­ deutschen Lieferkettengesetz,
päischen Kommission »am das noch unter der alten Regie­

Jörg Müller / DER SPIEGEL


Ende auch Realität« werden, er­ rung verabschiedet wurde und
klärte das Bundesministerium im kommenden Jahr in Kraft
für wirtschaftliche Zusammen­ tritt, fehlen bislang solche Mög­
arbeit. Der europäische Entwurf lichkeiten – aufgrund massiven
sieht vor, dass Firmen ab 500 Drucks aus der Wirtschaft. SBO

»Eine wachsende Impfstoffe zugänglich machen »Wenn Raps länger überflutet


ist, dann ist er tot«
soll?
Vertrauenskrise« Steiner: Den Vereinten Natio­
Achim Steiner, 60, Leiter des nen wurden damals zu wenig fi­
Uno-Entwicklungsprogramms, nanzielle Mittel bereitgestellt –
über den globalen Kampf gegen damit musste Covax sich bei
DER AUGENZEUGE  Landwirt Claus Schmoldt,
die Pandemie Bestellungen ans Ende der 40, aus Krummendeich in Niedersachsen,
Schlange stellen. Vorher kamen versucht, nach den Stürmen sein Land wieder
SPIEGEL: Herr Steiner, tut die diejenigen Länder dran, deren
Weltgemeinschaft genug gegen Unternehmen die Patente für die
trocken zu bekommen.
Corona? Impfstoffe besitzen – und die
Steiner: Gegenwärtig ist erst die das Geld haben, sie einzukaufen. »Die Orkane der vergangenen weil man den leichter ausbrin­
Hälfte der Weltbevölkerung ge­ Die bisherige Bilanz von Covax Tage haben auf meinen Fel­ gen kann als mit dem schwe­
impft. In den ärmsten Ländern ist eine ernüchternde. dern Spuren hinterlassen. ren Güllefass. Das sind für
der Welt hat vielleicht gerade SPIEGEL: Welche Folgen hat Teilweise sind wir abgesoffen. mich zusätzliche Kosten.
mal einer von neun Menschen das? Auf manchen Flächen steht Wir haben wegen des Re­
überhaupt die erste Impfung Steiner: Wir leben im 21. Jahr­ das Wasser noch, Entwässe­ gens schon vor dem Orkan
bekommen. Die zutiefst unglei­ hundert mit bald acht Milliar­ rungsgräben liefen über. Rillen in die Felder gebaggert.
che Verteilung von Impfstoffen den Menschen, Klimawandel, Ich bewirtschafte etwa Durch sie soll das Wasser in
ist der Skandal dieser Pandemie Pandemien – Entwicklungen, 270 Hektar Ackerland. Hier in die Entwässerungsgräben flie­
und wird international tiefe die alle darauf hindeuten, wie Kehdingen, wie die Gegend ßen, dann in Elbe und Oste,
Narben hinterlassen. Dazu ge­ abhängig wir voneinander sind. heißt, ist der Boden sehr von dort in die Nordsee. Aber
hört auch, dass etwa die Impf­ Wohlstand allein schützt nicht schwer, matschige Marsch mit solange die Gräben voll sind,
stoffpatente nicht freigegeben vor diesen Risiken. Wir erleben hohem Tonanteil. Die spei­ bringt das nichts. Die Systeme
werden. ja weltweit eine wachsende chert Wasser gut, hat aber sind zur Zeit meines Groß­
SPIEGEL: Wie ist das erklärbar? Vertrauenskrise in nationale Probleme mit Starkregen. Bei vaters ausgelegt worden. Bei
Steiner: Die Gefahr einer Pan­ Institutionen, weil sie nicht in uns ist jeder Quadratmeter Starkregenereignissen, wie es
demie hat sich seit Jahren abge­ der Lage sind, globale Risiken entwässert, mit Drainagen, sie immer häufiger gibt, sind
zeichnet, weder G7 noch G20 national zu lösen. Sechs von Pumpen und Gräben. Über sie einfach zu schwach.
noch andere internationale Fo­ sieben Menschen fühlen sich den Jahreswechsel war es Gras und Getreide sterben
ren waren jedoch ausreichend heute unsicher. Wie erklärt man schon sehr nass und das Ent­ nicht sofort, wenn sie eine
darauf vorbereitet. Und weil das in einem Zeitalter, in dem wässerungssystem an seiner Weile unter Wasser stehen.
die internationale Zusammen­ wir ›reicher‹ sind als jemals zu­ Grenze. Das Tiefdruckgebiet Aber wenn Raps länger über­
arbeit nicht sofort funktionierte, vor in der Geschichte? Wir ha­ und die Stürme haben es zum flutet ist, dann ist er tot. Das
setzte man wieder auf nationa­ ben mehr Wissenschaft, mehr Überlaufen gebracht. ist bei mir noch nicht großflä­
le Alleingänge. Doch bis die Infrastruktur, mehr Möglichkei­ Auf meine Felder kann ich chig so, nur an einigen Stellen.
Pandemie überall unter Kon­ ten. Trotzdem empfinden wir erst mal nicht. Normalerweise Es ist nicht nur schlecht,
trolle ist, wird sie nirgendwo über Staatsgrenzen, über Ein­ hätte ich schon das erste Mal dass es viel geregnet hat. In
unter Kon­trolle sein. Das soll kommenskategorien hinweg gedüngt. Alle Arbeiten, die manchen Regionen Deutsch­
jetzt nicht besserwisserisch eine Unsicherheit über die Zu­ wir jetzt nicht machen, müs­ lands fehlt Wasser. Wir sind
klingen, aber wir kunft. Da setze ich sen wir später auf einmal ma­ deutschlandweit betrachtet
wussten das vorher als Entwicklungs­ chen. Ich muss also umplanen. noch nicht wieder auf dem
und sollten nun da­ politiker an, denn Meine Nährstoffe für die Stand von vor den trockenen
raus lernen – denn wenn wir das nicht Pflanzen – also Gärreste aus letzten Jahren. Aber für mei­
das nächste Virus verstehen, dann ver­ der Biogasanlage, die ich so­ nen Hof und die Region hier
kommt bestimmt. lieren wir das Ver­ wieso besitze – muss ich jetzt war es zu viel Wasser. Ich
Sebastian Pani / dpa

SPIEGEL: Was ist mit trauen der Menschen teilweise abgeben. Und diese muss es schnell wieder weg­
der Covax, der globa­ und die Fähigkeit später in Form von Mineral­ bekommen.
len Initiative, die allen zum gemeinsamen dünger wieder zukaufen, auch Aufgezeichnet von Sophia Ahrens
Menschen Corona- Handeln. CSC, TIL

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 29


DEUTSCHLAND

Niels Starnick / BILD


FDP-Vorsitzender Lindner im Bundesfinanzministerium: Am längeren Hebel

Foulspiel an allen
REGIERUNG  Coronapolitik, Pendlerpauschale, Finanzierung der Energiewende – die Liberalen gehen
den anderen Ampelkoalitionären zunehmend auf die Nerven.

A
m Mittwoch, wenige Stunden vor dem Scholz und seine SPD wollen die steuerlich
Angriff Russlands auf die Ukraine, geht absetzbare Pauschale für Fernpendler erhöhen, Im Sinkflug
es im Kanzleramt um die Frage, wie die Grünen sind vor allem aus ökologischen
»Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag
man den Frieden bewahren kann. Der Bun- Gründen dagegen. So gehe das nicht, sagt der Bundestagswahl wäre?«, Ergebnisse der FDP,
deskanzler leitet die Sitzung, die Kontrahen- grüne Vizekanzler Robert Habeck laut Teil- in Prozent
ten verhandeln im Internationalen Konfe- nehmern, es gibt eine Sitzungsunterbrechung,
renzsaal im ersten Stock der Regierungszen- die Grünen brauchen Zeit, sich zu beraten. einzelne Umfrage Durchschnitt
trale, in der in den vergangenen Jahren die In jeder Koalition stellt sich für die Partner
Vertreter Russlands und der Ukraine immer früher oder später die Frage, wie viel Prinzi- 15
wieder um eine diplomatische Lösung gerun- pientreue möglich und wie viel Pragmatismus
gen haben. nötig sind. Keine Regierung steuert reibungs- 10
Doch nicht die Abwehr russischer Panzer los durch ihre vier Jahre. Doch das Besonde-
steht auf der Tagesordnung, sondern die Ent- re an diesem ersten Ampelbündnis auf Bun- 10 %
5
lastung deutscher Pendler. Spitzenvertrete- desebene ist, dass die Krise von Beginn an
rinnen und -vertreter von SPD, Grünen und zum Regierungsalltag gehört. Nicht einmal
FDP sind im Ampel-Koalitionsausschuss zu- 100 Tage regieren Sozialdemokraten, Grüne 0
sammengekommen, mehr als fünf Stunden und Liberale das Land, und schon knirscht es Okt. Nov. Dez. Jan. Febr.
dauern die Gespräche bereits an. Nun, am gewaltig im Gebälk. 2021 2022
Ende, müssen sich die Grünen entscheiden, Der Ärger der Grünen richtet sich vor
was ihnen wichtiger ist: der Klimaschutz oder ­allem auf Bundesfinanzminister Christian S Quellen: Wahlrecht.de (Allensbach, Forsa, Forschungsgruppe
Wahlen, GMS, INSA, Ipsos, Infratest dimap, Kantar, YouGov),
der Koalitionsfriede. Lindner, der FDP-Chef ist der Herr über den Civey, eigene Berechnung; Stand: 22. Febr.

30 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


DEUTSCHLAND

Haushalt und signalisierte bereits An- Genervt waren die Genossen eher Viele Grüne finden, es sei ein Feh-
fang Februar seine Zustimmung zu von aktivistischen Grünen.
»Für uns in ler gewesen, dass Scholz sich im De-
einer Erhöhung der Pendlerpauschale. Doch der rot-gelbe Friede ist da- der FDP war zember auf das Gruppenantragsver-
Einmal mehr fühlen sich die Grü- hin. Die öffentlichen Provokationen der Weg in die fahren eingelassen habe. »Lauterbach
nen in dem Verdacht bestärkt, die der FDP in der Coronapolitik haben und Scholz hätten die Impfregelung
FDP nehme es mit dem Klimaschutz die Sozialdemokraten verstört. Schon Ampel länger besser über die Ampel organisieren
nicht ernst genug. »Immer neue teu- als der designierte Generalsekretär als für SPD sollen. Die Ausgestaltung wäre dann
re Forderungen rauszuhauen ist dem
gemeinsamen Arbeiten nicht zuträg-
Bijan Djir-Sarai den Präsidenten des
Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler,
und Grüne.« in der Koalition zu verhandeln ge-
wesen«, sagt ein Grünenabgeordne-
lich. Vor allem wenn sie, wie bei öffentlich anzählte, zeigten sich viele Bijan Djir-Sarai, ter. Über die Ausgestaltung hätte man
Freidemokrat
der Erhöhung der Pendlerpauschale, Genossen empört. Manche vermute- ja verhandeln können. »Wir sind jetzt
dem Klima schaden und Besserver- ten, der Koalitionspartner ziele auf schon in einer Phase des Muddling-
dienende privilegieren«, sagt der grü- SPD-Gesundheitsminister Karl Lau- through angelangt«, des Durchwurs-
ne Bundestagsabgeordnete Andreas terbach. Dessen Autorität werde mit telns, beklagt ein erfahrener Grünen-
Audretsch. den Angriffen auf den ihm unterstell- politiker.
Tage zuvor hatte sich FDP-Bun- ten RKI-Chef untergraben. Der SPD-Linke Stegner drängt auf
desverkehrsminister Volker Wissing Noch größere Irritationen lösen ein Machtwort des FDP-Vorsitzen-
gegen den Vorschlag der grünen Um- Rufe aus der FDP nach einem »Free- den. »Wir sollten eine pragmatische
weltministerin Steffi Lemke gestellt, dom Day« aus. »Ich halte gar nichts Lösung finden. Wenn Christian Lind-
in Brüssel niedrigere CO2-Grenzwer- von dem Gerede über einen Freedom ner sich entscheidet, würde das sicher
te für Autos durchzusetzen. Wissing: Day«, sagt Thomas Kutschaty, SPD- helfen«, sagt Stegner. Fraktionschef
»Man kann nicht immer nur Druck, Bundesvize und Spitzenkandidat bei Rolf Mützenich will zudem noch mal
Druck, Druck ausüben.« der Landtagswahl in Nordrhein-West- das Gespräch mit seinem Kollegen
Schmerzhaft wird den Grünen die- falen. »Wir haben die Coronamaß- Christian Dürr suchen, heißt es. An
ser Tage bewusst, welche Macht die nahmen doch nicht aus Lust an Frei- einem geschwächten Kanzler könne
FDP durch die Übernahme der heitseinschränkungen ergriffen, son- auch die FDP kein Interesse haben.
Schlüsselressorts Verkehr und Finan- dern um Freiheit zu ermöglichen. Es Unter Sozialdemokraten und Grü-
zen bekommen hat. Und dass die Li- ging darum, Menschenleben zu schüt- nen wird gerätselt, was die Liberalen
beralen zusammen mit der SPD am zen.« Ein Spitzengenosse geht noch antreibt. Manche mutmaßen, die FDP
längeren Hebel sitzen, wenn sie sich weiter: Er hoffe, dass die »Besoffen- wolle sich mit Blick auf die anstehen-
einig sind. So war es schon in den heit der FDP um einen Freedom Day« den Landtagswahlen profilieren.
Koalitions­verhandlungen. bald ende. Denn die Umfragewerte der Libera-
In der FDP hingegen herrscht gute Nächster Konflikt: die allgemeine len sind gesunken (siehe Grafik).
Stimmung. Gerade einmal 11,5 Pro- Impfpflicht. Zuletzt ließen führende Tatsächlich gründen die Sololäufe
zent der Zweitstimmen holte die Par- FDP-Politiker weiter offen, wie sie der FDP vor allem auf einer Furcht:
tei bei der Bundestagswahl, rund sich entscheiden werden, eine Grup- Seit Beginn der Ampelkoalition gibt
3 Prozentpunkte weniger als die Grü- pe um Bundestagsvizepräsident es in der Parteispitze die Sorge, man
nen und 14 Prozentpunkte weniger Wolfgang Kubicki hatte ihre Ableh- könnte in der Wahrnehmung der eige-
als die SPD. Trotzdem schafft es die nung schon vor Weihnachten an­ nen Anhängerschaft mit SPD und
kleinste Truppe seit dem ersten Tag, gekündigt. Was die Genossen jetzt Grünen zu einem Block verschmel-
der Koalition ihren Stempel aufzu- vor allem ärgert, ist die Distanzie- zen. In der engeren Führung wird die
drücken. Selbst altgediente Liberale rung von FDP-Justizminister Marco Lage so analysiert: Man dürfe gegen-
können sich nicht daran erinnern, Buschmann. »Wenn wir die Impfquo- über zwei linken Partnern nicht un-
wann die FDP zuletzt so viel Einfluss te nicht deutlich erhöhen, drohen im kenntlich werden.
in einer Koalition hatte. Herbst erneut Freiheitseinschränkun- Dafür zu sorgen ist vor allem die
Das sorgt nicht nur bei den Grü- gen für Millionen Bürger«, sagt SPD- Aufgabe des designierten FDP-Gene-
Daniel Hofer

nen, sondern auch in der SPD für Mann Ralf Stegner. »Das kann die ralsekretärs. Seine Mission sei: »so
Frust. Grund ist vor allem der Corona­ FDP nicht wollen.« viel FDP wie möglich«, sagt Bijan
kurs der FDP. Die Weigerung der Li- Auch die Grünen sind verärgert Djir-Sarai. Der Drang, sich unter-
beralen, den Großteil der Schutzmaß- über den Coronakurs der Liberalen. Bundestagsvize­ scheiden zu wollen, hat auch mit den
nahmen über den 19. März hinaus zu »Wer auf Zeit spielt, setzt unsere Frei- präsident Kubicki: Startbedingungen dieser Regierung
Den Kanzler
verlängern, schwächt die Position des heit in Herbst und Winter aufs Spiel. ­geschwächt zu tun. SPD und Grüne stehen sich
Kanzlers. Wegen der FDP konnte Zeitspiel ist also ein Foulspiel an uns kulturell und inhaltlich näher, für die
Scholz den Ländern in der Minister- allen«, sagt der Gesundheitspolitiker FDP hingegen war die Ampelkoali-
präsidentenkonferenz Mitte Februar Janosch Dahmen. Grüne vermuten, tion kein Herzensprojekt. Noch im
keine Zusagen machen. Ob er denn dass ein von dem FDP-Abgeordneten Wahlkampf hatte Lindner auf ein
überhaupt ein Verhandlungsmandat Andrew Ullmann federführend ko- Bündnis mit der Union gehofft, er-
Thomas Niedermueller / Getty Images

für die Mehrheit im Bundestag habe, ordinierter Gruppenantrag für eine gänzt durch die Grünen in einer Ja-
ätzte Bayerns Ministerpräsident Mar- Impfpflicht ab 50 Jahren absichtlich maikakoalition. Schnell musste die
kus Söder (CSU). so spät vorgestellt wurde, dass die FDP-Führung umsteuern. »Man darf
Die Coronapolitik belastet das erste Lesung der Entwürfe nicht be- nicht vergessen, für uns in der FDP
Verhältnis von SPD und FDP, zwi- reits im Februar erfolgen konnte. Ein war der Weg in die Ampel länger als
schen denen es in den ersten Regie- Vorwurf, den die FDP-Fraktion zu- für SPD und Grüne«, sagt Djir-Sarai.
rungswochen noch überraschend gut rückweist. Der Frust bei vielen Grünen und
gelaufen war. Wen man in der SPD Die Schuld für das Impfpflicht- Sozialdemokraten ist mittlerweile ge-
auch fragte, stets gab es Lob für die Chaos sehen die Grünen allerdings Designierter General- waltig. »Die FDP ist im Panikmodus
sekretär Djir-Sarai:
Liberalen, die sich so professionell, nicht nur bei der FDP, sondern auch Ein Problem mit drei angekommen«, sagt eine Abgeordne-
verlässlich und kooperativ zeigten. bei den Sozialdemokraten. Buchstaben? te der Grünen, »das geht zulasten von

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

glaubwürdiger Politik. Für uns ist das inak-


zeptabel.« Die FDP habe die Vereinbarung,
Differenzen stilvoll intern zu klären, aufge-
kündigt, heißt es aus der SPD. »Das Problem
in der Coronapolitik hat drei Buchstaben«,
sagt ein SPD-Stratege: »FDP.«
Zum regelrechten Stimmungskiller in der
Koalition entwickeln sich die Haushalts­
gespräche. Am 9. März will das Kabinett den
Etat für 2022 verabschieden sowie die Eck-

Reto Klar / FUNKE Foto Ser vices


werte für 2023 und den Finanzplan bis 2025
beschließen. Die Aufstellung verlangt den
Ministern eine Menge ab, vor allem Verzicht.
Und der Überbringer der schlechten Botschaft
ist, sein Amt bringt es mit sich, Finanzminis-
ter Lindner.
Die Ressortchefs haben in ihren Anmel- Lindner-Berater Feld
dungen viel mehr Geld verlangt, als Lindner
zur Verfügung steht. Bis 2026 lagen die For- als Aktivist einer ökonomischen Orthodoxie.
derungen eine knappe halbe Billion Euro Doch Lindner kann solche Vorhaltungen
oberhalb des zulässigen Finanzrahmens, al- leicht kontern mit dem Hinweis, dass mehre-
lein für 2022 summierte sich die Überbuchung re grüne Ressortchefs ehemalige Aktivisten
auf rund 70 Milliarden Euro. sogar zu Staatssekretären berufen haben:
Jetzt rächt sich, dass sich die Ampelpar­ Wirtschaftsminister Habeck holte sich mit
teien während ihrer Verhandlungen über eine Sven Giegold einen Mitbegründer von Attac-
Koalition um die Entscheidung herumge- Deutschland ins Haus, Außenministerin
drückt haben, was ihnen wichtig ist und zuerst Anna­lena Baerbock stellte jüngst die ehe­
umgesetzt werden soll. Auch versäumten sie malige Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan
es, ihren Vorhaben ein Preisschild umzuhän- als Sonderbeauftragte für internationale
gen. So vereinbarten SPD, Grüne und FDP ­Klimapolitik vor.
etwa eine Kindergrundsicherung, legten aber In der SPD üben vor allem die Parteilinken
nicht fest, ob sie 5, 10 oder 20 Milliarden Euro Kritik an Lindner, der Rest der Partei hält sich
kosten darf. auffallend zurück. Viele erkennen an, dass es
Die Prioritätensetzung wird nun in den für die Liberalen nicht einfach gewesen ist,
Etatverhandlungen nachgeholt. Bis Ende ver- ihren Anhängern das Bündnis mit Rot-Grün
gangener Woche war noch jeder Einzeletat zu erklären, da müsse man ihnen auch Erfol-
strittig. Jetzt muss Lindner selbst ran, um ge gönnen.
­seine Kabinettskollegen bei sogenannten Vor allem der frühere Bundesfinanz­
Chefgesprächen auf Kurs zu bringen. Bis minister Olaf Scholz wirkt auf Insider sehr
nächste Woche dauert der Verhandlungs­ zufrieden mit seinem Nachfolger Lindner.
marathon. Während er in Sitzungen oft auf sein Handy
Die Botschaft des Finanzministers lautet schaue, wenn Vertreter der Grünen oder
stets gleich: Nicht für alle Projekte ist Geld auch seiner eigenen Partei reden, heißt es,
vorhanden. Lindner will die Neuverschul- schenke er Lindners Ausführungen meist ­volle
dung dieses Jahr bei knapp 100 Milliarden Aufmerksamkeit. So war es Teilnehmern zu-
Euro deckeln, im kommenden Jahr will folge bei der Januarsitzung des Koalitions-
er die Schuldenbremse wieder einhalten, ausschusses.
die ihm nur eine minimale Kreditaufnahme Und auch am Mittwoch mussten sich Ha-
erlaubt. beck & Co. am Ende geschlagen geben. Für
Die harte Linie bietet ihm Gelegenheit, eine Erhöhung der Pendlerpauschale um drei
erschüttertes Vertrauen in den eigenen Reihen Cent ab dem 21. Kilometer einen Koalitions-
wiederherzustellen. Das hat er durch eine krach vom Zaun zu brechen – das wollte die
seiner ersten Aktionen im Amt gefährdet. Grünenspitze dann doch nicht riskieren. Das
Viele Liberale nehmen ihm übel, dass er im Einzige, was sie im Gegenzug erhielt, war eine
Rahmen des jüngsten Nachtragshaushalts wolkige Zusicherung, der zufolge die Pendler-
60 Milliarden Euro für die Bekämpfung der pauschale noch in dieser Legislaturperiode
Coronakrise in den Energie- und Klimafonds neu geordnet werden soll.
verschob, um Spielraum für Investitionen zu Es oblag der neuen Grünenchefin Ricarda
gewinnen. Lang, den Kompromiss anschließend als Sieg
Mit der Berufung von Lars Feld, dem ehe- zu verkaufen. »Das ist ein starkes Paket«,
maligen Vorsitzenden des Sachverständigen- behauptete Lang nach der Sitzung des Koali-
rats, zu seinem persönlichen Wirtschafts­ tionsausschusses. »Ich denke, mit diesem Pa-
berater konnte er Ansehen bei den eigenen ket zeigen wir, dass die Menschen in diesem
Anhängern zurückgewinnen. Der Freiburger Land sich gerade auch in schwierigen Zeiten
Ökonomieprofessor steht für eine sehr wirt- auf die Ampelkoalition verlassen können.«
schaftsliberale Sicht. Kevin Hagen, Valerie Höhne,
Die Personalie treibt aber vor allem Grüne Christian Reiermann, Christoph Schult,
auf die Zinne. Feld gilt in deren linkem Flügel Christian Teevs, Severin Weiland n

32 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


DEUTSCHLAND

»Wir werden deutlich weniger


Fleisch essen müssen«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Der Klimawandel treibt Gesundheitsminister Karl Lauterbach, 59, um. Wissenschaftler
müssten dringend mehr Macht bekommen, Tierschützer sollen auch mal
zurückstecken, Burger und Steaks seien extrem schädlich – für jeden Einzelnen und für die Welt.

SPIEGEL: Herr Lauterbach, Sie saßen in der


Coronazeit nicht nur ständig im Fernsehen,
sondern haben nebenbei auch noch ein Buch
geschrieben*. War Ihnen etwa ein bisschen
langweilig zu Hause?
Lauterbach: Langweilig war mir nicht, aber
ich wollte mich mit einer anderen Sache als
Corona beschäftigen und habe nach vorn ge­
blickt. Was können wir aus Corona lernen,
was wird das nächste große Thema sein? Das
Buch ist kein Produkt der Langeweile, son­
dern der Nachdenklichkeit.
SPIEGEL: Wir hatten den Eindruck, dass Sie
zu Zeiten der Pandemie schwer beschäftigt
waren, schon bevor Sie Bundesgesundheits­
minister geworden sind.
Lauterbach: Das war auch so. Aber ich bin
jemand, der gern hart arbeitet. Die Beschäf­
tigung mit einem anderen Thema hat mir –
auch psychisch – ziemlich gutgetan. Wenn
man sich den ganzen Tag nur mit der Schwe­
re einer Erkrankung, Sterbezahlen und an­
deren schlechten Nachrichten beschäftigt,
dann tut es gut, sich zu überlegen, wie die
nächste Pandemie vermieden werden kann.
SPIEGEL: Herausgekommen ist ein Buch vol­ler
Warnungen, drohender Krisen und Katas­
trophen, als da wären: Klimakatastrophe,
­Biodiversitätskrise, künftige Pandemien, welt­
weite Wasserknappheit, drohende Kriege,
­weltweite Fluchtströme. Sie können mit dem
Warnen und Mahnen partout nicht aufhören.
Lauterbach: Ich warne nicht vor diesen Krisen,
die sind ja alle da. Ich bringe Lösungsvor­
schläge, ich argumentiere positiv. Wir müssen
zum Beispiel nicht auf eine Technologie war­
ten, die uns eine Bewältigung der Klimakrise
möglich macht. Das Gute ist: Die Technik ist
längst da. Kennen Sie jenen Wissenschaftler,
mit dessen Gleichungen der größte Anteil der
Klimakrise abgewendet werden kann?
SPIEGEL: Nein, aber Sie werden ihn uns sicher
verraten.
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

Lauterbach: James Clerk Maxwell hat Ende


des 19. Jahrhunderts in drei Gleichungen die

* Karl Lauterbach: »Bevor es zu spät ist. Was uns droht,


wenn die Politik nicht mehr mit der Wissenschaft mit-
hält«. Rowohlt Berlin; 288 Seiten; 22 Euro. Erscheint Autor Lauterbach im Berliner Naturkundemuseum
am 28. Februar.

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

Zusammenhänge zwischen Magnetis­


mus und Elektrizität beschrieben, mit
denen sich über Windenergie, Son­
nenenergie und über Photoneneffek­
te die Energieprobleme lösen lassen.
Wir brauchen also keine Raketenwis­
senschaft mehr, wir haben sie.
SPIEGEL: Trotzdem stellen Sie fest,
dass wir das Ziel, die Erderwärmung
auf 1,5 Grad zu beschränken, nicht
erreichen werden. Das klingt nicht
nach Lösung, sondern resignativ.
Lauterbach: Ich kenne keinen seriö­
sen Klimawissenschaftler, der das
anders sieht. Wir sind bereits bei etwa
1,1 Grad. Die Chance, die 1,5 Grad
nicht zu überschreiten, ist in jeder

Global Imagens / IMAGO


Hinsicht unrealistisch. Man sollte kei­
ne Ziele verfolgen, die man innerlich
schon aufgegeben hat.
SPIEGEL: Ist der Koalitionsvertrag, in
dem vom 1,5-Grad-Pfad als Ziel die
Rede ist, also Blendwerk?
Lauterbach: Dass Deutschland seinen Schlachterei in Lauterbach: Sie fing irgendwann mit SPIEGEL: Mangelt es der Politik nicht
1,5-Grad-Pfad erreicht, ist ja möglich. Portugal dem Thema an, und wir haben über eher an Durchsetzungskraft statt an
Ich halte es nur für ausgeschlossen, Kipppunkte beim Weltklima geredet. wissenschaftlicher Expertise? Neh­
dass alle anderen Länder nachziehen. Es ist für mich sehr bewegend zu se­ men wir den Ausbau von Strom­
SPIEGEL: Woran liegt es, dass wir eine hen, wie stark die Klimafrage junge trassen. Jeder weiß, dass sie für eine
globale Krise wie Corona einigerma­ Menschen wie meine Tochter um­ Energiewende benötigt werden.
ßen solide managen, eine globale Kri­ treibt, wie engagiert sie bei Fridays Trotzdem ist nicht mal ein Viertel der
se wie den Klimawandel nicht? for Future für ihre eigene Zukunft notwendigen Leitungen gebaut.
Lauterbach: Weil wir bei Corona die kämpfen. Da ist zum ersten Mal in Lauterbach: Auch hier gibt es keine
Möglichkeit der Impfung haben, sonst der Geschichte eine Generation, die verbindliche wissenschaftliche Beglei­
wäre die Krise wohl nicht so leicht auf die Straße geht und buchstäblich tung. Sonst wären wir schon viel wei­
beherrschbar. Beim Klimawandel ist für ihr eigenes Überleben kämpfen ter.
es wie bei einem 30-jährigen über­ muss. Im Vergleich zu den Kindern SPIEGEL: Scheitert die Politik nicht
gewichtigen Raucher: Die Bedrohung von heute hatte ich eine unbeschwer­ vielmehr an den Protesten gegen den
liegt in der Zukunft. Wenn Sie dem te Kindheit. Bau dieser Stromleitungen? Es man­
Mann erklären, dass er vieles ändern SPIEGEL: Sie beklagen, dass es die gelt an politischer Durchsetzungs­
muss, um nicht in 30 Jahren an Krebs Politik nicht schaffe, wissenschaft­ kraft.
zu erkranken oder einen Schlaganfall liche Erkenntnisse rechtzeitig in Han­ Lauterbach: Die Wissenschaft könnte
zu erleiden wird, passiert in der Regel deln umzusetzen, Sie schreiben von auch bei der Frage helfen, wie man
nichts – bis zum ersten Infarkt. einem »nahezu kompletten Versagen Widerstände überwindet und Anrei­
SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem Buch, des Zusammenspiels von Wissen­ ze schafft. Oder die klare Empfehlung
dass es Einschränkungen geben müs­ schaft und Politik«. Woran liegt das? geben, dass das bisherige Einspruchs­
se, die noch viel weitreichender sein Lauterbach: Natürlich gibt es auch recht von Kommunen und Landbe­
werden als die in der Pandemie. Wel­ heute Raum für Wissenschaftler in sitzern sehr stark eingeschränkt wer­
che meinen Sie konkret? der Politik. Sie beraten oder tragen den muss.
Lauterbach: Es beginnt mit der Frage, bei Expertenanhörungen vor. Aber SPIEGEL: Das kann man machen, es
wie wir uns ernähren. Wir können dann ignoriert die Politik oft das Ge­ wäre aber undemokratisch.
uns die auf Fleisch basierende Ernäh­ sagte und tut so, als wäre nichts ge­ Lauterbach: Nein, überhaupt nicht.
rung nicht mehr leisten. Sie produ­ wesen. Es gibt keine systematische Es gibt einen demokratisch legitimier­
ziert viel zu viel Methan und CO2, Integration der Wissenschaft in den ten Beschluss: Wir wollen das 1,5-
deswegen werden wir darauf verzich­ politischen Alltag. Mit dem Corona- Grad-Ziel erreichen. Und dieser de­
ten müssen. Wir werden auch auf Expertenrat, der mein Ministerium mokratisch legitimierten Festlegung
­bestimmte Formen der Mobilität und das Bundeskanzleramt berät, ist muss sich alles andere unterordnen,
­verzichten müssen. Es wird nicht dies zum ersten Mal gelungen. Er tagt da dann in anderen Bereichen auch
mehr möglich sein, so preiswert zu nicht einmal im Jahr und überreicht entsprechende Beschlüsse folgen. Das
fliegen wie bisher. Es wird nicht mehr uns dann ein Gutachten, das niemand ist höchst demokratisch.
möglich sein, Güter nur kurze Zeit zu liest. Die Mitglieder tagen jede Wo­ SPIEGEL: Wie hinderlich sind dabei
verwenden und dann wegzuschmei­ »Manchmal che – und der Kanzleramtsminister Umweltorganisationen, die den Bau
ßen, weil durch deren Produktion zu
viel CO2 freigesetzt wird. Wir müssen
sind auch und ich sind dabei. Die gesamte Poli­
tik der vergangenen Wochen ist maß­
von Leitungen blockieren, weil sie
zum Beispiel seltene Vögel schützen
weniger produzieren und die Weg­ Umwelt­ geblich durch den Expertenrat und wollen?
werfgesellschaft hinter uns lassen. schützer eine auch meine wissenschaftliche Zu­ Lauterbach: In diesen Fällen sind
SPIEGEL: Sie sagen, Ihr Buch sei durch arbeit geprägt. So wie mit dem Ex­ manchmal auch Umweltschützer eine
Ihre 14-jährige Tochter inspiriert. In­ Gefahr pertenrat müsste es auch in anderen Gefahr fürs Klima. Ich will es mal so
wiefern? fürs Klima.« Bereichen der Politik laufen. ausdrücken: Was nützt uns das kurz­

34 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


DEUTSCHLAND

fristige Überleben des Rotmilans, wenn gefordert haben und dafür massiv angegriffen Da müssen Politik und Wissenschaft Schulter
Mensch und Tier insgesamt gefährdet sind? wurden. Wie fanden Sie die Idee? an Schulter stehen und sagen: Wir haben das
Da müssen wir beweglicher werden. Lauterbach: Ich fand die Idee gut. Ich bin ja jetzt aus guten Gründen so beschlossen.
SPIEGEL: Dann muss der Rotmilan den Mär­ selbst Vegetarier, vor allem aus Energie­ Fleisch soll nicht verboten werden. Aber wir
tyrertod sterben? gründen. Ich habe 1988 meinen letzten Bur­ essen viel zu viel davon. Das muss sich än­
Lauterbach: Der Rotmilan sollte geschützt ger gegessen, im Big A von Arizona, das war dern.
werden, aber nicht zulasten der Energiewen­ ein berühmt-berüchtigter Burger-Brater, wo SPIEGEL: Um wie viel Prozent müsste der heu­
de, die wir dringend benötigen. Falsch ver­ viele Trucker Halt machten. Ich bin damals tige Fleischkonsum reduziert werden, um das
standener Tierschutz hilft niemandem weiter. extra dorthin gefahren. Aber zurück zum Klima effektiv zu schützen?
Erneut ist hier Wissenschaft die Lösung. Sie Veggie Day: Eine Initiative, dass man zur ve­ Lauterbach: Klar ist: Wir werden deutlich we­
wird uns Möglichkeiten zeigen, wie wir Vögel getarischen, zur veganen Ernährung aufruft, niger Fleisch essen müssen. Langfristig könn­
auch außerhalb ihres bisherigen Habitats dass man Anreize setzt, finde ich richtig. Ich ten wir den Fleischkonsum um 80 Prozent
schützen können, weil wir dort zum Beispiel weiß, dass das sehr umstritten ist, aber zu reduzieren. Aber nicht nur in Deutschland,
dringend Windkraftanlagen bauen müssen. einer gelungenen Politik gehört auch Mut. sondern weltweit, weil es einfach sehr schwer
SPIEGEL: Viele Politikerinnen und Politiker, SPIEGEL: Sagen Sie mutig: Deutschland sollte ist, Fleisch ohne massiven CO2-Abfall zu pro­
schreiben Sie, hätten »zunächst nur die Situ­ fleischlos werden, um die Klimaziele zu er­ duzieren.
ation in ihrem Wahlkreis und die erhoffte reichen? SPIEGEL: Sie wollen den Anteil von Wissen­
Wieder­wahl für die nächste Legislaturperiode Lauterbach: Ich würde nicht fleischlos sagen. schaftlerinnen und Wissenschaftlern in der
im Blick«. Unpopuläre Maßnahmen werden Aber wir brauchen eine Ernährung, die sehr Politik erhöhen. Wie soll das gelingen?
gemieden, weil sie die Wiederwahl gefähr­ viel stärker vegan und vegetarisch ausgerich­ Lauterbach: Ich hoffe, dass sie selbst erkennen,
den. Was wollen Sie gegen diesen Mechanis­ tet ist, weil wir sonst allein durch die Art, wie dass sie in der Politik oft viel mehr erreichen
mus tun? wir uns ernähren, viel zu viel CO2 und Me­ können als an der Universität. Zugleich muss
Lauterbach: Zunächst ist es vollkommen than freisetzen. Darüber hinaus ist der die Politik mehr Raum für sie schaffen. Par­
­legitim, dass jemand an seiner Wiederwahl Fleischkonsum, den wir derzeit haben, un­ teien sollten Wissenschaftlerinnen und Wis­
interessiert ist. Aber wir müssen uns schon gesund. Er führt zu Herz-Kreislauf-Erkran­ senschaftler aktiv für ihre Parlamente rekru­
Gedanken machen, wie wir die politischen kungen, zu Krebs und ist auch noch mit tieren, sie auch bei der Vergabe von Listen­
und demokratischen Prozesse so steuern, dass ­Tierquälerei verbunden. Ich will es so sagen: plätzen besonders berücksichtigen.
wir dieses zentrale Ziel adressieren: das Über­ Welchen Sinn macht Tierquälerei, damit wir SPIEGEL: Wir hatten jetzt über sehr lange Zeit
leben. Wenn ein einzelner Abgeordneter, der uns ungesund ernähren und dabei auch noch eine Wissenschaftlerin als Kanzlerin. Das hat
wiedergewählt werden will, sich nicht für Kli­ das Klima ruinieren? dem Klima nicht sonderlich geholfen.
mapolitik interessiert, mag das verschmerz­ SPIEGEL: Sie wollen Fleischersatz subventio­ Lauterbach: Ja, das ist richtig. Ich fürchte,
bar sein – solange es genug andere Prozesse nieren und Billigfleisch teurer machen, etwa sie war als Wissenschaftlerin nicht bereit,
gibt, die sicherstellen, dass Wissenschaft die durch eine Treibhausgasabgabe. Fleisch wird politisch so viel Kapital einzubringen, wie
Politik bestimmt. so zum Luxusgut für die, die es sich leisten notwendig gewesen wäre, um bei der Be­
SPIEGEL: Im Bundestagswahlkampf forderten können. Für die anderen sind dann die Ersatz­ kämpfung des Klimawandels alles zu errei­
die Grünen offen und ehrlich einen höheren produkte? chen. Außerdem zeigt ihr Beispiel, dass
Benzinpreis. Zwei Kanzlerkandidaten haben Lauterbach: Machen wir uns doch nichts vor. ­Einzelne wenig ausrichten können, nicht mal
das sofort genutzt und diese Forderung Wer sind diejenigen, die jetzt am Billigfleisch als Kanzlerin. Deshalb braucht es ja auch
­skandalisiert: Armin Laschet und Olaf Scholz. durch schwerste Krankheiten Lebensjahre ver­ mehr Wissenschaftler in der Politik, gerade
War Ihnen der heutige Bundeskanzler zu lieren? Es sind die Ärmeren. Die soziale Frage jetzt. Die nächsten zehn Jahre sind entschei­
populistisch? stellt sich doch eher umgekehrt. Mit dem Bil­ dend für die Frage, ob unser Planet bewohn­
Lauterbach: Ich kann mich nur an die Kritik ligfleisch ernähren sich bislang die Einkom­ bar bleibt.
von Armin Laschet erinnern. Aber ich finde mensschwachen in einer Art und Weise, mit SPIEGEL: Träumen Sie gerade von einer Ex­
ein solches Verhalten im Wahlkampf ganz der sie viele Lebensjahre verlieren. Regelmä­ pertokratie?
grundsätzlich problematisch. Wenn wir einen ßiger Fleischkonsum ist zum Beispiel ein wich­ Lauterbach: Ich würde es anders nennen,
höheren Benzinpreis akzeptieren müssen, tiger Risikofaktor für Darmkrebs. Und vor aber: Ja, wir brauchen eine viel klarere Ver­
­damit die Energiewende gelingt, dann muss allem bei sozial Schwächeren wird der Darm­ ankerung der wissenschaftlichen Erkenntnis­
man dazu stehen. Und ich bin der Erste, der krebs meist zu spät entdeckt. Die Ärmeren se in den politischen Prozess. Und da muss
das tut. verlieren doch nicht, wenn sie das billige man alles nutzen, was geht. Mehr Wissen­
SPIEGEL: Sie schreiben teilweise bewundernd Fleisch durch eine vegane oder vegetarische schaftler in den Parlamenten. Beratungsgre­
über China, das sich »für einen radikalen Um­ Kost ersetzen. Im Gegenteil: Sie gewinnen. mien müssen näher an die Ministerien rücken
bau der gesamten Industrie entschieden« SPIEGEL: Was ein wenig bevormundend klingt. und diese dauerhaft und verbindlich beraten.
habe. Wäre die Chance, den Klimawandel zu Lauterbach: Es ist die Wahrheit, und es In der Wissenschaft müssen Freiräume ge­
stoppen, größer, wenn die ganze Welt von braucht Entschlossenheit, sie auszusprechen. schaffen werden, damit Forscher in sie wech­
der Kommunistischen Partei Chinas regiert seln und auch wieder zurückkehren können.
würde? Die Uni Köln zum Beispiel hält mir schon
Lauterbach: Ich glaube, dass wir von der seit 16 Jahren die Stelle als Institutsleiter frei.
­Kommunistischen Partei Chinas nichts lernen Ich könnte zu jedem Zeitpunkt zurückkeh­
können. Und ich wünsche nicht diese Form, ren. Aber solche Flexibilität ist leider nicht
regiert zu werden. Wir können es auch schaf­ die Regel.
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

fen, ohne dass wir uns an China orientieren SPIEGEL: Wäre die Rückkehr in die Wissen­
– mit klugen, wissenschaftlich gut vorbereite­ schaft eine Option für Sie, sollten Sie eines
ten Mechanismen. Tages nicht mehr Gesundheitsminister sein?
SPIEGEL: Die Grünen sind heute noch trau­ Lauterbach: Da habe ich noch keine Sekunde
matisiert, weil sie 2013 einen »Veggie Day« drüber nachgedacht. Ich mache das, was ich
jetzt mache, jedenfalls sehr gern.
*  Markus Feldenkirchen und Martin Knobbe in Karl SPIEGEL: Herr Lauterbach, wir danken Ihnen
Lauterbachs Ministerbüro. Lauterbach, SPIEGEL-Redakteure* für dieses Gespräch. n

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DEUTSCHLAND

wirt offenbar nichts zu den Masken-


deals beitrug, könnte Ärger mit der
Schenkungssteuer geben.
Jedenfalls sind die Fahnder inzwi-

Per WhatsApp zu Reichtum


schen so misstrauisch, dass sie die
WhatsApp-Chats von Tandler mit
ihren Schweizer Geschäftspartnern
sicherstellten. Diese Nachrichten er-
lauben nicht nur Einblicke in den Ma-
PROVISIONEN  Die Kleinfirma Emix verkaufte Bund und Ländern Masken für mehr schinenraum des damaligen Masken-
Business. Aus den Chats und weite-
als 700 Millionen Euro. Bisher unbekannte Chats zeigen, wie die Strauß-Tochter ren SMS ergeben sich nun offenbar
Monika Hohlmeier und deren Freundin Andrea Tandler die Deals einfädelten. drei Dinge: wie Tandler an die
Schweizer Maskenhändler kam. Wer
sonst noch fette Provisionen kassie-

W 48,3
er wird Millionär? Eine Fra- Haus an der Waldfriedenstraße, in ren sollte. Und wie sehr sich »die
ge, die an der Waldfrieden- das ein Verwandter von Darius N. Moni« – Strauß-Tochter Hohlmeier –
straße in Grünwald bei Mün- eingezogen sein soll, kauften sie und ins Zeug legte, um ihrer Duzfreundin
chen keiner mehr stellen muss: rechts ihr Partner in derselben Woche gleich Millionen Andrea zu helfen.
und links Millionenvillen. Das Leben noch eines an der Grünwalder Peter- Euro Der 21. März 2020: ein Schrei-vor-
muss es gut gemeint haben, wenn Ostermayr-Straße. Diesmal lief es Glück-Tag für Andrea Tandler. »We
man sich in dieser Lage etwas leisten über zwei ihrer Firmen, Kaufpreis are millionaires«, jubelt sie, wir sind
kann. Zum Beispiel das Traumhaus, 3,85 Millionen, wieder ohne Bank- erhielten Millionäre. Es klingt so, als könnte es
das im Herbst 2020 angeboten wur- schulden. Das Haus wird gerade re- Tandler Tandler selbst kaum glauben. Gut
de. In der Anzeige hieß es: »Wunder-
schöne, luxuriöse Villa im nobelsten
noviert.
Das pure Glück ist der neue Reich-
und Partner zwei Wochen nach den ersten Ab-
schlüssen mit Bayern und NRW
Vorort«, 342 Quadratmeter Wohn- tum trotzdem nicht: Zum Sozialneid Darius N. schickt sie den Triumph-Post in einen
und Nutzfläche, Luxusküche, Koi- der Normalverdiener und zu den Bli- als Provision Chat mit dem Namen »Döner macht
Teich, Blick ins Grüne. Und falls es cken der gut situierten Nachbarn, von schöner«. Offenbar eine Spaßgruppe,
mal ungemütlich wird: »hohe Sicher- denen einige schon die Nase rümpfen für die Ver- die nur so vor Emojis wimmelt und
heitsverglasung«. sollen, kommt die Spurensuche der mittlung der die für die Maskendeals ansonsten
Die Villa ist inzwischen verkauft,
für 3,75 Millionen Euro. Und wer im-
Staatsanwaltschaft München. Sie er-
mittelt gegen Tandler und Darius N.
Emix-Masken. keine große Rolle spielt. Einer der
beiden anderen Chatfreunde ist aller-
mer schon wissen wollte, was Mas- wegen des Verdachts auf Steuerhin- dings ein Bindeglied für die Geschäf-
ken-Millionarios mit ihren Krisen­ terziehung in Millionenhöhe und te: Niklas Fruth, Mitgründer einer
gewinnen aus dem Notjahr 2020 so Geldwäsche. Beide lassen alle Vor- Werbeagentur in Zürich. Er hat Tand-
machen: Hier hat sich offenbar würfe bestreiten. ler Ende Februar ins große Masken-
schnell verdientes Geld in langlebiges Gelandet waren die Provisionen business gebracht. Auch Tandler hat
Betongold verwandelt. Neue Eigen- der Emix bei einer putzig klingenden eine Werbeagentur. Ob sie sich
tümer sind seit November 2020 An- Little Penguin GmbH, auf Deutsch: ­deshalb kannten, lassen beide auf
drea Tandler und ihr Partner Darius Zwergpinguin, hinter der Tandler und ­ PIEGEL -Anfrage offen.
S
N. Die beiden hatten zu Mondpreisen Darius N. stehen. Dass die Firma zum Fruth, heute 38, hat Wirtschaft stu-
Masken an den Freistaat Bayern, das Zeitpunkt der meisten Maskendeals diert. Er gründet Firmen oder betei-
Land Nordrhein-Westfalen und vor noch gar nicht existierte und erst spä- ligt sich an ihnen, meist im Werbe-
allem das Bundesgesundheitsminis- ter in der Gewerbesteueroase Grün- und IT-Bereich. Aber wenn es was
terium vermittelt. Ein paar Monate wald gegründet wurde, könnte nach zu verdienen gibt, auch gern in einer
Arbeit, schon hatten sie sagenhafte Ansicht der Ermittler als Gewerbe- anderen Branche. 2019 investierte er
Kaufobjekt Peter-
48 Millionen Euro Provision dafür steuerverkürzung zu werten sein. Ostermayr-Straße
in ein Start-up in Zürich, das auf Pro-
eingesackt, dass sie Ware der Schwei- Und dass die Hälfte der Provision bei in Grünwald: Zwei dukte fürs Gesundheitswesen setzte.
zer Firma Emix Trading an deutsche Darius N. landete, obwohl der Gast- Villen in einer Woche Deren Chef: Dean T. Noch so ein
Ministerien losschlugen. Jung-Entrepreneur vom Zürichsee,
Für Tandler mit ihren Drähten in immer auf der Jagd nach der nächsten
die CSU war das offenbar kein großes Chance. Und zugleich ein enger Ge-
Problem. Schließlich war ihr Vater schäftsfreund jener Nachwuchsunter-
Gerold mal Minister in Bayern, ein nehmer der Emix Trading, die Anfang
Amigo von CSU-Patron Franz Josef 2020 in der aufziehenden Pandemie
Strauß. Und die Strauß-Tochter Mo- das Geschäft ihres Lebens witterten.
nika Hohlmeier nun die Türöffnerin Mit Masken.
beim Verticken der Emix-Masken. Am 28. Februar 2020 schloss Fruth
Allein das Bundesgesundheitsminis- mit seiner Beteiligungsfirma Fruth &
terium von Jens Spahn (CDU) nahm Partner einen Provisionsvertrag mit
Ausrüstung für 712,5 Millionen Euro Emix Trading ab. Emix versprach ihm
ab. Bei einer bis dato so gut wie un- zehn Prozent vom Umsatz, wenn er
bekannten Minifirma. Maskendeals heranschaffen würde.
Weil Tandler danach aber wohl Dafür durfte er auch Untermakler an-
nicht mehr wusste, wohin mit ihren heuern. Fruth verlor keine Zeit. Er
DER SPIEGEL

ganzen Masken-Millionen, war die setzte Andrea »Drea« Tandler in die


eine Villa nicht genug. Außer dem Spur, um Geschäfte in Deutschland

36 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


DEUTSCHLAND

Jana Neumann / Bundeswehr


Isopix / action press

CSU-Politikerin Hohlmeier, Maskenflieger der Bundeswehr im April 2020 in Leipzig: Bizeps-Emoji und Herz-Küsschen

hereinzuholen. Noch am selben Tag meldete So wie es aussieht, blieb es daher auch Draht zu Ministerinnen und Ministern hat-
sich Tandler bei ihrer Freundin Monika Hohl- nicht bei den bekannten 48 Millionen Euro ten. Viele dieser Konkurrenten wurden mit
meier, wollte deren politische Kontakte an- Provision, die nachweislich über den »Little ihren Nachfragen ignoriert, blieben auf ihrer
zapfen. »Hi Moni, geht’s Dir gut? Haben uns Penguin« in den Taschen von Tandler und Ware sitzen, manchen drohte die Pleite.
ja leider lange nicht mehr gehört.« Ein Freund Darius N. gelandet sind. Vermutlich flossen
aus der Schweiz habe eine Million Masken noch mehr Millionen für die Deutschland- Offen bleibt angesichts der Handynachrichten,
der Qualitätsmarke 3M übrig. Ob der »Moni« Deals, nämlich an Fruths Firma. Am Ende der ob Hohlmeier wirklich so naiv war, wie sie
eine öffentliche Hand einfalle, die kaufen wol- Kette handelte es sich um Steuergelder, mit sich heute gibt. Von Tandlers Provisionen
le. Wäre doch schade, wenn die Masken sonst denen der deutsche Staat die Maskenmillio- habe sie nichts gewusst, schrieb sie in einer
bei Amazon landen würden. näre rund um Emix butterte. Stellungnahme für die Staatsanwaltschaft. Ihr
Am nächsten Tag stellte Fruth in einem Fruth will auf Anfrage nicht sagen, ob und selbst sei auch nie Geld angeboten worden,
Chat die neue Vertriebsfrau für Deutschland wie viel er kassiert hat. Überhaupt lehnt er beteuert die Europaabgeordnete, erst recht
bei Emix-Mann Dean T. vor – Drea: Dean, jeden Kommentar zu der Causa ab. In einem habe sie nichts gefordert oder gar bekommen.
Dean: Drea. Der Name dieser Chatgruppe: vertraulichen Sachstandsbericht der Steuer- Etwas anderes geht aus den Chats auch nicht
»Das Ministerium«. Es ist der Beginn eines fahndungsstelle des Finanzamts München aus hervor, gegen Hohlmeier wird nicht ermittelt.
Geldrauschs, der ein paar wenige auf Kosten dem November ist allerdings die Rede davon, Aber war ihr trotzdem bewusst, wie weit sie
der Allgemeinheit reich machen sollte, mit man könne noch nicht genau nachvollziehen, für ihre Freundin Andrea ging?
Preisen von bis zu 9,90 Euro für eine FFP-2- wer aus welchen Deals wie viel Provision be- Immerhin behauptete Hohlmeier in ihrer
Maske in NRW, 8,90 Euro in Bayern, 5,95 kommen habe. Zu vermuten sei aber, dass ersten SMS an Gesundheitsminister Spahn,
Euro beim Bund. noch 12 bis 15 Millionen Euro davon in der sie sei in das Emix-Angebot weder finanziell
Schweiz lägen. noch sonst irgendwie verwickelt. Dass sie tat-
Anfang April schlug sich das in einer Provi- Auffällig auch: Jetzt im Dezember über- sächlich für ihre Freundin antichambrierte,
sionsvereinbarung nieder. Auf der einen S
­ eite nahm eine Geschäftsfrau die Hälfte von Fruth verschwieg sie. Spahn sagt heute, Hohlmeier
Fruth & Partner, auf der anderen eine Little & Partner. Sie hatte mal drei Jahre lang in habe das auch später nie offengelegt; deshalb
Penguin GbR, die Tandler mit Darius N. Altötting gearbeitet, im Hotel zur Post, das habe er damals nicht gewusst, dass die Dame
schnell noch gegründet hatte – die gleichna- damals noch der Familienbetrieb der Tandlers namens Tandler die Tochter von Gerold
mige GmbH folgte später. Es ging darum, wie war. Angeblich Zufall. Doch zu den Fragen Tandler gewesen sei.
die üppige Maklerprovision der Emix, zehn des SPIEGEL schweigt auch Fruths neue Wie auch immer: Zumindest Tandler wuss-
Prozent vom Umsatz, aufgeteilt würde. Dem- ­Miteignerin. Ebenso das Gespann Tandler/ te genau, wo das Brot gebuttert wurde. Nach-
nach sollte Tandlers »Zwergpinguin« 60 Pro- Darius N. Kürzlich hieß es von ihnen lediglich, dem sie am 28. Februar »die Moni« an­
zent kassieren, Fruth & Partner 40 Prozent. sie hätten sich nichts vorzuwerfen, alles geschrieben hatte, ob die ihr helfen könne,
Wieder drei Wochen später folgten noch ­korrekt gelaufen. Und Emix? Wer Provisio- telefonierten beide am 1. März. Gleich am
zwei Abkommen. Das erste direkt zwischen nen kassiert habe, wie viel, das gehe die nächsten Tag bohrte Tandler nach, ob die
Emix und Little Penguin. Demnach sollte auch ­Öffentlichkeit nichts an. Ansonsten: kein »liebe Moni« etwas von Bayerns Gesund-
die Tandler-Firma zehn Prozent bei Emix- Kommentar. heitsministerin Melanie Huml (CSU) oder
Geschäften bekommen, so wie Fruth. Das Doch zurück in die ersten Tage der Emix- sonst wem gehört habe. Am 3. März meldete
zweite zwischen Little Penguin und Fruth & Deals, zu Tandler und ihrer Freundin »Moni«. Hohlmeier Vollzug. Bayern habe großes
Partner: Wenn sie zusammen ein Geschäft In Chats und SMS wird klar, wie hemmungs- Interesse. Allerdings hatte Tandler FFP2-
klarmachten, galt zwar generell noch der Split los Polit-Netzwerke unter Duzfreunden in Markenmasken versprochen, angeblich zu
60 zu 40. Beim Bundesgesundheitsministe- Geld umgemünzt wurden und wie groß des- normalen Preisen. Beide Versprechen sollte
rium sollten es nun aber 80 Prozent für die halb der Vorteil der Emix gegenüber Hun- Emix brechen: Die Preise waren die höchsten,
Tandler-Seite sein, nur noch 20 für Fruth. derten Händlern war, die keinen direkten die Bayern in der Pandemie zahlte, geliefert

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DEUTSCHLAND

wurden Masken chinesischer Hersteller. Zum Ministerium weitergeleitet und mit der Prü-
Teil mit zweifelhaften Zertifikaten. fung nichts zu tun gehabt. Tatsächlich soll es
Am 4. März setzte Tandler bei Hohlmeier aber solche Fotos vom Rollfeld geben.
nach. Sie behauptete, ihr Lieferant habe jetzt Die wohl wichtigste Mission als Schutz-
fünf Millionen Masken erwerben müssen, engel ihrer Freundin begann für Hohlmeier
sonst wäre er nicht herangekommen. Es klang kurz danach: Im Gesundheitsministerium
so, als lägen die zuvor erwähnten 3M-Masken hatte inzwischen das Beratungsunternehmen
schon bereit, nur eben mehr als erwartet. Des- EY die Aufgabe übernommen, das Chaos der
halb seien noch drei Millionen übrig, ob die Maskendeals zu lichten. Viel zu viele Masken
Moni nicht noch einen Kontakt zum Bund waren bestellt, bei Emix zu horrenden Prei-
habe. sen. Als eine Charge bei der Prüfung durch-
Kaum dass Hohlmeier also den ersten Deal gefallen war, wollte EY aus den Geschäften
eingestielt hatte, bedrängte Tandler die Freun- mit Emix aussteigen, der Bund stoppte die
din, ihr auch die Tür zum Bund aufzumachen. Auszahlung von 168,6 Millionen Euro. Am
Jene Tür, durch die in der Folge Bestellungen 10. Mai postete Tandler in die Chatgruppe
von fast einer Milliarde Euro und Lieferungen »Das Ministerium«, Hohlmeier werde mit
für 712,5 Millionen Euro gehen würden. Und einem EY-Manager sprechen. Sie, Tandler,
ja, sie brauche jetzt schnell eine Entscheidung, habe ein gutes Gefühl, denn Hohlmeier stehe
schrieb Tandler in bester Vertretermanier. voll auf »unserer Seite«.
Hohlmeier spurte, es folgte die SMS an Spahn. Hat Hohlmeier es also bei EY versucht?
Der schickte ihr gleich seine persönliche Bun- Ihre Antwort ist trickreich. Nein, sie habe
destags-Mailadresse für Tandler. nicht mit EY über Emix-Masken »verhan-
delt«. »Verhandelt« nicht. Aber aus dem Be-
Wichtig für die Mega-Beschaffung des Bundes ratungsunternehmen heißt es, sie habe tat-
bei Emix wurde der Leiter der Zentralabtei- sächlich einen Manager angerufen, Alexander
lung im Gesundheitsministerium, Ingo Beh- K. Der habe sie aber gleich an das zuständige
Das nel. Spahns Maskenchef in jenen wilden Wo- EY-Maskenteam verwiesen. Dort habe sie
chen. Am 31. März schrieb Tandler sinnge- sich nicht mehr gemeldet.
Finanzmagazin mäß in die Chatgruppe »Das Ministerium«, Offenbar, weil sie für ihre Freundin Andrea
sie sei jetzt Behnels Liebling. Und: Die Kanz- lieber gleich ganz nach oben zielte. Am
lerin kaufe »alles«, dahinter ein Raketen- 12. Mai, abends um 18.04 Uhr, 17 Minuten
Emoji. Wenn es danach Schwierigkeiten gab, nach der nächsten Bettelnachricht von Tand-
konnte sich Tandler offenbar gleich an Chef- ler, schrieb Hohlmeier an Minister Spahn. Der
SPIEGEL GELD informiert beschaffer Behnel wenden. Das Ministerium Maskenanbieter – gemeint ist Emix – sei aus-
über Finanzprodukte, bestätigt direkte Kontakte mit Behnel, angeb- gesprochen seriös, behauptete sie, werde jetzt
lich aber »unter strikter Beachtung der Inte- aber von EY aufs Übelste behandelt. Man
Versicherungen und Immo- ressen des Bundes«. solle doch bitte mit Händlern wie Emix fair
bilien – und hilft so bei Zugleich setzte Tandler auf Hohlmeier, die umgehen. Und der »liebe Jens« möge für
sich immer energischer für ihre Freundin schnelle und korrekte Klärung sorgen, da EY
Aufbau und Erhalt Ihres starkmachte. Im April sollten Emix-Masken anscheinend nicht transparent vorgehe.
Vermögens. aus China nach Deutschland gebracht werden; Doch der »liebe Jens« hatte offenbar seine
die Luftwaffe half. Aus den Tandler-Chats Antennen für Ärger ausgefahren: Wie die
ergibt sich, dass Hohlmeier dazu am 8. April »Süddeutsche Zeitung« zuerst berichtete, ant-
Themen der Ausgabe: 2020 die damalige Verteidigungsministerin wortete Spahn, solche Dinge würden be-
Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) kon- stimmt noch Untersuchungsausschüsse be-
taktiert haben soll. Im Chat feixte Tandler, schäftigen, weshalb er keinen politischen Ein-
Altersvorsorge last minute Hohlmeier habe tatsächlich mit der Ministe- fluss nehmen wolle. »Schützt Dich und mich.
Wie Spätzünder ihre Rente rin gesprochen. AKK habe sie, Tandler, sogar LG Jens«. Politische Einflussnahme? Hohl-
nett grüßen lassen, dabei kenne sie AKK gar meier, sozialisiert mit den Amigo-Affären der
retten nicht. Hohlmeier, die nur ausgesuchte Fragen CSU, sah das anders. Es gehe doch nur um
des SPIEGEL beantwortet, sagt dazu, sie habe fairen, transparenten Umgang, schrieb sie.
»weder eine Rolle« bei diesen Transporten Was den transparenten Umgang mit ihren
Neue Serie zu Freizeitoasen gespielt noch »Einfluss« darauf gehabt. Maskengeschäften angeht, hatte aber auch
Teil 1: Schrebergärten – Am 25. April postete Tandler Fotos von Freundin Andrea Tandler ihre ganz eigene Art.
kleines Grün für kleines Geld der Beladung einer Bundeswehr-Charterma- Verena Mayer, Schwester des damaligen
schine in China und bedankte sich bei Hohl- Staatssekretärs Stephan Mayer im Bundes­
meier mit Bizeps-Emoji und Herz-Küsschen. innenministerium und ebenfalls eine alte Tand-
Know-how für Aktionäre Nur leider gab es kurz danach noch ein Pro- ler-Freundin, hatte auch eine Provision gefor-
blem: Die Emix-Leute wollten offenbar in dert, obwohl ihr Bruder nach heutigem Stand
So analysieren Sie ein Leipzig aufs Rollfeld kommen, um nach der keine Geschäfte hereingeholt hatte. Der Vere-
Wertpapier Landung Fotos mit sich und dem Flieger zu na, so Tandler im Chat, habe sie aber erzählt,
knipsen. Es hake bei der Akkreditierung, einer von der Emix habe ihr nur mal ein nettes
schrieb Tandler, ob die »liebe Moni« da nicht Essen spendiert, mehr nicht. Angesichts von
schnell noch etwas über AKK drehen könne? 48 Millionen Euro für Tandler und ihren Part-
Unklar, ob Hohlmeier erneut die Ministerin ner eine Untertreibung, die selbst unter Ge-
anfunkte. Hohlmeier sagt dazu nichts. Kramp- schäftsleuten dieser Art schwer zu toppen ist.
Nächste Woche als Karrenbauer lässt lediglich ausrichten, sie Jürgen Dahlkamp, Jan Friedmann, Gunther Latsch,
habe alle Anfragen stets ordnungsgemäß im Sven Röbel, Gerald Traufetter  n
Beilage im SPIEGEL
38 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022
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DEUTSCHLAND

geschäftlich in Berlin weilte, sich nach dem


Mauerfall geärgert, dass die örtlichen Hote-
liers ihre Zimmerpreise auf 400 oder 500
Mark vervielfachten, der explodierenden

Der Turmbauer
Nachfrage wegen. Er dachte, ein Großhotel
mit Zimmern für rund 100 Mark, das müss-
te doch funktionieren, egal wo es steht. Vier
Sterne zum Zwei-Sterne-Preis, das war sein
Motto.
BERLIN  Einst schuf er Wohntürme in Teheran, dann setzte er das größte »Sind Sie sicher, dass Sie dort bauen wol-
len?«, habe ihn der zuständige Neuköllner
Hotel Deutschlands nach Neukölln, jetzt zieht er dort mitten Baustadtrat noch skeptisch gefragt. Streletzki
in der Krise einen Wolkenkratzer hoch. Wer ist Ekkehard Streletzki? war sich sicher, die Sache wurde genehmigt.
Seither steht es da, Eröffnung 1994. Schön
ist es nicht, aber unübersehbar. Das 17-stö-

D
raußen vierstellige Inzidenz und leere wahr?« Maxim, blond und 31 Jahre jung, ckige Haupthaus ähnelt mit seiner spitz zu-
Straßen, drinnen spielt Abba »Money, mit Hoodie und Turnschuhen, ist Projektlei- laufenden Nase einem riesigen Bügeleisen.
Money, Money«, denn darum geht es ter des Wolkenkratzers, die Streletzkis sind Oder einer Maus, wie ein Kind sie kritzelt.
ja immer. Es ist ein Freitagabend im Estrel- ein Familienunternehmen. »Aber nur ganz Die ersten Entwürfe stammten von Stre­letzki
Hotel in Berlin-Neukölln, etwa 200 Leute kurz, Papa«, sagt der Spross aus zweiter persönlich. Dieses Hausgemachte, dieses Ich-
haben es an der 2G-plus-Kontrolle vorbei in Ehe. Und dass der Vater halt ein »totaler mach-das-mal-lieber-selbst-Ideal, das scheint
den Saal geschafft, auf der Bühne tanzen und ­Optimist« sei. typisch für ihn.
singen gekonnt vier fröhliche falsche Schwe- Sonst hätte er das Estrel ja auch nicht ge- Auch das neue Hochhaus, geschätzte Bau-
den, teils mit Perücken. Das Estrel ist für sei- baut, damals, nach der Wende. Die Voraus- kosten 260 Millionen Euro, hat der Patron
ne Double-Shows bekannt, Elvis, Tina Turner, setzungen waren – suboptimal. Erstens hatte zunächst eigenhändig gezeichnet. Hinter sei-
die Beatles, Michael Jackson. Das Publikum, Streletzki keine Ahnung vom Hotelgeschäft, ner Firma stehen keine Kette, kein Invest-
eher grauhaarig, ist begeistert, und bei »Dan- er ist von Haus aus Bauingenieur und Statiker. mentfonds und keine stillen Gesellschafter,
cing Queen« tanzt es sogar ein bisschen. So Zweitens hatte er sich den Schmuddelbezirk sie ist Privatbesitz. »Ein Familienunterneh-
sieht Berliner Nachtleben aus in Zeiten von Neukölln als Standort ausgesucht, weit weg men dieser Art ist in der Branche einmalig«,
Corona. vom Zentrum der neuen Hauptstadt. Drittens sagt Stefanie Salwender von der Münchner
Die riesige Lobby nebenan aber liegt öd lag nebenan ein Schrottplatz und ein rostiger Hotelberatungsfirma Treugast.
und verlassen. Ein einziger Kunde steht an Industrieschifffahrtsskanal. Bei einem Rundgang, von Vater und Sohn
der Bar, vielleicht mit Schlafproblemen. Das Wie kam er bloß auf die Idee? Der Legen- angeführt, werden die nordkoreanischen Aus-
Estrel, ein Gigant von Gasthaus, hat derzeit de nach, die er selbst erzählt, hat Streletzki, maße der Anlage fassbar. Vor den großen
nur zehn Prozent seiner 1125 Zimmer belegt. der von den Achtzigerjahren an regelmäßig Fensterfronten liegen Wasserspiele, Rolltrep-
Der Komplex aus Bettenburg, riesigen Kon- pen überwinden die verschiedenen Ebenen,
gresssälen und Veranstaltungsräumen ver- draußen ist ein hoteleigener Bootsanleger.
sammelt einige Superlative auf sich. Größtes Überall steht oder hängt teure, großformati-
Hotel Deutschlands, zweitgrößtes Kongress- ge, zeitgenössische Kunst herum, Jonathan
hotel Europas, umsatzstärkstes Hotel des »Die Leute wollen wieder Meese, Tony Cragg, Jörg Immendorff – was
Landes. Also: ein großes Ding. Und jetzt, in raus, sie wollen Streletzkis Frau Sigrid alles so gesammelt hat.
der Pandemie, während der leere Kasten Mil-
lionen vernichtet, entsteht direkt daneben der sich wieder begegnen.« Mittendrin, Familiensache, finden sich auch
ein paar Gemälde der Hobbymalerin Kira
nächste Rekord: Der Estrel Tower, der mit 176 Ekkehard Streletzki Streletzki, der 30-jährigen Tochter, die beim
Metern und 45 Etagen das höchste Hotel Galeristen Hauser & Wirth in London arbei-
Deutschlands werden wird und das zweit- tet. Ein Sohn aus erster Ehe wiederum, Julian,
höchste Gebäude Berlins, nach dem Fernseh- 51, kümmert sich um die Wohn- und Gewer-
turm. beimmobilien der Streletzki-Gruppe.
»Wir haben einfach gesagt, wir machen es 35 000 Quadratmeter Veranstaltungsflä-
trotzdem«, sagt gut gelaunt Ekkehard Stre- che können im Estrel bespielt werden, knapp
letzki, 81-jährig, Gründer, Eigentümer und fünf Fußballfelder. »Hier hatten wir schon
Namensgeber des Estrel, einem Mischkurz- ›Wetten, dass ..?‹ drin, Boxkämpfe, Bambi-
wort, das er höchstselbst aus seinem Vor- und Verleihungen, allerlei Parteitage«, sagt Stre-
Nachnamen gebastelt hat. Er hätte das Haus letzki, dessen Stimme in der leeren Conven-
also auch »Strelhard« oder »Ekletzki« nennen tion Hall verhallt, »und Carreras hat hier auch
können. gesungen.«
Streletzki, elegant gekleidet wie immer, 1800 Tagungen und Kongresse beherbergt
sitzt an einem Januarnachmittag in einem das Haus in normalen Jahren, mit rund
Separee des hauseigenen Italieners vor einem 450 000 Besuchern. Jetzt: tote Hose. Vor der
Teller Caprese und wischt die ganze Krise mit Pandemie, also 2019, lag der Jahresumsatz
seiner Serviette weg. »Das wird schon wie- bei mehr als 80 Millionen Euro. Und 2020,
der«, sagt er, mit rheinländischer Sprech­ 2021? Streletzki verzieht nur das Gesicht und
Götz Schleser / DER SPIEGEL

melodie, die dem Mann aus Hamm an der ruft: »Katastrophe!« Die Angestellten sind in
Sieg auch Jahrzehnte in Berlin nicht haben Kurzarbeit, 400 sind es noch, 120 haben ge-
austreiben können. Dann richtet er sich an kündigt. Allerdings wolle er nicht klagen, sagt
seinen Sohn Maxim, der ebenfalls am Tisch er, die Überbrückungshilfen seien anständig.
sitzt. »Auch wenn du ein bisschen gezweifelt Die Hilfen lindern die gröbsten Verluste, den
hast, ob wir weitermachen wollen, nicht Rest schießt er privat ein. Man muss kein Mit-

40 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


DEUTSCHLAND

leid mit ihm haben. Auf 400 Millio- tatsächlich selber sein Hochhaus.« Sie
nen Euro schätzt das manager maga-
zin in seiner Liste der 500 reichsten
Deutschen das Streletzki-Familien-
260
Millionen
erklärte ihm, dass erst einmal eine
städtebauliche Studie notwendig sei,
dass das Projekt dann den Fachgre-
vermögen. mien vorgelegt und im Baukollegium
Streletzki junior blickt durch eine Euro diskutiert werden, dass sodann ein
Glasfront auf eine Großbaustelle Architekturwettbewerb aufgelegt
nebenan, wo nahe der S-Bahn-Sta- werden müsse. Es dauerte also alles
tion Sonnenallee eine private Uni- soll der noch mal etliche Jahre, bis schließlich,
versität einziehen wird. »Unser Um- Estrel Tower 2014, das Siegerprojekt aus der Hand
feld entwickelt sich positiv«, sagt er.
Auf der anderen Seite ist der Ab-
kosten. des Architekturbüros Barkow Leibin-
ger der Öffentlichkeit präsentiert wur-
schnitt 16 der Stadtautobahn A 100 de. »Meine Planung hätte die Hälfte
im Bau, eine Ausfahrt kommt direkt gekostet«, sagt Streletzki heute dazu.
neben das Estrel zu liegen, die Er- Seit vergangenem Sommer nun
öffnung ist für 2024 geplant, wenn sind die Bauarbeiten im Gang, derzeit
auch der neue Turm fertig sein soll. wird die Bodenplatte gegossen, die
Das Estrel, vor 30 Jahren in abseiti- auf 52 Bohrpfählen ruht, die 30 Meter
ger Lage erbaut, ist immer stärker in die Erde eingelassen sind. Vater
in den Sog eines dynamischen Ber- und Sohn hatten nach dem Ausbruch
liner Entwicklungskorridors gera- der Pandemie das Konzept des Turms
ten, der Südostachse. Westlich liegt überarbeitet, wobei die neuen Ideen,
das Tempelhofer Feld, südöstlich der wie der Vater betont, vor allem vom
Wissenschafts- und Technologiepark Sohn stammen. Es gibt jetzt weniger
Adlershof, im angrenzenden Bran- Zimmer als ursprünglich geplant, 525
denburg steht der neue Großflug- statt 850, es soll mehr »Serviced
hafen BER, und östlich davon Apartments« geben für Langzeitgäs-
wächst Elon Musks Tesla-Fabrik. te, mehr »Coworking-Offices« für
Streletzkis wüstes Vorstadtensem­ble Start-ups, mehr »Eventfläche« für
steht plötzlich in einem neuen Veranstalter und ganz oben ein
Wachstumszentrum. »Farm-to-Table«-Restaurant und eine
Zurück am Tisch parliert sich Stre- »Skybar« mit Außenterrasse.

