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Sara Bangert
(Universität Tübingen)
ABSTRACT
The article focuses on specific forms, characters and types of ‘primary rejection’
or refusal that emerged in German subculture and deviant counterculture in the
1960s and 1970s, rejecting the cultural norms of mainstream society. Beginning
with socially distinctive figures such as the layabout and the commune-dweller,
the article examines their alliance with and affiliation to literary traditions and
theoretical concepts of ‘non-working’, leisure and idleness. These alliances are
explored further by means of a typological approach that takes examples of
layabouts, idlers and shirkers from literature and film to sketch out a panorama
of various conceptualisations of refusal and ‘non-working’.
Der Artikel fokussiert auf spezifische Formen, Charaktere und Typen ‘primärer
Ablehnung’ oder Verweigerung im Milieu der deutschen Subkultur und
Gegenkultur der 1960er und 70er Jahre, die die kulturellen Normen der
Mehrheitsgesellschaft ablehnen. Ausgehend von den Sozialfiguren des Gammlers
und des Kommunarden zeigt er deren Allianzen und Affiliationen mit
literarischen Traditionen und theoretischen Konzepten der Nichtarbeit, der Muße
und des Müßiggangs auf. Diese Allianzen werden mittels eines typologischen
Ansatzes weiter verfolgt, der an literarischen und filmischen Beispielen
davon abzugrenzender Typen von Gammlern, Müßiggängern und Nichtstuern
ein Panorama unterschiedlicher Konzeptualisierungen von Verweigerung und
Nichtarbeit andeutet.
Die Gottähnlichkeit des Müßiggängers zeigt an,
daß das Wort ‘Arbeit ist des Bürgers Zierde’
seine Geltung zu verlieren begonnen hat. Der
Bürger beginnt sich der Arbeit zu schämen, sein
Stolz gilt mehr und mehr dem Besitz allein.
Dieses Hochgefühl macht ihm der Tagedieb freilich
streitig. Denn er ergibt sich dem Müßiggang ohne
Rücksicht darauf, ob seine Mittel ihm das gestatten.
Walter Benjamin1
die Halbstarken der 50er, die Provos ab 1965, die Mods und Rockers, die
antiautoritäre Bewegung von 1968 und die Spontis der 70er Jahre zeichnet
ihre Abweichung besonders ‘das demonstrative Nichtstun’ im öffentlichen
Raum und eine damit verbundene körperliche Protestsemiotik aus.6 Die
Titelstory des Spiegel ‘Gammler in Deutschland’ (1966) zitiert eine junge
Frau: ‘Arbeiten? Seh’n wir so aus?’, und konstatiert: Nach den Mods,
Provos, Zazzeroni und Stiljagas ‘kamen die Gammler. Sie probten keinen
Aufstand, sie erhoben sich nicht. Sie legten sich nieder. Sie dachten
nicht nach und schlugen nicht zu. Die jungen Helden waren müde. Sie
kreierten die langsamste Jugendbewegung aller Zeiten: den Müßiggang.’7
Meist sind es Schüler*innen, Student*innen, Schulabbrecher*innen
und Kriegsdienstverweigerer, die mit alternativen Lebenskonzepten
experimentieren und sich gesellschaftlichen Normen, Leistungsdruck und
‘Lohn-Sklaverei’8 verweigern – angelehnt an den Existenzialismus und
die Gegenkultur der Hippies, Yippies und Beatniks mit ihren Literaten-
Vorbildern Jack Kerouac und Allen Ginsberg: Neben deren bohemistischer
‘Verweigerung gegenüber bürokratisch-technokratischer Disziplinierung’
orientieren ‘asiatische Religionen und Sekten […] die Verneinung der
bestehenden Welt’.9 Äußerlich scheint die Grenze zu Obdachlosen zu
verschwimmen, doch grenzen die ‘Sozialfigur’ des Gammlers vom ‘Klischee
vom sozial desintegrierten jugendlichen Stadtstreicher’ Herkunftsmilieu,
Sozialprognose und die vor diesem Hintergrund mutwillige Verweigerung
ab.10 Diese Verweigerung ist vortheoretisch; statt marxistischer vita
contemplativa zur ‘Praxis der Theorie’, wie sie etwa Georg Lukács und Walter
Benjamin vertreten,11 propagieren sie gelebte Praxis des Nichtstuns, statt
‘politische[r] Interventionen’ Einfachheit, Zen und Leben im Augenblick:
In der zeitgenössischen Wahrnehmung galt als ausgemacht, dass Gammler
wohl die Gegenwart kritisierten, aber nicht ʻrevolutionärʼ waren, weil sie
weder das Bestehende systematisch zerstören noch etwas Neues aufbauen
wollten. […] [I]hres mangelnden politischen Engagements wegen wurden
sie von den politisch links stehenden Jugendorganisationen kritisiert.12
6
Detlef Siegfried, Time is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre,
Göttingen 2006, S. 403; vgl. auch ebd., S. 399. Zur körperlichen ‘Protestsemiotik’, zu der neben
langen Haaren und Bärten auch Praktiken eines ‘neuen Sitzens’ und Legens gehören, vgl. Angelika
Linke, ‘Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden. Zur Protestsemiotik von
Körper und Raum in den 1986er Jahren’, in 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz, hg. von
Heidrun Kämper, Joachim Scharloth und Martin Wengeler, Berlin und Boston 2012, S. 201–26.
