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DIAPHANES
1. AUFLAGE
ISBN 978-3-0358-0389-1
WWW.DIAPHANES.NET
Inhalt
Marcus Quent
Was ist ein Lob? 7
Vorbemerkung 23
Kleines Symposion 27
I
Die Idee der Jugend 55
II
Der Verrat der Jugend 147
1.
7
MARCUS QUENT
8
WAS IST EIN LOB?
9
MARCUS QUENT
2.
10
WAS IST EIN LOB?
11
MARCUS QUENT
12
WAS IST EIN LOB?
13
MARCUS QUENT
Denkt man nun über das Lob der Jugend nach, das
selbst jugendlich ist und um das es in dem Buch von
Alexander García Düttmann geht, muss man als Erstes
aus dem Umkreis des Tadels heraustreten, das Lob vom
Schattenwurf des Tadels befreien. Das Lob der Jugend,
das sich auf eine Idee bezieht, an der man teilhaben,
aber über die man nicht verfügen kann, muss struk-
turell das einer Ehrerbietung, Huldigung, Lobpreisung
einer Instanz verstanden werden, die sich jedem mög-
lichen Urteil entzieht. Der Enthusiasmus, der in der
jugendlichen Lobrede zum Ausdruck kommt, kann
letztlich nur von einer Position des Liebenden aus-
gehen. Die Lobrede ist etwas anderes als eine inverse
Kritik oder eine abgepresste Zustimmung. Ein Lieben-
der, der lobpreist, tut das weder, um zu bestätigen und
auszuzeichnen, noch, um zurückzuweisen und zu kri-
tisieren. Das Lob der Jugend ist das Lob eines Lieben-
den, eines Glaubenden, das jedes mögliche Ordnungs-
gefüge transzendieren und destabilisieren muss, weil
es an kein Objekt gebunden ist und keiner Position
zugewiesen werden kann, jedem Versuch der Einhe-
gung widersteht. Es richtet sich an alle und nieman-
den, geht eigentlich ins Nichts. Noch die Behauptung,
dass die Jugend tot ist, muss man am Ende als das Be-
kenntnis eines Liebenden verstehen, nicht als einen
Tadel, der bestimmte Gestalten der Jugend vergleicht,
abwägt, bewertet. Die Behauptung, dass die Jugend tot
sei, ist dem Lob nicht entgegengesetzt, denn es ist kein
Richtspruch eines Erwachsenen, der über die Jugend
urteilt, sondern Element ein und derselben jugendli-
chen Lobrede eines Liebenden, der die Idee der Jugend
affirmiert. Ausgehend von einer erfahrenen Kraft, von
der Affirmation dieser Kraft und von den Spuren, die
sie hinterlässt – vergangene und zukünftige –, bezeugt
14
WAS IST EIN LOB?
3.
Und dennoch soll die Jugend, die tot ist, nurmehr eine
leere Hülle ihrer selbst, überall und nirgends auf die Ju-
gend stoßen können, das heißt auf sich selbst, als Idee,
auf jene Kraft, die sich zu jeder oder zu keiner Zeit ma-
nifestiert – immer wieder von Neuem, an einem an-
deren Ort. Wenn der Erscheinungsort der Jugend, die
Wirkungsweise ihrer Kraft, überall und nirgends ist,
dann geht diese Idee der Jugend mit einer Zeit- und
Ortlosigkeit einher. Man muss die Zeit- und Ortlosig-
keit der jugendlichen Kraft von der Zeit- und Ortlosig-
keit der Erwachsenen unterscheiden. Die Lehrerschaft,
die heute auch historisch-kritisch aufzutreten ver-
mag, stellt die eigentlich ahistorische Konfiguration
dar. Die Realitätsgerechtigkeit der Erwachsenen tritt
in ihrem Herrschaftsanspruch nicht immer rabiat und
schroff auf, sondern oft gewappnet mit den kritischen
Werkzeugen der Historisierung und Lokalisierung, im
Modus einer geschichtlichen Kontextualisierung und
Perspektivierung. Die erwachsene Einordnung der
Geschichte, die immer auch eine Einordnung in die
Geschichte ist, verschleiert ihre eigene Form der Zeit-
und Ortlosigkeit.
15
MARCUS QUENT
16
WAS IST EIN LOB?
17
MARCUS QUENT
18
Lob der Jugend
»Ich scherze nicht, denn ich bin kein Synonym.«
Clarice Lispector
23
VORBEMERKUNG
24
VORBEMERKUNG
25
Kleines Symposion
27
KLEINES SYMPOSION
Seite, das A
ltwerden, die Gebrechlichkeit, herunterzu
spielen, um das Jungsein zu verklären, verfehlt da-
durch beides. Sie ist hier auch deshalb nicht hilfreich,
weil sie die Erfahrung eines Älterwerdens außer Acht
lässt, das dem Jugendlichen nicht widerspricht. Viel-
leicht müsste man sagen, dass sich, wenn nicht das
Altwerden so doch zumindest das Älterwerden auf das
Lebensgefühl einer unangetasteten Jugend als Intensi-
vierung oder Vertiefung auswirkt, im Sinne nicht etwa
einer zusätzlichen Gewichtigkeit, sondern einer Er-
leichterung, die Fesseln lockert oder abwirft, ohne dass
man sich aber jemals darauf verlassen könnte.
Neben der Idealität der Kindheit und der Jugend gibt
es wohl noch eine des Alters. Eine Idealität des Erwach-
senseins hingegen scheint es deshalb nicht zu geben,
weil sie, als Macht der Realitätsgerechtigkeit, mit der
Wirklichkeit des tatsächlichen Alters weitgehend zu-
sammenfällt, von ihr nicht abweicht, das Erwachsen-
sein weder ideal noch real ist, sondern das eine und
das andere ineins. Kein Widerspruch lässt es aus den
Fugen treten.
Während der realitätsgerechte Erwachsene Macht hat,
über sich und über das Leben, muss man die Teilhabe
an der Idealität oder Virtualität der Jugend als das Ge-
tragenwerden von einer Kraft verstehen, die sich gegen
jede Normierung und Normalisierung sträubt und die
so, wie sie einen mitgerissen hat, zu einem unvor-
denklichen Zeitpunkt, einen wieder fallen lassen, ver-
lassen, zurücklassen kann. Diese Kraft ist überall und
nirgends, ist eine Kraft des Lebens als eines ganzen, ge-
neriert unentwegt, das ganze Leben und die ganze Zeit,
eine unbändige Simultaneität, die über die Endlich-
keit des einzelnen Lebens hinausreicht und von Ana-
chronismen bevölkert wird. Sie lässt den Erwachsenen
28
KLEINES SYMPOSION
29
KLEINES SYMPOSION
2 Ebd., S. 4.
3 Henry James, The Middle Years, London 1917, S. 1.
30
KLEINES SYMPOSION
4 Ebd., S. 116.
5 Ebd., S. 111.
6 Wo sie es doch tut, wie Tadzio am Ende von Thomas Manns ironisch-
platonischer Novelle Der Tod in Venedig, tut sie es für und durch den
Blick eines Sterbenden. Dass sich Venedig zuvor in ein Bild verwandelt
hat, in die Stadt, die man in Luchino Viscontis Morte a Venezia noch ein-
mal sieht, bevor sie verfällt, das Bild sich wieder auflöst, bestätigt den An-
satz, den man bei Henry James findet.
31
KLEINES SYMPOSION
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KLEINES SYMPOSION
33
KLEINES SYMPOSION
7 Alain Badiou, La vraie vie, Paris 2016, S. 25. Auch Badiou ist mit
einer Jugend vertraut, die sich dem Pakt mit den Eltern verweigert: »Die
Schlägereien unter Jugendlichen sind so alt wie die Welt. Ebenfalls der
Kodex der Halbwüchsigen: niemals den Erwachsenen gegenüber ein
Wort über diese Angelegenheiten verlieren. Heute hat sich alles verän-
dert. Von der Parentel umgeben, erscheinen die jungen Weißen, um den
Schwarzen und den Türken zu identifizieren, diese ewig für schuldig Ge-
haltenen.« (Alain Badiou, Tombeau d’Olivier, Paris 2020, S. 85)
8 Badiou, La vraie vie, a.a.O. Am Anfang des zweiten Abschnitts sei-
ner Abhandlung sagt Badiou ausdrücklich, Platon habe die Frage, was die
Philosophie der Jugend zu sagen habe, als die bei weitem wichtigste phi-
losophische Frage angesehen (ebd., S. 59).