Barkow Leibinger Architekten


letzki senior anekdotenreich durch Maxim Streletzki, der in den USA
seine bewegte Biografie. Als junger erst Filmwissenschaften und dann
Bauingenieur gründete er in Mün- Hotelfach studiert hat, beantwortet
chen ein Statikbüro und kam im Bau- die Frage, welche Rolle er genau spie-
boom vor den Olympischen Spielen le im Unternehmen, mit ungezügelter
1972 zu Aufträgen und Wohlstand. Bescheidenheit. Das sei unwichtig,
Dann las er, dass in den Ölstaaten viel »Geschäftsführer« stehe da drauf,
gebaut werde, und flog nach Teheran, Sein jüngster und vielleicht letzter Geplantes Hotel­ aber er habe »nichts geleistet, es ist
»wo ich keinen kannte, aber schon großer Streich, der Turmbau zu gebäude in Neukölln: alles mein Vater«, und es mache ihm
Wette auf eine
nach kurzer Zeit einen Riesenauftrag ­Neukölln, hat eine ähnlich lange Pla- bessere Zukunft Spaß, von ihm zu lernen. Auch wenn
erhielt«. Bald, so erzählt er, berech- nungsgeschichte wie der Pleiten-Air- Ekkehard Streletzki sich seit einiger
nete er die Statik für mehrere Wohn- port BER. Ursprünglich wollte Stre- Zeit aus dem Tagesgeschäft raushält
türme, die in der Sommerpalastanla- letzki auf dem Grundstück eine Ver- und viel auf Reisen ist, so ist es be-
ge des Mohammed Reza Pahlevi er- anstaltungsarena samt Einkaufsmall stimmt nicht leicht, in seine Fußstap-
richtet wurden, des letzten Schahs bauen, »so für rund 12 000 Besu- fen zu treten, besonders wenn man
von Persien. Streletzki, eine Art Han- cher«, das wurde aber in den späten denselben Nachnamen trägt.
delsreisender auf den Routen der jün- Nullerjahren von der Stadt abgelehnt. Jetzt warten sie in Neukölln auf
geren Weltgeschichte, verabschiedete Dann kam ihm die Idee mit dem das Ende der Pandemie, wie alle an-
sich am Vorabend der Islamischen Turm, »und dazu gibt es eine schöne deren auch. Was aber, wenn das Kon-
Revolution, 1979, aus Iran. Ein Jahr- Geschichte«, sagt Streletzki. gress- und Tagungsgeschäft nicht zu-
zehnt später brachen DDR und Ost- Die geht so: Er ging also mit den rückkommt oder nur halbwegs? Was,
block zusammen, und er errichtete selbst gefertigten Skizzen seines wenn sich die Arbeitgeber und -neh-
unweit vom Mauerstreifen seine Her- Turms bei der damaligen Senatsbau- mer so sehr an das Leben am Bild-
berge für die Massen. direktorin und Chefstadtplanerin vor- schirm gewöhnt haben, dass sie ihr
Manches scheiterte auch. In Mos- bei, Regula Lüscher. Diese, für ihre Homeoffice gar nicht mehr verlassen
kau eröffnete er ein umweltfreund- Skepsis gegenüber Wolkenkratzern wollen? Ekkehard Streletzki, ewiger
liches Ziegelwerk, das schnell wieder bekannt, habe sich alles mit Interesse Optimist, ist sich sicher: »Die Leute
dichtmachte. In Monaco kaufte er angeschaut und ihn gefragt, warum wollen wieder raus, sie wollen sich
Götz Schleser / DER SPIEGEL

eine Chemiefirma, die vor die Hunde der Tower denn 176 Meter hoch wer- wieder begegnen.« Und wenn nicht?
ging. Einmal wollte er schlüsselferti- den solle. Er habe geantwortet: »Lie- Von der Frage hängt letztlich alles ab.
ge Fabrikanlagen für Desinfektions- be Frau Lüscher, das müssen nicht 176 Der glitzernde, himmelragende Estrel
mittel nach Saudi-Arabien verkau- Meter sein, es können auch 170 oder Tower ist Streletzkis Wette auf eine
fen, was misslang. »Man kann nicht 180 Meter werden.« Zukunft, die seiner Meinung nach
immer Glück haben«, sagt Streletzki, Lüscher bestätigt die Anekdote. mindestens so gut wird wie die Ver-
»aber man muss es immer versu- »Zuerst war ich entsetzt«, sagt sie. Geschäftsführer gangenheit oder noch viel besser.
chen.« »Himmel, da zeichnet der Mann doch Maxim Streletzki Guido Mingels  n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

D
as Schreiben aus dem Dezember 2021
war ein Notruf. Unterzeichnet vom Ge-
schäftsführer des Klinikums Tuttlingen
und des Sozialdezernenten des Landkreises

Rettung durch den


im Süden Baden-Württembergs. »Wir wenden
uns mit einem dringenden Appell an Sie«,
schrieben sie. Ihr Krankenhaus sei ausgelastet.

Kleeblatt-Trick
Sie forderten die Verantwortlichen der
­stationären Einrichtungen und ambulanten
Dienste auf, »Krankenhauseinweisungen in
dieser schwierigen Zeit besonders sorgfältig
zu bedenken«. Diese sollten eine Auswahl
PROGNOSEN  In der vierten Coronawelle im Dezember warnten Politiker, treffen: Die knappen Intensivressourcen soll-
ten diejenigen bekommen, die auch »davon
Mediziner und Wissenschaftler vor dem Kollaps des Gesundheitssystems. profitieren können«. Heißt: jene Menschen,
Kliniken bereiteten sich auf die Triage vor. Dann war davon nie wieder die bei denen eine »Lebensverlängerung bei
Rede. Warum nicht? ­guter Lebensqualität« zu erwarten sei. Im
Anhang fanden die Empfänger den Vordruck
einer Patientenverfügung für den Fall einer
Coronavirusinfektion.
Der Landrat versuchte wenig später ein-
zuordnen, abzuschwächen, klarzustellen.
Doch die Nachricht war in der Welt. Zeitun-
gen und Fernsehsender berichteten über das
Tuttlinger Schreiben. In den Beiträgen stand
immer wieder ein Wort: Triage.
Es wird in der Notfallmedizin genutzt und
ist abgeleitet aus dem Französischen, vom
Begriff »Auswählen«: Ärzte müssen entschei-
den, wer bei knappen Ressourcen zuerst be-
handelt oder gerettet werden soll.
Im Dezember 2021 erlebte Deutschland
die bislang schlimmste Phase der Coronakrise.
Wie zuvor in Italien, Portugal, New York oder
Spanien drohte auch hierzulande eine Über-
lastung des Gesundheitssystems.
Die vierte Welle hatte das Land im Griff.
Die Virusvariante Delta war ansteckender als
vorherige Mutanten, sie führte bei Ungeimpf-
ten häufiger zu schweren Erkrankungen als
frühere Varianten. Dazu waren die Patienten
in den Kliniken im Schnitt jünger als bei vor-
herigen Wellen, sie blieben länger auf den
Intensivstationen. Von Oktober 2021 an stieg
die Zahl der Patienten stark. Mit jeder Woche
nahmen die Warnungen von Medizinern und
Politikern zu.
Manche Ärztinnen und Ärzte fürchteten,
nicht mehr allen Erkrankten helfen zu können.
Weil die Stationen in den Kliniken vollzu-
laufen drohten, weil das Pflegepersonal am
Limit arbeitete, weil es an Pflegern für die
Intensivbetten mangelte.
Der Vorsitzende des Weltärztebundes,
Frank Ulrich Montgomery, sagte Anfang De-
zember: »Wir sind kurz vor dem Kippen. Wir
bereiten uns auf die Triage vor.« Die Vereini-
gung der Intensiv- und Notfallmediziner Divi
warnte angesichts von mehr als 2300 Neu-
aufnahmen von Intensivpatienten innerhalb
einer Woche, die Lage sei »noch nie so be-
Ronald Bonss / DER SPIEGEL

drohlich und ernst wie heute« gewesen. Sie


rechneten mit »mehr als 6000 Patienten mit
Covid-19 auf den Intensivstationen« – der
bisherige Höchstwert aus dem Januar 2021
werde »mit Sicherheit deutlich überschritten«.
Die damals amtierende Kanzlerin Angela
Verlegung eines Covid-Patienten in Dresden im Dezember: »Da war richtig Druck im Kessel« Merkel sprach von einer Coronalage, »die

42 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


DEUTSCHLAND

alles übertreffen wird, was wir bisher ten wie Krebskranke eine schlechtere
hatten«. Prognose.
Erstmals flog die Luftwaffe Covid- Auch Frank Ulrich Montgomery
19-Patienten in andere Bundesländer. sieht sich nicht als Panikmacher. Die
Es gab TV-Sondersendungen, auch Warnungen hätten verhindert, dass
der SPIEGEL ging in einer Titelge- die schlimmsten Erwartungen einge-
schichte Anfang Dezember der Frage troffen seien. Montgomery spricht
nach, wie dramatisch die Lage wer- davon, dass mit Prävention kein
den könnte. Blumentopf zu gewinnen sei: Wenn
Der Ton jener Tage war ein Stak- Prävention funktioniere und der

Peter Schinzler / DER SPIEGEL


kato der Hilferufe. Knapp drei Mo- schlimmste zu erwartende Fall nicht
nate sind seitdem vergangen. Die eintritt, dann werde infrage gestellt,
dramatischsten Prognosen traten »ob das jetzt alles nötig« gewesen sei.
nicht ein, allem Anschein nach. Auch Wie wenig gefehlt hat, lässt sich
weil zum Jahreswechsel die weniger noch heute auf der Website des Univer­
krankmachende Omikron-Variante sitätsklinikums Augsburg nachlesen.
Delta immer schneller verdrängte. Bei 40 Corona-Intensivpatienten hätte
Das Meinungsforschungsinstitut er mit seinem Team den »Covid-Si- Notfallmediziner das Klinikum einen »Triage-Voralarm«
Allensbach befragt seit dem Ausbruch mulator«, ein mathematisches Mo- Wehler von der auslösen müssen. Dieser hätte der Poli-
Uniklinik Augsburg:
der Pandemie regelmäßig Menschen dell, das berechnet, wie sich das In- »Triage war ein tik 36 Stunden Zeit gegeben zu reagie-
in Deutschland. Eine Frage der De- fektionsgeschehen entwickelt. Als er realistisches Szenario ren. Irgendetwas in anderthalb Tagen
moskopen lautet: »Vermitteln die im Dezember 2021 mit dem SPIEGEL und kein Alarmismus« zu unternehmen, damit Ärzte nicht
Medien bei der Berichterstattung sprach, vermied er konkrete Progno- entscheiden müssen, wer eine lebens-
über Corona ein wirklichkeitsgetreues sen für die folgenden Wochen. rettende Behandlung bekommt und
Bild der Lage, oder ist das eher Panik- Heute sagt er, er sei im Laufe der wer nicht. 40 war die Grenze.
mache?« Am Anfang der Krise, im Pandemie vorsichtiger geworden. Am Ende November lag die Zahl –
Jahr 2020, empfanden noch 47 Pro- Anfang habe er bei Mediengesprächen trotz Verlegungen in andere Klini-
zent der Befragten das Bild als realis- noch Grafiken gezeigt, die simulierten, ken – bei 34. Anfang Dezember bei 36.
tisch. Nur 23 Prozent widersprachen. wie sich die Inzidenzen entwickeln Laut Markus Wehler war die Situ-
Zwei Jahre später hat sich der Ein- könnten. »Es gibt immer noch ein ation Anfang Dezember im Univer­
druck gewandelt – 46 Prozent emp- Missverständnis«, sagt Lehr. »Wir sa- sitätsklinikum Augsburg »kurz vor
finden inzwischen viele Artikel und gen nicht die Zukunft voraus, sondern knapp«. Es sei damals richtig gewesen,
Sendungen als Panikmache. entwickeln Modelle unter der Annah- sich auf eine Triage vorzubereiten und
Während Politiker, Medizinerin- me, dass sich nichts verändert.« Das das Thema »sehr, sehr ernst zu neh-
nen und Virologen Anfang Dezember werde aber so kaum eintreffen, da men«. Niemand habe absehen können,
von ihren Sorgen berichteten, war die Menschen ihr Verhalten anpassen. dass kurz darauf die Patientenzahlen
Sieben-Tage-Inzidenz auf dem Höhe- Seine Prognosen aus dem Dezem- sinken würden. Tagelang pendelte die
punkt. Vom 1. Dezember an ging die- ber habe er nicht zurückzunehmen. Zahl der Intensivpatienten um 35.
se zurück, nach dem 10. Dezember »Es war eine extreme Situation, und Wehler ist Leiter der Notaufnahme.
sank auch die bundesweite Zahl der es war knapp.« Im Süden und Osten Die Uniklinik ist zuständig für die
Covid-Intensivpatienten. des Landes waren Kliniken am Limit. gesamte Region Schwaben mit zwei
War es also Panikmache? »Der alleinige Blick auf die Zahlen für Millionen Menschen. 1700 Betten
Je häufiger vor einer Katastrophe ganz Deutschland verzerrte die Wahr- stellt das Klinikum in normalen Zei-
gewarnt wird, die nicht eintritt, um­so nehmung«, sagt Lehr. Deutschland sei ten. Um die damals große Zahl der
eher tun viele Bürgerinnen und Bür- an einem kritischen Punkt gewesen. Coronapatienten auf den Intensiv-
ger die Warnungen ab. Sie halten den In Rostock wurde schon Ende No- und Normalstationen adäquat behan-
Alarm für übertrieben. Wird es wirk- vember konkret gewarnt: Noch »ein Die Überlas- deln zu können, wurden rund 400
lich ernst, kann das fatale Folgen ha-
ben. Es lohnt sich deshalb zurückzu-
bis zwei Wochen«, hatte der Infek­
tiologe Emil Reisinger gesagt, dann
tung beginnt Betten und diverse Operationssäle
abgemeldet. Das frei gewordene Per-
blicken. Nicht um abzurechnen, aber könnte es auch in Mecklenburg-Vor- nicht bei sonal setzte die Klinik zur Versorgung
um mögliche Erklärungen zu bekom-
men. Denn die Pandemie ist nicht
pommern zur Triage kommen. Rei-
singer, wissenschaftlicher Vorstand
100 Prozent, der Coronapatienten ein.
Für andere Erkrankte fuhr die Kli-
vorbei. der Uniklinik Rostock, hatte deshalb sondern nik wochenlang ein Notfallprogramm.
Der SPIEGEL hat erneut mit Wis-
senschaftlern und Praktikern gespro-
einen Covid-Ethikbeirat einberufen,
der die Ärztinnen und Ärzte bei der
viel früher. Behandlungen wurden verschoben,
OPs abgesagt. Er sagt: »Die Triage
chen, die Ende November und An- schwierigen Entscheidung unterstüt- war ein absolut realistisches Szenario
fang Dezember 2021 die Lage ein- zen sollte, wer noch ein Bett be- und kein Alarmismus – wir standen
ordneten. Zwei Aspekte nannten die kommt und wer nicht. Dass es dazu mit dem Rücken an der Wand.«
Experten besonders häufig: Die dras- nicht kam, erklärt Reisinger heute vor Wann beginnt die Triage? Diese
tischen Warnungen hätten geholfen, allem mit den damals verschärften Frage stellt Michael Bauer, er leitet
das Schlimmste zu vermeiden. Und Beschränkungen für Ungeimpfte und die Klinik für Intensivmedizin am
dass den wenigsten Menschen klar sei, der »extrem großen Einsatzbereit- Uniklinikum Jena. Experten kennen
wie dramatisch die Zustände in den schaft der Mitarbeiter:innen«. Bereits Abstufungen, eine sogenannte »laten-
Krankenhäusern tatsächlich waren. Mitte Dezember sei die Belegung auf te Triage«, manchmal sprechen sie
Thorsten Lehr ist es inzwischen den Intensivstationen zurückgegan- auch von einer »weichen« oder »stil-
gewohnt, sich zu rechtfertigen. Lehr gen. Geholfen habe auch, dass plan- len« Triage. Und die habe es, laut
ist Modellierer an der Universität des bare Eingriffe verschoben wurden, SPIEGEL-Titel vom Bauer, natürlich gegeben. Etwa wenn
Saarlandes. Im März 2020 entwickelte der Preis dafür sei für etliche Patien- 4. Dezember 2021 ein Krankenwagen nicht die nächst-

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 43


DEUTSCHLAND

gelegene Klinik anfahren kann, da sie schon ganzen Bundesgebiet verteilt. »In den Hot-
ausgelastet ist. Solche Entscheidungen könn- spots war die Sättigungsgrenze erreicht«, ver-
ten ein »Todesurteil« sein, sagt der Mediziner. sichert Bauer. Teilweise lag die Quote bei
In Jena gibt es zwölf Plätze mit einer künst- 40 Prozent. Letztendlich hätte ein System das

»Das würde
lichen Lunge, der sogenannten Ecmo. Da Schlimmste verhindert, das vorher noch nie
werde ausgewählt, wer behandelt wird und zum Einsatz kam: das sogenannte Kleeblatt-
wer nicht. Mit der Ethikkommission und der konzept.

ich sogar
Rechtsabteilung der Klinik sei ein klares Vor- Entstanden ist es im Frühjahr 2020, zu Be-
gehen besprochen worden, so der Intensiv- ginn der Coronapandemie. Die Bundesländer
mediziner über die Zeit im Dezember. Be- wurden in Regionen eingeteilt, die sogenann-

beeiden«
handelt wurde, wer in der Klinik war. Patien- ten Kleeblätter. Um zu verhindern, dass Kran-
ten von außen konnten abgelehnt werden, kenhäuser überlastet sind, können Covid-­
alles rechtssicher, unter Hinweis auf die Über- Intensivpatienten innerhalb eines Kleeblatts
lastung. In der Regel schicken die kleinen verlegt werden. Sollten die Kapazitäten auch
Krankenhäuser ihre besonders kranken Pa- da ausgeschöpft sein, werden Patienten bun-
tienten in Großkliniken. Zu Spitzenzeiten desweit verlegt. ZEITGESCHICHTE  Hat der Westen
konnten diese Kranken nicht mehr aufgenom- Jan-Thorsten Gräsner leitet das Institut für
men werden. Manche starben wenig später. Rettungs- und Notfallmedizin der Uniklinik 1990 versprochen, die Nato
Niemand könne sagen, wie sich die Fälle Schleswig-Holsteins. Knapp zwei Jahre lang nicht zu erweitern? Das behauptet
in normalen Zeiten entwickelt hätten, sagt hatte er zusammen mit anderen Fachleuten Russland. Genschers Spitzen­
Bauer. das System entwickelt. »Es ist genau das ein-
Seine Antwort ist also, dass es eine Triage getreten, wofür wir das Ganze geplant ha- diplomat Frank Elbe erzählt, was
gab. Nur eine, die eine konkrete Situation ben«, sagt Gräsner heute. daran stimmt – und was nicht.
vermied: zwei Schwerkranke und nur ein ver- Anfang Dezember schlief er nur vier bis
fügbares Bett. fünf Stunden pro Nacht. Fast rund um die
Oft gebe es Missverständnisse, was die Uhr halfen er und sein Team bei der Organi- Elbe, 80, zählte zu den engsten Mitarbeitern
Auslastung der Intensivstationen betreffe, sagt sation der Transporte, um Intensivpatientin- von Außenminister Hans-Dietrich Genscher.
Bauer. Er koordiniert die Verteilung der In- nen und -patienten aus Bayern und Teilen Von 1987 bis 1992 leitete er das Ministerbüro,
tensivpatienten für Thüringen. Die Überlas- Ostdeutschlands in andere Krankenhäuser zu 1990 war er Mitglied der Bonner Delegation
tung beginne nicht bei 100 Prozent Covid- verlegen. Sie suchten freie Betten, Intensiv- bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über
Patienten, sondern viel früher. »Wir können krankenwagen, Hubschrauber, Flugzeuge. die deutsche Einheit. Bis 2005 vertrat er die
uns den Laden nicht voll legen«, sagt Bauer. Die Leute in den Krisensitzungen trugen Bundesrepublik als Botschafter in mehreren
Sobald in den sogenannten Schwerpunkt- zum Teil dieselben Klamotten wie am Vortag, Staaten, darunter Polen. Heute ist er als An-
krankenhäusern 20 Prozent Covid-Patienten erzählt er heute. Gräsner schrieb dem SPIEGEL walt tätig und soll Mandate auch aus Russland
auf der Intensivstation liegen, werden diese damals: »Wir haben keinen Grund, von Triage übernommen haben. Elbe sagt dazu, dass
innerhalb des Freistaats verlegt. Steigt die zu sprechen. Das ist in der jetzigen Sicht un- grundsätzlich seine Anwaltstätigkeit seinen
Quote auf 25 bis 35 Prozent, werden sie im verantwortlich und unnötig. Die vorbereite- Blick auf die Zeit als Diplomat nicht beein-
ten Mechanismen greifen.« Heute fühlt er sich flusse; im Übrigen dürfe er sich zu Mandanten
bestätigt. Inzwischen schläft er wieder sieben nicht äußern.
Im Krisenmodus Stunden pro Nacht.
115 Patienten hätten sie in der heißen Phase SPIEGEL: Herr Elbe, Russland und der Westen
Wie das während der Coronapandemie verlegt, erzählt Gräsner. »Da war richtig streiten seit Jahren, ob es im Rahmen der
eingeführte »Kleeblattkonzept« funktioniert
Druck im Kessel.« Ab Mitte Dezember habe deutschen Einheit eine Zusage des Westens
sich die Lage gebessert. Er vermutet, dass gegeben habe, die Nato nicht nach Osten zu
Nord Schleswig- auch die Berichterstattung eine Rolle gespielt erweitern. Was ist Ihre Erinnerung?
Holstein
Mecklenburg- habe. »Die Leute haben gesehen: Das ist rich- Elbe: Nach dem Fall der Mauer am 9. No-
Hamburg Vorpommern tig ernst.« Das, vermutet er, habe zu einem vember hatten wir Sorge, wie sich unsere
Bremen Umdenken und mehr Vorsicht geführt. Verbündeten und die anderen Staaten Euro-
Brandenburg Ost
Nieder- Berlin Aber es waren nicht nur Medien, die häu- pas zu der Entwicklung in Deutschland
sachsen
fig von der Triage schrieben. Expertinnen und stellen würden. Das war auch berechtigt.
West Sachsen-
Nordrhein- Anhalt Experten aus dem gesamten Gesundheits- Aber wir rechneten fest mit der Hilfe der
Westfalen
Sachsen wesen warnten. »Ich habe damals mit Kolle- Amerikaner. Doch dann überraschte uns
Thüringen gen aus Bayern telefoniert, die haben gesagt: US-Außenminister James Baker am 12. De-
Hessen
›Wir brauchen Hilfe, sonst muss ich bald sa- zember 1989 mit einer Rede, der zufolge die
Rheinland-
Pfalz gen: Du ja, du nein.‹ Die Situation war real, USA die Einheit zwar unterstützen würden,
Saarland der Druck war real. Die hatten zehn Betten allerdings unter der Voraussetzung, dass
Bayern für zwölf Patienten, und zehn standen noch ein geeintes Deutschland Mitglied der Nato
vor der Tür. Und wenn man dem ein Mikro bleibe.
Baden-
Süd- Württemberg hinhält – klar sagt der, was Sache ist«, so Gräs- SPIEGEL: Eine utopische Forderung?
west ner heute. Elbe: Sie brachte uns jedenfalls in eine schwie-
Süd Das Kleeblattkonzept war zuvor nie an- rige Lage, denn die Sowjets lehnten das
Die Bundesländer sind in fünf »Kleeblatt«- gewandt worden. Vor Ende November 2021 schlichtweg ab. Wir haben daher für Genscher
Regionen eingeteilt. Wenn in einem Teil des hat niemand in Deutschland gewusst, ob es einen Redeauftritt in Tutzing für den 31. Ja-
Kleeblatts kaum noch Intensivbetten frei sind, wirklich funktioniert. Auch das war eine der nuar 1990 organisiert. Sie müssen sich die
werden Patienten innerhalb dieses Kleeblatts
verlegt. Ist die gesamte Region überlastet, wird Unwägbarkeiten der vierten Welle. Situation vor Augen halten: Genscher konn-
bundesweit verlegt. Annette Großbongardt, Tobias Großekemper, te sich den amerikanischen Vorschlag nicht
Christopher Piltz, Hannes Schrader, zu eigen machen. Das hätte bei uns niemand
S Grafik Steffen Winter  n verstanden. Man hätte ihm vorgeworfen, die


44 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


UKRAINE-KRIEG DEUTSCHLAND

Einheit verspielt zu haben. Er konnte aber 1991 zunehmend darauf gedrängt, in die Nato
auch nicht sagen, ein geeintes Deutschland aufgenommen zu werden. Zunächst gab es
solle neutral werden. noch den Warschauer Pakt, und Baker und
SPIEGEL: Wie hat er das Problem gelöst? Genscher haben dann eine Zusammenarbeit
Elbe: Er hat klipp und klar gesagt, das ver- zwischen Nato und Warschauer Pakt vor-
einte Deutschland werde Mitglied der Nato geschlagen. Das sollte die Polen bremsen.
bleiben. Aber wir würden davon ausgehen, Doch bald darauf zerfiel der Warschauer
dass in der weiteren Entwicklung die Nato Pakt. Und wieder gab es eine deutsch-ame-
erklären werde, »was immer im Warschauer rikanische Initiative, die dann zum Nordat-
Pakt geschieht, eine Ausdehnung des Nato- lantischen Kooperationsrat führte. Genscher
Territoriums nach Osten, das heißt näher an hat sich so verhalten, als ob wir die geografi-
die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es sche Ausdehnung der Nato verhindern woll-
nicht geben«. ten. Da bestand auch auf der Arbeitsebene
SPIEGEL: Wie haben die Verbündeten rea­ absoluter Konsens mit dem State Department
giert? und dem Pentagon.
Elbe: Während Genscher nach Tutzing fuhr, SPIEGEL: Dann hat Wladimir Putin also recht,

Marc Darchinger / darchinger.com


flog ich nach Washington und sprach mit zwei wenn er sagt, der Westen habe die Zusagen
engen Mitarbeitern Bakers. Die Amerikaner von 1990 nicht eingehalten?
fanden den Gedanken gut und baten um ein Elbe: Die Geschichte ging ja weiter. 1997 ha-
baldiges Treffen zwischen unseren Chefs. ben Nato und Russland die Nato-Russland-
Genscher kam am nächsten Tag. Grundakte vereinbart. Darin akzeptierte
SPIEGEL: Wie lief das Treffen mit Baker? der damalige Präsident Boris Jelzin eine
Elbe: Genscher traf auf einen strahlenden ­Osterweiterung der Nato und bekam im
­Baker, der sagte, die Formel mit der Nicht- Minister Genscher, Mitarbeiter Elbe 1991
Gegenzug ein eingeschränktes Mitsprache-
ausdehnung gefalle ihm und er werde dafür recht eingeräumt. Damit war das Thema er-
sorgen, dass sie im Bündnis akzeptiert werde. Elbe: Nicht in der Form. Sie hat im Juni 1990 ledigt.
Ich sehe die beiden noch vor mir, wie sie da auf einer Tagung im schottischen Turnberry SPIEGEL: Aber Jelzin sagte damals dem US-
entspannt vor einem prasselnden Kamin in erklärt: Wir reichen der Sowjetunion »die Präsidenten Bill Clinton, er stimme dieser
der Ministeretage des State Department sit- Hand zur Freundschaft und Zusammen- Lösung nicht zu, weil er einverstanden sei,
zen. Es war das einzige Mal, dass ich Gen- arbeit«. Übrigens eine Formulierung von Kas- sondern weil er sich gezwungen fühle.
scher habe Whisky trinken sehen. trup. Elbe: Er war angesichts der ökonomischen
SPIEGEL: Manche Beobachter meinten, Gen- SPIEGEL: Sind die Sowjets auf den Genscher- Situation Russlands auf eine Zusammenarbeit
schers Vorschlag habe sich nur auf die DDR Plan in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mit dem Westen angewiesen. Aber am Ende
bezogen. zurückgekommen? hat er zugestimmt, das zählt. Bezeichnender-
Elbe: Das ist falsch. Das würde ich sogar unter Elbe: Nein, und wir auch nicht. Der Vereini- weise hat die westliche Seite bei der Aufnah-
Eid aussagen. Ich habe an der Tutzinger Rede gungsprozess nahm ja rasch an Fahrt auf, und me der baltischen Staaten in die Nato 2004
mitgearbeitet, gemeinsam mit Dieter Kastrup, wir wollten ihn freihalten von dieser Frage, die Russen nicht mehr gefragt, und die Russen
damals Politischer Direktor im Auswärtigen um ihn nicht zu erschweren. Aber außerhalb haben es auch nicht beanstandet. Kritisch
Amt. Der Vorschlag bezog sich insgesamt auf der Verhandlungen haben immer wieder wurde es erst, als die Nato 2008 Georgien
Osteuropa. westliche Politiker die Tutzing-Formel auf- und der Ukraine Mitgliedschaft in Aussicht
SPIEGEL: Auch Angehörige der damaligen US- gegriffen. Das kann man in den inzwischen stellte.
Regierung haben später gesagt, so sei es nicht zugänglichen Akten nachlesen. Als Genscher SPIEGEL: Genscher hat gesagt, völkerrechtlich
gemeint gewesen. im September 1990 den Zwei-plus-Vier-Ver- habe sich der Westen korrekt verhalten. Aber
Elbe: Es hat auf amerikanischer Seite immer trag unterzeichnet hat, waren wir überzeugt, gegen den Geist der Absprachen von 1990 sei
Leute gegeben, denen die Nato wichtiger war dass die Ausdehnung der Nato auf die DDR mit der Nato-Osterweiterung schon verstoßen
als die deutsche Einheit. beschränkt bleiben würde. worden.
SPIEGEL: Wie ging es weiter? SPIEGEL: Wenige Wochen später haben Ost Elbe: Die politische Philosophie von 1990 war
Elbe: Sowohl Baker wie auch Genscher haben und West die Charta von Paris unterzeichnet, es, einen neuen Gegensatz zwischen Ost und
Anfang Februar 1990 den Vorschlag im Kreml die ausdrücklich das Recht festgeschrieben West zu verhindern. Und Genscher hat mit
präsentiert. hat, das eigene Bündnis zu wählen. einem gewissen Unwohlsein registriert, dass
SPIEGEL: Ein deutscher Vermerk gibt Gen- Elbe: Das war eine Formulierung aus der die Nato Mitglieder aufgenommen hat, die
schers Aussage gegenüber dem sowjetischen KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975. Aus eine besonders antirussische Politik verfolg-
Außenminister Eduard Schewardnase so wie- dem Recht, über das eigene Bündnis entschei- ten und deren Nato-Mitgliedschaft vor allem
der: »Für uns stehe fest: Die Nato werde sich den zu können, folgt aber nicht die Pflicht von gegen Moskau gerichtet war.
nicht nach Osten ausdehnen.« Das gelte Bündnissen, Länder aufnehmen zu ­müssen. SPIEGEL: Russland greift in diesen Tagen die
»ganz generell«. Schewardnadse soll entgeg- SPIEGEL: Genscher trat 1992 zurück. Hat er Ukraine massiv an.
net haben, er glaube »allen Worten« Gen- sich bis dahin an die Tutzing-Formel gehalten? Elbe: Es ist eine dunkle Stunde für Europa.
schers. Elbe: Ja. Ungarn, Polen und die damals noch Der Bruch des Völkerrechts durch die russi-
Elbe: Das ist korrekt, da war ich dabei. Aus existierende Tschechoslowakei haben seit sche Seite ist nicht zu rechtfertigen. Aber
der Formulierung »ganz generell« können Sie wenn wir über die historische Entwicklung
entnehmen, dass es sich eben nicht nur um reden, müssen wir alle Seiten betrachten.
die DDR handelte. 1990 verfolgten die USA eine kluge und zu-
SPIEGEL: War Genscher berechtigt, für die rückhaltende Politik, die auch die Interessen
Nato zu sprechen? »Jelzin war auf die Moskaus im Blick hatte. Zehn Jahre später
Elbe: Das hat er ja nicht. Schauen Sie sich die Zusammenarbeit mit dem ging es darum, alleinige Supermacht zu sein.
Rede von Tutzing an. Er sagt, die Nato solle Das war von jenem Amerika, das ich mit Gen-
eine entsprechende Erklärung abgegeben. Westen angewiesen – scher 1990 erlebt habe, weit entfernt.
SPIEGEL: Und das hat die Nato nicht gemacht? und hat zugestimmt.« Interview: Klaus Wiegrefe  n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 45


D E B AT T E U K R A I N E - K R I E G

Das Ende der alten Weltordnung  Putins Angriff


auf die Ukraine beendet die Hoffnung des
Westens auf ein gemeinsames »Wir« der Menschheit.
Von Herfried Münkler

B
is zuletzt haben viele westliche die Ukraine als Nato-Gebiet zu be- von Militär. Man kann den Sturz russ-
Politiker geglaubt, sie könnten handeln, ergibt nur einen Sinn, wenn landaffiner Regierungen in Serbien,
mit einer Mischung aus Ver- man das Worst-Case-Szenario prin- Georgien und der Ukraine als Be-
handlungsangeboten und Sanktions- zipiell ausblendete und darauf ver- standteil der sich seit 1989 rasch
drohungen den russischen Präsiden- traute, die Drohung mit einem Wirt- ausbreitenden Demokratisierungs-
ten Putin von einem Großangriff auf schaftskrieg könne einen heißen wellen in Mittelost- und Osteuropa
die Ukraine abhalten. Tatsächlich hat Krieg verhindern. Das war nicht der begreifen. Aber ebenso kann man
der Westen den Russen auf diese Wei- Fall, und diese Fehlkalkulation darin auch einen Verlust von russi-
se die Möglichkeit verschafft, sich auf zwingt den Westen dazu, seine stra- schen Einflussgebieten sehen, also ein
die angekündigten Sanktionen einzu- tegischen Kalkulationen prinzipiell Schrumpfen russischer Macht, dessen
stellen, große Kapitalreserven vor zu revidieren und sich auf eine grund- Fortgang Putin nun unter allen Um-
dem Einfrieren in Sicherheit zu brin- legend andere Weltordnung einzu- ständen blockieren will. Letzten En-
gen und knappe Güter in großem Stil stellen. des geht es für ihn darum, ein Aus-
aufzukaufen. Bis zuletzt hat Putin die In den Analysen der jüngsten Ent- scheiden Russlands aus dem Kreis der
Optionsvielfalt und Eskalations­ wicklungen ist häufig davon die Rede, großen Akteure zu verhindern.
dominanz, die er sich gegenüber der wir hätten es mit einem »Kalten Krieg Als US-Präsident Barack Obama
Ukraine und dem Westen verschafft 2.0« zu tun. Historische Analogien erklärte, Russland sei nur noch eine
hatte, voll ausgenutzt und beide sind in Zeiten der Ungewissheit be- Regionalmacht, verstand man das in
einem Wechselbad aus der Hoffnung liebt, weil sie Orientierungsvorgaben Moskau als geopolitisches Resümee
auf eine Verhandlungslösung und liefern. Diese können freilich eher fortwährenden Einflussverlusts. Vom
brutaler Kriegsdrohung ausgesetzt. richtig oder ziemlich falsch sein, und Kaukasuskrieg des Jahres 2008, in
Am Donnerstag hat er dann gezeigt, bei »Kaltem Krieg 2.0« ist Letzteres dessen Folge Russland die zuvor zu
worum es ihm tatsächlich von Anfang der Fall. Nicht nur, weil wir es inzwi- Georgien gehörenden Abchasien und
an ging: um die gesamte Ukraine und schen mit einem heißen Krieg in Südossetien als unabhängige Staaten
die Beendigung ihrer politischen Europa zu tun haben. Der Kalte Krieg anerkannte, über die Intervention in
Selbstständigkeit. von 1949 bis 1989 war in Europa auf den syrischen Bürgerkrieg, die Anne-
Seit dem Tag stellt sich also nicht von beiden Seiten anerkannten Ein- xion der Krim und die Schaffung der
mehr die Frage, ob mit der wenige flussgebieten begründet. Weil klar Separatistengebiete im Donbass,
Tage zuvor verkündeten De-facto- war, dass jeder Versuch, in das Ein- dazu den Einsatz einer Söldner­truppe
Annexion der Gebiete von Luhansk flussgebiet der anderen Seite einzu- in den Kriegen Nordafrikas bis hin
und Donezk der russische Hunger dringen, sofort zu einem heißen Krieg zum Eingreifen in Kasachstan und
vorerst gesättigt sein könnte oder ob führen würde, beschränkte man sich zum Einmarsch in die Räume um
es sich dabei nur um einen ersten darauf, Oppositionsbewegungen auf ­Donezk und Luhansk zielte Putins
Schritt bei einer langfristig angeleg- der anderen Seite nur zurückhaltend Politik durchweg auf die Wieder­
ten Erweiterung der russischen Ein- und vorsichtig zu unterstützen, wohl- gewinnung alter und die Schaffung
flusszone handle. Putin hat sich durch wissend, dass diese aus eigener Kraft neuer Einflussgebiete ab. Betrachtet
den Westen nicht beeindrucken las- nicht in der Lage sein würden, die man diese lange Linie, so war es naiv
sen. Im Westen muss man sich nun Macht zu übernehmen und einen zu glauben, Donezk und Luhansk
fragen, ob nicht womöglich doch die bündnispolitischen Wechsel zu voll- hätten der Endpunkt dessen sein
Festschreibung einer dauerhaften ziehen. Das war das politische Agree- ­können.
Andreas Pein / laif

Neutralität der Ukraine, also ihre ment, auf dessen Grundlage der Kal-

N
»Finnlandisierung«, die bessere Ent- te Krieg ein kalter Krieg blieb. un ist die Herstellung und Si-
scheidung gewesen wäre, nachdem Das ist inzwischen anders: Die cherung von Einflussgebieten
man sich nicht dazu entschließen Einflussgebiete verändern sich stän- ein klassisches Instrument
konnte, die Ukraine unter den eige- Münkler, Jahrgang dig, sei es durch den Ausgang von staatlicher wie imperialer Machtpoli-
nen Schutzmantel zu nehmen und 1951, ist Professor Wahlen oder den Sturz einer Regie- tik; insofern ist es nicht überraschend,
am Institut für
auf einen russischen Angriff auf das Sozialwissenschaf-
rung, wie das bei den sogenannten dass Putin sich dieses Instruments be-
Land so zu reagieren, als handelte es ten an der Hum- Farbenrevolutionen in Belgrad, Tiflis dient; erstaunlich ist eher, dass der
sich um einen Angriff auf Nato-Ter- boldt-Universität zu und Kiew der Fall war, oder sei es Westen davon überrascht ist. Es ge-
ritorien. Es gab gute Gründe dafür, Berlin. Zuletzt durch wirtschaftliche Annäherung an hört zur historischen Erinnerung der
erschien von ihm
dass man das nicht getan hat. Beides das Buch »Marx,
eine Seite, durch wachsende Furcht Europäer, dass das Ringen um Ein-
zusammen, die Ablehnung der Finn- Wagner, Nietzsche. vor einer Bedrohung durch die ande- flussräume immer wieder zu Kriegen
landisierung und der Verzicht darauf, Welt im Umbruch«. re Seite oder gar durch den Einsatz geführt hat, die dann keineswegs auf

46 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


kunft der Ukraine; das Projekt einer
regelbasierten und wertegebundenen
Weltordnung ist damit verabschiedet
worden. Der Westen hat sich, um es
zu pointieren, auf die Sicherung sei-
nes eigenen Einflussgebiets zurück-
gezogen. Das zeigt sich in der Dislo-
zierung seiner militärischen Kräfte an
der Ostgrenze der Nato – aber keinen
Schritt darüber hinaus.

D
ie Ablösung einer globalen
Ordnung durch eine Ordnung
räumlich begrenzter Einfluss-
gebiete hat viele Gründe, und das
russische Agieren ist nur einer davon.
Eine regelgebundene und werteorien-
tierte Ordnung braucht einen Hüter,
der mithilfe von Sanktionen und Gra-
tifikationen dafür sorgt, dass diese
Ordnung auch eingehalten wird. Ein
solcher Hüter wäre im Prinzip die
Weltorganisation der Vereinten Na-
tionen gewesen, aber die war von An-

Maxim Shmakov / AP
fang an zu schwach, um diese Auf-
gabe zu übernehmen.
So traten die USA an ihre Stelle.
Abgesehen davon, dass die sich bei
der Verfolgung der Hüteraufgaben als
die beanspruchten Einflusszonen be- also Konstellationen, in denen der Kriegsdenkmal in wenig trittsicher erwiesen und mit
schränkt blieben, sondern große Tei- Gewinn des einen der Verlust eines Russland: Es war Interventionen mehr Schaden an­
naiv zu glauben,
le des Kontinents in Brand setzten. anderen ist, in Win-win-Verhältnisse Donezk und Luhansk
richteten als Nutzen stifteten, brach-
Die Verwandlung von Einfluss- in verwandelt und Konfrontation in Ko- hätten der Endpunkt te die US-amerikanische Übernahme
Pufferzonen, also die Neutralisierung operation überführt werden. Welche sein können der Hüterrolle China und Russland
des Einflusses großer Mächte auf den Vorteile das hatte, ließ sich am Bei- dazu, erst auf Distanz und dann in
sie trennenden Zwischenraum, war spiel Westeuropas darstellen. Und wo Widerstand zu dieser Weltordnung
ein Mittel zur Entschärfung der doch noch Konflikte auftauchten, zu gehen: anfangs, indem beide
Kriegsgefahr. Als Stabilisierungsele- sollten sie durch internationale Mächte auf ihrer Souveränität bestan-
ment spielte das auch in der Zeit des Schiedsgerichte geklärt werden. In den und sich jede Einmischung in ihre
Kalten Krieges – komplementär zur dieser »neuen Weltordnung«, die in- »inneren Angelegenheiten« verbaten,
erwähnten Festschreibung von Ein- des ein Work in progress blieb, spiel- und dann durch die Schaffung von
flusszonen – eine wichtige Rolle: in ten Nichtregierungsorganisationen eigenen Einflusszonen – China unter
Skandinavien mit Finnland und als Beobachter der Werteeinhaltung Einsatz von wirtschaftlicher Macht
Schweden und in Südosteuropa mit eine beachtliche Rolle; sie vor allem bei der Strategie der »neuen Seiden-
Österreich und Jugoslawien. Aber mit waren es, die das gemeinsame »Wir« straßen«, Russland mit militärischer
dem Ende der Einflusszonen zwi- der Menschheit gegenüber den spezi- Macht im Hinblick auf frühere Inte­
schen 1989 und 1991 lösten sich auch fischen Interessen der Nationalstaa- ressengebiete. Unter­dessen verab-
diese Pufferzonen auf, und es setzte ten ins Spiel brachten. schiedeten sich die USA in der Ära
sich die Vorstellung durch, jedes Land Dieses große, auf die Bearbeitung Trump unter der Parole »America
könne nach dem Mehrheitswillen der gemeinsamer Menschheitsaufgaben first« von der Hüterrolle. Damit wa-
Bevölkerung frei über seine Mitglied- abzielende Projekt ist gescheitert. ren die Regeln und Werte der neuen
schaft in einem Verteidigungsbündnis Der Angriff Russlands auf die Ukrai- Weltordnung ohne Schutz und
oder einer Wirtschaftsgemeinschaft ne ist das Ausrufezeichen hinter die- Schirm. Putin hat das in dem ihm
entscheiden. sem Scheitern. Ein anderes, vielleicht eigenen Zynismus offengelegt.
Dass diese Beweglichkeit Unruhe
und Instabilität nach sich ziehen wür-
noch größeres Ausrufezeichen ist frei-
lich die resignative Unentschlossen-
Die neue Was wir jetzt erleben, ist eine Ord-
nung, wie wir sie aus der europäi-
de, war absehbar. Im Westen setzte heit des Westens gegenüber einem Ordnung? Ein schen Geschichte kennen: ein perma-
man jedoch darauf, dass die alte Idee Russland, das alle Regeln übertritt permanenter nenter Kampf um Einflussgebiete und
von Einflusszonen in einer regelba- und sämtliche Werte missachtet. Der die daraus resultierende ständige
sierten und auf gemeinsamen Werten Westen war eben nicht bereit, einen Kampf um Furcht, es könnte bei dieser Konkur-
begründeten Weltordnung an Bedeu- großen Krieg zu riskieren, um die Be- Einfluss­ renz zu einem großen Krieg kommen.
tung verlieren würde. Dabei stützte achtung der Regeln und den Respekt gebiete und Der Westen tut gut daran, sich darauf
man sich auf die Erfahrungen, die vor den Werten zu erzwingen. Dieses strategisch einzustellen, und zwar so,
Westeuropa mit dem Projekt wirt- Zurückweichen hatte in Anbetracht die ständige dass er in Zukunft mehr Optionen bei
schaftlicher Integration gemacht hat- der damit verbundenen Eskalations- Furcht vor der Friedenserhaltung hat als nur das
te, und setzte darauf, dass sich derlei
auch im globalen Rahmen realisieren
risiken gute Gründe. Tatsächlich ist
hier aber über mehr entschieden wor-
einem großen Zurückweichen vor jemandem, der
aggressiv auftritt, offen mit Krieg
lasse. So sollten Nullsummenspiele, den als nur über die politische Zu- Krieg. droht und ihn auch beginnt.  n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 47


REPORTER EXTREMSPORT

»Wie lange zittern


Sie, Herr Bieber?«
SPIEGEL: Sie sind neulich für
einen Rekordversuch 36 Minu-
ten lang durch den vier Grad
kalten Bodensee geschwom-
men. Warum macht man das?
Bieber: Ich schwimme jeden
Tag im Bodensee. Der Effekt
danach ist cool. Man fühlt
sich, als hätte man den Mount
Everest bestiegen.
SPIEGEL: Die Eismeile gilt als
Königsdisziplin im Eisschwim-
men. Wie haben Sie sich darauf
vorbereitet?
Bieber: Ich habe in diesem
Winter zum Beispiel zwölf
Kilogramm zugenommen.
Das Fett schützt meine Organe.
Wir nennen es Biopren statt
Neopren.
SPIEGEL: Und was ist mit der
Haut? Schmieren Sie die mit
irgendetwas ein?
Bieber: Nein. Erlaubt sind nur
Badehose, Badekappe,
Schwimmbrille, eine Boje und
Ohrstöpsel, um den Gehörgang
zu schützen.
SPIEGEL: Und bestimmte andere
Körperteile muss man nicht

Wohnungsnot, 1989
schützen?
Bieber: Das hält das Gemächt
aus. Kälte ist in dem Punkt
auch weniger problematisch als
Wärme.
FAMILIENALBUM Jens Westerfeld, 53, aus Berlin SPIEGEL: Es gibt ein Video, da
kommen Sie aus dem Wasser

D as Foto wurde im Frühjahr 1989 aufgenom-


men und zeigt mich beim Kauf einer Vor-
abendausgabe der »Berliner Morgenpost«
vom Samstag. Sie enthielt damals einen um-
einer der wenigen Telefonzellen vor dem Bahn-
hof Zoo wartete. Auf dem Foto bin ich gerade mit
der druckfrischen Zeitung in der Hand auf dem
Weg zu ihm in die Telefonzelle, die er seit gerau-
und zittern total. Wie lange
dauert das an?
Bieber: 30 Minuten etwa. Durch
das Zittern der Muskeln er-
fangreichen Immobilienteil mit Mietwohnungs- mer Zeit besetzt hielt, indem er so tat, als würde wärmt sich der Körper wieder.
anzeigen für den umkämpften West-Berliner er telefonieren. Oftmals waren die Wohnungen SPIEGEL: Was raten Sie
Wohnungsmarkt. Ich war 21 Jahre alt, Student trotzdem bereits vergeben; es kursierte das Menschen, die sich von Ihnen
der Ethnologie, und gemeinsam mit meinem Gerücht, die Schriftsetzer des Axel-Springer- inspiriert fühlen?
Studienfreund Friedhelm suchte ich eine bezahl- Verlags würden die besten Anzeigen vorab an Bieber: Was ich mache, ist
bare Mietwohnung, in der wir eine Zweier-WG Freunde weitergeben. Trotz allem fanden wir Extremsport. Da kann man
gründen wollten. nach ein paar Wochen zwei Zimmer zur Unter- auch nicht mehr von einem
Das Foto zeigt, wie mühsam die Wohnungs- miete in einer Wilmersdorfer Altbauwohnung, positiven gesundheitlichen
suche damals war, bevor wir das Internet hatten hohe Decken, Stuck, unten eine Eckkneipe. Effekt reden. Wer mal ein
und Mobiltelefone. Die Samstagsausgabe der Heute lebe ich noch immer in Berlin, in einem wenig Eisbaden möchte, sollte
»Morgenpost« konnte man bereits freitags ab 22 Reihenhaus in Zehlendorf, meine Kinder sind als Erstes zum Arzt. Wenn
Uhr am Bahnhof Zoo kaufen. Jedes Mal bildete schon groß, 20 und 23 Jahre alt. Als sie kürzlich man gesund und das Herz okay
sich eine lange Schlange von Wohnungssuchen- nach Wohnungen suchten, taten sie das natürlich ist, kann man sich langsam
den. Sie warteten auf den Lieferwagen, der direkt im Internet auf den entsprechenden Portalen, rantasten, mal so 30 Sekunden
von der Druckerei in Kreuzberg kam. Die noch sitzend, im Warmen. Ich fragte sie, ob sie auch am Uferrand und immer in
warmen Zeitungen wurden aus der Schiebetür schon mal an der Uni am Schwarzen Brett ge- Begleitung. WIN
heraus verkauft. Der West-Berliner Wohnungs- schaut hätten. Sie sahen mich an, als stammte ich
markt war vor dem Mauerfall so angespannt, aus der Steinzeit. Paul Bieber, 38, aus Röthenbach
dass man unbedingt diesen Zeitvorsprung nutzen Aufgezeichnet von Barbara Hardinghaus ist in diesem Winter seine
wollte. Auf dem Foto nicht zu sehen ist Fried- sechste Eismeile geschwommen
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre
helm, der bereits mit einer Rolle Groschen, einem Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: und hält damit den deutschen
Textmarker und einer Taschenlampe bewaffnet in familienalbum@spiegel.de Rekord im Eisschwimmen.

48 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


alle zwei Wochen zu ihr kommen.
Mitglied der Kartengruppe war früher

Sie nennt es »Freiheit«


auch Wilhelm Wieben, aber auch
er lebt nicht mehr. »Die meisten mei-
ner Freunde sind gestorben«, sagt
Berghoff.
In der Kartengruppe von früher
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie die frühere »Tagesschau«-Sprecherin habe es dann irgendwann nur noch
Dagmar Berghoff ihr Leben im Alter gestaltet sie und Monika gegeben. Bis Berghoff
in einem Zug nach Berlin saß, auf dem
Weg zu einer Modenschau, und sich

F Für viele ist


ebruar, grauer Himmel, Regen, Nach dem Tod ihres Mannes habe gut mit einem Mann im Abteil unter-
nicht gerade Gute-Laune-Wet- das mit der Akzeptanz gedauert, sie hielt. Sie blieben in Kontakt, er und
ter, aber Dagmar Berghoff sitzt verliebte sich aber sogar noch mal, das ARD-Studio sein Partner, beide etwa 60, spielen
in roter Pelzweste auf ihrem rosafar- kurz. Bis sie wieder allein war. so etwas wie jetzt mit, das Spiel heißt »Phase 10«.
benen Samtsofa, zündet sich eine Zi-
garette an, sagt zufrieden: »Ich bin
Dagmar Berghoff sagt, sie sei in
jüngeren Jahren häufiger allein ge-
eine Heimat Sie feiern Silvester zusammen und
gehen ab und zu in ein schönes Res-
generell nicht wetterabhängig«, und wesen. Das helfe. Es klingt, als wäre in der Ver- taurant.
zieht einmal durch. Alleinsein ein Sport, in dem man gangenheit. Den Kontakt zu ihren »Tages-
Sie spricht ruhig, präzise, mit der besser wird, je mehr man trainiert. In schau«-Kollegen hält sie, mit Jo Brau-
tiefen Stimme, die man aus dem Fern- Baden-Baden lebte sie allein bis zu ner mailt sie regelmäßig oder trifft ihn
sehen kennt, als sie noch die erste ihrem 34. Lebensjahr, wohnte dann im Theater. Sie ruft zum Geburtstag
»Tagesschau«-Sprecherin war. Ihr in Hamburg mit einem Mann zusam- Jan Hofer an. Sie hat nach der letzten
letzter Dienst-Tag war vor 22 Jahren. men. Bis sie 43 wurde, sich trennte, »Tagesschau« noch lange fürs Ra-
Sie ist 79 Jahre alt mittlerweile, trägt wieder allein klarkam, und schließlich dio gearbeitet und als Schirmherrin
die Lippen rot, sagt noch »Eisenbahn- traf sie Peter. für das Kinderhilfswerk Terre des
fahrt« und trinkt »Irish Coffee«. Sie Sie stehe nun morgens um acht Hommes. Für das Israelitische Kran-
lebt in einem Klinkerbau in Hamburg- Uhr auf oder um zehn Uhr, ganz wie kenhaus in Hamburg arbeitet sie noch
Winterhude, im zweiten Stock, drei sie möchte, sagt Berghoff. Sie steige immer ehrenamtlich. »Das ist wich-
Zimmer, Küche, Bad. Vor dem Pa- dann im Bademantel in den Fahrstuhl tig«, sagt sie. Etwas zu machen. Ter-
noramafenster liegt ein Alsterkanal, und hole die Zeitung. Trinkt Kaffee, mine zu haben, Struktur. Dabei könn-
eine Möwe kreuzt. liest Zeitung, in jedem Zimmer steht te sie sich einfach ausruhen.
Es soll bei diesem Gespräch um ein Aschenbecher. Sie räumt auf, um Dagmar Berghoff hat viel mehr er-
Männer gehen und um das Alleinsein sich zu bewegen, trägt manchmal lebt als nur die »Tagesschau«, früher
im Alter. Die »Bunte« schrieb, Dag- auch bis mittags noch den Bade- hat sie das »ARD Wunschkonzert«
mar Berghoff wolle keinen Mann mantel, sie nennt es »Freiheit«. moderiert, Talkshows, die Auswan-
mehr. »Klingt erst mal verbittert«, Sie spielt gern am Computer, »Le- derersendung »Heimat in der Ferne«.
sagt sie. Aber das sei sie gar nicht. gends of Solitaire«, »Cradle of Per- Sie hat die Welt gesehen, war in der
»Als Single fühle ich mich wohl. Ich sia«, »Jewel Master«, schaut nach Südsee, in Singapur, in Nashville. Sie
wohne schön, bin gesund bis auf ein Mails, fährt zum Einkaufen von ihrer hat zwei Bambis gewonnen und die
paar Zipperlein.« Ihr einziges Pro- Tiefgarage in die Tiefgarage des Ein- Goldene Kamera.
blem: Sie sei kleiner geworden, schon kaufszentrums. Sieht sich ab 17 Uhr In den Wochen vor Weihnachten
Berghoff an ihrem
vier Zentimeter, und muss ihre Hosen die »Tagesschau« an, die neuen Kol- Schreibtisch,
2021 fuhr sie über die Dörfer in
zum Kürzen bringen. legen. Schaut die Telenovela »Rote Screenshot von Norddeutschland und las in Senioren-
Sie beginnt zu erzählen, von ihrer Rosen«, hat ihre Kartenfreunde, die Bunte.de heimen Weihnachtsgeschichten vor,
großen Liebe, einem Arzt, Peter eine Agentur hatte Berghoff an-
Matthaes. Auf der Klappe des Se- gefragt.
kretärs steht ein Foto von den beiden, Sie stellte fest, dass die älteren
oval gerahmt, in Ägypten aufgenom- Menschen schnell wegdämmerten.
men, ihr Lieblingsbild. 20 Jahre lang Sie änderte das Programm und er-
waren sie verheiratet, bis er krank zählte von der »Tagesschau«, der
wurde, 2001 an Bauchspeichel- Kleidung dort, dem Teleprompter
drüsenkrebs starb und sie wieder al- und dem Studio, und alle verließen
lein war. den Raum ein wenig glücklicher, viel-
Frauen leben statistisch gesehen leicht weil das ARD-Studio etwas ist,
länger als ihre Männer, rund 1,1 Mil- das alle gut kennen von früher. Eine
lionen Witwer gibt es in Deutschland, Heimat in der Vergangenheit.
Andreas Costanzo / BILD

aber beinahe 5 Millionen Witwen, Eigentlich langweilt sich Dagmar


von denen manche nach dem Tod des Berghoff nicht mal nachts. Wenn sie
Partners das erste Mal in ihrem Leben nicht schlafen kann, läuft sie über den
allein sind und lernen müssen, das hellen Teppichboden in ihre kleine
auszuhalten. Küche, kocht einen Kaffee, schaut fern
Schon aus der Logik ergebe sich, und wartet, bis sie wieder müde wird.
dass Frauen im Alter häufiger ohne Noch Träume?
Männer klarkommen müssten, sagt Sie schaut kurz hoch, macht eine
Dagmar Berghoff, jeder Witwer sei Pause und sagt ganz ruhig: »Es wäre
gleich wieder vergeben. »Und das ist etwas spät dafür.«
einfach so.« Barbara Hardinghaus n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 49


REPORTER UKRAINE-KRIEG

Der Hausmeister von Kiew


HEIMAT   Wjatscheslaw floh vor acht Jahren aus einer Bergarbeiterstadt im Donbass, heute lebt er in der
ukrainischen Hauptstadt. Er hat sich vorbereitet, lernte schießen im Wald, sicherte einen Hochhausbunker
für 1500 Menschen. Und dann kam der Krieg zu ihm. Von Jonathan Stock (Text) und Maxim Dondyuk (Fotos)

Zivilist Wjatscheslaw bei Kampfübungen im Kiewer Wald

50 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


A
m Freitag bevor Putins Raketen sicht, will seinen vollen Namen nicht bis zum Angriff den ganzen Tag zu
RUSSLAND
in seiner Stadt einschlagen und in der Zeitung lesen. Er hat in den hören, viele solcher Hochhäuser ent­
russische Panzer die Grenze Separatistengebieten im Osten noch moskautreue stehen gerade am Stadtrand, jede
überqueren, steht Wjatscheslaw auf Familie, die er schützen möchte. Separatisten- Wohnung ist belegt. Für 50 Quadrat­
gebiete
einem Parkplatz am Rande Kiews, Wenn man fragt, was er mache, sagt meter zahlen Familien etwa 300 Euro
sein Funkgerät hat er umklammert, er, er sei Chefingenieur. In der Tasche Kiew
Miete, viel Geld bei einem Durch­
die Augen nach Osten gerichtet. Dort seiner Winterjacke trägt er Visiten­ UKRAINE schnittslohn in Kiew von 600 Euro.
steht ein Taubenstall. Acht Vögel karten, auf denen »Direktor« steht. In Wjatsche­slaws Haus wohnen nor­
­hocken darin, sie lassen die Köpfe In Deutschland wäre er wahrschein­ male Leute, sagt er, Leute, die sich an
hängen. Wjatscheslaw betrachtet sie lich ein Hausmeister und mit der die Regeln halten. Sie sollen keine
eine Weile, dann sagt er: »Die sind Übersetzung des Begriffs, dem Meis­ von Russland fremden Parkplätze belegen und ihre
schon so lange eingesperrt, die wissen ter eines Hauses also, kann sich Wja­ annektierte Krim Zigarettenstummel nicht liegen lassen.
wahrscheinlich gar nicht mehr, wie tscheslaw anfreunden. Er hat zwei Das ist ihm wichtig.
man fliegt.« Telefone. Jeder kenne ihn, sagt er, 500 km Der Direktor der Sicherheits­be­
Wjatscheslaw, 33 Jahre alt, Vater, und wer den Regeln folge, der habe S Karte: Open Street Map hörde ruft an, er verspätet sich. Wja­


ein gutmütiger Mann mit breitem Ge­ auch nichts zu befürchten. Zu seinen tscheslaw wird unruhig, er will den
Aufgaben gehört es normalerweise, Journalisten vom SPIEGEL, die zu
den Boiler des großen Wohnblocks Besuch gekommen sind, jetzt schon
hinter ihm zu warten und flackernde den Schutzraum zeigen, an dem er
Glühbirnen auszutauschen. Heute so lange gearbeitet hat. Er zeigt auf
aber ist seine Aufgabe, sich auf den ein Schild vor ein paar aufgestapel­
Krieg vorzubereiten. ten Pflastersteinen. Auf dem Schild
Aus dem Kindergarten des Hauses steht: »Stimmungsvolles Fitness­
spaziert eine Gruppe Mädchen he­ studio für Erwachsene und kleine
raus in den kalten Wind Kiews. Sie Freunde«. Dahinter befindet sich der
singen ein englisches Kinderlied, die Schutzraum.
Erzieherin spielt es ihnen auf dem Tagsüber werden dort Kurse für
Handy vor. Wjatscheslaw winkt ihnen Poledance angeboten, Gewichthe­
zu und vergräbt dann die Hände tie­ ben und Yoga, erklärt Wjatsche­slaw.
fer in den Taschen seiner Winterjacke. Als er die Stufen hinuntergeht und
Er wartet auf die Inspektion, sagt er. die schwere Tür zum Keller öffnet,
Der Direktor der städtischen Sicher­ sieht man dahinter drei Frauen auf
heitsbehörde wollte heute den Keller Sportmatten, die gerade den Son­
des Wohnblocks kontrollieren. Bei nengruß machen. Wjatscheslaw
einem Luftangriff werden die Bewoh­ führt schnell ein Zimmer weiter.
ner des Hauses versuchen, sich dort­ 300 Quadratmeter ist das Kellerge­
hin zu retten. schoss groß, erklärt er. Im Fall des
Wjatscheslaws Hochhaus ist ein Angriffs müssten 1500 Menschen
76 Meter hoher Block aus Beton an hier Platz finden, das wären fünf
der Stadtgrenze, direkt an der sechs­ Menschen auf einen Qua­dratmeter,
spurigen Hauptstraße, die Kiew mit stehend, über Stunden.
dem Rest des Landes verbindet. Im Der Direktor der städtischen Si­
Falle der Einkesselung liegt er an der cherheitsbehörde kommt herein,
Front. Wjatscheslaw hat in den ver­ schaut sich kurz um und nickt zufrie­
gangenen Tagen Kanister voller Was­ den. »Dieser Schutzraum gehört zu
ser in den Fahrradkeller geschleppt, den besten der Stadt«, sagt er und
einen Generator besorgt, falls der schüttelt Wjatscheslaw die Hand. Der
Strom ausfällt, er hat den Müll weg­ Direktor ist rot im Gesicht, er wirkt
geräumt, damit niemand bei der müde, bei der Frage nach seinem
Flucht stolpert, die Heizung über­ Schlaf lacht er kurz. In den letzten
prüft, damit niemand friert, wenn der Wochen mussten seine Mitarbeiter
Angriff beginnt. Und er hat dafür ge­ Hunderte Schutzräume inspizieren
sorgt, dass neue Schilder an den und zusätzlich die Evakuierung der
Wänden hängen, damit jeder weiß, Stadt vorbereiten.
wohin er laufen muss, wenn die Sire­ Jeder in der Stadt weiß, dass Pu­
nen ertönen. Aber wird das alles aus­ tins Armee das Herz des Landes be­
reichen? droht, den Sitz des Präsidenten und
In seiner Verantwortung liegen der militärischen Führung. Schon seit
510 Wohnungen und 1500 Menschen, Wochen ist das Szenario bekannt,
Babys, Frauen, Männer, Rollstuhlfah­ auch wenn es die meisten immer noch
rer, Greise, ein Kindergarten, ein Ge­ nicht glauben können: Russische
mischtwarenladen, ein Spielplatz.
Das Problem Truppen greifen aus Belarus und aus
Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL

