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German Life and Letters 74:1 January 2021

0016-8777 (print); 1468–0483 (online)

MÜSSIGGANG IST ALLER LASTER ANFANG?


LITERARISCHE UND FILMISCHE TYPEN DER VERWEIGERUNG IM
MILIEU DER DEUTSCHEN GEGENKULTUR DER 1960ER/70ER JAHRE

Sara Bangert
(Universität Tübingen)
ABSTRACT
The article focuses on specific forms, characters and types of ‘primary rejection’
or refusal that emerged in German subculture and deviant counterculture in the
1960s and 1970s, rejecting the cultural norms of mainstream society. Beginning
with socially distinctive figures such as the layabout and the commune-dweller,
the article examines their alliance with and affiliation to literary traditions and
theoretical concepts of ‘non-working’, leisure and idleness. These alliances are
explored further by means of a typological approach that takes examples of
layabouts, idlers and shirkers from literature and film to sketch out a panorama
of various conceptualisations of refusal and ‘non-working’.

Der Artikel fokussiert auf spezifische Formen, Charaktere und Typen ‘primärer
Ablehnung’ oder Verweigerung im Milieu der deutschen Subkultur und
Gegenkultur der 1960er und 70er Jahre, die die kulturellen Normen der
Mehrheitsgesellschaft ablehnen. Ausgehend von den Sozialfiguren des Gammlers
und des Kommunarden zeigt er deren Allianzen und Affiliationen mit
literarischen Traditionen und theoretischen Konzepten der Nichtarbeit, der Muße
und des Müßiggangs auf. Diese Allianzen werden mittels eines typologischen
Ansatzes weiter verfolgt, der an literarischen und filmischen Beispielen
davon abzugrenzender Typen von Gammlern, Müßiggängern und Nichtstuern
ein Panorama unterschiedlicher Konzeptualisierungen von Verweigerung und
Nichtarbeit andeutet.
Die Gottähnlichkeit des Müßiggängers zeigt an,
daß das Wort ‘Arbeit ist des Bürgers Zierde’
seine Geltung zu verlieren begonnen hat. Der
Bürger beginnt sich der Arbeit zu schämen, sein
Stolz gilt mehr und mehr dem Besitz allein.
Dieses Hochgefühl macht ihm der Tagedieb freilich
streitig. Denn er ergibt sich dem Müßiggang ohne
Rücksicht darauf, ob seine Mittel ihm das gestatten.
Walter Benjamin1

[D]er Rubel ist selbst nichts anderes als ein


Stückchen Faulheit. Wer mehr davon hat, wird auch
mehr von der Seligkeit des Faulseins haben. […]
Folglich hat sich die Kapitalistenklasse von dieser
Arbeit befreit, befreit von dem, wovon sich die ganze
1
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser,
7 Bde., Frankfurt a. M, Bd. I/3, S. 1178.
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Menschheit hätte befreien müssen. […] Die ganze


Philosophie der Arbeit besteht in der Befreiung
der Faulheit, und doch meinen alle, die Arbeit
diene irgendeiner anderen Glückseligkeit. […] Die
Faulheit hat die Völker verschreckt, und verfolgt
wird, wer sie zuläßt, und all dies geschieht, weil
niemand ihre Wahrheit begriffen hat, nachdem man
sie einmal als ‘Mutter allen Lasters’ brandmarkte,
während sie in Wahrheit die Mutter allen Lebens ist.
Kasimir Malewitsch2

I. IN DER SONNE SITZEN BLEIBEN: RÜCKZUG AUS DEM SYSTEM

In Uwe Timms Roman Heißer Sommer beschimpft ein Passant Gammler:


‘Arbeiten müsst ihr.’ Auf die Frage, ‘Warum’, antwortet er: ‘Ihr denkt
wohl, wir sind blöd, ihr gammelt und wir schuften für euch. Gammeln
Sie doch auch, sagte der Junge. […] Der Mann hob die Hand und
brüllte, du kriegst gleich eine in deine Fresse, in deine ungewaschene.’
Die Frage eines Hinzukommenden: ‘Was hat der Ihnen eigentlich getan?’
bleibt unbeantwortet.3 Die Gammler scheinen den Nerv zu treffen, gerade,
indem sie nichts getan haben, genauer, indem sie öffentlich nichts tun: Dass
das Gammeln4 als außerordentliche Provokation wahrgenommen wurde –
das dadurch provozierte Säuberungsphantasma konnotiert hier der den
Streit einleitende Ausruf: ‘Hier herrschen ja saubere Zustände’ (S. 21) –,
belegen etwa auch die von Peter Fleischmanns Dokumentation Der Herbst
der Gammler (1967) gezeigten Konfrontationen. Die aggressiven Reaktionen
darauf verweisen nicht nur auf den von Timms Protagonisten konstatierten
Alltagsfaschismus, sondern auch auf das der Erziehung zur Arbeit und der
‘“Austreibung der Faulheit”’ inhärente Gewaltpotential.5
Nachdem sie 1965 bei einem Underground-Poetry-Festival in der Royal
Albert Hall erstmals öffentlich auftraten, wächst bis 1967 die Zahl der
Gammler, die als europäische Version der Hippies temporär aussteigen und
als Profis, Halbgammler, Wochenend- und Freizeitgammler, Wandernde
und Reisende in den Tag hinein leben. Anders als Subkulturszenen wie
2
Kasimir Malewitsch, ‘Die Faulheit als eigentliche Wahrheit der Menschheit’, in ders., Gott ist nicht
gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik, hg. von Aage Hansen-Löve, übers. von ders. und Thomas
Kleinbub, Wien 2004, S. 107–19 (S. 109–10 und 119). Im Folgenden wird im Text zitiert.
3
Uwe Timm, Heißer Sommer, Köln 1985 [1974], S. 23. Im Folgenden wird im Text zitiert.
4
Die Ursprungsbedeutung dieser Fremdzuschreibung als ‘ungenießbar werden, verderben’,
die übertragen einen verlangsamten Lebensstil (inertia) kennzeichnet, verweist auch auf die
Ursprungsbedeutung von ‘faul’ als ‘in Verwesung, Gärung übergegangen’, von ‘faulen, stinken’,
wohl auf ein ‘lautmalendes *pu “pfui!”’ als Äußerung des Ekels zurückgehend (Duden, Bd. 7: Das
Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, hg. von der Dudenredaktion, Mannheim u. a.
4
2007).
5
Martin Jörg Schäfer, Die Gewalt der Muße. Wechselverhältnisse von Arbeit, Nichtarbeit, Ästhetik, Zürich
2013, S. 62 und 182, dort Anm. 34.
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die Halbstarken der 50er, die Provos ab 1965, die Mods und Rockers, die
antiautoritäre Bewegung von 1968 und die Spontis der 70er Jahre zeichnet
ihre Abweichung besonders ‘das demonstrative Nichtstun’ im öffentlichen
Raum und eine damit verbundene körperliche Protestsemiotik aus.6 Die
Titelstory des Spiegel ‘Gammler in Deutschland’ (1966) zitiert eine junge
Frau: ‘Arbeiten? Seh’n wir so aus?’, und konstatiert: Nach den Mods,
Provos, Zazzeroni und Stiljagas ‘kamen die Gammler. Sie probten keinen
Aufstand, sie erhoben sich nicht. Sie legten sich nieder. Sie dachten
nicht nach und schlugen nicht zu. Die jungen Helden waren müde. Sie
kreierten die langsamste Jugendbewegung aller Zeiten: den Müßiggang.’7
Meist sind es Schüler*innen, Student*innen, Schulabbrecher*innen
und Kriegsdienstverweigerer, die mit alternativen Lebenskonzepten
experimentieren und sich gesellschaftlichen Normen, Leistungsdruck und
‘Lohn-Sklaverei’8 verweigern – angelehnt an den Existenzialismus und
die Gegenkultur der Hippies, Yippies und Beatniks mit ihren Literaten-
Vorbildern Jack Kerouac und Allen Ginsberg: Neben deren bohemistischer
‘Verweigerung gegenüber bürokratisch-technokratischer Disziplinierung’
orientieren ‘asiatische Religionen und Sekten […] die Verneinung der
bestehenden Welt’.9 Äußerlich scheint die Grenze zu Obdachlosen zu
verschwimmen, doch grenzen die ‘Sozialfigur’ des Gammlers vom ‘Klischee
vom sozial desintegrierten jugendlichen Stadtstreicher’ Herkunftsmilieu,
Sozialprognose und die vor diesem Hintergrund mutwillige Verweigerung
ab.10 Diese Verweigerung ist vortheoretisch; statt marxistischer vita
contemplativa zur ‘Praxis der Theorie’, wie sie etwa Georg Lukács und Walter
Benjamin vertreten,11 propagieren sie gelebte Praxis des Nichtstuns, statt
‘politische[r] Interventionen’ Einfachheit, Zen und Leben im Augenblick:
In der zeitgenössischen Wahrnehmung galt als ausgemacht, dass Gammler
wohl die Gegenwart kritisierten, aber nicht ʻrevolutionärʼ waren, weil sie
weder das Bestehende systematisch zerstören noch etwas Neues aufbauen
wollten. […] [I]hres mangelnden politischen Engagements wegen wurden
sie von den politisch links stehenden Jugendorganisationen kritisiert.12
6
Detlef Siegfried, Time is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre,
Göttingen 2006, S. 403; vgl. auch ebd., S. 399. Zur körperlichen ‘Protestsemiotik’, zu der neben
langen Haaren und Bärten auch Praktiken eines ‘neuen Sitzens’ und Legens gehören, vgl. Angelika
Linke, ‘Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden. Zur Protestsemiotik von
Körper und Raum in den 1986er Jahren’, in 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz, hg. von
Heidrun Kämper, Joachim Scharloth und Martin Wengeler, Berlin und Boston 2012, S. 201–26.
7
ʻGammler. Schalom aleichemʼ, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46414560.html (abgerufen
am 17. September 2019).
8
Rudi Dutschke, ‘Georg Büchner und Peter-Paul Zahl, oder: Widerstand im Übergang und
mittendrin’, Georg Büchner Jahrbuch, 4 (1984), 9–75 (50).
9
Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001, S. 52;
vgl. Richard van Ess, Der Underground war amerikanisch. Vorbilder für die deutsche Undergroundpresse,
Tübingen 2018.
10
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 401.
11
Vgl. Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 263.
12
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 413 und 400.
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Doch ist ‘Gammeln mehr […] als lethargisches Nichtstun’; die öffentlichen
Praktiken selbstgewählten Außenseitertums machen die ‘privatistische
Subkultur’ (Kentler) der Gammler politisch.13 Ihr dropout changiert in
Begriffen der Subkulturtheorie Robert K. Mertons, dessen Strain-Theory
mit conformism, innovation, ritualism, retreat und rebellion fünf Strategien
der Adaptation bzw. auf Anomie reagierenden Devianz differenziert,
zwischen ʻretreatismʼ – den eine ‘rejection’ von ‘Culture Goods’ und
‘Institutionalized Means’14 kennzeichne und der, auch wenn es zum
Austausch ‘in the subculture of these deviant groups’ komme, ‘largely
private and isolated’ sei, – und zur Schau gestellter ʻrebellionʼ als einer
durch die ‘rejection of prevailing values and substitution of new values’
und ‘new myth’ geprägten ‘organized political action’, die ‘the resentful
and the rebellious into a revolutionary group’ transformiere.15 Die
Gammler ‘leben vor, was Herbert Marcuse die “Große Weigerung” nennt’:
Wie der ‘Kulturprotest der Beat-Boheme’ und der Hippies verweigere
sich auch die Studierendenopposition, so Marcuse 1967 in Berlin, der
‘eindimensionalen Gesellschaft’; insofern sie ‘einen totalen Bruch mit den
in der Gesellschaft herrschenden repressiven Bedürfnissen anmelden,
bildeten sie eine “negierende Opposition”, die, da sie zugleich eine “neue
Sensibilität” sowie “vitale Bedürfnisse” erkennen läßt, zur Transformation
der Gesellschaft führen kann.’16 In Marcuses Forderung einer ästhetischen
‘Form der Sensitivität’ und einer ‘Konvergenz von Arbeit und Spiel’ in
‘einer Gesellschaft, in der selbst die gesellschaftlich notwendige Arbeit
im Einklang mit den befreiten, eigenen Bedürfnissen der Menschen
organisiert werden kann’,17 klingt eine sozialutopisch orientierte Muße-
Konzeption an.
Das Bürgerschreck-Image der Gammler beruht demgegenüber
nicht zuletzt auf dem seit dem Mittelalter sprichwörtlichen, ‘Aquins
Bestimmung der acedia als Einfallstor der anderen christlichen
Todsünden’ aufgreifenden Ressentiment: Müßiggang ist aller Laster
Anfang.18 Dabei geht ihr Verhalten nicht in bloßer Faulheit auf,
sondern vereint ‘Konsumverweigerung’19 und ‘Arbeitsverweigerung’,
die ‘auch als Müßiggang aufzufassen ist. Der Müßiggänger ist ein
Nicht-Arbeiter, aber kein Nichtstuer’.20 Damit konfrontieren sie
13
Ebd., S. 406 und 399.
14
Alle Zitate Robert K. Merton, Social theory and social structure, New York 1968, S. 207 und 194.
15
Ebd., S. 209–11.
16
Zitiert nach Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung (Anm. 9), S. 53–4.
17
Herbert Marcuse, ‘Das Ende der Utopie’, in Psychoanalyse und Politik, Frankfurt a. M. und Wien
1968, S. 9–18 (S. 17).
18
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 230; vgl. dazu Gabriele Stumpp, ‘Müßiggang als
Provokation’, in Arbeit und Müßiggang 1789–1914. Dokumente und Analysen, hg. von Wolfgang Asholt
und Walter Fähnders, Frankfurt a. M. 1991, S. 181–90.
19
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 403.
20
Leonhard Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800, Paderborn
2008, S. 14. Im Original in Kapitälchen.
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die ‘Arbeitsgesellschaft’ (Arendt) und politökonomische Werte und


