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ZWEI TEXTPROBLEME DER GRIECHISCHEN TRAGODIE

Die beiden Probleme, um die es hier geht, sind schon wiederholt be-
handelt worden. Wenn sie der Verfasser erneut aufgreift, um den Freund
zu ehren, so geschieht es in der Überzeugung, daB sie nach wie vor unge-
lost sind, der Philologe aber in seiner kritischen Energie nicht nachlassen
sollte, um sie schlieBlich doch einer Losung zuzuführen.
1. SOPHOKLES, Antigone 798-900
Der Chor preist nach dem Abgang Haimons die Macht des Eros. Er
herrscht über die Tiere des Landes und des Meeres, über Menschen und
Gotter. Er verführt aber auch Gerechte zur Ungerechtigkeit zu ihrem Ver-
derben; er hat auch den Streit zwischen Vater und Sohn entfacht, dessen
Zeuge der Chor soeben gewesen ist:
mx@ S' kvapmq phacpápov
i p ~ p o qE ~ ~ É ~ T ~ o u
vúpcpaq, T ~ psyáhov
V aápsSpoq kv h p ~ a i q
O E < J ~ ~ Vapaxoq
- yap kpaai-
bi esoq 'Acpposi~a.
Jebb hat unter Zustimmung von G. Müller (Sophokles, Antigone,
Heidelberg, 1967) unter p ~ y a h o vkv á p ~ a~i E
~ G ~ die
O Vcungeschriebe-
nen sittlichen Gebote, die die meisten Menschen spürem, verstanden 1,
und so jetzt auch Kamerbeek 2 mit Verweis auf Kitto: Desire, residing in
the eyes of a bride ... is triumphant, partaking with the great laws (of the
gods) in their rules. Das führt jedoch zu Ungereimtheiten, die keine Inter-
pretation aus der Welt schaffen kann. Jebb hat dies selbst gesehen und
deshalb starke Bedenken gegen den überlieferten Wortlaut gehabt: A yet
stronger objection (als die metrischen Bedenken) is the strangeness of
describing the power which is in conflct with the 0 ~ o v oas
i their assessor,

1 So auch WOLFFBELLERMANN (19006), SCHNEIDEWIN-NAUCK-BRUHN (1913") und


MAZON:Le Désir, dont la place est aux c6tés des grandes lois, parmi les maftres de ce
monde, ebenso MASQUERAY: asocié dans leur empire aux lois supr2mes du monde. ~ h n l i c h
wie JEBBund mit dem gleichen Zweifel am überlieferten Text und mit der gleichen Ratlo-
sigkeit jetzt R. P. WINNINGTON-INGRAM, Sophocles. An interpretation, Cambridge, 1980,
94 f.
2 The plays of Sophocles. Commentaries 3 . The Antigone, Leiden, 1978, S. 20; vgl.
auch zu Vers 797-800.
M. SICHERL

or peer, in sway; an expression which would seem appropriate oníy if that


power was working in harmony with thern; diese Beschreibung steht im
Widerspruch dazu, daB Eros in Ungerechtigkeit und Verderben stürzt,
wofür Haimon ein Beispiel ist. Jebb ist deshalb gezwungen, die sittlichen
Gebote hier als das Gesetz der Loyalitat zum eigenen Lande, als das Ge-
setz des Gehorsarns gegen die Eltern zu deuten, also gerade auf das, wo-
gegen sich Antigone und Haimon auflehnen, und der 'Epspoq als náps-
6poq muB «zumindest die gleiche Kraft haben wie die sittlichen Gesetze~;
ein náps6poq hat aber hochstens die gleiche Kraft wie die Macht, der er
'beisitzt'; das aber widerspricht dem Sinn des Chorliedes, das ja gerade
die universale Macht der Liebe über alle Wesen, auch die Gotter, preist.
Hinzukommt, da6 das Wort nápsbpoc eine metrische Besonderheit bie-
tet, die zumindest selten ist und bei Sophokles keine sichere Parallele hat:
die durch die Responsion geforderte Aquivalenz der ersten beiden Silben
mit der entsprechenden L b g e in der Strophe. Die Haufung von AnstoBen
oder auch nur von Seltenheiten an derselben Stelle ist aber ein sicheres In-
diz, da6 sie verderbt ist 3. Dawe hat deshalb in seiner Teubner-Ausgabe
(1979) mit Recht das Kreuz gesetzt, wahrend Kamerbeek den überlieferten
Text zu verteidigen sucht.
Die Verderbnis muB sich, wie schon Müller 4 feststellt, auf das eine
Wort náps6poq beschranken, schon weil die Responsion sonst in Ord-
nung ist. Es ist also ein trochaisches Wort zu fordern, das einen guten
Sinn ergibt. Das leistet nach allen Seiten hin xUpoq: Die Liebe, die der
Liebreiz des schwachen Madchens in Haimon weckt, siegt über die
Macht der groBen Gesetze, die in der Amtsgewalt des Herrschers (kv
clpxalq) begründet und in ihr gegeben sind; denn unbesiegbar ist die
Macht der Liebe. Mit dem Ende der Gegenstrophe ( & p a ~ o q... 8 ~ o q
'AqqoGiza) kehrt der konsequent durchgeführte Gedanke des Liedes an
seinen Anfang (Epoq clvixazs p á ~ a v )zurück, der Ring schlieBt sich,
und alle Widersprüche losen sich auf. Der Chor, der sich Kreon gegenü-
ber loyal gibt, sieht im Sieg der Liebe über das Gebot Kreons in Haimon
ein Beispiel dafür, daB Eros Gerechte vom rechten Wege abzieht und ins

