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VI. Vorlesung
In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind verschiedene – von herausragenden
Architektenpersönlichkeiten bzw. Künstlergruppen geprägte – Architektur-Tendenzen nachzuweisen,
denen – bei allen Unterschiedlichkeiten – die klare Abgrenzung von der dekorativen Ausrichtung des
Jugendstils gemeinsam ist.
I. School of Chicago
In Chicago, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Umschlagplatz
verschiedener Industriegüter avancierte und 1871 durch einen Stadtbrand weitgehend zerstört
wurde, entwickelte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts der Wolkenkratzer als neuer
Bautypus.
Voraussetzungen für die Entwicklung des Wolkenkratzers waren hier die stark angewachsenen
Grundstückspreise, die rasant wachsende Stadtbevölkerung, die Erfindung des Aufzugs durch
Elisha Graves Otis 1853 und die neue Technik des Stahlskeletts als Tragkonstruktion, die von den
Glas-Stahl-Bauten bekannt war.
Um 1750 hatte die Verbilligung des Roheisens begonnen. Ende ds 18. Jhds. war die
Dampfmaschine soweit entwickelt, dass immer größere Mengen von Eisen hergestellt werden
konnten. 1775: Errichtung der Coalbrookdale-Brücke in England. Die Eisenbauweise unterschied
sich stark von den Stein- und Holzkonstruktionen, sie zeugte von Leichtigkeit, Transparenz,
Spannung aber auch Zerbrechlichkeit.
- Chicago, Luftansicht des Geschäftsbezirks, um 1898 [Bild 01]
- London, Kristallpalast, Joseph Paxton, 1851 [Bild 02]
Für die Weltausstellung; extrem breit gelagerte, 5-schiffige Halle; 600m/120m – 34m hoch;
rieseiger Raum, nur durch Haut aus Glas und Eisen von der Umgebung getrennt; Erster Bau der
ausschließlich aus vorgefertigten und genormten Teilen zusammengesetzt war [Durand 2.VO] –
konnte abgebaut, transportiert und wieder aufgebaut werden – Pionierwerk rationalisierten
Bauens. Gilt als Produkt des industriellen und kommerziellen Aufschwungs, der mit der
Industriellen Revolution in England einsetzte.
Durch die Entwicklung des Stahlbaus wurden die ungeheuren technischen Möglichkeiten des
dessen demonstriert. Zu dieser Zeit waren Weltausstellungen sehr populär und fanden regelmäßig
statt. In Paris wurde 1889 der Eiffelturm von Gustave Eiffel errichtet, 300m hoch – damals
unvorstellbar und 40 Jahre das höchste Gebäude der Welt (davor Münster Ulm, 162m). Ebenfalls
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gebaut wurde die Galerie de Machines (422m/117m Spannweite) – im Gegensatz zum statisch
wirkenden Kristallpalast (senkrechte Stützen mit Querträgern) wirkt die Galerie mit ihren
Dreigelenkbogen als kontinuierlicher Fluss zwischen Stütze und Last als riesiges Zelt.
Diese Bauwerke wollte man damals jedoch nicht als Architektur ansehen – Fabriken, Warenhäuser,
Ausstellungshallen, Bahnhofshallen: zeittypische Bauaufgaben – galten als Zweckbauten die mit
Baukunst nichts zu tun hatten – Eisen und Stahl waren unechte Materialien die mit Baukunst nichts
zu tun hatten und man nicht offen zeigen sollte-> Architektur reduziert auf Fassadenarchitektur ->
typische großen Bahnhofshallen dieser Zeit als technische Meisterwerke (London, St. Pancras
Station, 1861 – eine weit spannende Stahlhalle wurde außen gotisches Schloß verwandelt) die
hinter einer historistischen Fassade versteckt wurden. Falls das Material doch gezeigt wurde,
schmückte man oft z.b. die Stützen mit klassischen Kapitellen.
1879 stellte William Le Baron Jenney mit dem First Leiter Building eine praktikable Lösung für
den Wolkenkratzer vor (Stahlskelettbau mit Holzbalkendecken und Mauerwerksverkleidung auch
zum Feuerschutz des schmelzbaren Stahls).
- Chicago, First Leiter Building, William Le Baron Jenney, 1879 [Bild 03]
Nur Verkleidung der Stützen (Gusseisen) und Querträger (Geschoßdecken) verkleidet – die so
entstandenen Raster mit riesigen Fensterflächen gefüllt.