Wenn es losgeht, fragt sich Wjatsche­ Russland die Hauptstadt in einer Zan­
slaw, wird er es dann schaffen, das ist – Russland genbewegung an, unterstützt von
Richtige zu tun? weiß genau, Raketenbeschuss und Luftangrif­fen.
Sein Wohnblock liegt auf der rech­ Sobald Kiew umzingelt ist, sind alle
ten Seite des Flusses Dnjepr, im Stadt­ wo die Bunker Nachschubrouten abgeschnitten.
teil Holosijiw. Der Baulärm ist hier ­stehen. Wjatsches­­law sagt dazu das, was fast

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 51


REPORTER UKRAINE-KRIEG
Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL

Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL


Schutzraum für Bürger, Krankenwagen für den Verwundetentransport: Menschen, die sich einmal nahe waren, kämpfen nun gegeneinander

alle in der Stadt sagen, die man fragt: »Wir Menschen, die sich einmal nahe waren, kämp- Ordnung. Alles wird wieder gut. Wjatsche­­
leben seit acht Jahren im Krieg mit Russland. fen nun gegeneinander. slaw aber glaubte nicht daran. Und er wollte
Wir sind vorbereitet.« Am Abend kommt Wjatscheslaw in das auch nicht zu Russland gehören.
Die letzten echten Bunker, erzählt der Di- Café seines Hauses, um seine Geschichte zu Seine Firma wurde ins ukrainische Char-
rektor, wurden in Kiew noch zu Sowjetzeiten erzählen. Er legt sein Funkgerät auf den Tisch, kiw verlegt. Wjatscheslaw packte an einem
Mitte der Achtzigerjahre gebaut, sie waren zieht seine Jacke aus und zeigt sein Handy. Tag im Juni seinen Laptop und ein paar Kla-
für den Kalten Krieg gedacht und sollten »Habt ihr die Nachrichten gesehen?«, fragt er. motten ein und fuhr, so erzählt er, mit dem
einem Atomschlag standhalten. Nur zehn Gerade hat ein Mann, der sich als Präsident letzten Zug aus Antrazyt ab, um weiter Geld
Prozent der Bevölkerung hätten in ihnen der Volksrepublik Luhansk ausgibt, dazu auf- für seine Familie zu verdienen. Am Bahnhof
Platz gefunden: hauptsächlich Beamte der gerufen, die Bewohner der Region nach Russ- pöbelten die Kosaken ihn und die Mitrei­
Regierung. Das Problem mit diesen Bunkern land zu evakuieren. Es ist Wja­tscheslaws Hei- senden an: »Wo fahrt ihr hin, ihr Schweine?
ist, dass Russland genau weiß, wo sie stehen. mat. Der Präsident ist ein Mann, den Wja­ Warum haut ihr ab? Wir sind hier, um euch
Genug Zeit, um neue, echte Bunker zu bauen, tscheslaw nicht kennt und den er verachtet, zu beschützen.« Warum beleidigen die uns,
die einem Raketenangriff standhalten könn- der aber nun über das Schicksal seiner Fami- fragte sich Wja­tscheslaw. In ein paar Wochen,
ten, gibt es nicht mehr. lie bestimmen kann. sagte er seiner Frau, sei der Spuk vorbei. Das
Deshalb sind Hausbesitzer angewiesen Wjatscheslaw ist in Antrazyt geboren, ist jetzt acht Jahre her.
worden, selbst vorzusorgen. Die knapp 4500 einer Bergarbeiterstadt im Osten der Ukrai- Er habe alles versucht, sagte Wjatscheslaw,
provisorischen Schutzräume, die in den ver- ne, kurz vor der russischen Grenze. Sie ist und hebt hilflos die Hände. Er habe seine
gangenen Jahren entstanden sind, liegen nicht benannt nach der besten und härtesten Frau wieder und wieder angerufen und ihr
in zehn Meter Tiefe, haben keine meterdicken ­Kohle, die es gibt. Er erinnert sich an die gesagt, er könne sie und den Sohn holen, er
Betonwände, Luftfilter oder Feldbetten. Es Werk­sirene, die jeden Morgen ertönte, an habe gute Arbeit gefunden. Aber seine Frau
sind ausgeräumte Fahrradkeller, U-Bahn-Sta- den Geruch der brennenden Feuer, an den wollte nicht kommen. Sie habe ihre Familie
tionen, Parkhäuser. Einer ist auch in einem Ruß auf der Haut, an den Geschmack von dort, sagte sie. Antrazyt sei ihre Heimat.
Stripklub. Schmalz auf dem Brot. Sein Großvater hat Auch seine Eltern wollten nicht kommen, sie
In Kiew, sagt der Direktor, wohnen offi- für die Minen gearbeitet, sein Vater hat für seien zu alt für den Umzug, meinten sie, das
ziell 3 Millionen Menschen, aber vermutlich die Minen gearbeitet. Wjatscheslaw wollte lohne nicht mehr.
seien es eher 4 Millionen. Sie haben Platz in mehr, raus aus den Minen, und er fing an, in Seine Freunde sagten, sie glaubten nicht
den Bunkern für 2,8 Millionen Menschen. einem Geschäft Pumpen zu verkaufen. Dort an Arbeit in der Ukraine, im russischen
Was ist also mit den restlichen 1,2 Millionen lernte er seine Frau kennen. Er heiratete sie Staatsfernsehen würden sie andere Bilder
Menschen? Der Direktor zuckt die Schultern. und bekam sein erstes Kind. Er ging mit ihm sehen. Viele von ihnen, sagt Wjatscheslaw,
»Wir gehen davon aus, dass sie fliehen.« Er ­spazieren, an den Abraumhalden der Stadt, seien immer noch arbeitslos. Eine neue
selbst und seine Leute wären die Letzten, die an der Statue des Bergarbeiters, der den Grenze aus Stein und Draht entstand lang-
die Stadt verlassen würden. Wenn sie es Kohle­brocken stemmt. Eigentlich, sagt er, sam um seine alte Heimat, Männer mit Waf-
schafften. Dann verabschiedet er sich. Wja­ war alles gut. fen stellten sich vor die wenigen Übergänge,
tscheslaw bietet noch eine Führung zur Hei- Doch 2014 kamen Kosaken in Tarnuniform und wenn Wjatscheslaw hinfuhr, dann frag-
zungsanlage an. in den Ort, brachten Granatwerfer und Flug- ten ihn Männer, die er nicht kannte, was er
Der Krieg legte sich bisher über den Alltag abwehrraketen mit, hissten auf dem Rathaus eigentlich in seiner Heimatstadt wolle. Wja­
wie eine Decke, unsichtbar, aber immer prä- die russische Flagge und rekrutierten Mit- tscheslaw blieb nichts anderes übrig, als sei-
sent. Es war leicht, ihn zu vergessen oder ihn glieder für die lokale Bürgerwehr. Seine nen Sohn über Skype aufwachsen zu sehen.
zu verdrängen. Doch mehr als 13 000 Men- Freunde redeten davon, dass sie gern wieder Auf dem kleinen Bildschirm konnte er ver-
schen sind in diesem Krieg, der im Osten des zu Russland gehören würden. Dort würde es folgen, wie sein Sohn sprechen lernte, Ge-
Landes seit 2014 geführt wird, bereits gestor- Arbeit in den Bergwerken geben, wie zu Sow­ burtstage feierte und immer wieder fragte,
ben, von Scharfschützen erschossen, getrof- jetzeiten, als die Lenin-Statue im Zentrum wann sein Vater wiederkomme. Heute ist er
fen von Artilleriegeschossen und Granatsplit- der Stadt noch etwas bedeutete. Seine Eltern neun Jahre alt.
tern. Noch mehr Menschen haben um Freun- glaubten, sie würden dann eine höhere Ren- Wenn Wjatscheslaw über seinen Sohn
de und Familie trauern müssen. Sie haben te bekommen. Vielleicht war es das Verspre- spricht, wird seine Stimme leise. Beim letz-
ihre Arbeit verloren, sind weggezogen oder chen der Vergangenheit, das die Menschen ten Gespräch, sagt Wjatscheslaw, habe der
geflohen. Und noch etwas ist geschehen: um Wjatscheslaw faszinierte: Alles hat seine ihn gefragt, warum die Ukraine sie angreifen

52 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL

Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL


Freiwillige bei Arbeit an Tarnnetz, Hausmeister Wjatscheslaw: Der Krieg legt sich über den Alltag wie eine DeckeWjatscheslaw

wolle. Aber das wollen wir doch gar nicht, Wjatscheslaw hält ein Holzgewehr in der genaue Visieren über Kimme und Korn, das
habe Wjatscheslaw geantwortet. Da habe Hand, er trainiert heute das Töten. Betätigen des Abzugs, das Aushalten des
seine Frau das Gespräch abgebrochen. Er hat entschieden, sich der Bürgerwehr Rückstoßes. Aber er mache es nicht gern, sagt
Wjatsche­­slaw zieht die Schultern hoch und seines Stadtteils anzuschließen, der soge­ er, außerdem tun ihm die Knie weh. Er möch­
sagt, es fühle sich an, als wäre seinem Sohn nannten Teroborona. Sie treffen sich jeden te wieder zurück nach Hause, noch ein You­
das Gehirn gewaschen worden. Er erkenne Samstag zum Trainieren, bringen Kalaschni­ Tube-Video über Pumpen angucken. Seine
ihn nicht mehr wieder. Er hoffe, wenn sein kows aus den Sechzigerjahren mit, üben, Mama, sagt er, meinte, es müsse an der Front
Sohn 18 Jahre alt sei, könne er ihn holen und Wunden zu verbinden und sich anzupirschen. Soldaten geben, aber es müsse auch Leute
ihm alles erklären. Er hoffe, ihn zu finden, Ein paar kommen mit Einkaufs­taschen oder geben, die im Hintergrund arbeiten. Und er
wenn er nach Russland evakuiert wird, nicht Knieschützern von der Baustelle. Die Ein­ sei gern Hausmeister.
dass er irgendwo in Sibirien landet. Der Jun­ heiten hätten sich, sagt der Kommandant, Ihr Ausbilder ruft: »Ihr müsst lernen, wie
ge könnte dann mit ihm in die Ukraine kom­ nach dem Vorbild der Schweiz oder Israels der Feind zu denken!« Sie sollen sich auf
men, in sein neues Zuhause. Wenn er dann formiert. Wenn der Russe angreife, dann wer­ Kommando im Kreis drehen, durch den
noch will, wenn er seinen Vater dann noch de er vermutlich den Staudamm oder die Wald schleichen und versuchen, sich dabei
kennt. Aber richtig überzeugt klingt Wja­ Brücken über den Fluss sprengen, um die gegenseitig zu decken. Erst nach einer Wei­
tscheslaw nicht. Stadt zu teilen, vielleicht versuche er auch le ist er mit der Gruppe zufrieden, aber da
Er habe beschlossen, sein Leben zu teilen, einen Angriff auf ein Atomkraftwerk, um ist Wja­tscheslaw schon auf dem Weg nach
sagt er, in die Zeit vor und nach dem Krieg. Panik zu verbreiten. Hause.
Er strafft seinen Körper, blickt wieder auf sein Jeder Bewohner solle dann eine Waffe zu Ihor ist auch bei der Truppe, auch er
Funkgerät. Irgendwie habe er auch Glück ge­ Hause haben, um sich verteidigen zu können. Hausmeister aus einem benachbarten Wohn­
habt, sagt er. Er hat mit nichts angefangen, und Das Ziel sei ein ganzes Volk als Armee. Haus­ block. Er war im Krieg, sagt er, zeigt seine
sich nach oben gearbeitet. Sein Büro liegt frauen sind heute in den Wald gekommen; Narbe auf der Stirn und ein Foto der schwe­
im 25. Stock in Kiew, in diesem Wohnblock. Er eine Opernsängerin ist dabei, Lehrer, Bau­ ren Ver­letzung von den Kämpfen bei De­
fühlt sich hier ernst genommen, er hat auch arbeiter, Soziologen. Die Opernsängerin sagt, balzewe, einer der heftigsten Schlachten
schon ein paar Ideen umgesetzt, beispiels­ sie singe am liebsten Mozart, aber seit ihr des Krieges, bei denen mehrere Tausend
weise ein neues Steuerungssystem für den Bruder von den Russen erschossen worden ­uk­rainische ­Soldaten eingekesselt wurden.
Fahrstuhl oder bessere Sicherheitskameras. sei, will sie auch kämpfen. Die Soziologin An seiner Uniform hängt eine Tapferkeits­
Vielleicht könnte er wirklich einmal Direktor sagt, nach der Analyse der Nachrichtenlage medaille.
werden. sei diese Ausbildung eine logische Konse­ »Der Krieg«, sagt er, »hat Konsequenzen.«
Mittlerweile, das erzählten ihm seine El­ quenz. Der Lehrer sagt, er habe sich schon Als der Ausbilder ruft, bleibt Ihor dennoch
tern, habe seine Frau einen neuen Mann. Er immer sehr für Waffen interessiert, für deut­ stehen, als hätte er ihn nicht gehört. Er raucht
habe sich erst wütend, dann ohnmächtig sche Panzer und Geschichte. Er übe auch gern und schaut in die schwingenden Äste über
gefühlt, als sie ihm das gesagt haben. Aber mit Kindern die Landminensuche, spielerisch ihm, als wäre er mit den Gedanken woanders.
was könne er tun? Mit seinem Vater redet natürlich, das sei motivierend. Dann deutet er auf die Freiwilligen, die das
er nicht mehr über Politik. Seine alten Wjatscheslaw steht in einer Reihe mit den Anlegen, Zielen und Marschieren üben.
Freunde sind auf russischen sozialen Netz­ anderen, die Augen geradeaus. Vor ihm »Sie glauben, ihre Stadt zu verteidigen.
werken unterwegs. Sie gratulierten ihm noch schreit ihr Ausbilder, ein Mann mit Tarnklei­ Aber die Hälfte von denen wird an die
manchmal zum Geburtstag, dann hörte auch dung und Kalaschnikow. Wjatscheslaw tut Front geschickt werden, wenn es losgeht.
das auf. Er würde sie auch nicht mehr als sich schwer mit dem Töten. Er übt immer Und die wissen nicht, was Krieg ist.«
seine Freunde bezeichnen, sagt er. Das sei­ wieder das Anlegen über die Schulter, das Bevor er seine Zigarette austritt und zu
en jetzt Feinde. Und Feinde müsse man be­ seiner Einheit geht, sagt er noch: »Ihr Deut­
kämpfen. schen wisst schon, dass Putin in der Ukraine
Am nächsten Morgen kniet Wjatscheslaw nicht haltmachen wird, oder?« – »Putin –
im Wald von Holosijiwkyj, nur ein paar Kilo­ Man sieht, wie Kinder chujlo«, sagt er. Es heißt »Putin ist ein Pim­
meter von seinem Wohnblock entfernt. Ein mit Gewehren mel«, die übliche Beleidigung des russischen
Freund hat ihm die Position der Lichtung, an Präsidenten in der Ukraine.
der sie sich treffen, über Facebook geschickt. schießen und auf Panzer Am Abend hat Wjatscheslaw vorgeschla­
In der Nähe trainieren Menschen ihre Hunde. ­steigen. gen, einen Freund zu besuchen, Sascha. Der

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REPORTER UKRAINE-KRIEG

habe auch im Osten gekämpft. Sie hätten sich wehren schießen und auf Panzer steigen. Ab
kennengelernt, als Sascha in seinem Wohn­ sechs Jahren, sagt er, könne jedes Kind mit­
WIE block war und fragte, ob er vor den Fahr­ machen. Für die Kleineren habe man auch
stühlen eine Spendenbox aufstellen könne, etwas vorbereitet, damit sie sich nicht lang­
UNTERNEHMER- für die Kinder in den besetzten Ostgebie­ weilen.
ten.  »Kinder-Feldpost« steht auf der Box. Was möchte er, was die Kinder in der
DYNASTIEN Sascha, sagt Wjatscheslaw, habe interessante Ukraine werden? »Nationalisten«, sagt Sa­
Ideen. scha. So wie er. Leute, die für ihr Land kämp­
UNSER Als er zum Treffpunkt kommt, einem klei­ fen. Es gebe noch viel zu tun, sagt Sascha.
nen Lokal in der Nähe einer Eisbahn, ist es Wja­tscheslaw nickt nachdenklich. Er hat noch
LAND GEPRÄGT schon dunkel. Drinnen, über der Theke, hängt einmal versucht, seinen Sohn zu erreichen.
das Bild eines Wolfs. Ein Feuer brennt im Aber der hat nicht mehr abgenommen.
HABEN Kamin. Daneben sitzt mit verschränkten Ar­ Am nächsten Morgen fahren Sascha und
men Sascha. Sein Handgelenk umschließt ein Wjatscheslaw raus, um einen ihrer Kamera­
Armband mit dem Symbol der Schwarzen den in seiner Autowerkstatt zu besuchen.
Sonne, ein Erkennungszeichen in der rechts­ Der Kamerad heißt Anatolyj, bietet Kaffee
extremen Szene. In der Ukraine gibt es – wie mit Zitrone an und zeigt einen verbeul­
in Russland – rechte Gruppen, die Teile der ten  Mercedes Sprinter, der nicht mehr so
Streitkräfte bilden. Als er gefragt wird, was aussieht, als könnte er fahren. Sie wollen ihn
das Zeichen auf dem Armband bedeutet, sagt reparieren, sagt Sascha, um ihn als Kranken­
er: »Faschist«, und lacht. wagen einsetzen zu können, wenn Kiew an­
Er sagt, die Leute in den besetzten Gebie­ gegriffen wird. Krankenwagen werde die
ten würden ihn als Faschisten beleidigen, ob­ Stadt dann nicht genug haben. Auch er habe
wohl er Kleider und Medikamente für ihre schon gegen die Russen gekämpft, sagt
Kinder spendet. Er sei kein Faschist. Er selbst Anatol­yj. 1991 war das, am Blutsonntag in
würde sich auch nicht als Patrioten bezeich­ Vilnius. Aber er brauche Wodka, um davon
nen, denn diejenigen, die das tun, seien die zu erzählen.
Ersten, die fliehen, wenn der Krieg beginnt. Als erstes Land hatte Litauen damals sei­
Er selbst würde sagen, er sei ein Nationalist. ne Unabhängigkeit von der Sowjetunion er­
Denn ein Nationalist, der habe ein Ziel, und klärt. Sowjetische Kampfpanzer und Fall­
der kämpft dafür. Wenn Russland angriffe, schirmjäger rückten gegen die Stadtmitte der
sagt er, werde jedes Kind, jeder Greis kämp­ Hauptstadt Vilnius vor. Die Panzer walzten
fen. Jeder könne helfen. Nebenan weben drei Barrikaden nieder und überrollten Men­
alte Frauen aus der Nachbarschaft seit Stun­ schen. Zehntausende Einwohner schützten
den Tarnnetze für Soldaten. damals das Parlament mit ihren bloßen Kör­
Die Kinder seien die Basis, sagt Sascha. pern vor den sowjetischen Panzern. Schließ­
256 Seiten, gebunden � 20,00 €
Regelmäßig würden sie deshalb einen Tag lich zogen sich die Panzer zurück. Vielleicht
Auch als E-Book erhältlich
für Familien veranstalten, mit kostenloser ist die Lektion, dass man selbst mit einer der
Suppe und vielen Spielen, um Kindern die größten Armeen nicht jeden Krieg gewinnen
Erfolgreiche Familien prägen Scheu vor den Waffen zu nehmen. Mittler­ kann.
nicht nur die deutsche Wirtschaft, weile kämen mehr als 1000 Besucher. Sa­ Zum Abschied zeigt Anatolyj noch eine
scha zeigt ein Video, mit Rockmusik unter­ alte Waffe, die an der Wand hängt, ein Ma­
sie haben von Beginn an unser legt, in dem man sieht, wie Kinder mit Ge­ schinengewehr. Die Waffe, sagt Sascha, habe
Land verändert. Dieses Buch jahrelang nicht funktioniert, aber jetzt habe
erzählt von den mächtigsten Anatolyj sie repariert. Sie stammt aus dem
letzten Krieg, der hier in der Hauptstadt ge­
Familienunternehmen der kämpft wurde, lange bevor Russen den Don­
deutschen Geschichte, von den bass angriffen. Es war ein Krieg, der mehr
Fuggern bis zu den Quandts. Menschenleben forderte als jeder Krieg vor
und nach ihm. Allein in der Nähe Kiews wur­
Dabei beleuchten die Autor*innen den innerhalb von 48 Stunden mehr als
die Erfolgsgeheimnisse 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder
bekannter Marken und Produkte, ermordet. Es war das größte einzelne Massa­
ker auf europäischem Boden. Es war ein Krieg
zeigen Aufstieg und Triumph der Deutschen.
berühmter Dynastien – und deren Vier Tage später, am Donnerstag, meldet
Niedergang durch Krisen sich Wjatscheslaw aus Kiew per Videochat.
Er steht auf einem Parkplatz seiner Sied­
oder interne Konflikte. lung, spricht ruhig in die Kamera, im Hin­
tergrund hört man Sirenen. »Bitte unter­
richtet alle«, sagt er. »Wir haben Krieg. Wir
werden bombardiert. Der Flughafen brennt.
Menschen versuchen, die Stadt zu verlassen
und zu fliehen. Wir versuchen, ruhig zu
Daniel Leal / AFP

bleiben. Wir kaufen Lebensmittel ein und


bewachen unsere Häuser.« Er sagt, er habe
den Schutzraum geöffnet. Dann bricht das
Schutzsuchende in Kiewer U-Bahn Video ab.  n

54 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


www.dva.de
REPORTER

Vielleicht ein Soldat. Es ist alles noch


nicht so lange her und deswegen um­
so ärgerlicher, dass der Westen es ver-
gessen hat und Putin offenbar auch.
Im »Kiefernlied« singt André

Zwischen zwei Orkanen


Herzberg:
»Ich bin eine Kiefer im märkischen
Land
Ich hab Durst auf Wasser im tro-
ckenen Sand
LEITKULTUR  Alexander Osang über »Ylenia« und »Zeynep«, eine fallende Kiefer Nach ’m großen Krieg, da wurd ich
und das seltsame Zivilleben in Kriegszeiten gepflanzt
Die Wurzeln sind flach, Stamm
und Krone verkrampft.«

Z
wei Tage bevor der Krieg be- Ich rief noch mal Thomas an, den
gann, fuhr ich nach Branden- Baummann. »Die Kiefer machen wir
burg, um mir den Wald anzu- im Sommer«, sagte er.
sehen, durch den gerade die Stürme »Ja«, sagte ich, obwohl ich mir im
»Ylenia« und »Zeynep« gefegt waren. Moment nicht vorstellen konnte, dass
Ich schreibe das zusammen in einen es wieder Sommer wird. Ich sah in
Satz, weil mir alles, was ich gerade so den Himmel, wo die Kiefernspitze
tue, unangemessen erscheint, belang- zwischen zwei benachbarten Car-
los, verglichen mit dem Irrsinn im ports pendelte. In drei Stunden be-
Osten. Für mich klangen die Sturm- gann ein neuer Sturm. »Antonia«. Es
namen »Ylenia« und »Zeynep« wie ging wieder bei A los, immer wieder
Charaktere aus »Doktor Schiwago«. von vorn. Sudetenland, Kubakrise
Die grausame Ylenia. und Donbass, Kennedy, Castro und

Alexander Osang / DER SPIEGEL


Das lag natürlich an Wladimir Pu- Chruschtschow, Chamberlain, Ma-
tin, am Klima, aber auch an mir. cron und Olaf Scholz. Abends sah ich
Vor einigen Jahren hatte ich eine den russischen Bären auf Arte, wäh-
Lesung am Deutschen Theater, die rend »Antonia« ums Haus wehte.
ich absagen wollte, weil genau zur An dem Tag, als Putin den Krieg
selben Zeit die Amerikaner anfingen, ankündigte, war ich in Leipzig, um
Afghanistan zu bombardieren. Es war im MDR-Fernsehen ein wenig über
20 Uhr, im Theater saßen mehr als Ich sah die Kiefer schon von Wei- Abgebrochene mein neues Buch zu reden. Vor mir
600 Leute. Ich hatte den Eindruck, tem. Ich stieg aus dem Auto, lief um Kiefer im Branden- gab es einen Beitrag über thüringische
burger Wald
dass es jetzt auf mich ankam. Ich soll- den Baum herum, dann fuhr ich das Draisinen, dann führte mich die Auf­
te von den Jazz Optimisten begleitet Auto zwei Meter weiter, aus dem nahmeleiterin durch das Studio ins
werden, einer Dixieland-Band aus Schatten der gebeugten Kiefer heraus. Scheinwerferlicht. Ich saß an einem
Berlin. Die Musiker warteten in der Das Autoradio sprang wieder an, Tischchen auf dem ein Schälchen mit
Garderobe, und als ich dort auftauch- ­Berliner Journalisten redeten in einer Lindt-Konfekt stand. Die erste Frage
te, hysterisch wie Axl Rose, und an- Talkrunde über Russland und die See- galt dem Krieg im Osten.
kündigte, dass man in so einer Situa- le von Putin. Auf dem großen, globa- »Ist überhaupt noch etwas zu ma-
tion keine Kolumnen vorlesen könne, len Schlachtengemälde, auf dem sich chen?«, fragte der Moderator.
fragten sie nur: »Wat?« im Osten Truppen ballten wie Wol- Ich verstand das Interesse, ich hat-
Ich legte ihnen die weltpolitische ken in einem Sturmtief, hätte man te es ja selbst. Aber ich hatte keine
Lage dar, sie erklärten: »Jetzt sind jetzt ganz am Rand einen besorgten Ahnung. Ich saß wie Scholz an einem
wa doch aber schon ma hier.« Wir Berliner Kleinbürger sehen können, langen, weißen Tisch, ganz am Ende,
spielten dann dreieinhalb Stunden, der einen Mercedes Kombi zwei Me- im Kinderstuhl.
während am Hindukusch unsere Frei- ter weit bewegte, in Sicherheit. Wla- »Ich hoffe, dass Frieden bleibt«,
heit verteidigt wurde. So war das, dimir Putin hätte das nicht gewun- sagte ich.
damals. dert. Die Expertenrunde beruhigte Sie hätten auch Nicole einladen
Zwischen den beiden Orkanen mich ein wenig, jemand empfahl ein können oder den Dalai Lama.
hatte ich mit Thomas telefoniert, Putin-Porträt auf Arte. Die Rückkehr Als ich im Zug zurück nach Berlin
einem Baumexperten aus dem Dorf. des russischen Bären. fuhr, hielt Putin in Moskau seine
Thomas stammt von der Ostseeküste. Dann ging ich in den Wald. Über- Kriegsrede. »Bibi« wurde angekün-
Weil er dort keine Arbeit mehr fand, all lagen zersplitterte und entwurzel- digt, ein neuer Sturm. Der Name
reiste er um die Welt und landete te Bäume, vor unserem kleinen See könnte einer russischen Maskirowka
schließlich in Südbrandenburg, um hing eine Kiefer wie ein Schlagbaum. entstammen, von der ich gerade zum
den Wald zu pflegen. Bei unseren Der Wald wirkte zerzaust, vom Sturm ersten Mal gehört hatte. Ein russi-
Nachbarn seien ein paar Tannen um- und der Dürre, wirklich wie nach Ich saß wie sches Ablenkungsmanöver. Wenn
gefallen, hatte er gesagt, sowie eine einem Krieg. Das bildete ich mir na- Olaf Scholz am man in einem Wort sagen wollte, wie
Kiefernspitze abgebrochen. türlich alles nur ein, wahrscheinlich ich mich fühlte, Maskirowka wäre es.
»Bei euch is so weit allet okay«, jedenfalls. Vor anderthalb Jahren ha- Ende eines Ein Tanz in der Dunkelheit. In einer
hatte Thomas am Telefon gesagt. »Bis ben unsere Nachbarn bei einem Spa- langen, weißen Durchsage im ICE erfuhr ich, dass die
auf eine Kiefer am Zaun, die hat ’n ziergang in den Sümpfen, die in den Verbindungen nach Hannover unter-
Schlag bekommen. Aber wenn se vergangenen Jahren immer mehr aus-
Tisches, im brochen seien. Es klang, als wäre Nie-
fällt, fällt se in ’n Wald.« trockneten, eine Leiche gefunden. Kinderstuhl. dersachsen gefallen. n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 55


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Abhängig von Microsoft
Die Bundesverwaltung setzt bei der Software bislang vor allem auf den US-Anbieter. Doch die Kritik daran
IT 
wächst, die Kosten explodieren: Im vorigen Jahr zahlte der Bund für seine Lizenzen fast fünfmal mehr als 2015.

D ie rund 500 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter


der Bundesverwaltung arbeiten mit Software von
Microsoft, und diese Abhängigkeit wird immer
­teurer. Überwies der deutsche Staat 2015 noch jährlich 43
Softwarekosten
des deutschen Staa-
tes und der Bundes-
verwaltung für
Microsoft-Produkte,
sind diese Anforderungen noch nicht umgesetzt, wie
aus der Antwort hervorgeht. »Microsoft nutzt seine
Monopolstellung aus und diktiert der Bundesregierung
die Preise«, kritisiert Perli. »Mehr Datensouveränität
Millionen Euro für Software, Serverdienste und Wartung, in Mio. Euro ­erreicht man nur mit mehr eigener quelloffener Soft­
waren es im vorigen Jahr bereits mehr als 205 Millionen 205,1
ware, die häufig qualitativ gleichwertig oder sogar besser
Euro. Gegenüber 2020 betrug die Kostensteigerung knapp 200 ist.« Auch der neue Standardarbeitsplatz in der Bundes­
15 Prozent, wie aus einer Antwort der Bundesregierung verwaltung (»Bundesclient«) basiert auf Microsoft-­
auf eine Anfrage des Haushaltspolitikers Victor Perli Produkten. Zudem will der Konzern zusammen mit SAP
­(Linke) hervorgeht. Demnach bilden das Verteidigungs­ 150 und Arvato künftig auch eine Verwaltungs-Cloud
ministerium mit 95 Millionen Euro sowie das Finanzres­ ­anbieten, wobei die Daten in Deutschland liegen sollen.
sort (rund 43 Millionen) und das Bundes­innenministerium Im Innenministerium heißt es, dass man Open-Source-
(32 Millionen) die größten Einzelposten. Eine vom Innen­ 100 Alternativen prüfe – eine solche Arbeitsplatzlösung des
ministerium beauftragte Marktanalyse hatte 2019 bereits Dienstleisters Dataport werde derzeit auf 150 Verwal­
die hohe Abhängigkeit von Microsoft-Produkten kritisiert tungsrechnern erprobt. Für die Cloud will der Bund
und »dringenden Handlungsbedarf« festgestellt. Zudem 50 künftig mehrere Anbieter nutzen – auch Google im Ver­
hatte der Bundesbeauftragte für den Datenschutz im vori­ bund mit T-Systems hat bereits Interesse signalisiert.
gen Jahr allen Nutzerinnern und Nutzern in der Bundes­ ­Zudem werde Open-Source auch in der Cloud-Strategie
verwaltung neue Vorgaben im Umgang mit Microsoft- »eine prominente Rolle einnehmen«, so das Minis­
Produkten gemacht – um zu verhindern, dass Nutzungs­ 2015 2021 terium. Als möglicher Anbieter dafür wird die United-
daten an Microsoft abfließen. Auf Hunderten Rechnern S Quelle: Bundesregierung Internet-Tochter Ionos gehandelt. ROM, WOW


58 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Russische Milliarden Schulze wendet sich laubten dies unter bestimmten
Voraussetzungen. Im fraglichen
in Deutschland von Gates-Projekt ab Fall in Ghana, so Jan Urhahn
UKR AINE-KRIEG  Im Rahmen LANDWIRTSCHAF T  Entwick­ von der Rosa-Luxemburg-Stif­
der wirtschaftlichen Sanktionen lungsministerin Svenja Schulze tung, würden diese Vorausset­
gegen Russland will die Bundes­ (SPD) will die Beteiligung an zungen jedoch nicht annähernd
regierung in erheblichem Um­ der Agrarallianz für Afrika auf eingehalten. Von einer sicheren
fang auch gegen russische Inves­ den Prüfstand stellen, die von Lagerung etwa sei nicht auszu­
toren vorgehen. Nach Angaben der Bill-und-Melinda-Gates-Stif­ gehen, zudem habe die US-Um­
offizieller deutscher Stellen tung mitgegründet wurde. Das weltschutzbehörde Permethrin

Andreas Mümken / action press


­halten russische Staatsbürger in Ministerium hat sich bisher mit als potenziell krebserregend ein­
Deutschland Vermögenswerte 25 Millionen Euro an dem Mo­ gestuft. Schulze kündigte an, sie
im Umfang von rund 25 Milliar­ dernisierungsprojekt beteiligt, werde mit dem Agrarministe­
den Euro, die eingefroren dessen Erfolgsbilanz der vergan­ rium ein Exportverbot für in der
­werden könnten. Darunter fal­ genen 15 Jahre umstritten ist. EU verbotene Pestizide vorbe­
len Firmenbeteiligungen, Wert­ Stadionwerbung Nun zeigt eine Anfrage der Lin­ reiten. Ziel müsse eine sozial-
papiere und Bankguthaben. ken, dass das Projekt Bauern ökologische Transformation der
­Allein 2019 tätigten russische ­ermöglicht, die Pestizide Perme­ Landwirtschaft sein. NKL
Firmen und Privatleute Direkt­ höher ausfallen. Der Grund: thrin und Propanil einzusetzen,
investitionen von 8,9 Milliarden Der Immobilienbesitz russi­ die in der EU verboten sind. Im Transparenzhinweis: Neben vielen
Euro in Deutschland. Einer scher Staatsbürger blieb bei der Dezember verteidigte die alte anderen Projekten unterstützt die
Gates-Stiftung auch Medien, darunter
der bekanntesten russischen In­ Erhebung unberücksichtigt. Tat­ Bundesregierung noch den Ein­ das SPIEGEL-Projekt »Globale
vestoren ist Gazprom, der sächlich kauften Russen in deut­ satz: Weltbank-Standards er­ Gesellschaft«.
über eine Tochtergesellschaft in schen Metropolen zuletzt Häu­
­Berlin Anteile an deutschen ser und Wohnungen im großen
Pestizideinsatz auf
Gasnetzbetreibern hält und bis Stil auf. Fachleute führten den Maisfeld in Malawi
Donnerstag als Sponsor auf den Immobilienboom der vergange­
Trikots des Fußballklubs Schal­ nen Jahre nicht zuletzt darauf
ke 04 zu sehen war. Die tatsäch­ zurück, dass sie auf diesem Weg
lichen Vermögen von Russen ihr Flucht- und Schwarzgeld in
hierzulande dürften aber viel Deutschland anlegten. REI
Eldson Chagara / REUTERS

Erst Preisschock, gen derzeit fast den Neupreis.


Dennoch klagen Händler über
dann Preissturz Einbußen, weil sie weniger
AUTOINDUSTRIE  Der jüngste Ware verkaufen können. Der
Höhenflug bei den Gebraucht­ Händlerpräsident erwartet je­
wagenpreisen dürfte schon bald doch, dass sich der Chipmarkt
abreißen. Anfang des dritten schon in wenigen Monaten ent­
Quartals werde »das Geschäft spannt. Dann würden die Preise Deutsche zweifeln einzuführen, spricht sich aktuell
brutal kippen«, prognostiziert für Gebrauchtfahrzeuge »mas­ weniger als ein Viertel der
Dirk Weddigen von Knapp, siv einbrechen«. Für die Händ­ an Schuldenbremse ­Befragten dafür aus. Stattdessen
Präsident des Volkswagen und ler werde die Lage weiter an­ FINANZEN  Die Zustimmung favorisieren die meisten Deut­
Audi Partnerverbands e. V, gespannt bleiben: Ihr Insolvenz­ der Deutschen zur staatlichen schen derzeit einen Start im
eines führenden Händler­ risiko werde sich durch den Schuldenbremse bröckelt. Das Jahr 2025 oder später. Vor al­
verbunds. Aktuell sorgt eine Preissturz »stark erhöhen«. zeigt eine repräsentative Umfra­ lem den Bundesländern wird es
Knappheit an Mikrochips dafür, Umso wichtiger sei es für die ge des Mannheimer Leibniz- nach Meinung der Deutschen
dass zu wenig Neuwagen pro­ Autohäuser, ihr Kerngeschäft Zentrums für Europäische Wirt­ schwerfallen, die Vorschrift
duziert werden. Entsprechend nicht auch noch an die Herstel­ schaftsforschung (ZEW). Im ­umzusetzen. Hielt es 2014 nur
sind die Gebrauchtwagenpreise ler zu verlieren. Die versuchten Jahr 2014 befürworteten noch jeder fünfte Befragte für
stark gestiegen. Weddigen von derzeit, den Händlern den Ver­ 69 Prozent der Deutschen, dass ­»wahrscheinlich« oder »sehr
Knapp spricht von einer »per­ kauf von Gebrauchtwagen strei­ die Verfassung Bund und Län­ wahrscheinlich«, dass die
versen Preissituation«, Käufer tig zu machen. Die VW-Tochter dern die Aufnahme neuer Kre­ ­Länder mehr Schulden machen
zahlten für einen VW-Jahreswa­ Financial Services etwa wolle dite weitgehend untersagt. Ak­ müssen als erlaubt, ist es aktuell
die Rückläufer aus Auto-Abo tuell sind nur noch 59 Prozent etwa jeder zweite. Der Stim­
und -Leasing künftig lieber dieser Auffassung. Der Anteil mungsumschwung, so zeigt die
selbst möglichst teuer verkau­ der Befragten, die der Vorschrift Umfrage, hat sich im Zuge der
Wolfram Steinberg / picture alliance / dpa

fen. »Dabei ist uns der Ge­ skeptisch gegenüberstehen, ist Pandemie stark beschleunigt.
brauchtwagenhandel vertraglich im selben Zeitraum von 15 auf »Trotz anfänglicher großer
zugesichert«, kritisiert Weddi­ 20 Prozent gestiegen. Außer­ Unterstützung zweifeln die
gen von Knapp. VW sagt, man dem wächst die Zahl der Deut­ ­Bürgerinnen und Bürger zuneh­
sei und bleibe »starker Partner schen, die es beim Stoppen der mend an der Schuldenbremse«,
des Handels« und halte sich an staatlichen Schuldenaufnahme heißt es in der Untersuchung.
Verträge. Händler erhielten »für nicht eilig haben. Während 2014 Die Bundesregierung will die
eine bestimmte Zeit das exklu­ eine deutliche Mehrheit dafür Vorschrift, die derzeit aus­
sive Ankaufsrecht« für Leasing­ plädierte, die Schuldenbremse gesetzt ist, ab dem Jahr 2023
VW-Gebrauchtwagen rückläufer »zum Festpreis«. SH spätestens im kommenden Jahr wieder einhalten. MSA

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT UKRAINE-KRIEG

Mikhail Metzel / TASS / action press


Wirtschaft als Waffe
GLOBALISIERUNG   Putins Invasion in der Ukraine zeigt, wie extrem Unternehmen
inzwischen geopolitischen Risiken ausgesetzt sind. Vor allem das
exportorientierte Geschäftsmodell der deutschen Industrie steht jetzt auf dem Spiel.

W
enn alles nach Plan gelaufen russische Angriff auf die Ukraine und der Wirtschaft zusetzen. »Bis Ende
wäre, dann stünde Thomas die vom Westen als Antwort darauf letzten Jahres war die Rivalität zwi-
Laxhuber, 49, jetzt in einer verhängten Sanktionen verderben schen China und den USA mit den
Messehalle im ukrainischen Kiew Laxhuber die Grain-Tech-Messe in möglichen handelspolitischen Konse-
­hinter seinem Stand und würde das Kiew. Und wohl auch so manches quenzen das beherrschende geoöko-
machen, was er am besten kann: Ge- künftige Geschäft in Russland. nomische Risiko«, sagt Eckart von
schäfte. Der Unternehmer aus Nie- Schon ohne die Invasion Putins sei Klaeden, Cheflobbyist des Autokon-
derbayern stellt mit seiner Firma S
­ tela es in den vergangenen Jahren »un- zerns Mercedes-Benz. »Jetzt hat Pu-
Trocknungsanlagen für Landwirt- gemütlicher« geworden für Mittel- tin sich mit Gewalt auf die geopoliti-
schaft und Industrie her. Es gibt nicht ständler wie ihn, seufzt Laxhuber am sche Agenda zurückgebracht.«
viele auf der Welt, die diese Art von Telefon: Etwa zwei Prozent Marge Unternehmen verlieren Umsätze,
Anlagenbau beherrschen. Daher ist koste ihn der zunehmende Protek­ ächzen unter steigenden Ener­
Laxhuber normalerweise das ganze tionismus in China, den USA und giepreisen, fürchten ein Abreißen
Jahr über in aller Welt unterwegs – selbst in Europa. »Unternehmen wie ihrer Lieferketten, die Börsen geben
Deutsche
als einer jener berühmten »Hidden ­Wirtschaftsvertreter unseres werden zum Spielball der nach.
Champions«. bei Gesprächen in Geopolitik.« Dass die Kurse bislang nicht noch
Derzeit aber läuft bei Laxhuber Moskau 2018: Die Neben allem menschlichen Leid stärker eingebrochen sind, ist ein In-
kaum etwas nach Plan. Noch immer Ära des Freihandels wirft der Krieg in der Ukraine ein diz, für wie unbedeutend Investoren
und der relativen
wegen der Pandemie, vor allem aber weltpolitischen Schlaglicht darauf, wie geopolitische Russlands Rolle in der globalen Wirt-
wegen des Krieges in Europa. Der Stabilität ist passé Auseinandersetzungen und Risiken schaft halten. Nur was, wenn der

60 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Krieg an der Grenze der Ukraine nicht halt-
macht?
»Geopolitische Konflikte Sanktionen gegen russische Firmen und Per-
sonen verhängt. Die deutsche Industrie zog
»Die Coronapandemie hat die großen geo- haben eine andere sich teils zurück, teils arrangierte sie sich mit
politischen Verformungen überlagert, die es ­Dimension bekommen. einer »Go-local-Strategie«. Daimler eröffne-
zwischen Entwicklungs- und Industrieländern
sowie unterschiedlichen politischen Systemen
Sie stehen auf der te noch 2019 ein Montagewerk in Moskau,
um wohlhabende Russen unter anderem mit
gibt«, sagt Joe Kaeser, Aufsichtsratschef von Agenda jedes Vorstands.« SUVs zu versorgen. Jetzt geht man in Stutt-
Siemens Energy. Diese Entwicklung könne Klaus Mangold, Manager gart von sinkenden Verkäufen aus.
für exportorientierte Volkswirtschaften wie Für den Gesamtkonzern sei der russische
die deutsche dramatische Folgen haben. Markt jedoch »nicht kritisch«. Das gilt für die
Die Ära des Freihandels und der relativen meisten Unternehmen. Der deutsche Außen-
weltpolitischen Stabilität, von der die deut- handel mit Russland hatte 2012 mit 80 Mil-
sche Volkswirtschaft wie keine andere profi- Art der Kriegsführung. Europa und der Ex- liarden Euro einen Höhepunkt erreicht, seit-
tiert hat, ist passé. Und damit die Grundlage portnation Deutschland scheine »eine geo- dem ist er um mehr als ein Viertel ein­
ihres Erfolgsmodells. Über Jahrzehnte profi- ökonomische Strategie« zu fehlen, »wie die gebrochen. Die Entflechtung dürfte weiter
tierten deutsche Unternehmen von den offe- neue Weltlage mit dem bisherigen Geschäfts- voranschreiten.
nen Märkten, sie befeuerten die Industriali- modell zu vereinbaren ist«. Bei Siemens hat man mit Putin spezielle
sierung von Schwellenländern und nicht zu- Der Ukrainekonflikt liefere Anschauungs- Erfahrungen gemacht. 2017 tauchten auf der
letzt Chinas mit Maschinen, Robotern und unterricht dafür, wie veränderte politische Krim Gasturbinen von Siemens auf, die dort
Anlagen. Sie bedienten dort die Nachfrage Rahmenbedingungen auf die Wirtschaft wir- wegen bestehender Sanktionen gegen Russ-
einer wachsenden Mittelschicht nach Autos ken, warnt Klaus Mangold. Der frühere Daim- land nicht hätten sein dürfen. Der russische
und anderen Konsumgütern. ler-Vorstand, Ostausschuss-Vorsitzende und Kunde TPE habe die Turbinen vertragswidrig
Solange die internationale Arbeitsteilung Rothschild-Aufsichtsrat ist so etwas wie die auf die Krim gebracht, erklärte Siemens die
weitgehend reibungslos funktionierte, war graue Eminenz des deutschen Osteuropa­ Peinlichkeit.
das überaus gewinnbringend für die heimi- geschäfts, bis heute berät er viele Firmen in An Deutschlands Industrie-Ikone kann
sche Wirtschaft. Im Rausch stetiger Wohl- Deutschland und Europa. Mangold sieht eine man gut sehen, wie sich die Welt gewandelt
standszuwächse haben es Politik und Unter- der größten unternehmerischen Aufgaben hat. Vor 20 Jahren befasste sich die Abteilung
nehmen versäumt, die eigene Versorgung mit darin, Strategie und Lieferketten darauf ein- für Politik und Außenbeziehungen noch vor-
Rohstoffen und Vorprodukten abzusichern zustellen, dass offene Märkte zunehmend ge- wiegend mit protokollarischen Fragen, etwa
sowie Schlüsseltechnologien wie Halbleiter fährdet sind. »Geopolitische Konflikte haben wenn Staatsoberhäupter Werke besuchten.
und Batterien selbst zu entwickeln. Man kann in den vergangenen Jahren eine andere Di- Heute verfügt das Unternehmen über ein geo-
das als naiv bezeichnen – oder fahrlässig. mension bekommen«, sagt der Manager, »sie politisches Frühwarnsystem. Praktisch jeder
Natürlich gab es ähnliche Risiken immer stehen auf der Agenda jedes Vorstands und Konzern unterhält mittlerweile große Stäbe
wieder. Doch diesmal scheint die Dimension jedes Aufsichtsrats.« in Berlin, Brüssel und anderen Hauptstädten,
eine andere zu sein: Ein neuer kalter Krieg Russland gilt seit Jahren als Großrisiko. Im um gefährdende Entwicklungen sofort zu
bricht sich Bahn, diesmal nicht geführt mit Zuge der Krimkrise hatte der Westen 2014 ­erkennen. Die Ländergesellschaften sind die
atomarer Abschreckung, sondern mit wirt-
schaftlichen Mitteln.
Historische Langzeitstudien, wie sie etwa Wie verwundbar ist Russland?
das Institut für Weltwirtschaft in Kiel (IfW)
erhebt, zeigen, dass Staaten ihre ökonomische Anzahl aktiver Wirtschaftssanktionen weltweit, 1990er-Jahre
ausgewählte Beispiele u. a. Sanktionen gegen
Macht immer wieder missbraucht haben. Neu 1980 Irak, Iran, Jugoslawien, 200
US-Getreide- Libyen
ist, dass die Idee des Freihandels grundsätz- embargo
2022 könnte
aufgrund der
lich in Zweifel gezogen wird. In den ver­ 1977 gegen
die UdSSR
aktuellen 100
Waffen- Russland-
gangenen zehn Jahren, sagt IfW-Volkswirtin embargo Sanktionen ein
1966
Katrin Kamin, seien nationale ökonomische Wirtschafts-
gegen
Südafrika
neuer Höchstwert
erreicht werden 150
Interessen wieder stärker in den Mittelpunkt sanktionen 2010er-Jahre
u. a. Sanktionen gegen
gegen
gerückt. Rhodesien Russland, Nordkorea,
Belarus, Myanmar
Das hänge zusammen mit dem Aufstieg 50
Chinas und dem steigenden Machtanspruch
von Staaten wie Brasilien, Indien und Russ-
0
land. Zugleich sei die Wirtschaft weltweit 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020
stärker vernetzt und integriert. Das schaffe
»neue Hebel und Verwundbarkeiten«, so Ka-
Weltmarktanteile der Top drei Weltmarktanteile der Top drei
min. Zumal sich Demokratien weltweit auf Rohstoffförderer 2019, in Prozent Rohstoffveredler 2019, in Prozent
dem Rückzug befänden. Man habe beobach-
tet, »dass autokratisch und populistisch re- darunter: Russland China darunter: Russland China
gierte Länder stärker auf protektionistische
Erdöl 12 42 raffiniertes Öl 16 7 43
Maßnahmen zurückgreifen«.
Man kann statistisch belegen, dass die Erdgas 18 48 Flüssiggasexport 55
Handelskonflikte vor allem in den vergange- Kupfer 8 49 Kupfer 40 56
nen zehn Jahren enorm zugenommen haben.
Nach Daten des IfW ist die Zahl der verhäng- Nickel 11 56 Nickel 35 58
ten Sanktionen von 20 im Jahr 1950 auf 250 Seltene Erden 60 84 Lithium 58 97
im Jahr 2019 gestiegen. Geopolitische Ziele,
Lithium 13 87 Seltene Erden 87 100
so Kamin, würden immer öfter mit geoöko-
nomischen Instrumenten verfolgt. Die USA 0 50 100 0 50 100
und China seien besonders versiert in dieser S Quellen: Global Sanctions Database, Felbermayr et al.; IEA


Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT UKRAINE-KRIEG

zweite wichtige Komponente dieser Alarm-


anlage. Bedrohte Märkte Für die deutschen Hersteller hat das zwei
Effekte: Ihnen sind in China lokale Konkur-
Im Risikobericht von Siemens werden die renten erwachsen, und sie sind für ihre eige-
geopolitischen Gefahren aufgeführt, mal nen vernetzten E-Autos wie nie zuvor auf
mehr, mal weniger konkret. Und stets im ge- Vorprodukte aus China und dessen Einfluss-
flissentlichen Jargon des Geschäftsberichts. bereich angewiesen. Viele der benötigten

Sergei Bobylev / TASS / action press


»Weitere wesentliche Risiken könnten sich Halbleiter stammen aus Taiwan, Batterie­
aus geopolitischen Spannungen (insbesonde- zellen häufig vom chinesischen Großanbieter
re im Nahen und Mittleren Osten, in Hong- CATL.
kong und Taiwan), den Beziehungen der Dazu kommt eine wachsende Abhängig-
Europäischen Union zu Russland ... und aus keit von Rohstoffen. Für Akkus benötigt man
politischen Umwälzungen ergeben«, heißt es Lithium und Kobalt, für Elektromotoren Kup-
im jüngsten Exemplar. fer, für Brennstoffzellen Platin. Rund 70 Pro-
Hongkong und Taiwan stehen dort bislang zent des globalen Bedarfs an Kobalt wird aus
nur in Klammern. Das ist an Understatement Mercedes-Benz-Montage bei Moskau Minen der Demokratischen Republik Kongo
kaum zu überbieten. Die beiden Länder im gewonnen. Seltene Erden und Grafit stammen
Einflussbereich Chinas sind Teil jener Gefahr, überwiegend aus China.
die langfristig alles überlagert. Die zuneh- Einige Firmen versuchen bereits, die Ma-
mende Konfrontation zwischen China und terialien durch andere Stoffe zu ersetzen. Der
den USA, die bis in den aktuellen Krieg wirkt. Autozulieferer Mahle hat im vergangenen
Pekings Verständnis für die russische In- Jahr den Prototyp eines magnetfreien Elek­
vasion, die in China nicht so genannt werden tromotors vorgestellt. Dadurch kann der

Lukas Bar th-Tuttas / epa


darf, erklärt sich manch Wirtschaftsvertreter Stuttgarter Hersteller sich den Einsatz von
mit Chinas eigenen Expansionsgelüsten. Neodym sparen, ein Metall der Seltenen Er-
Staatspräsident Xi Jinping nutzt die Wirt- den, das magnetische Kräfte verstärkt und in
schaft als Waffe, um seinen globalen Macht- E-Autoantrieben verwendet wird. Der Ver-
anspruch durchzusetzen. Über das Seiden- zicht auf Seltene Erden biete »geopolitische
straßen-Projekt will er die Kontrolle über Qualitätskontrolle bei Continental Vorteile«, sagt Mahle-Vizechef Michael Frick.
Handelsrouten nach Europa bekommen. Er Vor allem aber setzt die Industrie auf Re-
hat zehn Schlüsselindustrien ausgemacht, bei cycling, um sich aus der Abhängigkeit zu be-
denen sein Land weltweit führend werden freien. Rohstoffproduzenten und -händler
soll. Von der Rolle der Werkbank der Welt registrieren eine wachsende Nachfrage nach
hat sich die chinesische Wirtschaft längst wiederverwerteten Edelmetallen. Immer
Alexander Galperin / Sputnik / dpa
emanzipiert. mehr Kunden aus der Auto-, Chemie- oder
Deutsche Unternehmen bekommen das der Glasindustrie verlangten ausdrücklich
bereits schmerzhaft zu spüren. Kaum einer Recyclingware, sagt André Christl, Chef der
weiß das so gut wie Karl Haeusgen, 56, Edelmetallsparte von Heraeus in Hanau:
Haupteigentümer des Hydraulikspezialisten »Das Interesse steigt signifikant.«
Hawe Hydraulik in Aschheim bei München. Kurzfristig kann die Wirtschaft ihre Ab-
Das Unternehmen erzielt 70 Prozent der hängigkeit auch dadurch mindern, dass sie
mehr als 450 Millionen Euro Umsatz im Aus- Siemens-Gasturbine bei Sankt Petersburg ihre Lieferbeziehungen diversifiziert und
land, rund 100 Millionen allein in China. zweifelhafte Rohstoffquellen auslistet. Nickel
Hawe profitierte jahrelang von der Öffnung reine Exportmodell wird für viele deutsche oder Vanadium werden nicht nur in Russland
der Volksrepublik, ähnlich wie viele andere Firmen nicht mehr lange gut gehen.« oder China abgebaut, sondern auch in Staaten
Maschinenbauer. Man produzierte in Deutsch­ Das größte Risiko schleppt die Autoindus- mit geringem Länderrisiko wie Schweden
land und exportierte nach China, mit Wachs- trie mit sich herum. Hat sich die deutsche oder Finnland, allerdings zu höheren Preisen.
tumsraten von 20 Prozent und mehr. »Aber Schlüsselbranche zu abhängig von China ge- Nur reicht das schon? Brauchte es nicht
heute verfolgt China eine andere Politik und macht? einen größeren Wurf?
strebt industriell von Bereich zu Bereich nach Ohne den Chinaboom wären VW, Daimler China als Markt aufgeben, das will nie-
Autarkie.« In den vergangenen Jahren hätten und BMW niemals so groß geworden. Mehr mand in der Autoindustrie. Aber von China
deutsche Maschinenbauer in China in einigen als ein Drittel ihrer Fahrzeuge setzen sie in könne man lernen, sich weniger angreifbar
Bereichen dramatisch an Marktanteilen ver- China ab, der Großteil der Gewinne speist zu machen, sagt ein hochrangiger Vertreter
loren, zugunsten staatlich begünstigter chi- sich aus dem Riesenreich. Nur wie lange der Autoindustrie. Das Land habe die ver-
nesischer Konkurrenten. noch? Xi will auch bei Autos an die Welt­spitze gangenen Jahre genutzt, sein eigenes Öko-
Wenn Wirtschaftspolitik wie in China und – und er hat früh erkannt, dass Elektromobi- system aufzubauen – von Chips über Soft-
den USA zur Außenpolitik werde, brauche es lität und vernetzte Fahrzeuge die Chance ware bis zu Batteriezellen.
eine Antwort, so der Unternehmer. Für Hawe dazu bieten. Das nachzuahmen käme einer strategi-
hat er eine gefunden. Der Mittelständler hat schen Kehrtwende gleich. EU-Kommissions-
in China ein Werk gebaut und eine deutsche präsidentin Ursula von der Leyen ahnte schon
Firma mit einem Standort in China übernom- zu Beginn ihrer Amtszeit, dass es anders nicht
men, um den lokalen Markt zu bedienen. Zu- gehen werde. Die Staatengemeinschaft müs-
dem wendet sich Hawe vermehrt anderen
aufstrebenden Märkten wie Brasilien zu und
»Das reine Exportmodell se eine »geopolitische« Vision entwickeln und
»die Sprache der Macht lernen«, forderte sie
stärkt die Präsenz in den USA, um sich für wird für viele deutsche markig, vor allem im Verhältnis zu China.
zurückgehende Umsätze in China zu wapp- Firmen nicht mehr lange Doch das ist leichter gesagt als getan. Be-
nen. Kleinere Mittelständler hätten jedoch oft reits die naheliegendste Frage lässt sich nicht
nicht die finanziellen Mittel, um eine solche gut gehen.« klar beantworten: Ist China wirtschaftspoli-
Strategie zu verfolgen, meint Haeusgen. »Das Karl Haeusgen, Unternehmer tisch Freund oder Feind? Die EU bezeichnet

62 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


SANKTIONEN

»Wenn Russland und China noch enger


­zusammenrücken, haben wir schlechte Karten«
Der russische Einmarsch in die Ukraine könnte zu einer Rezession führen, warnt
Gabriel Felbermayr, 45, Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Trotzdem dürfe Europa vor einschneidenden Sanktionen nicht zurückschrecken.