7
ʻGammler. Schalom aleichemʼ, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46414560.html (abgerufen
am 17. September 2019).
8
Rudi Dutschke, ‘Georg Büchner und Peter-Paul Zahl, oder: Widerstand im Übergang und
mittendrin’, Georg Büchner Jahrbuch, 4 (1984), 9–75 (50).
9
Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001, S. 52;
vgl. Richard van Ess, Der Underground war amerikanisch. Vorbilder für die deutsche Undergroundpresse,
Tübingen 2018.
10
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 401.
11
Vgl. Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 263.
12
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 413 und 400.
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Doch ist ‘Gammeln mehr […] als lethargisches Nichtstun’; die öffentlichen
Praktiken selbstgewählten Außenseitertums machen die ‘privatistische
Subkultur’ (Kentler) der Gammler politisch.13 Ihr dropout changiert in
Begriffen der Subkulturtheorie Robert K. Mertons, dessen Strain-Theory
mit conformism, innovation, ritualism, retreat und rebellion fünf Strategien
der Adaptation bzw. auf Anomie reagierenden Devianz differenziert,
zwischen ʻretreatismʼ – den eine ‘rejection’ von ‘Culture Goods’ und
‘Institutionalized Means’14 kennzeichne und der, auch wenn es zum
Austausch ‘in the subculture of these deviant groups’ komme, ‘largely
private and isolated’ sei, – und zur Schau gestellter ʻrebellionʼ als einer
durch die ‘rejection of prevailing values and substitution of new values’
und ‘new myth’ geprägten ‘organized political action’, die ‘the resentful
and the rebellious into a revolutionary group’ transformiere.15 Die
Gammler ‘leben vor, was Herbert Marcuse die “Große Weigerung” nennt’:
Wie der ‘Kulturprotest der Beat-Boheme’ und der Hippies verweigere
sich auch die Studierendenopposition, so Marcuse 1967 in Berlin, der
‘eindimensionalen Gesellschaft’; insofern sie ‘einen totalen Bruch mit den
in der Gesellschaft herrschenden repressiven Bedürfnissen anmelden,
bildeten sie eine “negierende Opposition”, die, da sie zugleich eine “neue
Sensibilität” sowie “vitale Bedürfnisse” erkennen läßt, zur Transformation
der Gesellschaft führen kann.’16 In Marcuses Forderung einer ästhetischen
‘Form der Sensitivität’ und einer ‘Konvergenz von Arbeit und Spiel’ in
‘einer Gesellschaft, in der selbst die gesellschaftlich notwendige Arbeit
im Einklang mit den befreiten, eigenen Bedürfnissen der Menschen
organisiert werden kann’,17 klingt eine sozialutopisch orientierte Muße-
Konzeption an.
Das Bürgerschreck-Image der Gammler beruht demgegenüber
nicht zuletzt auf dem seit dem Mittelalter sprichwörtlichen, ‘Aquins
Bestimmung der acedia als Einfallstor der anderen christlichen
Todsünden’ aufgreifenden Ressentiment: Müßiggang ist aller Laster
Anfang.18 Dabei geht ihr Verhalten nicht in bloßer Faulheit auf,
sondern vereint ‘Konsumverweigerung’19 und ‘Arbeitsverweigerung’,
die ‘auch als Müßiggang aufzufassen ist. Der Müßiggänger ist ein
Nicht-Arbeiter, aber kein Nichtstuer’.20 Damit konfrontieren sie
13
Ebd., S. 406 und 399.
14
Alle Zitate Robert K. Merton, Social theory and social structure, New York 1968, S. 207 und 194.
15
Ebd., S. 209–11.
16
Zitiert nach Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung (Anm. 9), S. 53–4.
17
Herbert Marcuse, ‘Das Ende der Utopie’, in Psychoanalyse und Politik, Frankfurt a. M. und Wien
1968, S. 9–18 (S. 17).
18
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 230; vgl. dazu Gabriele Stumpp, ‘Müßiggang als
Provokation’, in Arbeit und Müßiggang 1789–1914. Dokumente und Analysen, hg. von Wolfgang Asholt
und Walter Fähnders, Frankfurt a. M. 1991, S. 181–90.
19
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 403.
20
Leonhard Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800, Paderborn
2008, S. 14. Im Original in Kapitälchen.
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21
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 402–3.
22
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5); vgl. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hg. von Rolf
Tiedemann, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1982, bes. Konvolut ‘m [Müssiggang]’, II, S. 961–70. Im Original
in Kapitälchen.
23
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 403; vgl. zum Begriff ʻconspicuous consumptionʼ
Thorstein Veblen, Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, London 1912.
24
Alle Zitate in Siegfried, Time Is on My Side (Anm. 6), S. 405, 400 und 404.
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Die wichtigste Form des Versuches, zu leben, ‘wie man in einer befreiten
Welt glaubt, leben zu sollen’, so Theodor W. Adorno, sei ‘der Widerstand,
dass man nicht mitmacht’.31
25
Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 4 Bde.,
Leipzig 1801, IV, S. 520.
26
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 404.
27
Leonhard Fuest, ‘Toxische Muße. Von wirksamen Rückständen in Literatur und Theorie’, in
Ökonomie des Glücks. Muße, Müßiggang und Faulheit in der Literatur, hg. von Mirko Gemmel und Claudia
Löschner, Berlin 2014, S. 77–97 (S. 87–8).