3 P. MAAS,Textkritk, Leipzig, 19273 ( N D 1957), 5 30. Vgl. auch Festschrift für Ro-
bert Muth, hrsg. von P . HANDEL- W. MEID,Innsbruck, 1983, 463-469.
Sophokles, Antigone. Erlüutert und mit einer Einleitung versehen von G . MULLER,
Heidelberg, 1967, S. 175. Er konjiz,iert apyoq. Aber nápspyoq LaCist nichts als ein Lapsus
calami, eine Art Banalisierung dukch ein klagahnliches Wort, vermutlich bewirkt durch
Konsonanten des vorangehenden Wortes ysycihov (progressive Assimilation) und des nach-
folgenden Wortes a p ~ a (Antizipation),
i~ die im BewuBtsein des Kopisten hafteten. Sie hat
mit Recht keine Nachfolge gefunden, vgl. B. M. W. KNOX,Gnomon 40, 1968, 758 f.; KA-
MERBEEK zu 797-800; WINNINGTON-INGRAM, S. 95, 13. Auch der Scholiast kannte keine an-
dere Lesung als xáps6poq.
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Verderben stürzt, aber angesichts des Loses, das Antigones harrt und mit
dem sich auch Haimon verbindet, wird auch er selbst in seiner Loyalitat
gegen Kreons Gebot wankend (801): vUv 6' Q8q 'yo xaUzoc 0 ~ o p O vEco
cpÉpopat zá6' Óphv 5.
So erhalt vtxQ das fehlende Objekt, über das die Liebe siegt, und die
Konjektur ist sprachlich einwandfrei; xOpoq bedeutet zugleich Geltung
und Macht. So verwendet es Sophokles am Ende des Oidipus auf Kolo-
nos (1778): návcoc yap E X E ~zá& xOpoq, dies hat unbedingt Geltung,
und ahnlich auch Elektra 919, und das entspricht dem allgemeinen grie-
chischen Sprachgebrauch; insbesondere aber meint das Wort die staatli-
che Gewalt (Thuc. 5, 38, 2; Herodot. 6, 109, 4; Plat. Leg. 700C), und in
diesem Sinn wird das Wort hier durch 0 ~ o p O vund Ev &pxaic verdeut-
licht. Die Bedeutung von Ev &pxaTe aber ergibt sich aus Vers 744, einer
der sophokleischen 'Fernverbindungen', die einen Schlüssel zum Ver-
standnis liefern: &yapzávco yap zac Eyac & p ~ aoÉpcov;
c fehle ich denn,
wenn mir mein Herrscherrecht (meine Arntsgewalt) heilig ist? Vgl. auch
177 und Aesch. Cko. &pxaTq nohtooovóvotc, sovranty over the city
(Rose). Gemeint ist also die Herrschergewalt Kreons über die Stadt, und
das wieder stimrnt überein mit 0~oyOv.Denn B~oyóqscheint schon ety-
mologisch das positive Gesetz im Gegensatz zu den ungeschriebenen zu
bezeichnen 6 , auf die sich Antigone beruft (450 ff.), und so gebraucht
das Wort auch Sophokles; im Aias 1104 & p ~ q Ex~tzo
q (!) 0 ~ o y ó qbedeu-
tet es die agesetzliche Berechtigung)) (Wolf-Bellermann), ordinance, esta-
blished rigkt (Jebb), institution, law, right (Kamerbeek) und Track. 682
einfach einen Auftrag. Im Munde des Chores heiBen die 0 ~ o p o i(oder
0 ~ o p á groB,
) weil ihre Geltung auf der Macht der hochsten Staatsgewalt
beruht, die ihre Übertretung mit dem Tode bedroht. Die Identitat des
zweimaligen 0 ~ o y O vwird garantiert durch die Worte 'yo xai abzbq,
auch ich selbst. Zum artikellosen, der Sache inhiirenten Abstraktum
x8poc mit dem artikúlierten Genetiv zhv p ~ y á h o v0 ~ o p h vist Kühner-
Gerth 1,607k zu vergleichen. Die Verse sprechen damit eindeutig vom
Sieg der Liebe über die absolute Staatsmacht, von hoheren sittlichen Ge-
setzen ist keine Rede.
Das Wort xOpoc, das einzige trochaische Neutrum auf -PO<,jedenfalls
innerhalb des von Locker erfaBten Wortschatzes, das hier paBt, ist die