SPIEGEL: Herr Felbermayr, während wir richtigen Schritt. Es gibt keine Sanktion, aber die Notenbanken müssen sich für
dieses Gespräch führen, marschieren die uns nicht auch selbst treffen würde. dieses Szenario wappnen.
­russische Truppen in der Ukraine ein. SPIEGEL: Deutschland und andere Länder SPIEGEL: Was kann die Europäische Zen­
Mit welchen ökonomischen Folgen kämpfen mit der massiv gestiegenen In­ tralbank (EZB) tun?
­müssen wir rechnen? flation. Drohen weitere Preissteigerungen Felbermayr: Eine einfache Lösung gibt es
Felbermayr: Auch ich bin entsetzt und und sogar eine Rezession? leider nicht. Über russische Militäropera­
überrascht. Die wirtschaftlichen Folgen Felbermayr: Schlimmstenfalls droht uns tionen wird ja nicht in der Frankfurter
sind zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich exakt jenes gefürchtete Szenario, das EZB-Zentrale entschieden. Dass die Gas­
zu beziffern. Aber der russische Angriff wir in der Ökonomie eine Stagflation nen­ preise steigen, hat Christine Lagarde nicht
­bedeutet nicht nur eine Tragödie für die nen – steigende Preise und stagnierende in der Hand. Aber sie muss klar kommu­
Menschen in der Ukraine, sondern dürfte Wirtschaft. Noch ist das reine Theorie, nizieren, dass sie eine Spirale aus höheren
auch enorme wirtschaftliche Schäden Preisen und Lohnabschlüssen keinesfalls
in Russland und Europa nach sich ziehen. tolerieren wird.
Auch deshalb, weil an massiven wirt­ SPIEGEL: Welche Folgen hätte ein Aus­
schaftlichen Sanktionen jetzt kein Weg schluss Russlands aus dem Zahlungsver­
mehr vorbeiführt. kehrssystem Swift?
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? Felbermayr: Der Swift-Ausschluss würde
Felbermayr: Zwei Maßnahmen: Russland nicht nur ein Finanzembargo, sondern
sollte vom Zahlungssystem Swift abge­ letztlich einen nahezu vollständigen Wirt­
koppelt werden, Europa sollte sämtliche schaftsboykott bedeuten. Unternehmen
Gasimporte aus Russland einstellen. Bei­ brauchen das Swift-System, um grenz­
des wird auch für Deutschland und Euro­ überschreitende Zahlungen abzuwickeln.
pa schmerzhafte Konsequenzen haben, Ohne Swift könnten Warenlieferungen
aber damit müssen wir leben. Wenn wir von und nach Russland kaum noch be­
diese Schritte jetzt nicht gehen, sondern zahlt werden. Das hätte auch für uns in
erst im kommenden Winter, dann werden Europa empfindliche Konsequenzen.
die Folgen nur noch schlimmer. SPIEGEL: Inwiefern?
SPIEGEL: Europa versucht, durch Flüssig­ Felbermayr: Ein Swift-Ausschluss würde
gas aus anderen Regionen weniger abhän­ auch bedeuten, dass europäische For­
gig von Russland zu werden. derungen gegenüber Russland nicht mehr
Steffen Roth

Ökonom
Felbermayr: Trotzdem hätten wir spätes­ Felbermayr beglichen werden können. Europäische
tens im nächsten Winter ein Versorgungs­ Banken haben Kredite in Milliardenhöhe
problem. Flüssiggas lässt sich nicht belie­ gewährt, die dann nicht mehr zurück­
big nach Europa umleiten, zudem dürfte gezahlt werden können.
die globale Nachfrage massiv steigen. Die Angst ist zurück SPIEGEL: Kann das für deutsche Banken
Und Deutschland verfügt ja noch nicht gefährlich werden?
einmal über die notwendigen Terminals Erdgaspreis in Europa, in Euro Felbermayr: Die deutschen Kreditinstitute
je Megawattstunde
für den Transport. Man muss es leider haben ihr Russlandgeschäft bereits deutlich
so sagen: Europa hat mit Nord Stream 2 150 zurückgefahren. Ich glaube, dass sich
zu lange auf das falsche Pferd gesetzt. ­etwaige Folgen einer Swift-Sperre einhegen
Jetzt fehlen die Alternativen. lassen, aber die Verbindungen im Finanz­
SPIEGEL: Wäre es nicht Zeit für Europa, sektor sind komplex. Ein Restrisiko bleibt.
100
sich vom Erdgas ganz zu verabschieden? SPIEGEL: Worauf kommt es nun an?
Felbermayr: Das ist Wunschdenken. Die Felbermayr: Entscheidend wird, wie sich
Umstellung auf eine Wasserstoffwirtschaft China verhält. Präsident Xi Jinping könn­
wird Jahrzehnte dauern. Europa hat gera­ 50 te die russische Wirtschaft mit Kapital,
de erst beschlossen, stärker auf Erdgas Warenlieferungen und Know-how unter­
als Brückentechnologie zu setzen. Außer­ stützen, wenn der Westen das Land
dem braucht die Industrie das Gas als ­boykottiert. Im günstigsten Fall gelingt es
wich­tigen Rohstoff – vom Düngemittel bis 0 uns, Chinas Führung von Sanktionen zu
zur Joghurtproduktion. Ein Boykott Russ­ überzeugen. Wenn China und Russland
Jan. Apr. Juli Okt. Jan.
lands würde nicht nur für Preisschübe sor­ 2021 2022 aber noch enger zusammenrücken, haben
gen, sondern auch Lieferketten zerreißen Großhandelspreise wir schlechte Karten.
lassen. Und trotzdem halte ich das für den S Quelle: Refinitiv Datastream; Stand: 24. Februar, 18 Uhr Interview: Michael Brächer n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT UKRAINE-KRIEG

die Volksrepublik wahlweise als »Part­ steuer für energieintensive Produkte


ner«, »Konkurrent« oder »System­ wie Stahl oder Aluminium soll die
rivale«. Vielleicht würde Ex-Freund EU-Industrie vor chinesischer Dum­
am besten passen? pingkonkurrenz mit niedrigeren Um­
Ende vergangenen Jahres bekam weltstandards schützen.
Brüssel jedenfalls zu spüren, was es Um die Durchsetzung europäi­
konkret bedeutet, Wirtschafts- als scher Standards geht es vordergrün­
Machtpolitik zu betreiben. Litauen dig auch im neuen Entwurf für ein
hatte der Regierung Taiwans erlaubt, Lieferkettengesetz, mit der Unterneh­

Florian Generotzky / DER SPIEGEL


unter eigenem Namen eine Vertre­ men verpflichtet werden sollen, für
tung in Vilnius zu eröffnen. Peking die Einhaltung von Menschenrechten
reagierte sofort mit einem Boykott. und Umweltstandards entlang der
Mit in den Bann gezogen wurden Lieferkette zu sorgen. Faktisch dürfte
Unternehmen wie Ikea, aber auch die das Regelwerk dazu führen, dass vor
deutschen Autozulieferer Continental allem finanzschwache Mittelständler
und Hella, die in Litauen Werke ha­ Zulieferer aus China oder anderen
ben und von dort unter anderem nach autokratischen Staaten fallen lassen.
China exportieren. Insgesamt bra­ Firmenchef des Handelsausschusses im EU-Par­ Das größte Dilemma der EU: Es
chen die Einfuhren aus Litauen im ­L axhuber: Derzeit lament. mangelt ihr immer noch an einer
läuft kaum
Dezember um mehr als 90 Prozent etwas nach Plan
Die Logik hinter dem Vorhaben: ­gemeinsamen Außenpolitik. Und so
gegenüber dem Vormonat ein, wie Wenn die EU glaubhaft macht, dass haben Tschechien und Irland bereits
chinesische Zolldaten zeigen. sie auf wirtschaftlichen Druck mit Vorbehalte gegenüber dem »geostra­
Doch China ging es bei der Aktion ebenso hartem Gegendruck reagiert, tegischen Handelsinstrument« ange­
wohl um mehr. Litauen war zuvor aus dann gibt es von vornherein weniger meldet; Schweden warnt davor, der
dem Kooperationsverbund 17+1 aus­ Erpressungsversuche. Es wäre ein EU-Kommission eine handelspoliti­
getreten. In der Gruppe kooperiert Gleichgewicht der Abschreckung, wie sche »Atomwaffe« in die Hand zu
China mit baltischen sowie mittel- es aus dem Kalten Krieg bekannt ist. drücken. Auch innerhalb der Bundes­
und osteuropäischen Staaten. So be­ Immer vorausgesetzt, alle Beteiligten regierung ist der härtere Kurs gegen­
teiligte sich Peking an Infrastruktur­ haben ähnlich gute Karten. über China umstritten, im Kanzler­
projekten, zog lukrative Großauf­träge Noch glaubt Europa, dass dies so amt möchte man den größten Han­
an Land und gewann in Europa poli­ ist. Ein neues Verfahren zur Investi­ delspartner eher vorsichtig anfassen.
tisch an Einfluss. »Die Sache mit der tionsprüfung soll verhindern, dass Ob das Projekt jemals eine Mehrheit
Handelsvertretung dürfte für China Konzerne aus der Volksrepublik stra­ bekommt?
nur ein Anlass gewesen sein, um Li­ tegische Firmen in Europa überneh­ In den Unternehmen ist man tra­
tauen auch für den Austritt aus dem men. Zudem will Brüssel mehr als 40 ditionell eher skeptisch gegenüber
Kooperationsverbund 17+1 zu bestra­ Milliarden Euro ausgeben, um euro­ großen industriepolitischen Eingrif­
fen«, sagt Franziska Brantner, Parla­ päische Chiphersteller zu stärken. fen. Andererseits: Was wäre die Al­
mentarische Staatssekretärin im Bun­ Und eine sogenannte CO2-Grenz­ ternative? »Dass wir uns zurückhal­
deswirtschaftsministerium. ten, damit die Geschäfte weiterlaufen,
Continental konnte sich relativ wird nicht funktionieren«, sagt Wolf­
­elegant aus Chinas Würgegriff lösen. Russland spielt nur eine Nebenrolle gang Niedermark, Mitglied der
Das Unternehmen bedient den chi­ Hauptgeschäftsführung des Bundes­
nesischen Markt nun aus Rumänien Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen verbands der Deutschen Industrie.
in Deutschland, Bestände in Mrd. Euro
und Ungarn heraus. Das Problem: Veränderung Die Wirtschaft sei bereit, ihren Teil
aus Russland aus China gegenüber 2012:
Tschechien liebäugelt ebenfalls mit beizutragen. »Auch wenn die Unter­
einem Austritt aus 16+1. Und das + 117 % + 394 % nehmen sich dadurch auf zusätzliche
könnte für Autokonzerne wie VW 8,9 6,3 10
Konflikte und Kosten einstellen
und Zulieferer wie ZF oder Schaeffler ­müssen.«
mit ihren großen Standorten in Tsche­ 2012 2019 Siemens-Energy-Chefkontrolleur
chien noch unangenehm werden. »Bis Kaeser warnt vor allzu viel Optimis­
Direktinvestitionen deutscher Unternehmen
dahin müssen wir unsere Abwehr ste­ im Ausland, Bestände in Mrd. Euro + 110 %
mus: »Wenn wir in China, den USA
hen haben«, sagt Staatssekretärin 89,5 und dann auch in Europa einen Rück­
in Russland in China
Brantner. fall in eine nationalistische Wirt­
Brüssel arbeitet an einer Strategie. 80 schaftspolitik hätten, wäre die einzig
Zur Strafe für die Litauen-Aktion mögliche Antwort von Unternehmen
strebt die Kommission gegen China eine weitere Lokalisierung ihrer Ak­
ein Verfahren vor der Genfer Welt­ 60 tivitäten«, sagt er. Nur wo blieben
handelsorganisation an. Zudem stell­ dann die kleineren und mittelständi­
te sie im Dezember ein neues »geo­ schen Exporteure, die nicht in all die­
politisches Handelsinstrument« vor, 40 sen Wirtschaftsräumen eigene Fabri­
das ihr erlaubt, »Zwangsmaßnah­ ken bauen könnten? Genau das sorge
men« von Staaten wie China mit – 15 % ihn, so Kaeser, »weil dieser Mittel­
Sanktionen zu kontern, etwa mit 18,9 stand unser Land wirtschaftlich, vor
­höheren Zöllen oder einer Einschrän­ allem aber sozial und gesellschaftlich
kung des Zugangs zu öffentlichen trägt«.
Aufträgen. »Wir werden nicht zulas­ Simon Book, Simon Hage,
sen, dass andere uns Entscheidungen 2012 2019 2020 Martin Hesse, Mitsuo Iwamoto,
diktieren«, sagt Bernd Lange, Chef S Quelle: Bundesbank ­Alexander Jung, Michael Sauga n

64 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


WIRTSCHAFT

sind für uns von hohem Interesse.« Vor Kurzem wies der Wahlvor-
Die Wahlversammlung am 29. No- stand in einer Rundmail zur Betriebs-
vember im Bereich »Body in White« ratswahl darauf hin, dass es nicht zur
versprühte dann schon wieder den Unternehmenskultur von Tesla passe,

Gigawahl im
Tesla-Spirit, mit Bühne, Musik und Wahlkampfplakate von Wettbewer-
Scheinwerfern, freien Getränken und bern herunterzureißen oder Flyer zu
Snacks. Bei einer solchen Versamm- zerstören. Wer genau betroffen war,

Tesla-Land
lung wird laut Betriebsverfassungs- ließ die Mail offen.
gesetz der Wahlvorstand gewählt. Er Für die IG Metall ist die Wahl vor
organisiert und führt die Wahl durch. dem Produktionsstart eine zwei-
Gewählt wurde nicht per Handzei- schneidige Angelegenheit. Anfang
chen. Wer mit Nein stimmen wollte, der Woche begrüßte Birgit Dietze,
ARBEITSWELT  Tesla und Betriebsrat galten musste aus der Menge heraustreten IG-Metall-Chefin von Berlin, Bran-
bislang als unvereinbare Welten. Nun wird in der und in ein angrenzendes rotes Feld denburg und Sachsen, das Vorhaben
wechseln, berichten mehrere Beschäf- »ausdrücklich« und forderte alle Be-
Fabrik in Grünheide noch vor dem Produktions- tigte. Das Ergebnis war eindeutig. schäftigten auf, an der Wahl teilzu-
start eine Arbeitnehmervertretung gewählt. Am Ende verkündete der frisch nehmen. Doch eigentlich kommt die
Auffällig viele Kandidaten sind Führungskräfte. ­gewählte Vorstand, dass er auch ge- Wahl für die Gewerkschaft zu früh.
schlossen als Liste bei der Wahl an- Es arbeiten erst knapp 2500 Men-
treten werde, und zog Shirts mit dem schen im Tesla-Werk, für das es noch

N
ormal« gibt es nicht in der Welt Namen der Liste über: »Gigavoice«. keine endgültige Genehmigung gibt.
des Elon Musk, bei Tesla ist Seitdem ist Wahlkampf bei Tesla Unter Volllast sollen es einmal 12 000
auch nichts »groß«, in seinem und Gigavoice omnipräsent. In den sein. Eingestellt wird bei einer neuen
Reich ist alles »giga«. Mitarbeiterver- Hallen hängen Plakate und Banner Fabrik von oben nach unten. Das
sammlungen im Tesla-Werk in Grün- von Gigavoice, überall liegen Flyer Heer der Beschäftigten in der Produk-
heide werden zum »Team ­Huddle«, aus (»Umsetzen statt blockieren, dis- tion, auf das sich die Macht der IG
und selbst wenn dort nur über den kutieren statt streiten«). Die Liste Metall bei anderen Herstellern stützt,
Fortgang auf der Baustelle berichtet habe einen eigenen Sharepoint in der ist noch nicht da. Eine machtvolle Ge-
wird, geht es zu, als würde die Halb- internen Teams-Anwendung, berich- werkschaftsvertretung im Betriebsrat

12 000
zeitshow des Super Bowl beginnen. ten mehrere Beschäftigte überein- scheint da wenig wahrscheinlich.
Mit dröhnenden Beats, Projektionen stimmend. Ebenso, dass sie bereits So tritt die Gewerkschaft mit kei-
und Lichteffekten. Mails an die Mitarbeiter verschickt ner eigenen Liste an. Das hätten die
Weniger »giga« findet Musk Be- Mitarbeiter habe, bevor die Listenaufstellung am Mitglieder selbst entschieden, sagt
triebsräte und Gewerkschaften, sie 26. Januar abgeschlossen war. Dietze. »Sie wollten mit Kolleginnen
sind ihm ein Gräuel. Legendär ist sein sollen bei Seitdem gibt es drei Konkurrenz- und Kollegen aus ihren Bereichen, die
Kampf, das Tesla-Werk im amerika- listen: »Heart of Tesla«, »GIGA4 nicht in der IG Metall sind, auf ge-
nischen Fremont gewerkschaftsfrei Tesla in YOU« und »Energy for the future – meinsamen Listen zu dieser ersten
zu halten. Selbst mit US-Präsident ­Grünheide Für euch, mit euch!«. Im Auftritt kön- Betriebsratswahl antreten.« Die Mit-
Joe Biden legt er sich dafür an.
Ausgerechnet bei seinem Vorzei-
arbeiten, nen sie mit Gigavoice nicht mithalten.
Erste Mails verschickten sie in der ver-
gliederzahl bei Tesla sagt sie nicht.
19 Personen werden am Montag in
geprojekt in Brandenburg scheint der wenn das gangenen Woche. Auf Nachfrage von Grünheide in das Gremium gewählt.
Milliardär nun seine Haltung zu än- Werk voll Kollegen hätten Vertreter der Listen Die Listen Heart of Tesla, GIGA4
dern. Die Wahl eines Betriebsrats am geantwortet, es habe etwas gedauert, YOU und Energy for the future treten
kommenden Montag wird von Musk ausgelastet bis sie Zugang zum Gesamtverteiler mit 13 bis 19 Köpfen an, vor allem
weder sanktioniert noch unterlaufen. sein wird. der Gigafactory bekommen hätten. normale Mitarbeiter. Gigavoice bietet
Womöglich in der Hoffnung, so den hingegen 53 Leute auf. Auf den aus-
Einfluss der IG Metall in der Giga­ sichtsreichen ersten zwölf Listenplät-
factory kleinhalten zu können. zen stehen überwiegend Beschäftigte
Als Ende November 2021 bekannt mit Führungsverantwortung – Mana-
wurde, dass bei Tesla eine Arbeitneh- ger, Supervisoren. Die Spitzenkan­
mervertretung gewählt werden soll, didatin ist in einem Organigramm von
vermuteten einige Medien zunächst Tesla drei Stufen unter »CEO & Techno­
die IG Metall als Drahtzieher dahin- king« Musk einsortiert.
ter. Doch die Gewerkschaft selbst war Zwar wird der Betriebsrat erst
vom Zeitpunkt überrascht. Im IG- noch gewählt, Gigavoice hat aber be-
Metall-Büro am Bahnhof Fangschleu- reits eine Zwischenbilanz ihres Wir-
se, in direkter Nähe zu Tesla, arbei- kens verschickt. Es ging um Überstun-
teten sie die Nacht durch, um Flyer den, Wochenendarbeit, die Essens-
über den Ablauf von Betriebsrats- versorgung auf dem Werkgelände.
wahlen zu produzieren, die sie mor- Die Foodtrucks, wurde verkündet,
Patrick Pleul / picture alliance / dpa

gens vor dem Werk verteilten. sollen jetzt wöchentlich rotieren.


Die Einladung zur Wahlversamm- Auch in Zukunft sehe Gigavoice seine
lung kam aus der Belegschaft. Das Aufgabe darin, die Interessen der Be-
Anschreiben der sieben Initiatoren, schäftigten zu verfolgen und die Mis-
vornehmlich Führungskräfte, begann sion von Tesla weiter voranzutreiben.
firmenuntypisch förmlich: »Liebe Firmenchef Musk
Mit so einem Betriebsrat könnte
Kolleginnen und Kollegen, die Be- in Grünheide 2021 wohl auch Elon Musk leben. Giga.
lange unserer ArbeitnehmerInnen Markus Dettmer n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

Tagungsort Schloss fe gegen Lehne bezüglich politischer Aktivi-


­Chambord in Frankreich täten nicht der Wahrnehmung von uns Grü-
nen vor Ort entsprechen«. Sein elektronischer
Terminkalender, der mit Sitzungen, Briefings
und Telefonaten prall gefüllt ist. »Ich habe
alle meine Arbeitspflichten erfüllt«, sagt er,
»an allen Arbeitstagen und oft genug auch an
Wochenenden.«
Mag sein, dass sich manche Vorwürfe dem-
nächst in Luft auflösen. Es deutet sogar vieles
darauf hin, dass der Präsident nicht die größ-
te Fehlbesetzung in der einflussreichen EU-
Behörde ist. Und doch werfen die Enthüllun-
gen ein unschönes Licht auf eine zentrale
EU-Institution, die nicht zum ersten Mal
­hässliche Schlagzeilen produziert.
Nicht die mehr als 900 Fachkräfte sind
dabei das Problem, die regelmäßig fundierte
Berichte über Mängel, Fehler und Ineffizien-
zen bei der Verwaltung des 170 Milliarden
Euro schweren EU-Haushalts vorlegen. Über
Geldwäsche oder Bankenrisiken beispiels­
weise, über Energiesteuern und Korruption.
Das Problem ist das grotesk aufgeblähte
Leitungsgremium, das zu einem erheblichen

Shotshop / IMAGO
Teil aus politischen Versorgungsfällen besteht,
die den Job der Fachprüfer eher behindern
als befördern. Weil jedes EU-Land nach den
üblichen Gemeinschaftsregeln ein eigenes
Mitglied stellen darf, werden die wichtigsten
Entscheidungen in einem kaum steuerbaren
Gremium von 27 Mitgliedern gefällt, in dem

Kontrolleure außer
manche weder etwas von Rechnungen noch
von Prüfungen verstehen, sondern allenfalls
von Politik. So wie der Pole Marek Opiola,

Kontrolle
der sich im Warschauer Parlament zuvor als
Verteidigungspolitiker hervorgetan hat. Oder
der Malteser Leo Brincat, ein altgedienter
Labour-Apparatschik, der seinem Land als
Umweltminister diente. Oder der Rumäne
VERSCHWENDUNG  Die Affäre um den deutschen Präsidenten des Stefan Viorel, zuvor Vizepremier in der Bu-
karester Regierung. Sie alle wurden vom EU-
­ uropäischen Rechnungshofs deckt die tieferen
e Parlament abgelehnt, zumeist wegen Inkom-
Probleme der EU-Behörde auf: zu viele Politiker, zu wenig Substanz. petenz, aber von den Mitgliedstaaten in ihre
Ämter gehievt. Man weiß ja nie, ob man nicht
demnächst selbst eine politische Leiche los-

K
laus-Heiner Lehne will reden. Der Prä- kommenden Montag zum wiederholten Mal werden muss.
sident des Europäischen Rechnungs- über den Vorgang debattieren, der eine ein- Das Prinzip ärgert die teils beamteten
hofs sitzt vor einer riesigen Yuccapalme fache Frage aufwirft: Wird im obersten Finanz­ Fachprüfer, die mit kritischen Berichten nicht
in seinem Luxemburger Büro. Er hat seinen prüfungsamt der EU systematisch Steuergeld selten bei ihren national gesinnten Aufsehern
Dienstlaptop aufgeklappt, Dokumente und veruntreut? anecken. Und es belastet die Steuerzahler, die
Papiere aufgestapelt und einen DIN-A4-Zet- Schwere Vorwürfe stehen im Raum. Lehne für den dysfunktionalen Behördenapparat
tel voller Notizen bereitgelegt. soll mit Mietzuschüssen und Fahrtkosten ge- aufkommen müssen. Weil für jedes Führungs-
Lehne möchte ein paar Dinge klarstellen, trickst und nach seinem Amtsantritt illegal als mitglied ein eigenes Mitarbeiterteam vor­
weil er in seiner Behörde unter Druck steht Rechtsanwalt weitergearbeitet haben. Der gesehen ist, arbeiten mehr als 100 Hof­
wie noch nie zuvor in seiner Amtszeit. »Die Präsident sei in seiner Heimatstadt Düsseldorf beschäftigte allein der Leitungsabteilung zu.
Stimmung im Hof«, sagt er, »ist schlecht.« entgegen den Vorschriften politisch aktiv ge- Finanziell sind die Chefkontrolleure eben-
Das ist noch untertrieben. Seit die franzö- wesen und habe nicht mehr als zwei Tage pro falls gut versorgt. Mit knapp 23 000 Euro
sische Zeitung »Libération« eine Artikelserie Woche an seinem Schreibtisch verbracht. Ist Grundgehalt im Monat verdienen sie mehr
über Verschwendung und Spesenrittertum in einer der wichtigsten EU-Beamten in Wahr- als der deutsche Bundeskanzler. Sie haben
der Kontrollbehörde veröffentlicht hat, gärt heit ein Frühstücksdirektor? Anspruch auf Dienstwagen mit Chauffeur, ein
es auf den Fluren des festungsähnlichen Baus »Die Vorwürfe sind falsch«, sagt Lehne bestens gefülltes Spesenkonto und zahlreiche
am Luxemburger Kirchberg. Die Verwal- und legt seine Belege auf den Tisch. Ein weitere Vergünstigungen auf dem Niveau von
tungsspitze lädt zu Foren mit aufgebrachten Schreiben der zuständigen Rechtsanwalts- EU-Kommissaren.
Mitarbeitern. Anonyme Mails kursieren, in kammer, das bestätigt, dass er seine Kanzlei So ist es kein Wunder, dass sich um den
denen kaum verhüllt Lehnes Rücktritt gefor- ordnungsgemäß abgemeldet hat. Ein Tweet kreisrunden Konferenztisch im obersten
dert wird. Und der Haushaltskontrollaus- des früheren Düsseldorfer EU-Abgeordneten Stock des Luxemburger Hofgebäudes mehr-
schuss des Brüsseler EU-Parlaments wird am Sven Giegold (Grüne), wonach die »Vorwür- mals im Monat eine schillernde Truppe ver-

66 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


WIRTSCHAFT

sammelt. »Einige sind exzellente aber weil ihm ein Single-Apartment Satzung der Partei studiert, kommt
Fachleute«, sagt ein langjähriger EU- in Luxemburg zu teuer war, zog er in zu dem Ergebnis, dass Europas Rech-
Parlamentarier, der das Gremium eine mehrgeschossige Großwohnung, nungshofpräsident damit weiter Mit-
bestens kennt. »Andere lassen sich in der er einige Zimmer untervermie- glied des örtlichen Parteivorstands
nur selten sehen, wieder andere sam- tete. Das brachte ihm pro Monat etwa ist, wenn auch nur in »beratender
meln vor allem Bewirtungsquittungen 1400 Euro zusätzlich ein. Funktion«.
oder kümmern sich um ihre politi- Damit nicht genug. Der Einfach- Er habe »keine Regeln verletzt«,

Olivier Hoslet / epa


schen Kontakte.« heit halber vermietete er die Räume beteuert Lehne. Dennoch sieht sich
Und manche machen alles gleich- an enge Mitarbeiter, womit sich der seine Behörde nach den Enthüllungen
zeitig, so wie der belgische EU-Poli- oberste Haushaltskontrolleur des der vergangenen Wochen genötigt,
tiker Karel Pinxten, der in seiner Kontinents dem Verdacht aussetzte, die eigenen Vorschriften umfassend
Rechnungsprüferzeit gern Lobbyisten Behördenchef Lehne private und professionelle Belange zu ändern, zum Beispiel bei Miet- und
und Politiker zu feudalen Gesellschaf- unzulässig zu verquicken. »Dümmer Untermietverträgen.
ten einzuladen pflegte, auf Kosten des geht’s nimmer«, sagen Leute aus sei- Es ist ein Misstrauensvotum der
Rechnungshofs, versteht sich. Im De- nem eigenen Lager. Verwaltung, und auch Lehnes engste
zember 2015 zum Beispiel organisier- Lehnes Umgang mit Politik und Verbündete gehen inzwischen auf
te er ein Dinner im französischen Partei wirft ebenfalls Fragen auf. Laut Distanz. »Derzeit kann ich nicht er-
Schloss Chambord, wo EU-Haus- Verhaltenskodex des Hofs ist der kennen, dass der Präsident des Rech-
haltskommissar Johannes Hahn mit ­Präsident zu strikter Neutralität ver- nungshofs gegen Regeln verstoßen
dem Chef des Europäischen Land- pflichtet. Nur wird er dem gerecht? hat«, sagt Monika Hohlmeier (CSU),
besitzer-Verbandes zusammenkam. Seine Dienstreisen nach Deutsch- Vorsitzende des Haushaltskontroll-
Tags darauf gingen etliche Teilnehmer land brachten ihn auffällig oft mit ausschusses. Ausdrücklich begrüßt sie
in den umliegenden Wäldern auf die ­seinen früheren Parteifreunden im die schon beschlossenen Änderungen
Jagd. Es war ein Treffen mit rein Rheinland zusammen. Er habe die des Hofs, fügt indes hinzu: »Obwohl
­privatem Charakter, wie Hahn später Termine nicht wegen des CDU-Par- die Untervermietung nicht gegen
mitteilte. Aber längst nicht die ein- teibuchs wahrgenommen, sagt Lehne, ­geltendes Recht verstieß, könnte sie
zige Sause, zu der Pinxten lud. sondern »aufgrund von deren Rele- doch in der öffentlichen Betrachtung
Noch besser verstand es der Bel- vanz«. Eine Übersicht für den Haus- einen falschen Eindruck erwecken.«
gier, die Kosten seines aufwendigen haltskontrollausschuss freilich ver- Der grüne EU-Abgeordnete Da-
Privatlebens mit der Luxemburger mittelt ein anderes Bild. 26-mal be- niel Freund denkt sogar darüber nach,
Etatbehörde zu teilen. Das Amt be- suchte der Behördenchef danach seit dem Hof wegen der Affäre die Ent-
glich Rechnungen für Pinxtens Fe- dem vierten Quartal 2018 die Bun- lastung zu verweigern. Der Schritt
rienreisen ins schweizerische Crans desrepublik, doch mehr als 42 Pro- hätte zwar keine unmittelbaren Kon-
Montana oder nach Kuba. Es zahlte, zent der Trips führten ihn nach Düs- sequenzen, würde aber ein deutliches
wenn er Empfänge oder Hochzeiten seldorf und Umgebung: zu einem Signal setzen: »Ich habe Zweifel, ob
besuchte. Und wäre es nach Pinxten Treffen mit Regierungspräsidentin Lehne in seinem Amt die notwendige
gegangen, hätten Europas Steuer­ Birgitta Radermacher (CDU), einer parteipolitische Unabhängigkeit ge-
zahler sogar mitgewirkt, als er ver-
suchte, ein Weingut im Burgund zu 500 000 Konferenz der Jungen Union, einem
Auftritt vor dem unternehmensnahen
wahrt hat«, sagt Freund. »Die offenen
Fragen müssen vor der Entscheidung
erwerben.
Am Ende hatte der flämische Baron Euro Industrie-Club. Folgt man der Liste,
muss sich Lehnes Standardvortrag
im Parlament eindeutig geklärt wer-
den.« Vom Chef des Rechnungshofs
das Amt um mehr als 500 000 Euro (»Der Rechnungshof als Anwalt der erwarte er hier »ein besonders vor-
betrogen, ermittelte die europä­ische fordert der europäischen Steuerzahler«) in bildliches Verhalten«.
Antikorruptionsbehörde OLAF. Im
Herbst vergangenen Jahres urteilte der
Rechnungshof Neuss, Ratingen oder Benrath regel-
recht eingebrannt haben.
Lehne selbst will auch Konsequen-
zen ziehen. Bei der Neuwahl des Prä-
Europäische Gerichtshof, dass die von seinem Noch immer ist er zudem Ehren- sidenten im September will er nicht
Kontrollbehörde berechtigt sei, ihrem Ex-Mitglied vorsitzender des regionalen CDU- wieder antreten. »Ich habe ohnehin
früheren Mitglied zwei Drittel seiner Kreisverbands. Ein Titel, mit dem sich keine weitere Amtszeit angestrebt«,
Pension zu streichen. Karel Pinxten laut Lehne »keinerlei politische Funk- sagt er. »Dabei bleibt es.«
Für Lehne war der Skandal Chance ­zurück. tion verbindet«. Wer allerdings die Und so wird sich demnächst eini-
und Risiko zugleich, als er 2016 zum ges ändern in dem Amt, in dem sich
Präsidenten aufstieg. Risiko, weil er die Affären zuletzt verdächtig gehäuft
fortan mit Racheaktionen der Pinx- haben. Es wird einen neuen Präsiden-
ten-Seilschaft im Hof zu rechnen ten und neue Vorschriften geben, und
­hatte. Chance, weil er die Behörde der Chef der Verwaltung wird mehr
umorganisieren und neu ausrichten Befugnisse bekommen, die Hofmit-
konnte. »Die Qualität der Prüfberich- glieder zu überwachen. In Europas
te hat sich in Lehnes Amtszeit deut- oberster Haushaltsbehörde kontrol-
lich verbessert«, urteilt Haushalts­ liert künftig nicht mehr die Politik die
experte Giegold. Verwaltung. Die Verwaltung kontrol-
Bruno Fahy / Belga News Agency / ddp

Das Problem war nur, dass Lehnes liert die Politik.


Reformeifer Grenzen kannte. Wenn Nur das eigentliche Problem der
es etwa darum ging, die großzügigen Behörde steht nicht zur Debatte: ihr
Reise- und Spesenregeln der Behörde Wasserkopf aus überbezahlten Ex-
auszureizen, zeigte sich der frühere Politikern, deren besondere Fähigkeit
CDU-Europaabgeordnete eher als Belgisches Königspaar,
darin besteht, sich untereinander mit
Traditionalist. So kassierte Lehne den Baron und Baronin Pinxten 2016 Intrigen zu überziehen.
üblichen Wohnzuschuss der Behörde; Michael Sauga n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

Managerin Wortmann los zurück. Sie hatten wenig Lust, sich mit
neuen Mobilitätskonzepten, dem Verkauf von
Wallboxen oder gar Lastenrädern zu beschäf-
tigen. Das war für sie vor zwei Jahren vor
allem eins: Gedöns.
Ist es inzwischen nicht mehr. Kaum einer
zweifelt mehr an Wortmanns These, im
Gegenteil. Heute beschweren sich die Händ-
ler im VW-Konzern, dass sie nicht genügend
Elektroautos bekommen. Stromer sind
knapp, und die Nachfrage ist derart explo-
diert, dass Volkswagen die Wagen mittler-
weile rationiert und per Quote verteilt.
Wortmann selbst hat in dieser Zeit eine
steile Karriere gemacht. Seit Anfang Februar
verantwortet sie neben Audi und den Töch-
tern Lamborghini, Bentley und Ducati auch
den Vertrieb der Marken Volkswagen, Škoda,
Seat, Cupra und Porsche.
Sie ist die vierte Frau überhaupt, die es
jemals in den VW-Konzernvorstand geschafft
hat. Wortmann rückt damit in die Riege der
einflussreichsten Managerinnen Deutschlands
auf. Sie macht daraus kein großes Ding, tritt
zwar für gendergerechte Sprache in der
Unternehmenskommunikation ein, nimmt es
selbst beim Sprechen damit aber nicht so
­genau.
Für ihren Aufstieg erhielt sie viel Beifall,
mit einem Anteil von lediglich 18 Prozent sind
Frauen in Dax-Vorständen noch immer in der
Minderheit. Das Etikett Karrierefrau scheint
ihr allerdings eher lästig zu sein. »Ich hatte
nie Probleme, mich durchzusetzen«, sagte sie
Dirk Bruniecki / DER SPIEGEL

einmal, »und denke nicht, dass das eine


­Frau-Mann-Geschichte ist.« Nur an einer
­Sache lässt sie keinen Zweifel: dass sie ihre
Macht für weitere, tiefgreifende Veränderun-
gen nutzen will.
Wie entschlossen sie ist, signalisiert sie
vom ersten Arbeitstag an in ihrer neuen R
­ olle.
Sie spricht sofort mit dem SPIEGEL, legt ihre
Pläne offen und erklärt die alte Autowelt der

Volkswagens mächtigste
PS- und Geschwindigkeitsprotze für beendet:
»Das Prinzip Autoquartett ist auf die Dauer
nicht mehr tragbar.« Für Kundinnen und Kun-

Verkäuferin
den zählten heute andere Werte, das zeigten
interne Befragungen: »Wer keine Antwort auf
den Klimawandel und das wachsende Be­
dürfnis nach Nachhaltigkeit hat, dem fehlt in
Zukunft die Geschäftsgrundlage.«
KARRIEREN  Hildegard Wortmann hat den Mini zum Zeitgeist-Vehikel Wortmann liegt damit exakt auf der Linie
von Herbert Diess, doch anders als der Kon-
gemacht und die Marke Audi gerettet. Jetzt steigt sie in den zernboss belässt sie es nicht bei Provokatio-
VW-Konzernvorstand auf und will den Verkauf von Autos radikal ändern – nen. Sie malt nicht bloß den Niedergang der
etwa mit virtuellen Showrooms und 24-Stunden-Onlineberatung. alten Welt an die Wand, sie zeichnet das
Bild für den Ausweg gleich mit. Diess’ Plan,
Weltmarktführer für E-Mobilität zu werden,

D
ie Provokation war wohlüberlegt. Hil- Teilnehmern, werde es Audi und seinen erweitert sie um eine entscheidende Dimen-
degard Wortmann, als Vertriebschefin ­Vertriebspartnern ergehen, wenn sie ihr Ge- sion: Künftig sollen die Kunden diesen Wan-
die oberste Verkäuferin bei Audi, schäftsmodell nicht bald radikal umkrempel- del direkt an der Verkaufsstelle zu spüren
sprach zu ihren mehreren Tausend Händle- ten. Die Chancen, den Wandel zu schaffen, zu bekommen. Statt gedrungener Händ­
rinnen und Händlern. Statt, wie bei solchen lägen bei 50 Prozent. Anfang 2020 war das. lerbuden, in denen Dutzende Autos Stoß-
Events üblich, das Publikum schmeichelnd Etliche Zuhörer reagierten irritiert. stange an Stoßstange stehen, eröffnet Wort-
einzulullen, präsentierte sie ihm eine Groß- Vor allem Wortmanns Forderung, die mann weiträumige Pop-up-Stores (»House of
aufnahme des Boxers Muhammad Ali, der Autohäuser müssten künftig mehr leisten, als Progress«). In Städten wie Wien oder São
gerade einen Gegner k. o. geschlagen hat. So nur Fahrzeuge abzusetzen und zu warten, Paulo informieren Designer und Marken­
wie dem Mann am Boden, warnte sie laut ließ viele der erfolgsverwöhnten Händler rat- botschafter auf großen Digitaldisplays über

68 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


WIRTSCHAFT

Lademög­lichkeiten und das auto­ Aufsichtsrat alle Optionen offenge­ Den Spruch nehme sowieso keiner
nome Fahren. Was Audi da anbietet, halten. Vor der entscheidenden Sit­ mehr ernst.

CAMERA PRESS / ddp


soll zum ­Vorbild für den ganzen Kon­ zung im Dezember hatte nicht einmal Am Ende war der Werbeslogan so
zern ­werden. ihr Name auf der Tagesordnung ge­ ziemlich das Einzige, was vom alten
Natürlich weiß sie, dass der Weg standen. Audi übrig blieb. Die Marke verkün­
vom klassischen Autohändler vor Ort Als Diess-Aufpasser rückten der dete, als erster deutscher Hersteller,
zum digitalen Einkaufstempel noch Jurist Manfred Döss und der künftige den Abschied vom Verbrenner von
weit ist. Selbst der Kundenkontakt Chinachef Ralf Brandstätter in den 2032 an und setzte voll auf Elektro­
per E-Mail bereitet einigen in der Vorstand auf. Das war Wortmanns mobilität. Die Investitionen für Brenn­
Branche bis heute Probleme. Chance. Zu viele Männer gehen selbst stoffzelle und Gasantrieb, als dessen

Sina Schuldt / dpa


Autohäuser sind oft Familien­ in Wolfsburg nicht mehr. Zudem for­ Vorreiter sich Audi lange begriff, spar­
betriebe in zweiter und dritter Gene­ derte Familienvertreter Hans Michel te die neue Führungsspitze kurzer­
ration, die Öl wechseln oder die Piëch schon länger, der weltweite Ver­ hand zusammen.
­Kurbelwelle austauschen. In der Welt trieb aller Marken müsse zentral aus Drei ehemalige BMW-Manager
der E-Antriebe und Software-Up­ dem Konzernvorstand heraus geführt Mini Cooper 2001, setzten den Wandel gegen alle inter­
dates müssen sie sich erst mühsam werden. Ihren Job als Audi-Vertriebs­ Konzernzentrale in nen Widerstände durch: Audi-Chef
zurechtfinden. Zudem gewinnen im­ chefin führt Wortmann nun in Perso­ Wolfsburg: »Das Markus Duesmann, VW-Konzern­
Prinzip Autoquartett
mer mehr von ihnen den Eindruck, nalunion fort. ist auf die Dauer boss Herbert Diess – und Hildegard
dass der Konzern die Zukunft ohne Wortmann, geboren 1966, hat sich nicht mehr tragbar« Wortmann. Die schwor vor allem die
sie plant. Ganz nach dem Vorbild des beharrlich nach oben gearbeitet. Sie Vertriebspartner auf den neuen Kurs
US-Rivalen Tesla sucht VW zuneh­ machte Abitur, dann eine Ausbildung ein. »Wir können nicht einfach so wei­
mend den direkten Kontakt zu den zur Fremdsprachenkorrespondentin. termachen wie in den vergangenen
Käuferinnen und Käufern. Der kali­ Erst danach studierte sie Betriebs­ 100 Jahren«, schmetterte sie den ver­
fornische Hersteller vertreibt seine wirtschaft in ihrer Heimatstadt Müns­ dutzten Audi-Händlern entgegen.
E-Fahrzeuge selbst, online und über ter, anschließend in London. Sie Nicht jeder war von solchen Ansagen
schicke, selbst betriebene Stores in heuerte beim Konsumgütermulti Uni­ begeistert.
Innenstadtlagen. So weit werde es bei lever an, kümmerte sich dort um das Manche Händler warfen Audi in­
VW nicht kommen, versichert Wort­ Kosmetiksortiment der damals an­ direkt vor, sich auf ihre Kosten zu sa­
mann. »Der physische Handel wird gesagten US-Marke Calvin Klein. nieren. Während der Hersteller vom
ein integraler Bestandteil bleiben.« Ihre wahre Berufung fand sie später neuen Kurs profitierte und 2021 wie­
Sofern er sich ändert. bei BMW. Dort verhalf sie einem fast der üppige Renditen einfuhr, ächzten
In China setzt Wortmann bereits schon totgesagten Fahrzeug zu einem viele Autohäuser weiter unter der
stark aufs Digitale. Bei Audi hat sie Comeback – dem Mini. Coronakrise. In den Zufriedenheits­
die Pandemie genutzt, um den On­ Der ikonische britische Klein­ rankings der Vertriebspartner sackte
linevertrieb zu treiben. Audis Ver­
triebspartner eröffneten Livestreams,
wagen, den schon die Beatles, TV-
Komiker Mr. Bean und angeblich
Mangel- Audi zeitweise ab, wohl auch weil
viele sich von der geforderten Um­
Virtual-Reality-Showrooms und eine auch die Queen gefahren hatten, be­ erscheinung stellung auf Elektroantrieb und Digi­
24-Stunden-Onlineberatung. Das Re­ nötigte ein neues Image. Und Wort­ Anteil von Frauen in talvertrieb überfordert fühlten.
sultat: Der Chinaabsatz der Ingol­ mann sollte es entwerfen. Sie ver­ Dax-Vorständen, Wortmann redet lieber über die
städter blieb im Vergleich zur Marke anstaltete große Fantreffen namens in Prozent Positivbeispiele: einen Händler im
VW deutlich stabiler. Mini United. Rund um die Marke 20 Bayerischen Wald etwa, der neben
Für den Konzern läuft es im welt­ bildeten sich Communitys, die sich 18,1 seinen Verkaufsflächen einen Elektro­
größten Absatzmarkt eher mäßig. Er zu physischen und digitalen Treffen fachbetrieb mit neu eingestellten Spe­
hat dort seit 2021 so wenige Autos verab­redeten. Zugleich erhielt der 10
zialisten aufgebaut hat, was einen
verkauft wie seit 2014 nicht mehr. Mini ein völlig neues Design: weg Rundumservice samt Installation und
Volkswagens Stromer waren vielen vom Sardinenbüchsen-Gefühl, hin Instandhaltung von Wallboxen er­
Chinesen zu unattraktiv, sie entschie­ zum »Go-Kart-Feeling«. 4,8
möglicht. Oder das kleine Traditions­
den sich lieber für die digital hoch­ Der Neustart zahlte sich aus: Die 0 haus Warncke im niedersächsischen
gerüsteten Modelle Teslas oder die angestaubte Oldie-Marke avancierte 2014 2018 2022 Tarmstedt, das seinen Absatz bereits
der heimischen Hersteller. zum Symbol des Aufbruchs in eine zu fast zwei Dritteln mit Batterieautos
Wortmann musste lange um ihren neue, urbane Mobilität. 50 000 neue Weibliche bestreitet.
Aufstieg in den Wolfsburger Konzern­ Minis wollte BMW ursprünglich pro Vorstandsmitglieder Tatsächlich denken viele Händler
vorstand bangen. Das lag weder an Jahr verkaufen. Es sind mehr als nach Branchen, gerade um. Auf Branchentreffen dis­
Anteil in Prozent
ihrem Ansehen noch an ihrer Quali­ sechsmal so viele geworden. Bis heu­ kutieren sie sogar bislang undenk­bare
fikation – ihr Vorstandsvertrag bei te begreift es Wortmann als ihre größ­ Telekommunikation Szenarien wie den »möglichen Aus­
Audi war gerade erst um fünf Jahre te Stärke, »Themen zukunftsfähig zu 19,2 stieg aus der Individualmobilität im
verlängert worden. Sie war Teil des gestalten«. urbanen Raum«, wie ein Vertriebler
Automobilbranche
Einsatzes im letzten Machtpoker. Die nächste Chance dafür erhielt es formuliert.
18,8
Wortmann gilt als Vertraute von Kon­ sie 2019 bei Audi. Volkswagens Pre­ Einige erwägen, künftig Autos zu
zernchef Herbert Diess, den sie aus miumtochter, einst größter Gewinn­ Energieversorger vermieten, Bikes zu verleasen und
gemeinsamen Zeiten beim früheren bringer und Innovationsführer im 17,6 Lastenräder zu verkaufen.
Arbeitgeber BMW kennt. Dessen Konzern, hatte sich an der Diesel­ Finanzbranche Wortmann begrüßt das. »Die To­
Einfluss wollten Mitglieder des Auf­ affäre verbrannt. Ein scheinbar hoff­ 15,9 nalität ist jetzt deutlich zukunftsge­
sichtsrats im vergangenen Herbst be­ nungsloser Fall. Kollegen rieten ihr Handel wandter.« Das Foto von Muhammad
schneiden. Erst als das monatelange sogar, den jahrzehntealten Slogan 15,6
Alis K.-o.-Schlag hat sie jedenfalls
Postengeschacher beendet war, wur­ »Vorsprung durch Technik«, der in schon lange nicht mehr in eine Prä­
de auch Wortmann in den Vorstand großen Lettern an der Ingolstädter S Quelle: EY Mixed
sentation eingebaut.
berufen. Bis zuletzt hatte sich der Firmenzentrale prangt, abzuschaffen. Leadership-Barometer Simon Hage n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 69


WIRTSCHAFT

mance Gap«, einer kostspieligen Lü­


cke zwischen Planung und Realität.
»Es gibt keinerlei Erfolgs- oder Qua­
litätskontrolle«, moniert Auer.

Die dritte Miete


So zeigt eine Studie der Techni­
schen Universität Braunschweig, dass
moderne Bürogebäude im Betrieb
etwa 70 Prozent mehr Energie ver­
brauchen als zuvor von den Planern
IMMOBILIEN  Lüftungsanlagen, Verschattungsautomatik, berechnet. Britische Wissenschaftler
stellten in einer Untersuchung von
Smarthome-Systeme: In Gebäuden steckt immer europaweit fast 60 000 Schulgebäu­
mehr Energie-Hightech. Die erhofften Spareffekte bleiben oft aus. den fest, dass diese die Einsparziele
zu 95 Prozent verfehlten. Und in Des­
sau fielen ausgerechnet beim Neubau

I
m neuen Bericht des Statistischen des Umweltbundesamts, geplant als
Bundesamts über die Entwick­ ökologisches Vorzeigeobjekt, die
lung der Verbraucherpreise fin­ ­Betriebskosten über Jahre hinweg
den sich auf Seite 44 gleich zwei deutlich höher aus als vorab kalku­
Überraschungen. Dort wird aufge­ liert, wie sogar der Bundesrechnungs­
listet, wie die Kosten fürs Wohnen hof kritisierte.
gestiegen sind. Verantwortlich für solche Defizite
Die Nettokaltmiete kletterte von ist ein Komplexitätsgrad, der alle
2015 bis Januar 2022 um 9,4 Prozent, überfordert: die Bewohnerinnen und
angesichts des weithin beklagten Bewohner, aber auch die Handwer­
»Mietenwahnsinns« erstaunlich mo­ kerschaft. Ein Beispiel dafür sind
derat. Bemerkenswert deutlich da­ ­mechanische Lüftungsanlagen. Heute

Eduard Hueber / Baumschlager Eberle Architekten


gegen legte ein anderer Posten zu: kommt kein größerer Bau mehr ohne
»Dienstleistungen für Instandhaltung sie aus. Die Gebäudehüllen sind
und Reparatur der Wohnung« haben ­nahezu hermetisch versiegelt, kom­
sich um 31,1 Prozent verteuert, Elek­ plizierte Lösungen werden deshalb
triker kosten sogar 39,3 Prozent nötig, um Feuchte und Schadstoffe
mehr. »Das ist erst der Anfang«, sagt abzutransportieren – ihr Nutzen in­
der Freiberger Gebäudeplaner Timo des ist zweifelhaft.
Leukefeld. In einer Siedlung im Norden Zü­
Die naheliegende Erklärung: Ein richs wurde ein Teil der 340 Wohnun­
Mangel an Handwerkern trifft auf gen mit einer zentralen Lüftung und
eine wachsende Nachfrage, die Prei­ Wärmerückgewinnung ausgestattet,
se steigen spürbar. Kürzlich habe ein Haus »2226« in den Aufwand, mit dem Gebäude heu­ im anderen Teil wurde darauf ver­
Heizungsbauer für einen Pumpen­ Lustenau: Innen­ te auf Effizienz getrimmt werden, für zichtet. Eine Langzeitstudie ergab,
temperatur
wechsel 180 Euro pro Stunde be­ konstant zwischen
übertrieben halten, zum Teil sogar für dass die Sparpotenziale der Hightech-
rechnet, berichtet Leukefeld, gut dop­ 22 und 26 Grad kontraproduktiv. Die erhofften Spar­ Anlage bei Weitem nicht ausgeschöpft
pelt so viel wie üblich. Es gibt aber effekte blieben vielfach aus. Die mas­ wurden, vor allem wegen stromfres­
noch einen tieferen Grund, warum sive Technisierung, die in Bürokom­ sender Ventilatoren. Der Mehrauf­
Wohnungsreparaturen so relevant ge­ plexe, Gewerbeobjekte und sogar in wand verursachte über den Lebens­
worden sind. Wohnhäuser Einzug gehalten hat, zyklus 85 Prozent höhere Treibhaus­
Um den Energieverbrauch zu sen­ Teure Technik nütze weniger dem Klima als der In­ gasemissionen. »Demzufolge scheint
ken, werden Deutschlands Immobilien dustrie, die genau diese Anlagen und eine zentrale Lüftungsanlage kein
mit immer mehr Hightech ausgestat­ Verbraucherpreisindex Baustoffe herstellt, so die Argumen­ Instrument zu sein, um die Ökobilanz
bei Wohnraum in
tet: mit maschinellen Lüftungsanlagen, Deutschland, tation der Kritiker. Innerhalb der eines Gebäudes zu verbessern oder
motorisierter Verschattungsautoma­ Juni 2015 = 100 ­Honorarordnung für Architekten und die Kosten zu senken«, lautet das er­
tik, mit hochdichten Wärmedämm­ Nettokaltmiete
Ingenieure sind die Ausgaben der nüchternde Fazit.
verbundsystemen oder intel­ligenter Kostengruppe 400, maßgeblich für Unter den Nutzern stiften hoch
Smarthome-Technologie. Alles wird Instandhaltung die technische Gebäudeausrüstung, automatisierte Systeme zudem oft­
(Dienstleistungen)
gemessen, gesteuert, geregelt – und besonders stark gestiegen. mals mehr Verdruss als Komfort. Sie
muss gewartet werden. 130 Statt weiter technologisch aufzu­ fühlen sich entmündigt und wehren
Viele der Applikationen seien stör- rüsten, wollen die Hightech-Skeptiker sich. Manche setzen kurzerhand das
und reparaturanfällig, sagt Ingenieur mehr Einfachheit wagen – und den­ ganze System außer Betrieb.
Leukefeld, manche müssen nach sei­ 120 noch die Klimaziele erreichen. Nur In einem Bonner Gerichtsgebäude
ner Erfahrung schon nach zehn Jahren kann das funktionieren? sei durch Messungen aufgefallen, dass
ausgetauscht werden. Die Instandhal­ »Technologie war für uns immer die Räume ausgerechnet am Wochen­
tungsausgaben avancierten – neben 110 die Antwort auf alle Fragen«, sagt ende besonders gut gewärmt sind,
der Kaltmiete und den Kosten für Thomas Auer, Professor für klima­ berichtete der Bochumer Immobilien­
Wasser, Strom und Heizung – zur drit­ gerechtes Bauen an der Technischen wissenschaftler Viktor Grinewitschus
ten Miete: »Da kommen immense 100 Universität München. Der Ansatz sei auf einem Fachkongress. Begrün­
Kosten zusammen.« 2015 2020
bequem gewesen, das Ergebnis eher dung: In dieser Zeit war niemand vor
Leukefeld gehört zu einer Gruppe S Quelle: Destatis;
enttäuschend. Viele Untersuchungen Ort, der die Fenster öffnete; die Hei­
von Ingenieuren und Architekten, die Stand: Jan. 2022 belegten die Existenz einer »Perfor­ zungen aber blieben aufgedreht, da­

70 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


WIRTSCHAFT

mit montags niemand frieren musste. In Professorin stellt den »stetig wachsenden Balkonen. Die meiste Zeit des Jahres soll sich
einem anderen Fall hätten Büromitarbeiter Glauben an das intelligente Haus« in Zweifel. das viergeschossige Gebäude selbst mit Ener­
zum Austricksen der Steuerung sogar Ma­ Endres plädiert dafür, den Einsatz von Tech­ gie versorgen, in den Wohnungen sind elek­
gneten genutzt, damit die Heizung auch bei nik auf ein beherrschbares Maß zu reduzieren trische Infrarotheizungen vorgesehen. Im
gekipptem Fenster weiterlief. und einfachere, robuste Lösungen zu finden. gesamten Bau soll es keinen Heizkörper ge­
Solches Verhalten bleibt meist unbemerkt. Statt beispielsweise Kälte mit einer Lüf­ ben, keinen Heizkessel, keine Fußbodenhei­
Überhaupt prüft so gut wie kein Hauseigen­ tungsanlage zu erzeugen, könnte der ge­ zung, überhaupt: keine wasserführenden
tümer später nach, ob sein Gebäude tatsäch­ wünschte Effekt auch durch einen simplen Systeme. »Bei Flüssigkeiten ist immer etwas
lich so effizient und klimafreundlich ist wie Dachüberstand gegen die Sonne erzielt wer­ einzustellen«, sagt Ingenieur Leukefeld, der
ihm versprochen wurde. Zumal so manches den. »Wie wenig ist genug?« wird zur zen­ das Projekt geplant hat. Bauen müsse radikal
Umweltziel auch unzulänglichen Handwer­ tralen Frage für Gebäudeplaner, darauf haben enttechnisiert werden.
kerleistungen zum Opfer fällt. sie verschiedene Antworten gefunden. Lässt sich also mehr Klimaschutz in Ge­
Bislang bauten Installateure überwiegend In Lustenau im Vorarlberg kommt das bäuden nur mit weniger Technik erzielen?
Öl- und Gasheizungen in die Gebäude ein. sechsgeschossige Haus »2226« des Architek­ Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert
Inzwischen sind die Anforderungen an sie turbüros Baumschlager Eberle weitgehend Habeck formulierte auf dem Wohnungsbau­
deutlich gestiegen, sie müssen sich mit elek­ ohne Heizung, Lüftung und Kühlung aus. Das tag in der vergangenen Woche in Berlin salo­
trischen Wärmepumpen vertraut machen, die Gebäude besitzt Ziegelwände, zweimal 38 monisch, man müsse »kluge Technik in die
Wärme aus der Umwelt in Heizenergie um­ Zentimeter dick, geheizt wird es hauptsäch­ Häuser bringen«.
wandeln. Das Prinzip funktioniert in Neu­ lich mit Sonnenenergie. Die Innentemperatur Derzeit richten die Fachleute seines Minis­
bauten mit großflächigen Fußbodenheizungen soll konstant zwischen 22 und 26 Grad liegen, teriums die Förderpolitik neu aus, sie soll tech­
meist problemlos – im Altbau ist die Planung daher sein Name. nologieoffener werden und daran orientiert
oft anspruchsvoller. In Hof an der Saale hat der Architekt Uwe sein, was am meisten CO2 einspart. Es bliebe
Die Anlagen werden mitunter falsch di­ Fickenscher ein »Sonnenhaus« konstruiert, den Bauherren überlassen, wie sie Klimaneu­
mensioniert, sie benötigen mehr Strom als mit 112 Quadratmetern Solarwärmekollekto­ tralität erreichen – gern auch mit Lowtech.
erwartet. Zudem müssen die Gewerke das ren auf einem steilen, nach Süden geneigten Nach Meinung des Münchner Gebäude­
Zusammenspiel verschiedener Komponenten Dach und einem 40 000-Liter-Pufferspeicher, professors Auer wäre es für die Bauwirtschaft
wie Wärmepumpe, Heizkreisläufe, Lüftungs­ der wie ein Silo am Haus steht. Die Wände an der Zeit einzugestehen, dass sie die ge­
automatik und Solartechnik präzise auf­ des Hauses, bis zu 70 Zentimeter dick, be­ forderte Energieeffizienz nicht einhalten
einander abstimmen. stehen aus Holz, Lehm und Stroh. kann. Ein französischer Investor habe es in
»Wir haben unendlich viele Produkte und Und in Aschersleben wird gerade ein alter Anspielung auf die Dieselaffäre so formuliert,
für jedes Problem eine Lösung«, sagt die DDR-Plattenbau, Typ IW 65, zu einem mo­ sagt Auer: »Die Bauindustrie wird ihren
Braunschweiger Gebäudetechnologin Elisa­ dernen Mehrfamilienhaus umgebaut: mit So­ Volkswagen-Moment erleben.«
beth Endres, dabei wäre dies nicht nötig. Die larmodulen auf dem Dach, an Fassaden und Alexander Jung n

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AUSLAND

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Bei der chinesischen Neujahrsparade demonstrieren New Yorker in Manhattan gegen einen Gefängnisneubau. Das Gebäude soll 40 Stockwerke
hoch werden und mitten in Chinatown liegen. 8,3 Milliarden Dollar hat die Stadt insgesamt für ein Gefängnisprogramm bewilligt.
Der Bau würde Grünflächen zerstören sowie Geschäfte und Restaurants in der Gegend verdrängen. Das Geld solle lieber für Schulen und
­Krankenhäuser ausgegeben werden: »Investiert in die Menschen, nicht in Gefängnisse«, fordern die Demonstrierenden.

Macron ohne Gegner


sionen. Was in diesem Wahlkampf zu der absurden Situation
führt, dass die rechten Kandidaten Le Pen und Éric Zemmour
noch immer nicht alle Unterschriften zusammenhaben. Dafür
bleiben ihnen aber nur noch wenige Tage. Der Linke Jean-Luc
ANALYSE   Frankreichs Präsidentschaftskandidaten
Mélenchon verkündete am frühen Donnerstagabend, er habe
ringen um ihre Zulassung zur Wahl. nun endlich genügend Unterstützer gefunden.
Die drei vereinen laut Umfragen an die 16 Millionen poten­
Die dramatischste Maßnahme ergriff die Rechtspopulistin Marine zielle Wähler auf sich; Le Pen liegt auf Platz zwei nach Macron,
Le Pen. Sie kündigte am Dienstag an, ihren Wahlkampf zu Zemmour gleich dahinter. Kann ein Staat sich erlauben, sie vom
unterbrechen, um die noch fehlenden 50 Unterschriften einzu­ demokratischen Wettbewerb auszuschließen – und welche Fol­
treiben, die sie per Gesetz für ihre Kandidatur braucht. In einem gen hätte das? Zemmour-Wahlkampfmanager raunen schon jetzt
Video beklagte Le Pen, diese Situation sei einer Demokratie von Aufständen, die drohen, sollte ihr Kandidat nicht antreten
nicht würdig. In welcher Republik man eigentlich lebe, in der die können. Auf jeden Fall würde dies den Anteil der Enthaltungen
stärkste Konkurrentin des amtierenden Präsidenten vielleicht gefährlich steigern. Einige Politiker reagieren nun: Der konser­
nicht antreten könne? Und sowenig Sympathien man für Le Pen vative Bürgermeister von Cannes gab seine Unterschrift
haben mag, so sehr hat sie recht mit dieser Feststellung. Auf­ demonstrativ dem Linken Mélenchon. Und die zentristische Par­
grund einer veralteten Regelung benötigt jeder Präsidentschafts­ tei »Modem« legte einen »Unterschriftenpool« an, um die Listen
kandidat 500 Unterschriften von Bürgermeistern und anderen aufstocken zu können. Das Konto des einzigen Politikers, der
Lokalpolitikern, um antreten zu können. Seit 2016 müssen die seine Kandidatur noch nicht öffentlich erklärt hat, ist gut gefüllt:
Unterschriften veröffentlicht werden. 1463 Unterstützer zählt Emmanuel Macron. Das sind nur 286
Viele Bürgermeister aber scheuen davor zurück, Kandidaten mehr als bei der sozialistischen Kandidatin Anne Hidalgo, die in
jenseits der Mitte zu unterstützen, auch aus Angst vor Repres­ Umfragen derzeit auf zwei Prozent kommt. Britta Sandberg

72 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


»Solche Fälle wird es
SPIEGEL: Die Schweiz hat ihre Ländern kein eigenes Rechts-
Bankengesetze mehrfach refor- system mehr gibt. Aber Tune-

immer wieder geben«


miert. Hat sich trotzdem nichts sien oder Ägypten sind ja keine
geändert? gescheiterten Staaten. Und
Bruppacher: Was sich geändert dann braucht es einen gericht­
hat, ist das sogenannte Steuer- lichen Entscheid im jeweiligen
SCHWEIZ  Die Bank Credit Suisse soll über Jahre
Bankgeheimnis. Da musste die Land. Aber in Ägypten wurde
Autokraten und mutmaßliche Kriegsverbrecher als Schweiz 2009 unter großem Mubarak am Ende weitgehend
Kunden akzeptiert haben. Der Finanzexperte ausländischen Druck ihre Praxis freigesprochen.
ändern. Heute tauscht die SPIEGEL: Es gibt auch noch an-
Balz Bruppacher über die halbherzigen Steuer- Schweiz regelmäßig Bankdaten dere »diskrete« Finanzplätze.
und Bankgesetze seines Landes. mit etwa 100 Ländern aus. Warum wählen so viele Auto-
Seit 2016 gibt es die »Lex Ben kraten die Schweiz?
SPIEGEL: Herr Aber unter ihnen gibt es einige Ali«, benannt nach dem Bruppacher: Die Schweiz hat
Bruppacher, in alte Bekannte, zum Beispiel die 2011 im Arabischen Frühling einen Ruf als politisch stabiles
den »Suisse Söhne des 2011 gestürzten ägyp- ­gestürzten ­tunesischen Auto­ Land. Diese Leute kommen ger-
Secrets« tauch- tischen Autokraten Hosni Muba- kraten. Das Gesetz sollte die ne hier vorbei und sprechen
te eine ganze rak. Dass sie Konten bei der Sperrung, ­Einziehung und mit ihren Beratern an schönen
Ruben Sprich

Reihe von Credit Suisse haben, weiß man Rückerstattung von Potentaten- Orten über Geld. Die Vertreter
­Namen kor- schon lange. Ich bin überzeugt, geldern an die jeweiligen des Finanzplatzes sagen zwar
rupter Auto- dass es solche Fälle immer wie- ­Länder regeln. Aber es wurde seit Jahren, wir brauchen die
kraten auf. Hat Sie das über- der geben wird, solange der nicht angewendet. Gelder von Kriminellen gar
rascht? Schweizer Finanzplatz eine füh- SPIEGEL: Warum nicht? nicht. Das ist jedoch eher eine
Bruppacher: Nun, es ist eine rende Rolle bei grenzüberschrei- Bruppacher: Eine Bedingung Schutzbehauptung, wenn man
ziemlich lange Liste von Namen. tenden Transaktionen spielt. ist, dass es in den betroffenen die ­Geschichte anschaut. BOL

Schikanen gegen Intendant Peter Limbourg. Das


Ultimatum des türkischen
Deutsche Welle ­Kon­trollgremiums ließ der Sen-
TÜRKEI  Erst hat Russland der der am Donnerstag verstrei-
Deutschen Welle (DW) ein Sen- chen. Limbourg gab bekannt,
deverbot erteilt, nun droht dem dass man vor Gericht gegen
deutschen Auslandsmedium die Lizenzierung vorgehen wer-
auch in der Türkei eine Sperre. de. Sollte die DW scheitern,
Die Aufsichtsbehörde RTÜK würde die Türkei den Betrieb
hat die DW am Montag aufge- der Website erheblich ein-
fordert, eine Lizenz für die schränken. Bereits jetzt kon­
­Verbreitung von On-Demand- trolliert die Regierung über
Inhalten über ihre Website zu die Regulierungsbehörde etwa

Sebastiao Moreira / REX / epa


beantragen. Möglich wird dieser 90 Prozent der Medien. Mit
Schritt durch eine 2019 in Kraft ­immer neuen Gesetzesverschär-
getretene Regelung, die der fungen hat sie den Druck auf
­Regierung von Präsident Recep Journa­listen in den vergange-
Tayyip Erdoğan mehr Befugnis- nen Jahren erhöht. Aus Sicht
se zur Kontrolle von Internet- von ­Reporter ohne Grenzen ist
plattformen einräumt. Betroffen die Lizenzaufforderung an Lula 2019
sind neben der DW auch Voice ­Auslandssender »nur eine wei-
of America und Euronews. tere der autoritären Maßnah- Furcht vor Attentaten Bolsonaro, der gegen Lula an-
Bei der DW sieht man in dem men, mit denen Präsident tritt. »Wir wissen, dass das Le-
Schritt den Versuch, Einfluss auf Erdoğan gegen freie Medien BR ASILIEN  Ex-Präsident Lula, ben Lulas in Gefahr ist«, bekräf-
Inhalte zu nehmen. »Damit vorgeht und dabei das Justiz­ der Favorit bei der Präsident- tigte Ex-Justizminister Eugênio
würde die Möglichkeit einer system zu politischen Zwecken schaftswahl im Oktober, wird Aragão. Die Furcht vor An-
Zensur eröffnet«, sagte DW-­ einspannt«. ASC eine seiner größten Stärken im schlägen hat dazu geführt, dass
Wahlkampf wahrscheinlich Lula die meisten Auftritte und
nicht ausspielen können: das Interviewtermine bislang digital
Bad in der Menge, den Kontakt absolviert. Schon vor Jahren,
mit den Wählern. Aus Sicher- als Lula mit einer Buskarawane
Mustafa Kamaci / Abaca Press / ddp images

heitsgründen erwägt seine durch den Süden des Landes


Arbeiterpartei PT, Liveauftritte reiste, hatten Unbekannte auf
ihres Kandidaten weitestgehend seinen Konvoi gefeuert. Aller-
zu vermeiden. Der ehemalige dings ist nicht nur der linke
Verfassungsrichter Joaquim Kandidat in dem aufgeheizten
Barbosa warnte vor Attentaten politischen Klima in Gefahr:
auf den Kandidaten. »Sie sind Bolsonaro wurde während des
blutrünstig, sie kennen keine letzten Wahlkampfs im Sep­
Erdoğan Grenzen«, sagte er über radika- tember 2018 bei einer Messer­
le Anhänger von Präsident Jair attacke schwer verletzt. JGL

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 73


AUSLAND

Fremd im eigenen Land


USA  Donald Trump hat als Präsident seine Nation tief gespalten. Er kokettiert bereits mit einem
Comeback – und viele Amerikaner verehren ihn bis heute wie einen Heiligen. Warum?
Der SPIEGEL hat einen Trump-Anhänger mehr als ein Jahr lang begleitet. Von Alexandra Rojkov
.

