Anthropofiction
Eine Anthologie
Fischer
Taschenbuch
Verlag
Deutsche Erstausgabe
Fischer Taschenbuch Verlag
Mai 1974
Umschlagillustration: Eddie Jones
Umschlagtypographie: Jan Buchholz/Reni Hinsch
Titel der amerikanischen Originalausgabe ›Apeman, Spaceman‹
Erschienen bei Doubleday &. Co., New York
Deutsch von Hannelore Buschmann, Werner Fuchs, Horst Adam,
Ronald M. Hahn, Angelika Kiesow, Ulrich Kiesow, Horst Pukallus und
Rainer Schmidt
Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
© der deutschen Ausgabe: Fischer Taschenbuch Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, 1974
© Doubleday & Co., Inc., London, 1968
Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg
Printed in Germany
Scan by Brrazo 12/2010
ISBN 3 436 01676 4
Inhalt
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sind. Unverfrorene Verwaltungsbeamten versuchen die
Bemühungen des Mannes im weißen Kittel in den hei-
ligen Gefängnissen seines Laboratoriums zu bremsen.
Eine junge Frau, darauf erpicht, eine unbekannte Spra-
che zu entziffern, wird angewiesen, sich entweder zu
beeilen oder aufzugeben. Ein General wütet komisch
gegen das Beamtenchinesisch des Pentagon, und ein
kommunistischer chinesischer Autor läßt einen ver-
ständnisvollen Marsmenschen auftreten, der ihm als
Analogie erzählt, was an seiner Regierung falsch ist.
Die meisten Geschichten befassen sich kritisch mit
dem Lauf der Zeit, zurück, nach vorn und in Einstein-
schen Spiralen und Kurven. In nur einer Geschichte
werden kurz außersinnliche Wahrnehmungen erwähnt,
und nur eine operiert in jeder Hinsicht mit dem Über-
natürlichen. Ein paar Geschichten, vor allem Horace
Miners Beitrag, sind außerordentlich geistreich. Andere
sind schaurig. Und fast alle bauen ein fast platzendes
Sammelbecken von Spannung auf. Mehrere Erzählun-
gen enden mit durchschlagenden Pointen, vor allem
Arthur C. Clarkes »Die neun Milliarden Namen Gottes«.
Ich habe dieses Buch unendlich gern gelesen, aber
viel mehr möchte ich nicht sagen, aus Furcht, sonst zu
viele Katzen aus einem Riesensack zu lassen.
Carleton S. Coon
Gloucester, Massachusetts
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Einführung
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ersticken kann, wie sollte er sich dann mit Fiktionen
zufriedengeben, die die Existenz dieser oder anderer
von Technologie und Wissenschaft hervorgerufenen
Veränderungen ignorieren? Die meiste Prosa könnte,
würde man Kleidung und Beförderungsmittel jeweils
wechseln, zu jeder Zeit innerhalb der letzten tausend
Jahre spielen. Science Fiction ist so neu, wie der Stand
der Wissenschaften im zwanzigsten Jahrhundert – und
sie ignoriert die Existenz der Wissenschaft nicht.
Kann Science Fiction mehr als reine Unterhaltung
sein? Kingsley Amis, der, daran muß erinnert werden,
Lehrer, Erziehungswissenschaftler und Autor zugleich
ist, schreibt: »Die Funktion von Science Fiction als
pädagogisches Mittel wird noch weit unterbewertet.«
Es gibt verschiedene Wege, auf denen die pädagogi-
sche Qualität von Science Fiction zum Tragen kom-
men kann. Einer von ihnen ist, wie Amis in ›New
Maps of Hell‹ schreibt, folgender: »Wie immer man
Technologen beurteilen will, sie sind zweifellos bedeu-
tend, und seit ich in der Science Fiction eine eher hu-
manisierende als brutalisierende Kraft sehe, bedeutet
mir ihre Verbreitung unter diesen Leuten ein Zeichen
von Hoffnung.« Wenn dies den Technologen die
Menschlichkeit näher brächte, müßte es auf der ande-
ren Seite, dem Rest der Menschheit Technologie- oder
zumindest Wissenschaftsverständnis vermitteln. Science-
Fiction-Geschichten sind keine wissenschaftlichen Tex-
te, aber aus ihnen sprechen eine positive Begeisterung
und Respekt für wissenschaftliche Fakten, wobei die
beiden von ihnen eine einzigartige Mischung von Wahr-
heit und Kunst sind. Wahrheit, vermittelt durch Kunst –
das klingt sehr nach Amis’ »pädagogischem Mittel«.
Die Anthropologie ist die Wissenschaft vom Men-
schen. Es ist die Geschichte der Menschheit vom Af-
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fenmenschen bis zum Astronauten, der Versuch, alle
Epochen menschlicher Existenz im Detail zu beschrei-
ben. Autoren von Fiction und vor allem Science Fiction
spähen über die Schulter der Anthropologen, wenn
Entdeckungen gemacht worden sind und benutzen sie
als Ausgangsmaterial für ihre dichterischen Arbeiten.
Wo der Wissenschaftler, ausgehend von bewiesenen
Fakten zaghaft spekulieren und nur einen kleinen
Sprung in das Unbekannte tun kann, hat der Autor die
Freiheit, sich hoch aufzuschwingen in die Reiche der
Phantasie. (Obwohl eine freischweifende Phantasie
auch für den Wissenschaftler ein Segen sein kann. Die-
ser Band enthält Nonfiction-Beiträge, die ebenso le-
bendig und phantasievoll sind wie die besten der Lite-
ratur).
Dies ist eine Anthologie von Spekulationen über
den Menschen, wahr und erfunden zugleich, die beiden
Bereichen, der Kunst und der Wissenschaft Anerken-
nung schuldet. Sie ist in zwei Teile gegliedert: ›Der
Mensch …‹ und ›.. seine Werke‹. Diese Aufteilung ist
nicht zufällig, und der informierte Leser wird bereits
bemerkt haben, daß diese beiden Abschnitte sich auf
die naturwissenschaftliche und die philosophische An-
thropologie beziehen. Dies ist der logische Gang, um
die Geschichte der Menschheit zu erzählen und ebenso
logisch ist es, all die Untergruppen entsprechend zu
gliedern. Das Nachwort erklärt warum. Dies Nachwort
wird – so hoffen wir – noch eine weitere Dimension
hinzufügen. Diese Anthologie ist kein Lehrbuch, aber
wenn jemand, nachdem er sie gelesen hat, mehr über
Anthropologie wissen will, so kann das Nachwort ganz
sicher als sein Ratgeber fungieren.
Mehr als ein Breitwand-Millionen-Filmunternehmen
ist als die größte Geschichte angekündigt worden, die
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je erzählt worden sei. Dieser Anspruch dürfte fragwür-
dig sein, denn die größte Geschichte wäre eigentlich
die Geschichte der Menschheit. Welch unglaubliche
Strecke haben wir zurückgelegt? Man stelle sich zwei
Menschen vor, odei besser, einen Fast-Menschen und
einen richtigen Menschen, durch Millionen Jahre von-
einander getrennt. Einer, der Affenmensch, hat gerade
die Möglichkeit für sich entdeckt, auf zwei Beinen zu
gehen und zu laufen. Der andere schwebt in einem
Druckanzug außerhalb einer Raumkapsel, die in der
Erdumlaufbahn kreist. Wie haben sich die Generatio-
nen von Menschen entwickelt – vom ersten Läufer
zum Raumfahrer? Und können wir wagen zu behaup-
ten, daß die Eroberung des Raumes der letzte Schritt in
der menschlichen Entwicklung sei? Und wenn nicht –
was kommt als nächstes? Das sind faszinierende Fra-
gen. Was folgt sind ein paar faszinierende Antworten.
Die Herausgeber
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Der Mensch …
Fossilien
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L. Sprague de Camp
Fünfhundert-Kilo-Kerle
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Kilo-Affenmenschen scheinen mir nicht eben die Sorte
von Jungs für ein Freundschaftsspiel zu sein.«
Professor Frybush schnaufte. »Keine Gefahr. Beauf-
tragte der Regierung überwachen sie und greifen sofort
ein, wenn die geringste Möglichkeit besteht, daß sie
Leute behelligen könnten.«
»Sie schießen sie ab, meinen Sie?«
»Nein! Ich sagte Ihnen schon, der Oberste Gerichts-
hof hat den Giganthropus in den Status eines legalen
menschlichen Wesens versetzt, mit allen Privilegien
und Rechten eines solchen. Die Beauftragten bewegen
sie lediglich, in einen anderen Teil des Reservats zu
wandern, wo sie keinem normalen Besucher die Arme
und Beine ausreißen können, wenn sie schlechte Laune
haben«. Grogan fuhr sichtlich zusammen, und Frybush
fügte hinzu: »Was ist los, wollen Sie nicht? Natürlich
zwingt Sie niemand; ich dachte nur, weil Sie gerade
einen guten Schluck zur rechten Zeit für mich hatten,
könnte ich Ihnen auch einen Gefallen erweisen. Wo ich
gerade davon spreche …«
Grogan holte die Flasche wieder hervor.
»Doch, ich freue mich darauf. Ich komme. Aber sa-
gen Sie, woher kommen diese Kerle? Ich dachte, sie
wären schon vor einer Million Jahre ausgestorben?«
Frybush gluckste. »Sind sie auch, aber sie wurden
wiedererschaffen.«
»Wie kann man das machen? Ich wünschte mir nicht
gerade, daß jemand in meiner Nachbarschaft einen
Dinosaurier oder so etwas bastelt.«
Frybush lächelte. »Schon von den Gebrüdern Heck
gehört?«
»Nein.«
»Zwei Brüder aus Ungarn, die vor ein paar Jahrzehn-
ten die ausgestorbenen Auerochsen wiedererschufen.«
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»Wie? Wen?«
Frybush blickte durch das Fenster auf die flache
braune Landschaft hinab, in der die Flüsse ein Netz
bildeten, das wie das Muster auf einem Blatt aussah.
»Der Auerochse war ein großes Wildrind, das bis
etwa zum Jahre 1600 in Europa lebte; ähnlich wie ein
texanisches Longhorn. Die wilden Auerochsen wurden
ausgerottet, hatten sich aber schon mit dem einheimi-
schen Zuchtvieh vermischt, vor allem in Spanien und
Ungarn. So suchten die Gebrüder Heck Vieh aus, in
dem noch Auerochsenblut floß, und züchteten es zu-
rück auf die frühere Form. Es gelang leichter, als sie
erwartet hatten: nach ein paar Generationen besaßen
sie eine Herde wirklicher Auerochsen. Sie können die
Tiere heute in europäischen Naturschutzgebieten be-
sichtigen.«
»Ihr Wissenschaftler habt schon verrückte Einfälle«,
sagte Grogan. »Und so hat man es mit diesen Gigan…
diesen Affenmenschen gemacht?«
»Grob gesagt, ja. Als nach den Weltkriegen die
Technik der künstlichen Befruchtung vervollkommnet
wurde – ›Retortenbabies‹ würden Sie wohl sagen –
erkannte ein Amerikaner namens Huebner die Mög-
lichkeit, fossile Menschentypen neu zu züchten, und er
begann Freiwillige zu suchen, die noch Erbgut der
Neanderthaler et cetera besaßen. Und jetzt sind sie
wieder mitten unter uns.«
Die Hosteß sagte mit klarer, belehrender Stimme:
»Wir landen in wenigen Minuten in Springfield, Mis-
souri. Die Passagiere nach Springfield werden freund-
lich gebeten, ihr Handgepäck bereit zu halten. Bitte
schnallen Sie sich an.«
»Und weiter?« fragte Grogan, während er Hut und
Regenmantel an sich nahm.
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»Nun«, meinte Frybush, »es dauerte wesentlich län-
ger als bei den Auerochsen, weil das gewünschte Erb-
gut unter Menschen schwieriger zu finden ist und eine
Generation länger währt als unter Ochsen. Aber
schließlich wurde es ein voller Erfolg; zu der Zeit war
Huebners Urgroßenkel Leiter des Projekts. Und so ha-
ben wir heute in Spanien ein Reservat mit Neandertha-
lern, eins in Oklahoma mit Giganthanten, et cetera.«
»Was treiben diese Affenmenschen dort?«
Frybush hob die Schultern. »Ein bißchen primitive
Landwirtschaft, zu mehr sind sie nicht gescheit genug.
Geben Sie mir noch einen Schluck, ich vertrage die
Landemanöver nicht.«
Grogan grinste überheblich und schaute auf die Uhr.
»Wollen wir wetten, ob wir vor oder nach dem plan-
mäßigen Zeitpunkt aufsetzen? Um hundert Dollar?«
»Uff! Dazu müßte ich wirklich verrückt sein!«
Eine Woche später trafen Oliver Grogan und Pro-
fessor Frybush in einem Hotel in Muskogee wieder
zusammen.
»Sagen Sie, was ist nun mit den Affenmenschen; die
Sie mir zu zeigen versprochen haben?«
»Geht in Ordnung. Wie sind Sie mit den Football-
Spielern zurechtgekommen?«
»Schlecht. Habe nicht einen gekauft. Diese Dorftrot-
tel hatten nicht das Zeug für unsere Mannschaft.«
Am Eingang zum Reservat sorgte der Professor dafür,
daß man Grogan einließ. Der dürre Mann, dessen Stirn
jetzt schweißüberströmt war, hatte während der Fahrt
immer mehr Anzeichen der Nervosität gezeigt, und auch
der Anblick einiger schwerer Büchsen in der Wachstube
am Tor vermochte ihn nicht wieder zu beruhigen.
»Wie weit entfernt sind diese Gi … Giganthanten?«
fragte er.
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»Eine halbe Meile den Weg hinunter liegt ein Dorf.
Netter Spaziergang.«
»Sie meinen, wir müssen zu Fuß gehen?«
»Sicher. Sie dulden keine Autos.«
»Bekommen wir keinen Geleitschutz oder so et-
was?«
»Wir nicht. Sie kennen mich, verstehen Sie?«
Es kostete Grogan große Überwindung, dem Profes-
sor zu folgen, der auf einmal einen heldenmütigeren
Eindruck auf ihn machte, als von seiner Erscheinung
zu erwarten war.
Nach fünf Minuten blieb Grogan plötzlich stehen.
»Was ist das?«
Es war ein unheimlicher, dröhnender Ton, ein ver-
haltenes Grollen, als stimme sich ein Löwe auf sein
abendliches Gebrüll ein.
»Bloß einer von den Jungs«, sagte Frybush; und
nach einer Weile: »Hier sind ja ein paar von ihnen.«
Das Gras war über eine große Fläche hinweg zu ei-
ner Mulde niedergetrampelt, in der sich fünf mächtige,
stark behaarte Kreaturen befanden, vier männliche und
ein weibliches Exemplar. Zwei der männlichen Affen-
menschen und das Weibchen lagen auf dem Rücken
und schnarchten lautstark, während die beiden anderen
Männchen mit einem Ball spielten.
Grogan stellte erst fest, wie groß sie wirklich waren,
als er dicht davor stand und zu ihren Gesichtern auf-
blicken mußte. Sie waren fast drei Meter groß, viel
stärker gebaut als gewöhnliche Menschen, und besaßen
die rohen, vorspringenden Gesichter und die gedrun-
gene Haltung, wie man sie aus den Büchern kannte.
Grogan bemerkte mit einem unangenehmen Gefühl,
daß sie ihr Spielzeug, einen Medizinball, mit einer
Hand hielten und warfen.
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»Hallo, George!« rief der Professor.
Der nächststehende Affenmensch blickte sich um,
grinste schauderhaft und schlurfte herüber. »George«,
ergänzte Frybush, »ich möchte dir meinen Freund vor-
stellen, Mr. Grogan. Das ist George Ethelbert, Unter-
führer der Nordsiedlung.«
Grogan legte seine Hand mißtrauisch in die Pranke
des Monsters. Es war, als schüttelte er einem dreijähri-
gen Kind die Hand. Etwas verlegen lächelnd, sagte er:
»Ich kommen von Chikago. Fliegen in großem Vogel.
Du haben schön hier.«
Der Affenmensch legte die niedrige Stirn in Falten.
»Was ist los, Mister?« grollte er. »Sind Sie ein Aus-
länder?«
»Warum, ich … ich wußte nicht, daß ihr so gut Eng-
lisch sprecht«, sagte Grogan. »Ich vermute, das hier
gefällt euch besser als damals mit den Mammuts und
so, wie?«
»Wie?« echote George Ethelbert, zu Frybush ge-
wandt. »Professor, ist der Knabe nicht ganz richtig? In
meinem ganzen Leben habe ich noch kein Mammut
gesehen, nur einmal in einem Buch.«
»Entschuldigung, entschuldigen Sie«, sagte Grogan.
»Ich dachte … ja, wissen Sie, anders als damals – na,
lassen wir’s. Führen Sie das Gespräch, Professor.«
Frybush sagte: »Wie wäre es, wenn du uns die Ge-
gend zeigst, George?«
»Wie wäre es, wenn Sie auf mich verzichten und
Zella das macht?« meinte Ethelbert. »Ich spiele gerade
so gut.«
»Okay.«
»Zella!« brüllte Ethelbert. Als der weibliche Affen-
mensch weiterschnarchte wie ein Donnergrollen, holte
er aus und warf den Medizinball nach ihr, der mit einem
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Geräusch auf ihre Rippen prallte, als schlüge man eine
Trommel.
»Was, du –« heulte das Weibchen und sprang auf
die Füße. »Dich mach ich fertig, du –« Sie stürmte her-
an wie ein wütender Elefant. In letzter Sekunde trat
Ethelbert mit einer Beweglichkeit zur Seite, die an ei-
nem so mächtigen Geschöpf erstaunlich wirkte, und
ließ sie an sich vorbeischießen. Sie stürzte fast auf die
beiden gewöhnlichen Männer, und beide Monster bra-
chen in schallendes Gelächter aus, als sie die beiden
zurücktaumeln sahen. Das Weibchen, dessen Zorn of-
fenbar schon verflogen war, versetzte Ethelbert einen
Klaps auf die Schulter, der ein Nashorn gefällt hätte.
»Na schön, ich führe die zwei Knirpse herum, und
anschließend setze ich dir eine Schlange ins Nest, damit
du mit einer Dame umzugehen lernst. Wohin wollt ihr
beiden Lümmel?«
»Professor«, sagte Grogan leise, während er vor-
sichtig auf Zellas haarigen Rücken blickte, als sie vor
ihnen durch das Gras trottete, »sie erinnert mich an
meine zweite Frau. Ich weiß, daß ich mich dumm
benommen habe, aber ich dachte daran, daß Sie gesagt
hatten, sie seien etwas unterbelichtet. Ich habe aber
nicht den Eindruck.«
»Das verhält sich bei den einzelnen Exemplaren
ganz unterschiedlich«, sagte Frybush. »Es sind keine
völlig, reinblütigen Giganthanten, müssen Sie wissen;
es brauchte viel mehr Generationen, um die menschli-
chen Erbeigenschaften gänzlich herauszuzüchten.
Trotzdem, George ist auch ein ungewöhnlich heller
Kopf für einen Giganthanten; praktisch ein Genie, im-
merhin intelligenter ab der heutige Durchschnitts-
mensch.«
»Hmm.« Grogan ging schweigend und nachdenklich.
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Zella deutete auf eine Ansammlung von großen
Scheunen und wuchtigen Blockhäusern. Grogan sah
sich zu einer Bemerkung veranlaßt.
»Scheint mir ziemlich komisch, Professor. Wäre es
nicht einfacher, ein paar Fertighäuser aus der Stadt zu
holen? Eine Gruppe kräftiger Arbeiter könnte so ein
Haus an einem Tag aufstellen.«
Frybush schüttelte den Kopf. »Das ist versucht wor-
den, aber es hätte fast das Experiment verdorben. Sie
wurden faul und hatten keine Lust sich zu rühren. Es
ist besser, sie aus eigenen Mitteln sich einrichten zu
lassen, auch wenn sie damit nicht weit kommen.«
Etwas später sagte Frybush: »Hören Sie, Mr. Gro-
gan, ich habe mit Zella einige Bildungsfragen zu dis-
kutieren. Warum wollen Sie nicht hier warten? Sie
können dort auf der Bank sitzen oder einen Spazier-
gang machen; es kann Ihnen nichts geschehen.«
»In Ordnung«, meinte Grogan abwinkend; er fand
den Gedanken nicht sehr gemütlich. Als die beiden
sich entfernt hatten, schlenderte er im schläfrigen Son-
nenschein über den ungepflasterten Weg, dessen Staub
seine Schuhe bedeckte. Ihm wurde langweilig; der Ort
war nur eine Hinterwäldlerfarm mit dem üblichen Ge-
rümpel, und Oliver Grogan verstand nichts von alldem.
Er gähnte und streckte sich auf der handgearbeiteten
Bank aus, um für eine Minute die Augen zu schließen,
während der Professor seine Angelegenheiten erledigte.
Kaum hatte er die Augen geschlossen, als eine
Stimme sagte: »He, du!«
Grogan schlug die Augen auf, dann sprang er auf
die Füße. Vor ihm stand eine andere Kreatur. Aus der
Größe und der schwächeren Behaarung schloß er, daß
es sich um ein Kind dieser Spezies handelte. Grogan,
der sogar von normalen menschlichen Kindern wenig
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verstand, schätzte es auf ein Alter von zwölf Jahren.
Jedenfalls aber war es fast so groß wie Grogan und
wesentlich schwerer als die fünfundsechzig Kilo, die er
auf die Waage zu stellen vermochte.
»Ja?« sagte er, lehnte sich wieder auf der Bank zu-
rück und wünschte, der Professor wäre anwesend.
»Du bissn andrer Knirps, wat?«
»Ich denke schon, wenn ihr die normalen Leute so
nennt.«
»Bisste mit dem Professor jekommen?«
»Ja.«
»Jimmich ne Kaugummi, machste?«
»Habe keinen.«
»Och hör uff! Alle Knirpse hann Kaugummi. War-
um jibste mich kein?«
»Laß mich in Ruhe. Ich sage dir, ich habe keinen!«
Grogan begann sich seitwärts zu bewegen, um Platz
für die Flucht zu gewinnen.
»Och hör uff! Warum jibste kein? Ich frach doch
nett, oder?« Der Knabe ergriff den Ärmel von Grogans
Mantel.
Grogan zog ruckartig, um seinen Ärmel zu befreien.
Als das mißlang, trat er panikartig aus und traf etwas.
»Aua!« schrie der Junge, ließ den Mantel los, hüpfte
auf einem Bein und betrachtete die große Zehe am an-
deren Fuß. Grogan lief in die Richtung, in welcher der
Professor verschwunden war. Hinter sich hörte er die
großen Füße des Jungen aufstampfen und ihn wilde
Beschimpfungen rufen. Dann packten kräftige Arme
ihn an den Beinen und schleuderten ihn kopfüber zu
Boden, und mächtige Fäuste begannen auf seinen
Rücken zu trommeln.
»Hilfe!« kreischte Grogan und vergrub den Kopf in
den Armen.
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»Weg mit dir, du!« röhrte Zellas Stimme, und Gro-
gan spürte, wie das Gewicht von ihm gehoben wurde.
Er richtete sich auf, gerade rechtzeitig, um zu sehen,
wie Zella den Jungen mit einer Hand am Nacken hob;
mit der anderen Hand versetzte sie ihm einen Schlag,
der ihn fast zehn Meter durch die Luft warf.
Der Knabe rappelte sich auf und brach in Tränen aus.
»Ich mach dich ferdich, Zella«, heulte er, »und ich
ich mach auch da Knirps ferdich! Ich frach ihn bloß
nach ein Kaugummi, und er tritt mich off da Zeh! Ich
dreh ihm da Hals um …«
Als Zella einen Schritt vortrat, lief er, noch immer
tränenüberströmt, davon und verschwand hinter dem
nächsten Blockhaus.
Grogan betastete seine blauen Flecken und schüttelte
den Staub von der Kleidung, während Zella und Frybush
ihn wortreich zu beruhigen suchten.
»Macht nichts«, sagte er, »ich bin dadurch auf einen
Gedanken gekommen. Professor, können diese … dür-
fen unsere Freunde das Reservat verlassen, wenn sie es
wünschen?«
»Sicherlich, sie sind als ungefährlich bekannt. Sie
sind keine Bürger, aber Schützlinge der Regierung mit
fest garantierten Rechten. Einige sind weit gereist, aber
alle kehrten zurück.«
»Warum?«
»Aus dem einen Grund: um unter ihresgleichen zu
sein.«
»Ja«, meinte Zella, »denken Sie daran, was das für
einen von uns bedeutet, in einem der miesen engen
Eisenbahnabteile zu sitzen, oder in einem Bett zu
schlafen, nicht größer als eine Briefmarke. Pah! Die
Luftverkehrsgesellschaften weigern sich sogar, uns zu
befördern.«
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Grogan sagte: »Ob ich wohl noch einmal mit
George Ethelbert sprechen könnte?«
»Weshalb nicht?« antwortete Frybush. »Wir treffen
ihn bestimmt auf dem Rückweg.«
Als sie Ethelbert erneut trafen, der noch mit dem
Ballspiel beschäftigt war, rief Grogan ihn herbei und
fragte: »George, wie würde es dir gefallen, ein profes-
sioneller Football-Spieler zu sein?«
»Wie? Was? Sie meinen, ich soll Football für Geld
spielen?«
»Sicher. Ich könnte dir dazu verhelfen.«
George Ethelbert dachte für einen Moment nach, die
fliehende Stirn gerunzelt. Schließlich sagte er: »Schö-
nen Dank, Mr. Grogan. Ich hoffe, es verärgert sie
nicht, wenn ich ablehne.«
»Wie? Warum möchtest du nicht?«
Ethelbert scharrte verlegen mit einem seiner großen
nackten Füße im Sand. »Nun, um die Wahrheit zu sagen,
ich möchte nicht Football-Spieler sein; ich wäre lieber
ein Künstler.«
»Ein was?«
»Ein Künstler. Sie wissen, so ein Bursche, der Bil-
der malt.«
»Würde dich das nicht langweilen?« rief Grogan
verwirrt aus, den Hut wieder aufsetzend. »Aber, nun ja
… laß mich eine Minute überlegen … weißt du, George,
vielleicht können wir diese Angelegenheiten irgendwie
miteinander verbinden … laß mich nachdenken … ich
meine: du unterzeichnest mir einen Vertrag als Football-
Spieler, und ich finanziere dir ein Studium am Chikago
Art Institute. Vielleicht kannst du es so machen wie
Harry Whitehill, der Baseballspieler, der das … unter-
richtete, wie sagt man doch, jedenfalls machte er in
höherer Mathematik, wenn er nicht gerade spielte.«
28
»Möglich, daß wir uns darin einigen können«, sagte
Ethelbert. »Geben Sie mir Bedenkzeit. Aber sagen Sie,
wie wollen Sie mich nach Chikago bekommen? Ich
passe nicht in die Eisenbahn.«
»Ich könnte einen Möbelwagen mieten. Das bringt
mich auf eine andere Idee. Ich bringe dich heimlich in
den Norden, ohne daß jemand etwas davon erfahrt,
trainiere dich heimlich, und dann springst du als Su-
perwaffe in das erste Spiel der Saison! Junge, was
werden wir für eine Presse haben! Nebenbei, besitzt du
Kleider? In Chikago kannst du nicht nackt herumlau-
fen.«
»Ja, ich habe einen Anzug für Ausflüge in die Stadt.
Natürlich eine Spezialanfertigung.«
»Natürlich«, sagte Grogan.
Das erste Spiel sollte gegen die Dallas-Wildkatzen
ausgetragen werden. Ethelbert, der jetzt täglich in ei-
nem übergroßen Trainingsanzug steckte, sah ihm mit
etwas Furcht und etwas Hoffnung entgegen. Einerseits
war er noch nie mit einer so riesigen Menge normaler
Menschen konfrontiert gewesen, und er war überzeugt,
daß er vor Angst sterben würde, wenn er ins Stadion
treten mußte; sie würden ihn anstarren und fotografie-
ren, und wenn er stolperte oder einen Fehler beging,
wäre er der Verachtung von tausenden ausgesetzt, und
sein Schnitzer im Bild festgehalten. Manchmal
wünschte er sich ins Reservat zurück, wo er als Unter-
führer eine wichtige Persönlichkeit gewesen war; wo
er nicht ständig jede seiner Bewegungen hatte überwa-
chen müssen.
Andererseits, wenn er berühmt wurde, konnte er
seine Hinterwäldler-Existenz aufgeben.
Er wohnte in einem Zelt auf einem abgelegenen
Grundstück in Cicero, das dem Mannschaftsmitglied
29
Bill Szymczak gehörte; in einem geschlossenen Trans-
porter wurde er zum Training gefahren. Er tröstete sich
mit der Hoffnung, daß Grogan nach dem Spiel die
Anmeldung beim Chikago Art Institute nicht länger
hinauszögern konnte; der Vorwand, daß jemand von
den Vorbereitungen erfahren könnte, war dann nicht
mehr gegeben. Einige seiner Artgenossen hatten ihn
davor gewarnt, wie die Knirpse seinesgleichen betrü-
gen würden, bekamen sie eine Gelegenheit dazu.
Vor dem Spiel hielt Grogan der Mannschaft eine
aufmunternde Ansprache, die mit den Worten endete:
»… und von diesem Spiel hängt mehr ab, als ihr euch
überhaupt vorstellen könnt. Also, ihr müßt gewinnen.«
»O weh«, murmelte Szymczak neben Ethelbert.
»Das heißt, der Alte ist wieder in Geldnot.«
»Wieder?« forschte Ethelbert besorgt.
»Klar, er pflegt stets das letzte Hemd zu verwetten
oder zu verlieren oder stellt sonst irgendwelchen Blöd-
sinn mit seinem Geld an. Na, hoffen wir, daß er es
diesmal erst nach dem Zahltag verjubelt.«
»Okay, Jungs«, sagte Day, der Trainer. »Es geht
los.«
Die Mannschaft betrat im Gänsemarsch den Tunnel
und begann zu laufen, als sie ins Stadion gelangte.
Ethelbert, die Überraschung des bevorstehenden
Spiels, befand sich in der Mitte der Kolonne. Er
brauchte nicht zu laufen, denn durch kräftiges Aus-
schreiten hielt er mit dem Rest der Mannschaft Schritt.
Als die Mannschaft einlief, brachen die Gegner auf
ihren Bänken in ein lautes Gebrüll aus. Diesmal jedoch
brach das Gebrüll in der Sekunde ab, als Ethelbert aus
dem Tunnel trat. Ethelbert bemerkte, wie eine unruhige
Bewegung durch die Reihen der Köpfe auf den Tribü-
nen ging, als die Zuschauer einander Fragen zu stellen
30
begannen. Er hatte etwas von den Gerüchten mitbe-
kommen, die Grogan über seinen geheimnisvollen
neuen Spieler in die Welt gesetzt hatte, und hoffte, daß
die Leute nicht enttäuscht waren.