Ziele der Wirtschaftswundergesellschaft – Arbeitseifer, Pflicht- und
Gemeinschaftsgefühl und Konsumziele wie Eigenheim, Auto und
TV. Die West-Berliner Innenbehörde konstatiert 1966: ‘Ihr Verhalten
und ihr äußeres Erscheinungsbild sind nicht auf Arbeitsscheu
zurückzuführen, es soll vielmehr Ausdruck eines Protestes gegen
die bestehende Gesellschaftsordnung und ihre Formen sein.’ Eine
Allensbacher-Umfrage bestätigt, dass sie ‘durch nichts tun und wenig
kaufen’ auffielen.21 ‘Tagediebe’ im Sinne Benjamins, mimen sie den
bürgerlichen ‘“ausgestellte[n] Müßiggang”’, so Thorstein Veblens Begriff,
an dem orientiert Benjamin einen modernen ‘Umbruch von Muße zu
Müßiggang’ konstatiert: Der Bürger ‘demonstriere seine Gegenstellung
zur Arbeit nach außen als Verweigerungshaltung’, womit Arbeit und
Nichtarbeit in Frontstellung geraten.22 Dabei verweigern die Gammler
nicht nur die Arbeit, sondern, an die Verachtung von Eigentum
der Bohème anschließend, auch eine ʻconspicuous consumptionʼ,
die ‘nicht in der Arbeits-, sondern in der Freizeitsphäre’ Erfüllung
sucht; im Unterschied zur ‘freie[n] Zeitdisposition’ der Bohème
handelt es sich um eine Erscheinung der ‘Freizeitgesellschaft’.23 Als
‘Agenten des Postmaterialismus’ zeigen sie mit dem ‘Trend zu Freizeit,
Muße und Genuß, der die ganze Gesellschaft erfasst hatte’, einen
‘Paradigmenwechsel’ an: ‘Gammler stellten Arbeit als Zentralkategorie der
modernen Gesellschaft grundsätzlich in Frage’. Es zeugt vom ‘kritische[n]
Zeitgeist’ dieser ‘internationale[n] “Gegenkultur”’ (Kreuzer), dass sie
‘radikaler als alle anderen Subkulturen’ den modernen Dualismus von
Arbeit und Nichtarbeit und die Überformung der Freizeit durch Arbeit
befragt:

[I]m Selbstverständnis der Gammler musste Freizeit, wenn sie wirklich


‘‘freie Zeit” sein sollte, völlig aus dem Konnex der Arbeit gelöst werden.
In der radikalen Konsequenz bedeutete die Verneinung der Arbeit und
die Ausdehnung der freien Zeit auf das ganze Leben einen Bruch mit
dem Konzept von Zeit schlechthin. Amerikanische Hippies fanden für die
Botschaft, sich künftig keinem technokratisch bestimmten Lebensrhythmus
mehr unterwerfen zu wollen, ein eindrucksvolles Symbol: Sie warfen ihre
Uhren fort.24

Hatte bereits Johann Christoph Adelung dem ‘Tagedieb’, dem


‘Müßiggänger’ als ‘Person, welche Gott und der Zeit gleichsam die

21
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 402–3.
22
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5); vgl. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hg. von Rolf
Tiedemann, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1982, bes. Konvolut ‘m [Müssiggang]’, II, S. 961–70. Im Original
in Kapitälchen.
23
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 403; vgl. zum Begriff ʻconspicuous consumptionʼ
Thorstein Veblen, Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, London 1912.
24
Alle Zitate in Siegfried, Time Is on My Side (Anm. 6), S. 405, 400 und 404.
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Tage stiehlet’,25 ein besonderes Verhältnis zu Zeit attestiert, so opponiert


das Phänomen der ‘Timelessness’26 in der Gammlerszene dezidiert gegen
die entfremdende Zeittaktung der Moderne und setzt, was Roland Barthes
als ‘Idiorrhythmie’ bezeichnet, die sich ‘der Macht entzieht’, dagegen:27
Der Idiorrhythmie eignet, so Barthes, ein ‘negative[s] Verhältnis zur
Macht’, die einen ‘Rhythmus […] des Lebens, der Zeit, des Denkens,
des Diskurses’ auferlege.28 Die subversive Kraft des Gammelns liegt
im Anspruch auf eine idiorrhythmische Lebensweise und individuelles
Glück (hēdonḗ), das in Abkehr von sozialem Konformismus und im
Ausstieg aus Lebens- und Karrierewegen gesucht wird, seine Provokation
besteht in Desintegration, Desidentifikation und Demotivation. Es
gewinnt ‘suggestive Popularität’ (Bathke),29 indem es das Bedürfnis
nach Selbstbestimmung vorführt und zeigt, ‘dass man alles für sich wollen
kann’, so Hans-Peter Ernst, Anführer der Frankfurter Provos. Die Distanz
der Gammler zu gesellschaftlich sanktionierten Identitätsversprechen und
ihr antikapitalistischer Antikonsumismus implizieren symbolpolitische
Dimensionen: ‘Arbeit und Leistung waren Zonen, die man meiden
musste, wollte man nicht in den circulus vitiosus von Erwerb und Konsum
geraten. Darauf verwiesen besonders drastisch ihre öffentlich ausgestellten
Praktiken des Nichtstuns’. Ihre Konsumverweigerung zeige, so der
Pädagoge Walter Tröger, einen