N »Als Trump
eun Monate nachdem Donald »Bist du für Trump?«, fragt Prit- »Ich liebe ihn einfach«, sagt Prit-
Trump als Präsident der USA chard wieder. Und dann: »Kannst du chard einmal und stockt dann kurz,
abgewählt wurde, steht Jerry ins Amt kam, mal helfen?« weil er – Holzfällerhemd, schwere
Pritchard auf der Terrasse seines Hau- war es, als Es ist schwer, sich einen größeren Stiefel – das nicht falsch verstanden
ses und weint. Tränen laufen über
seine Wangen und tropfen vom Kinn
würde er Trump-Fan vorzustellen als den
55-Jährigen. Die Einfahrt zu seinem
haben will. »Du weißt schon, nicht
auf diese Art. Aber ich liebe ihn.«
auf die Krawatte. Er hat sie extra für sagen: Ich Haus in Northampton County, Penn- Tatsächlich trennt Trump und Prit-
diesen Tag angezogen: Es ist ein gebe dir, Jerry sylvania, säumt damals eine Allee aus chard damals genauso viel, wie sie
Sonntag im August, und Pritchard Trump-Schildern. Drinnen hat er eine verbindet: Milliarden US-Dollar, Mil-
will in die Kirche, wie fast jede Wo-
Pritchard, Art Schrein aufgebaut, mit Tassen, lionen Twitter-Follower und jede
che. Doch heute schafft er es nicht die Macht.« einem Foto und einem Brettspiel des Menge Macht. Der eine ist US-Präsi-
pünktlich zum Gottesdienst, weil ihn Jerry Pritchard Präsidenten. Fast jedes Gespräch mit dent und fliegt um die Welt, der an-
die Traurigkeit überkommt. Pritchard nimmt irgendwann eine Ab- dere lebt als Arbeiter in der Provinz
»Mein Land geht unter«, schluchzt zweigung und führt zu Trump. und hat die Vereinigten Staaten noch
Pritchard. Er blickt über die Hügel Pritchard teilt mit Trump nicht nur nie verlassen. Trump wurde in New
von Pennsylvania, die sich hinter sei- die ungesunde Gesichtsfarbe und die York geboren, Pritchard verachtet alle
nem Haus erheben: Kastanienhaine, Vorliebe für Baseballcaps mit dem Großstädte. Und während Trump in
grüne Weiden bis zum Horizont. Prit- Schriftzug »Make America Great dritter Ehe verheiratet ist, hat Prit-
chard zieht die Nase hoch, schluckt. Again«. Die beiden Männer verbin- chard keine Partnerin. Er lebt bei sei-
Auf seiner Krawatte, die benetzt ist den auch ihre Überzeugungen. Prit- ner Mutter und scheint im Herbst
von Tränen, prangt ein rot-weiß-blau- chard verachtet »Eliten« und Beamte, 2020 seine gesamte Energie Trumps
er Elefant: das Symbol der Republi- schimpft auf illegale Einwanderer und Wahlkampf zu widmen.
kanischen Partei. glaubt, dass Männer in der Hierarchie Im Oktober vor der US-Wahl
Am 3. November 2020 wurde die der Menschheit über Frauen stünden. klopft er stundenlang an Haustüren,
Welt von Jerry Pritchard erschüttert. »So sagt es die Bibel«, erklärt er oft, um die Bewohner zu überzeugen,
Vier Tage später brach sie zusammen: als wäre sie das einzige Gesetzbuch, Trump zu wählen. Verteilt samstags
Nach einer langen Auszählung stand an das er glaubt. Pritchard wirkt laut ab dem frühen Morgen Flyer an Pas-
fest, dass Joe Biden der nächste US- Trump-Ecke in und grob wie Trump, und wie einst santen. Steht nachmittags auf einem
Pritchards Haus:
Präsident wird. Seitdem sucht Prit- »Ich liebe sein großes Vorbild verdient er sein Parkplatz vor einem Matratzenladen
chard nach Orientierung und Sinn. ihn einfach« Geld in der Baubranche. und schwenkt eine Flagge mit dem
Die Suche führt ihn aus einer Klein- Konterfei des Präsidenten.
stadt in Pennsylvania bis vor das Ka- Dabei muss er kaum einen seiner
pitol in Washington. Freunde und Bekannten überreden:
Es ist die Geschichte eines wüten- Fast alle Menschen, die er kennt, ver-
den Mannes, der sein Land nicht göttern Trump. In Northampton
mehr versteht – so wie Millionen County, Pritchards Wahlbezirk, säu-
Konservative, die sich ein Amerika men Backstein- und Holzhäuser die
unter Donald Trump zurückwün- Straßen, Kirchen laden mehrfach pro
schen. Woche zum Gottesdienst. Sie beten
für die Zukunft des Landes, und Prit-
Herbst 2020 chard ist sich in diesem Oktober 2020
»Wählst du Trump?« noch sicher, dass es weiterhin eine
Das ist das Erste, was Pritchard Zukunft unter Trump sein wird.
wissen will. Keine Begrüßung könnte »Alle, mit denen ich rede, wollen ihn
wichtiger sein als die Frage: Bist du wählen«, sagt er. »Wie könnte er da
Sara Naomi Lewkowicz / DER SPIEGEL

für oder gegen uns? verlieren?« Für Pritchard ist nur real,
Es ist Oktober 2020, Pritchard was er selbst sieht oder hört.
steht an einer Landstraße in Pennsyl- Er glaubt nicht an Corona, weil er
vania und kämpft mit einem meter- das Virus nicht sehen kann. »200 000
hohen Trump-Plakat, das einfach Tote? Wo sollen die alle sein?« Er hält
nicht gerade stehen will. In wenigen den Klimawandel für eine Erfindung:
Wochen entscheidet sich, wer der Wie könne sich die Atmosphäre auf-
neue US-Präsident wird. heizen, wenn gleichzeitig im Winter

74 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


AUSLAND

Sara Naomi Lewkowicz / DER SPIEGEL

Republikaner Pritchard am
Tag der US-Wahl 2020

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 75


AUSLAND

meterhoch Schnee liegt? Er hat nie gelernt, abs-


trakt zu denken, und versteht nicht, dass seine
Wahrnehmung nur einen kleinen Teil der Rea-
lität widerspiegelt. Deshalb kann er zunächst
nicht begreifen, was am 3. November 2020 ge-
schieht: Donald Trump verliert die Wahl.
Pritchard ist an jenem Abend außer sich.
»Du hast doch gehört, dass alle Menschen
Trump wählen wollten!«, brüllt er mich an.
»Du warst dabei! Also erklär mir: Wie ist es
möglich, dass Joe Biden gewinnt?«
Es ist möglich, weil man Briefwahl nicht
sehen kann. Weil die kleine Stichprobe, die
Pritchard während seiner Wahlkampftour
nahm, nichts über das große Land sagt. Doch
es ist kein guter Zeitpunkt, ihm das zu erklä-

Shannon Stapleton / REUTERS


ren. Wenig ist so gefährlich wie männliche
Verzweiflung. Und Pritchard ist an diesem
Abend sehr verzweifelt.
Und nicht nur er: 74 Millionen Menschen
haben bei der Präsidentschaftswahl 2020 für
Trump gestimmt, elf Millionen mehr als vier
Jahre zuvor. Während das liberale Amerika Kapitol-Stürmer am 6. Januar 2021: Die dunkelsten Stunden der jüngsten Geschichte
auf den Straßen von Philadelphia tanzt und
New York den Sieg von Biden mit einem Hup- denten haben, der in Harvard oder Yale war«, begannen, mit Tränengas zu schießen. Aber
konzert feiert, beklagen sie das Ende der sagt Pritchard. das trübt seine Laune nicht. »Es war unglaub-
Trump-Ära. Die USA wurden jahrzehntelang von Dy- lich!«, jauchzt er.
Was wird aus diesen Menschen? Was aus nastien wie den Kennedys und Bushs regiert, Für die USA waren es einige der dunkels-
diesem zerrissenen Land? die Mächtigen in Washington erscheinen vie- ten Stunden ihrer jüngeren Geschichte. Für
Pritchard sagt, er sorge sich, dass Amerika len Amerikanern abgehoben und arrogant. Jerry Pritchard ist der Tag danach wohl einer
in eine Diktatur abgleite. Dass Biden ihn und Trump hat in den vier Jahren seiner Amtszeit der glücklichsten seines Lebens. Er war kurz
seine Nachbarn zwingen könnte, Migrantin- Hass entfesselt – aber er hat auch Menschen davor, eine Straftat zu begehen, aber er fühlt
nen und Migranten in ihren Häusern aufzu- wie Pritchard das Gefühl gegeben, dass man sich wie ein Held. Für einen Moment ist er
nehmen. Seine Befürchtungen sind irrational: keinen Uni-Abschluss haben muss, um mit- nicht mehr der Mann ohne Frau und Ab-
genährt von den Lügen der Trump-Regierung zubestimmen. »Als Trump ins Amt kam, war schluss. Er ist ein Kämpfer für die Freiheit
und Quatsch, den er im Internet gelesen hat. es, als würde er sagen: Ich gebe dir, Jerry Prit- seines Landes.
Aber für ihn sind sie real. chard, die Macht«, so beschreibt er es. Nun, Trump wurde 2016 Präsident, weil ihn wei-
»Mein Vater hatte eine Redewendung«, nach der Wahl, fühlt es sich für ihn an, als ße Arbeiter ohne Universitätsabschluss ins
sagt Jerry Pritchard einige Tage nach der Wahl hätte man ihm diese Macht genommen. Amt hoben. Viele suchten damals die Erklä-
am Telefon. »Nichts Gutes passiert nach Mit- Zwei Monate später, am 6. Januar 2021, rung in der Wirtschaft: Die Arbeiter, hieß es,
ternacht.« Für ihn haben die Kirchenglocken will Pritchard sich die Macht zurückholen, hätten gehofft, dass Trump ihre Jobs aus
am 3. November zwölfmal geschlagen. Jetzt zusammen mit Tausenden anderen Trump- Übersee zurückhole. Doch das ist nur ein Teil
beginnt die schwarze Nacht. Fans. Und mit Gewalt. der Wahrheit. Jerry Pritchard leidet nicht
Um 12.53 Uhr Ortszeit durchbricht ein unter Arbeitslosigkeit. Er leidet unter seinem
Jahresanfang 2021 Mob eine Barrikade an der Westseite des Ka- gesellschaftlichen Abstieg.
Jerry Pritchard war nicht immer politisch: Die pitols. In den darauffolgenden Stunden ster- Der Sänger Billy Joel schrieb einmal ein
meiste Zeit seines Lebens interessierte er sich ben vier Menschen: Eine Trump-Anhängerin Lied, das von der Gegend handelt, in der Prit-
mehr für Partys als für Parteien. »Ich war ein wird von einem Polizisten erschossen, zwei chard lebt. »Allentown« erzählt, wie eine
bad boy«, sagt er. Mit 16 brach er die Schule Demonstranten erleiden Herzinfarkte. Eine Stadt verfällt, nachdem die Fabriken dort
ab, jobbte auf dem Bau, lernte eine Frau ken- 34-Jährige kollabiert wegen der Drogen, die dichtmachen:
nen, sie bekamen zwei Kinder, die er heute sie im Blut hat.
selten sieht. Seine Ehe ist seit Jahren geschie- Nicht beziffern lässt sich der Schaden für »Jedes Kind hatte eine ziemlich
den. Er arbeitet in der Firma, die sein Vater die amerikanische Demokratie. Der Gewalt- gute Chance
vor vielen Jahren gegründet hat. ausbruch schockiert die amerikanische Öf- Mindestens so weit zu kommen
Pritchards Leben las sich wie eine Chrono- fentlichkeit, selbst republikanische Politiker wie sein Vater
logie des Scheiterns: Schule geschmissen, Be- verurteilen den Putschversuch. Pritchard da- Doch etwas geschah auf dem Weg dahin
ziehung kaputt, mit Mitte fünfzig wieder dort, gegen läuft über vor Stolz. Am Telefon erzählt Sie warfen uns eine amerikanische
wo er mit 15 angefangen hatte. Dann kam er mit heroischem Unterton, wie er sich am Flagge ins Gesicht«
Donald Trump. 6. Januar um 4.45 Uhr am Morgen in seinen
Als Trump im Januar 2017 Präsident wird, Pick-up setzte und durch die Dunkelheit nach Der Song beruht auf einem realen Ereignis:
steht plötzlich ein Mann an der Spitze der Washington, D. C., fuhr, vier Stunden lang. dem Niedergang von »Bethlehem Steel«,
USA, der Dinge so erklärt, dass sie für Prit- Wie er, eine Trump-Flagge über der Schulter, einer Stahlfirma in der Region, die bis in die
chard Sinn ergeben: Weiße Amerikaner müs- die Pennsylvania Avenue hinaufmarschierte Neunzigerjahre Tausenden Menschen Arbeit
sen zusammenhalten, Migranten sind gefähr- in Richtung Kapitol. Er beschreibt, wie er an gegeben hatte. Schlimmer als die wirtschaft-
lich, China ist der Feind. Expertenwissen zählt der Absperrung rüttelte, kurz bevor sie unter lichen Konsequenzen waren die emotionalen.
für Pritchard nicht, wichtiger ist Vertrauen, dem Druck der Demonstranten nachgab. Die Arbeiter verloren nicht nur ihre Jobs,
und er vertraut nur Leuten, deren Aussagen Pritchard hat es nicht ins Gebäude ge- sondern ihr Ansehen. Einst waren sie un­
er kapiert. »Ich will nie wieder einen Präsi- schafft: Er sei umgekehrt, als die Polizisten verzichtbar für die großen Konzerne der

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AUSLAND

USA, nun galten sie als abgehängt. »Politik boy, ich arbeite auf dem Bau, ich gehe längst aus der Mode gekommen sind,
Diesen Bedeutungsverlust spürt auch in die Kirche. Aber Amerika verän­ viele Männer sind ergraut oder kahl.
Pritchard. ­bedeutet ihm dert sich.« Die wenigen jungen Besucher sitzen
Sein Vater wurde 1940 in den Ber­ viel. Aber Die Veränderung, die er meint, er­ neben ihren Eltern und starren auf
gen von North Carolina geboren und
wuchs in einem Haus ohne Strom auf.
es gibt noch schließt sich nicht auf den ersten
Blick: Die Wälder in Pennsylvania
ihre Fingernägel. Unter den Gläu­
bigen ist an diesem Tag kaum ein
Er besuchte nie eine Universität und mehr im sind noch genauso grün wie vor Schwarzer.
brachte es in seinem Leben trotzdem Leben. Ich einem Jahr, die Autos nicht kleiner Es ist das alte, weiße Amerika,
zu Wohlstand: Er arbeitete als Buch­
halter, zog nach Pennsylvania, grün­
glaube, als zuvor. Farmer verkaufen am Stra­
ßenrand Pfirsiche und Aprikosen. Die
konserviert wie in einer Zeitkapsel.
Das Amerika, das Trump »wieder
dete eine Baufirma, die heute viele das lernt er Welt vor Pritchards Tür sieht aus wie groß« machen wollte. Nun verhalten
Menschen beschäftigt. Der Schul­ ­gerade.« ein Postkartenidyll – nicht wie eine sich die Leute, als ginge es zu Ende
abbrecher Pritchard dagegen fände Bedrohung. mit ihnen. Und ein wenig stimmt das
Pritchard-Verlobte
außerhalb des Familienunternehmens Carla
Aber Pritchard sagt, er spüre sie. ja auch.
wohl keinen Job. An manchen Tagen kann er die Angst Einer offiziellen Schätzung zufolge
Er findet auch keine Frau, weil die wegschieben. Aber heute überkommt war 2013 das erste Jahr, in dem in
lieber fortziehen und studieren: An sie ihn mit solcher Wucht, dass er die den USA die Mehrheit der Neugebo­
den Universitäten des Landes stellen ersten Kirchenlieder verpasst. renen nicht weiß war. Wenn sich die
Frauen inzwischen die Mehrheit. Zu­ Die Angst ist da, seit Trump nicht Entwicklung fortsetzt, könnten 2051
rück bleiben Männer wie Pritchard, mehr Präsident ist. Seit da oben, in im Land mehr Konfessionslose leben
die die Welt nicht mehr verstehen. Im Washington, wieder Leute sitzen, die als Protestanten, jahrhundertelang
Jahr 1960 waren einer Studie zufolge ihm fremd sind. Nun fühlt es sich so erschien das unmöglich. Menschen
fast alle weißen Niedriglöhner im an, als entglitte ihm sein Land. wie Jerry Pritchard merken, dass ihre
mittleren Alter in den USA verheira­ Als Pritchard es schließlich doch Vormachtstellung schwindet, nicht
tet. 2010 dagegen lebte mehr als die in die Kirche schafft, einen einstöcki­ nur politisch, sondern auch kulturell.
Hälfte dieser Männer allein. gen Bau an einer Landstraße, setzt er Firmen werben neuerdings mit Di­
In seinen leisen, verletzlichen Mo­ sich in eine der hinteren Reihen. versität und sexueller Vielfalt, Holly­
menten fragt Pritchard manchmal: Senkt den Kopf und lauscht dem Pas­ wood und die Musikszene unterstüt­
»Warum habe ich keine Freundin? tor, der heute die Predigt hält. Er er­ zen »Black Lives Matter« und Femi­
Kannst du mir das erklären?« Er zählt die Geschichte von Noah, den nismus. Die USA werden toleranter,
merkt, dass nicht nur seine wirtschaft­ Gott rettete, weil er der Sünde wider­ offener – alles, was die Konservativen
liche Zukunft unsicher ist. Auch auf stand. »Die Zeiten heute sind ähn­ in Amerika nicht sind. Die Gläubigen
dem Heiratsmarkt ist er nichts mehr lich«, sagt der Pastor. »Lasst uns für in der Kirche hören jetzt immer öfter,
wert. Der waffentragende Macho unser Land beten und dafür, dass es wie privilegiert sie als Weiße seien.
ohne Diplom ist ein Auslaufmodell, zu den Prinzipien Gottes zurück­ Nur dass sie sich gar nicht privilegiert
der Ladenhüter der Moderne. kehrt.« fühlen. Sondern abgehängt.
Scham, sagen Psychologen, ent­ »Amen«, sagt Pritchard und faltet Widerstand beschreibt in der Phy­
stehe aus der Diskrepanz zwischen die Hände. Unter seinen Augen liegen sik die Kraft, die ein Körper entgegen­
dem, was man gern wäre, und dem, dunkle Teiche, alles Wütende ist aus setzt, wenn er bewegt wird. Die USA
wie man wirklich ist. Trump-Anhän­ seinem Gesicht gewichen. Zurück bewegen sich immer schneller in eine
ger wie Jerry Pritchard füllen diese bleibt eine Traurigkeit, die, so wirkt Richtung, und Menschen wie Prit­
Lücke mit Patriotismus und Pathos. es an diesem Sonntag, alle Menschen chard stemmen sich mit aller Macht
Am 6. Januar 2021 fühlte er sich für in der Kirche erfasst hat. dagegen. Im Sommer 2021 besucht er
einen Tag groß und wichtig: Er hat »Wir erkennen unser Land nicht Sitzungen des örtlichen Schulaus­
Politiker in die Flucht geschlagen und wieder«, sagen sie. »Joe Biden ist eine schusses und echauffiert sich über
es weltweit in die Nachrichten ge­ Katastrophe für die USA.« Bücher, die angeblich lehren, »dass
schafft. Es ist rührend und erschre­ Christ Pritchard Die Menschen in der Kapelle se­ Männer Frauen sein können und
ckend zugleich, wie glücklich ihn das in seiner Kirche in hen aus, als entstammten sie einem Frauen Männer.« Kandidiert für das
Pennsylvania:
macht. Zu den Prinzipien Film aus den Fünfzigerjahren. Die Amt des Gemeindevorstehers, mit
»Es geht jetzt erst los«, behauptet Gottes zurückkehren Frauen tragen knielange Kleider, die einem Programm, das nichts anderes
Pritchard. »Wir holen uns unser Land verspricht, als »pro-patriotisch« zu
zurück.« Vierzehn Tage später wird sein und »pro-America First«.
Joe Biden als Präsident der USA ver­ Pritchard ist nicht allein: Überall
eidigt. in den USA stürmen konservative
Christen Schulversammlungen und
Sommer 2021 fordern, Themen wie die Benachtei­
»Amerika geht zugrunde.« ligung von Schwarzen oder Trans­
Tränen kullern über Pritchards identität aus dem Unterricht zu strei­
Wangen. Es ist ein trüber Sonntag im chen. Republikanische Politiker ver­
August und so kalt, als hätte sich der abschieden, getrieben von ihren Wäh­
Sommer schon zurückgezogen. Prit­ lern, Gesetze, die es verbieten, dass
Monique Jaques / DER SPIEGEL

chard steht auf der Terrasse seines Lehrer in der Schule über Rassismus
Hauses und ist eigentlich bereit für in amerikanischen Institutionen spre­
die Kirche: Sein grauer Anzug ist ge­ chen. Die Republikaner legen Nicht­
bügelt, die Krawatte gebunden. Aber weißen, die sich politisch beteiligen
er kann die Tränen nicht zurück­ wollen, Steine in den Weg.
halten. »Amerika verändert sich«, Es ist ein Versuch, die Zeit zurück­
schluchzt er. »Ich bleibe ein country zudrehen, oft an der Grenze zur Il­

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AUSLAND

ten. Mitten in einer Tirade über das »korrup-


te Washington« unterbricht ihn seine Ver-
lobte Carla. »Jerry«, sagt sie streng. »Hör auf.
Sprich mit deiner Tochter.«
Er verstummt. »Du hast recht«, sagt er.
Dann dreht er sich zu Ashley, und Trump ver-
lässt den Tisch.
»Ich weiß, Politik bedeutet ihm viel«, sagt
Carla später. »Aber es gibt noch mehr im
­Leben. Ich glaube, das lernt er gerade.«

Manche behaupten, Amerikas Spaltung sei


gar kein Symbol des Niedergangs. Sondern
des Fortschritts.
Früher wurden beide Parteien – Republi-
kaner und Demokraten – vor allem von mit-
telalten, weißen, religiösen Männern geführt.

Brian Cahn / action press


Ihre Politik ähnelte sich in vielem: Beide war-
ben für Härte gegen illegale Mi­granten. Beide
fanden, Schwarze seien selbst schuld, wenn
sie weniger erfolgreich sind. Und beide Par-
teien sahen das Recht auf Abtreibung unge-
Ex-Präsident Trump: Pritchard betet, dass er noch einmal antritt und »das Land rettet«
fähr gleich kritisch.
Seit einigen Jahren ist das anders. Minder-
legalität. Und zur Besessenheit. Im Sommer hat den Arm um Carla gelegt und wirkt auf- heiten wachsen, und sie wählen öfter. Weiße
2021 füllt Politik Pritchards gesamtes Leben recht und gefasst, ganz anders als im Sommer. Arbeiter beteiligen sich stärker am politischen
aus. Am Telefon verabschiedet er sich manch- Nach dem Gottesdienst ist er mit seiner Prozess. Wenn mehr Menschen ihre Interes-
mal unironisch mit dem Slogan »Trump Tochter zum Essen verabredet. Ashley, 33 sen vertreten, bedeutet das auch mehr Streit.
2024«. Er betet, dass der Ex-Präsident noch Jahre alt, ist Autistin und lebt in einer Pflege- Das wirkt bedrohlich – aber in Wahrheit ist
einmal antritt und »das Land rettet«. einrichtung. Sie setzen sich in den hinteren es auch ein Zeichen einer lebhaften Demo-
Oft wirkt Pritchard dabei wie eine Gefahr Raum eines Lokals, Carla neben Pritchard, kratie.
für die innere Sicherheit. Und manchmal steht ihnen gegenüber seine Tochter und ihre Hel- Den »Trump-Schrein« in Jerry Pritchards
er auf seiner Terrasse und weint. ferinnen. Haus gibt es immer noch: die Tassen, das
»Trumps Anhänger haben in den vergan- Sie bestellen ihr Chickenwings, weil die Brettspiel, das Foto des Ex-Präsidenten, dra-
genen Jahren riesige Verluste erlebt«, sagt die junge Frau es nicht allein kann: Ashley ist piert auf einem Tisch. Er steht nun etwas wei-
Soziologin Arlie Hochschild, die für ihr Buch blind, die Worte kommen nur bruchstückhaft ter in der Ecke, an die Wand gedrückt. Viele
»Fremd in ihrem Land« jahrelang konserva- aus ihrem Mund und ergeben keinen Sinn, Trump-Schilder lagern in der Garage oder
tive Christen begleitet hat. »Sie haben ihre den andere Menschen verstehen. Eine Zeit sind eingeklemmt hinter Möbeln. Sie warten
wirtschaftliche Stellung verloren. Den Stolz lang versucht Pritchard, mit ihr zu sprechen, darauf, hervorgeholt zu werden. Oder zu ver-
auf ihre Identität. Sie gelten heute als rück- dann gibt er auf und dreht sich weg. stauben.
ständig, ungebildet. Sie wissen das. Manche Plötzlich doziert er aus dem Nichts über
reagieren mit Zorn. Andere mit Trauer.« Trump: über die Großartigkeit des Ex-Präsi- Winter 2021/22
denten, die vielen Feinde, die ihn angeblich Ein Jahr ist es her, dass Tausende Trump-An-
Herbst 2021 mit aller Macht aus dem Amt drängen woll- hänger das Kapitol in Washington stürmten,
Dann passiert etwas Unerwartetes: Jerry Prit- und mit ihnen Jerry Pritchard. Er verbringt
chard verlobt sich. den Jahrestag in seinem Bett vor dem Fern-
Fotos, die er bei Facebook hochlädt, zeigen Der Gläubige seher. Fox News, Amerikas rechter Sender,
ihn am Strand mit einer blonden Frau. Er hat füllt sein Programm mit Tiraden gegen Joe
die Arme um ihre Taille geschlungen. Hinter Alexandra Rojkov lernte Jerry Pritchard Biden und Kamala Harris, und Pritchard
ihnen geht die Sonne unter. ­kennen, als sie im Herbst 2020 für den schaut sie in Dauerschleife. »Diese Leute sind
Sie heißt Carla, er hat sie über Facebook ­SPIEGEL über die US-Wahl berichtete. verrückt!«, ruft er immer wieder ins Telefon.
kennengelernt. Sie hatten gemeinsame Freun- Sie verbrachte den Wahltag mit ihm, ver- »Verrückt! Sie bringen unser Land an den Ab-
de, und irgendwann schrieb er ihr: Bist du ein ließ die Wahlparty aber vorzeitig, weil die grund.« Er wirkt fahrig, antwortet nicht auf
Trump-Fan? Sie war einer. Sie trafen sich zum Republikaner mitten in der Pandemie in Fragen, verliert sich in Monologen, die nir-
Essen und schauten gemeinsam Filme. Im einem fensterlosen Raum feierten und nie- gendwohin führen. In seinem Zimmer ist es
September fiel Pritchard an einem Strand in mand eine Maske trug. Pritchard nahm dunkel, nur der Bildschirm erhellt sein G
­ esicht.
Florida vor ihr auf die Knie. ihr das tagelang übel. Im Jahr darauf be- Carla hat ihn vor zwei Monaten verlassen:
In den Wochen danach teilt er bei Face- suchte Rojkov den Republikaner mehrfach, Sie ist jetzt mit einem Unternehmer zusam-
book weniger Kampfaufrufe, sondern Bilder begleitete ihn in die Kirche und zum Schul- men, der Anzüge trägt und einen Abschluss
seines Gemüsegartens. Er verpasst jetzt ausschuss, wo er sich über die in seinen hat. Den teuren Verlobungsring hat sie be-
manchmal die Treffen des Schulausschusses, Augen zu liberale Bildung der Kinder aufregte. halten. »Sie hat mich nur ausgenutzt«, sagt
bei denen er normalerweise wütet. Früher Pritchard erzählte offen von seinem Leben, Pritchard leise.
antwortete Pritchard auf jede Nachricht scherzte – aber seine Laune konnte binnen Aber eigentlich will er nicht über Carla
­binnen Minuten und ging immer ans Telefon. Sekunden umschlagen. Er wurde wütend, reden. Sondern darüber, dass Trump bald
Jetzt klingelt sein Handy, ohne dass er abhebt. wenn man Trump kritisierte oder Joe Biden wieder Präsident wird.
Im Oktober 2021 begleitet seine Verlobte verteidigte. Trotzdem will Rojkov mit dem Pritchard sagt, er wolle alles dafür tun.
Pritchard zu einem Kirchenbesuch. Obwohl Republikaner in Kontakt bleiben – mindes- Jetzt, wo Carla weg sei, habe er wieder Zeit
es draußen schüttet, kommt er pünktlich. Er tens bis zur Präsidentschaftswahl 2024. für Politik. n

78 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


SPIEGEL GELD  Leseprobe

Angst vor Altersarmut wer glaubt, dass er wahrscheinlich ein Erbe zu erwarten hat, sollte
Wer seine Rentenlücke stopfen will, kann in mittleren Jahren noch frühzeitig das Gespräch mit der Erblasserin oder dem Erblasser
viel nachholen – so boostern Sie Ihren Ruhestand. suchen. Apropos Überraschungen: Nicht nur die Inflation zehrt an
den Rücklagen, auch etwaige Steuern wollen bedacht werden.
Jeder gute Plan beginnt mit der Analyse der Ausgangslage: Die er­ Online-Rentenrechner, wie sie etwa die Deutsche Rentenversiche­
warteten Einnahmen und Ausgaben für die Rentenphase müssen rung anbietet, liefern Orientierungshilfe. Anhand der durchschnitt­
sortiert werden. Ein Startpunkt für die meisten Arbeitnehmerinnen lichen Lebenserwartung kann man bestimmen, welche monat­
und Arbeitnehmer ist die jährliche Mitteilung der Rentenversiche­ lichen Entnahmen aus den Ersparnissen rechnerisch drin sind.
rung, aus der die Höhe der bisher erworbenen Ansprüche und der Die schwierigste Frage muss aber jeder selbst beantworten:
zu erwartenden Altersrente hervorgeht. Ausführlichere Informa­ Wie viel Geld im Alter ist genug? »Eine gängige Faustformel lautet,
tionen – etwa über die bisher erfassten Beitragszeiten – liefert die dass man mit 80 Prozent des Nettogehalts als Einnahmen kalku­
sogenannte Rentenauskunft, die ab dem 55. Lebensjahr alle drei lieren sollte«, sagt Verbraucherschützerin Doris Kappes. So gehört
Jahre ins Haus flattert, sich aber auch zuvor jederzeit online anfor­ zur Analyse ein ehrlicher Blick auf die erwarteten Ausgaben:
dern lässt. Hier sollte man den Versicherungsverlauf prüfen, damit Muss man Miete zahlen? Oder, wohnt man im Eigenheim: Wie viel
alle Beitragszeiten korrekt erfasst sind. Zur staatlichen Vorsorge Geld sollte man dann für Renovierungen zurücklegen? Am Ende
kommen – hoffentlich – weitere absehbare Einnahmen: aus einer der Analyse sollten zwei Zahlen stehen: die in der Rentenphase
bereits bestehenden betrieblichen Altersvorsorge oder einer priva­ wahrscheinlich verfügbaren monatlichen Mittel und Ausgaben.
ten Rentenversicherung. Auch Sparkonten, Anlagedepots oder Die Differenz zwischen den Summen ist die gefürchtete »Renten­
erwartete Einnahmen aus Immobilien sollte man aufaddieren. Und lücke« – doch die lässt sich stopfen.

Nächste Woche im SPIEGEL: Auch im Alter wollen wir gut leben – doch woher kommt das
Geld? Und wie gelassen geben wir es aus? Antworten gibt die Beilage SPIEGEL GELD.

Weitere Themen im Heft SPIEGEL GELD ist die viermal im Jahr erscheinende
• Neue Serie über Freizeitoasen: Was kostet Finanzbeilage des SPIEGEL. Sie informiert
mich ein Schrebergarten? praktisch und verbrauchernah über Geldanlagen,
• Aktienwissen: Die wichtigsten Kennzahlen ­Immobilien, Steuerfragen und Versicherungen.
• Interview: Filmproduzent Nico Hofmann
über Ziegenmilch und seinen Nachlass
AUSLAND

wenigen Tagen haben wir den Entwurf für


eine neue Parteienfinanzierung vorgelegt, die
für Österreich revolutionär ist: Komplette
Offenlegung und Begrenzung bei Spenden
und Wahlkampfkosten; außerdem wird es
empfindliche Strafen bei Verstößen geben.
Der Rechnungshof kann künftig die Bücher
der Parteien einsehen.
SPIEGEL: Unternehmen können Parteien
trotzdem weiter Wohltaten bescheren, etwa
indem sie Inserate schalten oder Veranstal­
tungen sponsern.
Kogler: Aber das wird dann öffentlich. Versteckt
kann nichts mehr werden. Es geht um fairen
Wettbewerb der Parteien und Transparenz.
SPIEGEL: Etliche Reformen sind liegen geblie­
ben, etwa das Informationsfreiheitsgesetz.
Kogler: Länder und Gemeinden blockieren,
auch das sozialdemokratische Wien gehört
dazu. Man muss mal diejenigen Damen und
Herren beim Namen nennen, die keine Trans­
parenz wollen. Es kann doch nicht sein, dass
wir uns als Koalition ständig rechtfertigen
müssen, weil andere sich querstellen.
SPIEGEL: Im Wahlkampf stellten die Grünen
heraus, sie seien die Partei des »Anstands«.
Und dann haben Sie sich in einer geheimen
Nebenvereinbarung mit Sebastian Kurz über
Spitzenpersonalien unter anderem beim öf­
fentlich-rechtlichen Rundfunk ORF verstän­
digt. Wie passt das zusammen?
Kogler: Mir ist klar, dass ich damit in der Form
Ingo Per tramer / DER SPIEGEL
unseren grünen Ansprüchen nicht gerecht
wurde – das tut mir leid.
SPIEGEL: Warum haben Sie das dann gemacht?
Kogler: Die Absicht war, als Regierungs­
Politiker Kogler
neulinge einige Sicherungen gegenüber der
Machtmaschine ÖVP einzuziehen. Wir wuss­
ten, dass die Vorgängerregierung aus Kurz’
ÖVP und der rechten FPÖ eine Zerschlagung
und die parteipolitische Umfärbung im ORF

»Kurz ist an sich selbst


bis in die dritte Reihe geplant hatte. Aufgrund
der Mehrheiten im ORF-Stiftungsrat wollten
wir ähnlichen Entwicklungen mit der Neben­

gescheitert«
vereinbarung einen Riegel vorschieben.
SPIEGEL: So groß war das Misstrauen gegen­
über dem Koalitionspartner?
Kogler: Wir wollten vor allem nicht naiv an
die Sache herangehen. Wir ahnten damals
ÖSTERREICH  Machen die Grünen in Wien alles mit, um zu regieren? Nein, allerdings nicht, was später noch ans Licht
kommen sollte: schwere Korruptionsvorwür­
sagt Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler, 60. Er selbst habe den Rück- fe gegen hochrangige Personen und Chats,
zug des damaligen Kanzlers Sebastian Kurz entscheidend vorangetrieben. die ein fragwürdiges Sittenbild zeichnen.
SPIEGEL: Regierte es sich angenehm mit dem
damaligen Kanzler Kurz?
SPIEGEL: Herr Kogler, Ihre Regierung hat SPIEGEL: Sie wollten den Staat transparenter Kogler: Ja, das habe ich über weite Strecken so
in zwei Jahren zwei Kanzler verschlissen, gestalten und Korruption eindämmen. Warum empfunden. Das Arbeitsklima war nicht nur
die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Mit­ ist Ihnen das bislang nicht gelungen? tragfähig, sondern gut. Gerade im ersten Jahr
glieder Ihres Koalitionspartners, der ÖVP, Kogler: Es wird so viel aufgeklärt wie noch der Pandemiebekämpfung hat sich das positiv
viele ­Bürgerinnen und Bürger fordern Neu­ nie. Politik ist das Bohren harter Bretter, hat ausgewirkt, wir haben zügig und kon­struktiv
wahlen. Die Stimmung in der Koalition ist Max Weber mal zutreffend festgestellt. Wenn Entscheidungen getroffen. Was ich Kurz wirk­
angespannt. Wie lange halten die Grünen das es keine Pandemie gäbe und wir Grüne allein lich abnahm, war sein Wille zu dieser bis dato
noch durch? regieren würden, wären wir sicher weiter. nie da gewesenen Koalition: Er wollte Türkis-
Kogler: Bis zum Ende der Legislaturperio­ Aber wir müssen uns nun mal abstimmen mit Grün, allen Unterschieden zum Trotz.
de, hoffe ich. Wir haben noch viel vor, und unserem Koalitionspartner. SPIEGEL: Die ÖVP musste sich bislang auch
wir sind ja nicht als Stimmungskanonen SPIEGEL: Die Kanzlerpartei bremst? weniger verbiegen als die Grünen, etwa in
gewählt worden, sondern wollen etwas Kogler: Die ÖVP hat andere Prioritäten und der Migrationspolitik. Die vom damaligen
­bewegen. ihr eigenes Tempo. Aber es geht voran: Vor Innenminister und jetzigen Kanzler Karl

80 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


AUSLAND

­ ehammer öffentlichkeitswirksam forcierten


N
Abschiebungen von Wiener Schülerinnen ha­
ben Sie zwar als »unmenschlich« kritisiert,
aber es folgten keine Konsequenzen.
Kogler: Einspruch! Im Gegensatz zu früheren
Koalitionen enden viele ähnlich gelagerte
Bleiberechtsfälle positiv für die Kinder – aber
eben ohne mediale Aufmerksamkeit.
SPIEGEL: Was antworten Sie Kritikern, die
Ihnen vorwerfen, alles mitzumachen, nur um
an der Macht zu bleiben?
Kogler: Macht ist immer ein Mittel zum Zweck
der Gestaltung, wenn sie nachhaltig sein soll.
Wir sehen die Gestaltungsmöglichkeiten und
nutzen sie als kleinerer Partner. Die Grünen
Georges Schneider / action press
sind die Garanten dafür, dass die Staats­
anwaltschaften vor politischen Eingriffen ge­
schützt sind. Für die in den letzten Jahrzehn­
ten massiv unterfinanzierte Justiz haben wir
viele Millionen zusätzlich herausverhandelt.
SPIEGEL: Den Rechtsstaat zu schützen ist
­keine genuin grüne Politik.
Kogler: Es ist sogar ein Wesenskern grüner Demonstrierende am 7. Oktober 2021 in Wien: »Eine gewisse Irrationalität«
Politik. In den vergangenen zwei Jahren
­haben wir aber auch typisch grüne Inhalte SPIEGEL: Ab wann wussten Sie, dass Sie mit parteien SPÖ, den liberalen Neos und der
durchgesetzt. Dazu zählt das Klimaticket, mit Kurz nicht mehr weiterregieren wollten? FPÖ Gespräche aufgenommen. Hätten Sie
dem man günstig in ganz Österreich für drei Kogler: Der Augenblick kam erst am Abend als Grüner tatsächlich mit der rechtsradikalen
Euro pro Tag alle öffentlichen Verkehrsmittel des 6. Oktober. Tagsüber haben wir noch die FPÖ paktiert?
nutzen kann. Die Steuerreform, die weit in Steuerreform vorgestellt; es gab eine Presse­ Kogler: Es ging mir nicht um eine echte Koa­
die Zukunft hineinstrahlt: Wir haben nicht konferenz im Kanzleramt, allerdings ohne lition, wohl aber um Parlamentsmehrheiten,
nur eine CO2-Bepreisung eingeführt, so wie Kurz, weil der noch beim EU-Gipfel war. Zu um Projekte wie die Steuerreform und den
in Deutschland. Die Einnahmen, die hier ge­ diesem Zeitpunkt kannte ich vor allem die Haushalt zu sichern. Es ging um Stabilität in
neriert werden, verteilen wir als Klimabonus. ersten Medienberichte, die schon schockie­ einer Krise.
Menschen und Haushalte mit geringeren Ein­ rend waren. Am späteren Nachmittag habe SPIEGEL: Sebastian Kurz, die konservative
kommen haben so mehr Netto. ich dann die Anordnung der Ermittler zu den Lichtgestalt, der Teflon-Kanzler, der lange als
SPIEGEL: Was passiert, wenn die Rohstoff- und Hausdurchsuchungen und die sichergestellten unbezwingbar galt, ist also an Werner Kogler
Energiepreise steigen, etwa wegen Russlands Chats gelesen. Nach dieser Lektüre hatte ich gescheitert.
Angriff auf die Ukraine? die Gewissheit, dass die Vorwürfe unerträg­ Kogler: Es war nicht meine Absicht, jemanden
Kogler: Dafür gibt es einen Mechanismus: lich sind – und dabei ging es mir nicht nur um scheitern zu lassen. Mir ging es darum, das
Wenn die Teuerung zunimmt, dann steigt der die strafrechtliche Relevanz. Richtige und Notwendige zu tun, um politi­
CO2-Preis geringer. So ein ökosoziales Modell SPIEGEL: Wie ging es dann weiter? sche Stabilität zu gewährleisten. Kurz und
gibt es bislang in keinem anderen Land, damit Kogler: Wir haben uns im vertrauten Kreis sein engster Kreis sind an sich selbst ge­
ist Österreich Avantgarde. hier im Ministerium getroffen. Uns war da­ scheitert.
SPIEGEL: Braucht es für solche Großprojekte mals schnell klar, dass Sebastian Kurz nicht SPIEGEL: Mit Kurz’ Abschied aus der Politik
eine Koalition mit den Konservativen? Bundeskanzler bleiben kann. Wenn solche enden die Affären um Vetternwirtschaft und
Kogler: Ich glaube, ja. Meine politische Le­ Vorwürfe gegen einen Politiker im Raum ste­ Bestechlichkeit nicht. Die Ermittlungen laufen
bensaufgabe ist es, Umwelt und Ökonomie hen, dann ist er vor allem mit seiner Vertei­ weiter. Am 2. März beginnt außerdem ein
unter einen Hut zu bringen. Und das ist die digung beschäftigt und entsprechend in seiner Untersuchungsausschuss. Bundeskanzler Ne­
große gemeinsame Leistung dieser Koalition. Handlungsfähigkeit und damit der Amtsfähig­ hammer versichert, seine Partei habe kein
Die Sozialdemokraten haben in großen öko­ keit stark eingeschränkt. Korruptionsproblem.
logischen Fragen historisch anfangs immer SPIEGEL: Wann haben Sie ihm Ihre Haltung Kogler: Man muss unterscheiden, welche Pe­
auf der falschen Seite gestanden. Für die Zu­ offenbart? riode er meint. Wenn es um die Zeit seit der
kunft habe ich Hoffnung. Kogler: Ich habe eine Nacht über den Ent­ letzten Wahl geht, dann kann er schon richtig­
SPIEGEL: Die ÖVP reagierte auf die Korrup­ schluss geschlafen. Dann habe ich ihn am liegen. Davor ging es mutmaßlich nicht immer
tionsvorwürfe zunächst mit Attacken gegen nächsten Tag, es war ein Donnerstag, ange­ mit rechten Dingen zu.
die Staatsanwaltschaft. Haben Sie darüber rufen. SPIEGEL: Gegen den bisherigen Parteichef und
mit Kurz gesprochen? SPIEGEL: Daraufhin hat Kurz sich von seinen Ex-Kanzler, den Ex-Finanzminister und fast
Kogler: Ja, ich habe dem Bundeskanzler klipp Ministern und den Landeshauptleuten öffent­ ein Dutzend anderer wichtiger ÖVP-Mitglie­
und klar gesagt, dass diese Angriffe einzu­ liche Loyalitätsbekundungen eingeholt. Sie der laufen Ermittlungen. Und das soll kein
stellen sind. haben unterdessen mit den Oppositions­ Korruptionsproblem sein?
SPIEGEL: Im vergangenen Herbst weiteten Kogler: Für uns ist entscheidend: Nehammer
sich die Ermittlungen der Korruptionsstaats­ und die aktuelle ÖVP-Regierungsriege sind
anwaltschaft auf Kurz und sein engstes Um­ unbelastet. Attacken auf die Justiz kommen
feld aus. Wie haben Sie diese Tage erlebt? auch keine mehr. Wir befinden uns in einem
Kogler: Eine gewisse Irrationalität oder Ner­ Klärungsprozess, der für manche schmerz­
vosität war aufseiten der ÖVP schon wahr­
nehmbar, aber die Regierungsarbeit ging er­
»Es ging nicht immer haft, aber für eine lebendige Demokratie und
einen starken Rechtsstaat notwendig ist.
gebnisorientiert voran. mit rechten Dingen zu.« Interview: Oliver Das Gupta n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 81


AUSLAND

gezogen. Auch Chois Tochter lebt in


der Hauptstadt Seoul, und sie schickt
ihr manchmal Pakete mit dem natio-
nalen Lieblingsgemüse Kimchi. Wenn

Land ohne Kinder


die Rentnerinnen sich morgens in der
Schule treffen, hilft ihnen das auch
gegen die Einsamkeit. »Es ist leer hier,
überall leer«, sagt eine 87-jährige Mit-
schülerin. »Ich vermisse den Trubel
DEMOGRAFIE  Südkorea hat die niedrigste Geburtenrate der Welt. so sehr, dass es wehtut.«
Die ersten sechs Jahrgangsstufen
Viele Frauen wollen sich nicht zwischen Familie und der Grundschule Bugil besuchen heu-
Job aufreiben. Wie lebt ein Volk, dem der Nachwuchs fehlt? te 18 Kinder. In einem Raum sitzt um
10.30 Uhr ein Achtjähriger allein vor
seiner Lehrerin und lernt Mathema-

D »Mit umge-
ie Morgensonne erleuchtet die »Früher war hier verdammt viel tik. Er ist das einzige Kind in der
Berge hinter dem Dorf Bugil, los, die Kinder rauften sich auf den zweiten Klasse. Sein gesamtes erstes
als der Schulbus bei laufendem rechnet Straßen. Aus jedem Schulfest wurde Schuljahr war der Junge allein. Im-
Motor auf die erste Schülerin wartet. 145 Milliarden ein Dorffest«, sagt eine der Frauen. merhin wird er nun in Musik, Kunst
Um 8.28 Uhr kommt Choi Won-sim
leicht gebeugt durch die Gassen. Sie
Euro will die Bevor der Unterricht beginnt, sitzen
die Seniorinnen auf dem beheizten
und Sport zusammen mit den Erst-
klässlern unterrichtet. Jetzt blühe er
ist 73 Jahre alt. Gegen den eisigen ­Taskforce des Boden ihres Klassenzimmers und es- auf, erzählt die Lehrerin.
Wind schützt eine Daunenjacke, ihr Präsidenten sen Reiskuchen. Die Frau, die erzählt, Trotz der Leere wirkt die Grund-
Haar trägt sie in einer kurzen Dauer- ist 88 Jahre alt. Ihre eigenen sechs schule freundlich und gut gepflegt.
welle. »Mütterchen, wie geht es Ih-
die Geburten- Kinder sind hier zur Schule gegangen. Über den Hof staksen Hühner, Lese-
nen?«, grüßt die Busbegleiterin und raten Damals habe es so viele Schüler ge- ecken schmücken die Klassenzimmer.
hilft Choi die Stufen hoch. ­steigern.« geben, dass in zwei Schichten unter- Direktor Shin Hyun kennt jedes Kind
Choi hat ihr ganzes Leben in Bugil richtet worden sei, morgens und beim Namen. Zum Gespräch reicht
verbracht, einem Flecken am süd- abends. er gebackene Süßkartoffeln, die er in
westlichen Zipfel Südkoreas. »Ende 1960 bekamen Südkoreanerinnen seinem Garten angebaut hat. Es ist
des Landes« wird diese Gegend mit durchschnittlich sechs Kinder. Die seine letzte Station vor der Pensio-
ihrer rauen Küste genannt. Der Schul- Regierung versuchte gegenzusteuern: nierung, der Niedergang stimmt ihn
bus fährt vorbei an den Reisfeldern, In den Siebzigerjahren riet das Ge- traurig. »Wenn immer mehr Familien
die sich in blassem Gelb und hellem sundheitsministerium Männern und fortziehen, muss vielleicht auch unse-
Braun bis zum Horizont erstrecken. Frauen zur Sterilisation. Einige An- re Schule schließen«, sagt Shin.
Daneben stehen niedrige Häuser mit zeigen mahnten später: »Zwei Kinder Innerhalb weniger Jahrzehnte ist
geschwungenen Dächern. sind zu viel.« Die Geburtenrate fiel, Südkorea zur digitalisierten Volks-
Als Choi aufwuchs, war Südkorea je mehr sich der arme Agrarstaat Süd- wirtschaft aufgestiegen, ermöglicht
ein vom Krieg verwüstetes Land. Als korea zur fortschrittlichen Volkswirt- wurde das durch viel Fleiß und Ehr-
Mädchen musste sie arbeiten, damit schaft wandelte. Diese Entwicklung geiz, oft auch durch einen harten
ihre Familie überleben konnte, für die erlebten viele Industrieländer – je Wettbewerb. Doch wirtschaftliche
Schule blieb keine Zeit. Erst jetzt wohlhabender ein Land, desto weni- Entwicklung und politische Öffnung
lernt sie Lesen und Schreiben. Mit ger Babys wurden geboren. Wohl nir- zogen keinen ähnlich rasanten Werte-
drei anderen älteren Damen besucht gends vollzog sich dieser Wandel so wandel nach sich. Die Gesellschaft
Choi die dritte Klasse der Grundschu- schnell und radikal wie in Südkorea. blieb in vielen Bereichen patriarchal
le von Bugil. Ihren Namen kann sie Rentner-Schülerinnen 2018 fiel die Geburtenrate erstmals und konservativ.
schon schreiben. Mit zittrigen Fingern in der Grundschule auf unter ein Kind pro Frau. Jüngere Menschen wachsen noch
von Bugil: »Ich
zieht sie die Bogen und Linien der vermisse den Trubel
In Bugil sahen die alten Frauen, immer mit den hohen Erwartungen
koreanischen Buchstaben nach. Sie so sehr, dass es wie ihr Dorf immer weiter schrumpfte. ihrer Eltern und Großeltern auf. Der
habe eine schöne Handschrift, lobt wehtut« Ihre eigenen Kinder sind längst weg- ideale Lebensweg sieht vor, einen ex-
der Lehrer. zellenten Schulabschluss zu schaffen,
Ältere Frauen wie Choi bewahren später ein gutes Einkommen zu si-
vielerorts die Schulen vor der Schlie- chern, früh zu heiraten und eine Fa-
ßung. Es fehlt an Kindern in Süd­ milie zu gründen.
korea. Die Geburtenrate sinkt seit Doch viele sehen sich kaum in der
Langem, sie ist zuletzt auf ein neues Lage, diese Ansprüche zu erfüllen.
Rekordtief gefallen: 0,84 Kinder be- Die Lebenskosten in der Hauptstadt
kommt jede Südkoreanerin durch- Seoul, wo es die meisten Jobs gibt,
schnittlich im Laufe ihres Lebens. sind hoch. Paare schieben die Ehe auf.
Nirgends auf der Welt ist die Frucht- Wenn sie heiraten, dann später im
barkeitsrate niedriger. Zugleich Leben – und viele entscheiden sich
Jun Michael Park / DER SPIEGEL

­werden die Menschen immer älter. gegen Kinder.


In Bugil ist zu spüren, was das be- Junge Frauen empfinden die tra-
deutet. ditionelle Rollenverteilung im Land
Der Schulbus holt auf der Tour an zudem als abschreckend. Wenn Süd-
diesem Morgen nur drei Schüler ab, koreanerinnen Mutter werden, über-
zwei von ihnen sind Rentnerinnen. nehmen sie den größten Teil der
Er hätte Platz für 18. ­Kindererziehung und der Arbeit im

82 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


AUSLAND

Jun Michael Park / DER SPIEGEL


Barkeeperin Lee in Seoul: »Wir können uns ein Kind einfach nicht leisten«

Haushalt, und die Erwartungen älterer Fami- Arbeit der Schwangeren an ihnen hängen die Entscheidung, in Vollzeit zurückzukehren
lienmitglieder an sie sind immens. bleibe, erzählt Lee. Vorgesetzte beklagten oder ihren Job aufzugeben, sagt Lee. Auf die
Ein Satz fällt in Gesprächen mit Südkorea- den Ausfall. »Viele Frauen kommen nach Frage nach Teilzeitarbeit für Mütter lacht sie.
nerinnen immer wieder: »Ein Baby zu be- der Geburt ihres Kindes im Job nicht mehr »Teilzeit bedeutet in Südkorea, einen Min-
kommen würde bedeuten, dass ich mich selbst voran«, sagt sie. »Oder sie kehren gar nicht destlohnjob zu machen. Als Kassiererin im
aufgeben muss.« Viele Frauen sehen sich oft erst zurück.« Supermarkt zum Beispiel.«
nur zwischen zwei Extremen: ein Kind zu In keinem OECD-Land sind berufstätige Lee beschreibt eine Gesellschaft, die es
bekommen und sich für die Familie aufzu- Frauen ihren männlichen Kollegen gegenüber kaum schafft, ein lebenswertes Umfeld für El-
opfern – oder sich beruflich zu verwirklichen so benachteiligt wie in Südkorea: Hier gibt es tern zu gestalten. Sie meint damit nicht nur die
und ein komfortables Leben zu führen. Beides die mit Abstand größten Gehaltsunterschiede Unternehmenskultur – sondern auch die un-
glauben sie nicht miteinander versöhnen zu zwischen Frauen und Männern. Dem briti- geheuren Erwartungen an Mütter und Kinder.
können. schen »Economist« zufolge hat Südkorea Selten wird das so deutlich wie am Tag des
»Vielleicht gibt es einen Mittelweg, aber unter 29 Ländern die schlechtesten Bedingun- südkoreanischen Abiturs, Suneung genannt,
ich kenne ihn nicht«, sagt Lee Ga-hee. Lee ist gen für arbeitende Frauen. Für Mütter ist die der im vergangenen Jahr auf den 18. No­
35 Jahre alt und Führungskraft bei einem Rei- Lage besonders schwierig, und Lee hat nicht vember fiel. Es ist der wichtigste und wohl
seunternehmen, an ihrem freien Tag ist sie das Gefühl, dass die Politik das Problem er- schlimmste Moment im Leben jeden südko-
leicht geschminkt und trägt einen hellbraunen kannt hat. reanischen Schülers. Er entscheidet über den
Wollpullover. Sie trinkt Zitronentee und er- Die nunmehr vierte Taskforce unter Prä- weiteren Lebensweg: Ziel ist es, auf eine der
innert sich an einen Anruf vom Vorabend. sident Moon Jae-in will in den kommenden drei besten Universitäten des Landes zu kom-
Ihre Tante war am Telefon: »Wollt ihr nicht vier Jahren die Geburtenrate steigern. Dafür men. Das sichert einen guten Job in einer
doch ein Baby? Das wäre so süß!« Lee lächelt investiert sie umgerechnet 145 Milliarden großen Firma und verbessert sogar die Hei-
müde, die Fragen haben nach ihrer Hochzeit Euro. Kindergärten und Schulbetreuung sol- ratsaussichten.
vor vier Jahren angefangen. Sie fühlt sich, als len ausgebaut werden. Mütter und Väter kön- Das ganze Land hält an diesem Tag inne.
ob sie eine Checkliste der Familie abarbeitet. nen bis zu 11 000 Euro erhalten, wenn sie Angestellte kommen später zur Arbeit, um
Herausragende Noten in der Schule? Check. gemeinsam drei Monate Elternzeit nehmen. die Straßen freizuhalten. Polizisten eskortie-
Ein Platz an einer Top-Universität? Check. »Das ist, als ob man Wasser in einen löch- ren Schüler, die spät dran sind. Wenn der Eng-
Ein guter Job? Check. Jetzt fehlt noch ein rigen Eimer füllt«, sagt Lee. »Ich wäre Ziel- lisch-Hörtest abgehalten wird, dürfen keine
Baby. Ihr Vater hält sie für selbstsüchtig. Aber gruppe dieser Familienpolitik, aber ich fühle Flugzeuge starten und landen.
Lee hat sich entschieden: Sie ist glücklich mich nicht angesprochen. Wir brauchten et- Als am 18. November der internationale
ohne Kind. was, was uns wirklich hilft.« Airport den Flugverkehr stoppte, lud der Pas-
Sie hat erlebt, was mit Schwangeren am Akzeptable Arbeitsbedingungen für Müt- tor der Presbyterianischen Kirche des Daechi-
Arbeitsplatz geschieht: Sie werden zum Pro- ter zum Beispiel. Doch den hervorragend aus- Viertels in Seoul zum »Suneung-Gottes-
blem. Kollegen beschwerten sich, dass die gebildeten Südkoreanerinnen bleibe oft nur dienst«. Drei Dutzend Mütter und Großmüt-

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 83


AUSLAND

kampf zum Schimpfwort geworden ist. Der


Geschlechterkampf behindert eine sachliche
Debatte über die niedrige Geburtenrate.
Ausgerechnet die Region um das Dorf Bu-
gil, in dem die alten Damen die leere Schule
besuchen, schien einige Zeit vieles richtig ge-
macht zu haben. Die Bezirksregierung lockte
Paare mit üppigen Kinderboni und verschickte
Geschenkkörbe mit Babykleidung und ab-
gepacktem Fleisch. Die Geburtenrate in der
Region stieg einige Jahre lang, doch seit 2019
sinkt sie wieder.
Das beweise, sagt Shin Pyong-ho, dass
Geld allein die Probleme nicht löse. Er ist
Gemeindevorsteher in Bugil, 61 Jahre alt. Er
ist vor acht Jahren hergezogen. Nach dem

Jun Michael Park / DER SPIEGEL


Tod seines Sohnes war Bugil »schön und fried-
lich«, es wurde für ihn ein Ort der Zuflucht.
Die Leute schenkten ihm selbst angebautes
Gemüse. Shin wollte nicht, dass Bugil ver-
schwindet. So fasste er einen Plan.
Er habe überlegt, sagt Shin, wonach sich
junge Paare sehnten. Sie sollen hier finden,
Erst- und Zweitklässler in Bugil: Ein Schüler war sein ganzes erstes Schuljahr lang allein
was ihnen woanders fehlt: guten und günsti-
ter harrten mit versteinerter Miene in den über ein Baby nachdenken, wenn ich nicht in gen Wohnraum, ein sicheres Einkommen und
Bänken aus. Das Daechi-Viertel ist bekannt Südkorea leben würde. Aber damit es eine die Gewissheit, dass ihre Kinder gut versorgt
für anspruchsvolle Schulen und ehrgeizige glückliche Kindheit hat, müsste ich meine sind.
Eltern. Direkt neben der Kirche bietet das Heimat verlassen.« Shin schiebt in seinem Containerbüro in
Institut »Brainvalley« Nachhilfekurse an. Die politische Klasse, deren typische Ver- der Nähe des Marktplatzes von Bugil nach
Ohne zusätzliche Lerneinheiten, glauben treter meist älter und männlich sind, scheint und nach Papiere über den Tisch, die zeigen,
viele Eltern, könnten ihre Kinder keine Top- keine Antworten auf die Sorgen von jungen wie aus seiner Idee Realität wurde. Eine Liste
noten im »Suneung«-Examen erreichen. Paaren zu finden. Die Herausforderungen für leer stehender Häuser, eine Tabelle mit den
Schülerinnen und Schüler büffeln daher bis den nächsten Präsidenten, der am 9. März offenen Stellen in der Region. Shins Projekt
zehn Uhr abends Mathematik oder Englisch gewählt wird, sind gewaltig: Die Ausgaben wurde zum unbezahlten Vollzeitjob.
in Nachhilfeakademien. Das kann Eltern für das Gesundheitssystem werden steigen, Mitte November kam die Zusage des Be-
­umgerechnet 500 Euro im Monat kosten. je mehr Menschen altern, ebenso die Belas- zirksamts, das Projekt mit umgerechnet rund
Oft lernen schon Dreijährige nachmittags tung durch Renten. Auf dem Arbeitsmarkt 230 000 Euro zu unterstützen. Mit Erlaubnis
Englisch. wird es an Fachkräften fehlen. der Besitzer ließen Shin und seine Mitstreiter
»Ich hasse diesen Wettbewerb«, sagt die Die größte Oppositionspartei, die konser- 15 Häuser renovieren. Sie starteten einen Auf-
37 Jahre alte Lee Chan-kyung, die eine Bar vative People Power Party, will zwar stärker ruf an Familien in ganz Südkorea: Sie würden
in Seoul managt. Hinter ihr wirft die Disco- die 20- bis 40-Jährigen ansprechen. Das liegt fast mietfrei in Bugil wohnen können und bei
kugel Lichtflecken an die Decke, sie trägt eine vor allem an ihrem Vorsitzenden Lee Jun- der Jobsuche unterstützt werden. An den
neongelbe Mütze über ihren blond gefärbten seok, der mit seinen 36 Jahren eine Ausnahme- Schulen würde es eine ganztägige Betreuung
Haaren. Sie beschreibt sich als »nicht typi- erscheinung im betagten Polit-Establishment geben.
sche« Koreanerin. »Ich würde mein Kind ist. Aber ihm geht es vor allem um frustrierte Viele hätten ihm gesagt, es sei unmöglich,
nicht diesem Druck aussetzen wollen«, sagt junge Männer, die sich diskriminiert fühlen. das Dorf wiederzubeleben, sagt Shin. Einige
sie. Aber sich dem Bildungsfieber Südkoreas »Wer besondere Regeln für Frauen macht, hätten dafür plädiert, die Grundschule abzu-
zu entziehen sei schwer. beraubt Männer ihrer Rechte«, sagt Lee dem reißen und ein Altersheim zu bauen. Aber
Rund ein Drittel der verheirateten Süd- SPIEGEL in seinem Büro. Er hat dazu beige- irgendwann fragten Dorfbewohner: Wie kann
koreanerinnen gibt an, der Hauptgrund gegen tragen, dass Feminismus in diesem Wahl- ich helfen?
ein Baby seien die hohen Kosten für Bildung. Die Besitzerin eines Teehauses hofft, dass
Lee sagt: »Du musst einen guten Kindergarten sogar Menschen aus Seoul hier heimisch wer-
und eine gute Schule finden. Und dafür musst Weniger als ein Kind den, »denn glücklich wirken sie ja nicht«. Ihre
du in die guten Viertel ziehen, die teuer sind.« Töchter hätten nachmittags nie eine Nach-
Entwicklung der Fertilitätsrate in Südkorea
Auch für sie und ihren Ehemann sprechen hilfeakademie besucht, sie waren schwim-
vor allem finanzielle Erwägungen gegen ein 5 men, Ski fahren oder reiten, »und eine Uni-
Kind. Die beiden können nur ein Apartment versität haben sie ja trotzdem besucht«.
4,5
in einer Satellitenstadt von Seoul bezahlen, 4 198 Familien aus ganz Südkorea riefen
zwei Zimmer, 75 Quadratmeter, eine Auto- bei Shin an. »Ist das alles echt?«, fragten
stunde von ihrer Bar entfernt. Lee sagt: »Wir 3 ­einige. Am Ende wählten Shin und sein Team
können uns ein Kind einfach nicht leisten.« 20 Familien aus. Sie ziehen derzeit in ihre
Die Pandemie hat sie darin bestätigt. Im- 2 neuen Häuser.
mer wieder mussten sie die Bar in der Corona­ »Wir versuchen, eine kleine Utopie auf
1
krise schließen. Ihr Mann hat früher Musik dem Land zu schaffen«, sagt er. Der Trubel
produziert, heute liefert er auf dem Motor- 0 0,8 soll ins Dorf zurüc kkehren. So wie es die
roller Essen aus. Manchmal breche es ihr das alten Damen in der dritten Klasse noch von
Herz, wenn er von den Kindern ihrer Freun- 1970 1980 1990 2000 2010 2020 früher kennen.
de schwärme, sagt Lee. »Ich würde vielleicht S Quellen: OECD, Statistics Korea Katharina Graça Peters n

84 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


SPORT

Problematischer Sponsor
Sportvereine und Sportwettbewerbe
mit Gazprom-Unterstützung*, SC
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sich Gazprom pro Jahr
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seine Partnerschaft Eissport- Champion
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mit der Uefa kosten. verein FC Schalke League
Eishockey

Fußball
Ein Höhepunkt dieses Zug
Engagements wäre (Schweiz) Austria Wien Super Cup
das diesjährige
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Finale in Sankt Nations
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geändert.
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St RRac Denise Imoudu, Volleyballspielerin des Schweriner
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* oder der einer Tochtergesellschaft No SC. Gazproms Tochtergesellschaft Nord Stream 2
S Grafik ist Trikotsponsor des Bundesligateams.


Russische Unternehmen gehören zu den großen Sponsoren des Weltsports. Der Energiemulti Gazprom, mehrheitlich in der Hand des russischen
Staates, pumpt Geld in den Fußball, und direkt oder über Tochterfirmen engagiert er sich auch beim Segeln, beim Schach und beim Handball.
Die staatliche Fluglinie Aeroflot ist bei Manchester United, das Bergbauunternehmen Uralkali beim Formel-1-Team Haas aktiv. Die Softwarefirma
Kaspersky sponsert die Fußballmannschaft von Eintracht Frankfurt und Ferrari im Motorsport.

GUT ZU WISSEN beim BSC Winterberg. Fried- Job, bei dem man es »schon
rich, 2011 Vizeweltmeister im mögen muss, zehn Stunden am
Warum sind deutsche Kufen- Viererbob, spricht für seine
Sportart von einem »dünnen
Tag bei minus 20 Grad an der
Bahn zu stehen«.
sportler so gut? Fundament«.
Selbach, dreimalige Olym-
Darüber hinaus habe die
Zerstörung der Kunsteisbahn
piateilnehmerin im Skeleton, in Königssee durch ein Un­
Neun von zwölf deutschen phen sei auch »das Quäntchen sieht ebenfalls Probleme für wetter im Vorjahr für den Nach-
Goldmedaillen gewann das Glück« dabei gewesen. Im Bob die Zukunft. Es gebe bei den wuchs fatale Folgen. Die
deutsche Team bei den Olym- und beim Rodeln steht zudem Stützpunkten unbesetzte Trai- ­Jugendlichen müssen jetzt zum
pischen Spielen in Peking im ein personeller Umbruch be- nerstellen, weil die Jobs finan- Training nach Innsbruck, ein
Eiskanal. Die Kufensportarten vor: Zweierbob-Silbermedail- ziell nicht attraktiv genug sei- Aufwand, den viele scheuen.
Rodeln, Skeleton, Bob waren lengewinnerin Mariama Ja- en. Ohnehin sei es schwierig, »Ohne Königssee hätten wir
die Erfolgsgaranten. manka hat angekündigt, dass gute Leute als Trainer zu fin- eine solche Medaillenbilanz
Deutschland ist das einzige dies ihre letzten Spiele waren; den, so Selbach. Das sei ein nicht«, sagt Andreas Minschke,
Land, das über vier wettbe- Rodelstar Natalie Geisenber- Präsident des Thüringer Schlit-
werbsfähige Bahnen verfügt – ger, 34, lässt ihre Zukunft noch ten- und Bobsportverbands. In
mit den entsprechenden offen; Rodel-Olympiasieger Thüringen sieht man die Zu-
­Strukturen, Trainernetzwer- ­Johannes ­Ludwig ist 36. kunft gelassener. Die dortigen
Yohei Osada / ATP images / AFLO

ken, ­Betreuern, Technikern. Die Kufensportler haben Mitgliederzahlen seien in der


Wird diese Dominanz wie die Aktiven vieler anderer Coronazeit um zehn Prozent
­bleiben? »Das würde ich nicht Sportarten in Deutschland Zu- gestiegen. Zudem seien, sagt
blind unterschreiben«, sagt kunftssorgen. »In vier Jahren Minschke, die Trainergehälter
Anja Selbach, Bundestrainerin sind wir noch medaillenfähig, angehoben und dem Lehrer-
des Skeleton-Nachwuchses in acht bis zwölf Jahren wird es status angepasst worden,
beim Bob- und Schlittenver- eng«, sagt Christian Friedrich, so habe man »ein belastbares
band. Bei den Olympiatrium- Sportwart der Bobabteilung Deutscher Viererbob in China Netzwerk« geschaffen. AHA

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 85


SPORT

Das Gegenmodell
Philipp von Dit fur th / laif

FUSSBALL  Christian Streich, Trainer des SC Freiburg, versucht mit seinem Klub den Spagat zwischen
Bodenständigkeit und Profitabilität. Kann das in einem derart entfesselten Business gelingen?

86 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


SPORT

K
urz vor Weihnachten zog es schenführung und kluger Transfer­ Martin Spanring, 52, erinnert
Christian Streich wieder in Stabiler Klub politik ökonomisch zu wirtschaften. sich noch, wie sich der Wechsel von
einen seiner Lieblingsbuch­ Nur kann ein solcher Spagat zwi­ Schalke nach Freiburg Anfang der
läden in Freiburgs Innenstadt. Er gehe Umsatz des schen Profitabilität und Nachhaltig­ Neunzigerjahre anfühlte. In Gelsen­
Bundesligisten
dort gern hin, weil er sich mit der Be­ SC Freiburg, keit dauerhaft gelingen? Oder muss kirchen galt er als Partykönig, die
sitzerin im heimischen Dialekt unter­ in Millionen Euro sich Freiburg irgendwann den Ge­ Fußballer dort fuhren Porsche oder
halten könne, erzählt er. Alemannisch setzmäßigkeiten der Fußballbranche Mercedes, Manager Rudi Assauer
ist auch in Freiburg selten geworden. 110 beugen? paffte Zigarren.
100
Dieses Mal hatte er im Schaufenster 96 Mitte Dezember führt Sportdirek­ Als er in Freiburg ankam, habe er
89
ein Buch über den Aufbruch der USA tor Klemens Hartenbach, 57, durch sich die Augen gerieben. Die Spieler
nach dem Bürgerkrieg im 19. Jahr­ die kargen Büroräume im neuen Sta­ kamen mit der Straßenbahn oder dem
hundert entdeckt. Streich, der Ge­ 63 dion am Freiburger Flugplatz. »Der Fahrrad zum Training, Trainer Volker
schichte studiert hat, überlegte nicht Kampf gegen das Establishment ist Finke drehte seine Zigaretten selbst.
lange und schlug zu. Anschließend schon ein bisschen in uns drin«, sagt »Der ganze Klub fühlte sich an wie
plauderte er noch eine Weile mit den er, »wir wollen nicht jede Schweine­ eine Klassenfahrt«, erzählt der ehe­
Kunden im Laden. rei mitmachen, die in der Branche malige Fußballer Spanring. »Aber er
Es gibt etliche solche Anekdoten üblich ist.« Er zeigt auf die Plätze, wo hat mich wieder geradegerückt.« Der
über Christian Streich, der sich auch er und die Mitarbeiter der Scouting- frühere Präsident Achim Stocker rech­
als Fußballtrainer, vor allem aber als 2016/17 2020/21 Abteilung demnächst sitzen sollen. nete Spielern schon mal vor, was eine
Freiburger sieht. Viele Einheimische Einige Wände, die man eingezogen Fahrstuhlfahrt in der Geschäftsstelle
können von einer Begegnung mit dem hat, müssen wieder raus, findet Har­ kostet. Er beschwerte sich über die
gesprächigen Streich berichten, der tenbach, dem der Austausch wichtig Anschaffung eines zweiten Faxgeräts.
keine Scheu davor hat, der Öffentlich­ ist. »Ich mag mehr die Teeküchen­ Nur kein unnötiges Geld ausgeben.
keit mitzuteilen, was er von Corona­ atmosphäre.« Das sind Geschichten aus der Ver­
leugnern und Impfgegnern hält. Ein Hartenbach war gerade zehn Tage gangenheit, die Bodenständigkeit in­
Reporter der »New York Times« be­ in Argentinien, um potenzielle Ver­ des ist den Freiburgern geblieben –
zeichnete ihn als »Philosoph aus dem stärkungen für den Fußballkader zu auch wenn sich das glitzernde Fuß­
Schwarzwald«. sichten. Entgegen gängiger Praxis ballgeschäft überall in Europa immer
Streich, 56, ein Metzgersohn, der überlässt er das nicht seinen Mit­ weiter von der Lebenswelt seiner
seine Eltern nur hart arbeitend kann­ arbeitern. Er müsse Spieler »spüren«, Fans abgekoppelt hat.
te, ist der Gegenentwurf zum pro­ sagt er. Videos und Daten, auf deren Wesentliche Anteile am Kicker­
minenten Fußballlehrer, der abge­ Grundlage viele Transfers in der Bun­ idyll hat Streich. Den häufig erhobe­
schottet vom Rest der Gesellschaft in desliga basieren, würden »nur die nen Vorwurf, deutsche Mannschaften
einer Wohlstandsblase lebt. Wenn er halbe Wahrheit« erzählen. Er wolle seien zu wenig im internationalen
in Pressekonferenzen die Gehalts­ sehen, ob einer nach Fehlern lange Wettbewerb vertreten, könne er nicht
exzesse im Profisport geißelt, dann hadert. Ob er Mannschaftskollegen nachvollziehen, sagt er. »Solange wir
spricht aus ihm eine ernst gemeinte anfeuert. Ob er ein Teamspieler ist. den Fußball nicht den Investoren
Vernunft, obwohl ihn das Geschäft Viele der Kandidaten würden die überlassen wie in England, ist das für
selbst zu einem wohlhabenden Mann Nase rümpfen, wenn er ihnen erzäh­ mich völlig okay.«
gemacht hat. le, dass es in Freiburg kaum mehr als Auch sein Sportclub hat sich an die
Streich kam 1995 zum SC Frei­ Fußball gebe, keine große Klubszene, gestiegenen Ablösesummen und die
burg, arbeitete zunächst als Jugend­ keine Schickeria. »Früher haben uns Spielergehälter anpassen müssen. Im
Stürmer Höler (l.),
coach, seit mehr als zehn Jahren ist Team­kollegen:
neun von zehn Spielern abgesagt«, September 2020 bezahlte der Klub
er Cheftrainer und das Gesicht des Der Champions sagt Har­tenbach. Immerhin: »Heute rund 10 Millionen für den Franzosen
Klubs. Mit Akribie und Fleiß hat er League immer näher ist es schon fifty-fifty.« Baptiste Santamaria, den teuersten
einen versierten Kader geformt, der Neuzugang in der Klubhistorie. Mo­
Tempofußball und eine kompakte nate später musste man den Mittel­
Abwehr vereint. Im DFB-Pokal steht feldspieler wieder ziehen lassen. Etwa
der SC im Viertelfinale. Mit einem 15 Millionen spülte das den Freibur­
Sieg an diesem Samstag gegen Hertha gern in die Kasse.
BSC käme der Klub der Champions Solche Erfahrungen haben die SC-
League immer näher. Eine Erfolgs­ Verantwortlichen vorsichtiger ge­
geschichte. macht. Am liebsten kaufen sie günstig
Streich kann mit Lobgesängen auf ein und teuer weiter, wie zuletzt die
den Freiburger Aufschwung wenig jungen Nationalspieler Luca Wald­
anfangen. Ja, man stehe in der Tabel­ schmidt und Robin Koch. Nicht selten
le gut da, »aber das ist mir zu fragil«, durchforstet Hartenbach den Spieler­
sagt er in einem Videotelefonat. Er markt bis in die untersten Ligen. Über
wisse, wie schnell sich das drehen die Jahre hat er ein Gespür für Talen­
könne. 2015 stieg er aus der Bundes­ te entwickelt, die andere niemals für
liga ab. Tagelang hätten ihn danach bundesligatauglich halten würden.
Trauer und Wut beherrscht. Das Spieler wie Lucas Höler, 27.
­wolle er nicht noch einmal erleben. Der Mann mit der blonden Löwen­
Sven Simon / ullstein bild

»Wir müssen malochen.« mähne kam 2018 von Zweitligist


Der Klub aus Südbaden hat einen Sandhausen nach Freiburg. Der Klub
eigenen Weg eingeschlagen. Statt teu­ habe einen Stürmer gesucht, »der in
rer Zukäufe versucht der SC, mit guter die Spitze stößt und die Abwehr
Nachwuchsarbeit, geduldiger Men­ nervt«, erinnert sich Hartenbach. Hö­

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 87


SPORT

Zu Beginn seines Stadionvorhabens sei er


auf Widerstand gestoßen, gibt Leki zu. Als er
eine Kapazität von 35 000 Zuschauern vor-
schlug, habe man ihn gefragt, ob er wahn-
sinnig sei. »Heute fragen sie mich, warum wir
nicht mehr Plätze haben.« Seit Leki die Fi-
nanzen regelt, ist die Zahl der Vereinsmitglie-
der von etwa 6000 auf über 30 000 gewach-
sen. Trotz Corona erzielte der Klub im ab-
gelaufenen Geschäftsjahr mehr Umsatz als je
zuvor, rund 110 Millionen Euro. Nach eigenen
Angaben verfügt der SC über ein Eigenkapi-
tal von 93 Millionen Euro.
Klar gebe es bisweilen unterschiedliche

Alexander Hassenstein / Getty Images


Meinungen auf Vorstandsebene, sagt Leki,
»aber in der Grundhaltung sind wir auf einer
Linie«. Das Harmoniebedürfnis im Verein
gefällt nicht jedem. Es fehle eine gesunde
Streitkultur, heißt es dann.
Tatsächlich zeigen sich die Verantwort­
lichen auf Mitgliederversammlungen selbst
bei kritischen Fragen wenig konfliktfreudig.
Auch in den sozialen Medien findet kein
Profi Vincenzo Grifo im neuen Freiburger Stadion: Tempofußball und kompakte Abwehr
­Dialog zwischen Klub und Fans statt – eine
lers Statistiken seien nicht optimal gewesen, Hartenbach hält es für unerträglich, wie bewusst gewählte Strategie, sagen Kenner des
»aber Lucas verfügt über diesen inneren An- sich Klubs gegenseitig 13- bis 14-Jährige ab- Vereins. Trainer Streich verzichtet ganz auf
trieb, alles auf dem Platz zu lassen«, sagt jagen, ihnen die große Karriere versprechen. soziale Medien. Die würden nur zur Spaltung
Hartenbach. »Klar, wir sind auch keine Engel«, sagt er. der Gesellschaft beitragen und ihn vom Ar­
Trotz seiner Willensstärke hatte es Höler »Wir spielen das Spiel notgedrungen mit. beiten ablenken, sagt er. Überhaupt störe ihn
anfangs schwer. Fans warfen ihm in sozialen Aber nach unseren eigenen Regeln.« Zu der Informationsüberfluss der heutigen Zeit.
Medien vor, technisch limitiert zu sein, be- denen gehört, dass Jugendspieler in Freiburg »Hätte ich eine Fernbedienung, würde ich
schimpften ihn auf üble Weise. Das habe ihn von der U16 bis zur U19 ein einheitliches jeden Bildschirm im Flugzeug oder in der
sehr getroffen, sagt Höler. Doch den Klub zu ­Taschengeld erhalten. Bahn ausknipsen.«
verlassen sei für ihn nicht infrage gekommen. In Freiburg haben sie sich lange auf ihren Wohl auch deshalb kommt für Streich kein
Auf Anraten Streichs hielt sich Höler von Fußballsachverstand und ihren moralischen anderer Arbeitsplatz als die Oase Freiburg
­Kanälen wie Facebook fern. Kompass verlassen. Bis auch sie merkten, dass infrage, wo er mit dem Fahrrad zum Stadion
Der Trainer habe ihn wieder aufgebaut Transfererlöse und der Ticketverkauf im nur fahren und von all dem nervigen Grund­
und ihn im Training permanent mit Anwei- 24 000 Plätze fassenden Dreisamstadion rauschen der Branche abschalten kann. Auch
sungen gegängelt. »Erst dachte ich, der hat nicht genügten, um stabil wirtschaften und in wenn die »Schüssel«, wie er das neue Stadion
mich auf dem Kieker«, erzählt Höler. »Dabei der Bundesliga mithalten zu können. nennt, viel weiter von zu Hause entfernt ist
wollte er mich nur besser machen.« Über Mo- Oliver Leki, 49, hat das geändert. Der als die alte Spielstätte.
nate verbrachte Höler viel Zeit auf der Ersatz- ­Finanzvorstand, der 2013 nach Freiburg kam, Heimeligkeit schafft Nähe, die auch an-
bank, bis er verstand, Räume zu öffnen, das ist der Mann für Visionen, aber auch für die strengend sein kann. Wegen ihrer Verbun-
Spieltempo zu kontrollieren. Dann holte ihn Kälte der Zahlen. Er trieb den Bau des neuen, denheit zur Stadt und zu den Menschen neh-
Streich in die Startelf, sein Marktwert ist in rund 76 Millionen Euro teuren Europa-Park men Streich und Hartenbach jeden Miss-
vier Jahren von 900 000 Euro auf 6,5 Millio- Stadions im Norden der Stadt voran. Es erfolg sehr persönlich. Er spüre da einen
nen Euro geklettert. »Lucas hilft uns brutal«, gab nicht wenige Menschen im Umfeld des zusätzlichen Erfolgsdruck, sagt Hartenbach.
sagt Streich. Klubs, die in der neuen Arena das Ende des Er überlege sich etwa genau, ob er zum Spiel-
In den vergangenen zehn Jahren hat der ­ku­scheligen Freiburger Wegs sahen. Ende tag am Samstagmorgen auf den Wochen-
Klub gut eine Handvoll deutsche National- ­Oktober feierte der SC dort seinen ersten markt gehe, weil er glaubt, dass die Leute
spieler hervorgebracht. In der Bundesliga hat Bundesligasieg. sich fragen könnten, ob er nichts Besseres
sich herumgesprochen, dass man in Freiburg zu tun habe. »Ist natürlich Quatsch«, sagt
Zeit bekommt, sich zu entwickeln. Die 16 In- Hartenbach, »aber so solche Gedanken ma-
ternatsplätze in der 2001 eröffneten Fußball- Sterile Stadionatmosphäre che ich mir.«
schule sind begehrt. Zu Saisonbeginn gab der SPIEGEL-Redakteur Matthias Fiedler reiste Trainer Streich geht zum Abschalten gern
SC gleich sechs Jungs aus der Drittligamann- für mehrere Tage nach Freiburg, wo man in den Wald. Die Natur, die Berge, die Ruhe –
schaft eine Chance im Profikader. Wohl wis- ihm das Klubgelände, die Fußballschule all das helfe ihm, den Kopf vom Fußball frei-
send, dass sich nur wenige von ihnen im Bun- und die Trainingsplätze zeigte. Das Spiel im zubekommen. »Ich bin ja ein bisschen ener-
desligateam durchsetzen werden. neuen Stadion im Dezember gegen Hoffen- getisch.«
»Das ist auch ein Jonglieren mit Gefühlen«, heim musste aus Pandemiegründen vor Wie lange er den Bundesligazirkus noch
sagt Sportdirektor Hartenbach über den Um- wenigen Hundert Zuschauern stattfinden. mitmacht? Das hänge davon ab, wie lange
gang mit Nachwuchsspielern. Häufig folge der »Das fühlte sich sehr steril an«, sagt Fiedler. er »genügend Energie« spüre, Spieler besser
Freude über die Beförderung Frust, weil die Auch Trainer Streich war wegen einiger zu machen. Sollte er den Klub irgendwann
Jungen lange nicht zum Einsatz kämen. »Die ­Coronafälle im Team nur über Videotelefo- verlassen, würde er das gern vor seinen
wenigsten sind mit Geduld gesegnet.« Er müs- nie erreichbar. Danach gefragt, wie viele ­Vertrauten tun, sagt Streich. »Dann können
se oft beschwichtigen. Nicht selten schalteten Bücher er zu Hause im Regal stehen habe, sie in Ruhe einen Trainer suchen, der zum
sich Berater ein, die den Talenten woanders antwortete Streich: »Nicht viele. Die besten Verein passt.«
mehr Spielzeit und Geld versprächen. verschenke ich.« Matthias Fiedler n

88 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


SPORT

SPIEGEL: Bei denen Sie als große Fa- band eine Nachwuchstrainerin, dieser
voritin gelten. Sie starten in allen fünf Schritt kam viel zu spät. Wir werden
alpinen Disziplinen. Im Januar holten die nächsten Jahre wohl eine Durst-
Sie vier Weltmeistertitel. Wie groß ist strecke haben.