34
KLEINES SYMPOSION
9 Ebd., S. 29.
10 Ebd., S. 31.
11 Ebd., S. 35.
12 Ebd., S. 48.
13 Ebd., S. 49.
14 Ebd., S. 52.
35
KLEINES SYMPOSION
15 Ebd., S. 57.
16 Alain Badiou, Pour aujourd’hui – Platon!, Paris 2019, S. 63.
17 Wenn der Philosoph den Sport nicht als Ausgangspunkt nimmt für
eine Erziehung der Jugend, sondern – aus deontologischer Sicht – als End-
punkt, als Leistungssport oder berufliche Tätigkeit des erwachsenen oder
doch noch heranwachsenden Staatsbürgers, tendiert er eher dazu, den
Blick auf die Fairness – als Gerechtigkeit – zu lenken. Vgl. dazu: Karl-Otto
Apel, »Die ethische Bedeutung des Sports in der Sicht einer universalisti-
schen Diskursethik«, in: ders., Diskurs und Verantwortung, Frankfurt am
Main 1988, S. 231f.
36
KLEINES SYMPOSION
37
KLEINES SYMPOSION
38
KLEINES SYMPOSION
»Qu’est-ce que l’amour?«, in: ders., Conditions, Paris 1992, S. 257f.) Wäh-
rend bekanntlich das Verhältnis von Freund und Geliebtem im Gastmahl
ein Verhältnis zwischen einem erwachsenen und einem jungen Mann
ist, führt Badiou eine Unterscheidung ein, die es ihm erlaubt, Begierde
und Liebe auseinanderzuhalten, eine Unterscheidung, die zumindest von
Diotima so nicht getroffen wird. Begierde soll grundsätzlich homosexuell
sein, ob zwischen Mann und Frau, Mann und Mann oder Frau und Frau,
Liebe, die Begegnung zwischen zwei disjunkten Positionen der Erfahrung,
soll immer heterosexuell sein, ob zwischen Frau und Frau, Mann und
Mann oder Mann und Frau (ebd., S. 271). Dass das Gastmahl selber, un-
abhängig vom Geschlecht und vom Verhältnis oder Nicht-Verhältnis der
Geschlechter, ein »Stadium auf des Lebens Weg« ist, das der ästhetischen
Reflexion, ist bekanntlich Kierkegaards These, die sein eigenes Gastmahl
in der Erinnerung »In vino veritas« darlegt (Sören Kierkegaard, »In vino
veritas«, in: Stadien auf des Lebens Weg, Gesammelte Werke und Tage
bücher, Band 9, Nachdruck der ursprünglich im Eugen Diederichs Verlag
erschienenen Ausgabe: Simmerath 2004, S. 21–90).
21 Platons Gastmahl, a.a.O., S. 43.
39
KLEINES SYMPOSION
22 Gerhard Krüger spricht davon, dass die Rede des Alkibiades »selbst
ein Ereignis« (Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des
40
KLEINES SYMPOSION
41
KLEINES SYMPOSION
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26 Ebd., S. 76.
43
KLEINES SYMPOSION
44
KLEINES SYMPOSION
legt und sei nicht anders neben ihm erwacht, als wenn
er mit seinem »Vater oder einem Bruder geschlafen
hätte«28? Geht man davon aus, dass Sokrates seinen
28 Platons Gastmahl, a.a.O., S. 77. Vgl. dazu auch: Anne Carson, Eros
the Bittersweet, Princeton 1986, S. 23. Der Dialog Alkibiades der Erste –
oder Großer Alkibiades –, in der Forschung immer wieder als apokryph
eingestuft, beginnt damit, dass Sokrates seinen Schüler Alkibiades apos-
trophiert. Er behauptet von sich, er sei dessen »erster Liebhaber« (Plato,
Alkibiades der Erste, übersetzt von F. Susemihl, in: Sämtliche Werke, Ber-
liner Ausgabe, Band 1, Heidelberg 1982, S. 815) gewesen und der einzige,
der von seiner Liebe nicht abgelassen habe. Denn Alkibiades soll stolz,
ja hochmütig über all seine Liebhaber hinweggesehen und sie davonge-
scheucht haben: »Zuvörderst glaubst du so schön und wohlgewachsen
zu sein wie sonst keiner – und freilich kann das jeder deutlich sehen.«
(ebd.) Für einen Liebhaber ist es, so Sokrates, schwer, einen Geliebten an-
zugehen, der sich »von Liebhabern nicht bezwingen« (ebd., S. 816) lasse.
Am Ende des Gesprächs kehrt sich alles um, will Alkibiades nunmehr
der ständige Begleiter des Sokrates werden, mit ihm gehen. Warum? Weil
er verstanden hat, dass allein Sokrates ihn wirklich oder wahrhaft ge-
liebt hat. Allein Sokrates hat seine Seele geliebt, ihn selber also. Er hat
seine eigene Selbsterkenntnis gewollt, hat nicht bloß das Seinige geliebt,
seinen verfallenden Körper, einen Körper, dessen »erste Jugendblüte«
(ebd., S. 864) schon dahin ist. Um wirklich oder wahrhaft den Liebling
oder Geliebten zu lieben, muss die Liebe des Liebhabers oder Freundes
immer schon seinen Körper als einen verfallenden oder verwelkten be-
trachtet haben. Ohne seelische Selbsterkenntnis, ohne Liebe zu ihr und
ohne Liebe, die in ihr gründet, verhält man sich wie der Geliebte, der in
einem ebenfalls als apokryph eingestuften Dialog – Alkibiades der Zweite
oder Kleiner Alkibiades – von Sokrates erwähnt wird. Man liefert sich
Machinationen aus, die etwas Geistesabwesendes haben, Unseliges, als
würden sie vom Körper beherrscht oder als hätte der Körpers Geist und
Seele in seinen Dienst genommen: »[…] wie zum Beispiel der Geliebte
des Archelaos, des Gewaltherrschers der Makedonier, weil er nicht we-
niger in die Herrschaft als dieser in ihn verliebt war, diesen seinen Lieb-
haber umgebracht hat, um selber Alleinherrscher und ein hochbeglück-
ter Mann zu werden; nachdem er dann aber drei oder vier Tage lang die
Herrschaft besessen hatte, wie er dann selbst durch die Nachstellungen
anderer umkam.« (Plato, Alkibiades der Zweite, übersetzt von F. Susemihl,
in: Sämtliche Werke, Berliner Ausgabe, Band 2, Heidelberg 1982, S. 826)
Alkibiades der Zweite endet mit einer Bekränzung als Dank für »treffli-
chen Rat« (ebd., S. 840). Nachdem sich Sokrates von Alkibiades den Kranz
hat aufsetzen lassen, spricht er die letzten Worte: »Gut, ich nehme ihn an
und möchte mich auch gern annehmen sehen, was du mir sonst noch für
Gaben bieten kannst und willst. Und wie Kreon beim Euripides, als er den
Teiresias mit dem Kranze geschmückt herankommen sieht und nun von
ihm vernimmt, er habe ihn als Erstlingsgabe aus der Beute der Feinde für
den durch seine Kunst gewonnenen Sieg empfangen, ihm zuruft: ›Zum
45
KLEINES SYMPOSION
guten Zeichen nehm’ ich deinen Siegeskranz, / Denn, wie du weißt, be-
drängen Sturm und Wogen uns‹, so sehe auch ich diese deine Gabe als
gutes Zeichen an. Denn ich glaube, dass Sturm und Wogen mich nicht
minder bedrängen als den Kreon, und möchte doch gern als ruhmreicher
Sieger aus diesem Kampfe mit deinen übrigen Liebhabern hervorgehen.«
(ebd.)