‘revolutionären Instinktʼ […], weil sie an den ʻGrundfestenʼ der Gesellschaft


rüttele. […] Nur die Gammler tun beim allgemeinen Umsatz nicht mit, und
dieser Angriff trifft zweifellos den Nerv; sie zeigen damit, dass sie genau
erkannt haben, was den Erwachsenen das Teuerste ist.30

Die wichtigste Form des Versuches, zu leben, ‘wie man in einer befreiten
Welt glaubt, leben zu sollen’, so Theodor W. Adorno, sei ‘der Widerstand,
dass man nicht mitmacht’.31

25
Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 4 Bde.,
Leipzig 1801, IV, S. 520.
26
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 404.
27
Leonhard Fuest, ‘Toxische Muße. Von wirksamen Rückständen in Literatur und Theorie’, in
Ökonomie des Glücks. Muße, Müßiggang und Faulheit in der Literatur, hg. von Mirko Gemmel und Claudia
Löschner, Berlin 2014, S. 77–97 (S. 87–8).
28
Roland Barthes, Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am
Collège de France 1976–1977, hg. von Éric Marty, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 2007, S.
81.
29
Zitiert nach Siegfried, Time Is on My Side (Anm. 6), S. 403.
30
Alle Zitate ebd., S. 405 und 403.
31
Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, zitiert nach Gerhard Schweppenhäuser, Ethik
nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg 1993, S. 192.
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II. ARBEIT? NIEMALS! SUBVERSIVE MUSSEPRAKTIKEN UND POETIKEN DER


NICHTARBEIT

Mit Blick auf Adornos berühmte Sentenz ‘Es gibt kein richtiges Leben
im falschen’32 liegt die Verweigerung der Gammler ‘weniger in den
politischen Aktivitäten […], sondern in ihrem ostentativen Anderssein’.
Gleichwohl ist der in einer geteilten ‘Ästhetik des Nonkonformen’
offenbare Übergang zur politischen und ästhetischen Protestszene
fließend,33 etwa zur Situationistischen Internationale mit ihren Slogans
Ne travaillez jamais und Sous les pavés, la plage und der Praxis des dérive.
Diese vom Bohème-Lebensstil der Surrealisten und Lettristen beeinflusste
Praxis des Umherschweifens definiert Guy Debord folgendermaßen:
Umherschweifende

verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die […] bekannten
Bewegungs- bzw. Handlungsgründe, auf die ihnen eigenen Beziehungen,
Arbeiten und Freizeitbeschäftigungen, um sich den Anregungen des
Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen hinzugeben. […] So
würden die etwas zusammenhanglose Lebensweise und sogar gewisse als faul
geltende und doch in unserer Umgebung immer wieder hoch angesehene
Späße […] einem allgemeinen Gefühl zuzuschreiben sein, das kein anderes
als das Gefühl des Umherschweifens wäre.34

Auch ist es nur ein kleiner Schritt zur antiautoritären Bewegung


um 1968, deren theoretische Diskurse auf einem primären, zunächst
affektiven Unbehagen fußen, das sich nicht zuletzt aus dem Entsetzen
über die unaufgearbeitete NS-Vergangenheit speist. Dabei stehen die auf
individuelle, situative Praxis statt auf politisch-emanzipatorische Theorie
fokussierten Gammler jedoch der Kommune I (K I) näher, die sich in
Uwe Johnsons Berliner Atelierwohnung einrichtet: Ihr Gründungsmanifest
beschreibt die ‘Praxis als Methode zur Erkenntnis der Wirklichkeit’.
Legendär wurde Fritz Teufels Reaktion auf die Aufforderung des Gerichts
im Brandstifterprozess um die Flugblätter der K I, aufzustehen: ‘Wenn’s
der Wahrheitsfindung dient’. Die von Teufel in Anlehnung an die Yippies,
die sich als countervailing power begreifen, so bezeichnete ‘Spaßgerilja’
(‘Revolution, so Jerry Rubin, muss Spaß machen’) schließt der SDS
wegen ‘“demonstrativer Ignorierung theoretischer Arbeit”’ und ‘“falscher
Unmittelbarkeit”’ aus.35 Von ihrer weniger untätigen als widerständigen
Praxis eines im ‘Spieltrieb’ befreiten Lebens – sie partizipiert an der
‘nietzscheanische[n] Avantgardeversion des ästhetischen Kunstregimes’

32
Theodor W. Adorno, ʻAsyl für Obdachloseʼ, in Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten
Leben, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, 20 Bde., Darmstadt 1998, IV, S. 42–3 (S. 43).
33
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 401–2.
34
Vgl. http://www.si-revue.de/theorie-des-umherschweifens (abgerufen am 18. August 2018).
35
Alle Zitate in Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung (Anm. 9), S. 55, 53 und 56.
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als einem ‘arbeitsanthropologischen Phantasma einer zur Kunst befreiten


Arbeit’ – führt ein Weg zur Nachhut der 68er, den Spontis.36
Ideengeschichtlich partizipieren das gammelnde Nichtstun und das
kommunardisch befreite Leben mit seiner Forderung einer freien,
schöpferischen Arbeit an literarischen und philosophischen Topoi der
‘Nichtarbeitspoetik’ und ihr inhärenten ‘Ganzheitlichkeitsversprechen’.37
Konkrete Anregungen sind die Dropout-Literatur der Beatniks, die
romantische Ästhetik des outsiders und die Vagabunden-Poetik des
Taugenichts Joseph von Eichendorffs, der schon die Wandervogel-
Bewegung der Jahrhundertwende inspirierte, eine entferntere Tradition
der Byronismus und der überflüssige Mensch der russischen Literatur des
19. Jahrhunderts, wie ihn die Antihelden aus Michail Lermontows Ein Held
unserer Zeit, Alexander Puschkins Eugen Onegin, Iwan Turgenews Tagebuch
eine überflüssigen Menschen, Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem
Kellerloch oder Iwan Gontscharows Oblomow vorstellen: Eine Kneipe dieses
Namens gehört ebenso zu den Treffpunkten Hamburger Gammler wie die
durch Hubert Fichtes gleichnamigen Roman, der ‘[e]ine 1959 begonnene
Gammler-Karriere’ schildert, berühmt gewordene ‘Palette’.38 Weitere
prominente Ahnen macht der genannte Spiegel-Artikel aus, Berliner und
Frankfurter Gammler zitierend:

‘Ich halte es wie Kalle Marx, der hielt auch nichts von dieser
Eigentumsscheißeʼ […]. Und sie kennen auch ein Vorbild: ʻJesus war
der erste Gammler.ʼ […] ‘Mein Vorbild? Das ist der Typ in der Tonne
(Diogenes).ʼ Das ist es, was ihre unappetitliche Welt zwischen Straßenrand
und Kellernische zusammenhält: der Müßiggang.39

Damit stehen sie auch in der Tradition der Mußekonzepte antiker


Philosophie und ihrer Rezeption in der Poetik des Müßiggangs: Sokrates
beschreibt die Muße als Schwester der Freiheit, Epikur propagiert
Hedonismus und Horaz’ Beatus ille homo sieht ab vom nichtigen Streben
nach Vermehrung des Vermögens.40 Modern aktualisiert prominent

