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STANDARDVARIETÄT

Kennzeichen von Standardvarietäten

In den vorigen Lektionen wurde bereits der Terminus Standardvarietät


(umgangssprachlich auch Hochdeutsch) verwendet. Doch was versteht man eigentlich darunter?
Nach Ammon (1995: 73 ff.) hat eine Standardvarietät folgende Eigenschaften: Sie ist die
sprachliche Norm in öffentlichen und formellen Kommunikationssituationen und wird als
solche in der Regel von allen Sprechern anerkannt. In überregionalen Nachrichtensendungen, bei
öffentlichen Ansprachen, in Vorlesungen an der Universität und ähnlichen
Kommunikationssituationen erwartet man von den Sprechern die Verwendung der
Standardvarietät. Eine im Dialekt vorgetragene Rede des Bundespräsidenten wurde bei den
Hörern wohl als unangemessen empfunden werden und möglicherweise sogar Gelächter
hervorrufen.

Ein weiteres Kennzeichen von Standardvarietäten ist ihre überregionale Verbreitung.


Sie sind im gesamten Territorium eines Staates gültig und verständlich. Dadurch unterscheiden
sie sich von Dialekten, die nur in einem bestimmten geographischen Raum verbreitet sind.

Sie sind darüber hinaus amtlich institutionalisiert, so dass ihr Gebrauch in Behörden
und Ämtern sowie in Schulen und Universitäten verpflichtend ist. Die Mitarbeiter von Behörden
sollen bei der Kommunikation mit den Bürgern die Standardvarietät der Amtssprache
verwenden, Nonstandardvarietäten sind für diese Art der Kommunikation in der Regel nicht
zulässig.
Standardvarietäten werden präskriptiv (normgerecht) kodifiziert, d. h. im Sprachkodex
dargestellt. Der Kodex einer Sprache umfasst sämtliche Nachschlagewerke, die den Wortschatz
und die Grammatikregeln der betreffenden Sprache verzeichnen. Deskriptive Kodexteile
beschreiben eine Sprache oder eine Varietät lediglich, präskriptive zeigen, welche Sprachformen
zum „richtigen“ Sprachgebrauch gehören und welche nicht. Beispiele für normbezogene
Kodexteile sind Rechtschreib-Wörterbücher, in denen die Verfasser von Texten bei
Unsicherheiten bezüglich der richtigen Schreibung eines Wortes verbindliche Informationen
finden. Nonstandardvarietäten werden dagegen nur deskriptiv kodifiziert (z. B. in
Dialektworterbüchern). Es gibt zwar Normen für korrekten Dialektgebrauch, allerdings sind
diese nicht verbindlich.
Schließlich ist die Standardvarietät Unterrichtsgegenstand und -sprache in der Schule. So
nennen beispielsweise die Richtlinien und Lehrpläne für Grundschulen in Nordrhein-Westfalen
das an der gesprochenen Standardsprache orientierte Sprechen als Kompetenzerwartung am
Ende der 4. Klasse (vgl. Richtlinien 2008: 28). Was ihre Verwendung als Unterrichtssprache
betrifft, so zeigt die Realität, dass dies nicht immer der Fall ist. Vor allem in Dialektgebieten
sprechen Lehrkräfte zuweilen Mundart mit Schülern.

Pflege und Förderung des Deutschen

Wer legt eigentlich fest, was als standardsprachlich zu gelten hat und was nicht? Für
manche Sprachen (z. B. Französisch, Spanisch) wird die Standardvarietät durch dafür
autorisierte staatliche Instanzen (z. B. Académie Française, Real Academia Española)
festgelegt. Für das Deutsche gibt es keine vergleichbare Akademie, die mit der Pflege und
Förderung der Sprache betraut ist. Stattdessen übernehmen verschiedene gesellschaftliche
Gruppen diese Aufgabe. Ammon (1995: 73 ff.) erklärt dies mit dem sozialen Kräftefeld einer
Standardvarietät.

Abb. 3: Soziales Kräftefeld einer Standardvarietät (nach Ammon 1995: 80)