29 Beide Deutungen finden sich im ersten Teil von Lacans Seminar
über die Übertragung: Jacques Lacan, Le transfert (Le séminaire, livre VIII),
zweite, durchgesehene Auflage, Paris 2001, etwa S. 192.
30 Platons Gastmahl, a.a.O., S. 76.
46
KLEINES SYMPOSION
47
KLEINES SYMPOSION
31 Allan Bloom, »The Ladder of Love«, in: ders., Love and Friendship,
New York 1993, S. 524. In seinem Plato-Kommentar schreibt Marsilio Fi-
cino, dass die »Gelüste des Tastsinns« weder zur Liebe gehören noch ein
»Gefühl des Liebenden« sind (Marsilio Ficino, Über die Liebe oder Platons
Gastmahl, Hamburg 2014, S. 39).
48
KLEINES SYMPOSION
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KLEINES SYMPOSION
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KLEINES SYMPOSION
52
KLEINES SYMPOSION
chen, ihn dann einladen, mit ihnen in das Death Valley zu fahren, um
dort gemeinsam einen LSD-Trip zu erleben, eine Party für ihn veranstal-
ten und eine Diskussion am Claremont Men’s College, einen gemeinsa-
men Ausflug zu einem Freund in den Bergen unternehmen.
53
I
Die Jugend ist tot, weil sie sich nicht mit den Alten,
sondern mit den Eltern verbündet hat.
Oder schlimmer: weil die Eltern es geschafft haben,
sie abzuschaffen, eine behütete und bewahrte Jugend
zu erzeugen, eine Jugend ohne mitreissenden Affekt
und ohne blinde Leidenschaft, eine kalte und brave
Jugend, ausdruckslos und freundlich, mit einem Ge-
sicht, das sich dem Bildschirm angleicht, auf das
es unentwegt starrt, eine Jugend, die sich zur Begrü-
ßung umarmt, ohne sich zu berühren, eine Jugend, die
das Leben regeln will und mit der die Eltern in eine
freundschaftliche und vernünftige und durchsichtige
Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft treten, eine Ju-
gend, die bereit ist, zu reden, und die sich über nichts
mehr freut als darüber, dass die Eltern das Wort an sie
richten, eine Jugend, die sich verständigen will, eine
Jugend der gewaltlosen Kommunikation, die positiv
denkt und das positive Denken zum Maßstab erhebt.
Die gewaltlose Kommunikation ist die Falle, die die
wohlmeinenden Eltern der Jugend gestellt haben, aber
ebenfalls sich selber.
Denn die Eltern haben nicht nur die Jugend, s ondern
auch sich von jeder Zukunft abgeschnitten. Hegels
konventionelle und konservative Vorstellung aus den
Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, die
Jugend sei im Allgemeinen unzufrieden und erschöpfe
55
DIE IDEE DER JUGEND
Miteinander reden
56
MITEINANDER REDEN
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DIE IDEE DER JUGEND
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MITEINANDER REDEN
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MITEINANDER REDEN
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MITEINANDER REDEN
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DIE IDEE DER JUGEND
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WOLLUST UND UNPRODUKTIVITÄT
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DIE IDEE DER JUGEND
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WOLLUST UND UNPRODUKTIVITÄT
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DIE IDEE DER JUGEND
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KOPFLOSIGKEIT
Kopflosigkeit
Die Jugend gibt oder lässt nicht nach, gibt ihr Begeh-
ren oder ihre antreibende Kraft nicht auf, lässt davon
nicht ab. Vielleicht deshalb, weil das Moment der Ju-
gend nichts anderes ist als das, was man im Englischen
als momentum bezeichnet und was in der Bewegung
des Schwungnehmens und Infahrtkommens besteht.
Das Moment der Jugend ist das Moment des Antriebs,
des Lebens, das Benjamin von seiner Reglementierung
absetzt, die die Vergangenheit hervorbringt, das Sein
69
DIE IDEE DER JUGEND
70
KOPFLOSIGKEIT
71
DIE IDEE DER JUGEND
38 Jacques Derrida, »›Il courait mort‹: Salut, salut. Notes pour un cour-
rier aux Temps Modernes«, in: Les temps modernes, mars-avril-mai 1996,
no. 587, S. 22. Alle Stellen in Derridas Aufsatz, die im Text zitiert oder
paraphrasiert werden, finden sich auf den Seiten 21–22 und 30–31.
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KOPFLOSIGKEIT
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DIE IDEE DER JUGEND
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UNNACHGIEBIGKEIT ODER SKIZZE EINER ETHIK
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DIE IDEE DER JUGEND
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UNNACHGIEBIGKEIT ODER SKIZZE EINER ETHIK
rneuerung des B
E egehrens, sein Momentum, die Kraft
der Jugend. Wenn das stimmt, ist die Beurteilung der
Handlung eine, die das Band lockert, das das Begehren
durch das stets vorausgesetzte Urteil mit sich knüpft,
durch den Vollzug der Handlung, der sie bejaht. Die
Struktur der Ethik erweist sich als in sich gespalten. Sie
ist nicht nur in zwei Urteile gespalten, sie ist dadurch
gespalten, dass sich die zwei Urteile, das implizite und
das explizite, das zum Ausdruck bringende und das
ausdrückliche, immer bloß äußerlich, als fremdartige,
die Selbstreflexion oder das aneignende Wissen durch-
kreuzende aufeinander beziehen können. Die Jugend
widersteht unter ethischem Gesichtspunkt den »Vä-
tern und Ahnen«, der ethische Gesichtspunkt selber ist
einer des Widerstreits oder der Aporie zwischen Hand-
lung oder Bejahung und Diskurs oder Explizitmachen,
beurteilender Explikation. Unerträglich an der Jugend
ist, dass sie eben nicht diskursiv in den Widerstreit ein-
tritt, dass die »Väter und Ahnen« diskursiv unter sich
bleiben, ihre Diskursethik handlungsarm ist und über
die Kluft in der Struktur der Ethik hinwegtäuscht, die
Handlung und Argument, Bejahung und Beurteilung,
Vollzug und Diskurs unaufhebbar voneinander ab-
spaltet, die Möglichkeit der Ethik in eine Unmöglich-
keit verkehrt. Lacan widerspricht der gängigen und
bei Hegel einschlägigen Interpretation der Tragödie
des Sophokles als Widerstreit, Konflikt oder Kollision,
die Recht gegen Recht setzt, Diskurs gegen Diskurs, um
auf der »Leidenschaft«41 zu insistieren, die Antigone
»trägt«, als wäre ihre Handlung nicht einfach die eines
im doppelten Sinne selbstbewussten Subjekts oder als
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DIE IDEE DER JUGEND
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UNNACHGIEBIGKEIT ODER SKIZZE EINER ETHIK
42 Ebd., S. 370.
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DIE IDEE DER JUGEND
43 Ebd., S. 367.
44 Ebd., S. 370.
80
UNNACHGIEBIGKEIT ODER SKIZZE EINER ETHIK
aber auch ein Feld des höchsten Guts, wie die Ethik es
pflegt, und sei es in seiner »entmystifizierten«45 utilita-
ristischen Gestalt einer »Ökonomie der Güter«. Müsste
man nicht von diesem Feld sagen, es sei ein Sein, das
»Sein der Väter und Ahnen«? Das Begehren ist, so
Lacan, ein »Rinnsal«46, oder genauer: es hat seinen Ort
in einem »Rinnsal«, das unterhalb verläuft, unterhalb
aller Bedeutungen, unterhalb der signifizierenden
Kette oder der Signifikantenkette [chaîne signifiante].
Es ist das, was mit »jedem Akt oder jeder Handlung be-
zeichnet wird«, von einem Signifikanten zum ande-
ren der Kette. Die Unnachgiebigkeit der Jugend ist also
ein ethisches oder quasi-ethisches Verhältnis zum Be-
gehren, das es leidenschaftlich bejaht – quasi-ethisch
in dem Maße, in dem die Struktur der Ethik eine ge-
spaltene ist –, statt durch die Errichtung einer Macht-
ökonomie oder einer Güterökonomie von ihm abzu-
lenken, das »Rinnsal« gleichsam oberhalb verlaufen zu
lassen, es durch einen »gewohnten oder gewöhnlichen
Weg« zu ersetzen.