28
Roland Barthes, Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am
Collège de France 1976–1977, hg. von Éric Marty, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 2007, S.
81.
29
Zitiert nach Siegfried, Time Is on My Side (Anm. 6), S. 403.
30
Alle Zitate ebd., S. 405 und 403.
31
Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, zitiert nach Gerhard Schweppenhäuser, Ethik
nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg 1993, S. 192.
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Mit Blick auf Adornos berühmte Sentenz ‘Es gibt kein richtiges Leben
im falschen’32 liegt die Verweigerung der Gammler ‘weniger in den
politischen Aktivitäten […], sondern in ihrem ostentativen Anderssein’.
Gleichwohl ist der in einer geteilten ‘Ästhetik des Nonkonformen’
offenbare Übergang zur politischen und ästhetischen Protestszene
fließend,33 etwa zur Situationistischen Internationale mit ihren Slogans
Ne travaillez jamais und Sous les pavés, la plage und der Praxis des dérive.
Diese vom Bohème-Lebensstil der Surrealisten und Lettristen beeinflusste
Praxis des Umherschweifens definiert Guy Debord folgendermaßen:
Umherschweifende
verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die […] bekannten
Bewegungs- bzw. Handlungsgründe, auf die ihnen eigenen Beziehungen,
Arbeiten und Freizeitbeschäftigungen, um sich den Anregungen des
Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen hinzugeben. […] So
würden die etwas zusammenhanglose Lebensweise und sogar gewisse als faul
geltende und doch in unserer Umgebung immer wieder hoch angesehene
Späße […] einem allgemeinen Gefühl zuzuschreiben sein, das kein anderes
als das Gefühl des Umherschweifens wäre.34
32
Theodor W. Adorno, ʻAsyl für Obdachloseʼ, in Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten
Leben, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, 20 Bde., Darmstadt 1998, IV, S. 42–3 (S. 43).
33
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 401–2.
34
Vgl. http://www.si-revue.de/theorie-des-umherschweifens (abgerufen am 18. August 2018).
35
Alle Zitate in Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung (Anm. 9), S. 55, 53 und 56.
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‘Ich halte es wie Kalle Marx, der hielt auch nichts von dieser
Eigentumsscheißeʼ […]. Und sie kennen auch ein Vorbild: ʻJesus war
der erste Gammler.ʼ […] ‘Mein Vorbild? Das ist der Typ in der Tonne
(Diogenes).ʼ Das ist es, was ihre unappetitliche Welt zwischen Straßenrand
und Kellernische zusammenhält: der Müßiggang.39
36
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 204 und 522–3. Zur Kontinuität von Gammlermilieu und
nachfolgenden Subkulturen der ‘Neuen Linken’ vgl. Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung (Anm. 9),
S. 55; Bommi Baumann, Wie alles anfing. 30 Jahre ʻDeutscher Herbstʼ. Ein biografisches Dokument, Berlin
2007.
37
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 52. Vgl. zu literarischen Mußekonzepten u. a. Gabriele
Stumpp, Müßige Helden. Studien zum Müßiggang in Tiecks William Lowell, Goethes Wilhelm Meisters
Lehrjahre, Kellers Grünem Heinrich und Stifters Nachsommer, Stuttgart 1992; Ökonomie des Glücks. Muße,
Müßiggang und Faulheit in der Literatur, hg. von Mirko Gemmel und Claudia Löschner, Berlin 2014;
Arbeit und Müßiggang in der Romantik, hg. von Claudia Lillge, Björn Weyand und Thorsten Unger,
Paderborn 2017.
38
Siegfried, Time is on My Side (Anm. 6), S. 399, Anm. 154; vgl. Hubert Fichte, Die Palette, Reinbek
bei Hamburg 2005 [1968], S. 14.
39
Vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46414560.html (Anm. 7).
40
Vgl. Eberhard Straub, ‘Das Glück, das sich verweigert’, in Ökonomie des Glücks (Anm. 37), S. 17–30
(S. 18).
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III. ‘NEIN, ICH KANN NICHT ARBEITEN’: EIN TAG IM LEBEN EINES TAUGENICHTS
41
Alle Zitate Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 229 und S. 222–3.
42
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 58. Gesperrt im Original; vgl. Ernst-
Ullrich Pinkerts Verweis auf die Quellen (ebd., S. 73, Anm. 157): Karl Marx, Das Kapital. Kritik der
politischen Ökonomie, 43 Bde., Berlin 1965, I, S. 430; Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit und persönliche
Erinnerungen an Karl Marx, Frankfurt a. M. 1969, S. 64.
43
Michael Schäfer, ‘“Dieser Beruf ist für uns zwar anstrengend, aber spitzenmäßig”. Arbeit und
Kynismus in Helge Schneiders Kommissar Schneider-Romanen’, in Ökonomie des Glücks (wie Anm.
37), S. 57–75 (S. 63 und 64).