- Chicago, Fair Store, William Le Baron Jenney, 1890–1891 [Bild 04]
Stahlskelett mit Holzdecken; rechtwinklige Ästhetik (Pfeiler und Stockwerke – waag- und
senkrechte Mauerbinder). Das natursteinverkleidete Äußere fast ganz schmucklos – einzig
angedeutete Kapitelle am Kopf der breiten Mauerstreifen erinnern schwach an Pilaster.
[In Wien war zu dieser Zeit der Historismus auf seinem Höhepunkt].
Neue Ästhetik basierend auf einer rechtwinkligen Konstruktion aus Pfeilern und Ausfachung, die
zunächst noch der traditionellen (historistischen) Baukunst verpflichtet blieb.
- Chicago, Auditorium Building, Louis Sullivan und Dankmar Adler, 1886–1889 [Bild 05]
Hier ist die Ausfachung rustiziert – eher Neoklassizismus.
Später, zuerst in Chicago, ging man dazu über schlichtere und schmucklosere
Fassadenverkleidungen einzusetzen.
Louis Sullivan begründete den „Funktionalismus“, der die Form in Abhängigkeit von der Funktion
stellt. Sein Statement von 1896 „form ever follows function“ wurde zum Leitsatz für die gesamte
avantgardistische Architektur der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sullivan: Die Architektur muss
die Tragstruktur ausdrücken, dann soll sie organisch sein (aber nicht wie der Jugendstil). Die
Funktion soll in den Vordergrund.
- Chicago, Warenhaus Schlesinger & Meyer, Louis Sullivan, 1899–1904 (Raster des Tragwerk-
skeletts wird zur Grundlage der Gestaltung) [Bild 06] Klare horizontale Stockwerksgliederung +
Vertikalgliederung -> das Tragwerk ist nach außen erkennbar; Ausfachung: 3-teilige Fenster;
Betonung der Gebäudeecke durch senkrechte Wandstreifen; Chicagoer Fenster im Hauptgeschoß
zu Verkaufszwecken; abgesehen vom aufgesetzten Dekor in der Sockelzone – schlichte Wirkung des
Gebäudes wie 20er, oder 50er Jahre.
[In Wien war zu dieser Zeit der Jugendstil in Mode gekommen]
- New York, Fuller Building, Daniel H. Burnham & Co., 1902 [Bild 07]
„Flat Iron Building“ – Form und Funktion bilden eine Einheit.
- St. Louis, Wainwright Building, Louis Sullivan und Dankmar Adler, 1890–1891 [Bild 08]
Jeweils zwischen zwei Fenstern ein hervorgehobener senkrechter Wandstreifen.
Mit immer sparsamerer Dekoration und großflächigerer Verglasung gab Sullivan den Gebäuden ein
neues Erscheinungsbild. Er gliederte die Gebäude in Basis, Schaft und Kapitell – Die Basis für
Ladenzeilen, im Schaft Geschäfts- oder Wohnetagen, das Kapitell, dass besonders hervorgehoben
wurde, enthielt die Gebäudetechnik.
Gleichmäßig und blockhaft wuchs das neue Chicago in die Höhe – eine Multiplikation nach oben.
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Frank Lloyd Wright, der wohl bedeutendste amerikanische Architekt der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, basiert auf Sullivans funktionalem Architekturverständnis (arbeitet in Sullivans Büro
1888-1893). Den Bautypus des Wolkenkratzers lehnt er aber ab (da er nach ihm eine „reine und
einfache Maschine“ darstellt (die Maschine spielt später um 1900 im Diskurs über Kunst und
Kultur eine bedeutende Rolle)). Sullivan verlässt die Großstadt („Wurzel allen Übels“) und geht
nach Oak Park. Wright entwickelte einen neuen, für die moderne Architektur maßgeblichen
Bautypus (stellt die Weichen für die moderne Architektur), das sog. „Prairie House“ (Wohnhaus im
Grünen), für das er zwischen 1893 und 1910 mehr als 100 Aufträge erhielt.
- Highland Park bei Chicago (Illinois), Haus Willitts, Frank Lloyd Wright, 1902 [Bild 09]
- Buffalo (New York), Haus Darwin D. Martin, Frank Lloyd Wright, 1905 [Bild 10]
Diese Prairie Häuser sehen aus wie Landhäuser.