»Druck ist
der Druck? SPIEGEL: Bei den Paralympics im
Forster: Der ist deutlich größer als in Sommer landete Deutschland im
der Vergangenheit. Bei meinen ersten Medaillen­spiegel nur auf Rang zwölf,

­eigentlich etwas
Paralympics in Sotschi war ich das deutlich hinter kleineren Ländern wie
Küken, auch 2018 in Pyeongchang den Niederlanden, die im Umgang
stand ich noch nicht im Fokus. Zuletzt mit behinderten Sportlern weiter zu

Tolles«
hatte ich dann schon mit der gestie- sein scheinen.
genen Erwartungshaltung zu kämp- Forster: Bei uns gibt es tatsächlich noch
fen. Seit neun Monaten arbeite ich einiges zu tun. Es reicht nicht, immer
deshalb mit einer Mentaltrainerin zu- nur von Inklusion zu sprechen. Ich
sammen. trainiere am Stützpunkt in Freiburg,
PARALYMPICS  Die mehrmalige Skiweltmeisterin SPIEGEL: Was besprechen Sie mit ihr? der ist behindertengerecht. Aber es
Forster: Ich beschreibe, wie es mir ge- gibt auch Stützpunkte, an denen zum
Anna-Lena Forster über China und rade geht und wie ich mich fühle. Beispiel der Kraftraum nicht barriere-
fehlende Wertschätzung in der Heimat Dann versuchen wir, das Gefühl in frei ist. Da muss ein Behindertensport-
etwas Positives umzuwandeln. Druck ler selbst schauen, wo er trainiert.
hört sich immer so negativ an, eigent- SPIEGEL: Bekommen Parasportler ge-
Zwei Wochen nach den Olympischen lich ist das was Tolles. Den Druck nügend Wertschätzung?
Spielen beginnen in Peking die Para- habe ich ja nur, weil die Leute an mich Forster: Wir stehen alle vier Jahre im
lympics. Angeführt wird das deutsche glauben. Fokus, ansonsten nie. Auch manche
Team von der Monoskifahrerin Anna- SPIEGEL: Die Arbeit mit einer Mental- Events sind traurig. Bei der Para-­
Lena Forster. Die 26-Jährige aus trainerin zeigt, dass sich der Parasport Alpinski-WM 2019 in Kranjska Gora
Radolf­zell am Bodensee holte 2018 professionalisiert. und Sella Nevea gab es weder einen
Sammy Minkhoff

in Pyeongchang zweimal Gold. Seit Forster: Ja, da hat sich einiges getan. Aufenthaltsraum noch ordentliche
ihrer Geburt fehlt ihr das rechte Bein, Die Sportförderungen wurden an die Toiletten für uns. Da fühlt man sich,
das linke ist stark verkürzt. Ihre El- der Olympiateilnehmer angeglichen. als wäre man nichts wert.
tern nahmen sie dennoch mit auf die Außerdem bin ich beim Zoll ange- SPIEGEL: Ein Schokoladenproduzent
Skipiste. stellt. Bis zum Sommer habe ich Psy- soll Sie bei der Sponsorensuche mal
chologie studiert und meinen Bache- mit einer Tüte Süßigkeiten und der
SPIEGEL: Frau Forster, vor einigen lor gemacht. Jetzt kann ich mich voll Bemerkung abgespeist haben, man
Wochen sagten Sie, dass die Vorfreu- auf den Sport konzentrieren, ohne sei schon sozial engagiert.
de auf die Paralympics in Peking bei sofort weiterstudieren zu müssen. Forster: Ja, das stimmt leider. Mittler-
Ihnen noch nicht so groß sei. Wie ist Das war früher nicht möglich. weile habe ich Sponsoren, die mich
es jetzt, rund eine Woche vor Beginn SPIEGEL: Die Monoskifahrerin Anna sehr unterstützen. Das liegt vor allem
der Spiele? Schaffelhuber beendete 2019 nach sie- daran, dass ich in den letzten Jahren
Forster: Langsam kribbelt es, von mir ben Goldmedaillen ihre Karriere und erfolgreich war. Aber es kommt leider
aus könnte es sofort losgehen. Ich warnte, dass Deutschland in Ihrem selten vor, dass Firmen von sich aus
habe Lust, endlich rüberzufliegen und Sport den Anschluss an die Weltspitze auf mich zukommen und eine Koope-
meine Wettkämpfe zu bestreiten. zu verlieren drohe. Zu Recht? ration möchten. Da muss man als
Aber natürlich fliegt die Angst mit, Forster: Ja. Wir hatten jahrelang kein Athlet schon selbst aktiv werden.
dass es mir geht wie Eric Frenzel. Nachwuchsteam, da wurde einiges SPIEGEL: Sie sind auf Unterstützung
SPIEGEL: Der mehrmalige Weltmeis- Skifahrerin Forster verschlafen. Die Bundesländer sollten angewiesen, Monoski sind teuer.
ter in der Nordischen Kombination bei der Para- sich darum kümmern, nur lohnt es Forster: Das Gerät selbst kostet
wurde nach seiner Ankunft positiv WM im Januar in sich für einen oder zwei Sportler 6000 Euro, dann die angepasste Sitz-
Lillehammer:
auf Corona getestet und verbrachte »Als wäre man nicht, Lehrgänge zu veranstalten. Seit schale noch mal locker 10 000 Euro.
dann elf Tage im Quarantänehotel. nichts wert« knapp drei Jahren haben wir im Ver- Die Herstellung ist sehr aufwendig,
Forster: Das wäre der Worst Case. jeder Monoski muss ja individuell an-
Und das Schlimmste ist, dass ich es gepasst werden.
nicht selbst in der Hand habe. Man SPIEGEL: Wäre es sinnvoll, die Olym-
kann seine Kontakte reduzieren und pischen und die Paralympischen Spie-
vorsichtig sein, aber eine hundertpro- le gleichzeitig auszutragen, um die
zentige Sicherheit gibt es nicht. Das paralympischen Sportler bekannter
ist eine Lotterie. zu machen?
SPIEGEL: China steht auch wegen sei- Forster: Das wäre keine gute Idee. Wir
ner problematischen Menschen- würden im Trubel untergehen. Ich
rechtssituation in der Kritik. Beschäf- fände es wichtiger, die Paralympics
tigt Sie das? besser zu bewerben. Als die Olympi-
Forster: Natürlich, wir hatten ein Tref- schen Spiele in Peking zu Ende gin-
Ralf Kuckuck / picture alliance

fen mit Vertretern einer Menschen- gen, hieß es: Das Feuer ist erloschen,
rechtsorganisation. Wir wissen, wie in vier Jahren geht es in Mailand wei-
die Lage vor Ort ist. Das ist heftig. ter. Warum sagt keiner: »Hey, in zwei
Aber wenn wir in China sind, dann Wochen sind hier die Paralympics, da
müssen wir uns auf unsere Wettkämp- gibt es tollen Sport zu sehen«?
fe fokussieren. Interview: Jonas Kraus n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 89


WISSEN

Aitor De Iturria / AFP


In einem Stausee gibt sich die mehr als 1000 Jahre alte Kirche von Sant Romà de Sau in Katalonien zu erkennen; seit der Flutung in den
­Sechzigerjahren ragt bei maximaler Füllung die Spitze zwei Meter aus dem Wasser. An vielen Orten der Iberischen Halbinsel tauchen gerade Geister­
dörfer und Ruinen wieder auf, weil es seit Oktober so wenig Regen gegeben hat wie selten und die Wasserspeicher sich dramatisch leeren.

Unsere unverzichtbaren
heiten wie Diabetes, Morbus Crohn oder andere chronische Ent­
zündungskrankheiten künftig behandeln und heilen zu können.«

Gefährten
Viele Bakterienstämme sind schon in Biobanken hinterlegt,
­jedoch ist das nur ein einseitiger Ausschnitt, so eine aktuelle Stu­
die. Demnach stammen mehr als 71 Prozent der verfügbaren
Proben von Einwohnern der Vereinigten Staaten, Kanadas und
ANALYSE  Der Schwund der mikrobiellen Artenvielfalt
Europas, obwohl diese nur etwa 14 Prozent der Weltbevölke­
bedroht die Gesundheit des Menschen. rung ausmachen.
Die Auswahl erfasst den verarmten Bestandteil des Mikro­
Billionen Bakterien trainieren unser Immunsystem, helfen bei bioms; bei Einwohnern von Industriestaaten ist offenbar die
der Verdauung, wehren gefährliche Keime ab. Doch wir machen Hälfte der Artenvielfalt bereits verloren. Antibiotika können zwar
unseren Besiedlern das Leben schwer. »Wir brauchen die ganze Leben retten. Aber sie töten nicht nur krank machende Erreger
Vielfalt an Mikroben. Aber viele von ihnen haben nie gelernt, ab, sondern auch die guten Bakterien. Viele Darmbakterien ver­
mit unserer modernen Lebensweise umzugehen«, sagt der Bio­ tragen keine industriell verarbeitete Nahrung. »Die Ernährung
loge Thomas Bosch von der Universität Kiel. Etliche Bakterien­ ist in den ­vergangenen 70 Jahren pflanzenärmer und fleischlasti­
arten gingen in den vergangenen Jahrzehnten verloren. ger geworden, aber sie wird vor allem mit Zucker versetzt«, sagt
Mit anderen Forschenden will Bosch den Artenschwund stop­ Bosch. »Die einen Mikroben können damit vielleicht umgehen,
pen. Dazu wollen sie Proben von indigenen Menschen sammeln aber wir lassen all die anderen verschwinden.« Indigene Men­
und sie in einem Bunker in der Schweiz verwahren. »Wir müs­ schen dagegen könnten noch über ein unverfälschtes Mikrobiom
sen den verschwindenden Reichtum an Mikroorganismen verfügen. Forschende sammeln bereits von Jägern und Samm­
schnellstmöglich sichern«, so Bosch. »In der mikrobiellen Diver­ lern in ­Amazonien Abstriche vom Stuhl. Die Proben sollen der­
sität steckt der Schlüssel, um zivilisatorisch bedingte Krank­ einst die Leiden von Wohlstandsbürgern kurieren. Jörg Blech

90 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Signale vom Sterben denen Gamma-Oszillationen im Gehirn kenswert – tritt das Gehirn mit einer letzten
­aktiv sind.« Aufführung ab? »Natürlich ist die Vorstel­
NEUROLOGIE Ärzte haben die Gehirnakti­ Der Patient war nach einem Sturz im lung da«, sagt Zemmar, »dass das Gehirn es
vität eines sterbenden Menschen untersu­ Vancouver General Hospital eingeliefert einem ermöglicht, an die schönsten Erin­
chen können. Kurz vor dem Tod und noch worden, Zemmar entfernte ein Hämatom nerungen im Leben noch einmal zurückzu­
etliche Sekunden danach blieb das Gehirn im Kopf chirurgisch. Am dritten Tag danach denken. Dass diese im Gehirn als Replay
aktiv und zeigte ein bestimmtes Muster an bekam der Patient epileptische Anfälle. Er ablaufen, bevor man Tschüss sagt.« BLE
Hirnströmen. Die Daten stammen von wurde an ein EEG angeschlossen und erlitt
einem 87 Jahre alten Mann. Während einer während der Untersuchung einen Herzstill­
Elektroenzephalografie (EEG) war er plötz­ stand. Das dabei entstandene Elektroenze­
lich verstorben, die Aufnahme lief weiter. phalogramm, schreibt Zemmar mit Kolle­
»Wir haben insgesamt 900 Sekunden auf­ gen in »Frontiers in Aging Neuroscience«,
gezeichnet«, sagt der deutsche Neurochirurg spreche dafür, dass »das menschliche Ge­
Ajmal Zemmar, 38. In einem Zoom-Ge­ hirn dazu in der Lage sein könnte, während
spräch mit dem SPIEGEL berichtet er: »Wir der Nahtodphase koordinierte Aktivitäten
sahen in den 15 Sekunden vor und in zu erzeugen«. Der Neurochirurg, der inzwi­

romaset / Getty Images


15 Sekunden nach dem Herzstillstand eine schen an der University of Louisville in
Erhöhung der Gamma-Oszillation. Wenn Kentucky arbeitet, sagt, man solle den Be­
wir höhere kognitive Funktionen im Gehirn fund mit Vorsicht interpretieren. Es gebe
ausüben, etwa Konzentrieren, Träumen, die Daten nur eines Patienten, der Schwel­
Meditieren, wenn wir uns an etwas erin­ lungen am Gehirn und epileptische Anfälle
nern, dann sind das alles Momente, in aufwies. Dennoch ist der Bericht bemer­ Untersuchung per Elektroenzephalografie

»Störungen, die bestehen


der Hälfte der Patientinnen und vermehrt Symptome auftreten,
Patienten die Symptome ver­ die das Ausmaß einer voll­

bleiben«
schlechtert. Außerdem treffen wertigen psychischen Störung
die behandelnden Kolleginnen haben. Das heißt, dass die
und Kollegen jetzt auch ver­ ­Kinder in ihrem Leben so stark
schiedene psychische Störungen eingeschränkt sind, dass man
PANDEMIEFOLGEN  Die Psychologin Maria Plötner, 35,
in ihren Praxen häufiger an. Ins­ sie behandeln muss. Zum
von der Universität Leipzig über die Zunahme besondere gilt das für Depres­ ­Beispiel, wenn sie wegen einer
­seelischer Probleme bei Kindern und Jugendlichen sionen und Angststörungen, die ­Depressivität nicht mehr
stark zugenommen haben. aus dem Haus, nicht mehr
SPIEGEL: Frau Plöt­ nen ist eine Störung im Kindes- Das sind sogenannte interna­ zur ­Schule gehen.
ner, in den vergan­ und Jugendalter vorausgegan­ lisierende Störungen. SPIEGEL: Wie muss sich das
genen Wochen und gen. Psychische Probleme kön­ SPIEGEL: Was muss man sich ­System ändern, um Kinder
Monaten wurde nen sich mit zunehmendem ­darunter vorstellen? ­besser und schneller behandeln
viel über die psy­ ­Alter verstärken und verfestigen. Plötner: Negative Gefühle wer­ zu können?
chischen Probleme Es besteht also ein hohes Risiko den nach innen gekehrt, Kinder Plötner: Schon vor der Pande­
der Kinder und dafür, dass nicht nur im Hier ziehen sich eher zurück, wer­ mie war das System stark aus­
Jugend­lichen geredet. Jetzt ha­ und Jetzt solche Störungen ent­ den ängstlich, traurig, depressiv gelastet, konnte längst nicht alle
ben Sie Ergebnisse einer Be­ stehen, sondern dass sie in oder entwickeln körperliche Be­ Bedürftigen versorgen. Das hat
fragung vom Sommer 2021 vor­ der Folge im Leben bestehen schwerden wie Bauch- oder sich noch einmal verschärft. Zu
gelegt, die zeigen, wie es an der bleiben. Wichtig wäre es, Kopfschmerzen. Wir wissen be­ psychischen Folgeschäden kom­
Basis, in den Praxen, aussah. schnell zu helfen. reits aus anderen Studien, dass men gesamtgesellschaftlich ge­
Was erfuhren Sie? SPIEGEL: Was hat sich in den Pra­ internalisierende Symptome bei sehen natürlich auch immer
Plötner: Wir haben in einer On­ xen noch als Problem gezeigt? Kindern seit Pandemiebeginn ökonomische. Man sollte des­
lineumfrage unter 324 ambulan­ Plötner: Im Untersuchungszeit­ gestiegen sind. Neu ist: Wir se­ wegen jetzt kurzfristig den
ten Kinder- und Jugendthera­ raum haben sich bei mehr als hen, dass in den Praxen nun ­gestiegenen Bedarf ausgleichen.
peuten Antworten dazu erhal­ Die derzeit zugelassenen Pra­
ten, wie sich deren Arbeit im xen, die mit den Krankenversi­
Vergleich zur Zeit vor der Pan­ cherungen abrechnen dürfen,
demie verändert hat. Aus den können den aktuellen Bedarf
Ergebnissen wird deutlich, dass nicht stemmen. Es müssen mehr
sich der Bedarf an Hilfe generell Therapieplätze geschaffen wer­
erhöht hat. Auf einen Therapie­ den. Eine Möglichkeit wäre es,
platz wartetet man im Schnitt dass Privatpraxen in einem zeit­
fast doppelt so lange wie vorher, lich festgelegten Rahmen Be­
nämlich etwa ein halbes Jahr. handlungen übernehmen und
Überlegt man sich, was das ge­ von den Krankenkassen zurück­
messen am Lebensalter eines erstattet bekommen. Eine wei­
Catherine Falls / Getty Images

Kindes bedeutet, ist das ein un­ tere Idee wäre, das psycho­
glaublich langer Zeitraum. soziale Angebot an den Schulen
SPIEGEL: Was ist die Folge, auszubauen. Und noch ein
wenn die Hilfe so spät kommt? Punkt: Man muss in Bezug auf
Plötner: Der Mehrzahl psychi­ die Pandemie mehr Verläss­
scher Störungen bei Erwachse­ lichkeit schaffen. KK

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 91


WISSEN

Der Plastik-Planet

UMWELT Die Menschheit vermüllt die Welt mit Kunststoff.


Schon heute gibt es auf der Erde mehr Kunststoff als Tier. Eine Uno-Konferenz
soll jetzt ein internationales Abkommen auf den Weg bringen.
Es könnte die vielleicht letzte Chance sein, die Plastikflut einzudämmen.

Mandy Barker

92 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


S
WISSEN

eit zwei Jahren gibt Mengen Plastik in die Böden ein – mit bil und nicht biologisch abbaubar
es den Plastikkrebs den Klärschlämmen, in denen sich Wohlstand sind, existiert der größte Teil dieses
in der Tiefsee. Er ist Textilfasern festgesetzt haben, mit vor Umwelt Plastiks noch heute, in Automobilen
fahlweiß, wird bis zu Dünger oder Saatgut, die mit Kunst­ oder Kinderzimmern, auf Müllhalden
fünf Zentimeter lang stoff ­beschichtet sind, oder in Form Weltweite Produktion oder Stränden, im Inneren von Tieren
und lebt in der tota­ von Mulchfolien, Vliesen oder Planen von Plastik, in oder Pflanzen oder abgelagert im
len Finsternis des für die Silageballen, die sich in Fetzen Millionen Tonnen ­Sediment. Mit anderen Worten: Es
pazifischen Maria­ im Ackerboden einlagern. gibt schon heute mehr Plastik als Tier
nengrabens, knapp 7000 Meter unter Weitere 20 Millionen Tonnen Plas­ 600 auf der Erde.
der Meeresoberfläche, so weit von tik landen jährlich in Gewässern – das Und all das ist erst der Anfang.
der Welt des Homo sapiens entfernt, entspricht etwa zwei Lkw-Ladungen Selbst wenn weltweit kein neuer
wie dies auf Erden eben möglich ist. pro Minute. Grob gesagt schüttet der Kunststoff mehr entstünde, würde das
Dort ernährt er sich von den Resten Mensch ungefähr die Menge an Koh­ Müllproblem weiter wachsen, schon
toter Organismen, die aus der kilo­ lenstoff, die er dem Ozean durch weil rund 2600 Millionen Tonnen
meterdicken Wassersäule auf den Fischfang entnimmt, in Form von Kunststoff derzeit noch in Gebrauch
Ozeanboden niederrieseln. Der Kunststoff wieder dorthin zurück. sind. Irgendwann und irgendwie wird
Name wurde ihm, wissenschaftlich Besonders hoch ist die Belastung ein großer Teil davon den Weg in die
ganz offiziell, im März 2020 verlie­ im Mittelmeer, im Gelben und im Ost­ 500
Umwelt finden. Doch niemand hat die
hen: Eurythenes plasticus. chinesischen Meer. Extrem hohe Wer­ Absicht, die Plastik­fabriken zu schlie­
Entdeckt, beschrieben und getauft te wurden aber auch im Meereis der 40 Prozent
ßen. Im Gegenteil: Die weltweite
hat diese Spezies aus der Ordnung Arktis gemessen, wo sich die Kunst­ Zunahme Kunststoffproduktion nimmt rasant
der Flohkrebse die Tiefseeökologin stoffpartikel anreichern. Wie stark die bis 2030 zu. Den Prognosen zufolge wird
Johanna Weston. Für den Arten­ Polargebiete betroffen sind, zeigt eine sie von derzeit über 400 Millionen
namen »plasticus« hat sie sich ent­ Langzeitstudie vor Spitzbergen. For­ Tonnen jährlich bis 2030 auf rund
schieden, weil sie unter dem Mikro­ schende des Alfred-Wegener-Instituts 550 Millionen Tonnen steigen.
skop im Darm eines der Tiere einen (AWI) haben dort untersucht, wie sich Vor allem die petrochemische In­
auffälligen dunklen Fremdkörper ge­ das Ökosystem am Meeresgrund im dustrie der USA setzt auf Wachstum.
400
funden hat. Sie ahnte, um was es sich Zuge des Klimawandels verändert. Die Frackingtechnologie liefert billi­
da handeln könnte. Und die Infrarot­ »Man kann förmlich zusehen, wie der ges Erdgas, zugleich droht angesichts
spektroskopie bestätigte ihren Ver­ Müll dort unten zunimmt«, berichtet 2016 der regenerativen Energien ein Ein­
wurden
dacht: Das faserige, rund einen hal­ die AWI-Tiefseeökologin Melanie 396 Mio. t bruch der Nachfrage nach fossilen
ben Millimeter lange Objekt besteht Bergmann. Plastik Brennstoffen. Die Steigerung der
aus Polyethylenterephthalat, besser In fünf gewaltigen Wirbeln zirku­ produziert. Kunststoffproduktion soll den Aus­
bekannt unter dem Kürzel PET. liert der Müll an der Oberfläche der weg aus dem Dilemma weisen. Die
Das heißt: Dieser Flohkrebs der Ozeane. Der beklemmenden Fotos petrochemische Industrie investiert
Gattung Eurythenes hat, noch ehe ein wegen wurden anfangs besonders die derzeit Hunderte Milliarden Dollar
Mensch von seiner Existenz wusste, pazifischen Strudel bekannt: Sie spü­ 300 in neue Anlagen, die die Welt mit
begonnen, Plastik zu fressen. Was als len selbst auf die Palmenstrände un­ mehr Plastik versorgen sollen.
Trinkflasche, Folie oder Trainings­ bewohnter Inseln Berge von Kanis­ Polyethylen, Polypropylen, Poly­
hose in die Welt kam, endet, zerfallen tern, Netzen, Planen, Tüten, Bade­ acrylnitril oder Polyvinylchlorid – vor
in mikroskopisch kleine Fasern, im latschen. Aber auch im Nordpazifik, 100 Jahren gab es diese Moleküle al­
Magen einer Tiefseekreatur. im Norden und im Süden des Atlan­ lenfalls in einigen chemischen Labo­
Plastik ist überall. Egal ob Koral­ tiks und im Indischen Ozean hat sich ren. Heute sind sie allgegenwärtig.
lenriff, Wüste, Regenwald, Gletscher viel Müll angesammelt – insgesamt Dereinst werden die Geologen an de­
oder Tiefseegraben: Bis in die entle­ rund 300 000 Tonnen. ren Auftreten im Sedimentgestein den
gensten Winkel der Erde sind Kunst­ Doch das ist nur ein winziger Teil 200 Anbruch des Anthropozäns erkennen
stoffe vorgedrungen. In Gestalt win­ des Plastiks, das die Meere insgesamt können, des Erdzeitalters, in dem der
ziger Partikel finden sie den Weg ins aufnehmen. Der größte Teil befindet Mensch begonnen hat, die Stoffkreis­
Gewebe von Würmern, Insekten, sich unter der Wasseroberfläche oder läufe des Planeten zu dominieren.
Fischen, Vögeln, Säugetieren. am Grund. Einige Kunststoffe wie Doch wie weit darf die Konzen­
Über die Plastikmengen, die in der PET oder PVC sind schwerer als Was­ tration dieser Stoffe in der Umwelt
Umwelt zirkulieren, gibt es nur grobe ser, sie sinken schnell. Leichtere Plas­ noch steigen? Wann ist der Punkt er­
Schätzungen. Die Experten gehen tiksorten wie Polyethylen oder Poly­ reicht, an dem die Natur die Kunst­
davon aus, dass etwa 20 Millionen propylen zerfallen in kleine Teilchen, stofffracht nicht mehr verkraften
Tonnen unterschiedlichste Kunst­ werden von Algen, kleinen Muscheln kann? Das sind Fragen, die zu beant­
100
stoffe pro Jahr ins Erdreich gelan­ und Krebsen besiedelt und sinken worten sich die Erdsystemwissen­
gen – als Stäube aus der Kunststoff­ dann langsam ab. Niemand weiß, wie schaft zum Ziel gesetzt hat. Johan
industrie, als Abrieb von Autoreifen, viel Plastik in der Wassersäule Rockström, einer der Leiter des Pots­
als Zigarettenkippen oder achtlos schwebt. Vermutlich sind es zig Mil­ dam-Instituts für Klimafolgenfor­
weggeworfene Kaffeebecher. Aber lionen Tonnen. schung, versucht, Schwellenwerte zu
auch die Landwirte tragen gewaltige Mit der Kunststoffflut hat der bestimmen, die der Mensch nicht
Mensch den Planeten Erde tiefgrei­ überschreiten darf, wenn er nicht das
Im Juni 2019 wurden diese Objekte fend verändert. Zwischen 1950 und globale Gleichgewicht der Natur ge­
5000 Kilometer von der nächsten 2015 wurden weltweit etwa 8300 Mil­ fährden will. Neun solche »plane­tare
größeren Landmasse entfernt am lionen Tonnen Plastik hergestellt – 0 Grenzen« glaubt er, identifiziert zu
Strand der unbewohnten pazifischen das ist fast das Vierfache der Biomas­ 1950 2000 2030 haben. Bei vier davon – dem Arten­
Henderson-Insel eingesammelt –
­zusammen mit weiteren sechs Ton­nen se aller heute lebenden Tiere. Und S Quelle: WWF,
schwund, der globalen Erwärmung,
weil Kunststoffmoleküle zumeist sta­ der Landschaftszerstörung und der


Plastikmüll. Prognosen ab 2017

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 93


WISSEN

Überdüngung der Meere – hätten die deckel bis zum Fahrradhelm, vom übertroffen. Über Jahrtausende hin-
menschlichen Einflüsse ein kritisches Plastik Fleecepullover bis zur Matratze, vom weg hatte sich die Menschheit bei der
Ausmaß erreicht. ist überall Surfbrett bis zur Regenrinne: Aller- Herstellung von Wohnung, Kleidung
Einer der neun Gefahrenbereiche orten ist der Mensch von Plastik um- oder Haushaltsgerät der Natur be-
sei die Belastung mit neuartigen Sub­ Bedarf in Europa geben. Egal ob glänzend, transparent, dient. Binnen einer einzigen Genera-
nach Verwendungs-
stanzen, sagt Rockström. Die Natur zweck, in Prozent flauschig, klebrig, griffig oder matt, tion hat sie auf Kunststoff als domi-
werde nicht beliebige Mengen natur- für alles gibt es eine Kunststoffsorte. nanten Werkstoff umgestellt.
fremder Stoffe bewältigen können. Verpackung* Plastik imitiert Tierpelze, Rasen oder Es dauerte ein wenig, bis die Men-
Das Problem nur: Anders als bei 41 Blumensträuße. Den PVC-Boden gibt schen lernten, dass mit der neuen
den meisten anderen Faktoren wie Bau es wahlweise in der Optik von Holz, Zeit auch neue Regeln galten. An-
den Treibhausgasen sind die For- 20 Stein oder Fliesen, jeweils für einen fangs wuschen sie die Plastikteller
schenden hier bisher nicht imstande, Automobil Bruchteil des Naturstoffpreises. Oder und -gabeln ab, um sie wieder zu be-
die ­Bedrohung zu quantifizieren. 9
Nylon: Ein und dasselbe Material nutzen. Erst die Fast-Food-Industrie
Beim Plastik weiß die Wissenschaft lässt sich, je nach Rezeptur, in Da- brachte ihnen bei, gebrauchtes Ge-
Elektrik und Elektronik
noch nicht, wann es zu viel für den menstrumpfhose, Angelschnur, Fall- schirr und Besteck als Müll zu be-
Planeten Erde ist. 6 schirm oder Klettverschluss verwan- trachten. Weil Plastik überall und
Also weiterwirtschaften wie bis- Haushalt, Sport und deln. Auch die Borsten der meisten billig zu haben war, verloren die Din-
her? Der Widerstand gegen die Lais­ Freizeit Zahnbürsten sind daraus. ge ihren Wert.
ser-faire-Politik wächst. Schon 2019 4 Die Geschichte begann damit, dass Heute werden die Menschen von
rief die Uno in Sachen Plastikmüll die Landwirtschaft der belgischamerikanische Chemiker klein auf in die Plastikgesellschaft ein-
»planetare Krise« aus. Ab Montag 3 Leo Hendrik Baekeland im Jahr 1907 gemeindet. Als Babys werden sie in
versammeln sich nun die Vertreter andere aus den Abfallprodukten der Kohle- Plastikwindeln gewickelt; wenn sie
von mehr als 100 Staaten in Nairobi 17 verarbeitung eine neuartige, gut mo- morgens die Augen öffnen, baumelt
zur Uno-Umweltkonferenz Unea 5-2. dellierbare Substanz herstellte. Er vor ihnen ein Plastikmobile; sie nu-
Ihr Ziel: ein internationales Plastik- *einschließlich erkannte schnell die ungeheuren ckeln aus Plastikflaschen; und später
abkommen auf den Weg zu bringen. Industrieverpackungen Möglichkeiten. Der Mensch, so ver- erschaffen sie Plastikwelten mit Lego
S Quellen: Plastics Europe,
Seit Jahren schon wird über ein Conversio, bezogen auf 2020, kündete die General Bakelite Cor­ oder Playmobil.
solches Vertragswerk gesprochen. ohne Recyclingplastik poration, sei nicht länger auf Werk- Lieber als auf die Rolle der Kunst-
Doch diesmal sieht es so aus, als stoffe aus der Welt der Tiere, Mine- stoffe im Kinderzimmer verweist die
könnten auf die Diskussionen Taten ralien und Pflanzen angewiesen. Industrie allerdings auf deren Bedeu-
folgen. Peru und Ruanda werden eine Mit dem neuen Kunststoff namens tung für die Medizin. Denn nirgends
Resolution einbringen, der zufolge Bakelit öffne sich das Tor in »eine sonst ist die Wegwerfphilosophie
ein Vertrag zur internationalen Kon- vierte Welt, deren Grenzen im Un- leichter zu rechtfertigen als dort, wo
trolle der Plastik- und Müllproduk- endlichen liegen«. es Infektionen zu verhüten gilt.
tion erarbeitet werden soll. Etwa 60 Den Massenmarkt jedoch erober- Dass die Medizin eine gewaltige
Uno-Staaten, darunter die 27 Mitglie- ten die Kunststoffe erst nach dem Mülllawine produziert, hat gerade die
der der EU, unterstützen sie. Und Zweiten Weltkrieg. Die Militärs hatten Pandemie vor Augen geführt. Schutz-
selbst China fordert »ehrgeizige Zie- das Potenzial der synthetischen Mate- masken sind zu einem der häufigsten
le und ebenso ehrgeizige Mittel, die- rialien erkannt. Nach Kriegs­ende such- Wegwerfartikel im Straßenbild ge-
se durchzusetzen«. Schon in der te die Chemieindustrie nach neuen worden, allerorten baumeln sie in den
Nachfolgekonferenz im Jahr 2025 Absatzmärkten, zum Beispiel für das Büschen. Und das ist nur der sicht-
könnten die Vereinbarungen unter- nun in großen Mengen herstellbare bare Covid-Müll, der größere Teil –
schriftsreif sein. PVC. Hinzu kamen neue Polymerisa- fast 90 Prozent – fällt in den Kran-
»Es wäre das erste wirklich neue tionsverfahren, die die Herstellung kenhäusern an. Zu diesem Schluss
internationale Umweltabkommen langkettiger Kunststoffmoleküle leich- kommt eine Studie, die den pande-
nach Jahrzehnten der Vertragsmüdig- Neugeborene ter, schneller und billiger machten. miebedingten Müllberg auf bis zu
keit«, sagt Maro Luisa Schulte vom Schildkröte an der Es folgte eine der spektakulärsten 15 Millionen Tonnen beziffert.
Berliner Thinktank adelphi. »Ein gut türkischen Mittel- Erfolgsstorys der Wirtschaftsge- Plastik ist zum Inbegriff der Mo-
meerküste: Für
ausgestattetes Plastikabkommen hat Tiere ist Plastik oft schichte. Bis 1983 dauerte es, dann derne geworden. Alle Lebensbereiche
das Zeug, ähnlich bedeutsam zu wer- lebensbedrohlich hatte der Plastik- den Stahlverbrauch des Menschen hat es erobert. »Es in-
den wie die Verträge zum Klima oder filtriert alles. Es ist Metastase«, sagte
zur Biodiversität.« Norman Mailer schon 1983 dem
Ein Indiz für die Tragweite des ge- »Harvard Magazine«. Der US-
planten Vertragswerks ist die Vehe- Schriftsteller sprach damals von einer
menz, mit der die petrochemische Krankheit, von der die Gesellschaft
Industrie dagegen vorgeht. Ziel der befallen sei. Heute scheint es, als sei
Lobbyarbeit ist es, die Debatte zu ver- der ganze Planet erkrankt.
schieben. Zum einen wollen die In- Augenscheinlich, bildträchtig und
O. E. Kizil / Anadolu Agency / Abaca Press / ddp

dustrievertreter die Regulierung der damit öffentlichkeitswirksam ist der


Plastikproduktion verhindern und Schaden durch den sichtbaren Müll,
stattdessen die Aufmerksamkeit aus- das sogenannte Makroplastik: die
schließlich auf die Verschmutzung verwehten Plastiktüten, die gestran-
richten. Zum anderen betonen sie den deten Schiffstaue oder die Autoreifen
enormen Nutzen der Kunststoffe, die im Straßengraben. Für die Tourismus-
in der modernen Industriegesellschaft industrie reicher Länder ist solcher
unverzichtbar geworden seien. Müll ein Ärgernis, in Entwicklungs-
In der Tat ist ein Leben ohne Plas- ländern verstopft er Abwasserkanäle
tik kaum mehr vorstellbar. Vom Klo- und Abflussrohre und kann zu Über-

94 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


WISSEN

schwemmungen und zur Verbreitung von


Seuchen führen. Globale Plage
Auch für viele Tiere ist Makroplastik
schädlich, oft lebensbedrohlich: Meeresschild- Plastik, das zwischen 1950
kröten machen Jagd auf Plastiktüten, weil sie und 2015 produziert wurde,

8,3
und welche Auswirkungen
diese mit Quallen verwechseln. An den Küs- es in der Umwelt hat*
ten Neuenglands stranden verendete Wale, Milliarden Tonnen
mit tief ins Fleisch eingeschnittenen Hummer- Plastik wurden von
leinen. Und auf den amerikanischen Midway- Makroplastik 1950 bis 2015 weltweit produziert.
Inseln mitten im Pazifik füttern die Laysan- 5 Millimeter
Albatrosse ihre Küken mit Flaschendeckeln, Gelegentlich gelangt
bereits während des
Plastikschläuchen und Kugelschreiberkappen. Mikroplastik Herstellungsprozesses
Weniger sichtbar, doch deshalb nicht un- und des Transports Plastik
bedingt weniger gravierend ist die Schadwir- 0,1 Mikrometer in die Umwelt.
kung des Mikroplastiks, das sich in noch weit- Nanoplastik 100 x vergrößert
aus größeren Mengen im Boden anreichert entsorgt 5,8 Mrd. t
oder im Ozeanwasser schwebt. Verstopft Im Laufe der Zeit zerfällt
Plastik die Stoffwechselorgane von Schne- Plastik, das der
Witterung ausgesetzt
cken, Krebsen, Muscheln oder Würmern? ist, in immer kleinere
Lässt es sie verhungern, weil es ihnen ein fal- Partikel. Je feiner das
sches Sättigungsgefühl vermittelt? Kommt es Plastik zersetzt ist,
zur Vergiftung durch dem Plastik beigemisch- desto schwerer
lässt es sich in Verwendung nicht weiterverwertet
te Zusatzstoffe? Allzu oft lautet die Antwort wieder aus der 2,5 Mrd. t
auf solche Fragen: Die Wissenschaft weiß 4,6 Mrd. t
Umwelt
es nicht. entfernen.
Bis zu 50 000 Plastikpartikel wurden in
einem Kilogramm Erde gefunden. Was sie
dort bewirken, ist erst in Ansätzen bekannt. recycelt
Kunststofffasern können die Qualität von 500 Mio. t
­Böden sogar verbessern. Sie reduzieren die
Bodendichte, erleichtern die Belüftung und

4,9
können so das Wurzelwachstum fördern. An-
Durch Abrieb, zum Beispiel
dererseits schädigt Mikroplastik Tiere. bei Reifen oder Sneakern, Mrd. t
100 100
Es scheint den Fortpflanzungserfolg von gerät konstant Mikroplastik Mio. t Mio. t wurden bis 2015
Schnecken und Fadenwürmern zu verringern, in die Umwelt. 300 entsorgt. Ein großer Teil
es schwächt ihr Immunsystem und reduziert Mio. t davon geriet in die Umwelt.
Enzymaktivitäten. Es lässt Erdwürmer oder Plastik ist Teil aller
in Verwendung verbrannt Ökosysteme geworden.
Springschwänze langsamer wachsen und 2,6 Mrd. t 800 Mio. t
dämpft ihre Vitalität. Allerdings stammen vie-
le dieser Befunde aus Laborversuchen. Unklar
ist, wie gut sie aufs Freiland übertragbar sind.
Mit der Wirkung des Plastiks in den Mee-
ren befasst sich die AWI-Forscherin Berg-
mann. In ihrer Datenbank Litterbase haben
sie und ihre Kolleginnen und Kollegen den
aktuellen Wissensstand zusammengetragen.
2927 Studien haben sie bisher ausgewertet.
Sie kommen kaum mehr nach, so rasant Umwelt
wächst die Zahl neuer Veröffentlichungen.
Die Aufnahme von Mikroplastik, das gilt
inzwischen als erwiesen, ist im Tierreich weit- Mensch
verbreitet. Filtrierer von der Auster bis zum Atmosphäre
Walhai filtern es aus dem Meereswasser, Ko-
rallen verleiben es sich aktiv ein. Aber auch Einatmen
Meer- und
in den Mägen verhungerter Garnelen fanden Gletscher-
Forscher Knäuel aus Kunststofffasern. Vermüllung eis
Ein weiterer von Ökologen gefürchteter Plastik gelangt in
Effekt ist die Verschleppung invasiver Arten. die Nahrungskette.
Von mehr als 1000 marinen Spezies ist be-
kannt, dass sie auf Plastikteilen siedeln, die Gewässer
ihnen als Floß zur Reise in neue Lebensräume
dienen können. Der Tsunami des Jahres 2011 Tiere verenden
zum Beispiel spülte 289 in Japan heimische Einsickern Anreicherung
Arten an die Küsten von Nordamerika und in den Boden und im Sediment
Hawaii. Die meisten von ihnen kamen an ins Grundwasser
Bord von Plastik. * Auswahl Aufnahme durch
Neben den Kunststoffen selbst gelangen S Quellen: WWF, Geyer et al., Science Advances (2017) Organismen
‰

große Mengen der ihnen beigemischten Weich-

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 95


WISSEN

für die Kreislaufwirtschaft« beschworen


wird. Die Wirklichkeit allerdings sieht bis­
her anders aus.
Zwar funktioniert das Recycling der PET-
Flaschen recht gut. Doch beruht dies auf
einem aufwendigen Pfandsystem, das sich
kaum auf andere Produkte übertragen lässt.
Anderer Plastikmüll landet meist vermischt
im Recycling und muss dort erst getrennt
­werden. Zuvor wird ein großer Teil des Mülls
als nicht rezyklierbar aussortiert, sogenannte
Multilayer-Verpackungen zum Beispiel.
­»Käseverpackungen sind oft richtige High-
tech-Produkte«, sagt Matthias Franke vom
Fraunhofer-Institut Umsicht. »Da sind ein
halbes Dutzend hauchdünne Folien über­
einandergeklebt.«
Infrarotscanner erlauben es, den übrigen

Noemi Cassanelli / AFP


Müll nach Kunststoffsorten aufzuteilen.
Aber die Verunreinigungen bleiben groß,
80 Prozent gilt meist schon als sortenrein.
Farben sind ohnehin kaum voneinander zu
Abwasserkanal in Neu-Delhi: Müll verstopft Abflüsse, führt zu Überflutungen und Seuchen trennen. Hinzu kommen die Zusatzstoffe,
die sich nicht entfernen lassen. Ein weiteres
macher, Farbstoffe, Flamm- oder Korrosions- »Wir müssen Kunststoffe als Wertstoffe be- Problem tritt beim anschließenden Zer-
schutzmittel in die Umwelt. Sie könnten auf trachten, die sich wiederverwenden lassen. schreddern auf: Viele der langen Polymer-
einige Tiere toxisch wirken, doch das ist Anders geht es nicht«, sagt Katharina Land- ketten werden dabei zerrissen. Das mindert
schwierig nachzuweisen. Im Fall eines rätsel- fester, Direktorin am Mainzer Max-Planck- die Geschmeidigkeit.
haften Lachssterbens an der Nordwestküste Institut für Polymerforschung. Am Ende entsteht ein Recyclingprodukt,
Amerikas ist es gelungen: Vor gut einem Jahr Das Ziel ist eine Kreislaufwirtschaft. Doch das für die meisten Zwecke zu minderwertig
identifizierte ein amerikanisches Forscherteam sehr weit fortgeschritten ist die Welt auf dem ist. Für die Verpackung von Lebensmitteln ist
das Abbauprodukt eines in Reifengummi ver- Weg dorthin noch nicht. Zum einen glauben es ungeeignet, eine Nutzung in der Medizin
wendeten Antioxidans als Todesursache. selbst Optimisten nicht, dass sich das System kommt schon gar nicht infrage. Stattdessen
Sogar ein Einfluss der Plastikflut auf die vollständig wird schließen lassen. Selbst wenn werden Parkbänke, Blumenkübel oder Bau-
globalen Stoffkreisläufe wird in der Forscher- es gelänge, allen Müll einzusammeln und zu zaunfüße daraus gemacht. Mit Kreislaufwirt-
welt diskutiert. Denkbar sei, dass der Be- recyceln, bliebe noch der Abrieb von Reifen schaft hat das wenig zu tun.
wuchs von Kunststoffteilen im Meer den und Turnschuhen, der bröckelnde Lack oder Mehr Effizienz erhoffen sich die Experten
Sauerstoffverbrauch ankurbelt und so das die Stäube der kunststoffverarbeitenden In- vom sogenannten chemischen Recycling. Da-
Wachstum der gefürchteten Todeszonen vor dustrie, die dafür sorgen, dass große Mengen bei werden die langen Polymerketten in die
den Küsten befördert. Möglich sei auch, dass Mikroplastik vom Wind rund um den Globus einzelnen Glieder aufgespalten und anschlie-
die Zunahme von Schwebeteilchen die Koh- getragen werden. ßend wieder zu neuen Polymermolekülen
lenstoffpumpe des Planeten schwächt und Hier könnten biologisch abbaubare Kunst- synthetisiert. Fraunhofer-Forscher Franke hat
damit die Fähigkeit der Meere, Kohlendioxid stoffe Abhilfe schaffen. Doch auch da gibt es ein solches Verfahren am Beispiel von Atem-
aus der Atmosphäre aufzunehmen. Und der Probleme: Verbreitet sind derzeit vor allem schutzmasken erprobt. »Es funktioniert tech-
hohe Partikeleintrag ins arktische Meereis Kunststoffe aus Polymilchsäure. Unter güns- nisch zuverlässig«, sagt er.
könne dessen Reflexionsvermögen verrin- tigen Bedingungen sind sie kompostierbar, Noch allerdings steckt das chemische Re-
gern, was den Abschmelzprozess des Eises im Meer jedoch sind sie ebenso beständig cycling in den Kinderschuhen. Konkurrenz-
durch die globale Erwärmung noch beschleu- wie konventionelles Plastik. Eine Alternative fähig im Kunststoffmarkt ist es bisher nicht.
nigen würde. könnten die Polyphosphorsäureester sein, Und ob die Ökobilanz einem solch aufwen-
All das sind bisher nur Spekulationen. mit denen Frederik Wurm an der niederlän- digen und energieintensiven Verfahren über-
Doch ist es beängstigend genug, dass solche dischen Universität Twente experimentiert. haupt einen Nutzen bescheinigt, ist auch nicht
Effekte von der Wissenschaft nicht länger für »Durch geeignete Sollbruchstellen in den geklärt.
ausgeschlossen gehalten werden. Molekülen können wir genau einstellen, ob Gefordert sind jetzt die Polymerchemiker,
Welchen Ausweg aus der planetaren Plas- sich ein solcher Stoff binnen Tagen, Wochen die bei der Synthese neuer Moleküle stets
tikkrise kann es geben? Wie lässt sich ver- oder Jahren zersetzt«, sagt er. Solche Kunst- deren Zerlegung werden mitdenken müssen.
hindern, dass die Welt im Kunststoff unter- stoffe sind in der Herstellung allerdings teu- »Wir brauchen Lösungen, und zwar nicht in
geht? Einen Ausstieg aus der Plastiknutzung er. Noch ist ungewiss, ob sich ein Markt für 20, sondern in 5 Jahren«, sagt Max-Planck-
wird es nicht geben. In vielen Bereichen, etwa sie findet. Forscherin Landfester. Gefordert ist aber auch
in der Medizin, sind Kunststoffe unverzicht- Für den Großteil des Plastiks ist die Ver- die Politik, die die Industrie zum Beispiel
bar. In anderen fällt die Ökobilanz der ent- rottung ohnehin keine Option, schon weil durch strenge Quoten zwingen kann, die Qua-
sprechenden Naturprodukte nicht besser aus. das eine Vernichtung von Ressourcen bedeu- lität des Recyclings zu verbessern.
Zwar ließe sich viel Plastik einsparen, Ver- ten würde. Ziel muss vielmehr eine Kreislauf- Von großer Wichtigkeit sind jedoch auch
packungen zum Beispiel machen in Deutsch- wirtschaft sein, in der die Abfälle des einen internationale Vereinbarungen, und dafür
land etwa die Hälfte des Plastikmülls aus, und die Rohstoffe des anderen sind. »Wir sollten werden in der nächsten Woche in Nairobi die
niemand bezweifelt, dass weitaus mehr ver- uns dabei die Natur zum Vorbild nehmen«, Weichen gestellt. Die Plastikkrise ist zu einem
packt wird als nötig. Die Frage der Entsorgung sagt Landfester. Genau das ist die Vision, die Problem planetaren Ausmaßes geworden. Es
aber ist durch eine Reduktion des Mülls noch auch in dem vor zwei Jahren von der EU- zu lösen erfordert planetare Anstrengungen.
nicht gelöst. Dafür gibt es nur einen Weg: Kom­mission beschlossenen »Aktionsplan Johann Grolle  n

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WISSEN

Anfangsstadium und ist ziemlich im Fluss.« Zusatzinformationen zu betrachteten Objek-


Die Leistungsdaten klingen eindrucksvoll: 6G ten ein, weil sie die Blickrichtung mithilfe der
soll rund 100-mal so schnell sein wie 5G, mit Funkwellen im Raum verorten kann. Der
Downloadraten von bis zu einem Terabit pro Betrachter macht Fingergesten, die das Ge-

Ein sechster
Sekunde – schneller als herkömmliche Glas- rät als Befehle erkennt. In Zukunft könnten
faserkabel. Die Verzögerung soll ein Zehntel 6G-Geräte ein Kariesloch im Zahn ver-
der bisherigen Zeit betragen, was wichtig messen und die Daten an einen 3-D-­

Sinn
wäre für selbstfahrende Autos, Drohnentaxis, Keramik­drucker senden, der dann die
Computerspiele oder Virtual-Reality-An­ passende Füllung ausspuckt. Auch ein
wendungen. Schlaflabor habe sich bereits gemel-
»Wenn 6G nichts weiter wird als 5G+, det, so Stańczak, weil die Forschen-
dann haben wir einen großen Fehler ge- den dort den Atem und das Herum-
TECHNIK  Forscher entwickeln das macht«, warnt bereits ein Kommentar im wälzen der schlummernden Patien-
Mobilfunknetz von übermorgen: Fachmagazin »Spectrum IEEE«. Auch Inge- ten messen wollen, ohne diese
nieur Stańczak verspricht, dass es nicht nur aufwendig zu verkabeln. Eine
6G soll auch Personen und Räume darum gehe, ein noch schnelleres Netz zu weitere Anwendung ist das Er-
vermessen – ideal für Virtual errichten. Vielmehr solle 6G ein nie da ge- stellen »volumetrischer Videos«,
Reality und selbstfahrende Autos. wesenes Verschmelzen von realer und virtu- die beim Abspielen dreidimen-
eller Welt ermöglichen. So könnten Arbeiter sional wirken.
in einer Fabrik demonstrieren, wie man ein Bevor 6G Wirklichkeit

S
ławomir Stańczak unternimmt einen Bauteil montiert; ein Sensor würde ihre Be- wird, sind aber noch techni-
Ausflug in die Zukunft. Er stapft durchs wegungen über 6G exakt aufzeichnen und sche Hürden zu meistern. So
Treppenhaus hinauf ins elfte Stock- in Bruchteilen von Sekunden zu einem Ro- haben die hochfrequenten
werk. Dort befindet sich das Techniklabor boter auf einem anderen Kontinent übertra- Wellen nur eine geringe
seiner Arbeitsgruppe, mit VR-Brillen, die gen, der dort die Montage wiederholt. »Di- Reichweite, das erfordert
Handgesten erkennen können, neuartigen gital Twin« wird dieses Konzept genannt, eine enorme Dichte an teu-
Hochleistungsantennen und experimentellen digitaler Zwilling. ren Funkmasten. Mit seinem
Handys. Seine Kollegen steuern dort heute Auch heute ist so etwas im Prinzip schon Team arbeitet Stań­czak des- 6G
eine Drohne, die wichtige Medikamente von möglich, aber nur mit großem Aufwand; ex- halb an Tricks, um das zu 1 Tbit/s
einem Krankenhaus zum anderen fliegt – al- terne Kameras, Datenhandschuhe oder vermeiden. Vor ihm steht Mobile KI-
Anwendungen,
lerdings nicht hier in Berlin, sondern in Ma- Trackinggeräte sind nötig, um Gesten in eine flache Antenne, zu- Verkehrs-
lawi, mehr als 7000 Kilometer weit entfernt. Daten zu verwandeln, die dann per Funk sammengesetzt aus 32 klei- management
für Drohnen,
Am Bildschirm sieht Stańczak, wie die übertragen werden. 6G dagegen könnte bei- neren, rechteckigen Anten- interaktive,
Drohne mit fast 80 Kilometern pro Stunde des automatisch kombinieren: Die eingesetz- nen. Diese Richtfunkanlage volumetrische
über die karge Landschaft mit rötlichen Hü- ten Funkwellen dienen dabei nebenher auch könnte sparsame Übertra- Videos,
Kartierung und
geln rast, dann senkrecht landet. »Die Zeit- der Vermessung von Räumen und dem Er- gungen ermöglichen, in- Navigation in
verzögerung bei der Datenübertragung be- kennen von Gesten. »Sensing« wird diese dem sie die Daten höher Innenräumen
(»Sensing«)
trägt rund 200 Millisekunden«, sagt der Pro- Zusatzfähigkeit genannt. Möglich wird dieser konzentriert als heute, fast
fessor für Informationstheorie. Bei Bedarf »sechste Sinn«, weil 6G extrem hohe Fre- wie durch ein Brennglas,
könnte er das Fluggerät von Berlin aus auch quenzen nutzt, fast vergleichbar mit »Nackt- und nahezu ohne Streu­
umleiten. Dort, am Heinrich-Hertz-Institut, scannern«, die auf Flughäfen berührungslos verluste direkt an das Han-
arbeitet der gebürtige Pole. Reisende abtasten. Diese Verortungsmöglich- dy sendet.
Die Transportdrohne in Malawi dient als keit könnte ein Albtraum für Datenschützer Schon ab 2030 sollen 6G-
Experimentiergerät für das Mobilfunknetz werden. Auch mit diesem Problem beschäftigt Netze auf Sendung gehen. In
von übermorgen. Stańczaks Team tüftelt an sich das Stańczak-Team. Deutschland wohl wie gehabt
Szenarien, in denen über Deutschland Zig- Im Labor setzt ein Kollege den Prototyp etwas später als anderswo.
tausende Drohnen gleichzeitig durch die Luft einer Mixed-Reality-Brille auf: Sie blendet Hilmar Schmundt n
fliegen, während am Boden Millionen selbst-
fahrende Autos unterwegs sind, alle gesteuert
übers Mobilfunknetz. Der erforderliche Ultraschnell
Datenverkehr würde herkömmliche Netze
überfordern. Daher arbeitet sein Team am Datenrate und charakteristische Anwendungen
der Mobilfunkgenerationen
Mobilfunk der sechsten Generation, kurz:
6G. Stańczak koordiniert einen »Forschungs-
1G 3G
Hub«, der vom Bundesministerium für Bil- 2,4 kbit/s 2 Mbit/s
dung und Forschung mit 70 Millionen Euro analoge Internet-
gefördert wird. Telefonie zugang
Derzeit sind Mobilfunkfirmen noch voll
damit beschäftigt, flächendeckend super-
schnelle 5G-Netze zu installieren. Doch auf
der Mobilfunkmesse MWC, die kommende
Woche in Barcelona beginnt, soll schon über
die nächste Mobilfunkgeneration verhandelt 2G 4G 5G
werden. »6G existiert noch nicht, aber es wird 64 kbit/s 100–1000 Mbit/s 1–10 Gbit/s
auf jeden Fall kommen«, sagt Stańczak. Der- Textnachrichten, Videostreaming Ultrahochaufgelöstes
digitale Telefonie und -telefonie Video (UHD), Industrie-
zeit sei er dabei, Anwendungsfälle zu suchen anwendungen wie
und daraus Anforderungen an die neue Tech- »Internet of Things« (IoT)
nik abzuleiten: »Alles befindet sich noch im S Quellen: IEEE Internet of Things Journal; HHI
Ž

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WISSEN

in die Arbeit investiert«, sagt Tian­


yang Mao, ebenfalls einer der Erfin­
der, »wir haben unsere Seele in dieses
Projekt gesteckt.«

Boostern durch die Nase


Auch Mao geht davon aus, dass
die Menschheit noch Auffrischungs­
impfungen brauchen wird. Umso
wichtiger wären Vakzinen, die den
Erreger bereits beim Eintritt in den
CORONA  Die bisherigen Impfstoffe schützen oft nur gegen schwere Verläufe. Körper mit voller Wucht bekämpfen.
Genau dazu sollen die Nasenimpf­
Pharmaforscher entwickeln deshalb neue Vakzinen, die auch Ansteckungen stoffe dienen.
verhindern sollen – können sie künftige Pandemien frühzeitig stoppen? Viele der dafür entwickelten Mittel
sind Vektorimpfstoffe, manche sind
Proteinbruchstück-Vakzinen mit

I »Wir haben
m sozialen Netzwerk Twitter bereits auf, darunter auch eine mit einem Wirkverstärker; aber auch
­postet ein Witzbold unter dem dem AstraZeneca-Impfstoff. Mehr als mit abgeschwächten Viren wird intra­
Satire-Account »Omicron aka 30 intranasale Impfstoffe befinden unsere Seele nasal experimentiert. Im Prime-and-
B.1.1.529« seit Ende November regel­ sich laut dem Fachblatt »Lancet« in in dieses Spike-Verfahren aus Yale wird zu­
mäßig Nachrichten aus der Perspek­
tive der Omikron-Variante. Das Virus
einem vorklinischen Stadium der Ent­
wicklung.
Projekt nächst ganz normal mit einem
mRNA-Impfstoff wie dem von Bion­
rief dort zu Weihnachtseinkäufen in »Die Idee an der intranasalen Imp­ ­gesteckt.« tech geimpft – und dann intranasal
der Innenstadt auf (»Man sieht fung ist, die Immunität direkt in der Tianyang Mao, mit dem sogenannten Spikeprotein
sich!«), freute sich riesig auf Weiber­ Nasenschleimhaut, in den Atemwe­ Wissenschaftler an des Erregers geboostert. »Die Idee
fastnacht und feixte vor ein paar Ta­ gen und in der Lunge zu stärken, um der Yale University hinter unserem Ansatz ist«, erklärt
gen darüber, die Queen ebenso er­ eine Infektion zu verhindern, bevor Mao, »dass wir uns die Immunität
wischt zu haben wie den Präsidenten sie sich im Körper ausbreiten kann«, zunutze machen, die bereits durch
des Festkomitees Kölner Karneval. so Benjamin Goldman-Israelow von frühere Impfungen entstanden ist,
Der Scherzkeks verbreitet neben­ der Yale University School of Medi­ und sie dann gezielt auf die Nasen­
bei eine bittere Wahrheit: Auch wenn cine. Der Mediziner ist einer der Er­ schleimhaut umleiten.«
jetzt in immer mehr Ländern die Co­ finder des »Prime and Spike«-Ver­ »Die intranasale Impfung ist die
ronamaßnahmen fallen, ist der Kampf fahrens, einer Booster-Impfung durch Zukunft«, sagt Volker Gerdts. Aber
gegen das Virus noch nicht entschie­ die Nase, die derzeit an Tieren er­ die Zulassung sei komplizierter als
den. Zwar haben Impfstoffe die Situa­ probt wird. »Wir haben seit Anfang bei der Spritze in den Oberarm. Das
tion deutlich entschärft, weil sie in vergangenen Jahres zahllose Stunden sei zwar das bewährte Verfahren; des­
den meisten Fällen einen schweren
Krankheitsverlauf verhindern. Doch
der Erreger mutierte so schnell, dass
die Vakzinen bei der Omikron-Va­
riante die Ansteckungsketten kaum
noch unterbrechen können. Zudem
lässt die Schutzwirkung der Impfung
schneller nach als erhofft. Und es
könnten in den kommenden Monaten
weitere Varianten auftauchen, die
möglicherweise wieder gefährlicher
sind als Omikron.
Die meisten Experten gehen folg­
lich davon aus, dass es in Zukunft
Auffrischungsimpfungen brauchen
wird. »Ob jedes Jahr oder nur alle
paar Jahre, hängt jetzt davon ab, was
2022 noch alles passiert«, sagt Volker
Gerdts, Direktor der kanadischen
Impforganisation VIDO. Mit Hoch­
druck arbeiten Forscher wie Gerdts
deshalb an ganz neuen Generationen
von Impfstoffen, die gleichermaßen
gut gegen unterschied­liche Varianten
wirken und am besten auch die Infek­
tion selbst verhindern sollen.
Stephane Mahe / REUTERS

Schutz vor Ansteckung erhoffen


sich die Forscher vor allem von soge­
nannten intranasalen Impfstoffen, die
in die Nase gesprayt oder mitunter auch
getropft werden. 15 Studien über den
Einsatz solcher Stoffe bei Menschen
listet die Datenbank Clinical­trials.gov Impfstoffforschung an der Universität Tours in Frankreich: Starke Abwehrtruppen an vorderster Front

98 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


WISSEN

halb habe man auch bei Sars-CoV-2 so an- deutsche Firma Biontech kündigte zuletzt an,
gefangen.
Schutz an der richtigen Stelle dass es wahrscheinlich bis Mai dauern werde,
Doch die vielen Durchbruchsinfektionen Untersuchung einer intranasalen Booster- bis der Omikron-Impfstoff fertig sei. Das US-
– auch schon vor der Omikron-Welle – deu- impfung an Mäusen an der Yale University Unternehmen Moderna rechnet sogar erst im
teten darauf hin, dass man mit einer Impfung Sommer mit der Auslieferung der Omikron-
in einen Muskel »nicht unbedingt die best- Vakzine.
mögliche Art von Immunreaktion« hervor- Modernas Chief Medical Officer Paul Bur-
rufe, so Mao. Nach einer intramuskulären ton hält es für denkbar, für den kommenden
Impfung würden Antikörper produziert, die Winter eine Kombinationsimpfung gegen die
dann in der Blutbahn kreisten. Das sei ver- Delta- und die Omikron-Variante anzubieten.
gleichbar mit Schutzwächtern innerhalb der »Wir versuchen herauszufinden, was im Win-
Burgmauern: gut und hilfreich, nur dauert es, ter wirklich Probleme verursachen könnte«,
bis sie am Einsatzort eintreffen; bis dahin hat so Burton gegenüber dem SPIEGEL . »Wir
der infizierte Mensch mehr oder weniger hef- sollten gut vorbereitet sein.«
tige Krankheitssymptome und kann andere Mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) ver-
anstecken. Tag 0 suchen die Moderna-Forscher herauszufin-
Ein Teil der Mäuse wird intramus-
Viel schneller reagierten große Mengen kulär mit mRNA-Impfstoff geimpft. den, in welche Richtung das Virus weiter­
an sogenannten IgA-Antikörpern, die auf mutieren könnte. Aber bislang lasse sich kein
den Schleimhäuten von Nase, Rachen und Muster erkennen, dem Sars-CoV-2 folge, so
Lunge bereitstünden, vor dem eigentlichen Tag 14 Burton: »Das Virus kann massive Sprünge
Ein Teil der
Eingangstor zum Körper – starke Abwehr- geimpften Tiere machen, die völlig unvorhersehbar sind; ich
truppen an vorderster Front. »Aus diesem bekommt das schätze, KI kann derzeit lediglich als eine Art
Grund müssen wir unserem Nasengewebe Spikeprotein des Kompass dienen, der uns in bestimmte Rich-
direkt Signale geben mit der Botschaft: Coronavirus als tungen führt.«
Booster per
Hier sollte das IgA produziert werden«, so Nasenspray Impfstoffforscher Gerdts verfolgt ebenfalls
Mao. Genau das geschehe bei der intranasa- verabreicht. das Ziel, einen breit wirksamen Impfstoff her-
len Impfung. zustellen. Ausgangspunkt ist seine Protein-
Versuche an Mäusen in Yale haben bereits Tag 56 bruchstück-Vakzine mit Wirkverstärker, die
Alle Versuchstiere werden mit
gezeigt, dass das Prime-and-Spike-Verfahren dem Coronavirus infiziert und in derzeit bereits in zwei klinischen Studien an
funktioniert: Auf den Schleimhäuten der den folgenden 14 Tagen ihre Menschen erprobt wird. Ursprünglich richte-
­Nager wurden nicht nur reichlich IgA-Anti- Vitalparameter und ihre Viruslast te sich dieser Impfstoff gegen den Wildtyp
körper gebildet, auch die sogenannte T-Zell- gemessen. des Virus; doch Gerdts hat bereits eine Ver-
Antwort in den Zellen der Nasen- und Ra- sion entwickelt, die zusätzlich gegen Omikron
chenschleimhaut, die eindringende Viren früh Bis zum 7. Tag nach wirken soll. Und im November erhielt seine
eliminieren soll, wurde infolge der Intranasal- der Infektion sind alle Impforganisation VIDO die Zusage über fünf
impfung hochgefahren. Mit dieser Technik ungeimpften Tiere Millionen US-Dollar von der Impfstoffinitia-
verendet.
geimpfte Mäuse, die anschließend mit Sars- tive CEPI für die Entwicklung eines »varian-
CoV-2 infiziert wurden, erkrankten im Ver- tensicheren« Impfstoffs.
gleich mit Tieren, die nur intramuskulär ge- Die Idee dahinter: Mit Computeranalysen
impft worden waren, weniger schlimm oder wollen die Forschenden herausfinden, in
gar nicht – und keine starb. Klinische Studien Gewichtsverlust
welchen Bereichen des Virusgenoms Muta-
am Menschen könnten in zwei bis drei Jahren Veränderung des Gewichts tionen besonders häufig auftreten. Am Ende
beginnen, schätzt Maos Kollege Goldman- der Versuchstiere, in Prozent sollen Varianten für die Produktion des Impf-
Israelow. Ungeimpft Geimpft stoffs ausgewählt werden, die mit der von
Die Nasenimpfung schützt aber womöglich Nasaler Booster ihnen erzeugten Immunität möglichst viele
nicht nur besser vor Ansteckung. Aus den potenzielle neue Mutanten abdecken. In
Tierversuchen ergeben sich zudem Hinweise 100 Zukunft könne man dieses Prinzip möglicher-
darauf, dass die neue Methode eine besonders weise auch auf andere Coronaviren als Sars-
breite Immunität gegen sehr unterschiedliche 90 CoV-2 anwenden. So ließe sich vielleicht
Varianten und vielleicht sogar gegen ganz Kein unge- ­sogar ein Impfstoff für künftige Pandemien
­andere Coronaviren erzeugen könnte. In 80 impftes Tier entwickeln.
lebt mehr.
einem Experiment verabreichten die Forscher »Bisher ist es ja immer so gewesen: Eine
70
den Versuchstieren einen intranasalen Sars- neue Erkrankung kommt, wir entwickeln
Tag 56 Tag 63 Tag 70
CoV-1-Booster – aus dem Spikeprotein jenes einen Impfstoff für diese eine Erkrankung.
früheren Coronavirus, das 2002 und 2003 um Viruslast Dann kommt die nächste Erkrankung, wir
die Welt ging und wieder verschwand. »Die in der Lunge, plaquebildende Einheiten je ml machen den nächsten Impfstoff und so wei-
Mäuse begannen, Antikörper sowohl gegen 0 2 4 6 8 ter«, sagt Gerdts. Das sei ein Wettrennen, bei
Sars-CoV-1 als auch gegen Sars-CoV-2 zu bil- dem die Wissenschaftler immer hinterherlie-
den«, erklärt Mao. Aus diesen Laborexperi- Ungeimpft fen. Das Ziel sei deshalb, universeller einsetz-
menten schöpfen die Forscher die Hoffnung, bare Vakzinen zu entwickeln – um im Idealfall
nasale Impfstoffe auch besser an künftige, Geimpft den Impfstoff für die nächste Pandemie schon
vielleicht gefährlichere Varianten anpassen Nasaler
im Kühlschrank zu haben, wenn sie ausbricht.
zu können. Booster »Stellen Sie sich vor, die WHO hätte be-
Mögliche neue Mutanten sind derzeit die reits im Januar 2020 die ersten 20 Millionen
Hauptsorge vieler Virologen. Am Beispiel der Bei den nasal geboosterten Tieren waren Dosen Coronaimpfstoff nach Wuhan schicken
Omikron-Variante zeigt sich, dass es doch die Ergebnisse breiter gestreut, die Viruslast können«, sagt Gerdts. »Das hätte den Lauf
insgesamt war aber deutlich niedriger.
recht lange dauert, die bisherigen Impfstoffe der Pandemie geändert.«
an das veränderte Virus anzupassen. Die S Quelle: Mao et al, Yale University, Vorveröffentlichung Veronika Hackenbroch n
“

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KULTUR

Otto-Piene-­
Installation
»Stars«, 2014,
in Zürich 2020

Estate Otto Piene / Sprüth Magers / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Foto: Stefan Altenburger
Luftnummern
KUNST  Die Bonner Ausstellung »Welt in der Schwebe« zeigt Kunst aus Gasgemischen.