Ethelbert ließ sich auf seiner hölzernen Spezialbank
nieder und wartete; er fühlte viele tausend Augen boh-
rend wie Nadeln auf sich gerichtet. Dann kam Day zu
ihm und sagte: »George, wir halten dich anfangs zu-
rück. Für die erste Zeit können wir sie bremsen, und
wenn es brenzlig wird, greifst du ein. Gib acht, daß du
keinen von den Burschen anstößt; wir wollen sie nicht
umbringen. Sei also vorsichtig. – Was gibt es?«
Die letzten Worte waren an Grogan gerichtet, der
antwortete: »Sie machen drüben eine Unterredung mit
dem Schiedsrichter. Ich vermute, daß sie einen Grund
suchen, Protest einzulegen. Da kommt er.«
Der Schiedsrichter schritt herüber und sagte: »Gro-
gan, ich möchte gern Ihren geheimnisvollen Spieler
sehen. Einige Leute haben Bedenken, ob er zugelassen
werden darf.«
»Gern«, meinte Grogan. »Mr. Rosso, das ist George
Ethelbert. Haben Sie etwas an ihm auszusetzen?«
Rosso zuckte zurück, als Ethelbert eine Hand aus-
streckte, so groß wie ein kleiner Koffer, aber er faßte
Mut und schüttelte sie.
»Nein, nein«, sagte er, »außer, daß man ihn – etwas
übertrieben – für so groß wie ein Haus hält. Da war ein
Gerede bei der anderen Mannschaft, daß Sie einen Go-
rilla auf sie loslassen wollten. Übrigens –« Er warf ei-
nen scharfen Blick auf Ethelbert, »– kann Ihr neuer
Spieler sprechen?«
»Sag etwas zu ihm, George«, forderte Grogan.
»Klar, ich kann sprechen«, sagte Ethelbert. »Was
soll ich sagen?«
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»Wie ich höre, spricht er ganz gut«, stellte Rosso
fest. »Aber die Sache ist mir nicht sehr angenehm.
Sind Ihre Jungs bereit?«
Martin, Grogans bester Mann, ging zuerst an den
Ball. Er wurde ihm von einem Spieler der ›Wildkatzen‹
abgenommen.
Als sie sich für den Angriff aufstellten, konnte
Ethelbert erstmalig die gegnerische Mannschaft genau-
er ansehen, und die ›Wildkatzen‹ begutachteten ihn
ebenso. Der Anblick schien sie nicht eben zu erfreuen.
Sie starrten ihn wie gebannt an, während ihr Mann-
schaftskapitän Anweisungen gab.
Die beiden ersten Vorstöße der ›Wildkatzen‹ ende-
ten außerhalb des Spielfelds und blieben ergebnislos.
Dann durchbrach ein Spieler der ›Wildkatzen‹ die Ab-
wehr der ›Wölfe‹ und rannte auf Ethelbert zu – dieser
erinnerte sich an seine Instruktionen und unternahm
nur einen schwachen Versuch, den Mann zu stoppen.
Der Ausdruck von Angst auf den Gesichtern der
›Wildkatzen‹ ließ etwas nach. Mit zwei weiteren An-
griffen brachten sie die ›Wölfe‹ schließlich in Be-
drängnis. Dann versuchten sie einen Durchbruch.
Ethelbert wälzte sich, Schwerfälligkeit vortäuschend,
auf den gegnerischen Spieler zu, der am Ball war,
streckte seine behaarten Pranken aus, fletschte die
Zähne und stieß einen drohenden Laut aus. Dieser An-
blick veranlaßte den Spieler, sich so schnell außer
Reichweite zu begeben, daß er den Ball verlor. Das
gleiche geschah beim nächsten Ansturm.
Szymczak rief: »Also, Riesenknabe, jetzt geht es
los!«
Er gab ihm den Ball ab, und Ethelbert versuchte, die
gegnerische Abwehr zu durchbrechen. Mehrere Geg-
ner warfen sich ihm entgegen, und im Gewühl trat er
32
auf etwas, das aufbrüllte, dann setzte er den Lauf fort.
Ein flinker Spieler wollte ihm ein Bein stellen, aber
Ethelbert überrannte ihn. Einen zweiten Gegner packte
er mit der freien Hand und warf ihn zwölf Meter durch
die Luft. Dann trottete er über das Feld und brachte das
Leder ins Ziel.
Die Zuschauer tobten; Männer in weißen Kitteln
trugen auf einer Bahre den Spieler der ›Wildkatzen‹
vom Platz, auf den Ethelbert versehentlich getreten
hatte. Die ›Wölfe‹ machten ihre Sache von nun an sehr
gut; schließlich stand das Spiel 7:0. Die ›Wölfe‹ waren
siegessicher.
Beim nächsten Anstoß waren die ›Wildkatzen‹ so
demoralisiert, daß sie sich den Ball so lange unterein-
ander zuspielten, bis ein Spieler der ›Wölfe‹ über den
ganzen Platz lief und ihn an sich brachte. Die Chancen
der ›Wildkatzen‹ verringerten sich bis zur Aussichtslo-
sigkeit.
Einmal griffen sie wieder an, aber der Ball flog in
Ethelberts Nähe, und er fing ihn so sicher mit dem
Kopf auf, wie ein Elefant eine Erdnuß schnappt, und
trottete erneut vor. Mehrere Gegner befanden sich vor
ihm, aber keiner wagte sich nahe genug heran, um ihn
aufhalten zu können. Man hörte den Manager der
›Wildkatzen‹ schreien: »Stoppt ihn! Packt ihn!« Aber
niemand schien in der Lage zu sein oder Lust zu ver-
spüren. Die ›Wölfe‹ vergrößerten ihren Vorsprung.
Von diesem Augenblick an kam das Spiel ins
Stocken. Ethelbert sah die ›Wildkatzen‹ sich um ihren
Trainer scharen, schimpfen und aufgeregt gestikulie-
ren. Martin berichtete: »Sie sagen, sie wollen nicht
mehr spielen. Das Bein des Burschen, auf den du ge-
treten bist, sei völlig zerschmettert, George.«
»Ach je, das tut mir leid«, sagte Ethelbert.
33
Jetzt diskutierte Grogan mit dem Trainer und dem
Manager der ›Wildkatzen‹; alle ruderten heftig mit den
Armen.
»Sie wollen nicht!« schrie der ›Wildkatzen‹-
Manager.
»Was soll das, streiken sie etwa?« schnauzte Gro-
gan. »Ich dachte, Sie hätten Schlichtungsklauseln in
ihren Verträgen.«
»Wie soll ich mitten im Spiel so eine Angelegenheit
schlichten? Meine Leute machen nicht weiter, bis Sie
den Gorilla aus dem Spiel nehmen. Und ich kann es ih-
nen nicht verübeln. Sie sagen, sie müßten zum Aus-
gleich schon einen Wasserbüffel auf ihrer Seite haben.«
»Wollen Sie das Spiel aufgeben?«
»Es ist mir gleich, wie Sie es nennen …«
Der Schiedsrichter mischte sich ein. »Das können
Sie nicht tun! Die Zuschauer laufen Amok, wenn Sie
jetzt abbrechen. Wir müßten das Eintrittsgeld zurück-
zahlen. Sie verlieren Ihre Anhänger.«
»Und ich sage«, rief Grogan, »daß ich Ethelbert
nicht vom Platz nehme! Ich verzichte nicht, ich bestehe
auf meinem Recht!«
Die Diskussion wurde zu verworren, als daß Ethel-
bert sie länger hätte verfolgen können. Er kehrte mit
der Mannschaft zu den Bänken zurück und saß grin-
send auf seinem Platz, bis die Gruppe sich auflöste und
Grogan zu ihnen kam.
»Fertig, Jungs«, sagte er. »Ab unter die Dusche. Wir
bekommen Sieg und Geld, ohne noch dafür spielen zu
müssen.«
»Kann ich nun zur Anmeldung in das Chikago Art
Institute?« erkundigte sich Ethelbert.
»Sicher, sicher. Ich werde einen Termin für den
morgigen Nachmittag festmachen.«
34
»Gut. Mr. Grogan, muß ich weiter in dem alten stin-
kigen Transporter fahren? Wenn ich die Türe heraus-
nehme, habe ich neben dem Fahrer Platz, und seit heute
kennen mich die Leute doch …«
»Sicher, klar, nur halte mich jetzt nicht auf«
Ethelbert fand im Umkleideraum zahlreiche Repor-
ter und Fotografen vor.
»Mr. Ethelbert, wie kommen Sie mit den Leuten
aus?«
»Mr. Ethelbert, würden Sie bitte den Kopf ins Profil
drehen? Ich möchte die Stirn verewigen.«
»Sagen Sie, George, können Sie mit dem Telefon
umgehen?«
Und so weiter. Als sie fragten, was ihn außer Foot-
ball interessiere, fühlte er sich versucht, von seinem
bevorstehenden Kunststudium zu erzählen, aber er be-
fürchtete, sie könnten sich einen Spaß daraus machen,
und hielt den Mund. Im Umgang mit den Knirpsen
mußte man vorsichtig sein.
Ethelbert genoß den leichten Nieselregen während
der Rückfahrt nach Cicero auf dem Beifahrersitz des
Transporters, obwohl er die Beine bis unters Kinn an-
ziehen mußte. Das Fahrzeug neigte sich merklich zur
Seite. Als sie einmal in einem Schlammloch stecken-
blieben und ein ungeduldiger Taxifahrer Szymczak,
der am Steuer saß, zu beschimpfen begann, weil er ihm
den Weg versperrte, streckte sich Ethelbert aus und
grunzte den Taxifahrer vernehmlich an. Der Mann ver-
stummte und fuhr so schnell wie nur möglich in eine
andere Richtung.
In Szymczaks Haus bestand Ethelbert darauf, daß
man das Krankenhaus anrief, in das der verletzte
›Wildkatzen‹-Spieler eingeliefert worden war. Es stellte
sich heraus, daß der Knochenbruch nicht so schlimm
35
war wie zuerst angenommen. Er wollte dem verwunde-
ten Gegner sogar einen Besuch abstatten, aber Szymc-
zak riet davon ab.
»Nein, George, denk ein bißchen nach. Wenn du
hineinkommst, und er schaut auf und erkennt dich, er-
leidet er einen Schock.«
»Ihr Knirpse«, grollte Ethelbert, »glaubt alle, weil
ich etwas größer bin als ihr, besäße ich keine Gefühle.«
Er ließ sich in dem Zelt nieder, um auf seine Zwan-
zig-Kilo-Mahlzeit zu warten, und fragte sich, wieviel
Zeit er noch unter diesen provisorischen Verhältnissen
zubringen sollte. Obwohl auf ein hartes Leben einge-
stellt, hatte er in den Wochen, die er jetzt in Chikago
zubrachte, doch eine Vorliebe für die kleinen Erleich-
terungen der Zivilisation entwickelt. Möglicherweise
konnte er sich eines Tages ein eigens für seine Ausmaße
gebautes Haus leisten, mit entsprechendem Mobiliar.
Am nächsten Morgen rief er über Szymczaks Tele-
fon in Grogans Büro an. Zu diesem Zweck stellte er
sich von außen vor das Fenster. Szymczak wählte die
Nummer, weil Ethelberts Finger zu dick waren, und als
man im Büro abhob, reichte Szymczak ihm den Hörer
aus dem Fenster.
Grogans Sekretärin sagte: »Nein, George, Mr. Gro-
gan ist nicht hier. Er war es, aber jetzt ist er fort zu sei-
nem Anwalt. Ich glaube, es handelt sich um die Sit-
zung heute Nachmittag.«
»Welche Sitzung?« fragte Ethelbert, der den Hörer
zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
»Das wissen Sie nicht? Der geschäftsführende Aus-
schuß der National Football League tritt heute zusam-
men. Es geht um das gestrige Spiel.«
»Wie?« meinte Ethelbert und wiederholte die Aus-
kunft zu Szymczak.
36
Szymczak flüsterte: »Frag sie, ob es eine Sondersit-
zung ist.«
Die Sekretärin sagte: »Ja, das ist es. Eine ganze
Gruppe von Ausschußmitgliedern kam heute früh aus
Kalifornien geflogen. Das Spiel hat überall Schlagzei-
len gemacht.«
»Hat er nichts vom Termin beim Chikago Art Insti-
tute erwähnt?“
»Nein, nichts. Aber kurz nachdem er fort war, kam
ein Gerichtsvollzieher.“
»Warum?«
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist ihm eine
seiner Ehefrauen wieder auf die Spur gekommen.«
Szymczak schaute grimmig drein, als er davon er-
fuhr. »Sicher braut sich wieder etwas über ihm zu-
sammen. Er ist riesig verschuldet, und falls der Foot-
ball-Ausschuß dich ablehnen sollte, ist er am Ende.«
Ethelbert grollte: »Warum erzählen mir die Leute
von diesen Dingen nicht, bevor ich mit einem solchen
Burschen ins Geschäft komme? Was wird er tun?
Durchbrennen?«
»Kann sein. Fertig fürs Training? Ich hole den Wa-
gen.«
George trainierte an diesem Tag nur mit halber
Aufmerksamkeit, während er über Grogans Verhalten
nachdachte. Am Nachmittag rief ihn plötzlich der
Trainer.
»George!«
»Ja?«
»Komm bitte einmal her. Mr. Grogan möchte dich
sprechen.«
Der Tonfall des Trainers gab George Anlaß zu den
schlimmsten Befürchtungen, denen er sich hingab,
während er über den Platz trottete. Im Umkleideraum
37
traf er Grogan, der so unglücklich dreinblickte, wie er,
Ethelbert, sich fühlte.
»George«, sagte Grogan, »es ist mir peinlich, aber
der Ausschuß hat eine Entscheidung gefallt.«
»Wie?«
»Ja, sie haben neue Richtlinien vereinbart. Die Er-
zeugnisse des Huebner-Experiments werden nicht
mehr zu Football-Spielen zugelassen. Und um sicher
zu gehen, haben sie noch ein Gewichts-Limit gesetzt:
niemand über hundertfünfzig Kilo darf mehr auf den
Rasen.«
Ethelbert grunzte verächtlich.
Day rief: »Das können sie doch nicht machen, mit-
ten in der Saison!«
»Mag sein. Aber sie tun es. George, du kannst um-
sonst mit dem Transporter ins Reservat zurückfahren,
wenn du magst, sicher willst du, nicht wahr?«
Ethelbert runzelte mißbilligend die Stirn.
»Was ist mit meinem Kunststudium?«
»Aus ist es damit. Du kannst deinen Teil des Ver-
trages nicht einhalten, also bin ich nicht verpflichtet,
meine Zusage einzuhalten. Ich entlasse dich.«
Ethelbert schüttelte sein mächtiges Haupt.
»Ich erinnere mich sehr genau an den Vertrag, Mr.
Grogan, und er besagt, daß Sie mein Kunststudium
finanzieren, ob ich spielen darf oder nicht. Sie erinnern
sich, ich habe auf diese Abmachung bestanden.«
Grogan breitete die Arme aus. »Sei vernünftig,
George. Ich habe große Geldschwierigkeiten, und ohne
dich in der Truppe kann ich die Malerei nicht bezahlen.
Ich kann mir nichts aus den Rippen schneiden, ver-
stehst du.«
»Sie meinen«, dröhnte Ethelbert, »Sie wollen Ihren
Verpflichtungen nicht nachkommen und halten das für
38
eine gute Ausrede. Nun, du dreckige kleine Wanze, ich
könnte dir das Genick brechen, aber …«
»Hilfe!« Grogan versteckte sich hinter dem Trainer
und wühlte in der Jackentasche. »Keinen Schritt näher!
Bleib stehen oder ich mach dich kalt!«
Seine Hand hob eine kleine Pistole. Als Ethelbert
zögerte, tänzelte er seitwärts zur Tür und schlüpfte
hinaus. Ethelbert machte zwei eilige Schritte und blieb
im Türrahmen hängen.
Er schob sich in den Umkleideraum zurück, erschüt-
terte dabei das Gebäude bis auf die Grundmauern und
wandte sich Day zu.
Der Trainer erblaßte und wollte sich aus der anderen
Tür stürzen.
»Hab keine Angst vor mir«, röhrte Ethelbert. »Ich
bin nicht wütend auf dich.«
»Ich …«
»Ich weiß. Du glaubst, weil ich groß und häßlich
bin, eine Art von Gorilla, muß ich jetzt in Raserei ver-
fallen und euch die Köpfe einschlagen. Na gut, so
denkt ihr eben. Ich hielt dich für meinen Freund.«
»Es tut mir leid, George; du hast mich für einen Au-
genblick erschreckt. Was beabsichtigst du jetzt?«
»Keine Ahnung. Du weißt, welche Mengen ich es-
sen muß; dafür wird mein Geld nicht lange reichen.
Was macht man, wenn jemand seine Verpflichtungen
nicht einhält?«
»Ich ginge zu einem Rechtsanwalt und würde Klage
erheben.«
»Muß man da nicht sehr viel Geld aufbringen?«
»Gewöhnlich schon, aber einige Anwälte arbeiten
auch auf Erfolgsbasis. Wenn sie den Prozeß gewinnen,
erhalten sie ein Honorar; wenn nicht, bekommen sie
auch nichts.«
39
»Kennst du irgendwelche Anwälte?«
Day schloß für zwei Sekunden die Augen.
»Erwähne gegenüber Grogan nicht, daß ich dir gera-
ten habe; trotz allem, ich arbeite für ihn. Wenn du zu
Charlie MacAlpine gehst, unter dieser Anschrift, wird
er sich um die Sache kümmern. Nimm deinen Vertrag
mit.«
Ethelbert kehrte mit Szymczak zurück wie gewöhn-
lich, und am folgenden Morgen veranlaßte er ihn, zu
dem Anwalt zu fahren.
Als Ethelbert sich geduckt in das Büro des Anwalts
schob, schrie die Empfangsdame hinter dem Schalter
auf und fiel aus dem Sessel. Der Lärm lockte MacAl-
pine aus seinem Heiligtum – ein stämmiger, schläfrig
dreinblickender Mann mit einer dichten Haarmähne.
Der Anwalt versuchte die Frau zu beruhigen.
»Aber, aber, das ist doch bloß Mr. Ethelbert, der
sich telefonisch angemeldet hat. Kein Grund zur Sorge.
Kommen Sie in mein Zimmer, Mr. Ethelbert, und be-
richten Sie mir von Ihren Schwierigkeiten. Ich glaube,
Sie passen durch die Tür, wenn Sie seitwärts gehen.«
Nachdem Ethelbert seine Geschichte erzählt hatte,
sagte MacAlpine: »Gewöhnlich arbeite ich nicht auf
Erfolgsbasis; das ist etwas für Anfänger. Aber in die-
sem Fall bin ich einverstanden. Die Sache bringt mir
kostenlose Werbung, wie ich sie nie bezahlen konnte.«
Er grinste und kicherte.
Als sie den Vertrag durchgesprochen, ihre Absichten
und ihr Vorgehen diskutiert hatten, meinte MacAlpine:
»Also in Ordnung, ich formuliere noch heute den
Schriftsatz; morgen lege ich ihn sofort dem Gericht
vor.«
»Und was soll ich inzwischen tun?«
»Wie meinen Sie das?«
40
»Ich habe keinen Job oder dergleichen und kann mich
nicht länger von Bill Szymczak aushalten lassen. Und
Mr. Grogan wird mich den Transporter nicht mehr be-
nutzen lassen, wenn er erfährt, daß ich gegen ihn klage.«
»So ist das. Hören Sie, ich kenne einen Mann in der
Nähe, dem ich einmal einen Gefallen erwiesen habe, er
ist Manager eines Hotels. Bestimmt kann ich ihn über-
reden, Sie vorläufig aufzunehmen. Und ich sorge für
Ihre Verpflegung, bis Ihre Angelegenheit geregelt ist.«
»Ich weiß kaum, wie ich Ihnen danken soll, Mr.
MacAlpine.«
Beim Verlassen des Büros fühlte sich Ethelbert ver-
sucht, die junge Frau am Schalter um eine Verabre-
dung zu bitten, aber dann überlegte er es sich.
Während Ethelbert und der Anwalt über die Straße
gingen, bildeten sich kleine Gruppen von Gaffern, die
sich aber in respektvoller Entfernung hielten. Das war
ihm nicht angenehm, aber er konnte kaum etwas dage-
gen tun, ohne noch größeres Aufsehen zu erregen.
Im Elysian-Hotel schien der Manager nicht eben er-
freut über seinen Fünfhundert-Kilo-Gast und murmelte
etwas, wie daß seine Betten zusammenbrechen würden.
»Schon gut«, erklärte Ethelbert, »ich wüßte ohnehin
nicht, wie ich in einem Bett schlafen sollte. Ein paar
Matratzen auf dem Boden werden genügen.«
»Mr. Ethelbert«, meinte der Manager, »kann ich
mich darauf verlassen, daß Sie sich nicht in der Halle
aufhalten? Nicht, daß wir Ihre Art Leute diskriminieren
wollten, aber wenn sich jemand eintragen möchte und
sieht Sie, könnte er es sich anders überlegen.«
»Ich bleibe in meinem Zimmer, außer wenn ich zu
Mr. MacAlpine muß«, versicherte Ethelbert. »Ich kenne
mich in Chikago nicht gut genug aus, um in die Stadt
zu gehen; ich würde mich verirren.«
41
Am nächsten Morgen rief MacAlpine wieder an.
»Kommen Sie in mein Büro, George. Grogan und
sein Anwalt sind hierher unterwegs.«
Im Büro erklärte MacAlpine: »Es ist möglich, daß
sie sich außergerichtlich mit uns einigen wollen. Bleiben
Sie in meinem Zimmer und verhalten Sie sich ruhig,
was auch immer geschieht. Nachher sage ich Ihnen,
was los war.«
»Mr. MacAlpine«, meinte Ethelbert, »vielleicht bin
ich zu hart mit dem armen Mr. Grogan …«
»Unsinn! Grogan hat noch keinem armen Hund ei-
nen Teller Suppe gegeben, Sie brauchen ihn nicht be-
mitleiden.«
Ethelbert wartete im Arbeitszimmer und lauschte
den leisen Stimmen nebenan, bis MacAlpine eintrat.
»George, sie bieten Ihnen zwei Drittel der Studien-
kosten, wenn Sie die Klage zurückziehen. Zuerst ar-
gumentierten sie dahin, daß Sie kein Mensch waren,
aber ich konnte ein Dutzend ähnlicher Fälle anführen,
in denen anders entschieden wurde. Dann wollten sie
ein Viertel und dann die Hälfte zahlen, aber schließlich
hatte ich die besseren Argumente.«
»Und was raten Sie mir?«
»Ich halte es für vernünftig, das Angebot zu akzep-
tieren. Berücksichtigen Sie Grogans finanzielle Situati-
on. Ich befürchte, wenn wir auf der Gesamtforderung
bestehen, ist er bald ruiniert. Es wird davon gesprochen,
daß er beim Poker Fünfzigtausend an irgendeinen Gang-
ster verloren hat, der ihm nun auf den Pelz rückt.«
Ethelbert dachte nach. »Gut, Mr. MacAlpine. Was
soll ich jetzt tun?«
»Wir werden sehen.« MacAlpine begleitete Ethel-
bert ins Büro, wo er Grogan und dessen Anwalt die
Hände schüttelte; die beiden lächelten glasig. Grogan
42
sagte: »Wenn du bis morgen wartest, George, zahle ich
dich aus …«
»Warum nicht heute, Mr. Grogan?«
Grogan hob die Schultern. »Nun, ich muß mir das
Geld erst verschaffen …«
»Entschuldigen Sie, haben Sie kein Bankkonto? Sie
könnten einen Scheck ausstellen.«
»Nein, ich mag keine Konten. Ich erledige meine
Geschäfte bar.«
»Na schön, ich komme mit Ihnen, und Sie zahlen
mich aus.«
MacAlpine bemerkte: »Das scheint mir angemessen,
Mr. Grogan. Nach allem, was vorgefallen ist …«
»Na gut«, seufzte Grogan. »Sind wir jetzt fertig?«
MacAlpine sagte: »Ich glaube, George kann die Sa-
che jetzt selbst zu Ende bringen; in einer Stunde muß
ich beim Gericht sein. Gehen Sie mit ihm, George, und
halten Sie Verbindung mit mir.«
Auf der Straße verkündete Grogans Anwalt, daß er
ebenfalls noch zu tun habe, und verabschiedete sich
unter nochmaligem Händeschütteln.
Ethelbert fragte: »Wo wohnen Sie, Mr. Grogan?«
Grogan sagte es.
»Haben Sie den Transporter hier?«
Grogan verneinte kurz.
»Also, wie weit ist es? Wir können sicher zu Fuß
gehen.«
»Aber …«
»Kommen Sie, gehen Sie voran.«
Grogan gab auf und führte Ethelbert auf verschlun-
genen Wegen durch das Stadtzentrum. Endlich erreich-
ten sie ein kleines Hotel.
»Du wartest hier draußen«, sagte Grogan.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, warte ich in dem
43
Haus«, erwiderte Ethelbert. »Die Leute starren mich
auf der Straße so an.«
»All right.«
Grogan betrat die Halle, und Ethelbert folgte ihm;
das Madchen am Schalter verschluckte ihren Kau-
gummi. Grogan verschwand im Aufzug, und Ethelbert
begann zu warten.
Er wartete lange.
Schließlich erkundigte er sich beim Fahrstuhlführer:
»Sagen Sie, Mister, gibt es ein Telefon, mit dem ich
das Zimmer von Mr. Grogan erreichen kann?«
»Ja«, antwortete der Mann, sich ihm in vorsichtiger
Höflichkeit zuwendend. »Nehmen Sie den Hörer und
drücken Sie diesen Knopf hier.«
Ethelbert hielt den Hörer ans Ohr und drückte den
Knopf. Er drückte noch einmal. Nichts geschah.
»Ist das wirklich der richtige Knopf?« fragte er den
Fahrstuhlführer.
»Selbstverständlich«, meinte der Mann gekränkt.
Ethelbert unternahm noch einen erfolglosen Ver-
such und sagte dann: »Können Sie mich in das Stock-
werk befördern, in dem Mr. Grogan wohnt?«
»Uff! Ich bezweifle, daß der Aufzug ein so großes
Gewicht aushält.«
»Wieviel trägt er?«
»Acht Personen.«
»Ich wiege nur soviel wie sechs Knirpse, also fahren
Sie mich hinauf.«
Als Ethelbert in dem Kasten hockte, versuchte der
Fahrstuhlführer einen schwachen Protest. »Es ist ja
kein Platz mehr für mich.«
»Das macht nichts; Sie können Ihr kleines Knöpf-
chen noch drücken. Und jetzt schicken Sie mich rauf!«
Vor Grogans Tür klingelte George ergebnislos. Er
44
rief den Mann beim Namen und klopfte. Keine Ant-
wort. Schließlich trat er einen Schritt zurück und ver-
setzte der Tür einen kräftigen Schlag. Das Holz zer-
splitterte, die Tür flog auf.
Die Räume zeigten alle Spuren einer eiligen Flucht.
Ethelbert überzeugte sich, daß Grogan nicht anwesend
war und kehrte zurück zum Aufzug.
»Haben Sie ein Telefon für Gespräche nach drau-
ßen?«
»Klar«, antwortete der Fahrstuhlführer, »in der
Halle.«
»Haben Sie Mr. Grogan nicht gesehen, seit er zu-
rückkam?«
»Nein.«
»Gibt es einen anderen Ausgang? Eine Hintertreppe
oder dergleichen?«
»Nein. Nur den Aufzug und die Treppe dort.«
Vom Schalter aus rief Ethelbert den Trainingsplatz
an und bekam Day an den Apparat. Er berichtete ihm
von den Geschehnissen.
»Und jetzt ist der Bursche verschwunden. Was
glaubst du, was er nun anstellt.?«
»Ich habe den Verdacht, daß er mit der Kasse ab-
gehauen ist. Ich habe schon immer gefürchtet, daß er
dies Ding drehen könnte, wenn ihm der Boden zu heiß
wird. Bleib dort und sieh dich nach ihm um, ich komme
sofort mit der Polizei und einem Haftbefehl.«
Sich selbst überlassen, überlegte Ethelbert, ob er das
Hotel durchsuchen solle, aber er verwarf diese Absicht;
wie er wußte, durfte man nur in anderer Leute Woh-
nung eindringen, wenn man Polizist war oder etwas
ähnliches. Außerdem konnte Grogan vielleicht durch
die Halle aus dem Haus entwischen, während er ihn in
den oberen Stockwerken suchte.
45
Er wartete vor dem Eingang, als ein Motorenge-
räusch hoch über der Straße ihn aufblicken ließ; es war
ein Hubschrauber, der das Haus ansteuerte, vor dem
Ethelbert stand. Sofort wurde ihm klar, wo Grogan
sich befand. Er stürzte in den Aufzug und trat dabei
fast einen Hotelbewohner, der seinen Hund ausfuhren
wollte. Das Tier kläffte und wickelte seine Leine um
die Beine seines Besitzers, während Ethelbert sich im
Aufzug zurechtschob und schrie: »Ins oberste Stock-
werk, du!«
»Nun«, sagte er, als sie durch die oberste Tür des
Schachts traten, »wie gelangt man auf das Dach?«
»Durch … durch die Luke dort«, stammelte der
Fahrstuhlführer.
Die Luke war nicht verschlossen, aber zu eng für
Ethelbert; er zwängte sich hindurch, wobei er den
Rahmen mit sich riß. Der Hubschrauber schwebte dicht
über dem Dach, und Grogan reichte dem Piloten gerade
einen Koffer in die Maschine.
»Halt!« brüllte Ethelbert, der gegen den Wind der
Rotorblätter ankämpfte.
Grogan schwang sich wie ein erschrockenes Äff-
chen über die Sprossen. Die Tür der Maschine schloß
sich, und der Hubschrauber begann zu steigen.
Rasend vor Wut blickte Ethelbert um sich, einen
Weg suchend, die Maschine aufzuhalten. Auf dem
Dach befanden sich keinerlei Gegenstände. Nur das
eiserne Oberteil eines Schornsteins befand sich in
Reichweite.
Ethelbert packte den Schornstein mit beiden Händen
und grunzte. Mit einem scharfen Krachen brach der
Schornstein ab, und Ethelbert schleuderte die schwere
Röhre gegen das Haupttriebwerk.
