– 2012
I. Vorlesung
Geistesgeschichtlich – Neue Situation: Es kommt zur Ablösung des Rokoko. Man beginnt sich viel
mit Geschichte und Archäologie zu beschäftigen, es werden viele (va. griechische Tempel entdeckt –
dieser wird zum Muster bzw. Prototyp des späten 18. und des 19./20. Jahrhunderts – wird vielfach
konnotiert. Vorbild sind vor allem die griechische Lebensweise in Form von Polis, Bürgerrechten als
Sinnbild der Demokratie und Freiheit (va. für Herrschaftsbauten – z.B. Parlament). Jedoch bedienen
sich dessen auch Monarchen.
1. Historischer Hintergrund
▪ Aufklärung
Geistesgeschichtlicher Umbruch, dessen oberstes Prinzip die Vernunft darstellt. Als Grundlagentext
der Aufklärung gilt Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1781). Die Gesellschaft änderte
sich stark, man wollte das Denken, das gesamte Leben aus den traditionellen Bindungen lösen und
strikt an der Vernunft (Ratio – Rationalismus) ausrichten. Für Kant war das Ziel der Aufklärung „der
Ausgang (= die Befreiung) des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“. Die Vernunft sollte
über Richtigkeit und Irrtum jeder Erkenntnis und gesellschaftliche Normen entscheiden. Ausweg vom
Aberglauben und starren traditionellen Denkweisen. Die Aufklärung, die immer mehr Anhänger
bekam, forderte auch politische Veränderungen, zumal sie auch wesentlich vom Bürgertum getragen
wurde, dass durch Geld-, Waren-, und Lehrtätigkeiten rational handelte und dachte und dessen
wirtschaftliche Bedeutung stieg. Auch durch aufgeklärten Absolutismus, welcher Reformen, mehr
Freiheiten und ein geregeltes Justizsystem brachte, konnten die gesellschaftlichen Spannungen des
noch herrschenden Feudalismus nicht abgeschafft werden. Durch Philosophen wie Locke, Rosseau,
Montesquieu kam es zur Etablierung von Idealen wie vom Volksstaat und Gewaltenteilung, Träger
des Staates sollte das Volk sein, welches den Regenten durch Wahlen den Auftrag zum Regieren gibt -
> Demokratie. Oberste Ideale waren die Freiheit, Gleichheit und Unverletzlichkeit der Person und des
Eigentums (Menschenrechte), welche später in der amerikanischen Verfassung (1787) und in der
französischen Revolution (1789) festgeschrieben wurden. Der Glaube an die Vernunft hatte aber auch
eine Säkularisierung (Verweltlichung) des Lebens zufolge (Gott höchstens als Schöpfer, nicht als
Lenker akzeptierbar) -> somit auch Auswirkungen auf die Architektur.
▪ Industrielle Revolution
Der von Friedrich Engel geprägte Begriff der „Industriellen Revolution“ markiert den
technologischen, sozialen und ökonomischen Umbruch, der in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts von
England ausgeht und dann den Kontinent erfasst. Grundlegend hierfür war die Erfindung der
1
VO Architektur und Kunstgeschichte 19./20.Jhd. – 2012
Dampfmaschine durch James Watt (1765), die die Textilindustrie, die Eisenbearbeitung, den Bergbau
und das Verkehrswesen revolutionierte.
▪ Französische Revolution
Markiert den Beginn des politischen Umbruchs in Europa: Kostspielige Hofkultur – Beginnende Kluft
zwischen Arm und Reich in Frankreich, 1789: Aufbegehren des Dritten Standes: aufgeklärtes
Bildungsbürgertum, Handwerker und Bauern – Zusammenkunft – Ballhausschwur – Verfassung des
Dritten Standes: es wird das alte politische System des Absolutismus gestürzt und 1792 durch eine
Republik ersetzt: Abschaffung des Feudalsystems, Erklärung von Menschen- und Bürgerrechten,
demokratische Verfassung. Später diesen Jahres: Strum auf die Bastille.
- Versailles, Schloss, erweitert unter Ludwig XIV. seit 1663 durch Louis Le Vau (Architekt), Charles
Le Brun (Maler und Entwerfer der Dekorationen und Ausstattung) und André Le Nôtre
(Gartenarchitekt); 1710 fertig gestellt von Jules Hardouin-Mansart [Bild 03]
- Hyacinthe Rigaud, Porträt Ludwig XIV., 1694 [Bild 04]
Ähnlich revolutionär wie die kulturelle und politische Geschichte verläuft in dieser Zeit die
Architekturgeschichte. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts vorherrschendes System: Rokoko – ein
Begriff, der sowohl eine Epoche als auch einen Kunststil bezeichnet.