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Sag mal, wie viel Tage liegst du eigentlich schon wieder im Bett? – Weiß nicht
so genau, interessiert mich nicht, draußen rumzurennen. – Was interessiert
dich überhaupt? […] – Weiß nicht so genau, ich weiß nur ziemlich genau,
was mich nicht interessiert, zum Beispiel morgens aufstehen. Und übrigens,
der Vater von Balzac hat zwanzig Jahre im Bett gelegen. (00:05:22-00:05:40)
Die Szene verweist auf einen Topos, den etwa auch Karl Kraus’ ‘Lob der
verkehrten Lebensweise’ (1908) aufruft, ‘einen alten König’ Shakespeares
(König Lear, III. 6) zitierend: ‘“Macht kein Geräusch, macht kein Geräusch;
zieht den Vorhang zu! Wir wollen des Morgens zu Abend speisen.” Ein Narr,
der die Verkehrtheit dieser Weltordnung bestätigt, setzt hinzu: “Und ich
will am Mittag zu Bette gehen.”’45 Zeitgenössisch verarbeiten den Topos
etwa auch George Perecs Un homme qui dort (1967) und John Lennons I’m
only sleeping (1966):
44
Vgl. Georg Seeßlen, ‘Nichts Fremdes im Eigenen. Anmerkungen zum Neuen Deutschen Film –
Einflüsse und Vorbilder’, in Abschied vom Gestern. Bundesdeutscher Film der sechziger und siebziger Jahre
(Ausstellungs-Katalog), hg. von Hans-Peter Reichmann, Hilmar Hoffmann und Rudolf Worschech,
Frankfurt a. M. 1991, S. 28–9, zitiert nach http://zursacheschaetzchen.de/kapitel-4/ (abgerufen am
19. August 2018).
45
Karl Kraus, ‘Lob der verkehrten Lebensweise’, in Ausgewählte Werke, 3 Bde., Bd. 1: 1902–1914.
Grimassen, hg. von Dietrich Simon u. a., München 1977, S. 158–61 (S. 159).
46
Vgl. https://www.thebeatles.com/song/im-only-sleeping (abgerufen am 19. September 2019).
47
Heiko Stoff, ‘“Ungeheuer schlaff”. Der Film “Zur Sache, Schätzchen” (1968): Über
Leistungsdenken und Gedankenspiele’, in Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History,
11 (2014), 500–7 (505).
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vor Gericht48 erinnernde Verweigerung fort: ‘Also jetzt reicht’s mir, jetzt
stelle ich mal Fragen. […] Also wer oder was ist Schopenhauer? a) Ein
Astronaut, b) Ein berühmter Fußballer in den 30er Jahren, oder c) Eine
urzeitliche Keule zum Töten von Tieren’ (00:13:39-00:13:51). Während die
Polizisten über eine Festnahme beraten, flüchtet Martin durch ein Fenster.
Sie verstecken sich im Freibad, wo er Barbara (Uschi Glas) anspricht, mit
der er den restlichen Tag verbringt. Die Schelmenfigur erhält Tiefe, wenn
er über Vergänglichkeit sinniert und angesichts der Löwen im Zoo seine
Philosophie des Rückzugs und der Langeweile entwickelt:
Freiheit ist bedrückend, finden Sie nicht? […]. [D]ie Phantasie wächst mit
der Begrenzung des Raums. […] Der Bursche da, der verplempert seine Zeit
nicht mehr damit, irgendwelchen Gazellen nachzujagen, der denkt nach.
Der hat ganze Dramen im Kopf. […] Die wirklichen Erlebnisse sind bloß
’n schlaffer Ersatz für die Phantasie. (00:33:20-00:34:05)
48
Vgl. Olaf Briese, ‘Eckensteher. Zur Literatur- und Sozialgeschichte eines Phantoms’, in
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 37/2 (2012), 239–88.
49
Seeßlen, ʻNichts Fremdes im Eigenenʼ (Anm. 44).
50
Vgl. Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 229.
51
Vgl. http://zursacheschaetzchen.de/kapitel-4/ (abgerufen am 19. August 2018).
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Doch scheint auch er von der Maxime beseelt: Kein richtiges Leben
im falschen. Dies in ‘Leistungsverweigerung’, ‘Eskapismus’53 und
‘existentiellen Widerstand’54 umzusetzen, eint ihn mit einer tragischen,
den melancholischen Aspekt der acedia verkörpernden Gegenfigur, die
etwas früher entworfen wurde und nicht der Gegenkultur entstammt.
Mit Luise Meier lässt sich die wohl bereits 1959 entstandene Erzählung Der
Schweißer aus dem Nachlass Ingeborg Bachmanns als ‘Sabotage’ am System
durch ‘Verschwendung von Arbeitskraft und Lebenszeit’ lesen.55 Der
Wiener Arbeiter Andreas Reiter erliegt nach der Lektüre von Nietzsches
Die fröhliche Wissenschaft dem Erkenntnisschock – dessen Metapher ist das
Licht des Schweißens:
[D]a ist mir die Brille zersprungen und nun springt das Licht herein,
wie ein Wolf und frißt meine Augen und mein Hirn auf. Wie mir alles
durcheinanderkommt. Wenn wir die Welt antreten sollen […], dann möchte
ich nicht, daß an uns und allem zu wenig ist […]. Ich hätte auch nicht lesen
und denken mögen vor dem Tag. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was aus mir
wird.56
52
Detlef Siegfried, 1968 in der Bundesrepublik: Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018, S. 34.
53
Stoff, ʻ“Ungeheuer schlaff”ʼ (Anm. 47), S. 504 und 505.