Das Geschoß zerschmetterte mit einem furchtbaren
46
Geräusch die Rotorblätter; der Hubschrauber sank her-
ab und prallte scheppernd auf das Dach, wobei sein
Landegestell unter ihm zusammenbrach. Beim Auf-
schlag wurde Grogan mit seinem Koffer herausge-
schleudert. Der Koffer sprang auf, heraus flogen Hem-
den, Socken und eine Anzahl dicker Bündel von Geld-
scheinen, die von Gummibändern zusammengehalten
wurden. Grogan selbst überschlug sich, raffte sich auf
und lief zum Rand des Gebäudes.
Ethelbert folgte ihm. An dem niedrigen Geländer,
welches das Dach umgab, zögerte Grogan; er blickte
den Abgrund von zehn Stockwerken hinab, sah dann
Ethelbert an – und sprang.
Ethelbert, schon zur Stelle, streckte den langen Arm
aus und erwischte Grogan am Knöchel. Er hob ihn auf
das Dach zurück und grunzte: »Sie Narr, ich wollte
Ihnen nichts tun.«
»Sie«, sagte eine andere Stimme. Es war der Pilot
des Hubschraubers, der aus dem Wrack stolperte.
»Was fällt Ihnen ein? Was ist los? Ich wollte den Mann
gerade zum Flughafen bringen, wie er telefonisch be-
stellt hatte …«
»Halt dich da raus, Bruder«, meinte Ethelbert. »Dein
Passagier ist ein krimineller Betrüger oder so etwas.«
»Kein Grund, die Maschine zu ruinieren. Du wirst
deswegen noch vom Victory Air Cab Service hören …«
Sie stritten sich noch, als Day mit einem Polizisten
auf das Dach stieg.
Drei Tage später saß George Ethelbert im Gerichts-
saal, um in der Sache gegen Oliver Grogan wegen
Veruntreuung der Vereinsgelder auszusagen. Grogan,
der ein wenig kränklich aussah, wurde eingelassen.
Während sie auf den Gerichtshof warteten, rief Grogan
zu Ethelbert hinüber.
47
»George!«
»Ja, Mr. Grogan?«
»Ich danke dir, daß du mir das Leben gerettet hast.«
»Macht nichts, war halb so schlimm.«
»Sicher. Ich habe nachgedacht und gemerkt, daß es
ein schöner Blödsinn war, sich wegen ein paar Geld-
sorgen umzubringen.«
»Klar«, sagte Ethelbert.
»Und du brauchst auch nicht gegen mich aussagen.
Ich werde mich in jeder Hinsicht schuldig bekennen.«
»Was?«
»Ja, ich habe nachgedacht. Meinen Ex-Frauen,
Gläubigern und Spielschulden zu entwischen, ist der
Knast der beste Ort. Gehst du zurück nach Oklahoma?«
»Ich? Nein, ich bin jetzt Polizist!«
»Was!« kreischte Grogan.
»Ja. Als ich dem Sergeanten erzählte, wie ich Sie
geschnappt habe, meinte er, das sei ordentliche Arbeit,
und er sagte es dem Leutnant weiter, und der verpflich-
tete mich als Polizeianwärter. Heute früh habe ich die
Aufnahmeprüfung bestanden, und ab morgen besuche
ich die Polizeischule.«
»Ich … das …«
»Ja, jetzt geht es los. Ist das nicht prächtig? Im
nächsten Monat, wenn das neue Semester beim Chika-
go Art Institute anfängt, kann ich in der Freizeit mein
Studium beginnen. Der Leutnant meinte, wenn bekannt
wird, daß ich jetzt Polizeidienst mache, würde das
womöglich die Kriminalität in Chikago ein für allemal
ausrotten.«
48
Der haarlose Affe
49
Earnest A. Hooton
Apologie der menschlichen Physis
Seine Nacktheit
50
um das überflüssige und sich verwirrende Haar an Ge-
sicht und Kopf loszuwerden, gezwungen, viele Appa-
rate zum Entfernen, Schneiden und Rasieren zu erfin-
den. Der erwachsene männliche Weiße hat einige Jahr-
tausende lang unglücklich experimentiert; von einem
Stück Feuerstein bis zu einem elektrischen Rasenmä-
her hat er alles ausprobiert, um sein Gesicht von der
struppigen Verlegenheit zu säubern, ohne sich dabei
abzuhäuten. Jeden Morgen opfert er sich zehn Minuten
lang auf dem Altar des Evolutionsleerlaufs, bis er im
Alter von 3 mal 20 plus 10 den vollen Tribut von etwa
3047 Leidensstunden gezahlt hat – eine, wenn auch
selbstauferlegte, physische Tortur; als Kunde eines
Friseurs eine physische und geistige. Und in dieser er-
schütternden Gesamtsumme ist das Haarschneiden
nicht einmal inbegriffen. Wahrscheinlich sind die mei-
sten modernen Theorien zur Erklärung der Launen des
menschlichen Haarwuchses von Wissenschaftlern wäh-
rend ihrer morgendlichen Rasur entwickelt worden.
Summarisch übergehen können wir die naive Annahme,
daß Teile des Körpers durch die Reibung der Kleidung
von Haar entblößt worden sind. Das geringste Ausmaß
von Körperhaarwuchs findet sich einerseits bei Neger-
stämmen, die seit vermutlich mindestens 30000 Jahren
nackt gingen, und andererseits bei Mongolenstämmen,
die sich für den längsten Teil des Winters einnähten.
Den Ursprung der Vermutung, die menschliche Haar-
losigkeit sei in den Tropen entstanden, um den Men-
schen in die Lage zu versetzen, sich von den äußeren
Parasiten zu befreien, die man gewöhnlich Läuse
nennt, rufe ich nicht in die Erinnerung zurück. Es muß
nur angemerkt werden, daß, falls dies der Fall war, das
Vorhaben der Evolution einzigartig erfolglos blieb.
51
Sein Körperbau und seine Haltung
52
Lester del Rey
Der Abtrünnige
53
nahm er die Unterhaltung mit dumpfer und langsamer
Stimme wieder auf, wobei er die Konsonanten
manchmal verdrehte; aber sein Englisch, gegen das sie
ihre eigene primitive, wenig ausdrucksfähige Sprache
so glücklich eingetauscht hatten, war nicht schlechter
als der Slang, der in manchen Großstadtvierteln ge-
sprochen wird. »Es war, glaube ich, vor etwa fünfzig
Jahren, als wir uns entschlossen, hierherzukommen
und ein Dorf weit weg von allen menschlichen Stäm-
men zu errichten; vorher hatten wir ungefähr hundert
Jahre lang versucht, von ihnen zu lernen, aber alles,
was sie uns zeigten, waren Haß, Furcht und der
Wunsch, uns zu töten und aufzufressen. So gaben wir
es als hoffnungslos auf; je mehr wir uns bemühten,
desto mehr Angst bekamen sie vor uns. Und der eine
weiße Mann, den wir getroffen haben, bevor du kamst,
war nicht gerade freundlich; er hatte einige aus unse-
rem Stamm getötet, was uns zwang, ihn und seine
Gruppe zu beseitigen. Darüber hinaus geben unser Ge-
dächtnis und unsere dürftige Sprache keinen Anhalts-
punkt. Sind diese Mutationen wirklich häufig, Lane?«
»Ja, tatsächlich, obwohl ich glaube, daß sie in einem
entweder-oder-Verhältnis auftreten, Ajub; es ist reiner
Zufall, wenn eine Mutation so brauchbar und dominant
ist, daß sie sich weiter entwickeln kann.« Lane langte
nach dem Korb mit den Trockenfrüchten. Einer der
Gorillas reichte ihn herüber und zupfte vorsichtig ein
Insekt vom Hemd des Mannes. »Es müssen sich eine
Menge Mutationen im Stamm herumgetrieben haben,
bis sie sich in dem einen Abkömmling konzentrierten,
der seine Andersartigkeit vererbte und durch seine
Kinder die Kombination weiterverbreitete. Selbst dann
ist es schwer zu fassen, wie ihr euch aus einer Herde
wilder Tiere, wie es die anderen Gorillas sind, in weni-
54
ger als fünfhundert Jahren in eine Rasse verwandelt
habt, die mindestens so intelligent ist wie der Mensch.
Ich wollte, ich wüßte mehr über das Thema Mutatio-
nen.«
»Wir können nur von Glück reden, daß du über so
viele Dinge so viel weißt. Früher tasteten wir blind
nach Wahrheiten, ohne auch nur die Gesetze der Natur
zu erkennen, aber jetzt sind wir vielleicht fähig, zu ge-
gebener Zeit auf deinem Wissen aufzubauen – hier, mit
diesen ungeübten Händen kann ich es nicht besser ma-
chen.« Der Häuptling gab die Shorts zurück, und seine
Worte verhehlten nichts von dem Stolz, daß er es über-
haupt geschafft hatte. Während die jüngeren Stam-
mesmitglieder erstaunliche Geschicklichkeit zeigten,
sogar beim Erledigen eines guten Stils beim Schreiben,
faßten die Älteren schwierige Arbeit zwar mit großer
Entschlossenheit, aber mit wenig Geschick an. »Wenn
du dein Abendbrot haben willst, sollten wir lieber die
Jagd beginnen. Worauf hast du Appetit?«
Lane überlegte. »Ich glaube, Antilope; ein gut gerö-
stetes Antilopensteak wäre prima. Aber gebt auf die
Raubkatzen acht.«
Er grinste auf Ajubs Grunzen hin und beobachtete
die schweren Affen, wie sie hinter ihrem Führer her-
gingen, einige mit Bogen von zweihundert Pfund
Spannkraft, andere mit Lanzen und Speeren bewaffnet,
wie Lane sie kürzlich zu fabrizieren und zu gebrauchen
gelehrt hatte. Ajub trug einen Speer, und der Mensch
war sich durchaus bewußt, daß die Löwen gegen eine
solche Kombination von Waffen, Intelligenz und Mus-
keln wenig Chancen haben würden. Er hatte den
Häuptling den Zwölfpfundspeer fast hundertfünfzig
Meter weit schleudern sehen, der dann einen ausge-
wachsenen Löwen sauber durchbohrte und auf der an-
55
deren Seite an die Erde geheftet hatte. Die Antilopen-
steaks zum Abendessen waren ihm sicher. Lane selbst
war bei einer Jagd nutzlos, da er zu schwach und unge-
schickt war. So blieb er, wo er war, hockte bequem im
Sonnenlicht und tauschte Grüße mit den wenigen Af-
fen, die an der Tür der Hütte vorbeikamen. Gelegent-
lich rief er Anweisungen zu Ajubs jüngster Frau hin-
über, als sie begann, Korn in einem Mörser zu zer-
stampfen. Ein wenig abseits konnte er eine Gruppe von
Bullen mittleren Alters bei der Arbeit sehen, die lang-
sam zwei schwere hölzerne Räder für einen neuen Wa-
gen schnitzten und ausbrannten, und er wünschte kurz,
er könnte irgendwo eine Eisenerz-Ader ausfindig ma-
chen, um ihnen bessere Werkzeuge zu verschaffen.
Dennoch machten sie die mangelnde Qualität der In-
strumente durch ihre Muskeln beinahe wett. Ihm ge-
genüber errichtete ein anderer junger Bulle mühsam
ein solides Blockhaus aus Palisaden, um einem jungen
Weibchen zu beweisen, daß er einen guten Gatten ab-
geben würde. Lane lehnte sich träge gegen den Tür-
rahmen zurück und kaute sonnengetrocknete Früchte.
Die alten Tage waren dahin; das Image des Play-
boys, der schmutzige Scheidungsprozeß, durch den
Linda ihn geführt hatte, die trunkene Orgie der Ver-
geßlichkeit waren allesamt Teil einer entlegenen Ver-
gangenheit. Er war dort eine Niete gewesen, wie er es
auf der verrückten Jagdexpedition in dieses Land ge-
wesen war und mit der noch verrückteren Idee, die Le-
genden der Eingeborenen, die von den »wilden Men-
schen der Wälder« handelten, ohne die Hilfe erfahrener
Führer zur Strecke zu bringen. Er war solch ein
Dummkopf gewesen. Die einzige Antwort, die er auf
die abergläubischen Ängste seiner Träger gegeben hatte,
war das Versprechen gewesen, sie würden nachher
56
mehr Geld bekommen. Nun, er wurde eines Besseren
belehrt, als er aufwachte und sich allein fand, nur sein
Gewehr mit zwei elenden Patronen neben sich.
Dieser Harvey Lane war jetzt tot; er war gestorben,
während er im Fieber weitergestolpert war, das ihn in
das kleine Dorf der Gorillas geführt hatte, die ihn ge-
pflegt und geheilt hatten, bevor sein Fieberwahn vorbei
war und er bemerken konnte, daß sie anders waren als
gewöhnliche Affen. Hier war Harvey Lane nun sogar
bedeutender als der Häuptling, er war der Lehrer für
jung und alt, die alle begierig lernen wollten, wohnte in
der eigenen Hütte des Häuptlings und wurde vom
Speer des Häuptlings ernährt. Vom frühen Morgen bis
zum Nachmittag lehrte er sie alles was er wußte, und
von da an faulenzte er oder tat, was ihm gerade einfiel.
Das Dorf stand zu seiner Verfügung, und der jämmer-
liche Versager war zum Hohepriester des Wissens ge-
worden, der sagen konnte, daß die Sterne andere Son-
nen waren und der Staub unter ihren Füßen aus unzäh-
ligen Atomen bestand.
Der kleine Tama betrat den Platz und unterbrach
Lanes Träumerei, indem er auf die Hütte zustürzte; er
zog eine schwere Kiste hinter sich her. »Lehrer!«
»Jetzt nicht, Tama. Die Schule ist vorbei. Ich werde
dir morgen wieder von den Keimen erzählen. Geh jetzt
spielen.« Seine größte Sorge war, ihren begierigen
Geist irgendwie in vernünftigen Grenzen zu halten –
was zu den Problemen der meisten Lehrer, die er ge-
kannt hatte, ganz im Gegensatz stand.
Aber Tama war diesmal nicht bereit, sich abweisen
zu lassen. Er zappelte nervös, unglücklich darüber, sei-
nem Orakel ungehorsam zu sein, aber erfüllt von der
Wichtigkeit dessen, was er zu sagen hatte. »Lehrer, ich
habe etwas gefunden! Ich glaube, es ist voller Bücher!«
57
»Wie?« Das einzige Buch im Dorf war ein schmales
Erste-Hilfe-Handbuch, das er bei sich gehabt hatte und
das vom vielen Anfassen beinahe unbrauchbar gewor-
den war, »Wo, Tama?«
»In dieser Kiste.« Der junge Affe riß einige der
Bretter weiter auf, zeigte auf den Inhalt, und während
Lane das Objekt zu sich in die Hütte zog und unter-
suchte, sprang er aufgeregt hin und her. Es war eine
schwere Holzkiste, offensichtlich aus der Außenwelt,
nach den Buchstaben zu urteilen, die an den Seiten
aufgedruckt und jetzt unleserlich waren.
Schnell wies er Tama an, den Deckel ganz abzurei-
ßen. Sein Blick fiel hinunter auf die regelmäßige Reihe
von Gegenständen, die sich ihm enthüllte. »Encyclo-
pedia Britannica! Mein Gott, Tama, es sind Bücher; es
ist die Sammlung des gesamten menschlichen Wissens.
Wo hast Du das gefunden?«
»Ein toter schwarzer Mann kam den Fluß hinunter
in einem Boot wie die, die vor zwei Monaten herauf-
gekommen sind. Ich dachte, du würdest es gern haben,
Lehrer, also bin ich hinausgeschwommen und habe es
an Land gezogen.« Sein Blick schnellte hoch und Lane
nickte kurz anerkennend, weil er ihre Abneigung ge-
gen das Wasser kannte. »Die Bücher waren in dem
Boot, unter dem schwarzen Mann; ich habe ihn weg-
geworfen und die Kiste zu dir gebracht.«
In Afrika ist nichts überraschend; Lane hatte Häupt-
linge gesehen, die Wecker auf dem Kopf als Kronen
trugen, hatte andere mit Oxford-Akzent getroffen und
aufgehört, sich über ihre Eigenarten zu wundern;
wahrscheinlich hatte einer die Encyclopedia angefor-
dert, um sie sich dann gleich bei einer Safari von ein
paar Weißen wieder stehlen zu lassen. Was immer ihre
Herkunft war, er war nur betroffen über den einzigarti-
58
gen glücklichen Zufall, der sie den Strom hinunterge-
bracht und Klein-Tama ausgesandt hatte, sie abzufan-
gen. Hier war sie der Schatz aller Schätze.
»Guter Junge, Tama; Ajub persönlich wird dir dafür
einen Speer geben, und ich will einen Monat lang all
deine Fragen beantworten. War sonst noch etwas in
dem Kanu?«
»Ein paar Sachen, Lehrer. Das Boot liegt am Fluß-
ufer, falls du es sehen willst.«
Lane nickte und folgte dem vergnügten und aufge-
regten kleinen Affen durch das Dorf zum Fluß hinun-
ter. Er nickte den Wachtposten zu, bekam ein Grunzen
zur Antwort, das ihm mitteilte, der Flußpfad sei sicher,
und ging weiter. Er hob einen Kinderspeer auf, der
leicht genug für ihn zu handhaben war. Normalerweise
wurde der Fluß nicht befahren, aber gelegentlich glit-
ten ein oder mehrere Kanus mit Eingeborenen flußauf-
oder abwärts. Immer hatten sie es sehr eilig, um aus
diesem Gebiet herauszukommen, das in ihrem Aber-
glauben so düster dargestellt wurde; die Affen vermie-
den es dann, sich zu zeigen, oder bemühten sich, als
die primitiven Tiere zu erscheinen, die sie dem Augen-
schein nach waren.
Tama, überlegte er, mußte die Anordnung mißachtet
haben, als er sich herausschlich, um den Fluß zu beo-
bachten, während die Wachtposten von ihren Außen-
posten einige Meilen flußaufwärts informiert waren,
daß ein Kanu kam. Aber er sagte nichts zu dem Affen-
kind, während sie den Pfad entlang trotteten. Er ver-
suchte sich den Gesichtsausdruck des Häuptlings vor-
zustellen, wenn er zurückkehrte und die komplette
Reihe von Lexika vorfand, die ihn erwartete. Lane hatte
solche Bücher früher oft genug erwähnt, wenn sein
kleiner Fundus an Allgemeinwissen erschöpft war.
59
Dann endete der kurze Pfad, und Tama rannte schnell
voraus, um das Kanu weiter auf den Strand zu ziehen.
»Schau, Lehrer. Ich habe nur den schwarzen Mann
und die Kiste weggebracht.«
Zum größten Teil war der Inhalt solches Gerümpel,
wie irgendein Eingeborener es sich angeeignet haben
könnte: ein paar billige Glasperlen, ein kleines Häuf-
chen faulender Lebensmittel, die Lane hastig in den
Fluß warf. Darunter lag der bunte, schmutzige Schuh
einer weißen Frau; Größe drei, zu klein für eine Einge-
borene! Er hob ihn langsam auf und drehte ihn unwil-
lig in seiner Hand, ohne auf Tamas fragendes Geplap-
per zu hören. Ein alberner, kleiner, goldener Tanz-
schuh, Größe drei, verlorengegangen auf diesem wil-
den Kontinent, der die ganze leichtsinnige Verrücktheit
der Frau noch an sich hatte, die ihn einst getragen ha-
ben mußte. Eine kleine, geschmeidige Frau, wahr-
scheinlich jung, die einen zehfreien Schuh mit spitzem,
hohem Absatz trug, in irgendeiner belebten Stadt lachte
und tanzte, trank, flirtete und schwatzte, wie Linda
damals in New York, als er dumm genug gewesen war
zu glauben, sie liebe ihn und nicht das Vermögen, das
sein Vater ihm hinterlassen hatte.
Einen Augenblick, während er den Schuh in Händen
hielt, glaubte er, daß noch Spuren eines schwachen
weiblichen Parfüms über dem stinkenden Geruch des
Kanus an ihm abglitt. Die Illusion schwand, aber Erin-
nerungen ergriffen ihn und blieben auch, als der Schuh
ihm aus der Hand fiel, mit der Strömung des Wassers
abtrieb und langsam sank. Mädchen, Frauen, Clubs,
Tanz, Parties – der Rhythmus einer Jazz-Band, das
Gelächter einer Menschenmenge, die Erregung des
Neujahrsabends auf dem Times Square, Madison
Square Garden – das spöttische Gesichtabwenden eines
60
Mädchens, um einem Kuß auszuweichen, den sie spä-
ter willig gewähren wird; das Rascheln von Seide und
die weichen Konturen eines weiblichen Rückens im
Abendkleid; das Geräusch eines Lachens aus dem Ba-
dezimmer, während er auf sie wartete; der rasche
Blick, den zwei Menschen über einem Drink wechseln
konnten, wenn sie an einer Bar saßen! Frauen, Pferde-
rennen, Gelächter, Musik – der rein menschliche Teil
der Zivilisation!
»Lehrer?« Tamas Stimme klang verlegen, und er
zupfte unsicher den Mann am Ärmel.
Lane richtete sich auf, wischte sich die albernen
Tränen aus den Augen und versuchte vergeblich, den
Schmerz, der ihn durchlief, abzutöten. Er wußte, er
konnte es nicht. »Es ist gut, Tama.«
Aber er wußte, daß es nicht gut war. Er wußte es
schon, bevor seine Füße ihn vorwärtstrugen und seine
Arme nach dem Bug des Kanus griffen, das zu schwer
für ihn war, um es zu bewegen. Tama sah seine An-
strengung, und der junge Affe sprang hinzu, nur zu
glücklich, ihm auf irgendeine Weise helfen zu können.
Das Boot rutschte und glitt in den Fluß, während Lanes
Füße sich über die Bootswand schwangen und er sich
darin niederließ, das Gesicht flußabwärts gerichtet und
mit den Händen unbewußt nach dem Paddel greifend.
Tama machte Anstalten, hineinzuklettern, aber er
schüttelte rasch den Kopf »Nein, Tama.«
»Warum nicht, Lehrer?«
»Weil ich fortgehe, Tama, und du kannst nicht dort-
hin, wo ich hin muß. Sag Ajub, daß die Bücher ihm
besser nützen können, als ich es könnte, und daß ich zu
meinem Volk zurückgekehrt bin! Auf Wiedersehen,
Tama.«
»Lehrer! Geh nicht! Komm zurück!« Es war ein
61
qualvolles Jammern, während das Affenkind am Ufer
auf- und absprang, aber das Boot glitt fort und war
schon außer Reichweite. Lane seufzte leise, blickte
zurück und winkte zur Flußbiegung hin, bevor er die
vertrauten Grenzsteine aus den Augen verlor. Aber
hinter sich hörte er immer noch das Wellklagen des
Affen. »Lehrer, komm zurück! Geh nicht fort, Lehrer!
Komm zurück!«
Diese Laute schienen Lane während der kurzen Zeit,
als um ihn noch Tag war, zu jagen; dann verschwan-
den sie in der Dschungelnacht, überdeckt von den
Schreien der großen Raubkatzen und dem ständigen
Gemurmel des Stroms. Seine Schultern schmerzten
unerträglich, während er ununterbrochen das Paddel
bewegte, um das Kanu vorwärts zu treiben. Sein Ma-
gen war leer, aber das kam ihm nicht zu Bewußtsein.
Er stieß sich rudernd vorwärts, spürte weder Müdigkeit
noch Hunger. Im Augenblick war ihm nichts anderes
bewußt als der Gefühlstumult in seinem Inneren.
Irgendwo mußte der Fluß in einen See oder ins
Meer münden, und davor würden Weiße auftauchen.
Afrika war keineswegs vollständig erforscht, aber die
Weißen waren dennoch überall, außer an solch ver-
streuten, unbedeutenden und wenig einladenden klei-
nen Orten wie dem, den der Stamm sich ausgesucht
hatte. Die Weißen mochten einige hundert oder tau-
send Meilen weit weg sein, aber der Strom floß ihnen
entgegen. Er trug ihn ungefähr siebzig Meilen pro Tag
voran, den Antrieb seines Paddelns einbegriffen.
Einmal stoppte er, um sich dem Ufer zu nähern und
eine offenere Strecke ausfindig zu machen, wo ein
kleiner Ruß in den größeren mündete. Dort lehnte er
sich hinaus und stillte seinen Durst, wobei er nach dem
niedrigen Ast eines Baumes griff, um das Kanu stillzu-
62
halten. Zweimal hingen Früchte über dem Wasser, von
denen er einige Hände voll einsammelte und vor sich
lagerte. Er bedauerte die Zeit, die das Essen in An-
spruch nahm und fuhr weiter.
Er paddelte immer noch weiter, als die Sonne wie-
der aufging, die die Schreie der Raubtiere zum Ver-
stummen brachte und die Luft mit Leben erfüllte. Er aß
hastig von den Früchten und trank noch einmal von
dem nicht allzu sauberen Wasser. Knapp konnte er
dem Lager einer Schlange ausweichen, die auf einen
Zweig gekrochen war, und nahm das Paddel auf, um
weiterzukommen. Ein Krokodil öffnete seinen Rachen
und schnappte nur Zentimeter an seinem Paddel vorbei,
aber er sah es kaum.
Dennoch ließ sich die Müdigkeit nicht auf immer
vermeiden oder verleugnen, und er war schließlich ge-
zwungen, sein Paddel einzuziehen, damit es nicht aus
seinen steifen Fingern über Bord fiel. Er glitt ins Boot
hinunter und ließ sich vom Schlaf überwältigen. Er
wachte nur in unregelmäßigen Abständen auf, wenn
das Boot in die stillen Untiefen entlang dem Ufer trieb.
Dann brachte er es wieder in den Hauptstrom und
kehrte zu seinen verrückten Träumen zurück. Sogar im
Schlaf war er völlig besessen von seinem Vorwärts-
trieb.
Es kam die zweite Nacht, und monoton hob und
senkte sich sein Paddel, bis sie dem Tag wich und Hitze
und Müdigkeit ihn zwangen, wieder aufzuhören. Und
es war in der dritten Nacht, als der kleine Fluß sich zu
einem größeren Strom erweiterte. In der Nähe der
Einmündung war eine Ansammlung von Eingebore-
nenhütten. Einige Männer sahen ihn und riefen, aber es
gab in ihrer Nähe kein Anzeichen von Weißen, und er
hob einmal das Paddel aus dem Wasser und tauchte es
63
dann wieder hinein und ließ sich über den Geruch des
Dorfes hinaustreiben. Schließlich erreichte er besiedel-
tes Land, und irgendwo in der Nähe mußten Weiße
sein.
An diesem Tag paddelte er ungeachtet seiner Mü-
digkeit weiter, am Ufer sah er andere Dörfer liegen.
Einmal stieß ein Kanu vom Ufer ab, kehrte aber nach
kurzer Verfolgung zurück, ob nun in freundlicher oder
anderer Absicht. Der Häuptling hatte einen hohen Hut
aufgehabt und es gab keinen Zweifel mehr an der Nähe
von Lanes eigenen Leuten! Schlaff saß er Stunde um
Stunde am Ruder und hielt nicht einmal an, um das
schmutzige Wasser zu trinken; sein Vorrat an Früchten
war erschöpft, aber anderes war nicht zur Hand, so
verdrängte er den Hunger. Jede weitere Stunde konnte
ihn zu einer Siedlung bringen.
Der Gestank eines anderen Dorfes war vorbeigezo-
gen, als er das klatschende Geräusch vieler Paddel hin-
ter sich hörte; er sah sich um und sah drei Boote auf
dem Fluß. In jedem waren ungefähr zwanzig Männer,
die, als er sich umschaute, irgend etwas in einer an
Lippenlauten reichen Eingeborenensprache schrien.
Was für eine Nachricht es auch war, sie klang alles
andere als. freundlich, und er spornte sich zu neuen
Anstrengungen an, um sie abzuschütteln. Sogar in
halbzivilisierten Teilen Afrikas konnte ein einsamer
weißer Mann mehr seiner möglichen Besitztümer als
der Zivilisation wegen geschätzt werden, die seine
Rasse ungebeten mitgebracht hatte.
Die Paddelschläge hinter ihm kamen näher, und er
wußte, daß er gegen ihre gut bemannten Boote keine
Chance hatte. Aber es gab noch eine gewisse Hoff-
nung, daß er über die Distanz hinausgelangte, über die
sie nicht bereit waren, die Verfolgung fortzusetzen.
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Dann schoß ein kurzer Speer mit einer langen, einge-
kerbten Eisenspitze wenige Zentimeter an seiner
Schulter vorbei. Augenscheinlich warteten sie ab, um
zu sehen, ob er ein Gewehr ergreifen und ihren Angriff
abwehren würde. Als er keinerlei Anstalten dazu
machte, faßten sie Mut. Weitere Speere begannen in
seine Richtung zu fliegen. Einer traf das Heck des Ka-
nus, blieb zitternd stecken und wirbelte ihn eine halbe
Drehung auf dem Fluß herum. Er biß die Zähne zu-
sammen, beugte sich tief hinunter und warf seine mü-
den Schultermuskeln gegen das Paddel. Er fragte sich,
ob der Kannibalismus gänzlich ausgestorben war.
Wenn nur irgendwo ein Weißer auftauchen würde!
Oder ein anderes Dorf, zu dem er abbiegen könnte auf
die Möglichkeit hin, daß die Bewohner ihm freund-
schaftlich begegneten! Vor ihm blieb der Fluß leer.
Sie hatten aufgehört, Speere zu werfen. Wahrschein-
lich warteten sie, bis sie näherkamen, um bessere
Treffchancen zu haben. Er warf einen kurzen Blick
nach hinten und sah im Bug jeden Kanus einen Mann
mit erhobenem Speer stehen. Während Lane sich um-
wandte, zog der Vorderste seinen Arm mit einem kur-
zen Ruck zurück.
Die Lanze verfehlte ihn nur knapp, fiel ins Kanu
und schlug ihm das Paddel aus den blasenbedeckten
Händen. Dann schien ein Gebrüll, von seitwärts kom-
mend, die Luft zu zerteilen und der Ton eines grausa-
men Schlages erklang hinter ihm, dazu die verwirrten,
erschreckten Schreie des Speerträgers. Er hob den
Kopf und sah etwas gegen ein zweites Boot sausen und
es unterhalb der Wasserlinie aufschlitzen. Im selben
Augenblick streifte ein kräftig geworfener Speer seine
Stirn und wilder Schmerz durchfuhr ihn.