Rokoko als Epochen-Begriff bezeichnet eine europaweite, höfische Lebenskultur, die ab 1715/20
vom französischen Hof Ludwigs XV. ausging. (Opulente Feste, Schäferspiele, Liebesabenteuer;
Ideale dieser Zeit: schöner Schein und Künstlichkeit)
- Antoine Watteau, Sehnsucht nach Kythera, um 1717 [Bild 05]
- Antoine Watteau, Liebesfest, 1716–1719 [Bild 06]
- François Boucher, Madame de Pompadour, 1759 [Bild 07]
Nach dem Westfälischen Frieden 1648 (des 30-jährigen Krieges), und nach 1680, als die
schwersten Kriegsfolgen gegen das jahrhundertelang expandierende Osmanische Reich
überwunden worden waren und die drohende Expansion nach Mitteleuropa abgewandt war, wollten
sich viele der zahllosen Fürsten des Barocks mit großartigen Schloss- und Gartenanlagen
profilieren. Im Rokoko setzte aber im Gegensatz zum Barock auch ein Rückzug ins Private ein.
Das Intime und persönliche erhielt größere Bedeutung, die Aufmerksamkeit richtet sich stärker auf
den Innenraum. Häufig wurden auch Gartenschlösser gebaut und mit romantisch klingenden
Namen versehen.
Rokoko (abgeleitet vom franz. Wort rocaille = Muschel) als Stilbegriff bezeichnet – auf die
Architektur bezogen – einen pompösen Dekorationsstil, dessen Leitmotiv die Rocaille darstellt. (In
den 1730er Jahren aufgekommenes Ornament mit muschelartigen, meist asymmetrischen Formen;
durch sog. ornamentale Vorlagenblätter verbreitet)
- Juste Aurèle Meissonnier, Vorlagenblatt, 1734 [Bild 08]
- Johann Justin Preisler, Vorlagenblatt, Nürnberg [Bild 09]
- Babel, Vorlagenblatt, um 1740 [Bild 10]
Muschel- und Knorpelwerk, Blumen und Ranken umschlängeln die Baukörper in naturalistischer
oder auch stilisierter Form, teils locker und asymmetrisch, teils um- oder überwuchernd. Rocaille
2
VO Architektur und Kunstgeschichte 19./20.Jhd. – 2012
z.T. flächendeckend an Wänden, Fenster-, Tür- und Spiegelrahmen und v.a. am Übergang von
Wand und Wölbung angebracht → Verschleifung des Übergangs von Tragen und Lasten.
- Rom, Tempietto, Donato Bramante, um 1502 [Bild 11]
- Nymphenburg, Spiegelsaal der Amalienburg, François Cuvilliés, 1734–1739 [Bild 12]
- Wieskirche, Dominikus Zimmermann, 1745–1749 [Bild 13,14]
- Vierzehnheiligen, Gnadenaltar, J. J. M. Küchel, J. M. Feuchtmayer und J. G. Übelhör, 1768
fertig gestellt [Bild 15]
Mitte des 18. Jahrhunderts – Ausklang des Rokoko mit eher lineareren, strengeren Formen.
3. Klassizismus
Gegen das Rokoko formierte sich Mitte des 18. Jahrhunderts von akademischer Seite massive
Kritik, vor allem aufgrund der irrationalen Struktur der Gebilde und deren anti-tektonischen – und
damit anti-vitruvianischen – Verhaltensweise. Diese Kritik war der Ausgangspunkt für eine radikale
künstlerische Gegenbewegung; Grundlage war eine Neubewertung der Antike, die unter dem Begriff
„Klassizismus“ zusammengefasst wird → die Antike wurde zum unumstößlichen Vorbild. Ziel war
nicht das bloße Kopieren antiker Bauwerke, vielmehr strebte man danach, durch das Erkennen der
Prinzipien der Antike einen neuen Stil zu finden, der die Forderungen nach Rationalität, Modernität
und Funktionalität erfüllen sollte. Da die Aufklärung die geistigen Ansätze der Renaissance und dem
Humanismus fortführte, war der abermalige Rückgriff auf die Baukunst des Altertums passend.