36
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 204 und 522–3. Zur Kontinuität von Gammlermilieu und
nachfolgenden Subkulturen der ‘Neuen Linken’ vgl. Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung (Anm. 9),
S. 55; Bommi Baumann, Wie alles anfing. 30 Jahre ʻDeutscher Herbstʼ. Ein biografisches Dokument, Berlin
2007.
37
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 52. Vgl. zu literarischen Mußekonzepten u. a. Gabriele
Stumpp, Müßige Helden. Studien zum Müßiggang in Tiecks William Lowell, Goethes Wilhelm Meisters
Lehrjahre, Kellers Grünem Heinrich und Stifters Nachsommer, Stuttgart 1992; Ökonomie des Glücks. Muße,
Müßiggang und Faulheit in der Literatur, hg. von Mirko Gemmel und Claudia Löschner, Berlin 2014;
Arbeit und Müßiggang in der Romantik, hg. von Claudia Lillge, Björn Weyand und Thorsten Unger,
Paderborn 2017.
38
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 399, Anm. 154; vgl. Hubert Fichte, Die Palette, Reinbek
bei Hamburg 2005 [1968], S. 14.
39
Vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46414560.html (Anm. 7).
40
Vgl. Eberhard Straub, ‘Das Glück, das sich verweigert’, in Ökonomie des Glücks (Anm. 37), S. 17–30
(S. 18).
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Friedrich Nietzsche Muße-Konzepte im Kontext sowohl der ‘aristotelischen


schole, des römischen otium und der scholastischen vita contemplativa
als auch de[s] romantische[n] “Müßiggang[s]”, der eher mit dem
ungezwungenen und ziellosen Ausprobieren verschiedener Tätigkeiten
assoziiert ist’: ‘Wenn der Müßiggang wirklich der Anfang aller Laster ist, so
befindet er sich wenigstens in der Nähe der Tugend, der müssige Mensch
ist immer noch der bessere als der thätige.’ Die im Auftakt der Götzen-
Dämmerung formulierte Frage: ‘Müßiggang ist aller Psychologie Anfang.
Wie? Wäre Psychologie ein – Laster?’ bejaht Nietzsche insofern, als eine
‘lasterhafte Psychologie darauf trachtet, eben den “Anfang” vom Ende der
“Sklavenmoral” zu bilden’.41 Rudi Dutschke betont im Verweis auf das
aus Karl Marx’ Kapital übernommene Zitat: ‘“[W]enn jedes Werkzeug auf
Geheiß, oder auch vorausahnend, das ihm zukommende Werk verrichten
könnte, […] wenn so die Weberschiffe von selbst webten, so bedürfte es weder
für den Werkmeister der Gehilfen, noch für die Herrn der Sklaven”’,
dass bereits ‘Aristoteles […] die Aufhebung der Lohnsklaverei antizipiert’,
und zitiert mit Marx und Paul Lafargue Antipatros: ‘“Laßt uns leben das
Leben der Väter, und laßt uns der Gaben /Arbeitslos uns freun, welche die
Göttin uns schenkt.”’42 Gerade auch das Vorbild des Kynikers Diogenes, der
in seiner Verfolgung als ‘natürlich empfundene[r] Handlungsimpulse’,
seiner Ablehnung konventioneller Werte und seinem Antikonsumismus
und Antiautoritarismus das Gammlertum vorwegnimmt, erstaunt wenig: Er

widmet sich ungehemmt und freudvoll einfachen körperlichen Genüssen,


verbringt sein Leben als Wanderer jenseits der Einzäunungen der Zivilisation
und macht sich gar nicht erst die Mühe, dem Gesetzeskodex der
Mehrheitsgesellschaft zu folgen. Sondern verbreitet als sprichwörtlicher
ʻFalschmünzerʼ seinen intuitiv gebildeten Tugendbegriff unter den
Menschen, indem er sie im doppelten Wortsinne vor den Kopf stößt.43

III. ‘NEIN, ICH KANN NICHT ARBEITEN’: EIN TAG IM LEBEN EINES TAUGENICHTS

Die Lohnerwerbsarbeit verweigert auch der – allerdings gepflegte und


behauste – Protagonist des Kultfilms Zur Sache, Schätzchen von May Spils
(1968): Als Kommentar auf die Gammler interpretiert, verbindet den
Schwabinger Bohémien Martin (Werner Enke) mit ihnen doch allein der
Hang zur Horizontalen: Der ‘sanfte[] Verweigerer’ legt sich schlafen, als in

41
Alle Zitate Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 229 und S. 222–3.
42
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 58. Gesperrt im Original; vgl. Ernst-
Ullrich Pinkerts Verweis auf die Quellen (ebd., S. 73, Anm. 157): Karl Marx, Das Kapital. Kritik der
politischen Ökonomie, 43 Bde., Berlin 1965, I, S. 430; Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit und persönliche
Erinnerungen an Karl Marx, Frankfurt a. M. 1969, S. 64.
43
Michael Schäfer, ‘“Dieser Beruf ist für uns zwar anstrengend, aber spitzenmäßig”. Arbeit und
Kynismus in Helge Schneiders Kommissar Schneider-Romanen’, in Ökonomie des Glücks (wie Anm.
37), S. 57–75 (S. 63 und 64).
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118 SARA BANGERT

der Eingangssequenz nachts der Elektronikmarkt gegenüber ausgeraubt


wird.44 So findet ihn sein Freund Henry am nächsten Mittag.

Sag mal, wie viel Tage liegst du eigentlich schon wieder im Bett? – Weiß nicht
so genau, interessiert mich nicht, draußen rumzurennen. – Was interessiert
dich überhaupt? […] – Weiß nicht so genau, ich weiß nur ziemlich genau,
was mich nicht interessiert, zum Beispiel morgens aufstehen. Und übrigens,
der Vater von Balzac hat zwanzig Jahre im Bett gelegen. (00:05:22-00:05:40)

Die Szene verweist auf einen Topos, den etwa auch Karl Kraus’ ‘Lob der
verkehrten Lebensweise’ (1908) aufruft, ‘einen alten König’ Shakespeares
(König Lear, III. 6) zitierend: ‘“Macht kein Geräusch, macht kein Geräusch;
zieht den Vorhang zu! Wir wollen des Morgens zu Abend speisen.” Ein Narr,
der die Verkehrtheit dieser Weltordnung bestätigt, setzt hinzu: “Und ich
will am Mittag zu Bette gehen.”’45 Zeitgenössisch verarbeiten den Topos
etwa auch George Perecs Un homme qui dort (1967) und John Lennons I’m
only sleeping (1966):

Everybody seems to think I’m lazy


I don’t mind, I think they’re crazy.
Running everywhere at such a speed
Till they find there’s no need.

Please, don’t spoil my day, I’m miles away,


And after all, I’m only sleeping.46

Den Tag zu verschlafen und, wenn etwas zu tun, Konventionen


zu missachten, sich unerwartet zu verhalten, ohne Zweck und Ziel
umherzuschweifen ist Martins ludischer Stil; in seinem Credo ‘Es ist besser
wenn man nichts tut, als wenn man irgendwas tut, da kommt man viel
weiter’ (00:17:36), und seiner Selbsteinschätzung ‘Nein, ich kann nicht
arbeiten’ (01:06:07), klingt das situationistische Ne travaillez jamais nach:
‘Das Nichtstun korrespondiert also mit der Verweigerung von erwarteten
Handlungen.’47 Als Henry ihn zum Polizeirevier nötigt, um den Diebstahl
anzuzeigen, setzt sich seine ebenso an Teufels Verhöhnung institutioneller
Rituale wie an das Verhalten der literarischen Figur des Eckenstehers

44
Vgl. Georg Seeßlen, ‘Nichts Fremdes im Eigenen. Anmerkungen zum Neuen Deutschen Film –
Einflüsse und Vorbilder’, in Abschied vom Gestern. Bundesdeutscher Film der sechziger und siebziger Jahre
(Ausstellungs-Katalog), hg. von Hans-Peter Reichmann, Hilmar Hoffmann und Rudolf Worschech,
Frankfurt a. M. 1991, S. 28–9, zitiert nach http://zursacheschaetzchen.de/kapitel-4/ (abgerufen am
19. August 2018).
45
Karl Kraus, ‘Lob der verkehrten Lebensweise’, in Ausgewählte Werke, 3 Bde., Bd. 1: 1902–1914.
Grimassen, hg. von Dietrich Simon u. a., München 1977, S. 158–61 (S. 159).
46
Vgl. https://www.thebeatles.com/song/im-only-sleeping (abgerufen am 19. September 2019).
47
Heiko Stoff, ‘“Ungeheuer schlaff”. Der Film “Zur Sache, Schätzchen” (1968): Über
Leistungsdenken und Gedankenspiele’, in Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History,
11 (2014), 500–7 (505).
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MÜSSIGGANG IST ALLER LASTER ANFANG? 119

vor Gericht48 erinnernde Verweigerung fort: ‘Also jetzt reicht’s mir, jetzt
stelle ich mal Fragen. […] Also wer oder was ist Schopenhauer? a) Ein
Astronaut, b) Ein berühmter Fußballer in den 30er Jahren, oder c) Eine
urzeitliche Keule zum Töten von Tieren’ (00:13:39-00:13:51). Während die
Polizisten über eine Festnahme beraten, flüchtet Martin durch ein Fenster.
Sie verstecken sich im Freibad, wo er Barbara (Uschi Glas) anspricht, mit
der er den restlichen Tag verbringt. Die Schelmenfigur erhält Tiefe, wenn
er über Vergänglichkeit sinniert und angesichts der Löwen im Zoo seine
Philosophie des Rückzugs und der Langeweile entwickelt:

Freiheit ist bedrückend, finden Sie nicht? […]. [D]ie Phantasie wächst mit
der Begrenzung des Raums. […] Der Bursche da, der verplempert seine Zeit
nicht mehr damit, irgendwelchen Gazellen nachzujagen, der denkt nach.
Der hat ganze Dramen im Kopf. […] Die wirklichen Erlebnisse sind bloß
’n schlaffer Ersatz für die Phantasie. (00:33:20-00:34:05)