Dann fiel er wieder zurück, fühlte sein Bewußtsein
65
in langsamen, zögernden Wellen schwinden, während
warmes Blut sein Gesicht hinunterrann und sich mit
dem Schmutz am Boden des Kanus vermischte. Ent-
weder hatten die Boote hinter ihm zu paddeln aufge-
hört, oder er nahm sie nicht mehr wahr. Benommen
wunderte er sich, was die Zerstörung, die er flüchtig
gesehen hatte, verursacht haben konnte, aber der Ge-
danke verblaßte schon, als er ihm in den Sinn kam, und
die Dunkelheit siegte über ihn.
Das Kanu trieb weiter, stieß gegen Sandbänke, drehte
sich, fand manchmal die Mitte des Stroms und schoß
davon. Fliegen kreisten über ihm, aber sie konnten ihn
nicht mehr quälen. Nur noch das leichte Heben und
Senken seiner Brust zeigte Leben an. Der nächste Tag
fand ihn immer noch treibend, aber jetzt war die rote
Blüte des Fiebers über sein Gesicht gebreitet; er stöhnte,
wälzte sich und streckte vergeblich die Hände nach
dem Wasser ringsum aus und sank vor Schwäche zu-
rück.
Es mußte Momente halben Bewußtseins gegeben
haben. Verschwommen nahm er einen Ruf, dann eine
Erschütterung wahr und sanfte Hände, die ihn aus dem
Kanu hoben und irgendwohin trugen. Und manchmal
waren die Laute einer Sprache um ihn, war etwas Wei-
ches unter ihm, in das er hineinsank, war da ein ver-
schwommenes weibliches Gesicht. Aber diese Dinge
waren von Traumphantomen umnebelt und dem Klang
seiner eigenen Stimme, die er fortwährend selbst
wahrnahm. Es erfaßte ihn ein unbestimmtes Gefühl
von vergehender Zeit, und irgendwie war er sich lang-
sam verstreichender Tage bewußt.
Wenigstens erschien die Umgebung Lane nicht
überraschend, als das Fieber am zehnten Tag plötzlich
schwand. Es ließ ihn schwach und elend, aber klar und
66
frei von seiner Herrschaft zurück. Über ihm bewegte
sich das Gesicht einer Frau – einer weißen Frau – mitt-
leren Alters in einem Zimmer umher, das mit den
Merkmalen der Zivilisation ausgestattet war. Sie trug
helle Kleider, und wenn sie sich bewegte, war ein
schwaches Rascheln von Stoff wahrzunehmen und der
noch schwächere Duft eines billigen Parfüms, nur noch
ein Hauch, der übriggeblieben war, seit sie es das letzte
Mal benutzt hatte. Die Schwäche drohte ihn wieder zu
überwältigen, und er kämpfte, um seine Augen offen-
zuhalten, als sie eine Schüssel mit einer Brühe brachte
und anfing, sie ihm vorsichtig einzuflößen. Als sie sah,
daß seine Augen offen und wieder klar waren, lächelte
sie, lehnte seinen Kopf höher gegen die Kissen und
strich das Haar über seiner Stirn zurück, wo nur eine
Spur von Schmerz den Schnitt bezeichnete, den der
Speer hinterlassen hatte.
»Wo …«
»Pst! Sie sind hier unter Freunden, Mr. Lane. Wir
haben Ihr Kanu durch Zufall gefunden und uns um Sie
gekümmert. In einer Woche werden Sie gesund sein –
es war nur das Fieber und der Blutverlust. Noch einen
Schluck – das wars. Doch Sie dürfen jetzt nicht spre-
chen; entspannen Sie sich nur und schlafen Sie wieder.
Alles wird gut werden.«
Alles, die Worte, die weibliche Stimme, das Lächeln
verweilten in seinem Geist, nachdem sie die Tür ge-
schlossen hatte; er lag ruhig auf dem Bett und genoß das
Gefühl, bei seiner eigenen Rasse zu sein. Aber der
Schlaf wollte nicht kommen, obgleich er die Augen
schloß und versuchte, ihr zu gehorchen. Einmal hörte er,
wie die Tür geöffnet und schnell wieder geschlossen
wurde und ihre Stimme dahinter als Antwort auf eine
leise Frage flüsterte: »Er schläft, Sam! Armer Teufel!«
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Leute; seine Leute! Männer und Frauen, die zuviel
über belanglose Dinge sprachen, grandios lachten,
weinten, ohne Schmerz zu fühlen – schwache, unbe-
deutende, dumme Wesen wie er selbst, die langsam
und sprunghaft aufwärts kletterten, begleitet vom
Klang ihres leeren Geschwätzes.
Es war zu viel, um es in Worte zu fassen, wie er da
lag und zusah, wie das Mondlicht durch ein verglastes
Fenster fiel und das Bettzeug überflutete, quer durch
den Raum strich und auf ein Bild an der Wand schien.
Er sank tiefer in die Decken und ließ den Eindruck
langsam einsickern. Zuerst waren die Menschenstim-
men dazu nur ein Hintergrund, bis sein Name seine
Aufmerksamkeit erregte.
Es war eine rauhe, gutmütige Stimme, wahrschein-
lich der Mann, zu dem die Frau vorhin gesprochen
hatte. »Stell’ dir Lane vor; acht Jahre dort draußen,
Harper; es ist ein Wunder, daß er schließlich zurück-
gekehrt ist, ohne für immer wahnsinnig zu werden.
Immerhin bin ich neugierig, wie er mit dem Leben
jetzt fertig wird?«
»Das heißt?« Die zweite Stimme war jünger; selbst-
sicherer und arrogant in der Art und Weise, die mei-
stens auf eine Sorglosigkeit gewöhnlichen Schwächen
gegenüber hinweist.
»Das heißt, daß sich die Dinge für den Mann geän-
dert haben; du weißt – er ist natürlich legal für tot er-
klärt worden. Nach den Zeitungsberichten, die ich ge-
lesen habe, als ich meine Schwester in Amerika be-
suchte, war er durchaus eine Persönlichkeit, aber jetzt
ist der größte Teil seines Vermögens aufgeteilt und
ausgegeben, und ich weiß nicht, ob er jetzt noch an
genug herankommt, um davon leben zu können. Sicher
nicht so, wie er es gewöhnt war. Es wird eine sonder-
68
bare Welt für ihn sein, in der die meisten seiner
Freunde anders geworden sind und sich von ihm weg
entwickelt haben.«
»Tja, ich glaube auch. Aber es kann nicht seltsamer
für ihn sein als das, was er durchgemacht hat, Livy.«
»Hmmm.« Der Ton war zweifelnd, aber darauf
schwiegen sie. Ein schwacher Tabakduft zog durch das
Netzwerk vor den Fenstern herein. Harvey Lane lag
still, überlegte, und lauschte auf weitere Worte, die
aber nicht kamen.
Ah all das hatte er natürlich nicht gedacht, aber er
hatte es tun sollen. Wenn er nicht zurückgekehrt wäre,
würden die Geier keine Zeit verloren haben, um herab-
zustoßen und Anspruch auf sein Geld zu erheben; und
da er sie kannte, konnte er Sam Livys Zweifel, wieviel
übrig sein würde, teilen. Was die Steuern und die Juri-
sten übrig gelassen hatten, war wohl längst schon ver-
schwunden. Dennoch wunderte er sich, wieviel es ihm
bedeutete. Der Ring an seinem Finger würde noch die
Rückreise sichern und ein paar Dollar darüber hinaus
bringen. Und alles weitere würde sich dann schon fin-
den, selbst wenn er nicht einmal irgendwelche Fähig-
keiten besaß, mit denen er seinen Lebensunterhalt
würde verdienen können. Das Leben unter den Affen
hatte ihn von den falschen Normen des Lebensstan-
dards befreit, ihn abgehärtet und ohne Furcht vor Ar-
beit entlassen, hatte ihn die Einfachheit schätzen ge-
lehrt. Er würde weiterkommen; wie, spielte keine Rol-
le, solange er nur wieder bei seiner eigenen Rasse leb-
te. Harpers lebhafte Stimme nahm die Unterhaltung
draußen wieder auf. »Ich glaube, ich werde morgen
abdampfen, Livy. Die Boys sind alle bereit, und die
Gruppe, die ich führe, ist begierig darauf, aufzubre-
chen. Ich hoffe, der Ausflug ist nicht für die Katz.«
69
»Ich würde nicht darauf wetten; der Mann ist durch
die Hölle gegangen, und es könnten alles Fieberträume
sein, wie dieser Unsinn über den Gorillastamm, der das
reinste Englisch spricht!«
»Ich werde es riskieren. Schlimmstenfalls ist es
Neuland, und es müßte dort viel Wild geben. Jedenfalls
hat es diesen Franzosen gegeben, der ein paar Jahre
unter einem Gorillahaufen verbracht hat, ohne verletzt
zu werden – auf der Ebene scheint es zu liegen. Viel-
leicht hat Lane tatsächlich eine Zeitlang unter ihnen
gelebt, wahrscheinlich hat er sie und einen Stamm, der
ihn später gerettet hat, durcheinandergebracht und ei-
niges andere daruntergemischt. Ich wette, so war es,
denn einige Sachen, die er ständig vor sich hinmurmelte,
machen ganz klar, daß er eine Menge über die Ge-
wohnheiten der Affen weiß!«
Ein Streichholz wurde angerissen, dann fuhr Harpers
Stimme fort: Ȇbrigens ist die Entfernung gar nicht so
groß, und alles, was wir tun müssen, ist, dem Flußlauf
zu folgen, wie er es angegeben hat. Wenn dort keine
Gorillas sind, haben wir eben einen netten Ausflug ge-
macht, und die Möchtegern-Großwildjäger, die mich
begleiten, werden ihr Teil bekommen; wenn die Gorillas
dort sind, werde ich ein paar hübsche Felle zum Präpa-
rieren bekommen, und mit Glück vielleicht ein paar
Junge fangen. Sie werden einen hübschen Preis erzielen,
wenn das Haar so hellrot ist, wie Lane phantasiert hat.«
»Na, ich wünsche dir Glück, aber …«
»Glück ist nicht nötig, Livy. Mit der Ausrüstung,
die wir haben, würde uns ein Dutzend solch schlauer
Gorillastämme, wie er ihn ausfindig gemacht hat, nicht
beunruhigen, und auf die eine oder andere Art werde
ich das Meinige bekommen. Ich glaube, wir können
aufbrechen …«
70
Aber Lane hörte nicht mehr zu. Er sah den alten
Ajub präpariert in einem Museum, sein graugespren-
keltes rotes Fell ausgestopft, mit einem Zettel darunter;
und er dachte an Klein-Tama, irgendwo weinend in
einem Käfig, während Idioten darüber debattierten, ob
ein Affe intelligent sein könne; oder Klein-Tama, wie
er von Wissenschaftlern untersucht wurde, um seine
Denkfähigkeit zu bestimmen, während Suchtrupps
ausschwärmten, um mehr von diesen merkwürdigen
Anthropoiden mitzubringen. Oh, sie würden einen
wundervollen Preis erzielen, ganz recht!
Vielleicht war es logisch, daß der Mensch keinen
Rivalen seiner Überlegenheit dulden sollte. Aber in
jedem Fall war das Ergebnis sicher. Sogar die Primiti-
ven seiner eigenen Rasse waren schlecht genug gefah-
ren, und die Affen, egal wie intelligent, würden nur
merkwürdige Tiere bleiben, ohne Schutz durch irgend-
ein menschliches Gesetz und gesucht von jedem
Showmann und Theoretiker der Welt.
Ganz langsam, ohne Lärm, glitt er unter dem Bett-
zeug hervor und zwang sich trotz der Schwäche, die
ihn überkam, auf die Beine. Einen Moment lang war
es, als würde er ohnmächtig werden, aber es ging vor-
über; während seine Knie schlotterten und das Zimmer
sich um ihn zu drehen schien, gewann er soweit Ge-
walt über sich, um allein zu stehen und sich vorwärts
bewegen zu können, auf den Wandschrank zu, den das
Mondlicht verriet. Es waren Kleider darin, die ihm
nicht gehörten, aber gut genug paßten. Er stützte sich
gegen eine Wand und zog sich an.
Die beiden Männer auf der Veranda fühlten sich un-
beobachtet, als er zu ihnen hinsah. Hastig suchte er das
Zimmer nach einer Flinte oder einem automatischen
Gewehr ab, fand aber nichts; in andere Zimmer traute
71
er sich nicht hinein. Außer einem Korb hausgemach-
ter Süßigkeiten fand er nichts, was ihm nützen konn-
te. Widerwillig schluckte er das süße Zeug, um die
Energie zu erlangen, die er brauchen würde. Dann riß
er das Netz vor dem Fenster beiseite, vorsichtig um
das Geräusch zu dämpfen, und ließ sich zitternd nach
draußen auf den Boden gleiten und versuchte, wäh-
rend er am Fensterrahmen hing, bei Bewußtsein zu
bleiben.
Die Flucht mit einem Boot verwarf er, weil er wuß-
te, daß er nicht in der Lage war, auch nur ein leichtes
gegen den Strom zu steuern. Auch der Gedanke, mit
einem Pferd zu fliehen, den er einen Moment lang
hatte, als er eines in den Ställen wiehern hörte, gab er
auf. Wenn er ein Pferd entführte, würde man ihn zu
leicht sehen, und er war nicht in der Verfassung, eine
wilde Jagd durchzustehen. Außerdem könnten die
Pferde Lärm verursachen, wenn ein Fremder sich ih-
nen näherte, und seine einzige Chance lag in der
Heimlichkeit.
Er suchte die tieferen Schatten und kroch in ihrem
Schutz vom Haus weg, hinaus zum Tor des umzäunten
Grundstücks, das jetzt von einem schlafenden, halb-
wüchsigen Jungen bewacht wurde. Das Schnarchen
hielt ungestört an, als er sich hinausließ. Der große
Kontinent lag vor ihm! Auf der einen Seite sah er den
Fluß und bewegte sich auf ihn zu, da er wußte, daß er
sich neben ihm halten und ihm folgen mußte, den Weg
zurück, den er gekommen war.
Es war ein äußerst unkluges Unternehmen, ohne die
leiseste Hoffnung auf Erfolg, und seinem rational den-
kenden Bewußtsein war dies klar. Sogar wenn er den
langen Marsch aushalten, den Raubtieren und allen
feindlich gesinnten Menschen entkommen konnte, ohne
72
den Weg zu verlieren, war es eine fast unmögliche
Aufgabe, ohne Ausrüstung und Proviant. Außerdem
würde Harper mit seinem Haufen schnell vorwärts-
kommen und wahrscheinlich pro Tag die doppelte Ent-
fernung wie er zurücklegen. Und immer bestand die
Möglichkeit, daß sie sich entschließen würden, ihn zu
verfolgen, im Glauben, er sei in einem Fieberanfall
davongegangen; zu Pferd konnten sie ihn in kurzer
Zeit einholen.
Er arbeitete sich vorwärts so schnell er konnte, ließ
die letzten Anzeichen der weißen Viertel hinter sich
und suchte seinen Weg den holprigen Pfad entlang,
der neben dem Fluß herlief. Die Ruhepausen be-
schränkte er auf die kürzestmögliche Zeit. Hier leuch-
tete der Mond in unregelmäßigen Abständen,
manchmal hell und manchmal von Bäumen verdeckt.
Er hatte keine Ahnung, welche Gefahren neben dem
Pfad lauerten und mißachtete sie; wenn er sterben
sollte, würde er sterben, aber zumindest konnte er den
Versuch wagen.
Dann hörte er seitlich hinter sich etwas durch den
Dschungelstreifen kommen; das Geräusch war das ei-
nes Tieres, und zwar eines großen, das sich verstohlen,
aber nicht sonderlich beunruhigt über den Lärm, be-
wegte. Einen Moment lang erwog er, hochzuklettern,
außer Reichweite des wie auch immer gearteten Tiers
zu gelangen. Aber es war beinahe Tag und das Tier
war wahrscheinlich nur ein Löwe auf dem Heimweg
nach seinem nächtlichen Mahl. Die Tatsache, daß er
ihn mit seinen vergleichsweise ungeübten Ohren hören
konnte, war ermutigend, denn er wußte, daß Katzen
sich lautlos bewegen konnten, wenn sie wollten. Er
kam wieder auf die Füße, kaute mehr von den Süßig-
keiten und setzte seinen Weg verbissen fort.
73
Das Geräusch kam wieder, diesmal etwas näher;
vielleicht ging dieser Löwe, falls es ein solcher war,
hungrig nach Hause statt vollgefressen. Manchmal,
wenn sie vom Jagdpech verfolgt wurden, waren sie
durchaus willens, durch Menschenfleisch Abwechs-
lung in ihre Diät zu bringen, obgleich hier für einen
Menschenfresser die Gewehre der Weißen reichlich
nahe sein mußten. Er starrte den Pfad hinunter nach
hinten, und versuchte, seinen Verfolger zu sehen. Da
wurde sein Name gerufen.
»Lane! Harvey Lane!« Es kam jetzt von der Seite,
gedämpft durch das Unterholz des Dschungels. Das
Geräusch der Kreatur, die er vorher gehört hatte, be-
gleitete es. Er schnellte herum, schärfte krampfhaft
seine Augen und blickte blitzschnell umher, sah aber
nichts. Also hatten sie ihn schon gefunden und umkrei-
sten ihn vorsichtig, der Theorie entsprechend, daß er
im Fieberwahn war. Er glitt zur Seite des Pfades in der
Hoffnung, einen Platz zu finden, an dem er sich ver-
stecken konnte und in dem Bewußtsein, keine Chance
mehr zu haben. Da kam die Stimme wieder, diesmal
deutlicher. »Lehrer!«
»Ajub!« Und gerade als er es aussprach, trat der
große Affe ruhig vor ihn auf den Pfad. Den riesigen
Speer trug er leicht ausbalanciert und mehrere andere
in einem Tragriemen.
»Hallo, Lane! Ich dachte mir, daß es deine Spuren
waren, die von der Ansiedlung da hinten wegführten,
obwohl ich bei all den verschiedenen menschlichen
Fährten rundum nicht sicher sein konnte. Du hast hier
draußen unbewaffnet nichts zu suchen!«
Lane sank zu Boden. Erleichterung und neue Furcht
überkamen ihn mit den tausend Gedanken, die die Ge-
genwart des Affen ihm eingab. »Ajub, diese Leute –
74
die anderen Weißen – sie organisieren eine Jagdexpe-
dition gegen deine Rasse. Ich habe in meinem Fieber
geschwatzt, und sie sind wahrscheinlich schon aufge-
brochen.«
Das stark ausgeprägte Gesicht verriet keine Emoti-
on. »Ich weiß. Ich habe einen Weg gefunden, nah an
ihre Hütten heranzukommen und die Pläne belauscht.
Es macht nichts.«
»Aber diesmal sind sie gut ausgerüstet; ihr könnt sie
nicht alle vernichten!«
»Natürlich. Aber sie werden unser Dorf nicht fin-
den; ein anderer Bulle ist mit mir gekommen, und ich
habe ihn mit der Nachricht zurückgeschickt. Er wird
veranlassen, daß wir ausziehen an einen anderen Platz,
den wir vor langer Zeit schon gefunden haben, ein so-
gar noch besseres Versteck. Wenn deine Freunde das
alte Lager erreichen, wird dort nur ein Stück verbrann-
ten Bodens sein, ohne eine Spur, die uns verraten
könnte.«
Die Last, die nun von Lanes Schultern fiel, war fast
physisch, und er krabbelte wieder auf die Füße, mit
Hilfe eines der muskulösen Arme Ajubs. »Warum bist
du mir gefolgt, Ajub? Ihr hattet die Bücher, und sie
enthalten mehr Wissen in besserer Form als ich euch
vermitteln kann. Ihr hattet es nicht nötig, mich wieder
einzufangen!«
»Noch die Absicht; du warst frei, uns jederzeit zu
verlassen, wenn du wolltest, Lane – ich dachte, das
hättest du immer gewußt.« Ajub schüttelte den Kopf,
daß die großen Speere auf seinem Rücken rasselten.
»Physisch bist du für uns nur ein Kind, weißt du, und
du brauchtest Schutz; wir dienten nur als deine Leib-
wache die Flußufer hinunter. Wenn wir es nicht getan
hätten, hätten jene Krieger in ihren Kanus dich auch
75
gefangen. Und nachdem du aufgefunden worden bist,
krank und von uns phantasierend, bin ich natürlich ge-
blieben.«
Lane hätte wissen müssen, daß nur Ajubs Volk die
Boote in dieser Entfernung vom Ufer ohne Flintenge-
räusch hatte zerstören können; aber seitdem hatte er
keine Zeit gehabt, über den Vorfall nachzudenken. Er
fühlte die empfindliche vernarbte Haut an seiner Stirn,
schnitt eine Grimasse und zuckte die Schultern.
»Ihr hättet die Wilden ebensogut gewähren lassen
können – dann hätte ich euch nicht an die Weißen ver-
raten können! Nun, bring es hinter dich!«
»Was?«
»Deine Rache. Deshalb bist du geblieben, nicht
wahr? Ich glaube, ich würde dasselbe tun. Du mußt
also nicht noch vor der Exekution ein Urteil fallen.«
Eine Minute lang starrte Ajub ihn verständnislos an,
während ein fast menschliches amüsiertes Grinsen sein
Gesicht überzog. »Nein, Harvey Lane; ich bin geblieben,
um dir Anweisung zu geben wie du uns finden kannst,
wenn du es je einmal wünschst. Hier, ich habe dir – so
gut ich es konnte – eine Karte mit dem neuen Weg auf-
gezeichnet. Nun laß mich dich nach Hause zu deinen
Freunden tragen, bevor ich zu den meinen zurückgehe.«
Er hob Lane auf wie er ein Kind behandelt hätte,
warf ihn leicht über seine riesige Schulter und trottete
den Pfad hinab, mit der anderen Hand beim Laufen
den Boden berührend. Und langsam, zum erstenmal
seit Tagen, entspannte sich der Mann, psychisch so-
wohl als auch physisch.
»Ajub«, sagte er leise ins Ohr des Affen, »du hast
die Richtungen verwechselt. Nach dieser Karte, die du
gezeichnet hast, sind meine Freunde nördlich von hier –
ein ganzes Stück nördlich.«
76
Er hörte den Häuptling plötzlich kichern, fühlte den
starken alten Körper sich umdrehen und in der selben
mühelosen Gangart, die ohne Hast die Meilen ver-
schlang, die andere Richtung verfolgen. Dann schlief
er friedlich, den Kopf halb vergraben in dem grau-
roten Fell unter sich. Ajub lächelte breit und bewegte
sich sacht, aber der Abstand zwischen ihnen und der
Heimat verringerte sich.
77
Dominante Spezies
78
Ralph W. Dexter
Eltonsche Pyramide
Ein
Mensch
Aß Seehund
Gespießt aus der Herde
Die von Kabeljau lebend und Flunder
Durchstreift die Wasser des Atlantischen Ozeans
Auf dessen Grund diese Fische ständig pflegen zu suhlen
Zur Beute fallen ihnen zahlreiche Schnecken, Krustentiere und Seeigel
Die an den üppigen Stöcken der Muscheln und Würmer sich ihrerseits nähren.
Aus Litern von Walser hat der Schellfisch sich schließlich Geröll dann und Plankton gefiltert
Enthaltend Unmassen von Ruderfüßlern, Bakterien und Algen, einschließlich sogar der Diatpme,
Die alle zusammen Glied um Glied und Schicht um Schicht einen ökologischen Grundsatz bilden: Die
Eltonsche Pyramide
79
Robert A. Heinlein
Goldfischglas
80
Der andere Zivilist, Bill Eisenberg, hatte das Fern-
rohr an sich genommen, als Graves es gegen das Glas
austauschte.. »Ich sehe sie ebenfalls«, bemerkte er.
»Das Rohr ist in Ordnung. Aber sie scheinen nicht so
groß zu sein wie ich erwartet habe.«
»Sie befinden sich noch unter dem Horizont«, er-
klärte Blake. »Bis jetzt sehen Sie nur die oberen Teile.
Aber sie messen etwas unter elftausend Fuß, vom Mee-
resspiegel bis zur Wolke – falls sie ihre Ausmaße be-
halten haben.«
Graves blickte rasch auf. »Warum sind Sie zurück-
haltend? Haben das nicht?«
Kapitän Blake hob die Schultern.
»Doch. Aber sie dürften nicht vorhanden sein – vor
vier Monaten gab es sie nicht. Woher soll ich wissen,
was sie heute anstellen – oder morgen?«
Graves nickte. »Ich verstehe Ihre Bedenken und teile
sie mit Ihnen. Können wir aus dieser Entfernung die
Höhe feststellen?«
»Wir werden sehen.«
Blake steckte den Kopf in die Meßzentrale.
»Irgendwelche Ergebnisse, Archie?«
»Einen Moment, Kapitän.«
Der Navigator beugte sich über ein Mikrofon und rief:
»Station eins!«
»Station eins – keine Ergebnisse!« antwortete eine
mürrische Stimme.
»Sie werden noch etwas warten müssen, Doktor«,
meinte Blake aufmunternd.
Leutnant Mott gab dem Bootsmann ein Zeichen,
dreimal zu lauten; der Kapitän gab Anweisung, ihn zu
informieren, wenn das Schiff die kritische Distanz von
drei Meilen erreichen würde, und verließ die Brücke.
Graves und Eisenberg folgten ihm widerwillig; bis
81
zum Essen blieb noch mehr als genug Zeit, sich umzu-
ziehen.
82
schung zurückblicken. Mit an Bord der Mahan hatten
sie eine umgebaute Tauchkugel gebracht, die sich ge-
genwärtig in einer vernagelten Holzkiste auf dem Mit-
teldeck befand. Äußerlich schien es eine gewöhnliche
Tauchkugel zu sein, von der lediglich die Ankervor-
richtung entfernt worden war; der Innenraum jedoch
ähnelte ehe jener Art von Fässern, in denen tollkühne
Wichtigtuer ihre aufsehenerregenden, sinnlosen Reisen
über die Niagarafälle unternommen hatten. Die Kugel
faßte Luft, stickig aber atembar, für achtundvierzig
Stunden; sie enthielt Trinkwasser und Lebensmittel für
den gleichen Zeitraum, und sie besaß sogar eine primi-
tive, aber ausreichende sanitäre Anlage.
Aber der vorzüglichste Ausrüstungsgegenstand war
eine Art stoßsicheres Geschirr, ein mächtiges Korsett,
ein Panzerhemd, in dem ein Mensch in sicherem Ab-
stand von den harten Wänden baumeln, konnte, abge-
schirmt durch ein Netzwerk aus Gurten und Stahlfe-
dern. Darin vermochte ein Mensch möglicherweise die
stärksten Erschütterungen zu überleben. Man könnte
ihn mit einer Kanone beschießen, einen Berg hinunter-
rollen und für Stunden einer Dampframme ausliefern,
und er würde mit einiger Sicherheit mit gesunden Kno-
chen und heiler Haut aussteigen.
Blake legte einen Finger auf eine Rißzeichnung, die
Graves zur Verdeutlichung seiner Beschreibung rasch
angefertigt hätte.
»Sie beabsichtigen wirklich, in diesem Ding in die
Säulen zu fahren?«
»Er nicht, Kapitän«, gab Eisenberg zur Antwort.
»Nur ich.«
Graves errötete. »Mein verfluchter Hausarzt …«
»Und Ihre Kollegen«, ergänzte Eisenberg. »Es ver-
hält sich folgendermaßen, Kapitän. Mit seinen Nerven
83
ist alles in Ordnung, aber er hat ein schwaches Herz,
druckgeschädigte Ohren und ein paar morsche Adern.
Deshalb hat das Institut mich beauftragt, ein wenig auf
ihn aufzupassen.«
»Nun hören Sie mal zu«, protestierte Graves. »Bill,
Sie sollten doch nicht übertreiben. Ich bin ein alter
Mann; so eine Gelegenheit werde ich nie wieder haben.«
»Keine Erlaubnis«, lehnte Eisenberg ab. »Kapitän,
ich möchte Sie informieren, daß das Institut ausdrück-
lich mich mit der Führung des Apparats beauftragt hat,
den wir an Bord haben, damit das alte Schlachtroß kei-
nen Unfug anstellt.«
»Das ist Ihre Sache«, antwortete Blake vorsichtig.
»Meine Instruktionen besagen, daß ich die Arbeiten
von Doktor Graves unterstützen soll. Abgesehen da-
von, wer von Ihnen in der Blechkiste Selbstmord be-
gehen will – wie wollen Sie überhaupt in die Kanaka-
Säule gelangen?«
»Das ist Ihre Aufgabe, Kapitän. Sie setzen die Ku-
gel im Bereich der Ansaugsäule ab und nehmen sie
anschließend bei der Abflußsäule wieder auf.«
Blake preßte die Lippen aufeinander, dann schüttelte
er bedächtig den Kopf.
»Das kann ich nicht.«
»Was? Warum nicht?«
»Näher als drei Meilen möchte ich das Schiff nicht
an die Säulen heranfuhren. Die Mahan ist ein tüchtiges
Schiff, aber sie schafft nicht mehr als zwölf Knoten.
Um die Kanaka-Säule gibt es an bestimmten Stellen
sogartige Strömungen, die sich erheblich schneller be-
wegen. Sich dort hineinwagen, heißt das Schiff riskie-
ren. Da sind eine ganze Anzahl von Fischerbooten
spurlos verschwunden. Ich mochte die Mahan nicht
auf die gleiche Reise gehen lassen.«
84
»Sie meinen, die Boote wurden von der Säule auf-
gesogen?«
»Das meine ich.«
»Sie müssen das Schiff nicht in Gefahr bringen, Ka-
pitän«, schlug Eisenberg vor. »Sie können unseren
Apparat von einem Motorboot absetzen lassen.«
Blake schüttelte nochmals den Kopf. »Kommt nicht
in Frage«, sagte er grimmig. »Nicht einmal, wenn die
Boote dafür geeignet wären, und das ist keineswegs
der Fall. Ich will meine Leute nicht gefährden. Es ist
kein Krieg.«
»Das frage ich mich«, bemerkte Graves mit sanfter
Stimme.
»Was soll das heißen?«
Eisenberg kicherte. »Unser Doc leidet an der roman-
tischen Vorstellung, alle obskuren Phänomene der letz-
ten fünf Jahre ließen sich auf eine einzige, finstere Ur-
sache zurückfuhren – alles, von den Wassersäulen bis
zu den LaGrange’schen Kugelblitzen.«
»Die LaGrange’schen Kugelblitze? Wie sollte da ir-
gendein Zusammenhang bestehen? Es sind einfache
statische Elektrofelder, simple Kugelblitze eben. Ich
weiß es genau, ich habe sie gesehen.«
Die Aufmerksamkeit der beiden Wissenschaftler
erwachte; der Groll von Graves und Eisenbergs Belu-
stigung wichen der Neugier.