Die Architektur sollte die Ideen der Aufklärung zum Ausdruck bringen und die Menschen zur
Vernunft beeinflussen, sie sollte zweck- und materialgerecht, damit „wahr“ sein.
In England z.B. (Bürgerkrieg 1640er Jahre – Abschaffung der Monarchie – 1653 schon Einführung
einer schriftlichen Verfassung – 1689 konstitutionelle Monarchie) gab es schon zu Zeiten des
Barock/Rokoko eine Tendenz zur größeren Strenge (Z.B. St. Pauls Cathedral, London, Christopher
Wren – nach Stadtbrand 1666: Es gibt keine Schwünge mehr; die einzelnen Bauteile sind klar
voneinander getrennt; strengere geradere Linien; Verwendung eines Portikus am Eingang,
Schematismus; sachlich – oft einfache Fortführung des Palladianismus seit der Renaissance).
1750 beauftragte die Londoner Society of Dilettanti die Architekten James Stuart und Nicholas
Revett mit einer Bestandaufnahme der antiken Bauten in Athen und Attika. 1755 reiste der
Franzose Le Roy nach Griechenland. Ab 1758 erschienen reich bebilderte Foliowerke, in denen die
Ergebnisse dieser archäologischen Forschungsreisen publiziert wurden.
3
VO Architektur und Kunstgeschichte 19./20.Jhd. – 2012
- Ansicht des Parthenon nach Stuart und Revett, 1762 [Bild 27]
- Ansicht des Parthenon nach Le Roy, 1758 [Bild 28]
Als Folge daraus begann ab den 1750er Jahren ein „Greek Revival“ in Europa und Amerika. Die
zentrale Figur war Johann Joachim Winckelmann, der u.a. als Begründer der Klassischen
Archäologie und der neueren Kunstwissenschaft gilt; durch seine Publikationen wurde er zu einer
Haupttriebfeder des europäischen Klassizismus. („Gedanken über die Nachahmung der
griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“, 1755; „Anmerkungen über die Baukunst
der Alten“, 1760; „Geschichte der Kunst des Altertums“, 1764)
- Anton Raffael Mengs, Porträt von Johann Joachim Winckelmann, 1758–1762 [Bild 32]
Leo von Klenze, bedeutender klassizistischer Architekt: „Es gab und gibt nur eine Baukunst, und es
wird nur eine Baukunst geben, dämlich diejenige, welche der griechischen Geschichts- und
Bildungsepoche ihre Vollendung erhielt“.
Die Frage, an welcher der Mittelmeerkulturen man sich orientieren solle, löste Diskussionen und
Kontroversen aus; z.B. Giovanni Battista Piranesi „Della Magnificenza ed Architettura de
Romani“, 1761 → Piranesi wollte zeigen, daß nicht die griechische, sondern die römische Antike
auf oberster Stufe stehe.
- Rom, Kolosseum (69–81 n.Chr.), nach Giovanni Battista Piranesi, 1761 [Bild 36]
- Rom, Maxentius-Basilika (306–313 n.Chr.), nach Gioanni Battista Piranesi, 1761 [Bild 37]
Die Frage war ob die römsiche Antike die griechische Kultur verfeinert oder verfälscht. Stärker als
zu Zeiten der Renaissance (Basis römisches Altertum, Schriften Vitruvs), konnte man nun mehr auf
archäologische Erkenntnisse zurückgreifen. Dennoch blieb der Ausnahme-Status der „edlen Einfalt
und stillen Größe“ (Winckelmann) griechischer Kunst außer Diskussion.
In den 1780er Jahren begann sich der griechische Tempel als allgemeingültiges Muster zu
etablieren; die Gründe dafür waren nicht nur formal, sondern auch inhaltlich: Mit dem griechischen
Tempel waren Vorstellungen von bürgerlicher Freiheit und demokratisch-parlamentarischer
Staatsform verbunden, die man in der griechischen Polis in idealer Weise erfüllt sah.
- Jacques Louis David, Schwur der Horatier, 1784 [Bild 38]
→ Der Tempel diente zunächst bevorzugt als Muster für Staats- und Verwaltungsbauten
- St. Petersburg, Börse, Thomas de Thomon, 1804–1816 [Bild 39]
- London, British Museum, Robert Smirke, ab 1823 [Bild 40]
Höhepunkt des europäischen Klassizismus; Südseite des Baus folgt dem Stil der griechischen
Tempelarchitektur – gewaltige Kolonnade mit 48 ionischen Säulen; strenge Monumentalität (im
Gegensatz zu Barock: Idee des Gesamtkunstwerks, Verschachtelungsprinzip des Körpers –
Klassizismus: blockhafte additive Baugliederung).