M an kann auch Kunst, die sich verflüchtigt, ausstellen. So-


gar solche, die der Betrachter einatmet. Nämlich dann,
wenn sie aus Luft besteht. Die Werke im Kunstmuseum
Bonn pusten, dampfen, hauchen und schweben. Im Ausstellungs-
nummern zusammengetragen: Heliumballons von Andy Warhol,
die Fotografie eines 85-Meter-Luftschlauchs von Christo und
Jeanne-Claude, Luftkapseln in einem Kaugummiautomaten von
Yoko Ono. Je flüchtiger die Werke sind, desto reizvoller erscheinen
raum spuckt eine Nebelmaschine Wölkchen aus, draußen sorgt ein sie. Manches dürfte dem Betrachter auch offenbaren, wie sich
Industrieventilator für Sturm. Gemalt wurde Luft spätestens seit unser Blick auf Luft mit Covid-19 geändert hat, seit die Menschheit
der Renaissance, als Wolken, Wind oder Nebel. Seit der Moderne über Aerosole und den Mund-Nasen-Schutz spricht. Wenn das
ist Luft auch ein Werkstoff. Die Ausstellung »Welt in der Schwebe. ­Performance-Liebespaar Marina Abramović und Ulay im Video
Luft als künstlerisches Material« (bis 19. Juni) hat zahlreiche Luft- gegenseitig seinen Atem inhaliert, wirkt das fast befremdlich. CPA

Schmerzhaftes müsste man sagen: Ich hätte lie- dem Schaffensprozess von Lite- Krankheit, von der man nicht ge-
ber niemals geschrieben, und ratur auseinandersetzt. Als heilt werden will. Solche bewe-
Schreiben du wärst noch bei uns, und wir ­Anlass dient ihr eine Nacht in genden Erkenntnisse machen das
LITER ATUR   Auf die Frage, was hätten nicht gelitten. Aber ich Venedig, dort lässt sie sich in ein Buch zu Slimanis persönlichstem
sie tun würde, wenn sie zwischen weiß nicht, ob ich das sagen Museum einsperren und philoso- – schon für die poetische Sprache
dem Leben ihres ­Vaters und kann.« Das offenbart die franzö- phiert über Kunst und feminis­ lohnt sich seine Lektüre. STG
dem Schreiben wählen müsste, sisch-marokkanische Schriftstel- tischen Ak­tivismus. Für den Ver-
hat sie keine Antwort. Denn lerin in ihrem autobiografischen lust ihres Vaters ist sie dankbar,
Leïla Slimani: »Der Duft der Blumen
sein Tod brachte Leïla ­Slimani Roman »Der Duft der Blumen weil der Schmerz ihre Schrift­ bei Nacht«. Luchterhand; 160 Seiten;
zum Schreiben. »Natürlich bei Nacht«, in dem sie sich mit stellerei antreibt. Er ist wie eine 20 Euro.

100 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Cooler Zocker Gern schaut man Tell dabei zu, 100 Jahre Pasolini
wie er mit Coolness und Stil­
KINO   Selten sah Glücksspiel so bewusstsein Gegner abzockt. FILME  Am 5. März ist Pier
sehr nach Arbeit aus wie in Leider rollt Schrader, der einst ­ aolo Pasolinis 100. Geburts­
P
Paul Schraders Film »The Card das Drehbuch zu »Taxi Driver« tag. Das Schaffen des Ausnahme­
Counter« (Start: 3. März). (1976) schrieb und als Regisseur regisseurs mit der Wiederauf­
Der Held, der sich William Tell Meisterwerke wie »American führung eines einzigen Films zu
nennt, hofft nicht auf den gro­ Gigolo« (1980) schuf, auch die würdigen ist eigentlich unmög­
ßen Coup, sondern setzt statt­ Vergangenheit von Tell auf. Der lich. Paso­lini schuf etliche
dessen auf viele kleine Gewin­ war als Soldat im Gefängnis von ­Meisterwerke, aber nicht das
ne. Umgeben von Menschen, Abu Ghuraib an Folterungen eine Schlüsselwerk, anhand des­
die mit ihren Nerven kämpfen, beteiligt. In manchen Szenen sen sich seine schöpferische
geht er mit Kalkül vor. Schrader spürt man eindringlich, dass er ­Bandbreite vom Neorealismus
und sein großartiger Hauptdar­ diese Erfahrungen niemals über Volkstheaterschwänke bis
steller Oscar Isaac machen aus ­hinter sich lassen wird. Doch zur unerbittlichen Faschismus­

missingFILMs
dem Stoff eine streckenweise Schrader verknüpft die beiden studie erklären ließe. Trotzdem
fesselnde Charakterstudie und Erzählebenen nicht überzeu­ kommt nun ein Film anlässlich
zeigen das in Filmen oft verklär­ gend miteinander. »The Card des 100. Geburtstags wieder
Filmplakat zu »Mamma Roma«
te Casino als unglamourösen Counter« zerfällt fast in zwei in die Kinos: »Mamma Roma«
und dennoch aufregenden Ort. verschiedene Filme. LOB aus dem Jahr 1962. Eine Mutter, tariat, dann zu den ersten Regie­
die alles für ihren Sohn tut. Das arbeiten »Accatone« (1961) und
ist die Geschichte des Filmdra­ »Mamma Roma«. In der Titel­
mas, das Pasolini wie so viele rolle ist Anna Magnani als Pros­
seiner Werke Beschwerden we­ tituierte zu sehen, die für ein
gen mora­lischer Anstößigkeit besseres Leben für sich und
einbrachte. Es ist aber auch die ihren Sohn kämpft. Ihre Pläne
Geschichte Pasolinis. Als er machen erst ihr ehemaliger Zu­
1950 in der ­geliebten Heimat hälter, dann der Sohn zunichte.
Friaul einen Skandal auslöste, Doch wenn sie wild gestikulie­
weil ihm homosexuelle Hand­ rend durchs nächtliche Rom
lungen angelastet wurden, war läuft und so die Blicke auf sich
es seine Mutter, die mit ihm zieht, zeigt sie, wie wenig ihr
nach Rom zog. Bis zu Pasolinis das Urteil anderer anhaben
Ermordung 1975 sollten sie eine kann. Als Einladung, sich dem
Wohnung in der Stadt teilen, Werk Pasolinis so unvoreinge­
Focus Features

Isaac, Tye ­Sheridan


die ihn wie keine Zweite inspi­ nommen wie möglich zu nä­
in »The Card Counter« rierte: zunächst zu Romanen hern, könnte es vielleicht doch
über das örtliche Lumpenprole­ keinen besseren Film geben. HPI

Skulpturen für die Ewigkeit gemeinsame Retrospektive organisieren. Skulptur »Fall ’91«,
Und es soll nach Bekunden beider 1992, Künstler Ray
AUSSTELLUNGEN   Einige der Exponate nur der Auftakt einer längerfristigen Zu­
sind 2600 Kilogramm schwer, so wie sammenarbeit sein. Die Kooperation
die »Sleeping Woman«, das Porträt einer war von Beginn an eng, Pinault ist gut
Obdachlosen in Los Angeles, die der vernetzt in der Pariser Kunstwelt. Aber
amerikanische Bildhauer Charles Ray die Doppelausstellung offenbart auch
bei einem Spaziergang fotografierte und die ungleichen Verhältnisse zwischen
zum Vorbild für seine Skulptur nahm. Er beiden Institutionen: ­Pinault besitzt
ließ sie aus rostfreiem Stahl anfertigen; 22 Werke von Ray, das Centre Pompidou
so könne sie sogar einen Atomangriff kein einziges. Und es könnte sich auch
überstehen, sagt er. Der in Europa nur keines leisten: Die Skulpturen des Bild­
wenig bekannte Charles Ray, 1953 in hauers erzielen Preise zwischen zwei
Charles Ray / cour tesy Matthew Marks Galler y / Foto: Anthony Cunha

Chicago geboren, macht seit Jahrzehn­ und drei Millionen Dollar – das ist unge­
ten Skulpturen für die Ewigkeit und fähr so viel, wie dem Pompidou pro
­verbindet antike Vorbilder mit zeitge­ Jahr für den Erwerb von Kunstwerken
nössischer Gesellschaftskritik an seiner insgesamt zur Ver­fügung steht. Und so
Heimat USA. In Paris werden nun seit hat der Milliardär dem Museum mehrere
vergangener Woche 38 seiner Werke in Werke geliehen, darunter die monu­
einer Doppelausstellung gezeigt. Sie mentale Skulptur ­»Family Romance«,
sind noch bis zum Juni im staatlichen eine nackte Familie, die der Künstler auf
Museum Centre Pompidou und in der das Kindermaß von 1,35 Meter redu­
privaten Kunstsammlung des Milliardärs zierte. Das Spiel mit Maßen und Dimen­
François Pinault in der Bourse de Com­ sionen ist ein konstantes Motiv bei Ray:
merce zu sehen. Beide Ausstellungsorte Anfang der Neunzigerjahre schuf er eine
liegen nur zehn Minuten voneinander Serie von Schaufensterpuppen, die er
entfernt. Es ist das erste Mal, dass ein um 30 Prozent im Vergleich zur realen
staatlicher und ein privater Träger eine Größe aufblähte. BSA

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 101


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»Ich bin eine Mantelfrau«


MODE  Jil Sander hat geschafft, was in ihrer Branche nur den wenigsten gelingt: einen unverwechselbaren Look
zu prägen, der sich weltweit durchsetzte. Nun zieht sie Bilanz ihres Lebens und ihres Schaffens.

D
ie Villa, in der Jil Sander arbeitet und sie von ihrem Garten bei Plön spricht, in dem tät und unverbrauchte Aussagen entwickelt:
ihren Showroom hat, liegt nur wenige es zum Beispiel eine Wiese nur für Schnitt­ Der Minimalismus hat mir gezeigt, dass Neu­
Schritte entfernt von jener Straßen­ blumen gibt, die sie aber selten pflückt, weil es nicht laut daherkommen muss. Vermutlich
ecke, an der sie 1968 ihr erstes Geschäft er­ sie im Garten eben noch schöner wirken. gibt auch der Verzicht auf Ornamente meinen
öffnete. Die hohen, prächtigen Räume sind Jil Sander willigt ein, Fragen für den Kollektionen eine gewisse Zeitlosigkeit.
perfekt renoviert, aber schlicht ge­halten, wei­ ­ PIEGEL schriftlich zu beantworten. Es ist ein
S SPIEGEL: Sie wurden oft als »Queen of Less«
ße Wände, wenige Möbel, einzelne minima­ Entgegenkommen – von ihrer Seite aus und bezeichnet. Finden Sie das zutreffend?
listische Kunstwerke. Die räum­liche Nähe von vonseiten des SPIEGEL , denn schriftlich ge­ Sander: Ich habe selbst früh »pure« zur
heute und damals, von der weitläufigen Patri­ führte Interviews machen wir selten. »Das ­Umschreibung meines Ideals ins Gespräch
ziervilla und der ersten Boutique, verbild­ Auge ist klüger als die Sprache«, schreibt sie gebracht und meine erste Kosmetiklinie so
licht den enormen Erfolg der Designerin. Als in einer Antwort. benannt. Im Englischen ist der Begriff un­
sie Ende der Sechzigerjahre ihre Entwürfe belasteter als im Deutschen.
fertigte, war sie Auto­didaktin. Gut 20 Jahre SPIEGEL: Frau Sander, es ist fast 50 Jahre her, SPIEGEL: Was sind Ihre Kriterien für einen
später ging sie mit dem Unternehmen Jil San­ dass Sie Ihre erste Kollektion entworfen ha­ gelungenen Entwurf?
der an die Börse, 1999 verkaufte sie die Ak­ ben. Wie erreicht man als Modedesignerin Sander: Es fällt mir schwer, sie zu abstrahie­
tienmehrheit für geschätzte 200 Millionen Zeitlosigkeit? ren. Das Auge ist klüger als die Sprache. Ich
Mark an die Prada-Gruppe. Sander: Vielleicht, indem man sie gar nicht bin lange mit dem Fitting der Prototypen be­
Zu einer Zeit, in der Frauen in der BRD sucht. Als ich anfing, wollte ich Frauen unse­ schäftigt, in dieser Phase arbeite ich auch mit
oft noch traditionellen Rollenbildern folgten, rer Zeit gemäß kleiden. Ich habe mich an ihren den Schnittmeistern. Manchmal möchte ich
war sie bereits eine erfolgreiche Geschäfts­ Bedürfnissen, nicht an Modediktaten orien­ einen Entwurf in die Ecke werfen, aber ich
frau. Vor allem aber prägte Jil Sander, 78, den tiert. Seither war es für mich wichtig, die habe gelernt, nicht zu schnell aufzugeben. Für
Blick der Welt auf Mode aus Deutschland. Gegenwart ästhetisch und funktional in Mode mich steht die dreidimensionale Entfaltung
Für ihre lässig-eleganten Entwürfe wurde zu übersetzen. Es hat mir auch geholfen, im Zentrum. Bei der Entwicklung der Schnit­
sie in Mailand, New York und Tokio gefeiert. selbst eine Frau zu sein, die mit den Angebo­ te, Silhouetten und Proportionen helfen mir
Früh erkannte sie, welche entscheidende ten nicht zufrieden war und sich fragte, was auch innovative Stoffe. Es ist verblüffend, wie
­Rolle Accessoires im Modegeschäft spielen ihr fehlt. Und durch meine frühe Beschäfti­ stark ein gut geformter Mantel uns motivieren
würden; sie entwickelte auch Parfüms und gung mit zeitgenössischer Kunst habe ich und positiv beeinflussen kann. Seit Mode vor
Kosmetikprodukte. Dafür warb sie in den wahrscheinlich eine Sensibilität für Moderni­ allem digital vermarktet wird, ist diese Di­
Achtzigerjahren mit ihrem eigenen Gesicht. mension im Design nicht mehr selbstverständ­
Trotzdem ist sie als Person selten in Erschei­ lich, denn Fotos fangen die entsprechende
nung getreten. Anders als ihre männlichen Dynamik selten ein. Wenn ein Entwurf mir
Kollegen hat sie stets ihre Entwürfe in den gefällt, dann hat er Energie und korrespon­
Mittelpunkt gerückt und wich selbst dem diert mit anderen Elementen einer Kollektion.
Rampenlicht aus. SPIEGEL: Sie wurden im norddeutschen, kar­
Der Wunsch, ein größeres SPIEGEL -Ge­ gen Dithmarschen geboren. Hat dieser Land­
spräch mit ihr zu führen, währt schon lange. strich Sie geprägt?
Im vergangenen Winter willigt sie ein, sich zu Sander: In Dithmarschen bin ich nur zur Welt
einem Kennenlernen zu treffen. Es wird aber gekommen, meine Mutter war aus Hamburg
schnell klar, dass sie dem Treffen eher aus zu ihren Eltern geflüchtet. Die Entbindung
Höflichkeit zugestimmt hat. Aus ihrer Sicht fand in einem Militärlazarett statt. Aber die
gibt es keinen rechten Grund, noch einmal in Kindheit habe ich in Hamburg verbracht, das
die Öffentlichkeit zu treten, ihr Lebenswerk nach den Bombenangriffen auch sehr karg
wurde vielfach gewürdigt, auch mit einer Aus­ und versehrt war. Aber es gab unverstellte
stellung im Frankfurter Museum Angewand­ Weiten, den hohen Himmel, den Wind und
te Kunst. Eine zweite Begegnung findet zehn ziehende Wolken.
Monate später Anfang November 2021 statt; SPIEGEL: Wie sind Sie aufgewachsen?
Cour tesy Peter Lindbergh Foundation

wenige Tage später soll ihre letzte Kollektion Sander: Ich bin mit meiner Mutter, meinem
für die japanische Textilkette Uniqlo in die jüngeren Bruder und dem zweiten Mann mei­
Geschäfte kommen. In ihrem Showroom hän­ ner Mutter in der Nähe einer Schokoladen­
gen sämtliche Teile, sie hat die Entwürfe unter fabrik an den Elbbrücken aufgewachsen. Mein
den Titel »Ende des zweiten Kapitels« gestellt, Ersatzvater führte dort eine Magirus-Deutz-
und womöglich sind es die letzten von Jil San­ Niederlassung. Er hat mit mir oft über neues
der entworfenen Kleider. Es ist zu spüren, wie Autodesign diskutiert, für ihn war Ästhetik
sehr sie in ihrem Element ist, wenn sie Dinge wichtig. Das Verhältnis zu meinem Bruder
gestalten kann. Das wird auch deutlich, sobald Designerin Sander 1991 ist immer noch sehr persönlich und fürsorg­

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1 2

Cour tesy Craig McDean


Cour tesy Paul Warchol

3 4
Cour tesy Craig McDean

Jil Sander Archiv

1 | Flagship-Store in Paris kurz nach der Eröffnung 1993  2 | Model Amber Valetta in einem Jil-Sander-Mantel 1995  3 | Entwurf aus der Kollektion
Frühjahr/Sommer 1996  4 | Kosmetikflakons 1981

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lich. Er und seine Frau haben mir beim Auf­ Kleidungsformen etwas Fluides sind, das sich burg importiert, zum Beispiel die Pöseldorfer
bau meines Unternehmens sehr geholfen. ändern lässt. Aus Amerika habe ich das Bierstuben. Im Milchstraßenbereich hat er
SPIEGEL: Ihre Mutter war die zentrale Figur Selbstbewusstsein mitgebracht, dass sich Din­ 37 Gebäude restauriert und zu Geschäften
Ihrer Kindheit. Was war sie für eine Frau? ge ändern lassen, indem man die Menschen und Galerien umgewandelt. Sein erstes Ob­
Sander: Meine Mutter hatte ein gütiges, opti­ von etwas Besserem überzeugt. jekt war eine Wagenremise an der Milchstra­
mistisches, unängstliches Wesen. Sie glaubte, SPIEGEL: Nach Ihrer Rückkehr haben Sie eini­ ße, in der ich dann später selbst gewohnt
dass man durch Weltvertrauen die Dinge posi­ ge Jahre als Modejournalistin gearbeitet. Wie habe. Brinkama hat gezielt an ein kulturell
tiv beeinflussen kann. Diese Zuversicht habe kamen Sie auf die Idee, eine eigene Kollektion interessantes Publikum vermietet: Gunter
ich von ihr übernommen. Man darf auch nicht zu entwerfen? Sachs hatte eine Galerie an der Milchstraße
vergessen, wie belastbar die Kriegsgeneration Sander: Ich hatte gar keine eigene Kollek­ und hat dort früh Andy Warhol ausgestellt.
war, nicht zuletzt die Frauen. Meine Mutter tion im Sinn. Meine ersten Designarbeiten Mein erster Laden lag in einem Brinkama-
war eher fröhlich, sanft, nicht zum Rebellieren hatten einen pragmatischen Zweck: Ich be­ Haus an der Ecke zur Magdalenenstraße.
geneigt. Trotzdem hat sie den damals schwer­ treute Modeshootings als Redakteurin für SPIEGEL: Der Laden gilt heute als legendär,
wiegenden Makel einer schuldigen Scheidung die »Constanze« und die gerade erst auf aber war die Unternehmung damals nicht
von meinem Vater auf sich genommen, um den Markt gekommene »Petra« und war auch waghalsig?
ihr Glück zu sichern. Sie übernahm vor Gericht über die mir zur Verfügung gestellten Ent­ Sander: Ich hatte das Glück, dass ich unheim­
die Verantwortung für das Scheitern der Ehe, würfe nicht froh. Also habe ich mich, was lich viel Unterstützung und Wertschätzung
damals wurde ja noch offiziell die sogenann­ heute undenkbar wäre, mit den Fabrikanten erfahren durfte, Menschen, die meinen Wer­
te Schuldfrage geklärt. in Verbindung gesetzt, um ihnen zu helfen. degang beobachtet und mir geraten haben.
SPIEGEL: Sie haben erst mal eine Ausbildung Die Farbwerke Hoechst schlugen mir vor, Ich war nie allein.
als Textilingenieurin absolviert. Später waren aus dem Technostoff Trevira eine erste Kol­ SPIEGEL: Hatten Sie anfangs auch Sorge, auf
sie berühmt dafür, mit besten Stoffen und mo­ lektion zu ent­werfen. Ihren Entwürfen sitzen zu bleiben?
dernen Techniken zu arbeiten. Können Sie SPIEGEL: Wie war das damals in Hamburg- Sander: Es gab eher das Problem, dass Kol­
beschreiben, wie sehr Ihre Kreativität ver­ Pöseldorf? lektionen nicht rechtzeitig geliefert wurden
zahnt ist mit Ihrer Begeisterung für Produk­ Sander: In den Sechzigern fuhren die Cabrio­ oder nicht den Prototypen entsprachen. Wir
tionsprozesse? lets die Milchstraße rauf und runter, und die mussten mit Retouren kämpfen, ich mochte
Sander: Heute spielt die Idee des Neuen und Fahrer hielten nach schönen Frauen Aus­ den Postwagen nicht mehr kommen sehen.
der Avantgarde nur noch eine untergeordne­ schau, es herrschte eine Art Start-up-Atmo­ In der Herstellung waren zum Beispiel unse­
te Rolle. Das hat mit den beschleunigten Pro­ sphäre. Pöseldorf war durch den Antiquitä­ re berühmten 2-Zentimeter-Kappnähte nicht
duktionszyklen zu tun, die keine Zeit für län­ tenhändler und Selfmade-Mann Eduard Brin­ richtig berechnet worden, und die Größen
gere Entwicklungsphasen lassen, aber auch kama zur Promeniermeile geworden. Er war stimmten nicht mehr. Oft sind die Stoffe, die
mit dem Nachholbedarf der neuen Märkte, wie ich ein Fan britischer Lebensart und hat ich selber entwickelt hatte, nicht pünktlich
die westliche Mode lange entbehrten. In mei­ historische Interieurs aus London nach Ham­ geliefert worden. Ich habe die Produktion
ner Kindheit war das Neue ein Volkssport.
Das hat mich geprägt. Man schaute in die Zu­ 1
kunft und wollte die Vergangenheit hinter sich
lassen. Es war ein heute unvorstellbarer Auf­
bruch, und wir waren sehr sensibel für Zei­
chen der Zeit, auch in den Produkten. Hinzu
kam die starke Amerika-Orientierung, die
Woge amerikanischer Waren, die wir lange
entbehrt hatten. In Hamburg wurde diese
Orientierung von der Nähe zu England auf­
gewogen. Das war eine Gegenkraft, die selbst­
bewusst die Tradition hochhielt. Die Neugier
auf die Zukunft hat mich nie verlassen.
SPIEGEL: Als junge Frau sind Sie mit 18 für
zwei Jahre nach Kalifornien gegangen. Das
war zu der Zeit ungewöhnlich.
Sander: Mein Vater hatte mir zu meinem
18. Geburtstag einen VW-Käfer geschenkt.
Aber obwohl ich sehr stolz auf meinen Füh­
rerschein war, habe ich gesagt, das Auto kön­
ne er wiederhaben, mir war ein Ticket nach
Kalifornien lieber. Natürlich war das in den
Sechzigern noch eine große Reise, und meine
Eltern hatten versucht, mich davon abzubrin­
gen. Aber ich bin ohne Bedenken in die TWA-
Maschine gestiegen und habe die Entschei­
dung keinen Moment bereut. Die kaliforni­
sche Ungezwungenheit war für mich eine
Offenbarung. Die Atmosphäre, das Licht und
die Wärme haben mich begeistert. Das Leben
fand draußen statt, hatte mehr Sinnlichkeit,
die Menschen waren neugierig und offen, we­
niger förmlich und bieder gekleidet als in mei­
ner Heimat. Ich habe begriffen, dass man auch
ganz anders leben kann, dass Umgangs- und 1 | Designerin Sander backstage bei der Men’s Show 1999  2 | Model Kate Moss mit Lackmantel 1996

104 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


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dann nach Italien verlagert und bin zur Qua-


litätskontrolle zu den Fabriken dort gereist.
»Manchmal möchte Ich habe den Daunenmantel aus dem Extrem-
sport in die Mode geholt und zu einer leich-
Aber ich habe nie aufgegeben, als Autodidak- ich einen Entwurf teren Daune überarbeitet. Ich habe mit
tin die Probleme auf meine Weise zu lösen,
mit Produzenten verhandelt, den Mitarbei-
in die Ecke werfen.« ­Mänteln aus interessanten Kaschmirwoll­
mischungen experimentiert, neue Proportio-
tern das Bügeln gezeigt. Auf diese Weise habe nen gefunden und sie mit funktionalen Details
ich ein Netzwerk aufgebaut, das es vorher gar versehen, die auch eine neue Art der Deko-
nicht gegeben hat. Deshalb habe ich mich nie ration sind.
zurücklehnen und nur dem Design widmen burg auch Gelassenheit gegeben, ein Gefühl SPIEGEL: Gibt es ein Kleidungsstück, das Sie
können. für das wirkliche Leben und seine Erforder- als Privatperson Jil Sander besonders schät-
SPIEGEL: Sie haben immer ein Standbein in nisse. zen?
Hamburg behalten und die internationale SPIEGEL: Gibt es ein Kleidungsstück, das Sie Sander: Ich bin eine Mantelfrau.
Modeszene in diese erst mal nicht sehr mode- als Designerin interessanter und herausfor- SPIEGEL: Was an der Mode ist unabhängig
vernarrte Stadt geholt. dernder finden als andere? von Trends?
Sander: Hamburg entspricht meiner Mentali- Sander: Ich finde, dass sogar der Schnitt eines Sander: Ich habe immer versucht, Tendenzen
tät. Ich mag das Understatement der Stadt, T-Shirts eine Herausforderung ist, deshalb zu interpretieren und mit meinem Gefühl für
den Pragmatismus, die geistige Unabhängig- horte ich meine T-Shirts aus ägyptischer Proportionen, Silhouetten und handwerk­
keit. Und ich habe nirgendwo einen Ersatz Baumwolle. Das weiße Oberhemd, ich sage lichem Wert in Einklang zu bringen. Ich bin
für das norddeutsche Licht gefunden, bei dem lieber Shirt, hat mich genauso beschäftigt. mit einem Entwurf erst zufrieden, wenn er
man nicht schummeln und kein Stoffmakel Natürlich sind Kleidungsstücke auch funktio- für mein Gefühl Frische und Energie aus-
sich verstecken kann. Es war gar nicht so nal, das Shirt zum Beispiel habe ich erst für strahlt. Aber die Kollektion als Ganze muss
schwer, die Kunden und Journalisten nach die weibliche Figur durchdenken müssen, da- einen Inhalt haben; auch das ist ein Kriterium
Hamburg zu holen. Ich habe gesagt, ihr müsst mit es nicht damenhaft aussieht, sondern für Qualität. Wenn die Elemente miteinander
mir helfen. Die Stadt war eine willkommene smart und androgyn. Dieselbe intensive sprechen, vom Schnitt her, stofflich, farblich,
Abwechslung zu Mailand und Paris, und in Schnittarbeit war auch bei Damenhosen not- potenzieren sie sich wechselseitig. Erst auf
mancher Hinsicht gingen meine Kollektionen wendig. Zu Anfang meiner Designtätigkeit dieser Ebene, als umfassender Entwurf, wird
eine glaubhafte Symbiose mit Hamburg ein. hat man Frauen noch mit Seitenzippern und Mode relevant.
Die Stadt ist sicher nicht modevernarrt, aber steifen Bundfalten ausgestattet. Hosen waren SPIEGEL: Was inspiriert Sie?
sie hat ein starkes Gefühl für Contenance und schwer, unbeweglich, unattraktiv proportio- Sander: Ich habe ästhetisch ein enges Verhält-
ist in dieser Hinsicht sehr britisch. Es heißt ja, niert. Gerade in den letzten Jahren bei meiner nis zur Architektur, ihrer Formgebung und
wenn es in London regnet, spannt man in Kollektion +J für die Marke Uniqlo sind mir Struktur. Auch gegenüber der Gegenwarts-
Hamburg die Regenschirme auf. Gegenüber auch Mäntel wichtig gewesen. In den Uniqlo- kunst bin ich sehr aufgeschlossen und inte­
den klassischen Modestädten hat mir Ham- Stores hat +J damit sichtbare Akzente gesetzt. ressiere mich für Künstler wie Richard Serra,
James Turrell, Eva Hesse, Agnes Martin, Cy
2 4 Twombly und vor allem Robert Ryman.
Kunsterfahrungen haben mir dabei geholfen,
das Verbrauchte in meiner Umwelt wahrzu-
nehmen. Sie haben mein Auge geschult und
mich für leise Detailsprachen und subtile
Form­ereignisse sensibilisiert. Ich habe gelernt,
dass man oft nur durch mutige Reduktion aufs
Wesentliche zu einem Ergebnis kommt, das
uns etwas zu sagen hat. Weglassen ist wie ein
Experiment, aus dem etwas Klares und Ein-
faches hervorgehen kann. Zunächst weiß ich
nicht, was ich suche, nur, dass vieles nicht
mehr möglich ist. Ich würde fast von einer
Jil Sander Archiv

Schule für das Nichts sprechen.


SPIEGEL: Sie sind mit dem Unternehmen Jil
Sander 1989 an die Börse gegangen; in den
Neunzigerjahren gab es Jil-Sander-Boutiquen
3 auf drei Kontinenten. Hatten Sie mal den
Gedanken, das ganze Unternehmen wird
zu groß?
Sander: Im Gegenteil, wir mussten wachsen
und uns verbünden, auch um den Accessoire-
Boom bedienen zu können, der um die Jahr-
tausendwende erheblich war. Damals war Jil
Sander eine Ausnahme, denn 80 Prozent
unserer Produktion war Mode, bei anderen
großen Marken war das eher umgekehrt. Wir
Cour tesy Werner Bokelberg

haben die Menschen wirklich gekleidet, nicht


Cour tesy David Sims

nur Logotaschen verkauft. Aber die Ausdif-


Cour tesy Aldo Fallai

ferenzierung der Kollektion für alle Größen


und globalen Figurtypen ist unglaublich auf-
wendig gewesen. Darin steckte ein extremer
Service, wir haben die Looks für sehr viele
3 | Kampagne für +J-Kollektion 2021  4 | Unternehmerin Sander vor ihrem Haus in Pöseldorf 1980 verschiedene Körper optimal kombinierbar

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und attraktiv gemacht. Vermutlich ist das auch symbol ist, sondern durch Understatement,
ein Grund für die starke Kundenbindung. Ich Qualität und Modernität die Persönlichkeit
werde oft von Menschen angesprochen, die aller Träger unterstreicht.
sich bedanken und davon erzählen, dass sie SPIEGEL: Wie haben Firmen wie H & M, Zara
zurückliegende Jil-Sander-Entwürfe immer oder Uniqlo die Modebranche verändert?
noch tragen. Sander: Die Ladenketten haben als Alterna-
SPIEGEL: Was hat Ihnen der wirtschaftliche tive zu den stark trendorientierten Modehäu-
Erfolg damals bedeutet? sern begonnen, doch inzwischen haben sich

Jil Sander privat


Sander: Unser wirtschaftlicher Erfolg hat mir beide Seiten sehr aufeinander zubewegt. Die
gezeigt, dass wir es richtig machen. Wir waren preiswerten Ketten kopieren die Laufsteg-
ein gesundes, selbst finanziertes und schul- mode, und die Luxushäuser haben günstige
denfreies Unternehmen. In den Neunzigern Garten bei Plön Nebenlinien eingeführt. Die Tatsache, dass
sind wir organisch gewachsen, aber es kam seit den Neunzigern Mode allen zugänglich
der Punkt, an dem ich ein Joint Venture mit ist aufwendig. An meinem Garten schätze ich ist, hat das ganze System verändert. Die füh-
einem Accessoire-Spezialisten angestrebt die Geborgenheit, die Überraschungen und renden Marken haben schnell begriffen, dass
habe, um zeitgemäß zu bleiben. Wunder, die sich darin verbergen. Gärten dieser demokratische Markt, der bald zum
SPIEGEL: Welche Dinge machen Ihnen jenseits überhaupt sind schön, weil in ihnen die Viel- Weltmarkt wurde, viel interessanter für sie
der Mode und des Geschäftlichen Freude? falt ihren Platz hat und sie nicht von starken war als der kleine Kreis der Luxuskundschaft.
Sander: Ich freue mich, dass Sie voraussetzen, Monokulturen verdrängt wird. In Gärten fin- Ende der Neunziger haben viele renommier-
dass mir das Geschäftliche Freude macht, det man auch fragile, schützenswerte Krea- te Marken sich auf Accessoires konzentriert,
denn es stimmt. Als ich an die Börse ging, turen, und das ist ja eigentlich das Wesen jeder die deutlich sichtbar ihr Logo trugen. Heute
habe ich vieles meinen Beratern überlassen Kultur. stehen wir am Ende dieses Booms in der Mas-
und mich auf meine Kollektionen konzen­ SPIEGEL: Haben Sie eine Lieblingspflanze? senproduktion, weil wir die damit verbun­
triert. Doch heute lese ich den Wirtschaftsteil Sander: Die Päonie. dene Umweltzerstörung sehen, nicht zuletzt
der Zeitungen mit großem Interesse und bin SPIEGEL: Welchen Einfluss hat die japanische durch die marktmanipulierende Vernichtung
über die ökonomische Gesamtlage viel besser Kultur auf Sie? ganzer Kollektionen.
informiert. Im Übrigen habe ich an allem Sander: Großen Einfluss, sie begeistert mich. SPIEGEL: Uniqlo machte 2020 einen Jahres-
Freude, was gelungen ist. Das kann ein Als japanische Designer in den Achtziger- umsatz von rund 13 Milliarden Euro, es gibt
schlichtes, aromatisches Essen oder ein schö- jahren auf den Pariser Laufstegen erschienen, über 2000 Ladengeschäfte von Hiroshima
ner Garten sein. habe ich diese neue Tendenz hin zu mehr über Moskau bis nach Los Angeles. Ändert
SPIEGEL: Sie haben eine besondere Verbin- experimentellen Schnitten und Stoffen, zu das Ihre Herangehensweise als Designerin?
dung zur Natur. einer reduzierteren Farbpalette und zum Ver- Sander: Schon Jil Sander wurde weltweit ver-
Sander: Die Mode bringt das mit sich, als De- zicht auf Dekor als sehr hilfreich für meine kauft. Damals haben wir die Kleidergrößen
signer denkt man in klimatischen Zyklen und eigene Arbeit empfunden. Yohji Yamamoto achtsam gradiert, um alle Körpertypen ein-
ist sich der jeweiligen Wetterbedingungen spricht in Interviews davon, dass sein Design zubeziehen. Für +J werden die Prototypen
bewusst, auch wenn man zugleich die gesell- nicht von seiner Kindheit im zerbombten To- entsprechend sorgfältig durchdacht. Farblich
schaftlichen, geschichtlichen Veränderungen kio zu trennen sei. Und diese Kindheitserfah- gibt es ein Spektrum, das für alle Hauttypen
im Blick hat und etwas Neues anstrebt. Aber rung von Zerstörung und Mangel teilen wir. interessant sein kann. Gerade aufgrund von
die Natur ist auch ein stiller Raum, in dem ich Vielleicht hat es auch eine Stunde null in der Uniqlos hohem Umsatz konnte ich meinen
Kraft schöpfen kann. Unser Garten nördlich Mode gegeben. Diors New Look war 1947 anspruchsvollen Designansatz beibehalten.
von Hamburg ist ein wichtiges Element in der erste Versuch, einen Neuanfang zu defi- Denn der Umsatz verleiht dem Unternehmen
meinem Leben und war es besonders in der nieren. Doch vieles in der Mode, die nach die Kaufkraft, die es +J erlaubt, auf hohem
Pandemie, als wir nicht reisen durften. Für dem Krieg aus dem unzerstörten Paris kam, Niveau zu produzieren, ohne dass sich das in
mich ist dieser Garten auch ein Lebenswerk, knüpfte an die Couture-Tradition des Präch- den Preisen widerspiegelt.
und er hört nie auf, mich zu brauchen. Es ist tigen an. SPIEGEL: Früher haben Sie hochpreisige Klei-
eine besonders dankbare Aufgabe, mit leben- SPIEGEL: Sie haben im Herbst Ihre vorerst der in geringerer Stückzahl gefertigt, Ihre +J-
digen Pflanzen zu arbeiten, die wachsen und letzte +J-Kollektion für die japanische Firma Kollektion verfolgt ziemlich genau das Gegen-
sich verändern und in denen eine Vision auf Uniqlo entworfen. Was hat Sie daran gereizt, teil. Woher kommt dieser Sinneswandel?
ganz eigene, unvorhersehbare Weise Gestalt für diese weltumspannende Marke zu ar­ Sander: Es hat mir immer leidgetan, wenn
annimmt. Ich sehe meine Designarbeit paral­ beiten? Freunde klagten, dass sie sich mein Design
lel dazu. Sander: Das Angebot von Uniqlo war inte­ nicht leisten konnten. Bei +J begeistert es
SPIEGEL: Was macht für Sie die Schönheit ressant, weil ich Mode auf dem Qualitäts- mich, dass man sich ganz einkleiden kann,
eines Gartens aus? niveau meiner vorherigen Arbeit zu demo- während man sonst für sein Geld nur einen
Sander: Die Natur kann nichts falsch machen kratischen Preisen entwerfen konnte. Und Mantel bekam. Denn eine Kollektion ist auch
und ist uns in allem überlegen. Aber ich habe Uniqlo ist global sehr gut vernetzt, sodass ich ein Zusammenspiel.
in meiner Gartenplanung eine gewisse Stim- ein großes internationales Publikum erreiche. SPIEGEL: Gibt es heute einen globalen Ge-
mung gesucht, die mich früh in Vita Sackville- Es gehört zu meiner Mission als Designerin, schmack?
Wests Garten von Sissinghurst Castle beein- Mode für die Gegenwart anzubieten, unab- Sander: Ich weiß nicht, ob man von einem
druckt hat. Auch unser Garten besteht aus hängig von einer Weltregion. Ich meine globalen Geschmack sprechen kann. Es gibt
von Hecken abgeschlossenen Bereichen und Mode, die uns verbindet, weil sie kein Status- eher eine unausgesprochene Übereinkunft
steht insofern in der Tradition des mittelalter- des Casual-Stils. Starke Statements, die oft
lichen Marienhags. Er ist in der Struktur ein ins Theatralische gehen, findet man kaum
englischer Park, aber besitzt im Innern große mehr auf der Straße, sondern nur auf Events,
Harmonie. Er besteht aus farblich geordneten in den sozialen Medien und der Klubwelt.
Rosengärten, einem Schnitt- und einem Kräu- »Wir stehen am Ende In Zeiten der Vielfalt werden Geschmacks-
tergarten, der auch aus der Klostertradition
kommt. Es gibt nicht mehr viele solcher förm-
des Booms der diskussionen eher vermieden. Und doch er-
kennt jeder durchdachte Kleidung.
lichen Gärten in Europa, denn deren Pflege Massenproduktion.« Interview: Claudia Voigt  n

106 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Erlebe den Südtiroler Frühling, wie ihn auch die Südtiroler selbst genießen:
bei milden Temperaturen und einem Aperitivo in der Abendsonne mit Freunden. Ganz ohne Trubel.

Mehr Frühlingserlebnisse auf suedtirol.info


KU LT U R

Marica, vor einer Woche schon hatte man


sich in der Stadt erzählt, die Taliban nähmen
jetzt die Jungen mit. Ohne die Familien zu
informieren, nähmen sie die Jungen und die
jungen Männer mit und machten sie zu
Kämpfern für den Dschihad, für den »Weg
Gottes«. Ich hatte davon nichts mitbekom­
men. Meine Tochter ist gerade 13 Jahre alt
geworden. Aus Angst, sie zu verlieren, war
ich mit meiner Familie die ganze Woche über
von einem Ort zum nächsten gezogen. Um
meine Tochter in Sicherheit zu bringen, hat­
te ich immer wieder den Ort wechseln müssen
und kaum geschlafen. So habe ich nicht ahnen
können, dass neben der Angst, man könnte
meine Tochter mit einem alten Mann ver­
heiraten, bereits eine weitere Katastrophe
heraufgezogen war. Als ich gestern morgen
mit meinem Sohn losging, um Brot zu kaufen,
hielt plötzlich ein Geländewagen der Taliban
samt den weißen flatternden Flaggen, auf

Wakil Kohsar / AFP


denen sie den Namen Gottes tanzen lassen,
neben uns. Einer der Kämpfer sprang von
Frau in Kabul
dem Wagen hinunter. Inmitten des Laubes,
das den harten Asphalt bedeckte, und inmit­
ten der schneidenden Luft, die einen kalten
Winter ankündigte, wollten sie meinen Sohn
zwingen, sich ihnen anzuschließen. Als sie

Jede Sekunde teuer


nach meinem Sohn griffen, fielen die warmen
Brotlaibe, deren duftender Dampf die Luft
erfüllte und die er im Arm gehalten hatte, zu

bezahlt
Boden.
Wie das Lamm vor dem Wolf starrte er
mich an, aus seinem zitternden Blick schrie
es vor Angst: »Mutter!« Und ich, mit meinem
Kopf ohne Worte und Beinen, die drohten,
ZEITZEUGINNEN  Eine Psychologin berichtet aus Kabul. Von Batool unter mir nachzugeben, ich blickte bloß hoff­
nungslos den Kämpfer an. Ich weiß nicht wie,
Marica, aber irgendwie schrie ich mir inner­
Die Afghanin Batool hat vor der Machtüber- Mir zittern die Beine, und in meinem blassen lich selbst zu: Wach auf! Beweg dich! Hier
nahme der Taliban als Autorin gearbeitet und Gesicht rauscht das Blut – als läge es noch wird jede Sekunde teuer bezahlt, du darfst
an der Universität Kabul Psychologie gelehrt. keinen Tag zurück, dass einer der Taliban­ nicht eine davon aus der Hand geben! Und
Dort hat sie sich besonders für Frauenrechte kämpfer auf der Straße nach meinem Sohn mit einem Mal ergriff ich fest den anderen
und die LGBTQI-Commu­nity eingesetzt. Nach griff. Während er meinen Sohn zu sich zog, Arm meines Sohnes und zog ihn zu mir. Es
ihrer Flucht aus Afghanistan lebt sie mittler- grinste er mich schamlos an. Er zeigte auf den war, als würde ich, ganz allein, die Schwere
weile mit ihrer Familie in Rom. Ihr Anfang Geländewagen hinter sich, weitere Taliban­ und Entsetzlichkeit gewaltiger Meeresfluten
Januar fertiggestellter Text ist Teil des Online- kämpfer warteten dort. Er sagte mir: »Dein auf mich ziehen. Mein Sohn war wieder an
Literaturprojekts »Untold – Weiter Schreiben Sohn wird sich den Taliban anschließen, wir meiner Seite. Mit der anderen Hand gestiku­
Afghanistan« (www.weiterschreiben.jetzt), in schicken ihn nach Pandschir, damit er dort lierte ich in Richtung des Kämpfers. »Nein!«,
dessen Rahmen Geflüchtete mit deutschspra- den Dschihad unterstützt, so Gott will.« Und rief ich. »Nicht jetzt!«
chigen Autorinnen korrespondieren. Batools ich fühlte, wie mir alles Leben aus dem Körper Der Talib war überrascht. Er trug ein um
Briefpartnerin ist die Schriftstellerin Marica wich. Ich fühlte mich wie ein Schwebeteil­ den Kopf gewickeltes Tuch, seine Augen
Bodrožić. chen. Ohne Handlungsmöglichkeiten, ohne ­waren mit schwarzblauer Schminke um­
Macht, selbst eine Richtung vorzugeben. Ich randet. Wortlos wechselte er sein Gewehr
Marica! Wie geht es Dir? fand in mir keine Worte, konnte ihn nicht ein­ von der einen in die andere Hand. Bevor er
Ich las Deinen Brief und habe dann stun­ mal ­anflehen oder ihm widersprechen. Ich weitere Schlüsse ziehen konnte, sagte ich
denlang dagelegen und an die Decke gestarrt. wusste nicht, was ich tun sollte. Ich fühlte bloß ihm: »Der Vater des Jungen ist krank. Wir
Ich lauschte dem unregelmäßigen Knistern in meine Beine zittern und wie der Winter in müssen ihn gemeinsam zum Arzt bringen.
den Stromkabeln, die leblos aus der Decken­ mir einzog und dass er bleiben würde. Aber seien Sie ganz ohne Sorge, sobald der
leuchte über mir herausquellen, während Vater dort ist, bringe ich Ihnen meinen Sohn
kontinuierlich Sätze aus Deinem Brief in mei­ persönlich vorbei. Ich übergebe Ihnen meinen
nen Gedanken vorüberzogen. Sohn, damit er sich auf den Weg Gottes be­
Marica, irgendwie muss ich es schaffen, gibt. Ich gebe Ihnen mein Wort, ich bringe
dieses verfluchte Bett zu verlassen. Ich muss Ihnen meinen Sohn …« Ich sah dem Taliban­
aus diesem Zimmer verschwinden und weit In der Stadt hieß es, kämpfer fest in die Augen. Ohne etwas zu
weg von hier gehen. Sehr weit weg. Weißt Du,
Marica, ich denke, dieses Mal muss ich den
die Taliban nähmen sagen, ging dieser zum Geländewagen zu­
rück. Mit dem Kopf bedeutete er mir, dass er
Mittleren Osten wirklich verlassen, für immer. jetzt die Jungen mit. warten würde.

108 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


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Marica! Erst als sich der Geländewagen


entfernte und an der nächsten Kreuzung ver­
schwand, wurde mir bewusst, dass sie meinen
Sohn nicht mitnehmen würden, und ich brach
zusammen. Meine Knie konnten die Last der BELLETRISTIK SACHBUCH
Angst, die mich plötzlich überströmt hatte,
nicht mehr tragen. Sie wollten so viel Unter­ Der türkische Literatur­ Der Autor schrieb
drückung und Leid nicht länger dulden. Mein nobelpreisträger erzählt die Biografien
Sohn beugte sich über mich und weinte ganz davon, wie im Jahr 1901 von Stars wie Jan Fedder
auf der Mittelmeerinsel und Didi Hallervorden,
leise. Er interessiert sich leidenschaftlich für Minger die Pest aus­ nun porträtiert er
Mathematik und möchte einmal ein erfolg­ bricht – und sich Mus­ den 100-jährigen
reicher Arzt werden. Aber hier, auf dem toten lime und Christen ­Stalingrad-Überlebenden
gegenseitig die Schuld Hans-Erdmann
Mutterboden dieses Landes, soll er sich statt­ daran geben. | Platz 5 ­Schönbeck. | Platz 1
dessen ein Gewehr auf die Schultern hieven
und in den Krieg ziehen.
Und das alles für Überzeugungen, die die 1 (10) Yasmina Reza 1 (2) Tim Pröse
Serge Hanser; 22 Euro »… und nie kann ich vergessen« Heyne; 18 Euro
Welt nur noch düsterer machen werden. An
der Seite der Aasgeier soll er für noch mehr 2 (7) Bernhard Schlink 2 (1) Navid Kermani Jeder soll von da, wo er ist,
Zerstörung in der Welt kämpfen. Noch mehr Die Enkelin Diogenes; 25 Euro einen Schritt näher kommen Hanser; 22 Euro
Zerstörung, noch mehr Tod. Dabei sollten
doch seine einzigen Schützengräben Wissen­ 3 (8) Nele Neuhaus 3 (7) Klaus von Dohnanyi
schaft und Forschung sein. Und sein einziger In ewiger Freundschaft Ullstein; 24,99 Euro Nationale Interessen Siedler; 22 Euro

Kampf der für Bildung und eine fruchtbare 4 (1) Michel Houellebecq 4 (4) Florian Illies
Zukunft. Ich bin mit meinem Sohn nach Hau­ Vernichten DuMont; 28 Euro Liebe in Zeiten des Hasses S. Fischer; 24 Euro
se gerannt und habe mit meinen beiden Töch­
tern gleich wieder den Ort gewechselt, bin 5 (–) Orhan Pamuk 5 (6) Hape Kerkeling
um ein weiteres Mal an einem fremden Ort Die Nächte der Pest Hanser; 30 Euro Pfoten vom Tisch! Piper; 22 Euro
in einer mir immer fremder werdenden Stadt
untergekommen. 6 (5) Juli Zeh 6 (5) Marianne Koch
Über Menschen Luchterhand; 22 Euro Alt werde ich später dtv; 18 Euro
Marica! Ich habe das Bett verlassen. Ich
habe den letzten Satz Deines Briefes noch 7 (3) Edgar Selge 7 (9) Daniel Schreiber
einmal gelesen, es war das Zitat von Viktor Hast du uns endlich gefunden Rowohlt; 24 Euro Allein Hanser Berlin; 20 Euro
Frankl, dem Psychiater, der Auschwitz über­
lebt hat: »Der Mensch ist das Wesen, das 8 (6) Carsten Henn 8 (3) David Wengrow / David Graeber
­immer entscheidet, was es ist!?« Der Buchspazierer Pendo; 14 Euro Anfänge Klett-Cotta; 28 Euro
Und ich entscheide – stärker als alle Ge­
9 (2) Martin Suter 9 (8) Manfred Krug Ich sammle mein
genkräfte –, dass ich aufstehen werde von Einer von euch Diogenes; 22 Euro Leben zusammen Kanon Verlag; 22 Euro
diesem Bett. Und so werde ich auch diesen
Ort verlassen können. Das Land. Meine g­ anze 10 (9) Susanne Abel 10 (10) Hendrik Bolz
Vergangenheit. Ich muss alles, was ich besitze, Stay away from Gretchen dtv; 20 Euro Nullerjahre Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
und alles, was ich aufgebaut habe, zurück­
lassen und mich, bepackt mit einer müden 11 (11) Sebastian Fitzek 11 (18) Helge Timmerberg
Seele und Angst vor einer Zukunft, in der für Playlist Droemer; 22,99 Euro Lecko mio Piper; 20 Euro

mich noch alles im Dunkeln liegt, weiter­ 12 (–) Fatma Aydemir 12 (14) Bettina Flitner
schleppen. Ich muss weiter, weiter, weiter. Bis Dschinns Hanser; 24 Euro Meine Schwester Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
ich zu einem Ort gelange, an dem ich diesem
Nichtsein, diesem Nichtgewesensein, wieder 13 (4) Jürgen von der Lippe 13 (15) Anne Fleck
ein Werden, eine Lebendigkeit verleihen, Sex ist wie Mehl Penguin; 18 Euro Energy! dtv; 25 Euro
es – mit den Worten Frankls – mit Sinn ver­
14 (–) Sarah J. Maas House of 14 (13) Laura Malina Seiler
binden kann. Wo ich grünen, wachsen und Sky and Breath
wurzeln kann, und das alles nicht allein, son­
Bloomsbury Publishing; 21 Euro Zurück zu mir Rowohlt; 15 Euro

dern mit allen meinen Kindern. 15 (18) Kirsten Boie Heul doch nicht, 15 (–) Christiane Hoffmann
Meine ganze Zukunft lang und mit jedem du lebst ja noch Oetinger; 14 Euro Alles, was wir nicht erinnern C. H. Beck; 22 Euro
neuen Morgen werde ich wachsen. Ich werde
ein großer Baum sein, mit starken Wurzeln, 16 (12) Jussi Adler-Olsen 16 (–) Massimo Bognanni
die die Erde durchziehen, sodass weder Sturm Natrium Chlorid dtv; 25 Euro Unter den Augen des Staates dtv; 20 Euro
noch Flut ihn erschüttern können. Danke, 17 (–) Ali Hazelwood
Marica, dass Du mir diesen Brief rechtzeitig 17 (–) Robert F. Kennedy
Die theoretische Unwahrscheinlichkeit Das wahre Gesicht des Dr. Fauci Kopp; 29 Euro
geschickt hast. Er ist für mich zu einem Licht­ der Liebe Rütten & Loening; 16,90 Euro
fenster geworden, in dem ich mein Gesicht, 18 (–) Michael Sommer
wie die Sonnenblumen, dem Sonnenschein 18 (13) Monika Helfer Dark Rome C. H. Beck; 23 Euro
zuwenden kann. Löwenherz Hanser; 20 Euro

Wirklich, Marica. Wünsche Dir etwas für 19 (–) Elke Heidenreich


19 (16) Matt Haig Hier geht’s lang! Eisele; 26 Euro
mich. Wünsche mir die Kraft, weiterzuma­ Die Mitternachtsbibliothek Droemer; 20 Euro
chen. Wünsche mir, nicht müde zu werden.
20 (17) Boris Herrmann / Andreas Wolfers
Dass ich den Mut nicht verliere. Dass ich 20 (17) Ronja von Rönne Allein zwischen Himmel und Meer
­weitergehe. Weiter, weiter, weiter. Ende in Sicht dtv; 22 Euro  C. Bertelsmann; 24 Euro
Bete für mich, Marica.  n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 109


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Im Kampf mit dem Drachen


AUTORINNEN  Warum Doris Dörries Filme und Romane für junge Frauen so beeindruckend sind

J
ede gute Geschichte braucht feuerspeienden Drachen eines Frau­ 1985 sahen über fünf Millionen
einen Konflikt. Der muss gar enlebens, Vergleich, Urteil und Ver­ Zuschauerinnen und Zuschauer ihren
nicht groß sein, der Held sollte letzung. Oder? Kinoerfolg, »Männer«. Dörrie war
aber mindestens ein bisschen da­run­ Es ist seltsam, Dörrie zu treffen, gerade 30 Jahre alt, fast so alt wie ich
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

ter leiden. Meistens zieht er aus, ihn wenn man ihre Memoiren kennt. Ob­ jetzt. Der Film trieb ihre Karriere an,
zu lösen, und kehrt dann siegestrun­ wohl man ihr noch nie begegnet ist, brachte sie auf den SPIEGEL-Titel und
ken und testosterongeladen heim. weiß man bereits ziemlich viel über nach Hollywood. Auch Heiner Lau­
Ende. Aber was ist, wenn es um eine sie. terbach und Uwe Ochsenknecht pro­
Heldin geht? Und deren Problem Man hat gelesen, wie sie die erste fitierten von den zwischen starren
nicht so offensichtlich ist wie ein feu­ Nacht nach der Geburt ihrer Tochter Maskulinitätskonzepten irrlichtern­
Hof, 31, ist Redak- erspeiender Drache? Dann wird es hellwach lag, bereit, das Kind zu den Figuren, die sie ihnen schrieb.
teurin im SPIEGEL- schon komplizierter, echter, womög­ ­verteidigen, sollte jemand es stehlen Wer den Film heute sieht, muss fest­
Kulturressort. lich auch weiblicher. »Dann wird es wollen. Wie sie auf der Flucht vor stellen, dass beide vielleicht nie wie­
ambivalent und damit wahrhaftig«, einem kläffenden Hund als Kind der so gut waren wie unter ihrer Re­
sagt Doris Dörrie. einen herrlichen Samtrock zerriss. gie. Schade, dass der Film in der
Als die Schriftstellerin und Filme­ Wie sie sich ihre Nase unter Einfluss Gegenwart kaum eine Rolle spielt.
macherin aus Hannover aufbrach, um von reichlich Bommerlunder mit Dabei ist er noch immer recht pro­
ihren Drachen zu erlegen, war ich einer heißen Nadel durchstechen ließ. gressiv. Ein bisschen plakativ zwar,
noch lange nicht geboren. Ich bin erst Wie sie mit ihrem ersten Mann gegen aber in der Persiflage von Gender­
auf ihr Werk gestoßen, als ihre Biblio- eine todbringende Krankheit kämpf­ stereotypen treffend.
und Filmografie bei Wikipedia schon te. Dörrie hat die Leserinnen und Das gilt auch für viele weitere
ein bisschen unübersichtlich wurden, ­Leser zu den Höhen und Tiefen ihres ­Filme und Romane von Dörrie. Wer
2019, durch Dörries autobiografi­ Lebens geführt und sie dabei zu sie mit den Augen einer jungen Frau
schen Text »Leben, schreiben, at­ Freunden gemacht. Auch mich, eine von heute ansieht, entdeckt ein
men«, der eigentlich eine Anleitung Frau aus einer ganz anderen Gene­ ­vielfältiges Werk. Und wundert sich,
zum Selberschreiben sein will. Darin ration. wie furios Dörrie sich immer schon
lernt man eine zarte, sehnsüchtige, Sie habe es lange nicht geschafft, mit Identitätsarbeit und dem Frau­
leidende, liebevolle, rastlose Frau so autobiografisch und direkt zu sein beschäftigt hat. Denn obwohl
kennen. Eine, die weiß, wie barba­ schreiben, erzählt sie nun, in der Ca­ Dörrie gern die »Männer«-Kennerin
risch diese Welt sein kann. Eine, die feteria der Hochschule für Fernsehen genannt wurde, vor allem ihre Frau­
trotzdem lebt. Und zwar gern. Der und Film München, wo sie Drehbuch enfiguren sind aus heutiger Sicht
Text wanderte zwischen den Zim­ lehrt. »Es ist ein langer Weg, zu er­ ­innovativ.
mern meiner Mitbewohnerinnen und kennen, dass man nicht mehr verletzt Etwa die blauhaarige Anna Blume
meinem hin und her. wird, wenn man ehrlich von sich in »Mitten ins Herz«, die um die Lie­
Es gelingt Dörrie so gut, die Fa­ selbst berichtet«, sagt Dörrie. Verletzt be eines passiven, eiskalten Mannes
cetten ihres eigenen Lebens wie durch werde man als Künstlerin sowieso. kämpft. Und ihn, nachdem sie sogar
ein Kaleidoskop zu betrachten, in Von negativen Kritiken oder einem ein Kind für eine Zukunft mit ihm
kleinen, bunten Episoden, dass nun fehlenden Publikum. Wer einige Film­ stahl, umbringt. Oder die erotische
innerhalb weniger Jahre bereits das rezensionen liest, weiß: Dörrie hat Lotte aus »Paradies«, die so un­
dritte Buch dieser Art erscheint, »Die beides erlebt. »Wenn man aber etwas gezwungen, ja egoistisch durch ihr
Heldin reist«. Darin nimmt ­Dörrie die Echtes von sich herzeigt, etwas Fra­ Leben geht, dass die konventionelle
Leserinnen und Leser mit auf ihre giles, wird man durchaus mit Kontakt Gesellschaft sich in Form eines ein­
Reisen in die USA, nach Marokko belohnt.« Etwa zu einer neuen Gene­ gerosteten Ehepaars an ihr rächt. Die
und in ihr Sehnsuchtsland Japan. ration von Leserinnen und Lesern, dicke Friseuse Kathi, die mit so viel
Aber eigentlich geht es wieder um sie. meiner, für die Dörries Durchbruch Kraft durch diese aufs Schlanksein
Und mehr noch um ihr Frausein. weit vor der Geburt liegt. fixierte Welt waten muss, dass sie
Wer sich mit Dörrie verabredet, selbst bisweilen ungerecht wird. Oder
erkennt sie sofort. Die kurzen blon­ Trudi, in »Kirschblüten Hanami« sen­
den Haare fliehen ihr in verschiede­ sibel von Hannelore Elsner gespielt,
nen Richtungen vom Kopf, die Nase
ziert eine auffällige Brille, an den Oh­
»Es ist mir unerträglich, in deren Haut sich gleich mehrere
Frauen verstecken, die nicht dazu
ren baumeln blaue Kristalle. Dazu so lange Gewalt hin­ kommen, ihre Träume zu leben.
trägt sie eine grasgrüne Hose und sil­ Und dennoch hat sich Dörrie ein
berne Schuhe. Mutig. So sieht eine genommen zu haben.« bisschen hinter diesen Figuren ver­
Frau aus, die keine Angst hat vor den Doris Dörrie steckt, glaubt man. Erst in ihren auto­

110 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


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biografischen Texten zeigt sie sich Eines, mit dem man sie an jedem Zei-
selbst mit ihren Macken und Narben, tungskiosk vergleichen konnte. Und
ihrem eigenen Frausein, das sie als wie gern Menschen das mit Frauen-
fluide definiert. »Die subjektive bildern tun, weiß jede Frau mit einem
Wahrheit von uns allen ist doch, dass Profil in den sozialen Medien. »Plötz-
wir uns nicht ständig als Mann oder lich habe ich mich gefragt: Wie sehe
Frau empfinden, sondern uns in Zwi- ich in der Öffentlichkeit aus? Und wie
schenräumen aufhalten.« Vielleicht nehmen mich die Menschen über-
hat sie das deshalb auch gleich auf die haupt wahr? Das war hart.« Es habe
Form übertragen: Sie erzählt nicht unwiderruflich ihre Selbstwahrneh-
linear, sondern in Kreisen. Assozia- mung verändert. Und ein Stück Frei-
tionen verbinden lose Orte, Zeiten heit gekostet.
und Identitäten. Ein Schreibstil, der Wer sich ihr Werk retrospektiv an-
sich gut einfügt in den Sound der sieht, stellt fest, dass sich darin aber
Gegenwart. Ein Gegenentwurf zum doch einiges verändert hat. Das Büh-
Monomythos der männlichen Hel- nenhafte hat sich ausgewaschen. Lässt
denreise. Dörrie ihre Schauspieler etwa in
Dabei dürfte Dörrie in der frühe- »Nackt«, einer schmerzhaften Bezie-
ren Männerdomäne Kino selbst eini- hungskomödie aus dem Jahr 2002,
gen Drachen die Köpfe abgeschlagen über ihre Beziehungen schwadronie-
haben. Es braucht jedenfalls nicht viel ren, sagen sie darin mit heiligem Ernst
Fantasie oder Gedanken an #MeToo, Dinge wie »Ich zeige dir andauernd
um sich vorzustellen, wie schwierig meine Seele, und du guckst gar nicht
es gewesen sein dürfte, als junge Frau hin« oder »eine gute Liebesgeschich-
ein Drehbuch an die meist männli- te ist eine kurze Liebesgeschichte«.