»Sie haben sie gesehen? Wo?«
»Auf dem Golfplatz in Hilo, im letzten März. Ich
war …«
»Dieser Fall! Es war eines der Vorkommnisse, bei
denen Personen verschwanden!«
»Ja, natürlich. Ich wollte soeben davon erzählen. Ich
stand also gerade in einer Sandmulde, als ich aufblick-
te …«
85
Ein klarer milder Tag. Wolkenlos, normale Barome-
terwerte, leichte Brise. Nichts deutete auf atmosphäri-
sche Störungen hin, keine Sonnenflecken, kein Rau-
schen im Radio. Ohne Warnung schwärmten plötzlich
ein halbes Dutzend oder mehr riesige Feuerbälle über
den Golfplatz, Kugelblitze von unglaublicher Größe;
sie bewegten sich in einer Art militärischer Formation,
die von einigen Beobachtern sogar als mathematisch
exakt beschrieben wurde – viele andere jedoch bestrit-
ten diese Behauptung.
Eine Golfspielerin, Touristin aus den Vereinigten
Staaten, schrie auf und lief davon. Aus dem Flügel der
Formation löste sich der am nächsten befindliche Ku-
gelblitz und näherte sich der Frau. Niemand hätte si-
cher sagen können, ob das Ding sie wirklich berührte –
selbst Blake war nicht sicher, obwohl er den Vorgang
genau beobachtet hatte – aber als der Kugelblitz an der
Frau vorüber war, lag sie tot auf dem Rasen.
Ein örtlicher Mediziner verbreitete, er habe bei der
Leiche eindeutige Zeichen elektrolytischer Blutgerin-
nung festgestellt, aber der Ausschuß, der sich mit der
Angelegenheit beschäftigte, schloß sich der Meinung
des Polizeiberichts an, der als Todesursache Herzver-
sagen angab, eine Version, die von der dortigen Be-
hörde für Handel und Tourismus kräftig unterstützt
wurde.
Jener Mann, der verschwand, hatte nicht versucht
fortzulaufen; das Schicksal ereilte ihn, wo er stand. Es
war ein Mischung, ein Umstand, der es der Presse er-
leichterte, seinen Namen zu unterschlagen; nicht ein
Bericht erwähnte ihn.
»Er stand auf dem Rasen«, erzählte Blake, »nicht
mehr als dreißig Meter von mir entfernt, als die Feuer-
bälle auftauchten. Zwei davon schwebten direkt über
86
mir. Meine Haut begann zu prickeln, die Haare stan-
den mir zu Berge. Es roch nach Ozon. Ich rührte mich
nicht …«
»Das hat Sie gerettet«, vermutete Graves.
»Nein«, sagte Eisenberg. »Der trockene Sand hat
ihn geschützt.“
»Bill, Sie sind ein Narr«, meinte Graves müde.
»Diese sogenannten Kugelblitze zeigen alle Anzeichen
intelligenten Handelns.«
Blake fragte: »Mit welcher Begründung nehmen Sie
das an, Doktor?«
»Das spielt im Augenblick keine Rolle. Bitte berich-
ten Sie weiter.«
»Hmm. Also, sie schwebten über mir. Der Misch-
ling befand sich genau in Flugrichtung einer der Ku-
geln. Ich glaube, er bemerkte es gar nicht, er wandte
ihr den Rücken zu, wissen Sie. Die Kugel erreichte ihn,
hüllte ihn ein und flog weiter – und der Bursche war
verschwunden.«
Graves nickte. »Das stimmt mit den Zeitungsberich-
ten überein. Seltsam, daß man Ihren Namen nicht er-
wähnt hat.«
»Ich hielt mich im Hintergrund«, sagte Blake kurz.
»Reporter kann ich nicht leiden.«
»Hmmm. Haben Sie den Zeitungsberichten etwas
hinzuzufügen? Waren sie lückenhaft?«
»Daran entsinne ich mich nicht. Haben die Berichte
den Sack mit Golfschlägern erwähnt, den er bei sich
trug?«
»Ich glaube nicht.«
»Sie wurden später am Strand gefunden, sechs Ki-
lometer entfernt.«
Eisenberg straffte sich. »Das ist eine Neuigkeit«,
sagte er. »Ist Ihnen bekannt, ob man feststellen konnte,
87
aus welcher Höhe sie gefallen sind? Waren sie zerbro-
chen oder beschädigt?«
Blake schüttelte den Kopf. »Sie hatten keine
Schramme, und der Sand war nicht aufgewühlt. Aber
sie waren – eiskalt.«
Graves erwartete, daß der Kapitän seinen Bericht
fortsetzen würde, aber Blake schien nicht die Absicht
zu haben; so erkundigte er sich: »Und was halten Sie
davon?«
»Ich? Ich halte nicht viel davon.«
»Wie erklären Sie sich den Vorgang?«
Ȇberhaupt nicht. Ein unklassifiziertes elektrisches
Phänomen. Allerdings, wenn Sie eine recht grobe Ein-
schätzung hören wollen, möchte ich sie Ihnen nicht
vorenthalten. Dieser Kugelblitz besteht aus einem sta-
tischen Elektrofeld hohen Potentials. Es verschluckte
den Mischling, welcher vom Erdboden verschwand
wie ein Gummiball, der in die Höhe springt, und
schleppte ihn fort. Das war für den Mann ein fliegen-
der elektrischer Stuhl. Als der Kugelblitz sich schließ-
lich entlud und auflöste, stürzte der Körper ins Meer.«
»So? Es gab einen ähnlichen Fall in Kansas, ziem-
lich weit vom Meer entfernt.«
»Der Körper wurde eben nicht gefunden.«
»Das wurden sie in keinem dieser Fälle. Und wie
erklären Sie, weshalb die Golfschläger so behutsam
behandelt wurden? Und weshalb waren sie so kalt?«
»Verdammt, Doktor, ich weiß es nicht! Ich bin kein
Theoretiker; ich bin Marine-Ingenieur von Beruf, ich
gehe in meiner Arbeit empirisch vor! Können Sie viel-
leicht eine Erklärung geben?«
»Vielleicht – aber bedenken Sie, daß meine Hypo-
these nur ein schwacher Ansatz ist, um bei den Nach-
forschungen überhaupt eine Grundlage zu haben. Ich
88
sehe also in diesen verschiedenen Phänomenen, den
riesigen Kugelblitzen, den Wassersäulen und einer An-
zahl anderer merkwürdiger Dinge, die nicht hätten ge-
schehen dürfen, aber doch geschehen sind – einge-
schlossen jenen seltsamen Fall mit dem Berggipfel süd-
lich von Boulder, Colorado, der sich ›ganz spontan‹ ein-
geebnet hat – ich sehe darin den Beweis intelligenten
Handelns, eines planmäßigen Vorgehens.« Er zuckte die
Achseln. »Nennen Sie es den X-Faktor. Ich suche X.«
Eisenberg warf belustigt einen spöttischen Blick in
die Runde. »Armer alter Doc«, seufzte er. »Jetzt ist
ihm doch eine Feder gesprungen.«
Die beiden überhörten die Bemerkung. Blake fragte:
»Sie sind doch ursprünglich Ichthyologe, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wie sind Sie denn auf dieses Gebiet geraten?«
»Ich weiß nicht recht. Neugier, denke ich. Mein
boshafter junger Freund hier würde sagen, durch meine
Vorliebe für Fischbratküchen.«
Blake wandte sich an Eisenberg. »Aber Sie sind
kein Ichthyologe?«
»Nein, nein. Ich bin Ozeanograph, Spezialgebiet
Ökologie.«
»Er macht Witze«, behauptete Graves. »Erzählen
Sie Kapitän Blake ruhig von Cleo und Patra.«
Eisenberg machte ein verlegenes Gesicht. »Es sind
verdammt nette Viecher«, meinte er abwehrend. Blake
schaute verwirrt.
»Über mich macht er sich lustig«, versuchte Graves
zu erklären. »Aber seine heimliche Spinnerei ist ein
Paar Goldfische. Goldfische! Sie finden sie im Wasch-
becken seiner Kabine.«
»Zu wissenschaftlichem Zweck?« forschte Blake
tonlos.
89
»O nein! Er glaubt, daß sie ihn verehren!«
»Es sind wirklich sehr nette Tiere«, unterbrach Ei-
senberg. »Sie lärmen nicht, machen nichts kaputt und
bringen nichts durcheinander. Und Cleo ist so aus-
drucksfähig!«
Seinen anfänglichen Widerstand gegen das Unter-
nehmen bekämpfend, erging sich Blake in angestreng-
ten Überlegungen, wie er den beabsichtigten Versuch
unterstützen konnte, ohne Leute und Material zu ge-
fährden. Er mochte die beiden Männer; er verstand ihre
absonderliche Mischung aus selbstloser Verwegenheit
und außergewöhnlicher Bedachtsamkeit sehr gut; sie
waren ihm ähnlich, gerade in ihrer beruflichen Ernst-
haftigkeit, die mit finanziellem Ehrgeiz nichts zu tun
hatte.
Zur Durchführung des Unternehmens schlug er sei-
nen Cheftaucher, einen älteren Kriegsveteran, und des-
sen Mannschaft vor.
»Sie wissen«, fügte er hinzu, »daß es Grund zu der
Annahme gibt, daß Ihre Tauchkugel die Fahrt überste-
hen kann. Was in der einen Säule hochgesogen wird,
kommt in der anderen wieder herunter. Kennen Sie den
Fall mit der VJ-14?«
»Das war das Marineflugzeug, welches bei der er-
sten Untersuchung verlorenging?«
»Genau.« Blake läutete nach seinem Adjutanten.
»Bitten Sie meinen Sekretär um die Akte VJ-14«, be-
fahl er.
Bald nach dem Auftauchen der fremdartigen unbe-
weglichen Wolke und den ungeheuren Wassersäulen
waren aus der Luft die ersten Bemühungen zu ihrer
Erforschung gemacht worden. Die Ergebnisse waren
gering. Geriet ein Flugzeug in die Wolke, setzten seine
Motoren aus; verließ es die Wolke unversehrt im Gleit-
90
flug, begannen die Motoren wieder zu arbeiten. Zurück
in die Wolke – und die Motoren versagten. Die verti-
kale Ausdehnung der Wolke reichte höher als jedes
Flugzeug steigen konnte.
»Die VJ-14«, berichtete Blake, von Zeit zu Zeit in
der umfangreichen Akte blätternd, die man ihm ge-
reicht hatte, »unternahm am 12. Mai eine Luftaufklä-
rung bei den Säulen, unter Schutz der U. S. S. Pelican.
Außer dem Piloten und dem Funker befanden sich ein
Kameramann und ein Chefmeteorologe an Bord des
Flugzeugs. Mmm – nur die beiden letzten Notizen
scheinen interessant zu sein: Kurswechsel – fliegen
zwischen den Säulen hindurch – 14‹; und: ›0913 – Ma-
schine gerät außer Kontrolle – 14‹. Von der Pelican
aus beobachtete man, daß das Flugzeug eine Spirale
um die Kanaka-Säule drehte und dann von ihr ver-
schluckt wurde. Ein Absturz wurde nicht beobachtet.
Selbstverständlich wurde der Pilot, Leutnant ..
mmmh, ja – Leutnant Mattson, posthum ausgezeichnet.
Ja, das hier ist sicher wichtig für unsere Angelegenheit;
aus dem Logbuch der Pelican: ›1709 – Wrackteile ge-
borgen und als Teile der VJ-14 identifiziert. Genaue
Beschreibung siehe Sonderbericht.‹ Damit brauchen
wir uns nicht abgeben. Tatsache ist, sie fanden die
Bruchstücke vier Meilen von der Wahini-Säule entfernt,
und zwar auf der Seite, die der Tanaka-Säule abgewandt
ist. Die Sache ist klar, Ihr Plan könnte also gelingen.
Zweifelhaft jedoch, ob Sie es überleben werden.«
»Ich werde es versuchen«, versicherte Eisenberg.
»Mmmm, nun ja. Aber ich wollte eigentlich vor-
schlagen, vorher ein Testobjekt loszuschicken, etwa
eine Kiste Eier in einem wasserdichten Faß.«
Die Sprechanlage summte. Kapitän Blake beugte
sich über das Mikrofon. »Ja?«
91
»Acht Uhr, Kapitän.«
Blake erhob sich. »Ich danke Ihnen, meine Herren.
Über die Einzelheiten können wir uns morgen unter-
halten.«
Über dem Heck der Mahan baumelte ein großes
Boot. Es war durch ein kräftiges Seil, aus Bast gefloch-
ten, mit einer Winde auf dem Schiff verbunden wor-
den; an dem Seil hatte man ein Telefonkabel befestigt,
das auf dem Schädel eines Funkers in einem Kopfhörer
endete. Der Mann saß im Vorderteil des Boots; neben
ihm lagen ein Paar Signalflaggen und ein Fernglas;
sein Hemd war geöffnet, so daß man den Umschlag
eines Exemplars von Grausige Geschichten sehen
konnte, das er als Vorsichtsmaßnahme gegen Lange-
weile an Bord geschmuggelt hatte.
Ebenfalls schon im Boot befanden sich der Steuer-
mann, der Maschinist, der Bootsmann, sowie Graves
und Eisenberg, außerdem ein Behälter mit Trinkwas-
ser, zwei Kanister Benzin – und ein Faß. Es enthielt
nicht nur eine Kiste vorsichtig verpackter Eier, sondern
auch eine Anlage für Rauchsignale, die auf dreierlei
Weise aktiviert werden konnte; durch ein Uhrwerk war
die Auslösung für acht Uhr, neun und zehn Uhr gesi-
chert; ferner konnte die Anlage durch ein Funksignal
vom Schiff aus aktiviert werden; außerdem sollte sie
bei Kontakt mit Salzwasser losgehen. Der Torpedo-
schütze, der die Anlage konstruiert hatte, war zuver-
sichtlich, daß wenigstens einer dieser Auslöser funk-
tionieren würde und man somit das Faß wiederfinden
könne. Gegenwärtig war er dabei, eine gleichartige
Anlage in die Tauchkugel zu montieren.
Der Bootsmann gab der Brücke ein Fertigzeichen.
Ein Megaphon brüllte: »Vorsichtig ausschwenken und
zu Wasser lassen!« Als das Manöver beendet war, legte
92
das Boot langsam ab und trieb in Richtung der Kanaka-
Säule, die drei Meilen entfernt war.
Bald erhob sich die Kanaka-Säule über ihnen, noch
immer eine Meile entfernt, aber mächtig und beein-
druckend. Die Höhe, in der die Säule in der Wolke ver-
schwand, war aus dieser Perspektive geradezu unfaß-
bar und schwindelerregend. Ihre Farbe war eine
scheußliche Mischung aus Purpur und Schwarz, eher
poliertem Stahl als Wasser gleichend.
»Versuchen Sie es mit dem Motor, Steuermann!«
»Aye, aye, Sir!« Der Motor hustete und begann zu
tuckern; die Schraube drehte sich, das Boot schoß
vorwärts.
»Wir sind gleich in der kritischen Zone, Sir!«
»Stoppen Sie!«.Der Blick des Bootsmanns fiel auf
seine Passagiere. »Was ist los, Mr. Eisenberg? Kalte
Füße?«
»Nein, verdammt, die Seekrankheit. Ich kann Boote
nicht ertragen.«
»Das ist dumm für Sie. Ich sehe sofort nach, ob sich
bei dem Proviant Tabletten befinden.«
»Danke, aber die helfen mir nicht. Lassen Sie nur,
ich halte schon durch!«
Der Bootsmann zuckte die Schultern und ließ seinen
Blick über die bedrohlichen Ausmaße der Kanaka-
Säule wandern. Er stieß einen leisen Pfiff aus; das hatte
er während der letzten Minuten jedesmal getan, wenn
er die Säule angesehen hatte. Eisenberg, dem dieser
Ton auf die Nerven ging, hätte ihn dafür totschlagen
können.
»Mann! Sie beabsichtigen wirklich, in dem Ding
hochzusteigen, Mr. Eisenberg?«
»Ich bin fest entschlossen!«
Eisenberg hatte in einem Ton geantwortet, der den
93
Bootsmann zusammenschrecken ließ; der Mann lachte
verlegen und fügte hinzu: »Naja, wenn Sie mich fragen:
Da oben werden Sie sich bestimmt schlechter fühlen
als in diesem Boot.«
Seine Bemerkung wurde nicht eben gut aufgenom-
men; Graves, der das Temperament seines Kollegen
kannte, überspielte die peinliche Situation mit ein paar
Minuten Plauderei.
»Versuchen Sie es mit dem Motor, Steuermann!«
Der Angesprochene gehorchte und rief zurück: »Er
funktioniert nicht, Sir!«
»Helfen Sie dem Maschinisten, eine Schnur anzu-
bringen. Ich übernehme das Steuerruder.«
Die beiden Männer versuchten den Motor anzukur-
beln, aber er gab kein Geräusch von sich.
»Anwerfen!«
Der Motor rührte sich nicht.
Der Bootsmann verließ das nutzlose Steuer, um per-
sönlich seine Körperkräfte an dem Anlasser zu erpro-
ben. Über die Schulter befahl er dem Funker, das
Schiff zu verständigen.
»Boot drei an Brücke. Boot drei an Brücke. Brücke,
antworten Sie. Kommen, kommen.«
Der Mann schob eine der Muscheln vom Ohr. »Die
Leitung ist tot, Sir.«
»Nehmen Sie die Signalflaggen. Sie sollen uns ein-
holen.«
Der Bootsmann richtete sich auf und wischte den
Schweiß vom Gesicht. Nervös lauschte er dem Ge-
räusch des Wassers, das gegen das Boot schwappte.
Graves packte ihn am Arm. »Was ist mit dem Faß?«
»Werfen Sie es über Bord, wenn Sie wollen. Ich bin
beschäftigt. Können Sie das Schiff verständigen,
Sears?«
94
»Bin dabei, Sir.«
»Los, Bill«, sagte Graves zu Eisenberg. Die beiden
schwankten an den drei schwitzenden Männern vorbei
zum Bug. Graves durchschnitt die Stricke, mit denen
das Faß befestigt war; dann versuchten sie, das un-
handliche Ding in den Griff zu bekommen. Mit Inhalt
wog das Faß weniger als einhundert Kilo, aber es war,
besonders auf den unsicheren Bootsplanken, schwer zu
handhaben.
Irgendwie wuchteten sie es dennoch über Bord; Ei-
senberg klemmte sich einen Finger, und Graves stieß
sich böse das Schienbein an. Das Faß klatschte auf und
überschüttete das Boot mit einem Schwall salzigen
Wassers; rasch geriet es in den Sog der Kanaka-Säule
und trieb seinem Ziel schnell entgegen.
»Antwort vom Schiff, Sir.«
»Gut! Sie sollen uns einholen – vorsichtig.«
Der Bootsmann sprang nach vom und überprüfte die
Befestigung der Verbindungsleine.
Graves klopfte ihm auf die Schulter. »Können wir
nicht hier warten, bis das Faß in der Säule verschwin-
det?«
»Nein! Sie sollten jetzt Lieber beten, daß das Seil
hält, statt sich Sorgen um das Faß zu machen – sonst
landen wir auch da oben! Sears, hat das Schiff bestä-
tigt?«
»Soeben, Sir.«
»Warum ist das Seil aus Bast, Mr. Parker?« erkun-
digte sich Eisenberg, der seine Seekrankheit vor Auf-
regung vergessen hatte. »Ich würde Lieber Sisal-Hanf
verwenden, oder ein kräftiges Manila.«
»Weil Bast schwimmt und die anderen nicht«, ant-
wortete der Bootsmann in beißendem Ton. »Das Ge-
wicht von zwei Meilen nassem Hanfseil, und wir wür-
95
den absaufen. Sears! Geben Sie Signal, langsamer ein-
zuholen. Wir nehmen Wasser auf.«
»Aye, aye, Sir.«
Das Faß benötigte kaum vier Minuten, um die Säule
zu erreichen und darin zu verschwinden; Graves beo-
bachtete den Vorgang durch das Fernglas des Funken –
der nervöse Bootsmann warf ihm böse Blicke zu. Einige
Minuten später, als das Boot sich weiter entfernt hatte,
funktionierte das Telefon wieder. Sofort wurde ein
neuer Versuch unternommen, den Motor in Gang zu
bringen, und die Maschine begann röhrend zu arbeiten.
Die Rückfahrt mit Motorkraft wurde mit halber Ge-
schwindigkeit vorgenommen, um der Mannschaft auf
dem Schiff Gelegenheit zu geben, die Bastleine aufzu-
winden – und mit einigen Manövern, um sich nicht
darin zu verwirren.
Die Rauchanlage funktionierte – auf die eine oder
andere Weise. Die Rauchfahne wurde zwei Meilen
südlich der Wahini-Säule gesichtet, etwas über acht
Stunden, nachdem das Faß in die Kanaka-Säule ge-
langt war.
Bill Eisenberg kletterte auf den Sattel der Trainings-
apparatur; gewöhnlich waren dreißig Minuten harte
Tretmühle unter einer Atemmaske, aus der eine Mi-
schung aus Helium und Sauerstoff strömte, notwendig,
um den Stickstoffgehalt des Blutkreislaufs fast ganz
gegen Helium auszutauschen. Das Gerät selbst war nur
ein altes, am Deck verschraubtes Fahrrad. Blake mu-
sterte das Gestell kritisch.
»Sie hätten das Ding nicht mitzubringen brauchen«,
bemerkte er. »Wir haben ein besseres Gerät in Stan-
dardausführung an Bord.«
»Das wußten wir nicht«, antwortete Graves. »Irgend-
wie wird das Ding schon ausreichen. Alles klar, Bill?«
96
»Ich denke schon.« Er blickte über die Schulter, wo
der stählerne Körper des Tauchboots lag, von der Ver-
schalung befreit, überprüft und voll ausgerüstet bereit,
um von Bord gehievt zu werden.
»Haben Sie das richtige Atemgemisch gebraut?«
»Sicher. Die Eiserne Jungfrau ist bereit. Der Torpe-
doschütze und ich helfen Ihnen nachher hinein. Hier ist
Ihre Maske, Bill.«
Eisenberg nahm die Atemmaske in Empfang, wollte
sie anlegen, zögerte jedoch. Graves bemerkte den
Blick.
»Was ist los, Junge?«
»Doc äh …«
»Ja?«
»Ich meine – Sie kümmern sich um Cleo und Pat,
nicht wahr?«
»Nun, sicher. Aber sie werden nicht viel benötigen
in der kurzen Zeit, die Sie weg sind.«
»Mmmh, nein, ich glaube nicht Aber Sie schauen
nach ihnen, nicht wahr?«
»Sicher.«
»Okay.«
Eisenberg zog die Maske an und winkte dem Matro-
sen, der bei den Gasflaschen wartete. Der Mann öffnete
die Hähne, es begann zu zischen, und Eisenberg trat in
die Pedale, als ginge es um den Sieg im Sechs-Tage-
Rennen.
Um die dreißig Minuten Wartezeit zu verkürzen,
forderte der Kapitän Graves zu einem Rundgang auf
dem Vorderdeck auf. Sie rauchten und hatten das Deck
bereits an die zwanzigmal Umschriften, als Blake ver-
harrte, die Zigarre aus dem Mund nahm und bemerkte:
»Wissen Sie, ich glaube, daß er eine gute Chance hat,
den Ausflug zu überstehen.«
97
»So? Freut mich zu hören.«
»Doch, ich glaube es wirklich. Der Versuch mit dem
Faß hat mich überzeugt. Und auf jeden Fall, wenn das
Ding die Wahini-Säule verläßt, ich werde es finden!«
»Das weiß ich. Es war ein guter Einfall von Ihnen,
es gelb zu streichen.«
»Eine Hilfe, es auszumachen. Irgendwie glaube ich
aber nicht, daß Mr. Eisenberg von seiner Fahrt große
Resultate zu erwarten hat. Von dem Augenblick, in
dem er in die Säule gelangt, bis zu der Sekunde, in der
wir ihn auffischen, wird er durch die Bullaugen nichts
anderes sehen als blaues Wasser.«
»Möglich.«
»Was könnte er sonst sehen?«
»Ich weiß es auch nicht. Vielleicht, was immer das
sein mag, was für die Existenz der Säulen verantwort-
lich ist.«
Blake schnippte die Zigarrenasche über die Reling,
bevor er antwortete.
»Doktor, ich begreife sie nicht. Für meine Begriffe
sind diese Wassersäulen ein natürliches, wenn auch
seltsames Phänomen.«
»Für mich ist völlig klar, daß sie nicht natürlichen
Ursprungs sind. Sie beweisen eine intelligente Hand-
habung der gewöhnlichen Naturprozesse so deutlich,
als stünde es angeschrieben.«
»Ich verstehe nicht, wie Sie so etwas behaupten
können. Offensichtlich sind sie nicht von Menschen-
hand geschaffen.«
»Stimmt.«
»Und wer sollte sie dann gemacht haben – falls sie
geschaffen wurden?«
»Das weiß ich nicht.«
Blake setzte zu einer Entgegnung an, zuckte jedoch
98
die Schultern und schwieg. Sie beendeten ihren Rund-
gang. Graves trat an die Reling, um seine Zigarette
über Bord zu werfen und schaute auf das Meer hinaus.
Er erschrak.
»Kapitän Blake!«
»Wie?« Der Kapitän trat hinzu und blickte in die
Richtung, in welche Graves deutete.
»Großer Gott! Feuerbälle!«
»Das habe ich fast erwartet.«
»Sie sind noch ziemlich weit entfernt«, murmelte
Blake, mehr zu sich selbst als zu Graves. Heftig fuhr er
herum.
»Brücke!« rief er. »Brücke! Brücke ahoi!«
»Brücke, aye, aye!«
»Mr. Weems – rufen Sie aus: Alle Mann unter
Deck. Lassen Sie alle Schotten und Luken schließen.
Und schließen Sie auch die Brücke. Geben Sie
Alarm!«
»Aye, aye, Sir!«
»Beeilen Sie sich!« Zu Graves gewandt, fügte er
hinzu: »Kommen Sie hier herein.«
Graves folgte ihm; durch eine Luke gelangten sie
unter Deck. Der Kapitän schloß den Eingang. Blake
eilte auf einem Umweg zur Brücke, Graves folgte ihm
rasch. Das Schiff war erfüllt vom schrillen Ton der
Pfeife des Bootsmanns, der krächzenden Stimme des
Lautsprechers, dem Trampeln eiliger Füße und dem
monotonen Klingeln der Alarmglocke.
Auf der Brücke beschäftigten sich die Wachhaben-
den noch damit, die letzten der schweren gläsernen
Schiebefenster zu schließen, als der Kapitän herein-
platzte. Mit großen Schritten durchmaß er die Brücke
von einer Seite zur anderen, schaute nach allen Seiten
über das Schiff aus und widmete seine Aufmerksam-
99
keit wieder den Kugelblitzen; sie kamen rasend schnell
näher, direkt auf das Schiff zu. Der Kapitän stieß einen
wilden Fluch aus.
»Ihr Freund hat nichts bemerkt«, sagte er zu Graves.
Er ergriff den Hebel für den Öffnungsmechanismus
des Heck-Ausgangs der Brücke.
Graves drehte sich um und sah, was der Kapitän
meinte – das hintere Deck war leer bis auf jene einsa-
me Gestalt, die wie besessen auf dem festgeschraubten
Fahrrad strampelte. Die LaGrange-Kugelblitze waren
jetzt fast über dem Schiff.
Blake sprang an die Kontrollen der Lautsprecheran-
lage; seine Stimme dröhnte über das Schiff.
»Eisenberg! In Deckung!«
Eisenberg mußte seinen Namen gehört haben, denn
er hob den Kopf, in eben der Sekunde, als ein Kugel-
blitz ihn erreichte. Er schwebte vorbei, und der Sattel
des Geräts war leer.
Als die Gefahr vorüber schien, untersuchten sie das
Gestell und fanden es unbeschädigt. Die Atemmaske
war vom Schlauch abgerissen. Blutspuren gab es nicht.
Bill Eisenberg war einfach verschwunden.
»Ich gehe hinauf!«
»Sie sind nicht in dem entsprechenden Gesundheits-
zustand, Doktor.«
»Sie haben die Verantwortung dafür nicht zu tragen,
Kapitän Blake.«
»Das weiß ich. Wenn Sie wollen, dann gehen Sie –
nachdem wir den Körper Ihres Kollegen gefunden ha-
ben.«
»Verdammt! Ich suche ihn dort oben!«
»Wie? Hä? Wie das?«
»Falls Sie recht haben und er tot ist, hat die Suche
keine Eile. Habe ich recht, gibt es nur eine Möglich-
100
keit, ihn zu finden – da oben!« Graves deutete auf die
Wolkendecke über den Säulen.
Blake musterte ihn bedächtig, dann wandte er sich
an den Chefingenieur.
»Mr. Hargreaves, beschaffen Sie eine Atemmaske
für Dr. Graves.«
Der Doktor konditionierte sich dreißig Minuten lang
auf dem Gestell, während Blake schwieg und aus-
druckslos vor sich hinstarrte. Die Mannschaft, Matro-
sen wie Offiziere, hielt Abstand von ihm; sie pflegten
ihre Stiefel federleicht aufzusetzen, wenn der Kapitän
diesen Blick hatte.
Nach Abschluß der Konditionierung halfen die Ma-
trosen Graves rasch in die Montur und schnallten ihn
in der Tauchkugel fest, in aller Eile, um ihn nicht zu
lange dem Stickstoffgehalt der Atmosphäre auszuset-
zen. Eben sollte die Einstiegsluke verschraubt werden,
als Graves nach dem Kapitän rief.
»Ja, Doktor?«
»Die Goldfische – würden Sie sich bitte um sie
kümmern?«
»Selbstverständlich, Doktor.«
»Vielen Dank.«
»Keine Ursache. Sind Sie fertig?«
»Fertig.«
Blake trat einen Schritt vor, streckte einen Arm in
die Öffnung und schüttelte Graves die Hand.
»Viel Glück.« Er trat zurück. »Schließen Sie zu.«
Die Tauchkugel wurde über Bord gehievt; zwei
Boote schleppten sie eine halbe Meile in Richtung auf
die Kanaka-Säule, bis die Strömung stark genug war,
sie ins Ziel zu befördern.
Blake verfolgte die Kugel mit dem Fernglas. Zuerst
trieb sie langsam dahin, dann riß die Strömung sie
101
schnell mit sich; die letzten fünfhundert Meter schoß
die Kugel mit enormer Geschwindigkeit auf die Säule
zu. Blake erspähte noch einmal einen gelben Fleck auf
der Wasseroberfläche, dann war nichts mehr zu sehen.
