Romantik
Dr. Mihály Csilla
Deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts
Vorlesung, 2020 WS
Dr. Mihály Csilla, Dr. Szabó Erzsébet
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der historisch-politischen
Situation und den literarischen Gattungen?
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1.1 Kunstmärchen - Volksmärchen
a) Volksmärchen:
- konstitutives Element: das Wunder wird als selbstverständlich empfunden
• die Welt ist nicht gespalten zwischen wunderbaren und wirklichen Dingen, zwischen
wundersamen und wirklichen Figuren, die Märchenfiguren agieren auf gleicher Ebene mit
Hexen, Riesen usw.
b) Märchen-Novelle / Kunstmärchen:
- Nebeneinander von Wunder und Ereignis → Gespaltenheit: E.T.A. Hoffmann: Der goldene
Topf (1814) = „Ein Märchen aus der neuen Zeit“ → Spannung zwischen fantastischer Welt
und realistisch bürgerlichem Alltag
1.2 Romantisches Kunstmärchen
a) Märchen = das Wunderbare und der ursprüngliche harmonische Zustand der Welt
→ Novalis: Klingsohrs Märchen, Hyazinth und Rosenblüthe
b) Gefahren einer phantasie-zentrierten Existenz
→ Tieck: Der blonde Eckbert (1797)
• Schattenseiten, Probleme der modernen Identitätskonstitution: Phantasie, Einsamkeit,
Identitätsverlust
„Das Grausige tritt mit Tieck zum ersten Male als bewußtes Kunstelement auf.“ (H. v.
Hofmannsthal)
• Wackenroder, Novalis, Brentano, Arnim, Hauff, Hoffmann, Eichendorff
1.3 L. Tieck: Der blonde
Eckbert
• Volksmärchen
hrsg. von Peter Leberecht
• 1796 pädagogische Bearbeitung von
Volksmärchen im Auftrag von Nicolai → 1.
Kunstmärchen unter dem Pseudonym Peter
Leberecht
1.3.1 Volksmärchen vs. Kunstmärchen bei Tieck
• Thematische Verwandtschaft mit Frau Holle: Schwierigkeiten des Reifeprozesses
eines Mädchens (unglückliche Kindheit, Wanderung, gütige Alte, helfende
Tiere/Pflanzen)
• naive Moral des Volksmärchens auf den Kopf gestellt → tragisches Märchen
• Alte Fee oder Hexe: in ständiger Wandlung begriffen („ihr Gesicht war in einer
ewigen Bewegung, … so daß ich durchaus nicht wissen konnte, wie ihr eigentliches
Aussehen beschaffen war“) → Walther, Hugo, Bauer
Alte: gütig und furchterregend zugleich (Freund u. Feind)
Novalis Tieck / Hoffmann: Welt ist doppelbödig und ambig.
• Fiktion und Realität sind schwer zu unterscheiden: Eckbert erschien „sein Leben in
manchen Augenblicken mehr wie ein seltsames Märchen als wie ein wirklicher
Lebenslauf“.
1.3.2 Macht der Phantasie
• Bertha:
Phantasieren zu Hause
„Oft saß ich dann im Winkel und füllte meine Vorstellungen damit an, wie ich die Eltern mit Gold und Silber
überschütten und mich an ihrem Erstaunen laben möchte; dann sah ich Geister heraufschweben, die mir unterirdische
Schätze entdeckten oder mir Kiesel gaben, die sich in Edelsteine verwandelten, kurz, die wunderbarsten Phantasien
beschäftigten mich“ (Tieck 1975: 5) → Waldhütte
Phantasieren in der Waldhütte
„In den Abendstunden lehrte sie mich lesen, ich fand mich leicht in die Kunst, und es ward nachher in meiner
Einsamkeit eine Quelle von unendlichen Vergnügen, denn sie hatte einige alte geschriebene Bücher, die wunderbare
Geschichten enthielten. … Aus dem wenigen, was ich las, bildete ich mir ganz wunderliche Vorstellungen von der Welt
und den Menschen. … Ich hatte auch von Liebe etwas gelesen und spielte nun in meiner Phantasie seltsame
Geschichten mit mir selber. Ich dachte mir den schönsten Ritter von der Welt … .“ (Tieck 1975: 12) → Ehe mit
Eckbert
„So wunderbar, als ich es vermutet hatte, kam mir die Welt nicht vor“ (Tieck 1975: 12)
• Eckbert:
„Wie ein unruhiger Geist eilte er jetzt von Gemach zu Gemach, kein Gedanke hielt ihm
stand, er verfiel von entsetzlichen Vorstellungen auf noch entsetzlichre, und kein Schlaf
kam in seine Augen. Oft dachte er, dass er wahnsinnig sei und sich nur selber durch seine