54
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 16; von ‘existentielle[m]
Widerstand’ spricht Dutschke über Büchner und Peter Paul Zahl (vgl. Abschnitt V).
55
Luise Meier, MRX-Maschine, Berlin 2018, S. 29 und 27. Für den Hinweis danke ich Andreas
Gehrlach.
56
Ingeborg Bachmann, ‘Der Schweißer’, in Werke, Zweiter Band: Erzählungen, hg. von Christine
Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, München 1978, S. 59–75 (S. 69–70). Im
Folgenden wird im Text zitiert.
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Trinken Sie noch eins mit mir, Genosse Doktor […]. Sie werden mit uns
auf die Barrikaden kommen, wenn es um die Wurst geht, aber da ist noch
eine andere Barrikade. Wer steht da schon? Schaut! Bin ich das vielleicht?
Wie kommen wir denn zusammen, Herrschaften, wir, denen es um den
Wurstzipfel geht, und wir, denen es um den Gedanken über die ganze Wurst
geht und die allergrößten Gedanken über uns und die Wurst. Schöne Wolke,
die vorüberzieht … Was für ein Geschrei ist das in der Nacht! (S. 74)
Reiter stürzt sich ‘in einem Anfall von Schwermut […], da seine Frau
kurz zuvor […] gestorben war’ (ebd.), so die zweifelhaft bleibende knappe
Erklärung, die der Schluss der Erzählung anbietet, von der Florisdorfer
Brücke – ebender Brücke, auf der 1934 Arbeiter gegen den Staat
kämpften. Er reagiert auf die krisenhafte Anomie mit ultimativem retreat
und gehört damit zu jenen Figuren, die dem Versprechen der Erfüllung
des Lebens durch Arbeit ebenso wie dem Ganzheitlichkeitsversprechen der
Nichtarbeit ‘eine Absage’ erteilen – jedoch als öffentlicher Störfall, nicht
wie Oblomow und Bartleby in einsamer Untätigkeit dahinschwindend:
‘In seiner Weigerung, sich an dieser Langeweile [des ‘tätigen Leben[s]’,
S. B.] zu beteiligen, muss Oblomow untätig bleiben und kann so erst
recht nicht den eingeklagten ganzen Menschen zur Erfüllung bringen,
sondern verkümmert’, ähnlich wie Bartleby, der, der ‘protestantische[n]
Arbeitsethik’ sein ‘“I prefer not to”’ entgegnend, ‘an der eigenen
Verweigerung zugrunde’ geht.57 Auch wenn Reiters ‘Ausfall’58 narrativ
nicht eindeutig motiviert wird, ist im vorliegenden Kontext – neben
‘Arbeit und Langeweile’ – der Abschnitt ‘Musse und Müssiggang’ aus
Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft bemerkenswert, dem das Zitat des
‘müde-gearbeitete[n] Sklaven’ entstammt:
‘[E]s könnte bald so weit kommen, daß man einem Hange zur vita
contemplativa […] nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen
nachgäbe. – Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte
Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn
die Not ihn zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck
des Gefühls, daß er etwas Verächtliches tue – das ʻTunʼ selber war etwas
Verächtliches.59
Dabei lässt sich Der Schweißer als Kritik nicht nur an entfremdeter Arbeit,
sondern auch an nihilistischem Eskapismus lesen.60 Eine andere, der
57
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 53.
58
Meier, MRX-Maschine (Anm. 55), S. 29.
59
Friedrich Nietzsche, ‘Die fröhliche Wissenschaft’, in Sämtliche Werke, 15 Bde., München 2 1988,
III, S. 343–652 (S. 556–7). Vgl. zu Nietzsches Äußerungen über Arbeit und Müßiggang auch Gisela
Dischner, Friedrich Schlegels Lucinde und Materialien zu einer Theorie des Müßiggangs, Hildesheim 1980,
S. 234–53.
60
Vgl. Jost Schneider, ‘Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld’, in Bachmann-
Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche, Stuttgart und Weimar
2002, S. 112–26 (S. 123–4).
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Meiers nähere Deutung ließe sich Dutschkes Verweis auf Georg Büchners
Rede über Kato als Ausdruck seines ‘Existentialismus des Widerstands’
anschließen: ‘Das Recht auf Selbstmord, sich durch nichts daran hindern
zu lassen, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, ist der Grundkern
des anti-autoritären Gehalts jener Rede.’61 Die subversive Politisierung der
Arbeitsverweigerung radikalisiert allerdings ein anderer Typus.