Acht Stunden vergingen – kein Rauchsignal er-
schien. Neun Stunden, zehn Stunden; nichts. Nach
vierundzwanzigstündiger Suche im Bereich der Wahi-
ni-Säule verständigte Blake das Marineministerium.
Vier Tage – Blake wußte, daß der Insasse der
Tauchkugel tot sein mußte; ob durch Ertrinken, durch
Ersticken oder aus anderen Gründen, das war gleich-
gültig. Er lieferte seinen Bericht ab und erhielt Anwei-
sung, eine Ehrung der Verschollenen vorzunehmen.
Die Mannschaft trat an; Kapitän Blake hielt seine An-
sprache mit lauter, rauher Stimme und warf ein Bündel
Hibiskuszweige über Bord – mehr hatte sich zur Zeit
nicht auftreiben lassen – dann ging er zur Brücke, um
Befehl zu geben, Kurs auf Pearl Harbor zu nehmen.
Auf dem Weg zur Brücke verweilte er einen Au-
genblick in seiner Kabine und befahl dem Steward: »In
dem Waschbecken von Mr. Eisenberg finden Sie ein
Paar Goldfische. Besorgen Sie einen passenden Behäl-
ter und stellen Sie die Tiere in meine Kabine.«
»Jawohl, sicher, Kapitän.«
102
die Ausmaße zu erfassen. Die Eigenschaft des plasti-
schen Sehens läßt nach etwa zwanzig Metern nach,
und die Fähigkeit, an der optischen Größe eines Ob-
jekts im Verhältnis zu seiner bekannten tatsächlichen
Größe seine Entfernung zu bestimmen, war hier bedeu-
tungslos. Solche Objekte waren nicht vorhanden.
Eisenberg konnte nicht feststellen, in welcher Höhe
sich die Decke befand; jedenfalls, wie er bald bemerkte,
weitaus höher als ein Mensch zu springen vermochte.
Der Boden hatte ringsum keine Kanten, sondern ging
in einer konkaven Krümmung in Wand und Decke
über. Bei jedem Schritt drohte er das Gleichgewicht zu
verlieren. Vertikale und Horizontale hatten hier keine
konstante Bedeutung mehr. Außerdem war Eisenbergs
Gleichgewichtssinn ohnehin gestört, verursacht durch
viele Jahre Taucharbeit. Jedenfalls erwies sich das Sit-
zen als unproblematischer als das Stehen und Laufen,
und nach der ersten Erkundung gab es keinen Grund
mehr zu weiterer Aktivität.
Bei seinem Erwachen hatte der Mangel jeder greif-
baren Gegenständlichkeit ihn verwirrt. Es schien, als
befände er sich in einer gewaltigen Eierschale, in die
von außen ein sanftes, bernsteinfarbenes Licht drang.
Die Formlosigkeit der Umgebung war bedrückend; er
schloß die Augen, schüttelte den Kopf und öffnete die
Augen wieder – nichts hatte sich verändert.
Allmählich erinnerte er sich der letzten Eindrücke,
bevor er das Bewußtsein verloren hatte – der huschende
Kugelblitz, sein erschrockener, vergeblicher Versuch,
ihm auszuweichen, die Gedanken, die ihm in jener un-
endlich langen Sekunde vor dem Kontakt durch den
Kopf zuckten. Sein Verstand suchte nach einer Erklä-
rung. Kälteschock, dachte er, die Nerven gelähmt. Er
war froh, nicht erblindet zu sein.
103
Irgendwie sollten sie ihn nicht so allein lassen in die-
sem hilflosen Zustand. »Doc!« rief er. »Doc Graves!«
Keine Antwort, kein Echo – er bemerkte, daß es
kein Geräusch gab, bis auf seine eigene Stimme; sogar
die kleinen Nebengeräusche fehlten, die sonst jede
normale Stille begleiten. An diesem Ort war es so still
wie in einem Sack voll Mehl. War sein Gehör zerstört?
Nein, er hatte die eigene Stimme vernommen. Er
starrte auf seine Hände, erkannte sie deutlich – auch
seine Augen waren in Ordnung. Auch sein Körper war
unversehrt. Er war nackt.
Es mochten mehrere Stunden vergangen sein, viel-
leicht auch nur Sekunden, bis er als gesicherte Er-
kenntnis annahm, er sei tot. Es war die gegenwärtig
einzig einleuchtende Erklärung für die Lage, in derer
sich vorgefunden hatte. Als materialistischer Wissen-
schaftler hatte er nie ein Leben nach dem Tod erwartet;
er hatte geglaubt, einmal zu verlöschen wie eine kleine
Flamme erlischt.
Er war in ein elektrostatisches Feld geraten, dessen
Energie zu mehr ausreichen würde als einen Menschen
zu töten; aller zu Bewußtsein gelangte, fand er sich
außerhalb jeder bekannten Verhältnisse, die das
menschliche Leben ausmachen. Also war er tot.
Quod erat demonstrandum.
Sicher, er schien einen Körper zu haben, aber das
war nur ein subjektiver Eindruck. Er besaß noch ein
Gedächtnis, und den stärksten Anteil in einem Ge-
dächtnis hat das Körperbewußtsein. Dies war nicht sein
Körper, sondern nur die sensuelle Erinnerung daran,
überlegte Eisenberg. Wahrscheinlich, dachte er, würde
dieser Nachhall des Körperbewußtseins in dem Maße
verschwinden, wie die Erinnerung an den objektiven
Körper nachließ.
104
Nichts war zu tun, nichts zu erkunden, nichts gab es
mehr, was seine Gedanken beschäftigen konnte. End-
lich schlief er ein, mit dem Gedanken, daß, wenn dies
das Leben nach dem Tod sein sollte, es ein schöner
Mist war.
Er erwachte gestärkt, aber mit einem grausamen
Hungergefühl und entsetzlich durstig. Die Frage nach
Tod oder Leben interessierte ihn nicht mehr, Theologie
und Metaphysik waren jetzt bedeutungslos. Er hatte
Hunger.
Beim Erwachen konstatierte er außerdem eine Ver-
änderung, die den Gedanken an den eigenen Tod weit-
gehend verdrängte. Er fand neben sich materielle Ob-
jekte, die er sehen und berühren konnte.
Und essen.
Die letztere Annahme war ein wenig gewagt, denn
was er erblickte, sah nicht wie Nahrung aus. Es gab
zwei Dinge. Das eine waren formlose Klumpen ohne
erkennbare Eigenschaften außer der einer fettigen
Schleimigkeit, nicht eben appetitlich. Das andere wa-
ren zwei Dutzend kristallartiger Kugeln, perfekt abge-
rundet und eiskalt; in dem bernsteinfarbenen Licht
schimmerten sie wie Kristalle.
Hübsch waren sie, aber sahen nicht verzehrbar aus,
was bei den ekelhaften Klumpen eher der Fall sein
mochte. Eisenberg klaubte einen winzigen Brocken
heraus, roch daran und probierte vorsichtig. Es
schmeckte sauer und widerlich. Er spuckte es aus, ver-
zog das Gesicht und wünschte, er könnte sich die Zähne
putzen. Falls das Nahrung war, würde der Hunger noch
lange warten müssen.
Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder den kri-
stallähnlichen Kugeln. Sie in den Händen haltend, ge-
noß er ihre kühle Berührung. In jeder einzelnen Kugel
105
sah er das eigene Spiegelbild, winzig, elfenhaft, anmu-
tig. Er wurde sich – erstmals in dieser Deutlichkeit –
der Schönheit des menschlichen Körpers bewußt, jeder
menschlichen Gestalt, betrachtete man sie als ein
Kunstwerk und nicht als eine Reihe widerstrebender
Einzelheiten.
Aber der Durst wurde dringlicher als die narzißti-
schen Anwandlungen. Er kam auf den Gedanken, daß
die Kugeln, nahm er sie in den Mund, den gleichen
Zweck erfüllen könnten wie Steine, nämlich den Spei-
chelfluß zu fordern. Er versuchte es; die Kugel stieß
gegen seine Zähne, als er sie in den Mund nahm, und
plötzlich war sein Mund, waren seine Lippen von Nässe
überschwemmt, die auf seine Brust tropfte. Die Kugeln
bestanden aus Wasser, aus nichts als Wasser ohne Hülle,
ohne Behälter. Man hatte ihm Wasser gereicht, nett
verpackt durch einen unbekannten Trick.
Er nahm eine andere Kugel, vorsichtiger, indem er
sie in den Mund führte, ohne die Lippen zu berühren.
Es klappte – sein Mund füllte sich mit reinem, klarem
Wasser; zu schnell – er hustete. Aber er hatte begrif-
fen; er schlürfte vier Kugeln!
Als der Durst gelöscht war, wandte er den Kugeln
sein Interesse von der wissenschaftlichen Seite zu. Die
Kugeln waren massiv; sie ließen sich nicht durch Rei-
bung schmelzen, und sie zerbrachen nicht, als er sie
heftig auf den Boden warf. Vielmehr hüpften sie wie
Gummibälle. Er versuchte eine Kugel mit den Finger-
nägeln aufzureißen. Schließlich gelang es ihm, und das
Wasser lief zwischen seinen Fingern hindurch – nur
Wasser, keine Haut oder irgendeine fremdartige Sub-
stanz. Es schien, als könne nur ein Schnitt den starren
Zustand des Wassers aufheben.
Eisenberg beließ es dabei, denn die Anzahl der Ku-
106
geln war begrenzt, und vorläufig standen keine weite-
ren in Aussicht, weshalb es vernünftig war, sparsam
damit umzugehen.
Nachdem er den Durst gestillt hatte, nagte der Hun-
ger umso stärker. Er befaßte sich nochmals mit der
schleimigen Substanz und zwang sich, sie zu kauen
und zu verschlucken. Es mochte keine Nahrung sein,
vielleicht sogar Gift, aber es füllte den Magen und be-
seitigte den Hunger. Er fühlte sich immerhin gesättigt;
den üblen Geschmack spülte er mit einer weiteren Por-
tion Wasser hinunter.
Später ordnete er noch einmal seine Gedanken. Er
war nicht tot, oder falls doch, so war der Unterschied
zwischen Leben und Tod gering. Nun gut, er lebte.
Aber man hielt ihn gefangen. Jemand wußte von ihm
und kümmerte sich um ihn, hatte Nahrung und Getränk
gereicht – geheimnisvoll, doch geschickt. Und war er
ein Gefangener, mußte es auch einen Wächter geben.
Wessen Gefangener? Er war von einem LaGrange-
Kugelblitz paralysiert und entführt worden und in die-
sem Raum wieder zu Bewußtsein gekommen. Es
schien so, mußte Eisenberg sich eingestehen, als hätte
Doc Graves recht; die Kugelblitze unterlagen einer
intelligenten Kontrolle. Die Person oder die Macht, die
sie lenkte, verfügte außerdem über merkwürdige Wege,
Gefangene zu machen und sie unterzubringen.
Eisenberg war ein tapferer Mann, so tapfer wie der
gewöhnliche Durchschnitt seiner Rasse. Er teilte mit
ihr den Mut, dem Tod zu trotzen, ihm täglich ins Ge-
sicht zu sehen, auf der Straße, im Operationssaal, auf
dem Schlachtfeld, in den Wolken und in den Tiefen
des Meeres – zuletzt auch den Mut, mit leichtem Her-
zen der Selbstverständlichkeit des Todes gegenüber zu
treten.
107
Eisenberg war besorgt, aber ohne Panik. Seine Si-
tuation war immerhin neuartig und interessant; er lang-
weilte sich nicht mehr. Wenn er ein Gefangener war,
schien es einleuchtend, daß seine Entführer sich früher
oder später näher mit ihm befassen würden, ihn viel-
leicht ausfragen wollten, oder ihn zu irgendeinem
dunklen Zweck brauchten. Die Tatsache, daß man ihn
nicht sofort getötet hatte, ließ den Schluß zu, daß man
bestimmte Absichten mit ihm verfolgte. Er mußte sich
darauf vorbereiten, wem oder was er auch begegnen
sollte. Gegenwärtig gab es keine Möglichkeit, selbst
aus der Gefangenschaft zu entkommen; das war ihm
völlig klar. Dies war ein Gefängnis, das einen Houdini
beschämen mußte – fahle, gleichmäßige Wände, kein
Winkel, sich zu verkriechen.
Nur einmal verschwendete er einen kurzen Gedan-
ken an Flucht: die Zelle besaß irgendeine Art sanitärer
Vorrichtung, welche die Abfallstoffe seines Körpers
beseitigte. Aber er verwarf die Hoffnung sofort; der
Vorgang, den er nicht begriff, beruhte offenbar auf
einem unbekannten Prinzip der Absorption – die Zelle
säuberte sich selbsttätig. Eisenberg war erstaunt.
Bald darauf schlief er wieder ein.
Als er erwachte, hatte nur etwas sich verändert:
Wasser und Nahrung waren erneuert worden. Die
Wachperiode, die etwa dem Zwölfstundenrhythmus
entsprach, verging wiederum ohne Zwischenfall; er
blieb seinen unruhigen, nutzlosen Grübeleien überlas-
sen.
Und der nächste Tag. Und der übernächste.
Er beabsichtigte schließlich, lange genug wach zu
bleiben, bis er beobachten konnte, auf welche Weise
Wasser und Nahrung in die Zelle gelangten. Er unter-
nahm große Anstrengungen und wandte drastische
108
Mittel an, um nicht einzuschlafen. Er biß sich auf die
Lippen, er biß sich auf die Zunge. Er kniff sich in die
Ohrläppchen und kratzte sie mit den Fingernägeln auf.
Er konzentrierte sich auf schwierige Gedankenspiele.
Umsonst. Der ermüdete Organismus schaltete ein-
fach ab; beim Erwachen fand er die Lebensmittel wie-
der erneuert.
Den Perioden des Wachens folgte der Schlaf, aus
dem er stets hungrig und durstig erwachte, um seine
Bedürfnisse zu befriedigen und wieder zu schlafen. Es
war nach dem sechsten oder siebten dieser Tage, als er
zu dem Schluß kam, daß die Führung irgendeines pri-
mitiven Kalenders für die Erhaltung seiner geistigen
Gesundheit notwendig war. Außer den Schlafperioden
gab es keine Möglichkeit, sich zeitlich zu orientieren.
Sie unterschieden für ihn Tag und Nacht, obwohl eine
Übereinstimmung langst nicht mehr gegeben sein
mußte. Er hatte keine Mittel, Notizen anzufertigen,
außer seinem Körper. Und er benutzte ihn.
Ein von der Großzehe abgerissenes Stück Nagel er-
gab eine grobe Nadel. Ständiges Einritzen der Haut
verursachte eine rote Narbe, wenn es an derselben Stelle
geschah, und sie hielt ein oder zwei Tage an und konnte
wieder nachgezogen werden. Sieben Narben ergaben
eine Woche.
Auf diese Weise bedeckte er alle zehn Zehen mit
Narben – ein erheblich längerer Zeitraum des Wartens,
als er vermutet hatte warten zu müssen.
Er hatte die zweite Serie von Narben – am Ringfin-
ger der linken Hand – beendet, als seine Einsamkeit
unterbrochen wurde. Als er mißgestimmt erwachte,
bemerkte er plötzlich und in übermächtig aufschäu-
mender Freude, daß er nicht mehr allein war!
Neben ihm schlief eine menschliche Gestalt. Nach-
109
dem er sich überzeugt hatte, daß er wirklich hellwach
war – seine Träume neigten in dieser Eintönigkeit
schon lange dazu, ihm böse Streiche zu spielen – packte
er den Schlafenden an der Schulter und schüttelte ihn.
»Doc!« schrie er. »Doc! Aufwachen!«
Graves schlug die Augen auf, blinzelte verstört,
setzte sich auf und streckte die Hand aus.
»Hallo, Bill«, meinte er. »Ich bin verdammt froh,
Sie zu sehen.«
»Doc!« Eisenberg faßte den Mann unter den Schul-
tern und half ihm auf die Beine. »Doc! Um Himmels-
willen! Sie glauben nicht, wie froh ich bin.«
»Ich kann es mir vorstellen.«
»Wo haben Sie gesteckt? Wie kommen Sie hier her-
ein? Haben die Kugelblitze Sie auch geschnappt?«
»Eins nach dem andern, Junge. Erst wollen wir et-
was essen.«
Diesmal war eine doppelte Ration Wasser und Nah-
rung bereitgestellt. Graves nahm eine Wasserkugel, mu-
sterte sie fachmännisch und trank, ohne einen Tropfen
zu verlieren. Eisenberg beobachtete ihn verständnisvoll.
»Sie sind schon einige Zeit hier.«
»Stimmt.«
»Haben die Kugelblitze uns gleichzeitig entführt?«
»Nein.« Graves langte nach dem Essen. »Ich kam
die Kanaka-Säule herauf.«
»Was!«
»Wirklich. Tatsache, ich wollte Sie suchen!«
»Das ist doch Unsinn!«
»Aber es ist wahr. Es scheint, meine wilden Vermu-
tungen waren richtig; die Säulen und die Kugelblitze
sind Resultate ein und derselben Ursache – X!«
Es schien, als könne man in Eisenbergs Kopf
Windmühlen surren hören.
110
»Aber, Doc … hören Sie, das heißt, daß Ihre gesamte
Hypothese korrekt war. Jemand ist verantwortlich für
das hier. Jemand hat uns hier eingesperrt.«
»Stimmt.« Graves kaute langsam. Er wirkte müde,
älter und hagerer als Eisenberg ihn in Erinnerung hatte.
»Offensichtlich intelligente Mächte. Wußte es schon
immer. Keine andere Erklärung.«
»Aber wer?«
»Hmmm …«
»Eine ausländische Macht? Werden wir mit einer
neuen gefährlichen Waffe angegriffen?«
»Pfft! Meinen Sie, die Japaner, nur als Beispiel, wä-
ren in der Lage, uns Wasser auf diese Weise zu servie-
ren?« Er hielt eine der Kugeln hoch.
»Wer könnte es sein?«
»Ich weiß es auch nicht. Bezeichnen Sie sie als
Marsbewohner – das entspricht am ehesten der
menschlichen Fantasie.«
»Warum Marsbewohner?«
»Nur so. Ich meine, das ist die bequemste Vorstel-
lung.«
»Wieso bequem?«
»Weil sie uns vor dem Trugschluß bewahrt, uns diese
Wesen als menschlich auszumalen – was sie ganz ge-
wiß nicht sind. Sie sind auch keine Tiere. Sie sind
hochintelligent. Viel schlauer als wir. Marsbewohner.«
»Aber … aber warten Sie einmal. Warum nehmen
Sie an, daß Ihre X-Leute nichtmenschlich sind? War-
um könnten es nicht Menschen sein, die der Wissen-
schaft ein Stück voraus sind? Neue Forschungsergeb-
nisse?«
»Das ist eine gute Frage«, antwortete Graves. »Ich
will Ihnen eine gute Antwort geben. Weil in der ge-
genwärtigen globalen Situation, in einer Atmosphäre
111
friedlicher Zusammenarbeit, jeder weiß, wo die besten
Köpfe sitzen und was sie gerade anstellen. Solche wis-
senschaftlichen Resultate würden nicht lange verbor-
gen bleiben. X verfügt offensichtlich über ein halbes
Dutzend Kenntnisse, die jenseits unserer Wissenschaft
liegen, und um sie aufzuarbeiten, benötigen wir viele
Jahre Arbeit von einigen Dutzend der besten Forscher.
Kurz gesagt, folglich handelt es sich um nichtmensch-
liche Wissenschaft.«
Er fügte hinzu: »Natürlich, sollten Sie allerdings an
ein geheimes Laboratorium und einen wahnsinnigen
Professor glauben, kann ich dazu nichts sagen.
Schließlich schreibe ich ja nicht für eine Illustrierte.«
Bill Eisenberg schwieg ziemlich lange, während er
die Argumente mit seinen eigenen Erfahrungen ver-
glich.
»Sie haben recht, Doc«, gab er endlich zu. »Sie hat-
ten bisher meistens recht, wenn wir diskutierten. Es
müssen Marsbewohner sein. Nein, ich meine nicht, daß
sie auf dem Mars wohnen; ich meine, es handelt sich
um eine Form intelligenten Lebens aus dem Welt-
raum.«
»Mag sein.«
»Aber eben haben Sie das behauptet!«
»Nein, ich sagte, es sei eine bequeme Art der Be-
trachtung.«
»Aber es muß so sein, überdenkt man alle Möglich-
keiten.«
»Negative Auslese ist ein unsicherer Weg, zum
Kern der Dinge zu stoßen.«
»Worum sollte es sich sonst handeln?«
»Mmmm es fallt mir schwer, meine Gedanken dar-
über zu formulieren. Aber es gibt gewichtigere Gründe
als wir bisher erwogen haben, weshalb wir es mit
112
nichtmenschlichen Existenzen zu tun haben müssen.
Psychologische Gründe.«
»Welche?«
»X behandelt Gefangene nicht auf die Weise, wie
sie menschlichen Plänen und menschlichen Verhal-
tensweisen entspringen würde. Denken Sie nach.«
Die beiden Männer hatten eine Menge zu diskutie-
ren, mehr als nur über X, obwohl das ein Gegenstand
war, auf den sie immer wieder zurückkamen. Graves
gab Bill eine einfache, gedrängte Schilderung, wie er
in die Kanaka-Säule gelangt war – ein Bericht, der
mehr verschwieg als er aussagte. Eisenberg fühlte sich
plötzlich sehr gering, als er seinen älteren Kollegen
anblickte.
»Doc, Sie sehen nicht sehr gut aus.«
»Es geht mir gut.«
»Die Fahrt in die Säule war für Sie zu hart. Sie hät-
ten das nicht tun sollen.«
Graves zuckte die Schultern. »Ich habe es gut über-
standen.« Aber er hatte nicht, und Bill sah es ihm an.
Dem alten Mann ging es schlecht.
Sie schliefen, aßen, redeten und schliefen wieder.
Gemeinsam gewöhnten sie sich an die Eintönigkeit
ihrer Gefangenschaft. Aber Graves schöpfte keine neuen
Kräfte mehr.
»Doc, wir müssen etwas dagegen unternehmen.«
»Wogegen?«
»Gegen die ganze Angelegenheit. Diese Sache ist
eine Herausforderung an die gesamte Menschheit, die
nicht hingenommen werden kann. Wir wissen nicht,
was inzwischen da unten geschehen ist, aber …«
»Warum sagen Sie ›da unten‹?«
»Nun, Sie kamen die Säule herauf.«
»Ja, sicher – aber ich habe keine Ahnung, wann
113
oder wie sie mich aus der Tauchkugel holten, oder wo-
hin sie mich brachten. Aber reden Sie weiter, lassen sie
Ihren Einfall hören.«
»Gut, aber – naja. Wir wissen nicht, was inzwischen
aus der Menschheit geworden ist. Die Kugelblitze
können sie verschleppen, einen nach dem andern, ohne
jede Chance der Abwehr, bevor jemand begreift, was
eigentlich geschieht. Wir beide wissen ein wenig. Wir
müssen fliehen und die Menschen warnen. Es muß
einen Weg geben, sich zu wehren. Das ist unsere Auf-
gabe; die Zukunft der ganzen Menschheit kann davon
abhängen.«
Graves schwieg für so lange Zeit, daß Bill sich über-
flüssig zu fühlen begann, und ein bißchen närrisch.
Aber schließlich gab Graves eine Antwort.
»Ich glaube, das ist richtig, Bill. Ich denke, das ist
gut möglich; nicht unbedingt, aber sehr wahrschein-
lich. Die Möglichkeit einer so großen Gefahr versieht
uns mit einem Auftrag unserer ganzen Rasse. Ich habe
es gewußt. Ich wußte es, bevor wir in diese Lage gerie-
ten, aber ich kannte nicht genug Einzelheiten, um eine
Warnung aussprechen zu können, die man ernst ge-
nommen hätte.«
Er fuhr fort: »Die Frage ist, wie können wir eine
Warnung geben – jetzt noch?«
»Wir müssen fliehen.«
»Wie?«
»Es muß einen Weg geben.«
»Können Sie mir einen verraten?«
»Vielleicht. Als man uns hierher brachte, waren wir
nicht bei Bewußtsein, wissen also nicht, auf welche
Weise das geschah; aber es muß einen Weg geben – es
gibt ihn, sonst wären wir nicht hier drin. Außerdem,
unsere Rationen werden täglich hereingebracht – ir-
114
gendwie. Einmal versuchte ich wach zu bleiben, um
das zu beobachten, aber ich schlief ein …«
»So erging es mir auch.«
»Das überrascht mich nicht. Aber jetzt sind wir
zwei; wir können uns abwechseln, einer schläft, einer
wacht – bis etwas geschieht.«
Graves nickte. »Das ist einen Versuch wert.«
Da sie keine Möglichkeit hatten, die Dauer einer
Wache zu bestimmen, wachte einer der Männer immer
so lange, bis die Müdigkeit unerträglich wurde und
weckte dann den anderen.
Aber nichts geschah. Die Nahrung ging aus und
wurde nicht ersetzt. Sie sparten mit den Wasserkugeln,
bis nur eine übrig blieb, die nicht getrunken wurde –
der andere sollte sie haben! Aber noch immer gab es
von ihren unbekannten Entführern kein Zeichen.
Nach einem Zeitraum von unschätzbarer Dauer –
aber sehr lang, fast unerträglich lang – erwachte Eisen-
berg wieder einmal aus einem leichten, unruhigen
Schlaf, als ihn jemand plötzlich schüttelte und er seinen
Namen rufen hörte. Er fuhr hoch, blinzelnd, verwirrt.
»Wer? Was? Was ist los?«
»Ich bin eingeschlafen«, sagte Graves traurig. »Es
tut mir leid, Bill.«
Eisenberg blickte sich um. Wasser und Nahrung wa-
ren wieder vorhanden.
Eisenberg schlug keine Wiederholung des Experi-
ments vor. Offenbar wollten ihre Entführer nicht zulas-
sen, daß sie irgendetwas außer ihrer Zelle zu sehen
bekamen, und waren klug genug, die Absichten ihrer
Gefangenen zu durchschauen. Obendrein war Graves
sichtlich ein kranker Mann; Eisenberg wollte von ihm
keine weiteren Wachen verlangen, verbunden mit dem
Verzicht auf Nahrung.
115
Ohne den Weg zu kennen, schien jeder Ausbruch
völlig ausgeschlossen. Ein nackter Mann ist ein ziem-
lich hilfloses Geschöpf. Entbehrt er jeden Materials,
Werkzeug zu improvisieren, kann er herzlich wenig
tun. Eisenberg hätte sein Seelenheil nur zu gern gegen
einen Bohrer, eine Taschenlampe oder sogar einen ro-
stigen Meißel getauscht. Ihm war klar, daß ohne jedes
Werkzeug ihre Chance, zu entkommen, nicht größer
war als für seine Goldfische, Cleo und Patra, die Chance,
sich durch die Wand eines Aquariums zu beißen.
»Doc.«
»Ja, Junge.«
»Wir haben den falschen Weg eingeschlagen. Wir
wissen, daß X intelligent ist; statt über Fluchtwegen zu
grübeln, sollten wir versuchen, uns zu verständigen.«
»Und wie?«
»Keine Ahnung. Aber irgendwie muß es doch mög-
lich sein.«
Aber falls es möglich war, konnte er es niemals he-
rausfinden. Selbst unter der Voraussetzung, daß ihre
Entführer sie sahen und hörten – durfte er erwarten,
daß sie in menschlicher Sprache und Gebärde Zeichen
der Intelligenz sahen? War es theoretisch vertretbar,
daß eine – wie auch immer geartete – nichtmenschliche
Existenz in menschlichen Lauten einen Sinn finden
sollte, vernahm sie die Laute ohne den entsprechenden
Hintergrund, ohne materielle menschliche Umgebung,
ohne hilfreiche Abbildungen, ohne selbst angespro-
chen zu sein? Es war Tatsache, daß die menschliche
Rasse, als sie sich vom Tierreich lossagte, die Laute
der anderen Tiere nicht länger beachtete, weil die eigene
Form der Kommunikation komplizierter wurde.
Was sollte er tun, um ihre Aufmerksamkeit zu erre-
gen, ihr Interesse zu wecken? Das Einmaleins aufsa-
116
gen? Ein Gedicht rezitieren? Oder, wenn er Gestik ge-
brauchen wollte, würde die Taubstummensprache sie
mehr interessieren als die Winkzeichen eines Ver-
kehrspolizisten?
»Doc.«
»Was gibt es, Bill?« Mit Graves ging es abwärts; er
sprach immer seltener.
»Warum sind wir hier? Ich hatte stets angenommen,
einmal würden sie uns holen, um etwas mit uns anzufan-
gen. Uns vielleicht zu verhören. Doch es sieht nicht so
aus, als verfolgten sie eine bestimmte Absicht mit uns.«
»Es scheint nicht so.«
»Warum sind wir trotzdem hier? Warum halten sie
uns fest? Warum töten sie uns nicht?«
Graves zögerte lange, bevor er antwortete. »Es kann
sein, daß sie erwarten, wir wurden uns vermehren.«
»Was?«
Graves hob hilflos die Schultern.
»Aber das ist ja lächerlich!«
»Sicher. Aber woher sollten sie das wissen?«
»Sie sind doch intelligent.«
Graves kicherte, wie er es in letzter Zeit oft im
Schlaf tat. »Kennen Sie das kleine Gedicht von Roland
Young über den Floh? Es lautet:
117
»Aber hören Sie, Doc – nur ein paar kleine Untersu-
chungen dürften ihnen zeigen, daß die Menschheit aus
zwei Geschlechtern besteht. Immerhin sind wir kei-
neswegs die ersten Personen, die sie studiert haben.«
»Und wenn sie uns nicht studieren?«
»Wie?«
»Vielleicht halten sie uns bloß als ein Paar –
Haustiere.«
Haustiere! Bill Eisenbergs Moral hatte der Gefahr
und der Ungewißheit widerstanden; aber diese Prüfung
war weitaus tückischer. Haustiere! Er hatte Graves und
sich als Kriegsgefangene begriffen, oder als Objekte
wissenschaftlicher Forschung. Aber Haustiere!
»Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen«, be-
gann Graves, der den Gesichtsausdruck seines Kolle-
gen durchaus richtig verstanden hatte. »Es ist … vom
anthropozentrischen Standpunkt her demütigend, er-
niedrigend. Aber ich glaube, es stimmt leider. Das mag
Ihnen den Kern meiner Theorie verraten, und auch auf
das Verhältnis von X zur menschlichen Rasse hinwei-
sen. Viel mehr wage ich nicht zu behaupten, alles ist
bloße Spekulation, auf sehr wenig Material gestützt.