5 Vgl. JEBB: 1 also am moved to rebel against Creon's sentence. So richtig auch KA-
MERBEEK z.St. und schon Elektra 1104. Alle waren gezwungen, eine verschiedene Bedeu-
tung von 0eop6v an den beiden Stellen anzunehmen.
6 Vgl. H. FRISK,Griechisches Etymologisches Worterbuch 1. Heidelberg, 1973.
Rücklüufiges Worterbuch der griechischen Sprache. Unter Leitung von P.
KRETSCHMER ausgearb. von E. LOCKER,Gottingen, 1 9 7 7 ~ .
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okonomischste Heilung der Verderbnis. Wer will, mag Spekulationen dar-


über anstellen, wie nUpoq zu 7~ápsSpoqkorrumpiert werden konnte.

2. EURIPIDES, Bakchen 537


Der überlieferte Anfang der Gegenstrophe des zweiten Stasimons lau-
tet:
537 oíav oíav bpyáv
Qvacpaívsi.~Oóvtov
yÉvo~ExcpUq oe Spáxovzó~
...
XOTE ~ E V ~ E ~ S

Dem Vers 537 fehlt eine Entsprechung in der Strophe; entweder ist al-
so diese ausgefallen oder 537 ist eine Interpolation. In dieser Frage sind
die Kritiker seit der Athetese von 537 durch Bothe und Hermann in zwei
zahlenmaBig etwa gleichstarke Lager gespalten In der neueren Zeit ver-
suchten zwei Kommentare, der von E. R. Dodds (19602) und der von Je-
anne Roux (1972), die Unechtheit zu begründen. Die von ihnen vorge-
brachten Gründe konnen nicht unwidersprochen bleiben, da sie nicht
stichhaltig sind und sich, bei Licht besehen, zum Teil in ihr Gegenteil ver-
kehren. Für Dodds hinterlaBt die Streichung «in der Tat einen guten
sprachlichen Satz»: «Pentheus offenbart seine erdgeborene Herkunft, daB
er (narnlich) vom Drachen abstammt (TEepexegetisch)» und so auch für
Roux. Für hvacpaivsi y8voc verweist Dodds auf Soph. OT. 1059 cpavo
zobpov yÉvoq, für die Partizipialkonstruktion auf Plat. Crit. 108C T O U ~
n o h i ~ a qhyaeoUq ó v ~ a qhvacpaivstv und Soph. El. 1359 Suvhv p' Éhqesc
068' Ecpaivs~.Die ersten beiden Stellen zeigen cpaivo und hvacpaivo ein-
fach als transitive Verben, was ganz gewohnlich ist und nichts beweist,
denn das Partizip gehort zum Objekt, nicht wie ExcpUc zum Subjekt. In
der dritten gehort das Partizip, das syntaktisch ExrcpUq entsprechen soll,
ebenfalls in ganz gewohnlicher Weise, nur zu EhqOs<, nicht aber zu &va-
cpaivo, zu dem gegen Jebb mit Kamerbeek aus dem Kontext o u v ó v ~ ao s
zu erganzen ist. Ware der Vers 537 interpoliert, müBte hvacpaivsiv mit
dem Objekt ~8óviovyivoq transitiv, mit dem pradikativen Partizip EncpUc
aber instransitiv gebraucht sein. Sol1 eine solche Verrenkung gutes Grie-
chisch sein und von Euripides stammen? Es wird nicht besser dadurch,