4
VO Architektur und Kunstgeschichte 19./20.Jhd. – 2012
Die äußere Formensprache des Bauwerks drückt dessen Funktion und Historie aus. Öffentliche
Gebäude können jetzt nicht nur mit Sakralbauten oder Fürstenhäusern konkurrieren, sondern sie
gar architektonsich übertreffen.
- Winterthur, Stadthaus, Gottfried Semper, 1865–1868 [Bild 41]
- Wien, Parlament, Theophil Hansen, ab 1872 [Bild 42]
Nach dem Scheitern der Revolution wandelte sich der Bedeutungsgehalt des Tempels vom
republikanischen Freiheitssymbol zum reaktionären Würdemotiv einer wieder erstarkten
Monarchie.
- Friedrich Gilly, Entwurf für ein Denkmal Friedrich d.Gr. von Preußen, 1797 [Bild 43,44]
- Donaustauf bei Regensburg, Walhalla, Leo von Klenze, 1830–1842 [Bild 45]
- Wien, Volksgarten, Theseus-Tempel, Pietro Nobile, 1819–1823 [Bild 46]
In einem weiteren Schritt verlor der Tempel – zuerst Symbol der Demokratie, dann der Monarchie
– jede inhaltliche Konnotation; er wurde zum beliebigen, frei verfügbaren architektonischen
Formenrepertoire, das bis ins 20. Jahrhundert auf alle möglichen Bauaufgaben übertragen wurde.
- London, Euston Station, Stephenson und Hardwick, 1835–1839 [Bild 47]
- Ernst Alban, Hochdruckdampfmaschine, 1840 [Bild 48]
- Adolf Loos, Wettbewerbsentwurf für den Chicago Tribune Tower, 1922 [Bild 49]
- Hans Scharoun, Entwurf für ein Theater, um 1913 [Bild 50]
- New Orleans, Piazza d’Italia, Charles Moore, 1976 [Bild 51]
- Thomas Gordon Smith, Entwurf für ein Haus in San Francisco, 1978 [Bild 52]
4. Revolutionsarchitektur
Ende des 18. Jahrhunderts parallel zum „Greek Revival“ ausgebildete Architekturtendenz; Idee einer
auf der reinen Geometrie (Kreis, Quadrat und Dreieck) fußenden Baukörpertheorie, wobei die
stereometrischen Körper zu megalomaner Monumentalität gesteigert werden.
5
VO Architektur und Kunstgeschichte 19./20.Jhd. – 2012
Weiterentwicklung des Mitte des 17. Jahrhunderts von Descartes begründeten analytisch-
geometrischen Weltverständnisses durch Thomas Hobbes, Gottfried Wilhelm Leibnitz und Isaac
Newton im Sinne einer systematischen Wissenschaftsbegründung.
4.2. Newton-Kenotaph von Etienne Boullée aus dem Jahr 1784 [Bild 56-58]
1784 legte der französische Maler, Theoretiker und Architekt Etienne Boullée ein (nie realisiertes)
Projekt zu einem Denkmal für Isaac Newton [Bild 55] vor: Eine riesige Kugel (150 m Durchmesser),
die im unteren Bereich von konzentrischen, zum Teil mit Bäumen bepflanzten Stufenringen
zylindrisch ummantelt und über eine Freitreppe zu erreichen ist → Symbol für den Erdglobus.
Die Architektur basiert auf reiner Geometrie, der Verwendung einfacher geometrischer Formen – nach
der Theorie die Grundformen der Natur (Kreis, Pyramide usw.), und die Häufung der Baumassen. Auf
Ornament wird verzichtet. Die Entwürfe zeigen erste Ansätze einer Modernität (Raum-Körper-Theorie
– Le Corbusier). Das Revolutionäre an dieser Architektur ist die Artikulation neuer
Gesellschaftsmodelle und Utopien der Architekten – der Bruch mit den Traditionen und die Tatsache,
dass die Ausführbarkeit der Entwürfe nicht Voraussetzung ist. All die Entwürfe sind aber utopisch –
wurden nie realisiert.