Zuletzt von Polizisten gestellt, bezichtigt er sich selbst des beobachteten


Einbruchs und legt mit seinem Revolver auf einen von ihnen an. ‘Denken
Sie manchmal an Selbstmord? – Nein, warum? – Warum nicht, Sie Idiot?
Ich denk, Sie sind ’n normaler Mensch’ (01:14:23). Der Polizist schießt,
Martin fällt – und steht auf mit den Worten: ‘Na. Da haben sie ja nochmal
Schwein gehabt’ (01:15:29).
Eine politische Programmatik vermittelt diese ‘Lieblingsgestalt des
Neuen Deutschen Films’ nicht, ein ‘Straßendieb mit hohem ästhetischem
Bildungsgrad, einer der Proletarier und Intellektueller zugleich ist,
Rebell und Melancholiker, Versager und Philosoph.’49 Seine ‘Passivität im
befreiten Sinn einer “anderen Kunst”’ versinnbildlicht ein ambivalentes
Schwanken zwischen dem Müßiggangstopos der acedia und dem
romantischen Müßiggang50 und steht damit zugleich in der Tradition
der Bohémiens, Flaneure, Dandys, des Byronismus, des überflüssigen
Menschen und der Poetik des ennui. Auch wurde er tituliert als ‘Minimal-
Version von James Joyces Ulysses […] genährt von der Taugenichts-
Phantasie, die einem Werner Enke Sätze eingeben, wie diesen: “Das
wichtigste an der Pseudo-Philosophie ist, daß am Ende nichts dabei
herauskommt.”’51 Dies verbindet diesen ‘Vorreiter eines Trends weg von
der zentralen Stellung der Arbeit […] hin zu mehr Freizeit, Genuss und
sogar Müßiggang’ mit den Gammlern und unterscheidet ihn von der
68er-Bewegung: Kein Ruf nach Revolution, kein Zug zum System, keine
politische Theorie:

48
Vgl. Olaf Briese, ‘Eckensteher. Zur Literatur- und Sozialgeschichte eines Phantoms’, in
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 37/2 (2012), 239–88.
49
Seeßlen, ʻNichts Fremdes im Eigenenʼ (Anm. 44).
50
Vgl. Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 229.
51
Vgl. http://zursacheschaetzchen.de/kapitel-4/ (abgerufen am 19. August 2018).
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120 SARA BANGERT

In seinem Statement gegen die Sinnleere der ʻLeistungsgesellschaftʼ kommt


Martins Lässigkeit so unpathetisch daher, dass sie sogar das Pathos der
Verweigerung vermissen lässt, das bei Fleischmanns Dokumentation noch
ungefiltert hervortritt. Sein Ort, um es bildlich zu fassen, ist nicht die Straße,
sondern das Bett.52

Doch scheint auch er von der Maxime beseelt: Kein richtiges Leben
im falschen. Dies in ‘Leistungsverweigerung’, ‘Eskapismus’53 und
‘existentiellen Widerstand’54 umzusetzen, eint ihn mit einer tragischen,
den melancholischen Aspekt der acedia verkörpernden Gegenfigur, die
etwas früher entworfen wurde und nicht der Gegenkultur entstammt.

IV. EXISTENZIELLER ‘AUSFALL’ EINES ‘MÜDE GEARBEITETEN SKLAVEN’

Mit Luise Meier lässt sich die wohl bereits 1959 entstandene Erzählung Der
Schweißer aus dem Nachlass Ingeborg Bachmanns als ‘Sabotage’ am System
durch ‘Verschwendung von Arbeitskraft und Lebenszeit’ lesen.55 Der
Wiener Arbeiter Andreas Reiter erliegt nach der Lektüre von Nietzsches
Die fröhliche Wissenschaft dem Erkenntnisschock – dessen Metapher ist das
Licht des Schweißens:

[D]a ist mir die Brille zersprungen und nun springt das Licht herein,
wie ein Wolf und frißt meine Augen und mein Hirn auf. Wie mir alles
durcheinanderkommt. Wenn wir die Welt antreten sollen […], dann möchte
ich nicht, daß an uns und allem zu wenig ist […]. Ich hätte auch nicht lesen
und denken mögen vor dem Tag. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was aus mir
wird.56

Dem philosophischen Zweifel, der ‘brennende[n] Frage’ (S. 74) erlegen,


gibt er seine Arbeit auf, lässt sich krankschreiben, stellt jede Aktivität ein
und bleibt im Bett. Vergeblich sucht er Orientierung in Büchern und bei
seinem tumben Gegenüber, vor dem er bekennt: ‘Ich kann nicht mehr,
Herr Doktor. […] Es ist etwas gerissen in mir. Zersprungen. Ich kann
nicht mehr arbeiten, zur Stund aufstehen, mich aufraffen. Nie mehr werd
ich arbeiten können’ (S. 67). Er vernachlässigt seine todkranke Frau und
seine Kinder und verfällt im Kaffeehaus in einen alkoholgeschwängerten
heiligen Wahn:

52
Detlef Siegfried, 1968 in der Bundesrepublik: Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018, S. 34.
53
Stoff, ʻ“Ungeheuer schlaff”ʼ (Anm. 47), S. 504 und 505.
54
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 16; von ‘existentielle[m]
Widerstand’ spricht Dutschke über Büchner und Peter Paul Zahl (vgl. Abschnitt V).
55
Luise Meier, MRX-Maschine, Berlin 2018, S. 29 und 27. Für den Hinweis danke ich Andreas
Gehrlach.
56
Ingeborg Bachmann, ‘Der Schweißer’, in Werke, Zweiter Band: Erzählungen, hg. von Christine
Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, München 1978, S. 59–75 (S. 69–70). Im
Folgenden wird im Text zitiert.
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MÜSSIGGANG IST ALLER LASTER ANFANG? 121

Trinken Sie noch eins mit mir, Genosse Doktor […]. Sie werden mit uns
auf die Barrikaden kommen, wenn es um die Wurst geht, aber da ist noch
eine andere Barrikade. Wer steht da schon? Schaut! Bin ich das vielleicht?
Wie kommen wir denn zusammen, Herrschaften, wir, denen es um den
Wurstzipfel geht, und wir, denen es um den Gedanken über die ganze Wurst
geht und die allergrößten Gedanken über uns und die Wurst. Schöne Wolke,
die vorüberzieht … Was für ein Geschrei ist das in der Nacht! (S. 74)

Reiter stürzt sich ‘in einem Anfall von Schwermut […], da seine Frau
kurz zuvor […] gestorben war’ (ebd.), so die zweifelhaft bleibende knappe
Erklärung, die der Schluss der Erzählung anbietet, von der Florisdorfer
Brücke – ebender Brücke, auf der 1934 Arbeiter gegen den Staat
kämpften. Er reagiert auf die krisenhafte Anomie mit ultimativem retreat
und gehört damit zu jenen Figuren, die dem Versprechen der Erfüllung
des Lebens durch Arbeit ebenso wie dem Ganzheitlichkeitsversprechen der
Nichtarbeit ‘eine Absage’ erteilen – jedoch als öffentlicher Störfall, nicht
wie Oblomow und Bartleby in einsamer Untätigkeit dahinschwindend:
‘In seiner Weigerung, sich an dieser Langeweile [des ‘tätigen Leben[s]’,
S. B.] zu beteiligen, muss Oblomow untätig bleiben und kann so erst
recht nicht den eingeklagten ganzen Menschen zur Erfüllung bringen,
sondern verkümmert’, ähnlich wie Bartleby, der, der ‘protestantische[n]
Arbeitsethik’ sein ‘“I prefer not to”’ entgegnend, ‘an der eigenen
Verweigerung zugrunde’ geht.57 Auch wenn Reiters ‘Ausfall’58 narrativ
nicht eindeutig motiviert wird, ist im vorliegenden Kontext – neben
‘Arbeit und Langeweile’ – der Abschnitt ‘Musse und Müssiggang’ aus
Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft bemerkenswert, dem das Zitat des
‘müde-gearbeitete[n] Sklaven’ entstammt:

‘[E]s könnte bald so weit kommen, daß man einem Hange zur vita
contemplativa […] nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen
nachgäbe. – Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte
Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn
die Not ihn zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck
des Gefühls, daß er etwas Verächtliches tue – das ʻTunʼ selber war etwas
Verächtliches.59

Dabei lässt sich Der Schweißer als Kritik nicht nur an entfremdeter Arbeit,
sondern auch an nihilistischem Eskapismus lesen.60 Eine andere, der

57
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 53.
58
Meier, MRX-Maschine (Anm. 55), S. 29.
59
Friedrich Nietzsche, ‘Die fröhliche Wissenschaft’, in Sämtliche Werke, 15 Bde., München 2 1988,
III, S. 343–652 (S. 556–7). Vgl. zu Nietzsches Äußerungen über Arbeit und Müßiggang auch Gisela
Dischner, Friedrich Schlegels Lucinde und Materialien zu einer Theorie des Müßiggangs, Hildesheim 1980,
S. 234–53.
60
Vgl. Jost Schneider, ‘Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld’, in Bachmann-
Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche, Stuttgart und Weimar
2002, S. 112–26 (S. 123–4).
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Meiers nähere Deutung ließe sich Dutschkes Verweis auf Georg Büchners
Rede über Kato als Ausdruck seines ‘Existentialismus des Widerstands’
anschließen: ‘Das Recht auf Selbstmord, sich durch nichts daran hindern
zu lassen, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, ist der Grundkern
des anti-autoritären Gehalts jener Rede.’61 Die subversive Politisierung der
Arbeitsverweigerung radikalisiert allerdings ein anderer Typus.