V. DAS RECHT AUF FAULHEIT: ‘MÜSSIGGANG IST ALLER TUGENDEN UND KÜNSTE
ANFANG’
Peter-Paul Zahl ist Vertreter der Spontis und der ‘nicht-studentische[n] Seite
der Revolte der 60er’ als, so Dutschke, ‘jene Richtung, die nicht bereit war,
in die selbsternannte Avantgarde abzugleiten, vielmehr ihre prinzipielle
Hoffnung auf die Masseninitiative bewahrte’.62 Seine ‘[w]iderstehende
Literatur’63 narrativiert die Szene der Westberliner Gegenkultur und atmet
den Geist der Subversion. Der Schelmenroman Die Glücklichen, während
Zahls Haft geschrieben, bietet ‘Einblicke in die Welt derer, die nicht mehr
mitmachen wollen, im Beruf nicht, in den gesellschaftlichen Konventionen
nicht, auf keiner Ebene dessen, was besteht.’64 Kapitel V schildert unter
dem Titel ‘Morgenstund ist aller Laster Anfang’ (S. 83–4) die Leiden des
Arbeitnehmers:
Sagmal, weißt du, was Arbeiten bedeutet? […]. Wo soll man denn bei so einem
Irrsinn anfangen? Beim Aufstehen. […] Was heißt hier Aufstehen? … Um
5.00 vergewaltigt einen der Wecker. […] Du fällst aus dem Bett, hast ne
Wahnsinnswut im Bauch […]. Ich hab vor kurzem gelesen, die Anhänger
von Bakunin in der Ersten Internationale damals …, also damals, die kamen
zumeist aus der Schweiz. Und weißt du, was die produzierten? Worauf die
noch stolz waren? Uhren! Jawoll, Uhren. Diese armen Irren! Kein Wunder,
daß in der Schweiz keine Revolution ausgebrochen ist […]. Was das mit
Weckern zu tun hat? Das hat mit Weckern zu tun. Und ob! Daß man nämlich
Sachen herstellt oder baut, die einen selber umbringen. Ein Wecker – das
ist neben dem Scheck die Erfindung des Kapitals, jawoll. […] Sag mal, ist
man überhaupt Mensch, wenn man so früh aufstehen muss? […] Die spinnen
doch alle: Mehrwert, Betriebskampf, Proletarier vereinigt euch … Und ich
hab mich bequatschen lassen. Ich hänge mich auf. Sofort. Aber dazu müßte
ich aufstehen. […] Ich stehe auf … Verdammt! (S. 85–7)
61
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 14.
62
Ebd., S. 54 (gesperrt im Original) und 41. Dies weist voraus auf die postoperaistische Forderung
der ‘“Widerständigkeit der multitude”’, wie Michael Hardt und Antonio Negri formulieren, die sich
in John Holloways düsterer Vision in ‘Barbarei und Schreien’ äußert; Schäfer, Die Gewalt der Muße
(Anm. 5), S. 522; vgl. Abschnitt VI.
63
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 58.
64
Peter-Paul Zahl, Die Glücklichen. Schelmenroman, Berlin 1979, hier: Klappentext. Im Folgenden wird
im Text zitiert.
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MÜSSIGGANG IST ALLER LASTER ANFANG? 123
Die Tirade des Protagonisten Jörg zeigt die Abgrenzung von den
Analysen der Neuen und der orthodoxen Linken ebenso wie eine –
so formuliert Henner Voss’ im Klappentext abgedruckte, in Vorwärts
erschienene Rezension – an Brechts Schilderung der ‘Entmenschung’ im
Kapitalismus gemahnende Forderung nach einem idiorrhytmischen Leben
und die hedonistische Phantasie, mit der Geliebten im Bett zu bleiben.
Die affektive Überzeugung von dem höheren Recht dieser Ansprüche des
nackten Lebens und Körpers, die es dem Zugriff der Arbeit als ‘Verfahren der
Biomacht’ zu entziehen gilt, und die Bereitschaft, den Lebensunterhalt auf
kriminelle Weise zu sichern, sind so stark, dass sie fast durch ‘“Einfrieren”
der Zeit’ den letzten Arbeitstag des Paars vereiteln.65
Was bedeutet dies: mal ehrlich arbeiten? […] Vergessen wir unser Vorhaben,
ehrliche Menschen zu werden! Komm, wir pennen weiter. Und abends gehe ich
wieder stehlen […]. Oder ich breche ein. […] Irgend etwas. Nur nicht das …
(S. 88)
Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen
Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr […]. Und es wird ein Dekret
erlassen, daß, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt
wird; daß, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; daß jeder, der
sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt
und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird; und dann legen
wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen,
65
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 60 und 265. Benjamins Entwurf einer ‘eingefrorene[n]
Vorstufe der Praxis und der Arbeit’ und seinen Bezug ‘auf physis – auf das prekäre, stets von Gewalt
bedrohte Sein eines “bloßen Lebens” […], d. h. auch auf eine nicht arbeitende, nicht nach Maßgabe
der Arbeit biopolitisch zugerichtete und daher für die Arbeitsanthropologie nicht menschliche
Menschlichkeit”’ (ebd.) greifen Jacques Derrida und Giorgia Agamben auf: ʻIn der Muße wird
[…] etwas dringlich und teilweise problematisch, was der staatlichen, göttlichen oder natürlichen
Gewalt widerständig bleiben soll: ein “Undekonstruierbares” (Jaques Derrida […]) bzw. das “nackte
Leben” (Giorgio Agamben […]) als Entblößung ohne Hypostase und damit einer biopolitischen
Organisation vorgängig)’ (ebd., dort Anm. 35). Derrida definiert Arbeit entsprechend in ihrem
Zugriff auf den Körper: ‘“Arbeit setzt einen lebendigen Körper voraus, sie nimmt ihn in Beschlag
und situiert ihn”’ (ebd., S. 60).