Das »Maß«47 für eine durch die Psychoanalyse revi-
dierte Ethik, das Lacan ansetzt, ist, wie deutlich gewor-
den ist, der Bezug der Handlung zu dem ihr innewoh-
nenden Begehren. Die Perspektive, die dadurch aber
eingenommen wird, sieht er als die des »Jüngsten Ge-
richts« an, der Apokalypse. Es ist die Perspektive des-
sen, was Lacan als den Bereich »zwischen zwei Toden«
bezeichnet, über das Menschliche hinaus. Die Hand-
lungen Antigones oder der Jugend muss man so jenseits
des natürlichen Todes verorten; dass sie einen Bezug zu
45 Ebd., S. 256.
46 Ebd., S. 371.
47 Ebd., S. 361.
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DIE IDEE DER JUGEND
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KRITIK DER DIVERSITÄT
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DIE IDEE DER JUGEND
50 »Die Verschiedenen, die das eine und dasselbe sind, worauf beide,
die Gleichheit und die Ungleichheit bezogen werden, sind also nach der
einen Seite einander gleich, nach der andren Seite aber einander ungleich,
und insofern sie gleich sind, insofern sind sie nicht ungleich. Die Gleich-
heit bezieht sich nur auf sich, und die Ungleichheit ist ebenso nur Un-
gleichheit.« (G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Theorie-Werkaus-
gabe, Band 6, Frankfurt am Main 1969, S. 50.)
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KRITIK DER DIVERSITÄT
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DIE IDEE DER JUGEND
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KRITIK DER DIVERSITÄT
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DIE IDEE DER JUGEND
publiziert, bricht Marcuse überraschend eine Lanze für die Hippies und
ahndet die Gestalt, die die »Isolierung« der Neuen Linken annimmt: »Al-
lergisch gegen ihre tatsächliche Trennung von den Massen und nicht be-
reit, einzusehen, dass sich darin die gesellschaftliche Struktur des fort-
geschrittenen Kapitalismus ausdrückt und dass ihr separater Charakter
nur im Verlauf eines langen Kampfes um die Veränderung dieser Struktur
überwunden werden kann, zeigt die Bewegung Minderwertigkeitskom-
plexe, Defätismus oder Apathie. Dieses Verhalten begünstigt die Entpoli-
tisierung und Privatisierung des Hippie-Flügels, dem der politische Flügel
seinen politischen Puritanismus in Theorie und Praxis entgegensetzt.«
(Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt am Main 1973,
S. 43.)
88
KRITIK DER DIVERSITÄT
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DIE IDEE DER JUGEND
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KRITIK DER DIVERSITÄT
63 Ebd., S. 435.
64 Ebd.
91
DIE IDEE DER JUGEND
65 »Wie nämlich in der Urzeit das Kunstwerk durch das absolute Ge-
wicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument
der Magie wurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später er-
kannte, so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf
seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funk-
tionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenige sich
abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag.« (ebd., S. 484,
»zweite [recte: dritte] Fassung«) Die Beiläufigkeit von Kunst kann man
ebenfalls folgender Stelle in der dritten Fußnote der »zweiten [recte: drit-
ten] Fassung« (1938) entnehmen: »›Echt‹ war ein mittelalterliches Ma-
donnenbild ja zur Zeit seiner Anfertigung noch nicht; dazu wurde es im
Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte und am üppigsten vielleicht in
dem vorigen.« (ebd., S. 476)
66 Ebd., S. 439. In der zweiten und dritten Fassung der Abhandlung
bezeichnet Benjamin den Agenten nicht mehr als den »gewaltigsten«,
sondern als den »machtvollsten« (ebd., S. 478, sowie: Benjamin, Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Gesam-
melte Schriften, Band VII.1, a.a.O., S. 353). Pierre Klossowski verwendet
in seiner von Benjamin durchgesehenen französischen Übersetzung das
Wort »puissant«.
92
KRITIK DER DIVERSITÄT
93
DIE IDEE DER JUGEND
68 Ebd., S. 469.
69 Ebd., S. 441.
70 Ebd., S. 469.
71 Die Menschheit hat, so Benjamin, im Faschismus einen solchen
Grad an »Selbstentfremdung« erreicht, dass sie ihre eigene, von ihr sel-
ber bewerkstelligte Vernichtung »als ästhetischen Genuss ersten Ran-
ges« erlebt – hier, im Futurismus, berühren sich Kunst, Kunsttheorie und
Kunstpolitik. Adorno zeigt in seinem Versuch über Wagner, in dem er die
»Massenkunst« oder den Film (Theodor W. Adorno, Versuch über Wag-
ner, Frankfurt am Main 1952, S. 136) aus dessen Musik herleitet, wie ein
Widerstand, eine Rebellion, die »durchs gesellschaftliche Ganze« (ebd.,
S. 168) produziert sind, gegen das sie sich wenden, an dieses Ganze nicht
rühren können, die Vernichtung an die Stelle der Veränderung treten
muss. Die Rebellion bleibt »partikular«, eine Rebellion von »partikula-
ren Rebellen«. Am Ende steht die »Identifikation des Widerstands mit der
Herrschaft«. Genau das geschieht mit den Produktivkräften, die Benja-
min meint, mit der »zweiten Technik«. Sie wird im Krieg zum vernichten-
den Herrschaftsinstrument, zur zerstörerischen Verlängerung der »ersten
94
KRITIK DER DIVERSITÄT
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DIE IDEE DER JUGEND
74 Ebd., S. 436.
75 Es soll einen »Anspruch« (ebd., S. 460) des technisch reproduzierba-
ren Kunstwerks auf die Masse und ihre kollektive Rezeption geben. Um-
gekehrt soll es auch einen »Anspruch« (ebd., S. 455) jedes »heutigen Men-
schen« auf sein Gefilmtwerden geben, einen »legitimen Anspruch« auf
sein »Reproduziertwerden« (ebd., S. 494 – zweite [recte: dritte] Fassung).
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KRITIK DER DIVERSITÄT
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DIE IDEE DER JUGEND
78 Auf eine Spur dieser Ambivalenz stößt der Leser, der auf Benjamins
Verwendung des Wortes »Geschoß« im Text achtet. Über den Dadaismus
sagt er: »Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden
Klanggebilde wurde [das Kunstwerk] zu einem Geschoß. Es stieß dem
Betrachter zu. Und es stand damit im Begriff, die taktile Qualität, die
der Kunst in den großen Umbauepochen der Geschichte die unentbehr-
lichste ist, für die Gegenwart zurückzugewinnen.« (ebd., S. 463 ff.) Für die
Gegenwart: also für die anspruchsvolle Kunst im Zeitalter der technische
Reproduierbarkeit, die das Neue anerkennt. Über den gesellschaftlich-ge-
schichtlich-politischen Kontext des Futurismus sagt Benjamin gleichzei-
tig: »Anstelle des Luftverkehrs setzt [der Sklavenaufstand der Technik]
den Verkehr von Geschossen.« (ebd., S. 469)
98
KRITIK DER DIVERSITÄT
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DIE IDEE DER JUGEND
100
KRITIK DER DIVERSITÄT
79 Ebd., S. 451.
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KRITIK DER DIVERSITÄT
und die W
ichtigkeit einer Absetzung der diversen Positivität von der
polemischen betont, ein solidarisches Hinausgehen über die Kritik?
81 Karl Marx, Das Kapital, Band 1, Berlin 1969, S. 53.
82 Ebd., S. 50.
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83 Ebd., S. 51.