V. DAS RECHT AUF FAULHEIT: ‘MÜSSIGGANG IST ALLER TUGENDEN UND KÜNSTE
ANFANG’

Peter-Paul Zahl ist Vertreter der Spontis und der ‘nicht-studentische[n] Seite
der Revolte der 60er’ als, so Dutschke, ‘jene Richtung, die nicht bereit war,
in die selbsternannte Avantgarde abzugleiten, vielmehr ihre prinzipielle
Hoffnung auf die Masseninitiative bewahrte’.62 Seine ‘[w]iderstehende
Literatur’63 narrativiert die Szene der Westberliner Gegenkultur und atmet
den Geist der Subversion. Der Schelmenroman Die Glücklichen, während
Zahls Haft geschrieben, bietet ‘Einblicke in die Welt derer, die nicht mehr
mitmachen wollen, im Beruf nicht, in den gesellschaftlichen Konventionen
nicht, auf keiner Ebene dessen, was besteht.’64 Kapitel V schildert unter
dem Titel ‘Morgenstund ist aller Laster Anfang’ (S. 83–4) die Leiden des
Arbeitnehmers:

Sagmal, weißt du, was Arbeiten bedeutet? […]. Wo soll man denn bei so einem
Irrsinn anfangen? Beim Aufstehen. […] Was heißt hier Aufstehen? … Um
5.00 vergewaltigt einen der Wecker. […] Du fällst aus dem Bett, hast ne
Wahnsinnswut im Bauch […]. Ich hab vor kurzem gelesen, die Anhänger
von Bakunin in der Ersten Internationale damals …, also damals, die kamen
zumeist aus der Schweiz. Und weißt du, was die produzierten? Worauf die
noch stolz waren? Uhren! Jawoll, Uhren. Diese armen Irren! Kein Wunder,
daß in der Schweiz keine Revolution ausgebrochen ist […]. Was das mit
Weckern zu tun hat? Das hat mit Weckern zu tun. Und ob! Daß man nämlich
Sachen herstellt oder baut, die einen selber umbringen. Ein Wecker – das
ist neben dem Scheck die Erfindung des Kapitals, jawoll. […] Sag mal, ist
man überhaupt Mensch, wenn man so früh aufstehen muss? […] Die spinnen
doch alle: Mehrwert, Betriebskampf, Proletarier vereinigt euch … Und ich
hab mich bequatschen lassen. Ich hänge mich auf. Sofort. Aber dazu müßte
ich aufstehen. […] Ich stehe auf … Verdammt! (S. 85–7)

61
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 14.
62
Ebd., S. 54 (gesperrt im Original) und 41. Dies weist voraus auf die postoperaistische Forderung
der ‘“Widerständigkeit der multitude”’, wie Michael Hardt und Antonio Negri formulieren, die sich
in John Holloways düsterer Vision in ‘Barbarei und Schreien’ äußert; Schäfer, Die Gewalt der Muße
(Anm. 5), S. 522; vgl. Abschnitt VI.
63
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 58.
64
Peter-Paul Zahl, Die Glücklichen. Schelmenroman, Berlin 1979, hier: Klappentext. Im Folgenden wird
im Text zitiert.
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Die Tirade des Protagonisten Jörg zeigt die Abgrenzung von den
Analysen der Neuen und der orthodoxen Linken ebenso wie eine –
so formuliert Henner Voss’ im Klappentext abgedruckte, in Vorwärts
erschienene Rezension – an Brechts Schilderung der ‘Entmenschung’ im
Kapitalismus gemahnende Forderung nach einem idiorrhytmischen Leben
und die hedonistische Phantasie, mit der Geliebten im Bett zu bleiben.
Die affektive Überzeugung von dem höheren Recht dieser Ansprüche des
nackten Lebens und Körpers, die es dem Zugriff der Arbeit als ‘Verfahren der
Biomacht’ zu entziehen gilt, und die Bereitschaft, den Lebensunterhalt auf
kriminelle Weise zu sichern, sind so stark, dass sie fast durch ‘“Einfrieren”
der Zeit’ den letzten Arbeitstag des Paars vereiteln.65

Was bedeutet dies: mal ehrlich arbeiten? […] Vergessen wir unser Vorhaben,
ehrliche Menschen zu werden! Komm, wir pennen weiter. Und abends gehe ich
wieder stehlen […]. Oder ich breche ein. […] Irgend etwas. Nur nicht das …
(S. 88)

Ihre Unlust in szenetypische Slogans überführend – ‘Unter dem


Zementboden der Werkshallen dieser Scheißfabrik liegt der Strand!’
schmiert er in die Toilette; sie kontert mit Ton Steine Scherben: ‘Macht
kaputt was euch kaputtmacht. Macht (es folgt der Firmenname) kaputt!’
(S. 93–4) – opponieren sie gegen die Internalisierung der Arbeit, der
sie die vitalistische und situationistische Untergrund-Topografien und
literarische Topoi der Nichtarbeit beerbende Forderung eines anderen
Lebens entgegenhalten. In Kapitel VIII wählt Ilona die Schlussworte aus
Büchners Leonce und Lena als Motto für ihre ‘Lehr- und Wandermonate’
(S. 153–16) – ihre Ausbildung zur Diebin:

Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen
Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr […]. Und es wird ein Dekret
erlassen, daß, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt
wird; daß, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; daß jeder, der
sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt
und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird; und dann legen
wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen,

65
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 60 und 265. Benjamins Entwurf einer ‘eingefrorene[n]
Vorstufe der Praxis und der Arbeit’ und seinen Bezug ‘auf physis – auf das prekäre, stets von Gewalt
bedrohte Sein eines “bloßen Lebens” […], d. h. auch auf eine nicht arbeitende, nicht nach Maßgabe
der Arbeit biopolitisch zugerichtete und daher für die Arbeitsanthropologie nicht menschliche
Menschlichkeit”’ (ebd.) greifen Jacques Derrida und Giorgia Agamben auf: ʻIn der Muße wird
[…] etwas dringlich und teilweise problematisch, was der staatlichen, göttlichen oder natürlichen
Gewalt widerständig bleiben soll: ein “Undekonstruierbares” (Jaques Derrida […]) bzw. das “nackte
Leben” (Giorgio Agamben […]) als Entblößung ohne Hypostase und damit einer biopolitischen
Organisation vorgängig)’ (ebd., dort Anm. 35). Derrida definiert Arbeit entsprechend in ihrem
Zugriff auf den Körper: ‘“Arbeit setzt einen lebendigen Körper voraus, sie nimmt ihn in Beschlag
und situiert ihn”’ (ebd., S. 60).
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um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion! (S.


153)

Die von Leonce und dem Narren Valerio vorgestellte Vision eines
staatlich verordneten Paradieses der Faulheit in der Tradition von
Schlegels „Idylle über den Müßiggang“ – der darin in satirischer
Überspitzung heraufbeschwore Topos der Idylle lässt sich auf Schäfers
These beziehen, ‘dass erst über Arbeit oder Nichtarbeit der Mensch
in seiner Ganzheitlichkeit erzählbar wird’66 – wendet Zahl zu einer
subversiven Politisierung der Arbeitsverweigerung. Der ‘Allwissende[]
Autor[]’ (ebd.) montiert in Reminiszenz an die Undergroundzeitschrift
agit 883 eine Ausgabe der selbstproduzierten Zeitschrift Der Glückliche
Arbeitslose in den Text (S. 197–221), deren Leitartikel Zahls Essay Müßiggang
statt/oder Arbeit? von 1976 reformuliert. Er beginnt mit den Worten:

Wohin man auch schaut, ob In- oder Ausland, es wird wahrhaftig über
Arbeitslosigkeit und Berufsverbot geklagt und gejammert. […] Man wagt,
uns Faulenzertum, Genusssucht und Müßiggang vorzuwerfen – wovon es gar
nicht genug geben kann –, und Ihr bettelt darum, Berufe ausüben zu dürfen?
(S. 200)

Den Protest gegen das ‘Berufsverbot’, den Radikalenerlasses von 1972, der
Personen aus dem linken Spektrum an der Ausübung erlernter Berufe im
öffentlichen Dienst hinderte, wendet Zahl in die Forderung der Befreiung
von der Arbeit, sich auf Marx und Lafargues Recht auf Faulheit berufend:

An wem liegt es, wenn Angst und Resignation regieren? An uns! […] Fordern
wir nicht: Arbeitslosigkeit für Alle!? Liegen nicht großartige Perspektiven
darin, ein ganzes Leben lang nichts, aber auch gar nichts für den Moloch
,Kapitalverwertung‘ zu tun? Wächst nicht im Schoße der Alten Gesellschaft
das strahlende Kind der Zukunft heran: der tanzende, lachende, spielende,
genießende, singende Mensch von Morgen, der seine Bedürfnisse liebt und
lebt? (ebd.),

so fragt er mit ‘Brechtscher Zunge’, und schließt in ‘subversive[m]