Aber es deckt sich mit den bekannten Fakten. Ich ver-
mute, daß die X-Geschöpfe so gut wie nichts von der
Menschheit wissen, sich nicht um sie kümmern und an
ihr völlig desinteressiert sind.«
»Aber sie haben uns gefangen!«
»Mag sein. Oder wir sind rein zufällig in ihre Berei-
che geraten. Viele kluge Männer haben an eine Ausrot-
tung oder Versklavung der menschlichen Rasse durch
nichtmenschliche Existenzen gedacht. Ohne einleuch-
tenden Grund nahmen sie zwei Möglichkeiten an: In-
vasion aus dem All, Krieg im Weltraum – oder Über-
flügelung der normalen Menschheit durch Mutanten,
118
durch Übermenschen. Beide Konzeptionen setzen vor-
aus, daß nichtmenschliche Existenzen uns genug äh-
neln, um uns zu bekämpfen oder mit uns zu reden –
uns auf die eine oder andere Weise als gleichwertig
betrachten. Ich bezweifle, daß X ernsthaft beabsichtigt,
die Menschheit zu versklaven oder gar zu vernichten.
Wahrscheinlich studieren sie uns nicht einmal, wenn
sie uns begegnen. Womöglich verspüren sie keine
Neugierde beim Anblick einer affenartigen Kuriosität,
die ihnen über den Weg hüpft. Beachten Sie, wie sorg-
faltig studieren wir denn andere Lebensformen? Haben
Sie jemals Ihre Goldfische über Goldfisch-Poesie oder
Goldfisch-Politik befragt? Haben Sie sich erkundigt,
ob die Termite sich für eine gute Hausfrau hält? Haben
Sie schon nachgeforscht, ob Biber blonde oder brünette
Weibchen bevorzugen?«
»Sie machen sich lustig.«
»Nein, leider nicht. Sicherlich haben die erwähnten
Lebensformen nicht so ausgefallene Ansprüche. Ich
wollte verdeutlichen: ob sie nun solche haben oder
nicht, wir würden es nie vermuten. Ich meine, daß X
die menschliche Rasse nicht als intelligent einstuft.«
Bill grübelte eine Weile, dann fragte er: »Woher
kommen sie Ihrer Ansicht nach, Doc? Etwa vom
Mars? Oder von außerhalb dieses Sonnensystems?«
»Nicht unbedingt. Nicht einmal wahrscheinlich. Ich
bin der Auffassung, daß sie vom selben Planeten
stammen wie wir – geschaffen aus dem Staub dieser
Erde.«
»Also wirklich, Doc …«
»Ich bin überzeugt davon. Und sehen Sie mich nicht
so seltsam an. Ich bin etwas krank, aber nicht verrückt.
Die Schöpfung dauerte acht Tage!«
»Wie?«
119
»Ich rede in Bibelworten. ›Und Gott segnete sie,
und Er sagte zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch,
und breitet euch über die Erde aus und macht sie euch
Untertan; und herrscht über die Fische des Wassers
und die Vögel des Himmels, und über alles Leben im
weiten Erdenkreis …‹ Und so ging es los. Aber nie-
mand dachte an die Stratosphäre.«
»Doc – wissen Sie genau, daß Sie in Ordnung
sind?«
»Verdammt – gleich werden Sie mich wohl psycho-
analysieren wollen. Lassen wir also die Allegorie bei-
seite. Ich meine folgendes: Wir sind weder die letzte
noch die höchste Stufe der Evolution. Zuerst füllten
sich die Ozeane mit Leben. Dann wurden bestimmte
Lungenfische zu Amphibien, und so weiter, bis das
Leben sich über die Kontinente ausgebreitet hatte;
nach einiger Zeit beherrschte der Mensch die Erdober-
fläche – so nahm er wenigstens an. Aber kam die Evo-
lution zum Stillstand? Ich denke nicht. Nun sehen Sie –
aus der Perspektive der Fische erscheint der Luftraum
tödliches Medium. Aus unserer Sicht scheinen die
oberen Schichten der Atmosphäre, in sechzig, siebzig
Kilometer Höhe, ein Vakuum zu sein, in dem es kein
Leben geben kann. Aber es ist kein Vakuum. Die Mo-
leküle sind dünn gesät, klar, aber jedenfalls gibt es dort
Materie und Strahlungen. Warum nicht auch Leben,
intelligentes, hoch entwickeltes Leben, das seiner
Umwelt entspricht – aber geschaffen aus dem gleichen
Stoff wie die Fische, wie wir? Wir haben die Entwick-
lung nicht bemerkt; der Mensch besaß zu der Zeit noch
nicht genug Bewußtsein, erst recht also keine Wissen-
schaften. Als unsere Ahnen sich durch die Baumwipfel
schwangen, war es schon passiert.«
Eisenberg nahm einen tiefen Atemzug.
120
»Einen Augenblick, Doc. Ich möchte die abstrakte
Möglichkeit Ihrer Theorie nicht erwägen, aber sie
scheint mir an einer wichtigen Tatsache vorbeizuge-
hen. Wir haben diese Wesen nie gesehen, hatten keine
Kenntnis von ihnen. Bis vor kurzer Zeit. Und wir müß-
ten sie bemerkt haben.«
»Nicht notwendigerweise. Können Ameisen mich
sehen? Ich zweifle daran.«
»Ja, aber – ein Mensch besitzt bessere Augen als eine
Ameise.«
»Besser in welcher Beziehung? In bezug auf die ei-
genen Bedürfnisse. Kann sein, daß die X-Wesen in zu
großer Höhe existieren, daß sie aus spärlichen Moleku-
larverbindungen bestehen, unsichtbar für das mensch-
liche Auge, oder daß sie sich zu langsam bewegen.
Auch ein großes, solides Flugzeug vermag so hoch zu
steigen, daß es sogar bei klarem Wetter außer Sicht
gerät. X kann aus scheintransparenter Materie beste-
hen, und wir könnten sie niemals sehen – nicht einmal
als Schleier am Firmament oder als Schatten gegen den
Mond; man bedenke, daß es jedoch schon reichlich
merkwürdige Geschichten gerade dieser Art gegeben
hat.«
Eisenberg erhob sich und schritt auf und ab.
»Wollen Sie behaupten«, fragte er, »daß solche in-
substanziellen Geschöpfe, die in einem Vakuum
schwimmen, die Säulen geschaffen haben?«
»Warum nicht? Erklären Sie einmal, wie ein halb-
fertiger, nackter Embryo wie der Homo Sapiens das
Empire State Building bauen konnte.«
Bill schüttelte heftig den Kopf.
»Ich komme nicht mehr mit.«
»Sie versuchen es nicht. Was glauben Sie, wo das
herkommt?« Graves zeigte ihm eine der kleinen ge-
121
heimnisvollen Wasserkugeln. »Meine Annahme ist,
daß sich das Leben auf diesem Planeten in drei Rich-
tungen entwickelt hat, die sich einander kaum berüh-
ren. Ozeanisches Leben, Leben auf dem Festland und
eine dritte Art – nennen wir es stratosphärisches Le-
ben. Es mag sogar eine vierte Richtung geben, unter
der Erdkruste – aber wir wissen nichts davon. Wir ha-
ben ein paar Kenntnisse vom Leben unter Wasser, weil
wir neugierig sind. Aber was wissen die Fische von
uns? Glauben sie wegen einiger Dutzend Tauchkugeln
an eine Invasion? Ein Fisch, der ein U-Boot sieht, geht
heim und legt sich wegen Migräne ins Bett, erzählt
aber niemand davon, weil man ihm nicht glauben
würde. Wird eine Tauchkugel von mehreren Fischen
gesichtet, und sie beschwören es, schon kommt ein
Fischpsychologe daher und erklärt es als Massenhallu-
zination. Nein, es braucht zuletzt etwas, so groß und
solide und dauerhaft wie die Wassersäulen, um die
Voreingenommenheit zu überwinden. Zufällige Be-
gegnungen bleiben wirkungslos.«
Eisenberg brütete eine Weile vor sich hin; als er
wieder sprach, war es halb zu sich selbst gewandt. »Ich
kann es nicht glauben. Ich will es nicht glauben.«
»Was?«
»Ihre Theorie. Doc – wenn das stimmt, wissen Sie
nicht, was das bedeutet? Wir sind hilflos, restlos unter-
legen.«
»Die X-Wesen werden der Menschheit nichts antun.
Sie haben auch bisher nichts getan.«
»Das ist nicht das Problem. Begreifen Sie nicht?
Unsere Rasse besitzt eine gewisse Würde. Wir streben
Dinge an und vollenden sie. Wenn wir versagen, haben
wir die tragische Befriedigung, nichtsdestotrotz Herren
der Erde zu sein und über dem Tierreich zu stehen. Wir
122
glauben an unsere Rasse und vertrauen auf unsere Fä-
higkeiten – wir könnten noch Großes vollbringen.
Aber sollten wir selbst nicht mehr sein als die niederen
Tiere, was zählen dann unsere großen Werke? Sehen
Sie mich an, könnte ich mich länger Wissenschaftler
nennen, wenn mir klar ist, daß ich eigentlich nicht
mehr Bedeutung habe als ein Fisch, der sich irgendwo
im Schlamm suhlt? Meine Arbeit wäre ohne Sinn.«
»Mag sein, daß sie das ist.«
»Ja, vielleicht«. Eisenberg musterte wild die Wände
der Zelle. »Vielleicht nicht. Aber ich möchte mich
nicht darin fügen. Ich will nicht. Möglich, daß Sie recht
haben. Möglicherweise auch nicht. Es spielt keine große
Rolle, woher die X-Wesen stammen.
Auf jeden Fall sind sie eine Herausforderung für die
Menschheit. Doc, wir müssen fliehen und unsere Rasse
warnen!«
»Und wie?«
Graves war längere Zeit sehr schläfrig, bevor er
starb. Bill wachte fast ständig bei ihm, nur gelegentlich
nickte er kurz ein. Er konnte für seinen alten Freund
nichts tun als bei ihm sitzen, aber seine Bereitschaft
vermittelte dem Sterbenden ein Gefühl der Solidarität.
Eisenberg schlummerte unruhig, als Graves ihn
beim Namen rief. Er erwachte sofort, obwohl es nicht
mehr als ein Flüstern war.
»Ja, Doc?«
»Ich kann nicht viel reden, Junge. Danke für deinen
Beistand.«
»In Ordnung, Doc.«
»Vergiß nicht, was du zu tun hast. Eines Tages
kommt die Gelegenheit. Sei bereit und verpfusche sie
nicht. Die Menschen müssen gewarnt werden.«
»Ich komme hier raus, Doc. Ich schwöre es.«
123
»Guter Junge.« Dann, nahezu unhörbar: »Gute
Nacht, mein Sohn.«
Eisenberg wachte bei dem Körper, bis er kalt und
steif war. Erschöpft und seelisch zermürbt, sank er
endlich in einen tiefen Schlaf. Als er erwachte, war der
Leichnam verschwunden.
Wieder allein, ohne Graves, erwies es sich als
schwierig, die Moral aufrecht zu erhalten. Die Absicht,
jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um die Men-
schen zu warnen, war mehr als ernst, aber zuvor war
die endlose Monotonie durchzustehen. Er konnte nicht
einmal die Tage zählen wie ein Zuchthäusler, um der
Langeweile zu trotzen. Sein ›Kalender‹ war nichts an-
deres als eine Zählung seiner Schlafperioden, die ge-
wiß mit dem tatsächlichen Tagesrhythmus nichts mehr
zu tun hatten.
Die meiste Zeit danach war er nicht mehr ganz bei
Verstand; Wahnsinn ist bei intelligentem Leben dop-
pelt tragisch, weil ihm ein vielschichtiges Bewußtsein
ausgesetzt ist. Er schwankte zwischen Ausbrüchen der
Begeisterung und tiefster Niedergeschlagenheit, in
welcher er sich umgebracht hätte, wäre ihm die Mög-
lichkeit gegeben gewesen.
Während der begeisterten Stimmung schmiedete er
Pläne zur Bekämpfung der X-Geschöpfe – nach seiner
Flucht. Er war nicht sicher, wie oder wann das sein
sollte, aber im Augenblick rechnete er fest damit. Er
selbst würde den Kreuzzug anfuhren; Flugzeuge mit
Dieselmotoren würden die Todeszone der Säulen und
der Wolke durchqueren; schwere Schiffsartillerie ver-
mochte die Stabilität der Säulen zerstören. Sie würden
sie zerschmettern und niederwerfen; die Erde wäre
wieder das Königreich des Menschen, dem sie zuge-
eignet war.
124
In den bitteren Perioden der geistigen Klarheit sah
er deutlich ein, daß die schwache Maschinerie, zu der
die menschliche Technik es gebracht hatte, Dieselmo-
toren oder nicht, keine ausreichende Kraft gegen jene
Mächte und Kenntnisse darstellte, welche die Verant-
wortung für die Säulen trugen, die Graves und ihn auf
so mysteriöse Weise entführt hatten. Sie waren unter-
legen. Vermochten Goldfische ein Rollkommando ge-
gen Boston zu organisieren? Was wäre eine Drohung
der schnatternden Affen von Guatemala wert, die briti-
sche Marine zu versenken?
Sie waren unterlegen. Die menschliche Rasse hatte ih-
ren Zenit erreicht – der Punkt, an dem sie einsichtig wer-
den mußte, daß sie nicht die am höchsten entwickelte
Form des irdischen Lebens war, und dies Wissen war auf
eine gewisse Art tödlich für sie; die Gewißheit allein,
gerade so, wie diese Gewißheit ihn, Bill Eisenberg, lang-
sam vergiftete. Eisenberg – homo piscis. Armer Fisch!
Sein zerrütteter Verstand ersann schließlich eine
Methode, deren Anwendung eine gewisse Aussicht
versprach, die Menschen warnen zu können. Er ver-
mochte nicht zu fliehen, solange sich an dem gegen-
wärtigen Zustand nichts änderte. Er begriff das und
fand sich damit ab; er gab es auf, in seinem Gefängnis
auf und nieder zu spazieren. Aber bestimmte Dinge
hatten die Zelle verlassen: Nahrungsreste, Körperaus-
scheidungen – und Graves Leichnam. Wenn er starb,
dessen war Eisenberg sicher, würde man auch seinen
Körper entfernen. Außerdem waren einige Dinge, wel-
che in die Säulen gelangten, auch wieder herausge-
kommen, das wußte er genau. War nicht anzunehmen,
daß die X-Geschöpfe sich von nutzlosem Ballast be-
freien, ihn die Wahini-Säule hinabspülen würden? Da-
von war er fest überzeugt.
125
Gut, also würde sein Körper ins Meer geraten. Es
gab eine Chance, daß man ihn fand. Wie aber ließ sich
eine Nachricht geben? Er besaß kein Schreibmaterial,
nur den eigenen Körper.
Aber die gleiche Improvisation, die ihm zu seinem
primitiven Kalender verholfen hatte, ermöglichte ihm
auch das Schreiben einer Nachricht. Er konnte sie mit
einem Zehennagel in die Haut ritzen. Zog er die Wun-
den immer wieder nach und verhinderte ihre Heilung,
würden dauerhafte Spuren bleiben. Auf diesem Weg
unterzog er sich einer ständigen Tätowierung.
Die Buchstaben mußten groß sein; der Raum auf
Brust und Bauch war begrenzt, ausführliche Berichter-
stattung ausgeschlossen. Er sah sich zu einer kurzen,
einfachen Warnung gezwungen. Wäre er noch gesunden
Geistes gewesen, sicher wäre ihm eine geschicktere
Formulierung gelungen – aber dazu reichte es nicht
mehr.
Nach einiger Zeit hatte er seine Brust- und Bauch-
gegend mit zittrigen tätowierten Worten bedeckt. Er
war abgemagert und von ungesunder Hautfarbe; die
Narben stachen häßlich hervor.
126
Bei dieser Gelegenheit übertrafen die Korrespon-
denzler auf der Kriechspur der Bürokratie sich selbst,
so daß sogar ein Exemplar jenes Berichts, anliegend
die Fotografien, mit einer Anfrage auf dem Schreib-
tisch von Kapitän Blake landete. Er wurde überreicht
unter Berücksichtigung seiner Beteiligung an diesem
Fall, mit der Bitte um Stellungnahme.
Kapitän Blake grübelte dutzende Male über den Ab-
zügen. Die Botschaft war klar genug leserlich: SEHT
EUCH VOR – DIE SCHÖPFUNG DAUERTE ACHT
TAGE. Aber was bedeutete sie?
Eines war sicher – Eisenberg trug diese grobe Täto-
wierung nicht am Körper, als er von der Mahan ver-
schwand.
Der Mann hatte noch längere Zeit gelebt, nachdem
er von dem Kugelblitz erfaßt worden war – soviel
stand fest. Und er hatte etwas herausgefunden. Aber
was? Der Bezug zum ersten Abschnitt der Schöp-
fungsgeschichte war nicht zu übersehen, aber auch
nicht sehr aufschlußreich.
Blake quälte sich umständlich mit der Formulierung
der Stellungnahme.
»… vertieft die Nachricht das Geheimnis mehr als
sie zur Klärung beiträgt. Inzwischen neige ich zu der
Annahme, daß die Wassersäulen mit den La-Grange-
Kugelblitzen in irgendeinem Zusammenhang stehen.
Die Patrouillen bei den Säulen sollten abgebrochen
werden, da die Gefahr zu groß ist. Sollten sich neue
Gelegenheiten oder Methoden ergeben, Klarheit über
die Natur der Säulen zu gewinnen, müßten sie gründ-
lich und energisch durchgeführt werden. Leider muß
ich mitteilen, daß ich in dieser Hinsicht zur Zeit keine
Vorschläge unterbreiten kann …«
Er erhob sich vom Schreibtisch und trat an ein klei-
127
nes Aquarium, das in einer Aufhängung, die es in der
Horizontale hielt, unter dem Bullauge baumelte, und
scheuchte die beiden Goldfische darin mit dem Finger
auf. Er bemerkte die Quantität des Wassers und wandte
sich zur Tür der Speisekammer.
»Johnson, Sie haben das Becken wieder zu sehr ge-
füllt. Pat versucht wieder herauszuspringen.«
»Ich bringe das in Ordnung, Kapitän.«
Der Steward kam mit einem Becher aus der Speise-
kammer. (›Möchte wissen, warum der Alte diese blö-
den Fische hält. Er hat doch kein Interesse an ihnen –
soviel steht fest.‹) Laut fügte er hinzu: »Pat mag nicht
im Becken bleiben, Kapitän. Er will ständig raushüp-
fen. Und er haßt mich, Kapitän.«
»Was gibt es?« Blake hatte die Fische bereits ver-
gessen; seine Gedanken drehten sich längst wieder um
die geheimnisvollen Ereignisse.
»Ich sagte, der Fisch haßt mich, Kapitän. Jedesmal,
wenn ich das Becken säubere, versucht er mich in den
Finger zu beißen.«
»Reden Sie keinen Quatsch, Johnson.«
128
Damon Knight
Bürger zweiter Klasse
129
»Hab’ da draußen was springen sehen. Da ist noch ei-
ner! Sind das welche von diesen Tieren?«
»Ja, das sind Delphine«, sagte Craven. Ungeduldig
schritt er vorwärts, um die Laboratoriumstür zu öffnen.
»Hier entlang, bitte.«
Im Innern war es kühler als draußen, aber voller
Sonnenlicht durch die großen Fenster, die Ausblick auf
die See gewährten. An der Wand hing eine Alphabets-
tafel mit leuchtend kolorierten Bildern einfacher Ge-
genstände. Der Boden bestand aus einer Betonplatte,
die an der gegenüberliegenden Seite des Raumes quer
durchschnitten war und so einen Kanal bildete, der an
beiden Enden offen war. Das Wasser im Kanal hob
und senkte sich in einer langsamen schwindelerregen-
den Wellenbewegung. Cravens Kopf begann zu
schmerzen.
»Hier arbeiten wir die meiste Zeit mit den Delphi-
nen«, sagte er. »Einen Augenblick, ich will sehen, ob
ich einen für Sie holen kann.« Er trat zu einem Wand-
schaltbrett, drückte einen Knopf und sprach in das Mi-
krophon. »Pete, hier spricht Charles. Komm bitte mal
rein.«
Ein quäkendes, kollerndes Geräusch aus dem Wand-
lautsprecher antwortete ihm.
»Okay, komm herein«, sagte Craven und schaltete
das Mikrophon aus.
»Was war das denn?« fragte eine der Matronen.
»Hat da einer der Delphine gesprochen?«
Craven lächelte. »So ist es – das war Pete, unser
Musterschüler. Sehen Sie aus dem Fenster. Und, bitte
treten Sie ein wenig vom Kanal zurück.«
Es entstand ein nervöses Scharren von Füßen, als
einige Besucher sich vom Rand entfernten, und andere
sich dichter bei den Fenstern versammelten. Den Be-
130
tonkanal hinab, der an den Bunkern vorbei direkt zur
Laborwand führte, bewegte sich mit erstaunlicher Ge-
schwindigkeit etwas Graues. Es war untergetaucht,
doch stieß es hin und wieder einen Strahl Gischt aus.
Die Besucher begannen aufgeregt zu murmeln; einige
zuckten vom Fenster zurück.
»Vorsicht!« schrie jemand. Die graue Gestalt stürm-
te in den Raum; das Wasser im Kanal hob sich, als ob
es überlaufen wollte, dann fiel es mit einem klatschen-
den Geräusch zurück. Es gab Geschrei, dann nervöses
Gelächter.
»Okay, Pete«, sagte Craven, »heraus mit dir.«
»War es wirklich Sprechen?« fragte jemand hinter
ihm. »Konnten Sie verstehen, was es sagte?«
Craven, der sich nicht die Mühe machte, zu antwor-
ten, betätigte einen Schalter an der Kontrolltafel. Aus
einer Nische in der Wand kam eine elektrische Winde,
an der eine geschwungene, schwer beschlagene Me-
tallbühne hing. Die Bühne senkte sich ins Wasser; der
Delphin schwamm darüber in Position. Craven drückte
einen weiteren Knopf; die Bühne hob sich, wassertrie-
fend. Die Winde bewegte sich wieder vorwärts, senkte
dann ihren Passagier in einen geräderten Rahmen, der
neben dem Kanal stand. Man hörte ein Klicken. Die
stützenden Arme der Winde, von der Bühne gelöst,
hoben sich aus dem Weg.
Auf der Bühne, die nun das Bett des Räderkarrens
bildete, lag ein massiges, acht Fuß langes, Säugetier.
Ein Auge war aufmerksam auf Craven gerichtet. Das
Maul, das wie zu einem freundlichen Grinsen geöffnet
war, war voller scharfer konischer Zähne.
»Meine Güte«, sagte eine der Frauen, »ich hoffe, er
beißt nicht!«
»Man hat noch nie gehört, daß ein Delphin einen
131
Menschen angegriffen hätte«, sagte Craven mecha-
nisch. Er drückte einen Knopf auf der Kontrolltafel.
»Sag unseren Besuchern guten Tag, Pete.«
Der Delphin blickte aufmerksam auf die Leute, die
hinter Craven standen, dann stieß er einen seiner hoch-
tönigen Lautausbrüche hervor. Für Cravens einge-
wöhnte Ohren waren die Wörter verzerrt, aber ver-
ständlich. Für die anderen waren sie, wie er wußte, nur
Lärm.
Er drückte einen anderen Knopf auf der Tafel. Nach
einem Augenblick verlangsamte sich die aufgezeichne-
te Stimme des Delphins und kam, tiefer in der Tonlage,
aus dem Lautsprecher.
»Guttag, Dam un Herrn.«
Ein allgemeines Murmeln entstand, etwas nervöses
Gelächter, eine klare Stimme: »Was hat er gesagt?«
»Sein Mund hat sich nicht bewegt, als er sprach«,
sagte jemand argwöhnisch.
Craven grinste. »Er benutzt ihn nicht zum Sprechen,
der ist für die Fische. Er spricht durch sein Blasloch –
da, oben auf seinem Kopf. Komm herüber, Pete, laß
dich mal anschauen.«
Gehorsam glitt der Delphin auf seinem Wagen näher
heran, wobei er einen langen Plastikschlauch mit sich
zog. Wasserstrahlen hatten aus perforierten Röhren auf
jeder Seite des Karrens zu sprühen begonnen, und lie-
ßen die Haut des Delphins feucht glänzen. Aus seinem
winzigen persönlichen Regenschauer starrte der Del-
phin mit freundlichem Interesse auf die Besucher.
»Er ist geformt wie ein Düsenflugzeug«, sagte einer
der männlichen Besucher. »Seht euch die Linie seines
Kopfes an und, äh, seiner Schnauze …«
Craven lächelte dem Mann zu. »Ähnliche Lösungen
für ähnliche Probleme«, sagte er, »Pete ist stromlinien-
132
förmig, genau wie ein Düsenjäger. Er ist ein Flaschen-
nasen-Delphin, die Lilly in seiner ursprünglichen Ar-
beit benutzte. Er wiegt ungefähr vier Zentner; sein Ge-
hirn ist nur wenig kleiner als das eines Menschen. Pete
ist intelligenter als ein Hund oder ein Affe. Er kann
nicht nur englisch gesprochene Befehle verstehen, er
kann uns sogar antworten. Das ist es auch, weshalb wir
spüren, daß diese Untersuchung so wichtig ist. Was wir
tun, ist, eine andere Spezies zu lehren in die menschliche
Gemeinschaft einzutreten.«
Es entstand ein Augenblick beeindrucktes Schwei-
gen. Das wird sie in Atem halten, dachte Craven.
»Wofür sind denn all diese Vorrichtungen?« fragte
ein anderer Mann.
»Er kontrolliert den Wagenmotor mit diesen Stan-
gen unter seinen Schwanzflossen«, sagte Craven. »Die
anderen Hebel auf jeder Seite sind für bestimmte
Handhabungen – er bedient sie mit seinen Brustflos-
sen. Petes großes Handicap ist es, daß er keine Hände
oder Füße hat, sehen Sie – aber wir versuchen das für
ihn auszugleichen. Zeig’s ihnen, Pete, ja?«
»Okay, Charles«, sagte der Delphin fröhlich. Der
Wagen rollte, glitt über den Fußboden zu der niedrigen
Werkbank an der gegenüberliegenden Seite und ließ
eine feuchte Spur zurück. Gegliederte Arme streckten
sich von der Vorderseite des Karrens aus, griffen nach
einem Zeigestock, hoben ihn mit Metallzangen auf.
»Zeig uns den Apfel, Pete«, sagte Craven.
Der Zeigestock hob sich, schwankte, kam mit der
Spitze auf dem leuchtenden Bild eines Apfels auf der
Wandtafel zur Ruhe.
»Nun den Jungen«, sagte Craven. Es entstand bei-
fälliges Gemurmel, als der Delphin auf den Jungen,
den Hund, das Boot zeigte. »Nun buchstabiere Katze,
133
Pete«, sagte Craven. Der Zeigestock buchstabierte K-
A-T-Z-E.
»Guter Junge, Pete«, sagte Craven, »kriegst ’ne
Menge Fische heute.«
Der Delphin öffnete seine Kiefer weit, gab einen
Hurra-Ruf von sich, dann brach er in knisterndes Del-
phin-Gelächter aus. Eine nervöse Unruhe entstand un-
ter den Zuschauern.
»Sie haben gesagt, daß Delphine noch nie Menschen
angegriffen hätten«, sagte ein grauäugiges Mädchen.
Es war das erste Mal, daß sie gesprochen hatte, aber
Craven hatte sie schon vorher bemerkt; sie war schlank
und hübsch, hielt sich sehr aufrecht.
»So ist es«, sagte er, sie anblickend, »es ist nicht so,
daß sie es nicht könnten – sie töten Haie, wissen Sie –
aber sie haben es einfach noch nie getan.«
»Sogar wenn die Menschen sie verletzen?« fragte
sie. Ihre grauen Augen waren ernst.
»Das ist richtig«, sagte Craven.
»Und ist es wahr, daß viele Delphine im Verlauf
dieser Untersuchung getötet worden sind?«
Craven fühlte sich ein wenig irritiert. »Es gab ein
paar Unglücksfalle, bevor wir sie richtig zu behandeln
lernten«, sagte er knapp. Er wandte sich ab. »Nun wol-
len wir etwas schwierigeres versuchen. Zeig ihnen das
chemische Experiment, Pete.«
Während der Delphin sich wieder dem Arbeitstisch
zuwandte, kommentierte Craven: »Dies ist etwas, das
Pete gerade erst gelernt hat. Wir sind ziemlich stolz
darauf.«
Auf dem Tisch war ein kleiner Ständer mit mehre-
ren, mit Stöpseln verschlossenen Flaschen, ein Becher-
glas und eine Reihe Teströhrchen. Die Gliederarme mit
seinen Brustflossen steuernd, griff der Delphin zu, hob
134
eine Flasche hoch und zog den Stöpsel heraus. Ein
Satz seiner metallenen Greifer hielt die Flasche; der
andere hob ein Reagenzglas auf. Langsam ließ Pete
den Inhalt der Flasche in das Reagenzglas fließen. Es
füllte sich und floß über. Der Delphin schaukelte ner-
vös aus seinem Karren vor und zurück.
»Okay, Pete«, sagte Craven beruhigend, »werde
nicht nervös, es ist alles in Ordnung, mach weiter!«
Der Delphin setzte die Flasche mit einem Klirren ab
und goß den Inhalt des Reagenzglases in den Becher.
Die Zangen griffen nach einer anderen Flasche, glitten
ab und versuchten es wieder. Sie hielten die Flasche
beim zweiten Versuch, kippten sie, aber verfehlten das
Reagenzglas. Den Fehler zu stark korrigierend, schlug
der Delphin Flasche und Reagenzglas aneinander, und
das Reagenzglas zerbrach. Die entleerte Flasche fiel
herab.
Der Delphin bewegte seinen Karren zurück,
schwenkte ihn zu Craven herum. »Zu schwer, Charles«,
sagte er kläglich, »zu schwer.«
Cravens Fäuste ballten sich vor Enttäuschung. Die
Kreatur hatte es die letzten drei Male perfekt geschafft!
»Mach dir nichts draus, Pete«, sagte er, »es ist okay, du
hast es schön gemacht. Geh jetzt raus und spiele.«
»Alls fertich?« fragte Pete.