8 Vgl. K. DORSCH,Gotterhymnen in den Chorliedern der griechischen Tragiker.


Form, Inhalt, Funktion, Diss. Münster 1983, S. 275, A. 307. Seine Liste gibt natürlich
nur eine Auswahl. Eine Lücke nach 518 nahmen schon CANTER(1571) und ihm folgend
MUSGRAVE (1788) an. Zur anderen Gruppe tritt jetzt die neue Teubneriana von E. CHR.
KOPFF(Leipzig 1982). Unter denen, die einen Ausfall nach 518 und dementsprechend die
Echtheit von 537 annehmen, befinden sich immerhin Kritiker wie KIRCHHOFF, NAUCKund
WILAMOWITZ (Griechische Tragodien 4, S. 185, von DORSCHnicht genannt).
dan Hermann es so verstand9. Bothe jedenfalls sah sich durch diese
sprachliche Unmoglichkeit gezwungen, Excpúq in Excpúv zu andern. FaBt
man dagegen ~ 8 ó v t o vyÉvoq EwpUq 7s Gpáxovzoq als Subjekt, ist alles in
bester Ordnung; an das Substantiv mit adjektivischem Attribut schlieBt
sich, mit zs verbunden, das Partizip epexegetisch an. Damit erhalt nun
auch hvacpaivo sein natürliches Objekt in oiav oiav opyáv, das sich
durch Hekabe 175 als euripideisch erweist 10.
Nach Roux zerstort der «überzahlige Verw den beabsichtigten Paral-
lelismus zwischen hvacpaivo (528) und hvacpaivsi (537), der den Kon-
trast zwischen Zeus' Offenbarung des himmlischen Ursprungs des Dio-
nysos und Pentheus' Offenbarung seiner monstrosen Herkunft durch
sein Verhalten unterstreiche; der Vers 537 sei durch einen Leser hinzuge-
fügt, der die genaue Bedeutung des Verbs hvacpaivsiv nicht begriffen
habe 11; dasselbe nimmt implizit schon Dodds an 12. Wieso eigentlich?
An der ersten Stelle (528) verkündet doch Zeus das Gebot an Theben,
seinen Sohn mit diesem Namen (Dithyrambos) zu nennen, der an seinen
Ursprung erinnert, an der zweiten offenbart Pentheus, wenn man 537
beibehalt, die seinem Ursprung entsprechende Natur 13. Die parallele
Kontrastierung zwischen der Herkunft des Dionysos und des Pentheus
bleibt, aber sie ist nicht in der gleichen Bedeutung des Verbs hvacpai-
vsw, das zwar auf sie hinweist, aber jedesmal anders verwendet wird,