Wright (ein großer Theoretiker) legte ein 6-Punkte-Programm für das „Prairie-House“ vor
- Harmonisierung der Bauformen mit der Natur – soll mühelos aus Formen und mit der Umgebung
harmonieren;
- Aufnahme des Horizontalismus der Landschaft – flachgeneigte, weit auskragende Dächer;
niedrige Proportionen
- Farbigkeit entsprechend der Natur (Vgl. Jugendstil: buntartig; Moderne: weiß);
- Erscheinung des Materials gemäß seiner spezifischen Struktur (das Material soll auch in den
Vordergrund treten);
- Kamin im Zentrum;
- Gruppierung der Wohnräume um das Kaminmassiv – Als Zeichen einer Häuslichkeit,
Zeremonieller Mittelpunkt (Feuer und Leben) – zentrales Thema der Architektur.
- River Forest (Illinois), Haus Isabel Roberts, Frank Lloyd Wright, 1908 [Bild 11,12]
- Chicago (Illinois), Robie House, Frank Lloyd Wright, 1908–1910 [Bild 13]
assymetrische Anlage
Richtungsweisend für die moderne europäische Architektur waren vor allem die Asymmetrie des
Grundrisses (erstmals bei Glasgow School of Art) und die offene Gestaltung der frei ineinander
übergehenden Räume („destruction of the box“ – keine normalen, abgeschlossenen Raumboxen –
Hinterfragung dieses Systems); ebenso die klare geometrische Konturierung der Häuser; hohe
Horizontalität (auch durch die Dachüberstände -> Licht und Schattenspiele); teilweise
Fensterbänder – teilweise dadurch auch die Auflösung der Wand; und die Entwicklung der
architektonischen Form aus dem Innenraum - die Funktionen des Innenraums werden nach außen
getragen -> an der Außenkontur erkennt man die Innenkonturen (im Gegensatz zu Adolf Loos).
Adolf Loos war eine der richtungsweisenden Persönlichkeiten in Österreich um 1910. Nach einem
Aufenthalt in Amerika (u. a. Chicago – wo er die Hochhäuser-Bauten sieht, auch Frank Lloyd
Wrights Werk) zwischen 1893 und 1896 lebte und arbeitete Loos ab 1897 in Wien, wo er mit
teilweise radikalen Architektur-Konzepten den Übergang zur Moderne markierte. Zuerst als
Gestalter von Innenräumen und Verfasser von theoretischen Schriften als Kunstkritiker.
- Wien, Ausstattung für das Café Museum, Adolf Loos, 1898–1899 [Bild 16]
lehnt eine Ornamentierung ab, leichte Holzmöbel
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so etwas plant begeht ein Verbrechen gegen die Menschheit; Schädigt Gesundheit und kulturelle
Entwicklung; der Mensch verliert sein en Bezug zur nationalen Kultur und Nationalvermögen; Die
Schönheit ist in der Form zu suchen und nicht vom Ornament abhängig zu machen (+ ist hier auch
Geld zu sparen, die Handwerker bekommen ohnehin nur Hungerlöhne für aufwendige Produkte;
weiters ändert sich der Geschmack zu schnell, dass sich die Gegenstände somit abnutzen). Loos
wandte sich auch gegen eine Verschwendung der Ressource Raum die immer knapper wurde –
Raumplanung orientiert am Menschen -> führt später zum Rationalismus.
Seine schriftlich fixierten Ziele verfolgte Loos auch als Architekt und löste damit zum Teil heftige
Proteste aus.
- Wien, Michaelerplatz, Haus Goldman & Salatsch, Adolf Loos, 1909–1911 [Bild 17-21]→
provozierend war die schmucklose Fassade an einem exklusiven, gegenüber der Hofburg
gelegenen Geschäftshaus (prominente Lage und in einem historisierenden Stil). Dieses sorgte
damals für einen regelrechten Skandal von Kritikern, der Öffentlichkeit und Bürgern. Optisch
abgesetztes Sockelgeschoß über 2-Zonen mit 4 Vollsäulen (als Dialog mit der gegenüberliegenden
Kirche und Aufnahme des Fensterachsen-Rhytmus), darüber Mezzaningeschoß – seitlich andere
Aufteilung (grüne Marmorverkleidung); Erker haben funktionale Gründe (obwohl Muster
erinnernd an Jugendstil); Profillose Fenster (ohne Rahmenverkleidung); die Hauptprovokation:
die weiße ornamentlose/ schmucklose Loch-Putzfassade der Obergeschoße (bisher nur bei
Fabriken oder Mietskasernen üblich) -> vor allem geht es um den Ort, die prominente Lage und
die umgebenden Gebäude.