84 Was sich hier als geradezu unvermeidbarer Effekt der gesellschaft-
lichen Differenzierung im Übergang zur Warengesellschaft und zum Ka-
pitalismus zu erkennen gibt, die Produktion eines Außen, lässt sich in der
Sprache des Geistesidealismus als »Selbstverstellung oder Selbstverkeh-
rung« des Geistes begreifen, die der Geist gleichsam wollen muss, beja-
hen oder affirmieren. Der Geist »erscheint sich selbst wie oder als Natur«
(Christoph Menke, Autonomie und Befreiung, Frankfurt am Main 2018,
S. 137). Er kann diese zweite Natur retten, will sagen: affirmieren, weil
die »Affirmation« dem Augenblick gilt, in dem sich das geistige Sein
gegenüber dem geistigen Setzen verselbständigt hat und »noch nicht in
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DIE IDEE DER JUGEND
85 Auf die Relevanz der Form für die Marx’sche Analyse weist Jacques
Derrida aus anderer Perspektive, aus der Perspektive einer dekonstruk-
tiven Ausrichtung der Unterscheidung von Gebrauchs- und Tausch-
wert, hin. Er bezieht sich auf den tanzenden Holztisch, ein Beispiel für
die Transformierung eines »ordinären sinnlichen Dings« mit einem Ge-
brauchswert in eine Ware, das Marx im Teilabschnitt über den Fetisch-
charakter anführt: »Der sogenannte Gebrauchswert des sogenannten or-
dinären sinnlichen Dings, der einfachen hylé, des Holzes eines Tischs,
von dem Marx annehmen muss, dass er noch nicht zu ›tanzen‹ begonnen
hat, muss bereits durch seine Form, durch die Form, die seine hylé be-
stimmt, der Iterabilität, der Substitution, dem Austausch zugesprochen
oder überantwortet worden sein […] So wenig wie es einen reinen Ge-
brauch gibt, gibt es einen Gebrauchswert, den die Möglichkeit des Aus-
tauschs und des Handels – wie immer man es auch nennen mag: Sinn,
Wert, Kultur, Geist (!), Bedeutung, Welt, Verhältnis zum anderen und
zunächst Form und Spur des anderen überhaupt – nicht von Anfang an
in eine Außerbetriebnahme oder in ein Außergebrauchsein [hors-d’usage]
eingetragen oder einbezogen hätte. Außer Gebrauch ist eine Wendung,
deren überbordende Bedeutung sich nicht auf die des Unbrauchbaren
und Unnützen herabmindern läßt.« (Jacques Derrida, Spectres de Marx,
Paris 1993, S. 254.) Über den Formbegriff im Kapital schreibt Gérard
Granel: »Das also, was nicht in den Formen seiner eigenen Erfahrung er-
scheint – das Reale, das Wesentliche, das Wahre – ist selbst ›Form‹.« (Gé-
rard Granel, »Der Formbegriff in Das Kapital«, in: Die totale Produktion,
hg. E. Hörl, Wien 2020, S. 186.) Kein Quidproquo im Kapitalismus, keine
doppelte Außerbetriebnahme, ohne Form.
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mativer Ordnung«, oder ist sie eine ohnmächtige Jugend, die umso mehr
von der zerstörerischen Wucht der eschatologischen Geistesgegenwart
getroffen werden wird, je mehr diese ihr wie Gott und allen Gottfähi-
gen die Treue hält? – Beruft man sich nicht auf einen Gott der Revolu-
tion, sondern auf eine »Selbsttranszendenz« (Jean-François Bouthors und
Jean-Luc Nancy, Démocratie! Hic et Nunc, Paris 2019, S. 53), um nach
dem Tod eines jeden Herren den Auswirkungen der »An-archie« (ebd.,
S. 52) – der bloßen »Diversität«? – vorzubeugen, die nicht eine Gesell-
schaftsform bedrohen, wohl aber die Demokratie, die aufgrund des ihr
wesentlichen »Abstands« (ebd., S. 54) oder des für sie konstitutiven Un-
einsseins, nicht einfach eine Gesellschaftsform sein kann, muss man klä-
ren, wie sich das Selbst und die Transzendenz zueinander verhalten. Man
muss es umso mehr tun als die Existenz des Selbst ihrerseits »radikal«
(ebd., S. 195) anarchisch sein soll, in keiner Macht, keinem Prinzip, kei-
ner Ordnung sich erschöpft, »unendlich ausgesetzt« bleibt. Die »Selbst-
transzendenz« soll einen Punkt der Transzendenz in der Immanenz des
demokratischen Selbst markieren, das dieses Selbst, das Wir der Demo-
kratie, vereinigt, das heißt: formt und zu einem anerkannten Alle erhebt.
An diesem Punkt, eine Art focus imagniarius, sammelt sich, was das Selbst
»im und durch« das Selbst übersteigt, ohne das es aber ein solches Selbst
nicht geben könnte. »Selbsttranszendenz« ist insofern ein »Oxymoron«
(ebd., S. 53), als das Selbst, das sich transzendiert, jede »Selbstgenügsam-
keit« einbüßt, die Transzendenz in der Immanenz das Selbst »außer sich«
bringt. Wenn aber das »Selbst« die »Ursache« (ebd.) dieses Außersichseins
sein, eine »Vorreiter- oder Führungsrolle« (ebd.) spielen soll, dann wird
die Revolution revoziert, der Abstand verringert, die Demokratie als eine
Gesellschaftsform ausgegeben. Die Jugend ist nicht der Name für eine
»Selbsttranszendenz«.
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Unerziehbar
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UNERZIEHBAR
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ohne Jugend […] Doch auch sie muß man noch lieben!« (Marcus Quent,
»Wirkliche Jugend. Vom geheimen Band zwischen Liebe und Kritik«, in:
Lettre International, Winter 2019, S. 8.)
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96 Ebd., S. 18.
97 Ebd.
98 Bodies in Alliance ist der Titel der Vorlesungen, auf die Butlers Buch
zurückgeht.
99 Butler unterstreicht nicht diesen Aspekt der technologischen Über-
tragung des Hier und Jetzt, ja seiner Konstitution durch die Technologie,
sondern eher den einer Ermöglichung, selbst wenn das Hier und Jetzt
nicht gänzlich übertragbar ist: »Das Lokale muss sich außerhalb seiner
selbst neu formen, um als Lokales begründet zu werden; und dies bedeu-
tet, dass lediglich globalisierende Medien es zu begründen vermögen und
dass sich lediglich durch sie etwas dort wirklich ereignen kann.« (Butler,
Notes Toward a Performative Theory of Assembly, a.a.O., S. 92.)
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DIE ERSCHEINUNGS- UND ANERKENNUNGSMASCHINE
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weist, weil das Nicht-Scheinhafte selber zur Erscheinung gehört, die Unter-
scheidung nur vor dem Hintergrund einer bereits erscheinenden Welt
getroffen werden kann, in Anwesenheit eines Betrachters, eines Zuschau-
ers, eines Zeugen, der die Welt sieht, wahrnimmt. Erscheinung impliziert
eine geteilte »potentielle Anerkennung« (Hannah Arendt, The Life of the
Mind, San Diego – New York – London 1978, S. 46). Die Welt ist beredt,
ihr »Drang zum Erscheinen« (ebd., S. 29) macht sie bedeutsam. Und doch
stolpert man in dieser Welt, stößt an, und muss sich mit dem Materialis-
mus fragen, ob die Widerständigkeit der Körper nicht auf etwas verweist,
das allem Verweisen, aller Idealisierung, fremd bleibt, so naiv, vorkritisch
oder dogmatisch die Entgegensetzung von Materialismus und Idealismus
anmutet.
102 Butler, Notes Toward a Performative Theory of Assembly, a.a.O.,
S. 26.
103 Ebd., S. 77.
104 Ebd., S. 71.
105 Ebd., S. 139.
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123 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976, S. 53f.
124 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, a.a.O., S. 114.
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125 »Der Mensch ist der Gewalt-tätige nicht außer und neben ande-
rem.« (Heidegger, Einführung in die Metaphysik, a.a.O., S. 115) »Hier
zeigt sich die unheimlichste Möglichkeit des Daseins: in der höchsten
Gewalttat gegen sich selbst die Übergewalt des Seins zu brechen.« (ebd.,
S. 135) »Das Seiende im Ganzen ist als Walten das Überwältigende.« (ebd.,
S. 115)
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schreckt das Dasein vor der Tat zurück und darf trotz-
dem nicht vor ihr zurückweichen. Das »Gegen«, das
zugleich ein »Für« ist, und das »Für«, das zugleich ein
»Gegen« ist, begreift Heidegger als »Vermessenheit«,
als Hybris, die man nur dann wahrhaft versteht, wenn
man sie als »höchste Anerkennung« versteht. Worin
besteht die höchste Anerkennung des Seins, in der
»Gegen« und »Für« untrennbar ineinander übergehen?