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124 SARA BANGERT
Die von Leonce und dem Narren Valerio vorgestellte Vision eines
staatlich verordneten Paradieses der Faulheit in der Tradition von
Schlegels „Idylle über den Müßiggang“ – der darin in satirischer
Überspitzung heraufbeschwore Topos der Idylle lässt sich auf Schäfers
These beziehen, ‘dass erst über Arbeit oder Nichtarbeit der Mensch
in seiner Ganzheitlichkeit erzählbar wird’66 – wendet Zahl zu einer
subversiven Politisierung der Arbeitsverweigerung. Der ‘Allwissende[]
Autor[]’ (ebd.) montiert in Reminiszenz an die Undergroundzeitschrift
agit 883 eine Ausgabe der selbstproduzierten Zeitschrift Der Glückliche
Arbeitslose in den Text (S. 197–221), deren Leitartikel Zahls Essay Müßiggang
statt/oder Arbeit? von 1976 reformuliert. Er beginnt mit den Worten:
Wohin man auch schaut, ob In- oder Ausland, es wird wahrhaftig über
Arbeitslosigkeit und Berufsverbot geklagt und gejammert. […] Man wagt,
uns Faulenzertum, Genusssucht und Müßiggang vorzuwerfen – wovon es gar
nicht genug geben kann –, und Ihr bettelt darum, Berufe ausüben zu dürfen?
(S. 200)
Den Protest gegen das ‘Berufsverbot’, den Radikalenerlasses von 1972, der
Personen aus dem linken Spektrum an der Ausübung erlernter Berufe im
öffentlichen Dienst hinderte, wendet Zahl in die Forderung der Befreiung
von der Arbeit, sich auf Marx und Lafargues Recht auf Faulheit berufend:
An wem liegt es, wenn Angst und Resignation regieren? An uns! […] Fordern
wir nicht: Arbeitslosigkeit für Alle!? Liegen nicht großartige Perspektiven
darin, ein ganzes Leben lang nichts, aber auch gar nichts für den Moloch
,Kapitalverwertung‘ zu tun? Wächst nicht im Schoße der Alten Gesellschaft
das strahlende Kind der Zukunft heran: der tanzende, lachende, spielende,
genießende, singende Mensch von Morgen, der seine Bedürfnisse liebt und
lebt? (ebd.),
66
Ebd., S. 52.
67
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 57 und 56.
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MÜSSIGGANG IST ALLER LASTER ANFANG? 125
Das Leben, wie es bisher abrollt, erscheint uns sinnlos, öde, leer und
unmenschlich. Wir versuchen, auf irgendeine Art auszubrechen […]. Aber
bald müssen wir entdecken, daß uns das System auch dabei nicht in Ruhe läßt.
… An Stelle der entfremdeten kapitalistischen Arbeit müssen wir und werden
wir eine Arbeitsweise setzen, die auf Bedürfnisbefriedigung des Menschen
beruht.68
Die Utopie der befreiten Arbeit, die Forderung ‘künftiger Arbeits- und
Lebensweisen’ (S. 200), formuliert Zahls Verkehrung des titelgebenden
Verdikts: ‘Müßiggang ist aller Tugenden und Künste Anfang’.69 Hier klingt
nicht nur die Nietzsche’sche ‘Befreiung der Arbeit zur Kunst […] als
Befreiung der Arbeit zur Nichtarbeit oder als Befreiung zur “wirklichen”
Arbeit’ und das inhärente ‘Ganzheits- bzw. Menschlichkeitsversprechen’70
an, sondern auch Marcuses zitierte Forderung einer Organisation der
Arbeit im Einklang mit den befreiten Bedürfnissen. Wie Dutschke
betont, befindet sich Zahl damit ‘in bester Tradition’: Die ‘[e]xtreme
Nähe zwischen Zahl und Büchner, gerade in der scharfen Kritik
der entfremdeten Arbeit’,71 verdeutlicht etwa auch Büchners einem
Bürger in den Mund gelegter Ausruf: ‘Unser Leben ist der Mord durch
Arbeit; wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zapplen [sic], aber wir
werden uns losschneiden.’72 Zahls ‘Negation von Lohn-Sklaverei’, die
in ‘Arbeitslosigkeit und Berufsverbot […] Vorstufen künftiger Arbeits-
und Lebensweisen’ erkennt, begründet Dutschke aus der ‘Erkenntnis des
Widerspruchs zwischen dem höchstentwickelten ökonomisch-technischen
Reichtum und den unterentwickelt gehaltenen Bedürfnissen’, die
‘Arbeitsverweigerung als grundlegende Voraussetzung für die Freiwerdung
von menschlichen Entwicklungsbedürfnissen’ erscheinen lässt; auch sein
Roman Von einem, der auszog, Geld zu verdienen thematisiere ‘jene Langeweile
im Büchnerschen Sinne, die hin und wieder den “göttlichen” Müßiggang als
Hoffnung auf bessere Zeiten, Zustände und Beziehungen […] aufklingen
läßt’. In dieser von ihm konturierten Tradition steht auch Dutschkes
Frage: ‘Ist nicht Müßiggang (und Selbsttätigkeit) der Anfang aller Muße,
Freiwerdung, Lust und Widerstand?’73
68
CheSchahShit. Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow, hg. von Eckhard Siepmann u. a.,
Berlin 1984, S. 198.
69
Peter-Paul Zahl, Miss Mari Huana, Köln 2007, S. 10. Die Formulierung zitiert den Schlusssatz von
Lafargues Das Recht auf Faulheit.
70
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 604.
71
Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 58 und 37.