Die Abbildung zeigt, dass nicht etwa nur eine einzelne Person oder gesellschaftliche
Gruppe darüber entscheidet, was in einer Sprache als standardsprachlich gilt. Vielmehr sind
dabei fünf Gruppen involviert, die sich aneinander orientieren und gegenseitig in ihrer
Entscheidungsfindung beeinflussen. Zur Gruppe der Modellsprecher und -schreiber gehören
sowohl renommierte Schriftsteller und Journalisten, die beruflich Texte verfassen, als auch
Personen mit Sprechausbildung wie etwa Schauspieler oder Nachrichtensprecher. Da sie als
kompetente Sprachproduzenten gelten, orientieren sich die anderen Gruppen an ihren
mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, die als vorbildlich gelten. Sprachexperten sind
Linguisten, die sich wissenschaftlich mit Sprache beschäftigen und dabei nicht selten die Texte
der Modellsprecher und -schreiber als Grundlage für die Untersuchung von Lautung, Lexik,
Morphologie, Syntax und Pragmatik verwenden. Ihre Erkenntnisse dienen oft als Empfehlungen
für die Arbeit der Kodifizierer. Dazu gehören alle Lexikografen und Verfasser von
Grammatikbüchern, die in ihren Kodexteilen die „richtigen“ Formen einer Standardvarietät
dokumentieren und zum Teil durch Zitate aus Texten von Modellschreibern belegen.
Schließlich gibt es noch die Normautoritäten (v. a. Lehrer), die sich wiederum an den
Kodexteilen einer Standardvarietät orientieren, wenn sie die sprachliche Richtigkeit von
Schülertexten oder -äußerungen beurteilen sollen. Alle vier Gruppen nehmen natürlich auch die
Sprachverwendung der Bevölkerungsmehrheit zur Kenntnis. Dadurch gelangen Neologismen
in den standardsprachlichen Wortschatz (Umweltzone), und veraltete Wörter (Muhme, Gevatter)
werden daraus getilgt. Zudem werden gelegentlich grammatische Konstruktionen, die
ursprünglich als fehlerhaft galten, akzeptiert, wenn sie sich im Sprachgebrauch der
Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt haben. Daher ist nicht auszuschließen, dass sich in Zukunft
beispielsweise weil-Sätze mit Verbzweitstellung aufgrund ihrer zunehmenden Verwendung als
standardsprachlich korrekt durchsetzen.

Im Idealfall sind sich alle Gruppen des sozialen Kräftefeldes bei der Beurteilung einer
Sprachform einig. Ist der Normstatus strittig, können die Kodifizierer die betreffende Form in
ihren Wörterbüchern gesondert markieren (mit einem Hinweis versehen), um ihre Leser auf die
eingeschränkte Standardsprachlichkeit aufmerksam zu machen. Die Duden-Bände halten dafür
Markierungen wie „ugs.“ (,umgangssprachlich'), „derb“ oder „vulg.“ (,vulgärʻ) bereit.

Standardvarietäten des Deutschen

Hinsichtlich der deutschen Sprache gehen viele Sprecher fälschlicherweise davon aus,
dass es eine einzige Standardvarietät gebe, die aus einem einheitlichen Wortschatz und einer
dazugehörigen Menge an grammatischen Regeln bestehe und im gesamten deutschsprachigen
Raum und für alle Sprecher gleichermaßen gelte. In der Regel assoziiert man mit dieser
Standardvarietät das in Deutschland gebräuchliche Schriftdeutsch. Alles, was davon abweicht,
wird häufig dem Nonstandard zugerechnet. Diese irrige Annahme hält sich hartnäckig und führt
häufig zu der Meinung, das österreichische oder das schweizerische Schriftdeutsch sei nicht voll
und ganz richtig und daher nicht einwandfrei standardsprachlich. Forschungen im Bereich der
Variationslinguistik (z. B. Clyne 1992, Ammon 1995, Ebner [1969] 2009, Meyer [1989] 2006)
haben jedoch zeigen können, dass es in der deutschen Sprache nicht nur eine einzige, sondern
drei Standardvarietäten gibt, die linguistisch gleichwertig sind: die deutsche, die österreichische
und die schweizerische Standardvarietät. Letztere wird allerdings von den Schweizern selbst als
Schweizerhochdeutsch bezeichnet, was sich auch in der Linguistik durchgesetzt hat. Zählt man
noch die Standardvarietäten des Deutschen in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und
Südtirol hinzu, kommt man sogar auf sieben. Bei anderen Sprachen, wie etwa dem Englischen
oder Spanischen, wurde immer schon akzeptiert, dass es unterschiedliche Standardvarietäten
gibt, wie zum Beispiel britisches, amerikanisches oder australisches Englisch bzw. iberisches
oder mexikanisches Spanisch. Bezüglich der deutschen Sprache sind sich viele (vor allem
deutsche) Sprecher der Existenz mehrerer Standardvarietäten gar nicht bewusst. Anderen fällt es
schwer, die Gleichwertigkeit der nationalen Varietäten anzuerkennen, denn damit mussten sie
akzeptieren, dass die eigene (in diesem Falle die deutsche) Standardvarietät weder für alle
Deutschsprachigen maßgeblich noch von größerer Bedeutung ist als die Standardvarietäten der
Nachbarstaaten.

Die Existenz von drei Standardvarietäten des Deutschen führt in den drei Staaten zu
teilweise unterschiedlichen sprachlichen Normen, die sowohl die Lexik als auch alle anderen
sprachlichen Ebenen betreffen. Was für Deutsche eine korrekte, standardsprachliche
Formulierung ist, muss für Österreicher nicht-automatisch ebenfalls richtig sein. Was in
Österreich eine normgerechte Pluralform ist, kann in der Schweiz unzulässig sein, und eine
schweizerhochdeutsche Aussprache entspricht möglicherweise nicht der bundesdeutschen. Diese
Variationen führen im Allgemeinen nicht zu Verständigungsschwierigkeiten, da die
Standardvarietäten einen hohen Grad an sprachlicher Ähnlichkeit aufweisen.

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