Nicht darin, die »Geschichts-stätte« neu zu stiften oder
zu gründen. Das wäre vielleicht eine Anerkennung,
indes nicht die »höchste«.
Indem das anerkennende Dasein die Übergewalt des
waltenden Seins durch seine eigene Gewalttat bewäl-
tigt, räumt es ihm nicht länger eine »Stätte des Erschei-
nens« ein, eine Stätte, wo das »Seiende im Ganzen«
oder der Logos als »Gesammeltheit des Widerwendi-
gen« jeweils anders erscheint, sondern »versagt« ihm
gerade »jede Möglichkeit des Erscheinens«, jede »Of-
fenheit«, und bewahrt auf solche Weise jene »Verbor-
genheit«, die das Sein als »aufgehendes Walten« von
einem Seienden unterscheidet.
Anerkennen, so könnte man Heideggers Gedanken
wiedergeben und verallgemeinern, muss, soll es mehr
sein als bloß eine tautologische Bestätigung, ein »Gegen«
anzeigen, das man nicht einem »Für« entgegenzuset-
zen vermag. Als ein solches »Gegen« aber kann An-
erkennen nie ein Erscheinenlassen des Anzuerkennen-
den meinen, durch das man ihm gerecht zu werden
trachtet. Es meint immer ein Bewahren des Anzu-
erkennenden vor der Erscheinung, auf die es aus ist.
Denn mit der Erscheinung verleugnet das Anerkannte,
dass es ein Anzuerkennendes war oder dass es sich der
Erscheinung in der Erscheinung entziehen muss. Alles
Erscheinende muss, insofern es zur Erscheinung erst
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146 Vgl. dazu ebenfalls folgende Stelle: »Der Wissende fährt mitten hi-
nein in den Fug, reißt (im ›Riß‹) das Sein in das Seiende und vermag doch
nie das Überwältigende zu bewältigen. Daher wird es zwischen Fug und
Un-fug hin und her geworfen.« (Heidegger, Einführung in die Metaphysik,
a.a.O., S. 123) Fug ist »Fügung«, also die »Weisung, die das Überwälti-
gende seinem Walten gibt«.
147 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, a.a.O., S. 136.
148 Ebd., S. 121. Das Dasein ist das »Geschehnis der Unheimlichkeit«,
ein Ausdruck, für den in Sein und Zeit wohl der des »Seins zum Tode«
steht, das nicht den »Charakter des besorgenden Aus-seins auf seine Ver-
wirklichung« haben kann, der Verfügung über ein »mögliches Zuhand-
enes oder Vorhandenes«, als müsste »das Besorgen der Verwirklichung«
der Möglichkeit des Todes eine »Herbeiführung des Ablebens bedeuten«
(Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 261).
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NICHT-DASEIN
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II
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152 Pier Paolo Pasolini, »Von den Glühwürmchen«, in: ders., Freibeuter
schriften, Berlin 1998, S. 107.
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153 Ebd.
154 Ebd., S. 105.
155 Pier Paolo Pasolini, »Der Völkermord«, in: ders., Freibeuterschriften,
a.a.O., S. 161.
156 Pasolini, »Von den Glühwürmchen«, a.a.O., S. 110.
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DER VERRAT DER JUGEND
bedauert, wie die Liebe, die ihre Kraft aus einer Le-
bensweise bezieht? Das skandalon der Liebe ist das
einer Bedingung, die, um Bedingung eines Verständ-
nisses zu sein, der Lieblosigkeit der Italiener nicht wi-
dersteht, ihrer Gegenwart, und sich in sie hineinzie-
hen lässt, in das, was es zu verstehen gilt. Und es ist
das skandalon einer Bedingung, die gar keine Bedin-
gung ist und in der Unbedingtheit verharrt, nicht nur
dem widersteht, was es zu verstehen gilt, sondern dem
Verständnis selber, dem Verstehen von diesem, von
jenem. Dass »wirkliche« Liebe in einer »Lebensweise«
wurzelt, in einer »Lebensweise«, die hier die der Italie-
ner ist, bevor die anthropologische Revolution die Le-
bensweisen gleichförmig gemacht und vereinheitlicht
hat, bedeutet nämlich, dass sie nichts vergegenwär-
tigt, sich nicht auf dieses oder jenes richtet, auf die-
ses und jenes. Sie sagt nie: »Ich liebe dieses oder jenes,
dieses und jenes an den Italienern.« Es ist das nicht-ge-
richtete oder nicht-intentionale Moment »wirklicher«
Liebe, über das die Sätze »Man muß sie lieben« und
»Ich habe sie einmal geliebt« hinwegtäuschen müs-
sen, das sie vor dem Klischee schützt und dem die »ver-
zweifelte Opposition« gegen die »herrschenden Kli-
schees« Geltung verschaffen will. Die Wirklichkeit der
Liebe, die die Zuwendung zu einer Nicht-Gegenwart
in der Gegenwart bedingt, gründet in einer Nicht-Ge-
richtetheit oder in einer Nicht-Intentionalität, in einer
Abwendung.
Die Nicht-Gegenwart, die Pasolini sucht, ist zunächst
eine temporal-lokale, die er wiederholt in einer »viel-
fältigen ›archaischen‹ Welt«159 verortet, in der bäuer-
152
SKANDALON UND »ANTHROPOLOGISCHE REVOLUTION«
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DER VERRAT DER JUGEND
feststellen: aus dem »Grün« der ersten Strophe wird ein »Regnerisch«
oder – in Pasolinis eigener italienischen Übersetzung – ein »Bewölkt«.
Auch der Beginn der zweiten Strophe ist verändert, lautet nun: »Unter
den Ästen des Maulbeerbaums / wirst du von der Sonne verbrannt, / die
der Rauch verdunkelt […]« (Pasolini, La nuova gioventù, a.a.O., S. 21)
Der Monat, der im letzten Vers stirbt, tut es nicht »verbleicht«, sondern
»aufgehellt«. Schließlich erfährt das Gedicht in der 1972 veröffentlich-
ten »zweiten Gestalt«, die der Dichter seinen Gedichten aus La nuova gio-
ventù verleiht, eine einschneidende Veränderung, die wohl von den Fol-
gen der anthropologischen Revolution oder Mutation zeugt: »Geist eines
Jungen, es regnet herab vom Himmel / auf die Feuerstellen einer toten
Heimat, / auf deinem Gesicht aus Scheiße und Honig / wird verregnet
ein Monat geboren. // Die weiße und blanke Sonne, / auf Asphalt und
neuen Häusern / betäubt dich und, außerhalb von allem, / liebst du nicht
mehr die Toten. // Geist eines Jungen, es lacht der Himmel / herab auf
eine Heimat, die keinen Rauch mehr kennt, / auf deinem Gesicht aus
Pisse und Galle, / stirbt ein Monat, der nie geboren wurde.« (ebd., S. 185)
Auch der Titel des Gedichts ändert sich: »Pioggia sui confini« (Original-
ausgabe 1942), also »Regen an den Grenzen«, »Ploja tai cunfìns« (1954),
»Pioggia fuori di tutto« (1974), also »Regen außerhalb von allem«. Der Phi-
lologe Gianfranco Contini, der erste Rezensent von Pasolinis erstem Ge-
dichtband, der in seiner Kritik von einem »Skandalon« redet (Gianfranco
Contini, »Al limite della poesia dialettale«, in: Il primo libro di Pasolini,
a.a.O., S. 71), nennt den Dialekt, den man in Casarsa spricht, »diesseits
des Wassers« oder des Flusses Tagliamento, eine »Ausnahme in der Aus-
nahme« (Gianfranco Contini, »Testimonianza per Pier Paolo Pasolini«,
zitiert in: Il primo libro di Pasolini, a.a.O., S. 35). Für Pasolini ist das Ca-
sarese – das Friaulische oder das furlanùt, das in Casarsa della Delizia ge-
sprochen wird – eine »uralte Sprache« und dennoch »ganz und gar jung-
fräulich«, von einem »dichterischen Bewußtsein unverdorben«, wie er
1946 in einem Artikel des Stroligut sagt (Pier Paolo Pasolini, »Volontà
poetica ed evoluzione della lingua«, zitiert in: Il primo libro di Pasolini,
a.a.O., S. 59f.).