Einbildung alles erschaffe; dann erinnerte er sich wieder der Züge Walthers, und alles
ward ihm immer mehr ein Rätsel. … Jetzt war es um das Bewusstsein, um die Sinne
Eckberts geschehn; er konnte sich nicht aus dem Rätsel herausfinden, ob er jetzt träume
oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe; das Wunderbarste vermischte
sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert und er keines
Gedankens, keiner Erinnerung mächtig.“ (Tieck 1975: 22)
• Es ist unmöglich zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden:
Wahnsinn (Schauerromantik)
• Gattungen: Mischformen mit märchenhaften und
2. Themen, novellistischen, historistischen und realistischen Elementen (
Universalpoesie)
Probleme • Themen: Nachtseiten der Welt ( Aufklärung)
• Lieblingsstoffe, Motive und Figuren der Romantik:
und
a) Wunderbares, Magisches, Abnormes; Traum, Wahnsinn
Gattungen b) Dämonen, Geister, Teufelsgestalten (Teufel = Versucher +
der Prosa Chiffre des Reichs der Kunst) Engelsgestalten (Maria,
Heilige), Doppelgänger, Spiegelbilder → Ich-Spaltung: Ich In-
Dividuum, das Ich ist teilbar Reflexionsproblematik der
Romantik: Ich = Subjekt + Objekt der Reflexion
c) Schauplätze: Höhle, Grotte, Bergwerk, Wassertiefe →
unterhalb der bekannten Welt (E.T.A. Hoffmann: Der goldene
Topf; Die Jesuiterkirche in G., J. v. Eichendorff: Das Marmorbild)
• Mittlere Phase der Romantik (1809-1822)
Befreiungskriege, Wiener Kongress,
3.Hoffmanns Restaurationszeit
Erzählungen / Künstlerthematik (Ritter Gluck, Don Juan, Der
Märchen goldene Topf) → Kunst als Fluchtraum; Künstler
sind Außenseiter mit psychischen Leiden, von
Wahnsinn bedroht (Die Jesuitenkirche in G., Das
Fräulein von Scuderi, Der Sandmann)
- Doppelgängermotiv → Problematisierung der
Identität des Subjekts (Der Sandmann)
- Fantasiestück, Nachtstück
E.T.A. Hoffmann (1776-1822)
• 1776 Königsberg
• 1792-95 Jurastudium in Königsberg
• 1795 Juristische Tätigkeit und Kompositionsunterricht in
Berlin
• 1808-18013 Bamberg Dresden, Leipzig (Bühnenbildner,
Dramaturg, Kapellmeister, Schriftsteller)
• 1814 Berlin (Jurist + Schriftsteller)
• 1817/18 beruflicher Höhepunkt: anerkannter Künstler
(Schriftsteller, Komponist) und Richter
• 1822 gestorben
Fantasiestücke in Callots
Manier (1814-15)
- Fantasiestück = frei komponiertes Musikstück
- J. Callot = Zeichner im 17. Jh.
↓
• Literatur + Musik + bildende Kunst Programm der
Universalpoesie
• Phantasieprinzip (Romantik) Vernunftsdominanz
(Aufklärung)
• Sakralisierung der Kunst Gefährdung des Künstlers
Don Juan (1813, 1814)
• - Musik von Hoffmann oft thematisiert, seinen Texten liegen oft
musikalische Strukturen zu Grunde ( Universalpoesie)
• - Erzählung = Paraphrase von Mozarts Don Giovanni (Schmidt 2006:
56)
• - Gattungsmischung: Züge des fiktionalen Erzählens + Züge der
Musikkritik, szenische und essayistische Passagen
• - Fehldeutung der Oper genial-romantische Interpretation von
Mozart
- Poetisierung des Alltags: tägliches Leben → „fabelhafte
Begebenheit”
- Ziel ist, die Phantasie des Lesers zu animieren, auch in ihm
eine unbestimmte Sehnsucht herauszulösen (Meier 1992:
516), damit er die Unzulänglichkeit der Realität empfindet. (=
Romantisierung der Leser)
• Die Erzählung setzt sich mit dem Einfluss der Musik auf
Sakralisierung den Rezipienten, mit der befruchtenden Wirkung der
der Kunst Oper auseinander, die den Zuschauer und Zuhörer zu
einem eigenen literarischen Kunstwerk inspiriert: Der
Gefährdung reisende Enthusiast wird unter der Einwirkung der Musik
selbst zum schaffenden Dichter.
des Künstlers • Die sinnliche Erfahrung der Musik versetzt den
Enthusiasten in einen Zustand des Rausches: Die
Grenzen zwischen Realität und Kunstwelt heben sich für
ihn auf, er sehnt sich nach dem Eingehen in „ein fernes,
unbekanntes Geisterreich”, in eine höhere Welt.