9 Er übersetzt nur transitiv: Pentheus terrigenam originem suam et a dracone se na-


tum ostendit (vgl. Euripides' Werke, griechisch mit metr. Ubers. und Anm. von J. A.
HARTUNG 7, 1849, S. 174), als ob nicht Excpú5, sondern ExcpUvai im Text stünde.
10 Wenn Hekabe 175 f interpoliert sind, so ist das eher ein Indiz für die Echtheit
von Bacch. 537 als umgekehrt.
11 Bothe nennt den Vers einen ineptissimus pannus eines pessimus horno, der auch
Excpúv zu Excpúq geandert habe, um es dem falschlich als Nominativ gefaBten ~ 8 ó v i o vy&
VOS anzupassen.
12 The two 'revelations' - of Dionysus' birth and of Pentheus' - are then (wenn man
537 tilgt) contrasted as the recurrence of the same verb kvacpaívsiv suggests they should
be, und so auch R. P. WINNINGTON-INGRAM, Euripides and Dionysus. A n interprelation
of the Bacchae, Cambridge, 1948, 79.
13 Dodds dagegen versteht 528 so (und danach auch WINNINGTON-INGRAM S. 78): 1
reveal thee to Thebes, O Bacchic One, that she call thee (bvopá@~vepexegetic) by this
name, und bemüht dazu die Mysteriensprache. Das Ganze übernimmt Roux: Je te révele
6 Thebés pour qu'elle t'appelle de ce nom mit den gleichen Hinweisen. Es ist aber nichts-
destoweniger falsch; kvacpaívo steht hier als Verbum declarandi intransitiv mit dem Da-
tiv OfiDai.5 und finalem Infinitiv (Kühner-Gerth 2, 6 f.), von dem der Akkusativ o s ab-
hangt. Das Richtige steht bereits bei Liddell-Scott: kvacpaivo 1) show forth, make .
known, display: bpyáv, Eur. Ba 538; 2) proclaim, declare: hvacpaivo o s ... ró6.5 bvopá-
E,EIV Iproclaim that they call thee by this name, Ba. 528. Und so verstand es auch WILA-
MOWITZ a.0.: «Einst sol1 dich Theben, mein bakchisches Kind, mit diesem Namen be-
grüBen».
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begründet und ist deshalb unabhangig von der Athetese oder Beibehal-
tung von 537 14.
AuBerdem schwacht nach Roux otav bpyáv den Sinn des Verbs &va-
cpaivsl und führe eine Nuance ein, die nicht zum Tone der Passage pas-
se, da die Drohungen des Pentheus hier bei den Lydierinnen mehr die
Entrüstung als die Furcht wecke. Wieso ist die Offenbarung der wahren
Natur eine Schwachung gegenüber der Offenbarung der Ceburt, die oh-
nehin bekannt ist? Und ist der Ausruf otav otav bpyáv &vacpaivsi.etwa
Ausdruck der Furcht und nicht vielmehr entsetzten Erstaunens, wie sich
die dem Chore bekannte Abstammung des Pentheus in seinem Verhalten
kundtut?
SchlieBlich meint Jeanne Roux, ein zusatzlicher Vers vor dem Anruf
«Tochter des Acheloos)) belaste den Beginn der Strophe. Aber solche
'Belastung' ist durchaus hymnische Tradition und auch Euripides nicht
fremd, vgl. Hippol. 61-66 15.
Nach Winnington-Ingram findet es auch Page mit Recht «ein wenig
sonderbar, daB ein Interpolator, dem die strophische Entsprechung
gleichgültig war, genug vom Metrum wuBte, um die beiden metrisch
korrekten, aber nicht sehr zutage liegenden Molosser des Verses 537
(--- f ur
- -u u-) zu bildem. Statt daraus die Konsequenz zu zie-
hen, hat er michtsdestoweniger das Gefühl, daB Bothes Losung wahr-
scheinlich die richtige i s b . Die Logik freilich zieht einen anderen
SchluB: Der Vers 537 ist von Euripides selbst, und der respondierende
Vers 5 18a ist ausgefallen.
DaB der Ausfall eines Verses in der Tat wahrscheinlicher ist als eine
Interpolation, noch dazu eine sachlich, grammatisch, stilistisch und me-
trisch so einwandfreie, zeigt ein Blick auf die Überlieferung. In den
Stücken, deren Überlieferung auf einer einzigen Handschrift beruht 16,
fehlen nicht selten Verse wie auch sonst in einzelnen Zeugen poetischer
Texte, nur eben mit dem Unterschied, daB uns hier kein unabhangiger
Textzeuge die Lücken ausfüllt. Kaum eines dieser Stücke ist von solchen
Ausfallen verschont geblieben. In den Bakchen sind, von den groBen, si-
cher mechanisch bedingten Lücken abgesehen, sicher Verse nach 651,

14 Gerade in der Auffassung von DODDSund ROUXhat doch OIvacpaívo an beiden


Stellen einen anderen Sinn, der nur durch das gleiche Wort revelations und révéler ver-
deckt wird: einmal den einer gottlichen Offenbarung, das andere Mal des Sichtbarmachens
der Herkunft (durch die Handlungen).
15 Vgl. DORSCH89 ff. Wie Artemis dort im zweiten Vers als Zavoc yávs0hov bezeich-
net wird, so hier Dirke im zweiten Vers als 'A~&h@ou 0uya~qp.
16 Dabei ist es gleichgültig, ob P eine Abschrift von L oder von dessen Vorlage ist.
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757 und 1036 ausgefallen 17. Demgegenüber markiert die Ausgabe Mur-
rays in keinem der Stücke mit reicherer Überlieferung einen Versausfall
und Versinterpolationen in Chorliedern überhaupt nicht. Offenbar waren
Zudichtungen in Chorliedern wegen des Metrums zu riskant und durch
den Zwang der Responsion behindert.
W&e nicht der Anfang der Strophe ausgefallen und danach durch De-
metrios Triklinios, der die fehlende Responsion gemerkt hat, der Vers 537
als nspiooóv bezeichnet worden, w2re wohl niemand auf die Idee gekom-
men, ihn zu tilgen. Irgendeine Autoritat kann die Bemerkung nspiooóv,
wie Bothe und Hartung anzunehmen scheinen, nicht beanspruchen, und
ebensowenig ist von Bedeutung, daB es kein Anzeichen dafür gibt, daB
am Anfang der Strophe etwas fehlt, auBer eben die Existenz des Verses
537. Jede Supplierung des ausgefallenen Verses muB natürlich hypothe-
tisch bleiben, aber die Erganzung von Barnes (1694) 6 nahhíoza npavolv
erfüllt inhaltlich, sprachlich und metrisch, was man etwa erwartet, und
bisher scheint niemand etwas Besseres eingefallen zu sein.

Martin SICHERL
Westfafische Wifherns-Universitat
Institut für Altertumskunde
BR Deutschland

17 Vgl. DODDSzu 651-3, 755-7 und 1036.

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