163 Pier Paolo Pasolini, »Enge der Geschichte und Weite der bäuerli-
chen Welt«, in: ders. Freibeuterschriften, a.a.O., S. 56.
154
SKANDALON UND »ANTHROPOLOGISCHE REVOLUTION«
164 Pier Paolo Pasolini, »Sandro Penna: ›Un po’ di febbre‹«, in: ders.,
Freibeuterschriften, a.a.O., S. 121.
165 Pasolini, »Von den Glühwürmchen«, a.a.O., S. 106.
166 Pasolini, »Sandro Penna: ›Un po’ di febbre‹«, a.a.O., S. 121. In sei-
nem Essay über Pasolinis Glühwürmchen zitiert Georges Didi-Huberman
aus einem Brief, den der junge Dichter 1941 an einen Freund schickt.
Darin erzählt er von einem nächtlichen Ausflug in die hügelige Umge-
bung Bolognas, wo er auf einer Anhöhe unbarmherzige Scheinwerfer in
großer Ferne sieht. Als später die Sonne aufgeht, zieht sich Pasolini aus
und tanzt, ganz weiß, zu Ehren des Lichts. Didi-Huberman sieht darin
ein Glühwürmchen-Werden: »Das ganze literarische, filmische und sogar
politische Werk Pasolinis wird von solchen Ausnahmeaugenblicken
geprägt: vor unserem entzückten Blick werden die Menschen zu Glüh-
würmchen, zu leuchtenden, tanzenden, umherirrenden, ungreifbaren
und als solche widerständigen Wesen.« (Georges Didi-Huberman, Survi-
vance des lucioles, Paris 2009, S. 19)
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173 Pasolini, »Enge der Geschichte und Weite der bäuerlichen Welt«,
a.a.O., S. 55.
158
SKANDALON UND »ANTHROPOLOGISCHE REVOLUTION«
174 Pier Paolo Pasolini, »Die ›Sprache‹ der Haare«, in: ders., Freibeuter-
schriften, a.a.O., S. 25.
175 Pasolini, »Sandro Penna: ›Un po’ di febbre‹«, a.a.O., S. 125. (Überset-
zung verändert, AGD)
159
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176 Pier Paolo Pasolini, »Nachtrag zur ›Skizze‹ über die anthropologi-
sche Revolution in Italien«, in: ders., Freibeuterschriften, a.a.O., S. 59.
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SKANDALON UND »ANTHROPOLOGISCHE REVOLUTION«
177 Pasolini, »Sandro Penna: ›Un po’ di febbre‹«, a.a.O., S. 121. (Überset-
zung verändert, AGD)
178 Ist eine Figur dieses Helden nicht die christologische des Fremden,
der in Pasolinis Roman und Film Teorema eine Familie zerrüttet und er-
löst, die Familie der anthropologischen Revolution oder Mutation? Über
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SKANDALON UND »ANTHROPOLOGISCHE REVOLUTION«
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schlecht. Das ist nur die Liebe, komm.« (Sandro Penna, Un po’ di febbre,
in: Poesie, prose e diari, hg. von R. Deidier, Mailand 2017, S. 671) Über die
Jungen in der »trockenen Vorstadt« schreibt Philippe Lacoue-Labarthe
in den Fragmenten Pasolini, une improvisation (D’une sainteté): »Die Ge-
sichter sind primitiv, ihr Lächeln ist das der bösen Gewalt und der Obszö-
nität – der reinen Güte. Der Dreck. Die Blicke sind auch ausweichend und
heimtückisch, kühn. Vergeblicher Mut, aber doch Mut, flüchtig, ruck-
artig: eine Offenheit.« (Philippe Lacoue-Labarthe, Pasolini, une improvi-
sation (D’une sainteté), Bordeaux 1995, S. 11)
164
HAT DER MAI 68 STATTGEFUNDEN ODER »MIT DEM WELTGEIST SEIN«
183 »Vielleicht übertreibe ich; denn schließlich habe ich nur, indem
ich ihn streifend berührt habe, den Untergang der letzten guten Laune
des vergangenen Jahrhunderts erlebt.«
165
DER VERRAT DER JUGEND
166
HAT DER MAI 68 STATTGEFUNDEN ODER »MIT DEM WELTGEIST SEIN«
184 Das ist etwa die von Joseph Ratzinger im April 2019 vertretene
These: »Der lang vorbereitete und im Gang befindliche Auflösungsprozeß
der christlichen Auffassung von Moral hat […] in den sechziger Jahren
eine Radikalität erlebt, wie es sie vorher nicht gegeben hatte.« (Benedikt
XVI zur Krise der katholischen Kirche, Text im Wortlaut: https://www.
domradio.de/themen/benedikt-xvi/2019-04-11/benedikt-xvi-zur-krise-
der-katholischen-kirche) Symptom der Radikalisierung soll etwa die »Bil-
dung homosexueller Clubs« (ebd.) in Priesterseminaren gewesen sein. »In
einem Seminar in Süddeutschland«, schreibt Ratzinger, »lebten Priester-
amtskandidaten und Kandidaten für das Laienamt des Pastoralreferen-
ten zusammen. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten waren Seminaristen,
verheiratete Pastoralreferenten zum Teil mit Frau und Kind und verein-
zelt Pastoralreferenten mit ihren Freundinnen zusammen.« (ebd.) So wie
dadurch die Vorbereitung auf den Priesterberuf nicht unterstützt wer-
den konnte, soll das durch den Mai 68 geprägte gesellschaftliche Klima
zur normativen Verunsicherung und zur Verbreitung von Pädophilie
beigetragen haben, auch im Priesteramt. Mai 68 hat die »Abwesenheit
Gottes« gleichsam besiegelt: »Zu der Physiognomie der 68er Revolution
gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diag-
nostiziert wurde. Wenigstens für die jungen Menschen in der Kirche, aber
nicht nur für sie, war dies in vieler Hinsicht eine sehr schwierige Zeit. Ich
habe mich immer gefragt, wie junge Menschen in dieser Situation auf
das Priestertum zugehen und es mit all seinen Konsequenzen annehmen
konnten. Der weitgehende Zusammenbruch des Priesternachwuchses in
jenen Jahren und die übergrosse Zahl von Laisierungen waren eine Kon-
sequenz all dieser Vorgänge.« (ebd.)
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DER VERRAT DER JUGEND
185 Gilles Deleuze und Félix Guattari, »Mai 68 n’a pas eu lieu«, in: Gilles
Deleuze, Deux régimes de fous. Textes et entretiens 1975–1995, Paris 2003,
S. 216.
168
HAT DER MAI 68 STATTGEFUNDEN ODER »MIT DEM WELTGEIST SEIN«
186 Könnte man aber nicht auch wohlwollend sagen, dass man sich,
unabhängig von der Richtigkeit des Befunds eines Renegatentums, rück-
wirkend fragen muss, ob und wie das Ereignis stattgefunden hat, ob man
also sicher ist, dass es das war, was man erlebt, was sich ereignet hat? Auf
diese Frage muss die Antwort stets »nein« lauten. Warum? Weil sich ohne
eine vorgängige und der Rechtfertigung sich immer wieder entwindende
Parteinahme, dem Mal oder der Wunde des Ereignisses, gar nichts er-
schließen lässt, man in der Normalität – und das heißt: in der Äußerlich-
keit der Historie befangen bleibt. Gewiss, das Nachfragen ist damit nicht
abgetan. Seine Bedeutung liegt wohl in der Vertiefung der vorgängigen,
dem Ereignis bereits immanenten Parteinahme, weniger in dem Zweifel.