Schelmen-Ton’67 : ‘[B]ald wird auch dem Letzten einsichtig, dass der
malochende, schwitzende, nervlich zerrüttete Lohnabhängige […] ein
Gespenst grauer Vergangenheit, dunkler Vorgeschichte sein muss’, und
fordert: ‘Berufsverbot für Alle! Eine Jede, ein Jeder arbeitslos! […]. Schluss
mit der Verdrehung aller Werte! […]. Arbeit ist Verrat am Proletariat!’ (S.
200). Arbeitslosigkeit wird zum Kampfbegriff, Nichtstun zur politischen
Forderung. Ähnlich äußert sich Bommi Baumann, ein weiterer Protagonist
der Westberliner Gegenkultur, in einem in agit 883 abgedruckten Brief:

66
Ebd., S. 52.
67
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 57 und 56.
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Das Leben, wie es bisher abrollt, erscheint uns sinnlos, öde, leer und
unmenschlich. Wir versuchen, auf irgendeine Art auszubrechen […]. Aber
bald müssen wir entdecken, daß uns das System auch dabei nicht in Ruhe läßt.
… An Stelle der entfremdeten kapitalistischen Arbeit müssen wir und werden
wir eine Arbeitsweise setzen, die auf Bedürfnisbefriedigung des Menschen
beruht.68

Die Utopie der befreiten Arbeit, die Forderung ‘künftiger Arbeits- und
Lebensweisen’ (S. 200), formuliert Zahls Verkehrung des titelgebenden
Verdikts: ‘Müßiggang ist aller Tugenden und Künste Anfang’.69 Hier klingt
nicht nur die Nietzsche’sche ‘Befreiung der Arbeit zur Kunst […] als
Befreiung der Arbeit zur Nichtarbeit oder als Befreiung zur “wirklichen”
Arbeit’ und das inhärente ‘Ganzheits- bzw. Menschlichkeitsversprechen’70
an, sondern auch Marcuses zitierte Forderung einer Organisation der
Arbeit im Einklang mit den befreiten Bedürfnissen. Wie Dutschke
betont, befindet sich Zahl damit ‘in bester Tradition’: Die ‘[e]xtreme
Nähe zwischen Zahl und Büchner, gerade in der scharfen Kritik
der entfremdeten Arbeit’,71 verdeutlicht etwa auch Büchners einem
Bürger in den Mund gelegter Ausruf: ‘Unser Leben ist der Mord durch
Arbeit; wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zapplen [sic], aber wir
werden uns losschneiden.’72 Zahls ‘Negation von Lohn-Sklaverei’, die
in ‘Arbeitslosigkeit und Berufsverbot […] Vorstufen künftiger Arbeits-
und Lebensweisen’ erkennt, begründet Dutschke aus der ‘Erkenntnis des
Widerspruchs zwischen dem höchstentwickelten ökonomisch-technischen
Reichtum und den unterentwickelt gehaltenen Bedürfnissen’, die
‘Arbeitsverweigerung als grundlegende Voraussetzung für die Freiwerdung
von menschlichen Entwicklungsbedürfnissen’ erscheinen lässt; auch sein
Roman Von einem, der auszog, Geld zu verdienen thematisiere ‘jene Langeweile
im Büchnerschen Sinne, die hin und wieder den “göttlichen” Müßiggang als
Hoffnung auf bessere Zeiten, Zustände und Beziehungen […] aufklingen
läßt’. In dieser von ihm konturierten Tradition steht auch Dutschkes
Frage: ‘Ist nicht Müßiggang (und Selbsttätigkeit) der Anfang aller Muße,
Freiwerdung, Lust und Widerstand?’73

68
CheSchahShit. Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow, hg. von Eckhard Siepmann u. a.,
Berlin 1984, S. 198.
69
Peter-Paul Zahl, Miss Mari Huana, Köln 2007, S. 10. Die Formulierung zitiert den Schlusssatz von
Lafargues Das Recht auf Faulheit.
70
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 604.
71
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 58 und 37.
72
Georg Büchner, ‘Dantons Tod. Ein Drama’ (1. Akt, 2. Szene), in Werke und Briefe, Münchner
Ausgabe, hg. von Karl Pörnbacher u. a., München 12 2006, S. 57–133 (S. 74).
73
Alle Zitate in Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 50, 40, 56–7 und 54.
Zahl betone ‘emanzipative[...] Bedürfnisse’ (ebd., S. 51), in deren Organisation die Linke versagt
habe. Bereits der frühe Marx beklagt die ‘Bedürfnislosigkeit’ des Proletariats (ebd.) und konstatiert:
‘Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der
“Arbeit” gefasst wird’; Karl Marx, ‘Über Friedrich Lists Buch Das nationale System der politischen
Ökonomie’, in Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 3/14 (1972), 423–46 (436).
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VI. PRIMÄRE BEDÜRFNISBEFRIEDIGUNG: ZURÜCK ZUM HÖHLENMENSCHEN

Die Forderung nach Bedürfnisbefriedigung ist keine Eigenheit der


Spontiszene. Das ‘Unbehagen in der Kultur’ plagt auch Themroc (Michel
Piccoli), den Protagonisten der gleichnamigen satirischen Komödie des
ehemaligen Arbeiters und PCF-Mitglieds Claude Faraldo (1973), einen
puer robustus, der in anarchischem Primitivismus die Ordnung gefährdet.
Der Anstreicher eines Pariser Unternehmens führt sinnlose Arbeiten aus
und lebt mit Mutter und Schwester, für die er ein inzestuöses Begehren
hegt. Als er gemaßregelt wird, entlädt sich seine Frustration in einem
Wutausbruch. Er verlässt den Arbeitsplatz, vermauert seine Zimmertür
und bricht ein Loch in die Außenwand, durch das er die Einrichtung in
den Innenhof wirft. Dass er sich seines Eigentums entledigt, markiert die
Passage in einen Zustand der Verweigerung jeglicher ziviler Ordnung: Das
Zimmer wird zur Höhle, in der Themroc mit seiner Schwester und weiteren
Personen in kollektiver Regressionslust und Sinnenfreude haust und
öffentlich seine Bedürfnisse befriedigt, alle kulturellen Tabus brechend:
Zum Inzest kommt Kannibalismus, wenn er schließlich einen Polizisten
am Spieß brät. Die Ordnungsmacht sucht mit Maurern und Tränengas
vergebens, das regellose Treiben zu beenden. Am Ende triumphiert die
regressive Utopie, es entstehen neue Löcher in Fassaden und immer mehr
Stimmen fallen in sehnsüchtiges Geheul ein. ‘Der poetische, vom Living
Theatre inspirierte Schluß der Barbarenmär hat mehr von Rousseau als
von moderner Stadtguerilla.’74
Faraldo setzt auf Übertreibung, Komik, Provokation und Kontrast:
Von der Kultur zurück zur Natur, vom entfremdeten Arbeiter zum
‘[a]narchimalischen’ Barbar,75 der jegliches kulturell sanktionierte
Verhalten verweigert – bis hin zur Sprache als Signum des Humanen.
Die Entmenschung wendet Themroc, indem er zum Höhlenmenschen
regrediert. Unter dem Pflaster, das sich als dünne Kruste erweist, ist
der Strand, und in jedem Menschen ein ‘Tier, das wie ein Sträfling im
Gefängnis eingeschlossen ist, und eine Tür – und wenn man die Tür halb
öffnet, stürzt sich das Tier nach draußen’: Georges Bataille definiert den

Zwang zur Metamorphose als ein gewaltsames Bedürfnis […], das sich übrigens
mit allen unseren tierischen Bedürfnissen vermischt und das den Menschen dazu
anstachelt, sich plötzlich der Gesten und Posen zu entledigen, die vom
menschlichen Wesen gefordert sind; daher kommt der Mensch bis auf

74
Vgl. die unter dem Kürzel W. D. publizierte Kritik in der Rubrik ‘Filmtips’ (Sehenswert:
‘Themroc’), in Zeit, Nr. 6/1974 (1. Februar 1974), https://www.zeit.de/1974/06/filmtips (abgerufen
am 12. September 2018).
75
Wilfried Hippen, ‘Michel Piccoli wird zum Tier’, in taz. die tageszeitung, Nr. 9067 (17. Dezember
2009), http://www.taz.de/!518211/ (abgerufen am 12. September 2018).
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weiteres plötzlich zu Tode, und das Tier verhält sich wie ein Tier, ohne sich
darum zu sorgen, die dichterische Bewunderung des Todes hervorzurufen.76

Nicht sozialistische oder kommunistische Agitation transportiert der


dialogfreie Film, sondern anarchische Regression und fundamentale
Verweigerung, die die Berufung auf die physis des bloßen Lebens
radikalisieren und in ihrem konsequenten Ganzheitsanspruch das in
den bisher diskutierten Beispielen eher latente Gewaltpotential entfesseln
– auf ein ‘intimes Verhältnis des Ganzheitlichkeitsversprechens der
Nichtarbeit zur Gewalt’ verweisend.77 So vermittelt die Groteske neben der
vordergründig politisch simplen symbolischen Wunscherfüllung zugleich
in ironischer Brechung:

Das Ethos, das sich in der Muße ausdrückt, war stets kulturkritisch, nicht in
der bester [sic] aller Welten zu leben, und immer von Menschen umgeben
zu sein, die nie vernünftig werden und trotz aller Zivilisation der Barbarei so
nahe, wie der Rost auf dem polierten Eisen. Auch vorbildliche Zivilisationen,
wie die griechisch-römische, können zusammenbrechen und verschwinden.
Die Kultur bietet keinen Schutz.78