Auch mit seinen mit der Bautradition brechenden Villenbauten – einfache, nur durch Fensterform, -
größe und -rhythmus gegliederte, weiße Kuben – wurde Loos zu einem Vorläufer des
„International Style“.
- Wien, Villa Steiner, Adolf Loos, 1910 [Bild 22,23]
- Wien, Villa Scheu, Adolf Loos, 1912–1913 [Bild 24,25]
Schönheit des einfachen Kubus – im Gegenteil zu den historischen Villen; Unterscheidung:
Gartenfassade / Straßenfassade; Blockhaftigkeit; Ornamentlosigkeit (weiße Putzfassade, profillose
Fenster -> später Le Corbusier); viele Höhenunterschiede innerhalb des Körpers die aber von
Außen nicht ablesbar sind -> Raumplan – Außen nach Innen – andersrum im Unterschied zu Frank
Lloyd Wright: Innen nach Außen (beide gemeinsam haben aber die auf den Kubus bezogene
Architektur). Loos
1907 wurde Peter Behrens zum Chefgestalter der AEG Berlin berufen; in dieser Funktion schuf er
wohl das weltweit erste „corporate identity“, Aufgabe: Die Gesamte Gestaltung aller Produkte vom
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Gesamt-Auftritt der Firma, Produkt-Design, Graphik-Design bis hin zu kleinsten Details wie
Papierbögen, zusätzlich auch den Fabrikgebäuden und der Arbeitersiedlung.
- Peter Behrens, Ventilator und Lampe für AEG, um 1907 [Bild 28,29]
- Berlin, AEG-Turbinenhalle, Peter Behrens, 1908–1909 [Bild 30,31]
Im Gegensatz zu üblichen dunklen und massiven Fabriks-Mietskasernen, propagierte Behrens
Lichtdurchflutung; Eckpfeiler: suggerieren eine Festigkeit (Konstruktion jedoch Stahlgitter mit
Betonhaut); Stützenfreie Halle; Monumentale Glaswand auf dem Sockel; abgesetzter Giebel,
darüber Mehrgeschoßbinder; Schattenfuge; Seitenfassade mit Pfeilern – Wände sind geneigt –
Pfeiler verjüngen sich nach unten.Hauptfassade erinnert an einen Tempel (aber keine
historisierende, wesensfremde Verkleidung) – für Behrens bildeten Kunst und Industrie keinen
Widerspruch.
- Alfeld an der Leine, Schuhleistenfabrik Fagus, Walter Gropius und Adolf Meyer, 1911–1913
[Bild 32,33] Adaption dessen, was Behrens in Berlin vorgab, jedoch keine massive Mauer ->
Leichtigkeit, Transparenz – Auflösung der Wand in Fensterflächen; gelbes Backsteingerüst
kontrastiert mit dem Glas – um die stützenlose Ecke(sichtbare Podestplatten) – Widersprach
Vorstellung von Stabilität ->Fragilität, Leichtigkeit – noch unterstützt durch schmale vertikale
Wandfugengliederung; klare 3-geschoßige Gliederung; durch die Fenster klares Rechteckraster;
Reduktion des Baukörpers auf eine stereometrische Form; Kompakte aber zugleich durchsichtige
Körperlichkeit
Auf der großen Werkbundausstellung 1914 in Köln [Bild 34] wurden monumentale Musterbauten
(für Theater, Festsaal, Fabrik usw.) gezeigt, die zu Marksteinen eines modernen Architektur-
verständnisses wurden. Es gab zwei wichtige, einflussreiche Bauten:
- F. H. Ehmcke, Ausstellungsplakat [Bild 35]
- Musterfabrik, Walter Gropius [Bild 36-38]
durchgehende Klinkerfassade – links und rechts Glastürme mit Wendeltreppen; hinten
durchgehende Glaswand (die erste Curtain Wall); Fabrikgebäude: Eleganz, Genauigkeit, Würde –
sehr positive Kritiken bekommen: reduzierte Formensprache, Materialqualitäten hervorgebracht
- Glaspavillon, Bruno Taut [Bild 39-45]
Die übermäßige Glasverwendung in der Architektur beginnt um die 1910er Jahre. Pavillon: große
amorphe Sockelzone; Wand aufgelöst auf Säulen; geodätische Kuppel („ wie ein Kristall
eingesunken“); erstmals doppelte Glaswand (aber nicht aus bauphysikalischen Gründen);
Kaskadenraum.