• Das Schicksal der Sängerin (= Donna Anna)
veranschaulicht die Gefährdung des Künstlers: er darf
seine Individualität nicht absolut in der Kunst aufgehen
lassen.
E. T. A. Hoffmann:
Der Sandmann
(1816/17)
Entwicklung der Hauptfigur
klassischer Entwicklungs-
Bildungsroman
↓
sensibles,
phantasiebegabtes Kind →
Wahnsinniger, Selbst- und
Weltentfremdung
Integration des Individuums in
die Gesellschaft
Zeitbezüge a) Künstlicher Mensch → Automat; Alchimie
b) Romantische Psychologie →
Ich „In-Dividuum“ (gegensätzliche Triebkräfte);
traumatische Erlebnisse der Kindheit → Ich-
Verlust
• Briefe = verschiedene Ich-Perspektiven
a) Unterschiedliche Interpretationsmuster für die Welt
↓
Funktion der polyperspektivisches Erzählen → Unsicherheit der
Wahrnehmung, alles ist durch die Perspektive bedingt,
Briefe keine Tatsachen nur verschiedene Sehweisen
Clara (Klarheit) Nathanael (Gottes Gabe)
- Rational erkennbare - Glaube an die Existenz
Ordnung der Welt dämonischer Kräfte
- Mensch autonom - keine Autonomie
b) Aufforderung zu eigener Stellungnahme
c) Vorwegnahme des Untergangs (1. Brief – Ende der
Erzählung)
• Sandmann (Mutters Erzählung): Märchenfigur, die
den Kindern Träume bringt Sandmann der Amme:
böse Figur, die ihnen die Augen raubt → die
traumatische Vorstellung verfolgt N. sein Leben lang:
Märchenwelt + Alltagserfahrung (Sandmann =
Opposition Advokat Coppelius)
• Hell-Dunkel-Kontraste ( Nachtstück)
• Kälte Feuer
• Ambivalente Empfindungen
• Nathanaels Dichtungen
• Figurencharakterisierungen (Clara, Olimpia)
Vieldeutigkeit der Dinge
Zerrissenheit der Hauptfigur
Der Sandmann und die
Romantik
• Phantasie Wirklichkeit: Verselbständigung der Phantasie
• Emotionalität: Realitätsverlust
• Nachtkult der Romantik – Nachtstück (Salvator Rosa: Der
Tod von Empedokles 1665-70)
↓
• Traum, unbewusste Prozesse, Tiefenschichten der Psyche:
Gefährdung der Identität
→ Grundtendenzen der Romantik kritisch beleuchtet
• Literatur
• HOFFMANN, E.T.A.: Nachtstücke. Stuttgart: Reclam 1990.
• TIECK, Ludwig: Der blonde Eckbert. Der Runenberg. Die Elfen. Stuttgart: Reclam 1975.
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• KÖHN, Lothar: E. T. A. Hoffmann. In: Karl Konrad Polheim (Hg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf: Bagel, 1981, 159-171.
• KREMER, Detlef: Romantik. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001.
• MEIER, Albert: „Fremdenloge und Wirtstafel. Zur poetischen Funktion des Realitätsschocks in E.T.A. Hoffmanns Fantasiestück ‚Don Juan’“. In:
Zeitschrift für deutsche Philologie 111/1992, 516-531.
• NEYMEYR, Barbara: Narzißtische Destruktion. Zum Stellenwert von Realitätsverlust und Selbstentfremdung in E. T. A. Hoffmanns Nachtstück „Der
Sandmann“. In: Poetica 29 (1997), S. 499-531.
• NEYMEYR, Barbara: Aporien des Subjektivismus. Aspekte einer impliziten Romantikkritik bei Tieck und E.T. A. Hoffmann. In: Germanisch-
Romanische Monatsschrift 55 (2005), S. 61-70.
• OROSZ, Magdolna: Identität, Differenz, Ambivalenz: Erzählstrukturen und Erzählstrategien bei E.T.A. Hoffmann. Frankfurt am Main: Lang 2001.
• SCHMIDT, Ricarda: Wenn mehrere Künste im Spiel sind. Intermedialität bei E.T.A. Hoffmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.
• SCHMITZ-EMANS, Monika: Einführung in die Literatur der Romantik. 2. Aufl. Darmstadt: WBG 2007.
• WÜHRL, Paul-Wolfgang: Das deutsche Kunstmärchen. Heidelberg: Quelle & Meyer 1984.
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