Mathias Bothor / photoselection


chen, ältlichen Produzenten zu ver- Sätze wie diese bleiben aufgepumpt
kaufen. Oder? in der Luft hängen, ehe sie zu Boden
»Ich habe damals nicht so viel über sinken.
mein Frausein nachgedacht«, erzählt In ihren autobiografischen Texten
Dörrie. Und hätte sie die Grenzen für aber blickt sie auf ihr Leben als Frau
Frauen erkannt, die es noch immer in zurück, ohne es stark zu dramatisie-
der Filmbranche wie der Gesellschaft ren. Und das macht manchmal sehr
gibt, wäre sie dann überhaupt so ent- beklommen. In »Die Heldin reist«
schlossen gewesen, diesen Männer- Hierarchie bedrohte«, fragt sie, »oder Regisseurin Dörrie: zitiert sie direkt aus Tagebucheinträ-
beruf zu ergreifen? Dörrie zuckt die mit einer jungen, lustigen Frau?« Die »Ambivalent und gen und Briefen ihres jüngeren Ichs.
damit wahrhaftig«
Schultern. »Vielleicht war es auch Antwort ist klar. Dass das gleichsam Darin erzählt es, wie es sich an der
eher ein Vorteil«, sagt sie. Manchmal bedeutete, nicht allzu ernst genom- toxischen Liebe eines Mannes ab-
stößt auch positive Diskriminierung men zu werden, auch. arbeitete. »Oft habe ich das Gefühl,
eine Tür auf, die sonst verschlossen Dörrie, so erzählt sie es selbst, hat dass er mich eigentlich gar nicht mag,
bliebe. sich unter einer Narrenkappe aus was er verneint, aber verhält sich so:
Witz und Chuzpe versteckt. Das war redet nicht mit mir, schaut mich nicht

A
ls sie sich mit Anfang zwanzig vielleicht die einzige Chance, eine an, reagiert nicht auf mich, starrt vor
an der Filmhochschule für die Heldinnenreise anzutreten. Oder sich hin«, schreibt es, »ich bin so un-
Regieklasse bewarb, sei sie nur doch bloß Kalkül? glücklich und ich weiß nicht, wie ich
deshalb aufgenommen worden, weil Wer sich das Titelbild des SPIEGEL da rauskommen soll.«
sie in Hotpants und mit braun ge- ansieht, das sie 1986 zeigt, erkennt Als die junge Frau es dann doch
brannten Beinen zur Aufnahmeprü- sie darauf kaum. Dörrie, mit stark schafft, versucht er, sie umzubringen.
fung erschienen sei. Das habe ihr verfremdeten Augenbrauen und tou- Eine Episode, die Dörrie viele Jahr-
Professor später jedenfalls gern er- pierten kurzen Haaren, ein verwege- zehnte tief in sich vergrub. »Es ist mir
zählt, schreibt Dörrie in ihrem neuen nes Lächeln im Gesicht, stützt sich unerträglich, so lange Gewalt hinge-
Buch. »Brav lachte ich jedes Mal, jovial auf einen nackten Mann mit nommen zu haben«, schreibt sie aus
wenn er diese Anekdote zum Besten Affenkopf. Die Aufnahme einer der Gegenwart. »Ihr nicht viel früher
gab.« Dörrie fächert die Facetten von selbstsicheren, ja selbstgewissen Frau. entflohen zu sein. Aber ich hatte kein
Sexismus und dickhodiger Süffisanz Dazu schreibt Hellmuth Karasek, der Wort für sie. Ich wollte sie nicht als
klug auf, ohne sich dabei zu viktimi- Autor des Titelstücks, Dörrie »mit das benennen, was sie war. Wenn ich
sieren. Das macht ihre Texte so reiz- sehr kurzen Haaren und sehr langen sie nicht benenne, dachte ich, ist sie
voll, auch und gerade für junge Frau- Beinen« nutze »ohne auch nur ein nicht wahr.«
en wie mich. Denn hatte sie die Hot- Achselzucken darauf zu verwenden, Ihr junges Ich, dem Leben und
pants, wenn auch bloß unterbewusst, die Vorteile, die schlechtes Gewissen der Liebe gegenüber furchtlos und
nicht vielleicht genau deshalb aus- und Courtoisie der Pascha-Gesell- naiv, steht gleichberechtigt neben
gewählt? schaft des Kulturbetriebs energischen dem einer 66-jährigen Frau, die sich
Dörrie blieb über weite Strecken Frauen bieten«. Eine Watsche, ver- fragt, wie viele Filme sie noch drehen
eine der wenigen erfolgreichen Frau- packt als Kompliment. darf, ehe ihre Daseinsberechtigung in
en in dieser Männerwelt. Mit Benach- »Das war erschreckend für mich«, der medialen Aufmerksamkeitsöko-
teiligung will sie nicht kokettieren. sagt Dörrie heute. Wegen dieses Titels nomie verwirkt ist. Mit beiden fühlt
»Mit wem wollten ältere Produzenten sei sie in die USA geflohen. Es sei das man mit, obwohl sie kein Mitleid
damals wohl lieber zusammenarbei- erste Mal gewesen, dass die Öffent- ­benötigen.
ten? Mit einem Mann, der sie in ihrer lichkeit ein Bild von ihr gehabt habe. SPIEGEL-Titel 45/1986 Elisa von Hof n

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 111


KU LT U R

Lautstarke Mundtote
KARRIEREN  Die Kabarettistin Lisa Fitz ließ sich stets als Kämpferin gegen die Konventionen feiern.
Mittlerweile wähnt sie sich als verfemte Aufdeckerin von Verschwörungen der Reichen
und Mächtigen. Beifall bekommt sie dafür von den ganz Rechten, den ganz Linken und den ganz Verwirrten.

E
s muss ein gutes Gefühl sein, die einzige und Kollegen, die anderen Kabarettisten? genannten alternativen Medien, im rechten
Leuchte zu sein in finsterer Zeit. »Wenn »Bücklinge des Systems« oder »Pros­­­ Verschwörungsmagazin »Compact«, im
Satire wieder frei ist und darf, was Sa- tituierte«, schreiben ihre Fans. Findet auch Kremlsender RT DE oder vom professionellen
tire darf, nämlich alles, dann werden Sie die Fitz: Daumen hoch. Corona-Umdeuter Boris Reitschuster. Die
erste sein, die man wieder engagieren wollen Nach ihrem Abgang beim SWR wegen ir- »taz« hingegen titelte: »Schwurbelei in der
wird«, schreibt jemand auf der Facebook-­ reführender Äußerungen zu Corona-Impf- ARD«, »Focus« bezichtigte sie der »Impf-
Seite von Lisa Fitz, und der gefällt diese Pro­ toten wird Fitz von ihrer Internetgemeinde Lügen«. Fitz selbst sieht sich als Opfer einer
gnose. Sie versieht den Eintrag mit dem Dau- gefeiert als mutige Verkünderin der Wahrheit. »Inquisition«, meint, dass die Presse sie »ver-
mensymbol, einem Like. Ihre Kolleginnen Bejubelt wird die 70-Jährige auch in den so- nichten« wolle. Die Frau, die seit mehr als
40 Jahren auf Deutschlands Kabarettbühnen
und im Satirefernsehen präsent ist, die einst
bei »Scheibenwischer« auftrat und den Bay-
erischen Verdienstorden hat, ist zur Sym­
bolfigur geworden für die derzeit so viel dis-
kutierte Spaltung der Gesellschaft. Und sie
spaltet selbst: Sie will differenzierte Kritikerin
sein und bedient doch immer wieder ganz
simpel die Radikalisierten.
Im Januar war es zwischen der Kabaret-
tistin und dem SWR zum Eklat gekommen
und zu einem singulären Ereignis im deut-
schen Satirefern­sehen: Der Sender winkte
einen Beitrag von Fitz für die Sendung »Spät-
schicht« vom 10. Dezember erst durch, bei
der Aufzeichnung distanzierte sich Gastgeber
Florian Schroeder dann aber von der Mei-
nung der Satirikerin. Nach der Ausstrahlung
verteidigte der Sender den Beitrag zunächst
als Meinungsäußerung, rückte später aber
doch ab, weil es sich um eine falsche Tatsa-
chenbehauptung gehandelt habe, und nahm
den Beitrag schließlich aus der Mediathek.
Daraufhin sprach Fitz von Vertrauensbruch
und warf bei der »Spätschicht« hin, wo sie
viele Jahre lang regelmäßig Stammgast ge-
wesen war.
Streitpunkt war vor allem eine Zahl. Fitz
hatte behauptet, das Europäische Parlament
beantrage einen Entschädigungsfonds für Op-
fer von Corona-Impfungen: »Für 5000 Men-
schen leider zu spät. Da waren die Folgen
durch die Covid-19-Impfstoffe tödlich.« Bei-
des stimmt nicht, war schon Wochen vorher
in einschlägigen Foren behauptet und von
Michael Tinnefeld / AGENCY PEOPLE IMAGE

anderen Medien widerlegt worden.


Immer wieder relativierte Fitz – und legte
gleichzeitig nach. »Ich bin keine Impfgegnerin
und keine Coronaleugnerin«, bekräftigt sie,
die nach eigenen Angaben selbst geimpft ist.
Sie räumt einen »Fehler« ein, den sie im
nächsten Statement zum »Formfehler« ver-
kleinert. Zugleich argumentiert sie arg schräg,
dass ihre Zahl nicht »nachweislich falsch« sei,
Künstlerin Fitz 2019: Symbolfigur für die derzeit so viel diskutierte Spaltung der Gesellschaft weil ja niemand die genaue Zahl kenne. Und

112 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


KU LT U R

sie bekräftigt seitdem immer wieder auf Face- paar Jahre später. In ihrer Autobiografie, die
book, dass die Zahl der Impftoten »ziemlich zu ihrem 60. Geburtstag erschien, erzählt sie
sicher weit höher« sei. süffisant, wie sie als junge Sängerin Franz Josef
Lisa Fitz ist eine freundliche Frau. Sie Strauß zum Essen traf und er sie danach in
spricht ruhig, lässt andere ausreden. In einem einer offenbar eigens für solche Zwecke an-
ausführlichen Telefonat mit dem SPIEGEL gemieteten Münchner Wohnung unzweideutig
nimmt sie Stellung zu Kritik. Sie wolle Mah- angemacht habe, dabei »dampfte wie ein Stier
nende sein, unabhängiger Freigeist, ohne La- bei der Brunft«. Doch sie war enttäuscht, dass
gerdenken, bereit zum Diskurs, sagt sie. Doch die Medien heiß waren auf den geilen Strauß
dann will sie nur zitiert werden, wenn sie den und sich zu wenig mit den tieferen Erkennt-

Frank Hoemann / SVEN SIMON


gesamten Text vorher absegnen darf. Schließ- nissen in ihrem 400-Seiten-Werk befassten.
lich zieht Fitz alle Zitate zurück. Sie habe Hin- Seit 2007 wandte sich Fitz mehr und mehr
weise darauf, jemand aus der Chefetage vom feministisch gesellschaftspolitischen Ka-
des SWR habe in der Chefetage des SPIEGEL barett ab. Frauenthemen und die Provokatio-
einen kritischen Text über sie bestellt. Lisa nen als sexy Kraftweib hatten sich für sie tot-
Fitz wähnt sich als Opfer einer Verschwörung. gelaufen. Schon immer an der Friedensbewe-
Für den Münchner Kabarettisten Michael Geehrte Fitz, Ministerpräsident Söder 2019
gung interessiert, ging es ihr jetzt um die
Altinger, der ebenfalls bei der umstrittenen ganze Welt. Sie beschäftigte sich mit Krieg
»Spätschicht«-Sendung aufgetreten war, war mung. Sie wollte beides verkörpern, Heilige und Öl, mit Rüstung und Korruption, mit der
das mediale Echo nach der Ausstrahlung kei- und Hur, Hirn und Sex. Sie rief auf der Büh- Macht des Geldes. Und immer öfter auch mit
ne Überraschung: »Mich wundert, dass sie ne zur Vielmännerei auf, gab die Domina im den Dingen, die im Hintergrund und ganz
sich wundert. Es ist klar, auf welche Mühlen Lederkorsett. Gegen Prüderie und Obrigkeit, weit oben ablaufen oder abzulaufen scheinen.
Lisa Fitz da Wasser gegossen hat. Ihr Beitrag für Freiheit und Gleichheit. 1996 war sie in Mit den angeblichen Geheimnissen, von
hätte wohl auf einer ›Querdenker‹-Demo gro- der üppigen Rockrevue »Kruzifix« die wü- denen wir nichts wissen sollen oder wollen
ßen Beifall gefunden.« Altinger sieht in dem tende Mutter Gottes im goldenen Kleid, die oder beides. Dazu gehört der Topos vom Nor-
Beitrag eine »politische Wut­rede« mit ein- zum Streit um Kruzifixe an bayerischen Schu- malo, der zu faul und zu dumm ist, um die
deutiger Botschaft: »Die Grundaussage war len sagte: »Wenn ich abgetrieben hätte, hätten Wahrheit zu erkennen. Und das Selbstver-
für mich: Die Politiker sind korrupt, der Wis- die gar nichts zum Abhängen.« Auch hier: ständnis, selbst mehr recherchiert, mehr ge-
senschaft kann man nicht glauben, und ob Empörung von Katholiken, Anzeigen wegen lesen und mehr verstanden zu haben.
Impfen gut ist, steht doch sehr in den Wolken. Blasphemie. Gegenwind, den sie als Aufwind Ein Wendepunkt war das Jahr 2016. Ein
Das ist ihre Meinung, die darf man bei uns nahm. Fitz genoss die Rolle der Tabubrecherin. Auftritt in der SWR-»Spätschicht« brachte Fitz
haben, auch im SWR. Aber man sollte nicht Dieter Hildebrandt förderte sie. Zugleich woll- über YouTube ganz neue Zielgruppen. Sie
überrascht oder gar beleidigt sein, wenn die te sie immer anders sein als das kopfgesteuer- schmeißt ihre bunte Hippiehose in die Ecke,
Reaktion entsprechend groß ist.« te Männerkabarett. »Das traditionelle Zeige­ nennt die Nato »Kartenhaus des S ­ atans«. Die
Kritik ist Lisa Fitz seit Jahrzehnten ge- finger-Kabarett gefällt mir nicht«, sagte sie Deutschen seien in »Sippenhaft der Nato-Ma-
wohnt. Sie hat immer provoziert und den 1994 im Gespräch mit dem S­ PIEGEL. »Das fia«. Das war der Weckruf für den esoterischen
Gegenwind ausgehalten – und auch genossen. ist doch meistens nur selbstverliebte Verbal- ­Ver­­schwörungstheoretiker Heiko Schrang, der
Sie entstammt einer bayerischen Künstler- Akrobatik.« sie begeistert zum Interview in seinen Kanal
familie, aus der Kabarettisten, Musiker und Fitz lebte, was sie auf der Bühne verkör- bat. Im selben Jahr gab sie auch zum ersten
Schauspieler hervorgegangen sind. Ihr Vater perte, war der Liebling des Boulevards. In Mal dem russischen Sender RT ein Interview.
Walter Fitz war Strauß-­Double am Nockher- den Achtzigern erzählte sie in einer Frauen- Schon damals, Jahre vor Corona, präsentierte
berg, jener Veranstaltung, bei der sich Bay- zeitschrift, dass sie neben ihrem Ehemann Fitz all das, was sie auch heute sagt: Die Poli-
erns Politiker in starkbierseliger Atmosphäre zeitweise zwei weitere Liebhaber gehabt tik sei »kriminell und verlogen«, die
vorführen lassen und dann gemeinsam mit habe. Mit Mitte vierzig ließ sie sich mit ihrem Kabarettkol­legen »systemimmanente Hofnar-
ihren Karikaturisten noch eine Maß Bier auf 24-jährigen kubanischen Freund im Pool ab- ren«, die sich nur aus der »Weglassungs­presse«
die Gemütlichkeit heben. Walter Fitz förder- lichten, nur die Hände des Lovers bedeckten informierten.
te die erste Karriere seiner Tochter, die im ihre Brüste. Mit dieser Homestory landete sie In den Olymp der Verschwörungstheore-
Dirndl stattfand, als Sängerin und Moderato- auf der Titelseite der »Bild«. 2004 ging sie tiker gelangte Fitz dann 2018 mit ihrem Song
rin der »Bayerischen Hitparade«. ins erste deutsche RTL-Dschungelcamp. Ab- »Ich sehe was«, pu­bliziert im Kanal von Hei-
Der Ausbruch aus dem Image der zünfti- qualifiziert von den Feuilletons saß Fitz noch ko Schrang, hochgejazzt mit dem Zusatz »Lisa
gen Lisa kam in den Achtzigern. Als sie den ahnungslos mit Küblböck und Kaker­laken in Fitz’ brisanter Song zensurgefährdet?«. Sie
Rockmusiker Ali Khan, Sohn eines Iraners, Australien, als der Saarländische Rundfunk wolle, betonte sie seitdem immer wieder, Ka-
heiratete, kam sie erstmals mit rassistischen sie aus ihrer eigenen Sendung »fitz and pitalismuskritik üben, die Macht der Super-
Ressentiments in Berührung. Sie produzierte friends« warf. reichen anprangern. Sie textete: »Rothschild,
mit ihm 1982 den Song: »Mein Mann ist Per- Fitz prangerte den Rauswurf öffentlich an, Rockefeller, Soros und Konsorten … die auf
ser, ein ganz perverser«. Sie dichtete: »Küm- beauftragte auf eigene Kosten eine Umfrage dem Scheißeberg des Teufels Dollars horten«.
meltürke, Knoblauchfresser, in der Tasche ein zu ihrer Beliebtheit bei der jungen Zielgruppe Und: »Die Puppenspieler sitzen ganz woan-
offenes Messer, dauernd geil auf deutsche und bekam die Hauptrolle in der RTL-Serie ders / Ein illustrer Kreis, oh ja, der kann das«.
Weiber, wie alle die Kameletreiber, dreckert »Die Gerichtsmedizinerin.« Die Versöhnung Den Vorwurf des Antisemitismus wies sie
san’s und faul, kein Hirn und großes Maul«. mit dem Saarländischen Rundfunk erfolgte ein immer zurück. Worauf sie mit den Zeilen an-
Spätestens seitdem gehört die Empörung zu spielte, will sie nicht gewusst haben. Man
den Standardreaktionen auf Lisa Fitz. Ihre könne ihr allenfalls Unbedachtheit vorwerfen.
Bühnenprogramme hießen »Die heilige Hur«, Wirklich distanziert hat sich Fitz von dem
»Ladyboss«, »Heil« oder »Kruzifix«. Über Song aber nie. Er brachte Fitz Beifall von den
die »Die heilige Hur« von 1983 empörten sich Worauf sie mit ihren ganz Rechten, den ganz Linken und den ganz
Christinnen, allein schon wegen des Titels. Verwirrten.
Lisa Fitz kämpfte gegen stereotype Ge- Zeilen anspielte, will Fitz Im Netz ist sie spätestens seitdem auch im
schlechterrollen, für sexuelle Selbstbestim- nicht gewusst haben. Umkreis derer unterwegs, die Stalin für einen

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 113


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großen Staatsmann halten, die die angeblich


SPIEGEL TV Programm geplante »Umvolkung« fürchten oder den
Klimawandel leugnen. Sich selbst spricht Fitz
mit dem Satz »Ich bin nicht rechts, ich bin
nicht links, ich bin sauer« von der Verantwor-
tung für die Wirkung ihres Werks frei. Über
eine Million Klicks hatte das Video »Ich sehe
was« auf YouTube, und Fitz verweist in ihrer
E-Mail-Signatur auf ihren »Kultsong«.
Begleitet wird Fitz’ Schaffen von der Er-
zählung, dass man das, was sie sage, ja nicht
mehr sagen dürfe. Mit dem Titel »Flüster-
witz« zog sie in ihrem Bühnenprogramm 2018
schon die Parallele zu totalitären Staaten, bei
ihren Followern ist die Behauptung, man wol-
le sie mundtot machen, Standard. Stattdessen
aber hat Fitz 2019 den Bayerischen Verdienst-
orden von Markus Söder überreicht bekom-
men. »Der Prophet gilt doch was im eigenen

SPIEGEL TV
Land«, postete Fitz damals.
Zu ihrem 70. Geburtstag im vergangenen
Protestierende gegen Coronamaßnahmen Jahr brachte der Bayerische Rundfunk eine
Sondersendung. Parallel beklagte Fitz im
Internet, der Umgang mit kritischen Men-
SPIEGEL TV nur dank seiner überaus luxuriösen Aus- schen erinnere sie »schon sehr stark an die
stattung, sondern allein schon wegen der DDR«.
MONTAG, 28. 2., 22.35 – 0.00 Uhr, RTL Strecke, die der »Zug der Züge« zurück- Corona verstärkte da nur ihren allgemei-
legt. Denn von Paris nach Konstantinopel nen Verdacht. In einem SWR-»Spätschicht«-
Pandemie der Wut – Hat Corona (Istanbul) mit einem einzigen Verkehrs- Beitrag vom Dezember 2020 beschreibt sie
die Gesellschaft gespalten? mittel zu reisen, war gegen Ende des eine vielfach in den Medien besprochene
19. Jahrhunderts eigentlich undenkbar. Konferenz. Im Oktober 2019 – also kurz vor
Impfgegner, Verschwörungstheoretiker Doch der Belgier Georges Nagelmackers Ausbruch der Pandemie – hatten die Bill &
und Demokratiefeinde auf der einen, hielt hartnäckig an seinem ehrgeizigen Melinda Gates Stiftung, das Weltwirtschafts-
überarbeitete Pflegekräfte, bedrohte Plan fest, Europas Metropolen mit Nacht­ forum und das Johns Hopkins Center for
Existenzen und traumatisierte Hinter- zügen zu verbinden. Mehrmals drohte Health Security zu Übungszwecken ein Pan-
bliebene auf der anderen Seite. Gut das ambitionierte Projekt zu scheitern. demieszenario simuliert. Lisa Fitz kom­
zwei Jahre nach dem ersten Infek- mentiert: »Ich weiß jetzt auch, warum Bill
tionsfall in Bayern zeigt SPIEGEL TV in Gates so reich ist: weil er Hellseher ist.« Da-
einer großen Sondersendung, wie das RTLZWEI mit holt sie all jene ab, die von der »Plande-
Virus unser Land verändert hat. Wie mie« sprechen, die glauben, Bill Gates wol-
der Zorn auf die Politik und ihr Pande­ DONNERSTAG, 3. 3., 20.15 – 22.15 Uhr, RTLZWEI le mit der von ihm selbst am Reißbrett er-
miemanagement Tausende auf die schaffenen Pandemie die Weltherrschaft
Straße trieb und Deutschland in eine Hartes Deutschland – Leben übernehmen.
Republik der Wütenden verwandelte. im Brennpunkt Bereits vor Beginn der Pandemie waren
Ein außergewöhnlicher Film über Staffel 4 – Folge 1 Verschwörungstheorien ihr Kernthema. »Ich
die, die unter Corona leiden, und die, bin keine Verschwörungstheoretikerin«, sagt
die Corona leugnen. sie. Mit diesem »Kampfbegriff« mache man
»kritische Leute sofort mundtot«. Auf Face-
book hört sich das freilich anders an. »Das
SPIEGEL Geschichte meiste stellt sich später als richtig heraus«,
schreibt sie schon 2019.
MONTAG, 28. 2., 19.10 – 20.10 Uhr, SKY In der Kabarettszene ist die Abdrift der
Lisa Fitz derzeit großes Thema. Viele haben
Der Orientexpress – Ein Zug Respekt vor der Lebensleistung dieser Frau,
SPIEGEL TV

schreibt Geschichte zugleich herrscht großes Kopfschütteln über


ihre Radikalisierung. »Selbstüberschätzung«
Der Orientexpress ist seit der Premieren- Frankfurter Bahnhofsviertel hört man da, »irgendwann falsch abgebogen«
fahrt im Jahr 1883 eine Sensation. Nicht oder: »Sie will Klicks, egal von wem«.
Den Auftakt der neuen Staffel »Hartes Der Widerspruch, dass Lisa Fitz all die
Deutschland – Leben im Brennpunkt« ­umstrittenen Beiträge über Jahre im öffent-
macht Frankfurt am Main. Seit 2018 lich-rechtlichen SWR bringen durfte, obwohl
© 2020 Curiosity Stream Inc.

begleitet SPIEGEL TV suchtkranke und man sie ja angeblich mundtot machen wollte,
obdachlose Menschen im Bahnhofs­ hat Fitz’ Internetgemeinde zwar nicht ge-
viertel der Mainmetropole und doku- stört. Aber jetzt ist das Weltbild komplett:
mentiert, wie sie jeden Tag um die Mit ihrem Weggang vom SWR hat die Pro-
eigene Würde, einen Platz zum Schlafen phetin die finstere Ahnung ihres Publikums
und mit den gesundheitlichen Folgen selbst erfüllt.
Filmszene mit Orientexpress ihrer Ab­hängigkeit kämpfen. Tina Angerer  n

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Auf dem Weg zur Schule kommen


die Freundinnen eines Morgens an
einem parkenden Auto vorbei, dessen
Fahrer sie nach der Uhrzeit fragt. Eu-
labee guckt auf ihre Swatch-Uhr, sagt

Die Leichtigkeit des Lügens


ihm, es sei kurz nach acht, und die
Mädchen gehen weiter. Ein paar
Schritte weiter fragt Maria Fabiola:
»Habt ihr das gesehen?« Eulabee weiß
nicht, wovon die Rede ist. »Der hat
LITERATURKRITIK  Der erfrischende und clevere Roman »Die Gezeiten gehören sich angefasst«, sagt Maria Fa­biola.
uns« erzählt vom Aufwachsen in San Francisco während der Achtzigerjahre. Und einfach so, ganz leicht, ist eine
Lüge in der Welt. Faith, die erst nach
dem Vorfall zu den Freundinnen

E
s gab eine Zeit, in der die Jahre stößt, erfährt schon eine etwas aus-
der Jugend ohne Smartphone geschmückte Geschichte und ist
dahingingen. Kein Instagram, gleich Feuer und Flamme. »Das gibt
kein TikTok. Der Drang, sich in Sze- den Skandal«, sagt Maria Fabiola.
ne zu setzen oder sich mit buntem Kreischen und Entzücken. Nur Eula-
Quatsch abzulenken, existierte aber bee zieht nicht mit, sie sagt den Poli-
immer schon. In den Achtzigern zum zisten, die die Mädchen später be-
Beispiel galt ein Walkman als Aus- fragen, wie es wirklich gewesen ist.
bund technischer Raffinesse, als Fortan schneiden Maria Fabiola,
coolstes Accessoire von Teenagern. Faith und Julia sie. Und aus der Wir-
Wer heute 50 ist, wurde damals groß; Erzählerin wird eine Ich-Erzählerin,
es scheint ein anderes Zeitalter ge- die lernen muss, sich allein zu be-
wesen zu sein. haupten: auf einer Party bei den

Khr ystyna Pochynok / Alamy / mauritius images


Die amerikanische Schriftstellerin Nachbarn, als deren älterer Sohn sie
Vendela Vida, 50, erzählt vom Auf- in einem halb dunklen Zimmer bittet,
wachsen während dieser Zeit in Sea sich auf seinen Schoß zu setzen, und
Cliff, einem Stadtteil San Franciscos, mit seinen Händen ihre Hüften be-
in dem die Straßen zum kühlen, meist wegt. Oder als sie Keith trifft, den
nebligen Strand hinunterführen und Jungen mit dem Skateboard, und
die Häuser große Panoramafenster sich einen Song lang seinen Walkman
haben mit Blick auf die Golden Gate ausleiht.
Bridge. »Die Gezeiten gehören uns« Ganz selbstverständlich streut
heißt ihr Roman auf Deutsch, ein et- Vendela Vida die Trends und Themen
was sperriger Titel für dieses clevere der Achtzigerjahre ein und macht
Buch, in dem viel Humor aufblitzt die bei jeder Geste klimpern, und seit Pazifikküste auf diese Weise deutlich, dass die
und verstörende Szenen sich wie ­einiger Zeit spannt der Stoff ihrer in Sea Cliff Sehnsucht nach Aufmerksamkeit im-
nebenbei ereignen. Oberteile, ihre Haare sind zu einer mer schon existiert hat. Das Vergnü-
Erzählerin ist die junge Eulabee, die Mähne geworden. Eulabee mag ihre gen daran, ein Tabu zu brechen und
am Anfang der Geschichte vor a­ llem Freundin viel zu sehr, als dass sie sich im Mittelpunkt des Interesses zu
als Wir-Erzählerin auftritt, so verbun- ­neidisch wäre, aber sie beobachtet sonnen, kann zu verlockend sein. Die
den fühlt sie sich mit ihren Freundin- die Reaktionen auf Maria Fabiola Geschichte mit dem Mann im Auto
nen Faith, Julia und Maria Fabiola. ­genau. ist nur der Auftakt. Bald darauf ist
»Wir sind dreizehn, fast vierzehn, und Für ihre junge Heldin Eulabee hat Maria Fabiola verschwunden. Repor-
die Straßen von Sea Cliff gehören die Schriftstellerin Vendela Vida ter belagern die Schule, Eulabees
uns«, lautet der erste Satz. Jeden Tag einen unsentimentalen, frischen Ton- Mutter sagt ihr Aerobic-Training ab.
gehen die vier zusammen den Weg zur fall gefunden, der den Roman von der »Ich weiß, wenn sie nicht zum Aero-
Schule, er führt vorbei an Häusern, in ersten Seite an besonders macht. Die bic geht, ist die Lage ernst.« Aber
denen Rockstars wohnen oder Ver- Welt der Erwachsenen bildet für die Eulabee glaubt nicht an eine Entfüh-
brechen stattgefunden haben. Weil Sea 13-Jährige nur das Hintergrundrau- rung von Maria Fabiola, sie weiß, wie
Cliff über dem Pazifik liegt, ist es ein schen zu ihrem eigenen Leben und 13-, fast 14-jährige Mädchen ticken.
beliebter Stadtteil, Anfang der Acht- dem ihrer Freundinnen. Katastro- Und während sie auf eigene Faust
zigerjahre können auch die Eltern von phen wie der Selbstmord von Faiths nach ihrer Freundin sucht, wird sie
Eulabee, ein Antiquitätenhändler und Vater oder der wirtschaftliche Abstieg Schritt für Schritt erwachsen.
eine Krankenschwester, sich hier noch von Julias Eltern und deren Sorge Vida hat in ihre Geschichte Fragen
ein Haus leisten. Unter den Mädchen um die ältere, drogensüchtige Halb- danach eingewoben, wie wichtig Lo-
spielt es keine große Rolle, wer wie schwester werden mit jener distan- yalität, Freundschaft, Rückhalt sind
reich ist, die Währung, die für sie zählt, zierten Coolness geschildert, die vie- und worin sie sich zeigen. Selbst das
ist Aufmerksamkeit. len Teenagern eigen ist. Diese erste Thema des Ausverkaufs San Francis-
Maria Fabiola zieht davon viel Umbruchphase im Leben ist das The- cos an Leute mit zu viel Geld bringt
auf sich, sie trägt schmale Armreife, ma von Vidas Roman, wobei sie eben die Schriftstellerin in diesem hinrei-
besonders die Mädchen im Blick hat ßenden Roman unter. Seine Lektüre
Lili Peper

mit ihrer Launenhaftigkeit und Cou- ist so erfrischend wie der Wind am
Vendela Vida: »Die Gezeiten gehören uns«.
Aus dem Englischen von Monika Baark. Han- rage, mit ihrer Überspanntheit und Strand von Sea Cliff. 
ser Berlin; 286 Seiten; 22 Euro. Widerstandskraft. Autorin Vida Claudia Voigt n

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116 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Iwan Dsjuba, 90 Mark Lanegan, 57
NACHRUFE Von der Ukraine als Teil Euro- Er war der Sänger einer der ein-
pas schrieb er schon, lange flussreichsten US-Rockbands
­bevor der Name Putin eine Rol- der Achtziger- und Neunziger-
le auf der Weltbühne spielte – jahre, aber bewegungsintensives
und übte Kritik am russischen Bühnengebaren war ihm fremd.
Großmachtdenken: Der ukraini- Bei Auftritten seiner Screaming
sche Publizist und Dissident Trees hielt sich Mark Lanegan
Iwan Dsjuba widmete sich zeit- am Mikroständer fest, das Ge-
lebens den politischen Fragen. sicht verbarg er oft hinter der
Den Reformen. Dem Protest. rotblonden Mähne – sein rauer
Zur Welt kam er 1931 in einem Bariton war Sensation genug.
Dorf im Donbass. Er studierte Während seine Mitmusiker har-
russische Philologie in Donezk ten psychedelischen Rock spiel-
und wurde Redakteur bei der ten, sang Lanegan über Grenz-
ukrainischen Zeitschrift »Witt- erfahrungen durch Drogen aller
schysna«, auf Deutsch: »Hei- Art. Viele Songs fußten wohl
matland«. Dsjuba, der zu einem
bedeutenden Literaturkritiker

Jonas Opperskalski / laif


der Ukraine werden sollte, setz-
te sich dafür ein, die Literatur

Isabel Schiffler / Jazzarchiv / picture alliance


seiner Heimat weniger vom Ein-
fluss Russlands bestimmen zu
lassen. In den Sechzigerjahren
protestierte er gegen die Verfol-
Gabriel Bach, 94 gung ukrainischer Intellektuel-
Er floh als Junge vor den Deutschen, aber ganz entkam er ihnen nie. ler, war Mitverfasser eines offe-
Gabriel Bach wurde 1927 in Halberstadt geboren, er wuchs in Berlin nen Briefs, der sich gegen die
auf, besuchte die Theodor-Herzl-Schule und entkam den Nazis sowjetischen Machthaber rich-
1938. Seine Eltern wurden Jeckes in Israel. Er studierte Jura in Eng- tete, prangerte den Antisemitis-
land und wurde 1961 einer der drei Ankläger im Prozess gegen mus in der so­wjetisch gelenkten
Adolf Eichmann, den Organisator des Holocaust. Bach begegnete in Ukraine an. Sein 1968 veröf-
der Gestalt des bürokratischen Massenmörders dem Deutschland fentlichtes Buch »Internationa­ auf eigenen Erfahrungen. Schon
wieder, das ihn und seine Familie vertrieben hatte. Der Prozess war lismus oder Russifizierung?« im Alter von zwölf Jahren soll
ein Weltereignis, er gab zum ersten Mal den Opfern des Holocaust wurde als »antiso­wjetisch« ein- er nach eigenen Aussagen mit
eine Stimme, und er veränderte Bachs Leben. Er war später Gene- gestuft und brachte ihn letztlich dem Trinken angefangen haben,
ralstaatsanwalt Israels, aber wenn er irgendwo vorgestellt wurde, für zwei Jahre in ein Gefängnis später kam Heroin dazu, eine
war er zuallererst der Mann, der Adolf Eichmann zur Strecke ge- des KGB. Nach der Haft arbei- Zeit lang lebte er als Junkie auf
bracht hatte. Die neuen Deutschen liebten Bach dafür. Er bekam tete er als Korrekturleser einer der Straße. Lanegan hatte die
Orden und Einladungen und fuhr oft zurück ins Land der Täter und Screaming Trees 1984 mitge-
spürte, wie er die Sprache vermisst hatte, das Essen und selbst das gründet, die Band gehörte zur
Wetter. Wenn man ihn in Jerusalem besuchte, wo er bis zum Schluss ersten Welle von Künstlern aus
mit seiner Frau lebte, servierte er Kaffee und Kuchen, die bestür- dem Nordwesten der USA,
zendsten Geschichten aus dem Prozess und zeigte ein Trikot s­ eines ­deren Musik unter dem Schlag-
deutschen Lieblingsvereins Schalke 04 mit seinem Namen. Bach wort Grunge zum globalen Pop-
wurde schwächer in den letzten Jahren, aber seine Erinnerungen an phänomen wurde. Spätere
den Prozess blieben scharf. Gelegentlich schien es, als halte er sich Stars des Genres wie Nirvana
an ihnen fest. Gabriel Bach starb am 18. Februar. AOS oder Alice in Chains wurden
von Lanegan inspiriert – mit
vielen spielte er zusammen.
Dan Graham, 79 Schon an seinem ersten Solo­
United Archives / IMAGO

Er habe eben nicht malen können, deshalb sei er bei der Konzept- album, veröffentlicht 1990, ha-
kunst gelandet, scherzte er einmal vor vielen Jahren. Dan Graham, ben Kurt Cobain und Krist
der 1942 in Illinois als Sohn eines Chemikers und einer Schul­ ­Novoselic von Nirvana mitge-
psychologin zur Welt kam, fand in den Sechzigerjahren als Auto­ wirkt. Zu seinem ersten Entzug
didakt seinen Weg in die Kunstszene und wurde später zu einem wurde Lanegan von der Cobain-
renommierten Kunsttheoretiker. Obwohl sich Graham eher als Witwe Courtney Love überre-
Architekt verstand und seine Kunst als »leidenschaftlich betriebe- Werkszeitung, bis ihm das det. Bei einem Rückfall im Jahr
nes Hobby« bezeichnete, zählt er heute zu den einflussreichsten ­Regime um 1980 herum wieder 2004 wäre er beinahe ums Le-
zeitgenössischen Künstlern. Graham war Bildhauer, Performance- ­erlaubte zu publizieren. 1989 ben gekommen, danach arbeite-
und Videokünstler – vielerlei Formate, Materialien und Stilrichtun- gründete er eine wichtige te er umso besessener. Bereits
gen machte er sich zu eigen. Spätestens seine transparenten Pavil- ­Op­positionspartei in der sowje- im Frühjahr 2021 war Lanegan
lons, die 1982 erstmalig auf der Documenta 7 zu sehen waren, tischen Ukraine mit, 1992 wurde an Covid-19 erkrankt und lag
machten ihn berühmt. Die Glashäuser konstruierte er als Mediato- er ­Kulturminister des jungen für längere Zeit im Koma. Über
ren zwischen Natur und Architektur. Blickt man durch ihr Inneres, Staats. Putins Militärangriff auf diese Zeit schrieb er das Buch
offenbart sich ein optisches Spiel, das eigene Spiegelbild mischt seine Heimat hat er nicht »Devil in a Coma«. Mark
sich mit dem Spiegelbild der Landschaft. Dan Graham starb am mehr erlebt. Iwan Dsjuba starb ­Lanegan starb am 22. Februar
19. Februar in New York. STG am 22. Februar in Kiew. SKR in Killarney, Irland. CBU

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Papas Tochter
Auch durch den Einfluss ihres
Vaters ist der Popstar Dua Lipa,
26, zum Singen und Songschrei­
ben gekommen. Dukagjin Lipa
ist selbst Musiker, er war Sänger
einer Rockband – und ab sofort
wird der gebürtige Kosovare als
Manager seiner Tochter deren
Interessen vertreten. Dua Lipa
hat sich nach acht Jahren von
ihrem Manager Ben Mawson
und seiner Firma Tap Music ge­
trennt. Eine offizielle Begrün­
dung wurde der Öffentlichkeit
bisher nicht gegeben, aber Be­
richte aus der Musikindustrie
legen nahe, dass es Streit ums
Geld gab. Lipa, die als Teenager
entdeckt wurde und seither eine
steile Karriere gemacht hat, soll
unzufrieden gewesen sein mit
den von Tap ausgehandelten
Einnahmen aus Plattenverkäu­
fen und Werbeverträgen. Dem
mutmaßlichen Wunsch nach
einer Steigerung der Einkünfte
liegt wohl kein Mangel zu­
grunde: Allein im vergangenen
Jahr soll Lipa monatlich mehr
als zwei Millionen Euro einge­
nommen haben. Ihre Einkünfte
stammen nicht nur aus Musik­
verkäufen oder Werbeverträgen
zum Beispiel für ein Parfüm von
Yves Saint Laurent. Durch ihr
Unternehmen Dua Lipa Live
LLP, das Konzerttouren organi­
siert, verfügt sie zusätzlich
über ein Vermögen von mehr
als 33 Millionen Euro. KS

Coppola träumt von wood weitgehend zurück­ len, das an das alte Rom erin­
gezogen, aber immer wieder nert. Es gehe um eine Frau zwi­
Megalopolis eigenwillige, bisweilen wirre schen zwei Männern, so Coppo­
Der Regisseur und Produzent Werke wie den Horrorfilm la. Die 120 Millionen Dollar, die
Francis Ford Coppola, 82, hat mit »Twixt« (2011) geschaffen. Nun der Film kosten soll, wolle er
Emmi Korhonen / Lehtikuva / IMAGO

Filmen viel Geld verdient und sagte der fünffache Oscarpreis­ selbst aufbringen. Ob er damit
verloren. Durch seine kalifor­ träger in einem Interview mit Gewinn oder Verlust machen
nischen Weingüter und andere der amerikanischen Zeitschrift werde, sei ihm völlig egal. Und
Unternehmungen wurde er zu »GQ«, dass er eines seiner lang er habe noch lange nicht genug.
einem reichen Mann. Coppola, gehegten Traumprojekte end­ Einer seiner Onkel sei 102
dessen Mafiaepos »Der Pate« lich realisieren werde: »Mega­ ­geworden, so der Regisseur. Er
vor ziemlich genau 50 Jahren lopolis«. Die Story soll in einem selbst könne also noch »etwa
ins Kino kam, hat sich aus Holly­ futuristischen New York spie­ 20 Jahre« produktiv sein. LOB

118 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


Verliebt, verlobt und Zeitpunkt war von »einem Ver- Meine Villa, meine
trauten« des angeblichen Bräu-
nicht verheiratet tigams genannt worden: Ende Kirche, mein Friedhof
​ ei dieser Nachricht dürfte so
B März solle es so weit sein, gab Der britische Singer-Songwriter
manche Italienerin vor Schreck die Quelle preis, freilich ano­ Ed Sheeran, 31, plant über den
den Cappuccino verschüttet nym. »Libero« wird von einem Tod hinaus: Er kümmert sich
haben: Silvio Berlusconi, 85, Freund Berlusconis geleitet, um eine Grabstätte. Zusammen
ehemaliger italienischer Minis- das macht die Zeitungsmeldung mit seiner Frau Cherry Seaborn
terpräsident, und seine Verlobte ­besonders rätselhaft. Das Paar und dem gemeinsamen Kind
Marta Fascina, 32, Abgeordnete ist seit ungefähr zwei Jahren zu- Lyra lebt der vierfache Gram-
der rechten Partei Forza Italia, sammen, vor einigen Monaten my-Preisträger unter anderem
würden heiraten. Kurz darauf hat es seine Beziehung öffent- in Suffolk, nahe der Klein-

Joanne Davidson / CAMERA PRESS / laif


kam die Ernüchterung: Berlus­ lich gemacht und zeigt seither stadt Framlingham, wo er auf-
coni dementierte – und nun auf Instagram re­gelmäßig, wie gewachsen ist. Das über sechs
rätselt ganz Italien, wie es zu glücklich und verliebt es ist. Die Hektar große Anwesen, liebe-
dieser Zeitungsente kommen über 50 Jahre jüngere Fascina voll ­spöttisch wird es manch-
konnte. Verbreitet hatte die habe einen beruhigenden Ein- mal »Sheeranville« genannt,
Botschaft von den zu erwarten- fluss auf den für sein Tempe- ist ausgestattet mit ­allem, was
den Hochzeitsglocken für den rament berühmt-­berüchtigten ein Popstar so braucht – Fit-
bereits zweimal geschiedenen Berlusconi, heißt es auch aus nessstudio, Innenpool, Pub,
Politiker und fünffachen Vater Familienkreisen. Tonstudio – und eine Kirche
die Zeitung »Libero«. Sogar ein Die Verlobte selbst äußerte soll auch auf dem Grundstück ren, in der ­Umgebung stünden
sich bisher nicht zu dem Fall. entstehen. In dem Antrag auf bereits genug Gotteshäuser, in
Ber­lusconis Dementi ging mit die Baugenehmigung für das denen es sich trefflich beten
einer etwas kuriosen Begrün- Gotteshaus beschrieb Sheeran ­lasse. Zum Plan, den Schutz der
dung für die Nichtheirat einher: 2019 das Gebäude als »privaten Privatsphäre ins Unendliche
»Die Liebes-, Wertschätzungs- Rückzugsort zum Nachdenken auszuweiten, zitiert »The Sun«
und Respektbeziehung, die und Beten«. Nun will er diesen eine genervte Nachbarin mit der
mich mit Marta Fascina verbin- Bereich für die Ewigkeit erwei- Frage: »Haben Prominente jetzt
det, ist so tief, dass es nicht nötig tern und eine Gruft unterhalb so weit ihren Bezug zur Reali-
ist, sie mit einer Ehe zu formali- der Kirche anlegen lassen. Die tät verloren, dass sie nicht nur
sieren«, ließ er verlauten. Auf Krypta soll ungefähr 2,70 Meter jede Lebensäußerung vor uns
Instagram / @mf9milan / Mar ta Fascina

ein Fest kann sich Fascina trotz- mal 1,80 Meter messen und mit Normalsterblichen verbergen,
dem freuen: »Weil unsere Be- einer Steinplatte verschlossen sondern auch noch ihren Tod?«
ziehung so tief und bedeutend werden; wie viele Personen Der Bau ist bereits genehmigt,
ist«, fügte er hinzu, »plane ich, dort einstmals ihre Ruhe finden bürokratisch steht dem Projekt
sie in naher Zukunft zusammen sollen, hat der Bauherr, dessen also nichts mehr entgegen, in
mit Marta gebührend zu feiern, Gesundheits­zustand als blen- England und Wales gibt es –
mit einem Fest, an dem meine dend gilt, nicht angedeutet. In im Gegensatz zu Deutschland –
Kinder und lieben Freunde teil- der Nachbarschaft sorgt schon kein Gesetz, das Bestattungen
nehmen werden.« RED der Bau der Kirche für Rumo- auf privatem Grund verbietet. KS

Endlich gut Formulierung will sie sich viel-


leicht ein Hintertürchen offen-
Kein Engagement zu bekom- halten. Im Übrigen sei sie über-
men ist schlimm für eine Schau- zeugt, dass Schurkinnen in Film
spielerin, aber immer die glei- und Fernsehen notwendig seien,
che Art von Rolle angeboten zu sagte sie noch, um zu zeigen,
bekommen auch nicht viel bes- wie mächtig Frauen sein kön-
ser. Auf einen bestimmten Typ nen. Allerdings würden die
festgelegt zu sein bedeutet weiblichen Fieslinge oft als un-
künstlerischen Frust und Gift sympathischer als ihre männli-
für die Karriere. Um das zu ver- chen Pendants wahrgenommen,
meiden, zieht Tati Gabrielle, 26, glaubt sie. Alles in allem sei
jetzt die Notbremse. Die ame­ es aber ein großer Spaß, einen
rikanische Schauspielerin ist richtig schlimmen Bösewicht
­bekannt aus Science-Fiction- darzustellen, früher oder später
und Horrorserien, in dem neuen wolle das jeder Schauspieler:
Abenteuerfilm »Uncharted« versuchen, das Publikum dazu
spielt sie an der Seite von Anto- zu bringen, einen zu hassen.
Tony Lowe / ZUMA Wire / IMAGO

nio Banderas – und wieder Dass sie die Rolle der Frau mit
steht sie auf der Seite der Bö- dem miesen Charakter so häufig
sen. Nun sagte sie dem »Holly- spielen würde, hätte sie nie ge-
wood Reporter«, sie wolle dacht. Jetzt aber will sie offen-
»wahrscheinlich bis auf Weite- bar etwas Neues versuchen
res« keine fiesen Frauen mehr und beweisen, wie vielfältig ihre
darstellen. Mit der vorsich­tigen Talente sind. KS

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 119


BRIEFE Bundesrepublik Deutschland als
Bünd­nispartner und demokrati-
scher Rechtsstaat.
Dr. Thomas Stehl, Potsdam

Mit dem ersten Schuss in der ak-


tuellen Ukrainekrise muss die
SPD Gerhard Schröder aus der
sich der Meinung der Amerikaner land und die gleichzeitige Entsen- Partei werfen.
anzuschließen. Gorbatschow dung von sogenannten russischen Manfred Müller, Ulm
wollte zusammen mit Deutsch- Friedenstruppen in die Ostukrai-
land und den anderen europäi- ne kommen einer Kriegserklä- Schröder ist für die SPD, was Max
schen Staaten das »Europäische rung gleich. Nun sollte die west- Otte für die CDU ist: Ein Mensch,
Haus« aufbauen. Die Russen – liche Welt endlich aufwachen der eine unerfüllte Erwartung
nicht nur Gorbatschow, auch und den ukrainischen Präsiden- an die eigene Partei hat, dessen
­Putin – wollten, wie viele Ukrai- ten Selenskyj nicht im Stich las- Selbstwahrnehmung und einge-
ner auch, zu Europa gehören. Das sen, denn das ukrainische Volk forderte Wertschätzung Wunsch,
wurde leider im Westen ignoriert. hat es verdient, dass man seinen nicht Wirklichkeit widerspiegelt.
Dr. Klaus Haase, Malchow demokratischen Weg und seine Reicht der eigene Garten nicht
(Meckl.-Vorp.) Souveränität mit allen Mitteln aus als Beschäftigung? Anschei-
unterstützt und verteidigt. nend nicht, solange es immer
Der Artikel ist an sich recht aus- Thomas Henschke, Berlin noch Menschen wie Putin, oder
gewogen, finde ich. Erstaunt hat im Falle Ottes die AfD, gibt, die
mich allerdings, dass ein Detail den Geltungsdrang bedienen und
der Forderungshintergründe Pu- Wozu noch die Nato? ihn sich zunutze machen. Das
tins erst auf Seite 25 unter der Abgleiten in die Lächerlichkeit
Der Westen sollte Kleinmitteilung »Archivfund Nr. 7/2022  Hat der Westen mit der Nato-
Osterweiterung Russland betrogen?
spiegelt die Gesellschaft beiden
stützt russische Version« so zurück. Doch das scheint nicht zu
endlich aufwachen nebenbei unter kleiner Über- Ein sehr zutreffender Artikel, der interessieren. Schröder befindet
Nr. 8/2022  Titel: Keine falsche Bewegung! schrift mitgeteilt wurde. Die es wagt, der vorherrschenden sich in einem Tunnel. Die Zeit, in
Amerikaner haben also Verrat Meinung zu widersprechen. Ich der die eigene Partei für ihn einen
Die vielen diplomatischen An- begangen, indem sie die Nato- kann mich genau erinnern, was Ausgang schaffen konnte, ist vor-
strengungen einerseits und die Osterweiterung trotz anderwei- damals erzählt wurde. Interessant bei. Jetzt heißt es für die SPD, das
Verbalattacken andererseits zei- tiger Zusagen betrieben. Hätte wäre aber noch: wozu noch die Dilemma auszusitzen.
gen nur allzu gut, wie fragil der diese Tatsache nicht im Haupt- Nato? Weder der Kommunismus Marie Weydmann-Kühn, Kriftel (Hessen)
Frieden in Europa gerade ist. artikel ausführlich beleuchtet noch eine expandierende UdSSR
Auch wenn es kein echter Frieden werden müssen? sind mehr da. Nur noch ein stark Es ist bemerkenswert, wie wenig
ist, denn seit 2014 sind mehr als Bodo Lehmann, Rosenthal (Brandenb.) geschrumpftes Russland. Selbstbewusstsein die SPD-Spit-
13 000 Tote im Donbass zu be- Prof. Dr. Dimitrios Kolymbas, Innsbruck ze – allen voran Olaf Scholz –
klagen. Die Truppenbewegungen Unter Putin hat sich Russland zu (Österreich) trotz gewonnener Bundestags-
und -verlegungen wirken wie ein einer Diktatur und einem Paria- wahl hat, dass sie Altkanzler
Schachgefecht, mit allen Mitteln staat entwickelt. Wenn uns die Die perfide Argumentation des Schröder aus seiner hannover-
von Taktik und Strategie. Umso Geschichte etwas lehrt und wenn Westens: Eine Ausweitung der schen Altbauwohnung weiterhin
wichtiger ist es für Europa, Ab- uns Europa und unser demokra- Nato näher an die Grenzen der Ton und Kurs einer sogenannten
hängigkeiten, gerade auch im tischer Way of Life etwas bedeu- Sowjetunion wird es nicht geben, Volkspartei vorgeben lässt, selbst
Energiebereich, abzubauen und ten, kann es nicht die geringsten die Sowjetunion existiert aber wenn dies gar nicht sein Anliegen
auf eigenen Füßen zu stehen. Zugeständnisse gegenüber einem nicht mehr, und Russland haben zu sein scheint und er viel lieber
Wenn Europa im Innern stark derart korrupten und kriminellen wir die Zusage nicht gemacht. charmante Filmchen über seinen
und selbstbewusst ist, dann ist das Regime geben. Michael Schade, Wolfsburg oftmals drolligen Zeitvertreib auf
die beste Gegenwehr nach außen, Nedju Buchlev, Berlin Instagram posten lässt.
auch ohne militärische Muskel- Sönke Weiss, Dortmund
spiele. Die diplomatischen Bemühungen Der Unsozial-
Rainer Szymanski, Grünheide (Brandenb.) Europas und der USA sind ge- Gerhard Schröder ist so wenig ein
scheitert, weil man den politi- demokrat Sozialdemokrat wie sein Freund
Sehr bemerkenswert finde ich, schen Machtpoker des russischen Nr. 7/2022  Die SPD sucht einen Weg, Putin ein Demokrat ist. Mit seiner
dass die zahlreichen Journalisten, Präsidenten Putin von vornhe­ sich von Altkanzler und Putin-Freund »Agenda 2010«, deren logische
die sich in dieser SPIEGEL -Aus- rein falsch eingeschätzt hat. Auch Gerhard Schröder abzusetzen Folge die immense Ausweitung
gabe mit Putin und der Ukraine- haben vor allen Dingen Deutsch- des Niedriglohnsektors war, hat
krise befasst haben, alle in West- land und die EU sich mit ihrer Die weichgespülte Kritik des der Basta-Kanzler die Partei auf
deutschland geboren und sozia- Taktik des Herumlavierens einen SPIEGEL an Gerhard Schröder den Hund gebracht. Jetzt, da sie
lisiert worden sind. Nicht ein Bärendienst erwiesen, weil sie kann über eins nicht hinweg­ sich wieder einigermaßen berap-
einziger aus Ostdeutschland ist Putin nicht gleich von Anfang an täuschen: Mit seinen geldgierigen pelt hat, wirft er den Genoss:in-
beteiligt. Könnte es sein, dass mit einer einschneidenden Sank- Aktivitäten für den Diktator Pu- nen von der Seitenlinie aus Stö-
man im Westen Deutschlands tionsliste in seine Schranken tin ruiniert er das Ansehen der cke zwischen die Beine. Warum
verlernt hat, Fehler zuzugeben? ­verwiesen haben. Die nunmehr SPD als demokratische Rechts- lässt eigentlich der SPIEGEL die-
Und es war ein Fehler, in den vor­genommene Anerkennung staatspartei. Und die SPD ruiniert sen Unsozialdemokraten regel-
Neunzigerjahren auf Konfronta- von Donezk und Luhansk als un- ohne seinen Parteiausschluss mäßig zu Wort kommen?
tion zu Russland zu setzen und abhängige Staaten durch Russ- das internationale Ansehen der Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW)

120 DER SPIEGEL Nr. 9 / 26.2.2022


lassung nicht mehr von dem Bild
»Being Wladimir So blamabel die Ja, beenden wir das loskommt, das ein Justizirrtum
Putin« wäre der Äußerungen des Schubladendenken ihr brutal aufs Gesicht drückte,
bessere SPIEGEL-Titel Ex-Kanzlers für alle und respektieren tragen die Sensationsmedien
durch vorschnelle und plakative
gewesen. Wie alle Deutschen und die Andersdenkende, Etikettierung in besonderem
Welt, so rätselt selbst deutsche Außenpoli- ohne sie zu diffamie- Maße Verantwortung. Seriösen
der SPIEGEL, wer oder tik sein mögen, dürfte ren. Das würde der Presseorganen bleibt es vorbehal­
was im Kopf des das Herrn Schröder Kommunikation viel ten, den von den Verursachern
leichtfertig herbeigeführten und
russischen Präsiden- vielleicht egal sein – negative Spannung später nicht öffentlich bedauerten
ten sein Unwesen »ist der Ruf erst nehmen. Schaden so weit wie möglich wie­
treibt. Ein bizarres ruiniert, lebt es sich Gisela Neudeck, Wiesbaden dergutzumachen. Der SPIEGEL
hat dazu mit diesem Artikel wert­
Kopfkino. ganz ungeniert«. volle Arbeit geleistet.
Christoph Nitsche, Dr. Asok Mukherjee, Erlangen Ludwig Engstler-Barocco, Bonn
Straßenhaus (Rhld.-Pf.)
Nr. 7/2022  Die SPD sucht einen Einige Leser des Artikels werden
Weg, sich von Altkanzler und
Nr. 8/2022  Wladimir Putins Putin-Freund Gerhard Schröder Nr. 7/2022  Debatte – Ein Land die Lektüre mit besonderer Be­
Spiel mit dem Westen abzusetzen in mentaler Quarantäne klemmung wahrnehmen, weil
auch sie »lebenslänglich« haben.
Dem muss kein so spektakuläres
Weder Duldung noch Keine Spaltung der persönlichen Machtanspruch auf Ereignis zugrunde liegen, auch
Frauen übertragen, der sich ein folgenschweres Fehlurteil in
Privilegien Gesellschaft neben tiefem Misstrauen ge­ einem Zivilprozess ist geeignet,
Nr. 7/2022  Leitartikel – Der Staat Nr. 7/2022  Ein Land in mentaler genüber Frauen als Hass seinen das Vertrauen, dass man in einem
muss endlich auf Distanz Quarantäne Weg sucht, der sich in Rache­ Rechtsstaat lebt, zu zerstören.
zur katholischen Kirche gehen gedanken offenbart. Das ist kein Ein Betroffener wird eine derarti­
Ich bedanke mich für den Artikel, Lebensschutz, sondern erbitterte ge Erfahrung kaum als Einzelfall
Da hat Ullrich Fichtner erfreulich weil er klarstellt, dass unter­ Gegnerschaft, die sich nicht ein­ bewerten. Die Voraussetzungen
deutliche Worte geschrieben zur schiedliche Meinungen für eine mal die Mühe macht, die Pro­ für Fehlurteile sind so vielfältig,
grundlegenden Entflechtung von funktionierende Demokratie es­ bleme betroffener Frauen zu er­ dass sie durch die gegebenen Re­
Staat und Kirche und zur Erosion senziell sind und nichts mit einer kennen. visionsmöglichkeiten nur unzu­
politischer Gewissheiten. Es fragt Spaltung der Gesellschaft zu tun Martina Gromeier-Pautke, Holm reichend erfasst werden können.
sich nur, wann und von wem die­ haben. Wer allerdings nicht ak­ (Schl.-Holst.) Eine Verbesserung der Rechts­
se sehr guten Gedanken endlich zeptiert, dass das Gegenüber an­ qualität ist durchaus auch in
konsequent umgesetzt werden. derer Meinung ist, und für sich Ich verstehe nicht, dass hier im­ Deutschland überfällig.
Peter Treitz, Stennweiler (Saarl.) eigene Regeln beansprucht, spal­ mer nur von Frauen die Rede ist. Burkhard Homburg, Eutin (Schl.-Holst.)
tet nicht die Gesellschaft, sondern Entstehen Kinder durch Jung­
Eine Religion, die ein bereits vor gefährdet den Grundkonsens fernzeugung? Ich habe mich in Mit großer Anteilnahme habe ich
Jahrhunderten durch eigenes Ver­ unserer Demokratie. Hoffentlich den Achtzigerjahren sterilisieren Ihren herzbewegenden, tief­
schulden (stures Festhalten am erweist sich diese als wehrhaft. lassen, weil ich mir mit meiner traurigen und doch nicht hoff­
Zölibat, an katholischer Sexual- Dr. Wilfried Thommes, Köln damaligen Frau einig war, kein nungslosen Artikel gelesen. Ich
und Morallehre und systemati­ gemeinsames Kind zu zeugen – habe mich sofort an die sehr pa­
scher Vertuschung von Miss­ Natürlich dürfen Impfgegner und der Eingriff für den Mann ckend geschriebenen früheren
brauchsskandalen) in den Brun­ demonstrieren. Zweifelhaft wird ambulant gemacht werden konn­ SPIEGEL -Berichte über den Fall
nen gefallenes Kind auf Kosten es, wenn offensichtliche Lügen te, im Gegensatz zu dem bei einer und den Prozess erinnert und die­
von zahllosen unschuldigen Kin­ und pseudowissenschaftliche Frau. Wäre das nicht einmal ein se wieder gelesen. Erstaunlicher­
dern noch zu retten versucht, Fehlinformationen lautstark auf Thema für den SPIEGEL ? Den weise habe ich mich danach ge­
dürfte wohl bei keinem gerechten die Straße getragen werden, um Spaß wollen die Herren haben, fragt, ob es denn überhaupt stim­
und gütigen Gott dieser Welt und die Ziele der Gesundheitsvorsor­ die Verantwortung sollen aber die men könne, dass Amanda Knox
in keinem halbwegs demokrati­ ge bewusst zu konterkarieren – Frauen tragen? Wie heuchlerisch wirklich unschuldig ist – ob sie
schen Land weder mit Duldung mit dem Fernziel, den Staat zu ist diese Gesellschaft eigentlich nicht eher aus Mangel an Bewei­
noch mit Privilegien rechnen dür­ destabilisieren. aufgebaut? sen freigesprochen worden sei.
fen. Alles hat eben seine Zeit. Liane Martin, Nürnberg Wolfgang Fladung, Bad Camberg (Hessen) Stimmt mein Eindruck, dass auch
Dr. Gerhard Birk, Chemnitz (Sachsen) der SPIEGEL in seiner früheren
Berichterstattung suggeriert hat,
Die Regelungen zu den Staatsaus­ Hass gegen Frauen Auch dem Klischee an den Vorwürfen der Staatsan­
gleichszahlungen und zur Er­ waltschaft müsse doch etwas dran
hebung der Kirchensteuer sind Nr. 7/2022  SPIEGEL-Gespräch mit der aufgesessen? sein? Ist nicht auch der SPIEGEL
Ärztin und Aktivistin Kristina Hänel
»nur« Verwaltungsvorgänge. An Nr. 7/2022  Warum immer noch so zumindest ein wenig dem Kli­
diesen Geldern bereichern sich Man muss sich das vorstellen: Im viele Menschen Amanda Knox für eine schee des »Engels mit den Eis­
nicht Einzelne, sie kommen unse­ Namen des Lebensschutzes droht Mörderin halten augen« aufgesessen?
rer Gesellschaft zugute und die­ man einer Ärztin mit Mord. Ge­ Sven Heß, Berlin
nen dem Gemeinwohl. Entspre­ nau das sagt aber, dass es so­ Lebenslänglich trotz Freispruch:
chend flach sollte der Ball gehal­ genannten Lebensschützern kei­ Für dieses Dilemma einer Frau, Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
ten werden. neswegs um den Schutz des Le­ die vier Jahre lang unschuldig im gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
Theodor Peschke, Jena (Thür.) bens geht, sondern dass sie ihren Gefängnis saß und nach ihrer Ent­ unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 9 / 26.2.2022 DER SPIEGEL 121


HOHLSPIEGEL R Ü C KS P I E G E L

Zitate
Die »Frankfurter Rundschau« über
Von der Speisekarte eines Restaurants in die SPIEGEL -Recherchen zu den frag­­
Untergrombach (Bad.-Württ.) würdigen Geschäften des Chefs der
Münchner Sicherheitskonferenz (»Große
Verdienste«, Nr. 8/2022):
Das »Isenhagener Kreisblatt« über Auf-
räumarbeiten nach dem Orkantief Wolfgang Ischinger wusste schon am Montag,
­»Zeynep« in der Samtgemeinde Hankens- was auf ihn zukommt. Bei der Vorstellung des
büttel (Nieders.): »Die Ortswehr musste Programms der Münchner Sicherheitskonfe-
im weiteren Verlauf 25 Bäume von Stra­ßen renz sagte deren Leiter, das Nachrichten-
entfernen, zwei Bäume von einem Haus Magazin DER SPIEGEL habe ihm Dutzende
und einem Auto beseitigen und eine von Fragen zukommen lassen … Seit Don-
­Bushaltestelle von der Straße räumen.« nerstagabend ist klar, worum es geht. Wie der
SPIEGEL berichtet, soll der frühere Staats-
sekretär im Auswärtigen Amt und deutsche
Botschafter in Washington, der die Konferenz
seit 2008 leitet und am Sonntag ausscheidet,
über eine von ihm 2015 mitgegründete Be-
ratungsfirma namens »Agora Strategy Group«
an der Sicherheitskonferenz verdient haben.
Die Firma habe Kontakte auf der Konferenz
Die große zum Verkauf angeboten, schreibt das Maga-
zin. So habe sie einem Rüstungsunternehmen
schmackhaft gemacht, gegen Honorar Perso-
Umfrage aus der »Fuldaer Zeitung« Umverteilung nen aus dem Teilnehmerkreis für ein soge-
nanntes »Side Event« auszuwählen und bi-
laterale Gespräche zu vereinbaren. Der welt-
Von der Website der »Westfalenpost«: »Am Wie Frauenquote gewandte Ischinger behauptet: »Ich habe ein
Abend sah die zweite Phase des Einsatzes absolut reines Gewissen. Ich habe mir nichts
jugendschutzrechtliche Kontrollen auf ver- und Diversity-Regeln zuschulden kommen lassen.« Doch auf seiner
schiedenen Schulhöfen vor. Hier wurden Abschiedsvorstellung in München liegt nun
vier Gruppen mit insgesamt 30 Personen die Unternehmen ein doppelter Schatten.
überprüft. Dabei stellte das Team des Stadt-
ordnungsdienstes eine kleine Menge Mari- durcheinanderwirbeln Die »Neue Zürcher Zeitung« zitiert aus
huana sicher und ließ eine Flasche Wodka dem SPIEGEL -Gespräch mit Finnlands
von Minderjährigen vor Ort vernichten.« Präsident Sauli Niinistö über die Eskala-
tion der Ukrainekrise (»Putin war plötz-
lich sehr, sehr entschlossen«, Nr. 7/2022):

»Finnlandisierung« – dieser Begriff habe in


seinem Land einen sehr schlechten Klang, sag-
te vor einigen Tagen der finnische Staatsprä-
sident Sauli Niinistö in einem Gespräch mit
dem deutschen Nachrichten-Magazin DER
SPIEGEL. Die Wortschöpfung bezeichnet die
Hinweis in einem Geschäft in Darmstadt
Jetzt neu Zeit im Kalten Krieg, als viele finnische Poli-
tiker in vorauseilendem Gehorsam gegenüber
der Sowjetunion gehandelt und wohl sogar
Aufruf an Hundebesitzer aus dem Amts- im Handel Konzessionen gemacht hätten, die Moskau
blatt der Gemeinde Ötisheim (Bad.-Württ.): gar nicht unbedingt verlangt hätte. Dieses
»Zudem ist uns gemeldet worden, dass um Modell nun einem anderen Staat zu empfeh-
das Gewann Reite und Gewann Böshalde len, finde er völlig falsch, sagte Niinistö.
›Giftköter‹ ausgelegt wurden. Das Auslegen
eines Giftköters ist nach §17 des Tierschutz- Der SPIEGEL berichtete …
gesetzes strafbar.«
… in Nr. 24/2017 (»Gabe aus der Schweiz«)
über verdeckte Zuwendungen der Schweizer
PR-Firma Goal AG zugunsten der AfD. Nach
Bekanntwerden des Vorgangs leitete die Bun-
Digital lesen mit destagsverwaltung ein Prüfverfahren ein,
stufte die Zahlungen als illegale Parteispende
ein und erließ einen Strafbescheid über
108 412 Euro gegen die AfD. Die legte Klage
auf manager-magazin.de/plus dagegen ein – und scheiterte damit am
Hinweis an einem Sportgeschäft in 16. Februar vor dem Berliner Verwaltungs-
Garmisch-Partenkirchen gericht (Aktenzeichen: VG 2 K 213/20).

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