Taut: „Architektur als Lichtbringer“. Für ihn hatte Glasarchitektur einen hohen Rang: „grazile,
fließende, reine, funkelnde Räume“.
1914: Diskurs: Schafft gute Architekur auch gute Menschen? – Welchen Einfluss hat die
Architektur auf den Menschen?
V. „Gläserne Kette“
Die durch die Kölner Werkbundausstellung vermittelte Vision einer neuen Architektur führte 1919
zu sensationellen avantgardistischen Projekten, wie z. B.:
- Mies van der Rohe, Projekt für ein gläsernes Hochhaus, 1919 [Bild 46]
Diese Vision hatte aber auch die Gründung der sog. „Gläsernen Kette“ zur Folge, ein
Zusammenschluss namhafter Künstler, Architekten und Kunstkritiker (u. a. Bruno und Max Taut,
Walter Gropius, Hans Scharoun, Paul Scherbart), die mittels architektonischer Zeichnungen eine
antiakademische, phantastische, vor allem an der Formenvielfalt der Kristalle orientierte
Architektur aus Glas, Stahl und Beton entwickeln wollten – Revolutionöres, neues Verständnis von
der Naturhaftigkeit der Architektur -> Gefühlsarchitektur; utopische Überlegungen,
Erkentnissarchitektur.
- Wassili Luckhardt, „Kristall auf Kugel“, 1920 [Bild 47]
- Max Taut, „Blütenhaus“, 1921 [Bild 48]
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VO Architektur und Kunstgeschichte 19./20.Jhd. – 2012
VI. Expressionismus
Expressionismus bezeichnet eine noch vor dem Ersten Weltkrieg vor allem in Deutschland
einsetzende künstlerische Bewegung, die an Stelle der äußeren akademischen Form die Darstellung
des seelischen Ausdrucks und der seelisch erlebbaren Wirklichkeit anstrebt. Diese Tendenz
manifestiert sich:
In der Malerei der Künstlergruppen „Der Blaue Reiter“ (gegr. 1905) und „Brücke“ (gegr. 1911).
- Franz Mark, „Die großen blauen Pferde“, 1911 [Bild 49]
Es geht nicht darum realistisch ein Bild zu malen, es geht nicht um das sinnlich Wahrnehmbare
sondern das seelisch Erlebbare. Kunst regt den Menschen an.
- Karl Schmidt Rottluff, „Am Bahnhof“, 1908 [Bild 50]
In der Musik in den großen atonalen Kompositionen von Arnold Schönberg (ab 1908).
Die expressionistische Architektur sollte den Gefühlen der Menschen entsprechen und Ausdruck
ihrer seelischen Regungen sein (weniger Orientierung an Konstruktion, Material, Funktion –
Ablehnung gleichzeitig vieler Ideale des Historismus und des Rationalismus). Die Materie sieht aus
wie Knete, als ob etwas ausgeschüttet oder ausgehüllt wurde. Das Denken, Wollen, Fühlen, der
Blick auf die Welt des Künslers gaben dem Bauwerk seine Form.
- Hans Poelzig, Modell für eine Wegkapelle der Karlsruher Majolika-Fabrik, 1921 [Bild 51]
- Köln, Pfarrkirche in Frielingsdorf, Dominikus Böhm, 1926–1927 [Bild 52]
- Berlin, Großes Schauspielhaus, Hans Poelzig, 1918–1919 [Bild 53-55]
Macht den Eindruck von Salaktiten (Tropfsteine) – Erlebnisarchitektur; Inszenierung wie ein
Freilufttheater aber überdacht.