VII. FAZIT: ‘INSELN DES RICHTIGEN LEBENS IM FALSCHEN SYSTEM’

Nur ein Ausschnitt aus dem Panorama literarisch und filmisch verarbeiteter
Typen der Verweigerung im Milieu der Gegenkultur der 60er und 70er
wurde hier skizziert, ausgehend von den Gammlern, die ‘nicht Macht
erobern, sondern sich von deren Einfluss befreien [wollten]. Solches
reichte indessen schon, um das System zu beunruhigen.’79 Hier zeigt
sich ‘primäre Verweigerung’ als intuitive und affektive, vortheoretische
negative Bezüglichkeit: nicht als zielstrebige, organisierte, kollektive Praxis
der Rebellion oder Revolution, die sich auf neue Werte und Mythen
verständigt und diese durchzusetzen sucht, sondern als tendenziell private,
individuelle Äußerungsform des Unbehagens, der Verweigerung, der
Verneinung, des Aufschubs und Entzugs, des Nichteinverstandenseins und
des ‘existentiellen Widerstands’ – der Kritik der Kultur, der Subversion
der sozialen Ordnung, der Provokation gesellschaftlicher Konventionen
und der Umwertung etablierter Werte. Dabei sind solche Akte und
Praktiken der Verweigerung nicht notwendig solipsistisch, besitzen sie
doch das Ansteckungspotential der Desidentifikation ebenso wie die

76
Georges Bataille, ‘Metamorphose, 3) Wilde Tiere’, in Kritisches Wörterbuch. Beiträge von Georges
Bataille, Carl Einstein, Marcel Griaule, Michel Leiris u. a., hg. und übers. von Rainer M. Kiesow und
Henning Schmidgen, Berlin 2005, S. 39f.
77
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 54.
78
Straub, ʻDas Glück, das sich verweigertʼ (Anm. 40), S. 19.
79
Vgl. http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/jugendkulturen-in-deutschland/36168/gammler-vs-provos
(abgerufen am 19. September 2018).
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Tendenz gemeinschaftlicher Abgrenzung in subkulturellen Gruppen mit


alternativen Identifikationsmomenten, wie hier dem Widerstand gegen ein
‘falsches Leben’ und dem Bezug auf idiorrhythmische Selbstbestimmung
oder individuelles hedonistisches Glück. Gerade die Forderung einer
‘Organisation der Bedürfnisse’ verweist zugleich auf einen potenziellen
Übergang vom ‘Rückzug’ zur ‘Rebellion’ – dies zumal, insofern die
vorgestellten Positionen das Private als politisch erkennen. In ihnen
artikuliert sich eine Praxis, die ‘sich der Macht entzieht’, indem sie etwa
der Rhythmisierung des Lebens gegenüber ‘widerständig bleibt’: Der
Widerstand richtet sich besonders gegen die Fremdbestimmung durch
Arbeit als Mittel zum Zweck einer als erfüllend vorausgesetzten Existenz,
Leistungsdruck, Konsumzwang und eine repressive Ordnung; deren
Negation wird in späteren Programmen der Gegenkultur zunehmend
positiv gefüllt: Den Gedanken ‘befreiter’ Lebens- und Arbeitsformen
proklamiert etwa der TUNIX-Kongress 1978. Die größte Versammlung
antiautoritärer Gruppen seit 1968 zielt darauf, ‘Alternativen auf[zu]bauen;
Inseln des richtigen Lebens im falschen System.’80 Dieser ‘Geburtsstunde
der Alternativbewegung’ wohnen auch Jean-Luc Godard, Michel Foucault,
Félix Guattari und Gilles Deleuze bei.81 Die ‘primäre’ Verweigerung der
Gegenkultur zeigt sich hier als Nährboden für die Emergenz kritischer
Diskurse nicht nur der 68er-Bewegung und der Alternativkultur der 70er
und 80er Jahre, sondern auch der postmodernen Kritik der Arbeit,
Biopolitik und des Kapitalismus, die wiederum ihre Interpretation als
subversive Praxis prägen: So lässt sich deren politisch-emanzipatorisches
Potential nicht nur als Widerstand gegen die Rhythmisierung des Lebens,
sondern auch als Immunisierung gegen die Internalisierung biopolitischer
Vereinnahmungen von Körper und Leben und als Sabotage darauf
aufruhender gouvernementalistischer Systeme auslegen.
‘Primäre Verweigerung’ ist zunächst ein Störfall, ein ‘Anomiesymptom’
ohne eindeutiges politisches Signum – gerade die Gegenkultur der 60er
und 70er hat Aktionsformen mit einem linken Signum belegt, die heute
auch von rechten Gruppen wie etwa der ‘Konservativ-subversiven Aktion’
vereinnahmt werden82 – oder ideologisch-programmatische Füllung,
das in verschiedener Hinsicht interpretierbar, konzeptualisierbar und
politisierbar ist. Nicht nur ein Ansteckungspotential ist ihr inhärent, sie
provoziert auch Ablehnung und Aggression – so zeigt sich ein destruktives
Potenzial sowohl im Konnex zwischen Ganzheitlichkeitsversprechen
der Nichtarbeit und teils latenter, teils entfesselter Gewalt als auch in
dem Kreislauf von ʻrejectionʼ, ʻdevianceʼ und erneuter ʻrejectionʼ, die

80
Vgl. http://www.spiegel.de/einestages/soziale-bewegungen-a-949068.html (abgerufen am 19.
August 2018).
81
Vgl. http://www.taz.de/!5477248/ (abgerufen am 19. August 2018).
82
Vgl. dazu https://www.heise.de/tp/features/Spassguerilla-von-rechts-3420355.html?seite=all
(abgerufen am 20. August 2018).
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Empathie und Partizipation ebenso verhindern wie der selbstdestruktive


Rückzug –, Tendenzen der Integration oder Normierung und
Erklärungsansätze, die dem abweichenden Verhalten Motive zuschreiben.
Diese ‘sekundäre’ Motivierung obliegt, gerade in durch Deutungsoffenheit
gekennzeichneten, komplexe Ursachen nahelegenden und ambivalente
Auslegungsvarianten zulassenden literarischen Texten, der Deutung,
wie etwa die Spannweite der Interpretationen von Melvilles Bartleby
und Bachmanns Schweißer verdeutlicht: Ob das Verhalten der Figuren
etwa psychopathologisch als Scheitern und Anpassungsstörung oder als
Sabotage und Widerstand gegen ein als ‘falsch’ erkanntes Leben und als
unmenschlich empfundenes System ausgelegt wird, eröffnet ein Spektrum
an Deutungsmöglichkeiten; selbst dort, wo ihm intentionale Subversion
abgesprochen und es als intuitive Reaktion auf die Zumutungen,
denen sich Individuen gegenübersehen, gelesen wird, lassen sich ihm
gesellschaftliche Spiegelungsfunktionen zuschreiben. Dem entspricht
ein an den skizzierten Beispielen beobachtbares Spektrum affektiv
grundierter Motive, wie das Streben nach Glück und Selbstbestimmung,
aber auch Langeweile, Sinnverlust, Unlust, Zorn und Begehren. Dabei
eint die hier besprochenen Typen der negative Bezug auf Arbeit und
der Anschluss an literarische und philosophische Topoi der Nichtarbeit,
der Muße, des Müßiggangs, des Nichtstuns und der Faulheit. Mit der teils
impliziten, teils expliziten Forderung des Ausstiegs aus den Pathologien der
Arbeitsgesellschaft verweisen sie auf synchronisierende, technokratische
und biopolitische Aspekte des – wie etwa Malewitsch (S. 108) betont,
nicht nur kapitalistischen, sondern auch laboristisch-kommunistischen –
Arbeitsethos und partizipieren insbesondere an einer kynisch inspirierten
Tradition des unkonventionellen, lustbetonten, provokanten und
antiautoritären Müßiggangs, die eine souveräne ‘Organisation’ der
Bedürfnisse einfordert, wie sie vor Zahl und Baumann, Dutschke und
Marcuse bereits Malewitsch betont. Diese widerständige Verweigerung
der Arbeit bleibt angesichts dessen, dass noch in einer neoliberalen, die
Entgrenzung der Arbeit vorantreibenden ‘Kreativgesellschaft’ (Reckwitz)
im Zeichen der ‘New Work’ eine auf Ökonomisierung, Effizienz,
Selbstoptimierung und Produktivität setzende Mehrheitsgesellschaft
‘bloßes Nichtstun […] als moralisch verwerflich oder gar gesellschaftlich
schädlich konzeptualisiert’, bis heute aktuell.83

83
Schäfer, ‘“Dieser Beruf ist für uns zwar anstrengend, aber spitzenmäßig”ʼ (Anm. 43), S. 58. Vgl. u.
a. Tom Hodgkinson, How to Be Idle. A Loafer’s Manifesto, London 2004; Björn Kern, Das Beste, was wir
tun können, ist nichts, Frankfurt a. M. 2016. Zur Politisierung von Nichtarbeit durch die ‘Glücklichen
Arbeitslosen’ vgl. Guillaume Paoli (Hg.), Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Manifeste und
Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen, Berlin 2002.
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