Und natürlich muss man sich fragen, was eine Krise auslösen mag, die
von einer anderen, vielleicht entgegengesetzten und ebenso vorgängigen
Parteinahme beendet wird. (Unwahrscheinlich, dass Heideggers Rede
von einer »großen Dummheit« auf eine solche Krise hindeutet!) Es ist
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DER VERRAT DER JUGEND
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HAT DER MAI 68 STATTGEFUNDEN ODER »MIT DEM WELTGEIST SEIN«
187 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Qu’est-ce que la philosophie?, Paris
1991, S. 167.
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188 Der Journalismus kennt das Ganze, die Totalität, nur als Totalita-
rismus, wie man an einem großen Artikel des Spiegel ablesen kann, der
im Frühjahr 2019 erschien. So ist die Welt doch noch in Ordnung. »Wie
die 68er wollen die Protestierenden den radikalen Wandel – und das Netz
macht sie wirkmächtiger als ihre Vorgänger«, heißt es am Anfang. Und
am Ende: »Aber dass die Revolte, wie schon 1968, tatsächlich einen Zug
ins Totalitäre bekommt, dafür sieht der Soziologe Nassehi keine Gefahr:
Auch die 68er seien am Ende sozialdemokratisiert worden. ›Die Bewegung
wurde verbeamtet, dasselbe wird auch dieser Bewegung widerfahren.‹ Sie
zwingt die Gesellschaft nur dazu, die politischen Rahmenbedingungen zu
verändern. ›Die Gesellschaft braucht manchmal solche Anstöße.‹« (Laura
Backes et alt., »Kinder der Apokalypse«, Der Spiegel 23/2019.)
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HAT DER MAI 68 STATTGEFUNDEN ODER »MIT DEM WELTGEIST SEIN«
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HAT DER MAI 68 STATTGEFUNDEN ODER »MIT DEM WELTGEIST SEIN«
192 Ebd., S. 761. Wenn Theorie mehr sein soll als Nachkonstruktion,
wenn sie das Ganze und seine Veränderung angeht, dann deshalb, weil es
ohne einen Einsatz – und das heißt: ohne ein Nicht-Sehen und ein Nicht-
Voraussehen, eine Blindheit, gar keine Theorie geben kann. Die Theorie
geht das Ganze und seine Veränderung an, weil sie angegangen wird. In
seinen Vorlesungen über Theorie und Praxis, Mitte der siebziger Jahre ge-
halten, deutet Jacques Derrida den Einsatz als eine Instanz der Praxis, als
Befehl, der an die Theorie ergeht, bevor sie sich überhaupt als Theorie
konstituieren kann: das geht mich – die Theorie – an, der blinde Fleck
der Praxis. Derrida setzt diesen vortheoretischen Befehl mit der Auffor-
derung »faut le faire« (muss man – erst einmal – machen, muss man – erst
einmal – ran) in einen Zusammenhang. (Vgl. Jacques Derrida, Théorie et
pratique, hg. von Alexander García Düttmann, Paris 2017, S. 37.)
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HAT DER MAI 68 STATTGEFUNDEN ODER »MIT DEM WELTGEIST SEIN«
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hier spricht, auf den sich sein Beispiel von der Fran-
zösischen Revolution bezieht, ist stets auf das Ganze
bezogen, ist, um es mit einer beinahe pleonastischen
Wendung auszudrücken, der Geist des Ganzen, und
zwar so, dass er nichts als die Veränderung des Ganzen
anzeigt. Darum eilt er wie das sich entindividuierende
und verjüngende Individuum, das mit ihm ist, das kol-
lektive Individuum, der Zeit voraus. Dass das Ganze
Geist ist, das Ganze der Welt, schon deshalb, weil es
ohne Geist gar kein Ganzes geben könnte, das Ganze
nie eine Tatsache sein kann, sondern einzig eine Idee,
heißt, dass das Ganze sich verändert. »Mit dem Welt-
geist sein« meint: »Mit dem Ganzen als einem wesent-
lich geistigen und veränderbaren sein«. Wenn jedoch
das Ganze ein geistiges und veränderbares ist, dann
kann es keine Erfahrung des Weltgeistes »als eines Gan-
zen« geben, die nicht ebenfalls eine Erfahrung wäre,
die sich »mit dem Weltgeist« von Ganzem zu Ganzem
verändert. Würde man eine solche Veränderung leug-
nen, wäre das Ganze nur Substanz, ein Dinghaftes,
von dem man nicht sagen könnte, es sei ein Ganzes,
hätte es keinen Bezug zu einem Teil seiner selbst, zu
einem Einzelnen, zu einem Individuum oder Subjekt.
Um Ganzes zu sein, ein Geistiges und nicht ein Ding-
haftes, muss sich das Ganze öffnen und dadurch in
sich verändern. Verändert sich allerdings das Ganze,
ist die Veränderung jedes Mal eine ums Ganze, von der
Verfinsterung, der Vergeblichkeit, dem Unglück, der
Negativität zum Glück und zum Trost, zur Steigerung
und zur Übersteigung, zum Unbeengten und zur Frei-
heit. Denn Veränderungen, bei denen nicht das Ganze
von der Enge und der Einengung? Ist der Untergang eine Aufhebung, die
in der Befreiung fortwirkt?
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auf dem Spiel steht, die nicht solche sind, wie sie Witt-
genstein im Auge hat, wenn er im Tractatus behaup-
tet, die Welt könne gleichsam abnehmen oder zuneh-
men, in ihren Grenzziehungen sich verändern, und
darum sei die Welt der Glücklichen eine andere als
die der Unglücklichen, sind Veränderungen, die in ein
Ganzes fallen, von einem Ganzen aufgenommen oder
abgestoßen werden, durch das Ganze eingeschränkte
Veränderungen.
Einerseits soll also das Ganze, folgt man Adorno,
etwas sein, das man »als Ganzes« erfahren kann, als
»Negativität«. Dass man es jedoch »als Ganzes« und
als »Negativität« erfahren kann, als Unveränderba-
res, deutet gerade darauf hin, dass es kein »Ganzes«
ist, dass es von einer Dinghaftigkeit durchzogen wird,
einer Verdinglichung anheimgefallen ist. Der Welt-
geist drückt den »Primat des Ganzen«205 aus, bemerkt
Adorno, hält sich »über den Köpfen« und bewegt sich
zugleich durch die Handlungen lebendiger Subjekte
hindurch, ist dadurch, durch sein »Desinteresse« an
»den Lebendigen«, gespalten, »antagonistisch«, muss
es vielleicht sein, soll er sich überhaupt bewegen, soll
das Ganze ein Ganzes sein, kein Ding, keine undurch-
dringliche Substanz. Bestünde nicht die Gefahr eines
Umschlags des Geistigen in Geistlosigkeit, wenn die
von Adorno anvisierte »Versöhnung des Ganzen«206
einfach ein Ende der Bewegung und der Veränderung
signalisieren würde, die ohne die Gewalt einer Verselb-
ständigung undenkbar bleiben? Die Spaltung des Welt-
geists hat eine Verdinglichung des Geistes zur Folge,
gleichzeitig jedoch trägt sie zur Geistigkeit des Geis-
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209 Anne Wiazemsky, Paris, Mai 68, Berlin 2018, S. 57. »Bambam«, das
ist Deleuzes Freund Jean-Pierre Bamberger.
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210 Carlos Lozano (mit Clifford Thurlow), Sex, Surrealism, Dalí and Me,
Penryn 2000, S. 21f.
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211 Jean-Paul Sartre, »Der neue Gedanke des Mai 68. Interview mit Le
nouvel observateur vom Juni 1968«, in: Mai 68 und die Folgen, Band 1,
Reinbek bei Hamburg 1982, S. 212.
212 Maurice Blanchot, »La communauté des amants«, in: La commu-
nauté inavouable, Paris 1983, S. 52. Jean-Luc Nancy warnt davor, den Mai
68 mit einem reformistischen oder gar revolutionären Militantismus in
Verbindung zu bringen, da zu keinem Zeitpunkt ein »eigentlich revolu-
tionäres Losungswort« (Carole Dely und Jean-Luc Nancy, »68, sans fin.
Échanges avec Jean-Luc Nancy«, in: Sens publique, online-Zeitschrift,
2009, Nr. 1, S. 3) ausgegeben wurde, eines, das »die Machtergreifung« an-
visiert hätte.
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