72
Georg Büchner, ‘Dantons Tod. Ein Drama’ (1. Akt, 2. Szene), in Werke und Briefe, Münchner
Ausgabe, hg. von Karl Pörnbacher u. a., München 12 2006, S. 57–133 (S. 74).
73
Alle Zitate in Dutschke, ʻGeorg Büchner und Peter-Paul Zahlʼ (Anm. 8), S. 50, 40, 56–7 und 54.
Zahl betone ‘emanzipative[...] Bedürfnisse’ (ebd., S. 51), in deren Organisation die Linke versagt
habe. Bereits der frühe Marx beklagt die ‘Bedürfnislosigkeit’ des Proletariats (ebd.) und konstatiert:
‘Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der
“Arbeit” gefasst wird’; Karl Marx, ‘Über Friedrich Lists Buch Das nationale System der politischen
Ökonomie’, in Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 3/14 (1972), 423–46 (436).
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126 SARA BANGERT
Zwang zur Metamorphose als ein gewaltsames Bedürfnis […], das sich übrigens
mit allen unseren tierischen Bedürfnissen vermischt und das den Menschen dazu
anstachelt, sich plötzlich der Gesten und Posen zu entledigen, die vom
menschlichen Wesen gefordert sind; daher kommt der Mensch bis auf
74
Vgl. die unter dem Kürzel W. D. publizierte Kritik in der Rubrik ‘Filmtips’ (Sehenswert:
‘Themroc’), in Zeit, Nr. 6/1974 (1. Februar 1974), https://www.zeit.de/1974/06/filmtips (abgerufen
am 12. September 2018).
75
Wilfried Hippen, ‘Michel Piccoli wird zum Tier’, in taz. die tageszeitung, Nr. 9067 (17. Dezember
2009), http://www.taz.de/!518211/ (abgerufen am 12. September 2018).
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weiteres plötzlich zu Tode, und das Tier verhält sich wie ein Tier, ohne sich
darum zu sorgen, die dichterische Bewunderung des Todes hervorzurufen.76
Das Ethos, das sich in der Muße ausdrückt, war stets kulturkritisch, nicht in
der bester [sic] aller Welten zu leben, und immer von Menschen umgeben
zu sein, die nie vernünftig werden und trotz aller Zivilisation der Barbarei so
nahe, wie der Rost auf dem polierten Eisen. Auch vorbildliche Zivilisationen,
wie die griechisch-römische, können zusammenbrechen und verschwinden.
Die Kultur bietet keinen Schutz.78
Nur ein Ausschnitt aus dem Panorama literarisch und filmisch verarbeiteter
Typen der Verweigerung im Milieu der Gegenkultur der 60er und 70er
wurde hier skizziert, ausgehend von den Gammlern, die ‘nicht Macht
erobern, sondern sich von deren Einfluss befreien [wollten]. Solches
reichte indessen schon, um das System zu beunruhigen.’79 Hier zeigt
sich ‘primäre Verweigerung’ als intuitive und affektive, vortheoretische
negative Bezüglichkeit: nicht als zielstrebige, organisierte, kollektive Praxis
der Rebellion oder Revolution, die sich auf neue Werte und Mythen
verständigt und diese durchzusetzen sucht, sondern als tendenziell private,
individuelle Äußerungsform des Unbehagens, der Verweigerung, der
Verneinung, des Aufschubs und Entzugs, des Nichteinverstandenseins und
des ‘existentiellen Widerstands’ – der Kritik der Kultur, der Subversion
der sozialen Ordnung, der Provokation gesellschaftlicher Konventionen
und der Umwertung etablierter Werte. Dabei sind solche Akte und
Praktiken der Verweigerung nicht notwendig solipsistisch, besitzen sie
doch das Ansteckungspotential der Desidentifikation ebenso wie die
76
Georges Bataille, ‘Metamorphose, 3) Wilde Tiere’, in Kritisches Wörterbuch. Beiträge von Georges
Bataille, Carl Einstein, Marcel Griaule, Michel Leiris u. a., hg. und übers. von Rainer M. Kiesow und
Henning Schmidgen, Berlin 2005, S. 39f.
77
Schäfer, Die Gewalt der Muße (Anm. 5), S. 54.
78
Straub, ʻDas Glück, das sich verweigertʼ (Anm. 40), S. 19.
79
Vgl. http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/jugendkulturen-in-deutschland/36168/gammler-vs-provos
(abgerufen am 19. September 2018).
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128 SARA BANGERT
80
Vgl. http://www.spiegel.de/einestages/soziale-bewegungen-a-949068.html (abgerufen am 19.
August 2018).
81
Vgl. http://www.taz.de/!5477248/ (abgerufen am 19. August 2018).
82
Vgl. dazu https://www.heise.de/tp/features/Spassguerilla-von-rechts-3420355.html?seite=all
(abgerufen am 20. August 2018).
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Schäfer, ‘“Dieser Beruf ist für uns zwar anstrengend, aber spitzenmäßig”ʼ (Anm. 43), S. 58. Vgl. u.
a. Tom Hodgkinson, How to Be Idle. A Loafer’s Manifesto, London 2004; Björn Kern, Das Beste, was wir
tun können, ist nichts, Frankfurt a. M. 2016. Zur Politisierung von Nichtarbeit durch die ‘Glücklichen
Arbeitslosen’ vgl. Guillaume Paoli (Hg.), Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Manifeste und
Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen, Berlin 2002.
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