- Potsdam, Einsteinturm, Erich Mendelsohn, 1920–1924 (entstand in Zusammenhang mit Albert
Einsteins Relativitätstheorie) [Bild 56-60]
Einstein: Materie und Energie sind unterschiedliche Zustände des Stoffes – Thema Architektur:
Materie, Organismus; lebendiger Organismus; frei geformte plastische Masse; Einschnitte;
Zusammenfügen von Energie und Materie; es war Stahlbeton geplant, jedoch wurde dann mit
Ziegeln gebaut und ummantelt. Form e rinnert an U-Boot; Spiegel des Observatoriums lenken das
Sonnenlicht in die unterirdischen Laboratorien; Eingang gleicht einer Höhle; Inbegriff des
Expressionismus.
Die Bewegtheit Mendelsohns Bauten war nicht archaisch und behäbig wie bei Gaudi, enstand nicht
aus aufgetztem Dekor wie im Jugendstil, sondern aus der gewagten, ausdrucksstarken Schichtung
von Gebäudeteilen durch stromlinienartige Fensterbänder, hervortretende runde Treppenhäuser, aus
der Grundstücksform abgeleitete Kurven.
- Hamburg, Chilehaus, Fritz Höger, 1921 [Bild 61-64]
Größtes Bürohaus Europas damals; Expressionistische Massenverteilung des Gebäudes ->
dynamisch nach Süden dringende Spitze; Kurven -> mit jedem Schritt des Beobachters wird die
Architektur (Blick) verändert; Backstein-Ausfachung: es wird gezeigt, dass es eine Ausfachung
ist.Spitzbogen im Erdgeschoß Anspielung an Backsteinarchitektur; Um 3 Innenhöfe gebaut
- Dornach, Erstes und Zweites Goetheanum, Rudolf Steiner, 1913–1914 bzw. 1924–1928 [Bild 65-
69]
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Im Gegensatz zur breiten Masse blickten Viele Intellektuelle den Entwicklungen im 20.
Jahrhundert hoffnungsvoll entgegen – das weite Voranschreiten der technischen, geistigen, und
gesellschaftlichen Veränderungen würden in ein vollkommen neues Zeitalter mit völlig „neuen“
Menschen führen. Enthusiastisch war man vor allem in Italien und Russland, beide eher industriell
zurückgeblieben. In den vielen Manifesten des Futurismus (Sant’Elia, Marchi) wurde über das
industrielle Zeitalter, dieses glorifiziert und die Allgegenwart des antiken Kunsterbes beklagt und
zur Zerstörung der überkommenen Welt gerufen. Sie beschäftigten sich vor allem mit neuen
Bauaufgaben des Zeitalters (Bahnhöfe, Flugplätze usw.) und phantasierten vonaus mehrstöckigen
Verkehrssystemen bestehenden Städten. Das meiste waren aber nur gigantische dynamisch in die
Höhe schießende utopische Pläne – keine Realisierungen.
Mit den Konstruktivisten, beeinflusst von den brisanten futuristischen Utopien, v.a. in Russland,
gemeinsam hatten die Futuristen die Begeisterung für die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten,
die die neuen Bautechniken den Architekten boten. Wichtig waren der Einfluss des Kubismus und
Suprematismus – letzterem ging es um die Überwindung der Flächen zugunsten des räumlichen
Denkens in der Malerei und um die daraus folgende Weiterentwicklung zur Kunst „räumlicher,
konstruktiver Gestaltung“. Für den Einfluss/ Ausdehnung auf die Architektur und somit auf de Stijl
und das Bauhaus, war der Multikünstler El Lissitzky maßgebend. Auf die Baukunst übertragen
bedeutete dies: räumliche, raumgreifende Gestaltung, mit Bauten, schräg oder steil in den Himmel
ragend, aus hart aufeinander gesetzten Bauteilen, reduziert auf Grundformen und –farben, ihre
Gestalt unmittelbar aus der Konstruktion ableitend und diese durch großflächige Verglasungen
offen zeigend. Berühmtes Projekt: Wladimir Tatlin, Denkmal 3. Internationale; und Lissitkys
„Wolkenbügel“ Hochhäuser und seine Graphiken: freie Kombinationen von geometrischen
Körpern und Flächen verschiedener Struktur und Farbe.
Die Utopisten mit ihren radikalen gestalterischen Ideen konnten sich besonders stark mit radikalen
Ideologien wie Faschismus und Kommunismus identifizieren. Prägend für die Zukunft.