»Ja, Wiedersehen!«
»Wiedersehen!« Der Delphin rollte seinen Karren
herum, glitt herüber zum Rand des Kanals. Die Glie-
derarme zogen sich zurück. Das Wagenlager kippte
langsam; der Delphin glitt hinab ins Wasser, fast ohne
ein Platschen. Man sah ein kurzes Aufblitzen seines
grauen Körpers, der unter der Wasseroberfläche dahin-
schoß; dann war der Kanal leer.
Auf dem Weg hinab zum Wasserflugzeug stellte
135
Craven fest, daß er neben dem grauäugigen Mädchen
ging. »Nun, was halten Sie von all dem?« fragte er sie.
»Ich hielt es für pathetisch«, sagte sie. Ihre grauen
Augen waren entrüstet. »Sie reden davon, sie in die
menschliche Gemeinschaft eintreten zu lassen. Das ist
völlig falsch! Er ist ein Delphin, kein Mensch. Er hat
sich so sehr bemüht, aber das beste, in das Sie ihn ver-
wandeln konnten, war etwas wie ein zurückgebliebe-
nes, verkrüppeltes Kind. Er hat mir so leid getan.«
Stunden, nachdem die Besucher gegangen waren,
war Craven noch immer unruhig. Er erinnerte sich
dauernd daran, was das Mädchen gesagt hatte; es lag
gerade genug Wahrheit darin, um es unter der Oberflä-
che schwelen zu lassen. Seine Kopfschmerzen hatten
sich nicht gelindert; das Sonnenlicht war noch immer
erdrückend. Er strich durch seine Unterkunft, blickte
voller Mißfallen auf die Schlagzeilen der einen Tag
alten Miami-Zeitung, schaltete schließlich den Fern-
sehapparat an.
»… die Abkürzung bedeutet ›nichtradioaktive Hit-
zespeicher‹«, sagte ein pausbackiger grauhaariger
Mann gerade, wobei er jedes Wort deutlich aussprach.
»Nun ergibt sich die Frage, was die Konsequenz für
uns wäre, wenn diese Waffen –«
Seine Stimme war plötzlich abgeschnitten, und ein
Dia füllte den Bildschirm: Sondermeldung. Für einen
Augenblick geschah nichts weiter. Craven zündete eine
Zigarette an und wartete geduldig: Wahrscheinlich war
es wieder etwas über die endlosen Friedensgespräche
in Neu Delhi.
Eine Stimme sagte plötzlich: »Wir unterbrechen
dieses Programm, um Ihnen –« Dann brach sie ab und
das Dia verschwand. Nichts als ein Raster war auf dem
Bildschirm und nichts außer einem Zischen drang aus
136
dem Lautsprecher. Nach einem Augenblick legte Cra-
ven seine Zigarette weg und betätigte den Kanalwäh-
ler. Auf keinem Kanal war etwas, außer auf Nr. 13, wo
für einen Augenblick ein graues Bild erschien und ver-
schwand.
Craven starrte auf das Gerät, fühlte sich plötzlich er-
schreckt. Wenn mit dem Gerät etwas nicht stimmte,
warum würde dann auf Kanal 13 –?
Er entdeckte daß er zitterte. Ohne daß er versuchte
zu verstehen, was er tat, riß er sich Hemd und Hosen
herunter. Nackt bis auf seine Schuhe lief er zum
Schrank, riß Maske, Flossen, Luftflaschen und Regler
heraus.
Der Himmel war klar und leer, als er zum Pier hinun-
terlief, nicht einmal ein Flugzeug in Sicht. Craven
schlüpfte in seine Ausrüstung, schnallte sie hastig zu.
Er blickte hinüber zur Boje, die die Unterwasserstation
markierte, dann ließ er sich ins Wasser fallen.
Auf halbem Weg zur Station, in vier Meter Tiefe
schwimmend, wußte Craven, daß er recht gehabt hatte.
Plötzlich erschien eine zischende Form über ihm, und
aufblickend, wie gelähmt, sah er einen Schauer golde-
ner Funken, die, jeder in einer wilden Wolke von Blasen,
hinabsanken. Einer kam so nahe, daß er seine Hitze auf
seiner Haut spüren konnte. Er wandte sich von ihm
weg, starrte ungläubig, als er achtzehn Meter tiefer auf
den Grund sank.
Überall sanken die goldenen Funken in den Sand,
jeder durch einen kochenden Strom von Blasen ge-
kennzeichnet. Das Wasser erschien etwas wärmer.
Es drang in Cravens überwältigten Verstand, daß die
Sache, die nicht geschehen durfte, geschehen war. Je-
mand hatte die Waffen angewandt, deren Anwendung
zu schrecklich war.
137
Die Unterwasserstation lag in dreißig Metern Tiefe,
so tief, wie sie gebaut werden konnte, ohne die Kuppel
zu überlasten. Sie stand auf einem Felsvorsprung im
tiefen Wasser, und obwohl mehrere goldene Funken
um sie herumgefallen waren, schien keiner die Kuppel
getroffen zu haben. Craven schwamm zur Schleuse,
ließ sich hineingleiten und saß, sich selbst umarmend
da, von Kälte geschüttelt, während Luft langsam die
Kammer füllte.
Im Innern starrte er wild durch die verlassene Kup-
pel – die zwei Kojen, die Aufnahmeinstrumente, Rega-
le mit Ausrüstungsgegenständen. Die Luft schien
erdrückend warm, und er bückte sich, um auf das
Thermometer zu schauen, bereit, die Luftzufuhr von
der Oberfläche abzuschneiden und die Tanks zu öff-
nen. Aber die Temperatur war normal.
Er hörte sich selbst laut sagen: »Mein Gott, was soll
ich tun?«
Informationssplitter von anderen Fernsehübertra-
gungen kamen in seinen Verstand zurück. Die inferna-
lischen kleinen Kügelchen würden noch für Monate
Hitze ausstoßen. Und dies konnte nur eine zufällige
Streuung gewesen sein. Auf dem Festland, in den be-
völkerten Gebieten, mußten sie dicht wie Hagel gefal-
len sein. Überall, wo sie fielen, würde das Land bald
zu heiß zum Leben sein. Nur der Ozean konnte so viel
Hitze ableiten.
Es gab einen Kompressor hier in der Station und ei-
nen gezeitengetriebenen Bereitschaftsgenerator; er
konnte seine Flaschen unbegrenzt wieder auffüllen;
aber wie war es mit der Nahrung, nachdem das Dosen-
zeugs in den Regalen aufgebraucht sein würde?
Fisch.
Craven fühlte sich überaus schwach, aber er konnte
138
nicht ruhig bleiben. Er richtete seine Maske und sein
Mundstück wieder und ging durch die Luke hinaus.
Es schienen nicht mehr von diesen Kügelchen auf
dem Grund zu liegen als vorher, und es fielen keine.
Craven nahm seinen Mut zusammen und schwamm zur
Oberfläche. Wassertretend schob er seine Maske hoch
und starrte hinüber zur Insel.
Die Laboratorien standen in Flammen. Der Berg
hinter ihnen war eine Masse aus gelblichweißem
Rauch; die ganze Insel war entflammt.
Der Himmel schien leer, aber Craven konnte seine
gigantische blaue Starre nicht ertragen. Er senkte seine
Maske und tauchte wieder.
Unten in den klaren blauen Tiefen hörte Craven das
hochtönige Schnattern eines Delphingesprächs, und
ein- oder zweimal sah er ihre grauen Umrisse vorbei-
flitzen. Ein Schwarm dicker Blaufische schwamm in
sein Blickfeld. Craven starrte auf sie, dann schwamm
er ihnen nach.
In der Station waren Harpunen, aber er hatte nicht
daran gedacht, eine mitzunehmen. Er schwamm zu den
Fischen, griff wirkungslos mit seinen Händen zu, aber
sie verteilten sich leicht um ihn herum.
Ich muß lernen, sagte ihm Cravens Verstand. Dies
ist jetzt mein Element, die See – Ich muß mir beibrin-
gen …
Etwas großes Graues schwamm zu ihm herauf. Cra-
ven spannte sich, aber es war nur Pete, der ihn mit
freundlicher Neugierde anblickte.
Nicht weit entfernt hatte sich der Schwarm der
Blaufische neu formiert. Plötzlich schwenkte der Del-
phin herum und schoß mit einer trägen Bewegung sei-
ner Flossen davon. Einen Augenblick später glitt er mit
einem fetten Blaufisch in seinen Kiefern zurück.
139
»Siehstu, Charles«, sagte er freundlich, »so fängt
man ein Fiss …«
140
Unvollendete Evolution
141
seinen Namen unter ›Am Anfang‹ zu setzen. Er erwägt
die Möglichkeit, wir könnten unsere eigene Evolution
durch den Gebrauch biotechnischer Steuerung beein-
flussen und überlegt, wie die Ergebnisse aussehen
könnten.
Carleton S. Coon geht sogar noch weiter. In ›Die
Zukunft der menschlichen Rassen‹ untersucht er die
erregenden und durchaus realen Möglichkeiten, unsere
Evolution zu formen, und damit liefert er Stoff für
mindestens ein Dutzend Science-Fiction-Stories.
142
H. G. Wells
Der Mensch im Jahre 1000000 A.D.
Ein wissenschaftlicher Vorausblick
143
können uns den vortrefflichen Professor vorstellen, wie
er die Probleme ausführlich und umfangreich darstellt,
aber der Leser – im Besitz des einzigen Exemplars –
hat natürlich die Freiheit, dem wissenschaftlich nicht
gebildeten Interessenten besondere Erläuterungen und
Vereinfachungen zu geben, wie er es für notwendig
hält. Hier jedoch ein Beispiel von erhellender Deut-
lichkeit, das im Zitat wiedergegeben werden kann.
»Die Theorie von der Evolution«, schreibt der Pro-
fessor, »ist nun weltweit von Zoologen und Botanikern
akzeptiert und läßt sich vorbehaltlos auf den Menschen
anwenden. Einige Fragen, die seine Seele betreffen,
bleiben in der Tat offen, aber über die Bedeutung für
den Körper sind sich alle einig. Der Mensch, so sind
wir heute sicher, entstand aus einem affenartigen Vor-
fahren, von der Umwelt zum Menschen geformt, und
jene Affen wiederum entwickelten sich aus früheren
Formen einer niederen Ordnung, und so weiter, bis
zurück zum anorganischen Urschleim. Daraus ergibt
sich umgekehrt in aller Klarheit, daß der Mensch, bis
das Universum zu bestehen aufhört, weiteren Modifi-
zierungen unterworfen sein wird, zuletzt sogar seine
menschliche Existenz aufgibt, um einem anderen We-
senstyp zu weichen. Und schon sehen wir uns einer
Fülle faszinierender Fragen gegenüber. Welch ein We-
sen wird dies sein? Wir wollen uns in diesem Werk
über unsere Spezies ein wenig den Einflüssen widmen,
die sie prägen.
Gerade so, wie der Vogel das Geschöpf der
Schwinge ist, ganz und gar geformt und fortentwickelt
zum Zwecke des Fliegens, und eben wie der Fisch das
Geschöpf, das schwimmt und dem unbeugsamen Ge-
setz der Hydrodynamik ausgesetzt ist, so ist der
Mensch die Kreatur des Gehirns. Er lebt, wenn er lebt,
144
durch seine Intelligenz, nicht durch physische Kraft.
So daß der Teil, der am Menschen rein animalisch ist,
es ohne Frage sein muß, nicht mehr ist als seine bloße
Form, und dieses, animalische muß schließlich in der
weiteren Entwicklung ausgemerzt werden. Die Evolu-
tion ist keine mechanische Tendenz, die zu einer Per-
fektion führt, wie sie den Menschen im Jahre des Herrn
1892 vorschwebt; sie ist einfach die kontinuierliche
Anpassung der Lebewesen an Gut oder Böse, an die
Umstände, die sie umgeben Wir bemerken den Rück-
gang des animalischen Teils schon heute an uns, in der
Schwäche des Kiefers und der mangelhaften Behaa-
rung, in den kleineren Händen und Füßen des heutigen
Menschen; auch Mund und Ohren sind zierlicher ge-
worden. Der Mensch erreicht heute durch den
Verstand, durch Maschinen und durch Verständigung,
was er einst mühselig erschuften mußte; das Mittages-
sen mußte er jagen und fangen, die begehrte Frau ent-
fuhren, vor seinen Feinden fliehen, und sich in diesen
Fähigkeiten beständig trainieren, wollte er seine Sache
gut machen und überleben. Aber das hat sich inzwi-
schen alles gewandelt. Droschken, Eisenbahnen, Stra-
ßenbahnen, von den Geschwindigkeiten nicht zu reden;
die Beschaffung der Nahrung ist erleichtert. Seine Frau
muß er nicht länger entfuhren, sondern sie braucht ihn
sich nur auf dem allgemeinen matriarchalischen Hei-
ratsmarkt, wie er heute vorherrscht, auszuspähen. Man
benötigt Verstand zum Leben, physische Anstrengung
wird zur Last, ja zur Plage: wir brauchen künstliche
Ventile und Entladungen in Kampfspielen. Athletizis-
mus nimmt Zeit in Anspruch und verkrüppelt den
Menschen in bezug auf seine geschäftlichen Fähigkei-
ten und für den Konkurrenzkampf. Deshalb ist der
muskulöse Mensch seinem grazilen, geistreichen Bruder
145
unterlegen. Er bleibt ohne Erfolg im Leben, heiratet
nicht. Wer sich besser anpaßt, der überlebt.«
Der Mensch der Zukunft wird also ein größeres,
schwereres Gehirn und einen schwächeren Körper ha-
ben als gegenwärtig. Aber der ehrenwerte Professor
machte eine Anmerkung dazu.
»Die menschliche Hand, Lehrer und Vermittler des
Gehirns, wird ständig in dem Maße an Feinheit und
Kraft zunehmen wie die restlichen Muskelpartien
schrumpfen.«
Infolge der Physiologie dieser Menschenkinder, mit
ihren wuchernden Hirnen, ihren prächtigen, sensitiven
Händen und geschrumpften Körpern, ergeben sich
große Wandlungen.
»Wir bemerken nun«, sagt der Professor, »in den
mehr intellektuellen Teilen der Menschheit eine extreme
Empfindlichkeit gegenüber Stimuli, eine wachsende
Abneigung gegen Alkohol zum Beispiel. Nicht länger
kann ein Mann allein eine Flasche Portwein trinken;
manche vertragen keinen Tee; es wäre zu strapaziös für
ihre hochentwickelten Nervensysteme. Dieser Prozeß
wird sich fortsetzen, und der Sir Wilfrid Lawson einer
kommenden Generation mag es für seine vergnügliche
Pflicht halten, den silbernen Atem seiner Weisheit
scheltend gegen das Tee-Service zu erheben. Frisches
rohes Fleisch war einst eine Mahlzeit für Könige. Nun
berühren die Menschen kein Fleisch, bevor es auf raf-
finierte Art zubereitet und appetitlich garniert, folglich
nicht mehr als Fleisch kenntlich ist. Und bedenken wir
auch die Sache mit den Rüben; die rohe Wurzel ist
jetzt ein schier ungenießbares Ding, aber vor langer
Zeit muß eine Rübe ein seltener und glücklicher Fund
gewesen sein, den man in irrsinniger Begierde aus der
Erde riß und ekstatisch verschlang. Es wird eine Zeit
146
kommen, in der dieser Wandel auch alle anderen
Früchte erfaßt hat. Schon gegenwärtig verzehren nur
die Kinder noch rohe Äpfel – die Kinder bewahren
stets vorzeitliche Eigenschaften über deren Ver-
schwinden bei den erwachsenen Exemplaren hinaus.
Eines Tages werden kleine Jungen Äpfel ohne Interesse
betrachten. Der Knabe der Zukunft, so müssen wir
glauben, wird einen Apfel mit der gleichen gelangweil-
ten Schlaffheit angaffen, wie er in unseren Tagen einen
Kieselstein ansieht, wenn keine Katze in der Nähe ist.
Ferner spielen unter den modifizierenden Einflüs-
sen, denen der Mensch ausgesetzt ist, die neueren Ent-
deckungen im Bereich der Chemie eine bedeutende
Rolle. Schon in prähistorischen Zeiten hörte der Mund
des Menschen auf, nur ein Instrument zum Erhaschen
der Nahrung zu sein, und er verliert noch immer mehr
von seiner Funktion des Zuschnappens und Kauens;
die Frontpartie ist kleiner, die Zähne sind schmaler, die
Lippen sind dünner geworden und die Kiefermuskula-
tur geringer. Der Mensch hat ein neues Organ, einen
Kinnbacken, der nicht länger aus irreparablem Gewebe
besteht, sondern aus Bein und Stahl – Messer und Ga-
bel. Es gibt keine einsichtigen Gründe, warum die
Entwicklung auf diesem Stand verharren sollte; dage-
gen genug Gründe, die für meine Behauptung spre-
chen, daß in der Zukunft ein scharfsinnig erdachter,
externer Mechanismus die Mahlzeiten umgehend vor-
kaut und einspeichelt, in Unterstützung der degenerier-
ten Drüsen und Zähne, Körperteile, die er schließlich
gänzlich ablösen wird.
Denn, was nicht notwendig ist, das verschwindet.
Welchen Zweck haben denn schon äußerliche Ohren,
die Nase und die Brauen? Die Augenbrauen schützten
einst die Augen vor Verletzung durch Sturz oder
147
Kampf, aber in unseren Tagen stehen, wir aufrecht und
in tiefstem Frieden fest auf beiden Beinen. Denken wir
diese Gedanken zu Ende, vermag der Leser flugs eine
seltsame, doch strahlende Vision vom menschlichen
Antlitz der Zukunft heraufzubeschwören: große Au-
gen, lebensfroh, schön und ausdrucksvoll; über ihnen,
nicht länger verdüstert von buschigen Augenbrauen,
wölbt sich der Schädel, eine schimmernde, haarlose
Kuppel, prächtig und schon; keine wuchtige Nase wirft
mehr ihren plumpen Schatten auf die gleichmäßigen,
edlen Formen des Gesichts, keine knotigen Ohren ste-
hen mehr ab; der Mund ist eine kleine, runde Öffnung
ohne Zähne und ohne Zahnfleisch, keine niedrigen Ge-
fühle, keine Lügenhaftigkeit zerstören seine Rundheit –
er gleicht am Firmament der Mienen dem Mond in den
Nächten der Erntezeit oder dem Abendstern.«
Solcher Art ist das menschliche Antlitz, das der eh-
renwerte Professor in der Zukunft erblickt.
Natürlich werden ähnliche Veränderungen auch den
Körper und die Glieder erfassen.
»Täglich werden viele Stunden und so viele Kräfte
für den Verdauungsvorgang verbraucht; lähmende
Stumpfheit, dumpfe Lethargie übermannen den Sterb-
lichen nach dem Essen. Dies soll und kann vermieden
werden. Das menschliche Wissen um die organische
Chemie erweitert sich Tag für Tag. Wir vermögen be-
reits die Verdauungsdrüsen künstlich anzuregen. Jeder
Mediziner, der etwas von seinem Fach versteht, weiß,
daß die Körperfunktionen künstlich ersetzt werden
können. Wir haben Pepsin, Pankreatinin, künstliche
Verdauungssäuren – ich weiß nicht, was alles für Mix-
turen. Warum also sollte nicht endlich der Magen voll-
ständig entfallen? Ein Mann, der sein Essen nicht nur
anderwärtig zubereiten, sondern auch anderwärtig vor-
148
kauen und verdauen lassen kann, besäße gegenüber
dem sklavisch verdauungstätigen Mitmenschen uner-
meßliche soziale Vorteile. Das ist, so möchte ich ins
Gedächtnis rufen, das besonnene, leidenschaftslose,
höchst wissenschaftliche Vorgehen, in dem, vom heu-
tigen Tage an, die Zukunft die Welt formen wird. Un-
ter Berücksichtigung dieser Aussichten werden die
folgenden Tatsachen sicherlich die Vorstellungskraft
des geschätzten Lesers anregen.
Es besteht nicht der leiseste Zweifel, daß zahlreiche
Arthropoden, eine große Anzahl von Tieren weitaus
urtümlicher, aber noch heute weiter verbreitet sind als
die Wirbeltiere und durchaus häufiger phylogeneti-
schen Veränderungen unterworfen wurden« – Ein
schönes Wort! – »als die Wirbeltiere sich modifizier-
ten. Niedere Formen wie der Hummer stellen eine ähn-
lich primitive Struktur dar wie die Fische. Bei einer
solchen Form zum Beispiel wie dem kleineren Chon-
dracanthus hat sich die Struktur wesentlich weiter vom
Originaltyp entfernt als dies analog beim Menschen
der Fall war. Unter einigen der am stärksten modifi-
zierten Krustentiere bildet der Verdauungskanal – also
die Verdauungs- und Ausscheidungsapparate – nur
noch einen nutzlosen, verhärteten Strang. Das Tier er-
nährt sich parasitär – es absorbiert die nahrhafte Flüs-
sigkeit, in der es schwimmt. Es ist absolut nicht ausge-
schlossen, daß sich mit dem Menschen eine ähnlich
geartete Wandlung vollzieht; möglich ist, sich vorzu-
stellen, daß er nicht mehr mit einer unhandlichen Aus-
rüstung von Geräten und Platten zu Tisch sitzt, sondern
speist, indem er ergreifend schlicht in einen Behälter
mit Nährflüssigkeit springt.
Vor uns erhebt sich die eindrucksvolle Vision eines
Gebäudes: ein kristallener Dom, auf dessen transparen-
149
ter Oberfläche die herrlichsten Farben glorreich
schimmern und sich brechen, verschwimmen und sich
verändern. Im Zentrum dieses transparenten, chamäle-
onhaften Doms befindet sich ein rundes Becken aus
Marmor, gefüllt mit einer klaren, dünnen, wohlrie-
chenden Flüssigkeit, und darin tauchen und schwim-
men wundersame Geschöpfe. Sind es Vögel?
Es sind die Nachkömmlinge des Menschen – bei der
Mahlzeit. Wir sehen sie auf den Händen über den
leuchtend weißen Marmor laufen – eine Methode der
Fortbewegung, die schon jetzt von Björnsen energisch
befürwortet wird. Großartige Hände haben sie, enorme
Gehirne, sanft schimmernde, ausdrucksvolle Augen.
Ihr gesamtes Muskelsystem, ihre Beine, ihre Abdomi-
na sind zu nichts geschrumpft, ein degeneriertes, bau-
melndes Anhängsel ihrer Gehirne.«
Die weiteren Visionen des Professors sind weniger
verlockend.
»Tiere und Pflanzen sterben dahin, ausgenommen je-
ne, die man zur Ernährung oder zum Vergnügen erhält,
oder solche, die sich behaupten, indem sie sich ihrerseits
als Parasiten am Menschen mästen. Aber dem unermüd-
lichen Erfindungsreichtum und dem unaufhörlich wach-
senden Wissen des Menschen wird diese Pest, dieses
Geschmeiß früher oder später unterliegen. Wenn wir
lernen (die Chemiker dringen zweifellos immer tiefer in
dies Geheimnis ein), die Funktion des Chlorophylls oh-
ne die Pflanzen zu verrichten, verschwindet die Not-
wendigkeit für Tiere und Pflanzen auf dieser Erde gänz-
lich. Über kurz oder lang, wenn Notwendigkeit und Wi-
derstandskraft nachlassen, sterben sie aus. In seinen
letzten Tagen wird der Mensch allein auf der Erde sein,
und die Chemie wird seine Nahrung aus dem toten Ge-
stein und aus dem Sonnenlicht gewinnen.
150
Und – die vollständige Begründung kann man in
dem ausführlichen und schmerzvoll wahren Werk
Geschichte der Ethik nachlesen – die irrationalen
menschlichen Beziehungen werden einer intellektuel-
len Zusammenarbeit weichen, und das Gefühl wird
von den Kräften der Vernunft verdrängt. Unzweifelhaft
wird bis dahin noch eine lange Zeit vergehen, aber die
Zeit zählt nicht vor dem Antlitz der Ewigkeit, und wer
über diese Fragen nachzudenken wagt, muß der Ewig-
keit beherzt ins Auge blicken.«
Denn die Erde, so erinnert unser ehrenwerter Pro-
fessor, strahlt beständig Wärme ins Weltall aus. Und so
kommt er schließlich zu einer Vision irdischer Cheru-
bine, hüpfender Köpfe, hervorragender gefühlloser
Intelligenzen, die unter dem Zwang der Verhältnisse
einen grimmigen Kampf gegen die Kälte fuhren, wel-
che sie mehr und mehr bedrängt. Denn die Erde erkal-
tet – langsam und unaufschiebbar, während die Jahre
verstreichen, nimmt die Kälte zu.
»Wir müssen uns jene Geschöpfe der fernen Zu-
kunft«, schreibt der ehrenwerte Professor, »in Stollen
und Laboratorien tief unten im Herzen der Erde vor-
stellen. Die ganze Welt wird mit Schnee bedeckt sein,
gewaltige Eismassen werden sich auftürmen; alle Tiere,
jede Vegetation werden verschwunden sein, bis auf
den letzten Zweig am Baum des Lebens. Die letzten
Menschen stoßen immer tiefer in die Eingeweide der
Erde vor, sie folgen dem erlöschenden Feuer des Pla-
neten; große stählerne Ventilatorschächte versorgen sie
mit der notwendigen Luft.«
So schließt der ehrenwerte Professor sein Horoskop
mit einem Blick auf diese menschlichen Kaulquappen
in ihren tiefen sicheren Stollen, wo sie mit ihren lang-
weiligen Maschinen klappern, während grelles künstli-
151
ches Licht schwarze Schatten wirft. Die Menschheit
auf der Flucht vor der entsetzlichen Kälte, verändert
bis zur Unkenntlichkeit. Doch der Professor ist glaub-
würdig genug, er baut auf wissenschaftliches Material,
sein Vorgehen ist korrekt. Der Leser erschaudert vor
diesen Aussichten, beginnt das Kaminfeuer zu ersticken,
und bald verflüchtigt sich das bemerkenswerte unge-
schriebene Buch im blauen Dunst seiner Pfeife. Das ist
der große Vorteil dieser ungeschriebenen Literatur;
man hat nicht die Sorge, sie einmal umschreiben zu
müssen. Unser Leser festigt sein Gemüt in Vorberei-
tung auf das Schicksal seiner Rasse mit dem verlore-
nen Erbteil des Kublai Khan.
152
Anonym
1000000 A.D.
153
Morton Klass
Am Anfang
154
ihre plumpen Hände auf Putnams Schreibtisch und
starrte anklagend zu ihm auf.
»Ich bin soeben zuverlässig informiert worden, daß
Sie mit dem Monster weitermachen. Ich .. wir sind
hierhergekommen wegen eines sofortigen Dementis!«
Professor Putnam blickte bedauernd auf die Schreib-
tischlampe. »Auf welches … äh … Monster beziehen
Sie sich?« fragte er vorsichtig.
»Sie wissen es ganz genau!« quiekte Miss Hasson
schrill hinter der schützenden Masse ihrer Vorsitzen-
den hervor. »Dieser sogenannte prähistorische Mensch.
Ne … nean …«
»Neanderthaler«, ergänzte Dr. Trine in seinem
dröhnenden Bariton. »Nicht genug offenbar damit, daß
Sie die Entscheidungen des Himmels in Frage stellen
und dem unwilligen Antlitz der Erde diese armen
Kreaturen zurückgeben, die auf ewig von ihr verbannt
worden sind. Nein, jetzt müssen Sie dem Unrecht noch
die Beleidigung hinzufügen, der Schändung die Läste-
rung. Eine obszöne, watschelnde Karikatur der edel-
sten Schöpfung …«
»Es wird keine Seele haben!« warf Mrs. Featherby
ein. Sie ärgerte sich, daß ihr von Untergebenen das
Wort abgeschnitten wurde. »Es wird ein seelenloses,
unmenschliches Frankenstein-Monster werden … das
das Leben von Frauen und Kindern bedroht.«
Hier verlor der Professor die mühsame Beherr-
schung seiner Wut. »Was schlagen Sie vor zu tun?«
fragte er wütend und stieß sein rot anlaufendes Gesicht
gefährlich nah an das von Mrs. Featherby. Er zeigte
auf den Fußboden. »Unten im Laboratorium haben wir
acht Neanderthalerfoeti in Brutkästen. Wollen Sie hin-
unterrennen und die Brutkästen zerschmettern? Heute
morgen hat jemand eine Handgranate in das Bronto-
155
saurier-Gehege geworfen. Warum nicht das gesamte
College in die Luft jagen? Sie könnten aber auch war-
ten, bis sie ausgebrütet sind und dann Milchglas in ihre
Nahrung tun. Mit unserem preisgekrönten Eohippus
hat es vorigen Monat geklappt …«
»Wie können Sie es wagen!« kreischte Mrs.
Featherby. »Was für ein Gedanke! Die Anti-
Auferstehungs-Liga zu beschuldigen, sich auf geset-
zeswidrige, kriminelle Handlungen einzulassen!«
Sie fuhr herum, um der sich ängstlich duckenden
Miss Hasson ins Auge zu sehen. »Ich habe sie ge-
warnt!« sagte sie ärgerlich. »Ich habe die Mitglieder
gewarnt! Ich sagte ihnen, Professor Putnam werde kei-
ne Vernunft annehmen! Und zwar deshalb, weil er der-
jenige war, der dies ganze schmutzige Auferstehungs-
geschäft zuerst in Gang gebracht hat! Ist es wahr-
scheinlich, daß er Vernunft annimmt? Unternehmt
Schritte, ohne ihn zu Rate zu ziehen, sagte ich. Aber
nein! Ich wurde überstimmt!«
Miss Hasson ließ den Kopf hängen.
»Sicher haben Sie, Herr Professor«, brachte Dr. Trine
einschmeichelnd vor, »nicht gemeint, was Sie sagten.
Die AAL setzt sich einzig und allein aus verantwor-
tungsbewußten Bürgern zusammen, die sich wirklich
Sorgen machen um dieses furchtbare Problem. Aber kei-
neswegs billigen wir Gewaltakte. Eine Entschuldigung
ihrerseits würde, da bin ich sicher, genügen, um …«
»Ich entschuldige mich für gar nichts!« Professor
Putnam schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Ihre
Organisation behauptet, gegen Aktionen der Straße zu
sein, aber alles, was Sie in Ihren Zeitungen schreiben
oder per Rundfunk verbreiten, ist darauf angelegt, Idio-
ten anzuheizen, uns auf dem Scheiterhaufen zu
verbrennen. Wenn Sie sich dessen was Sie tun, nicht
156
bewußt sind, sind Sie noch größere Dummköpfe, als
ich ohnehin denke …«
»Es hat keinen Sinn, sich dieses Geschwätz länger
anzuhören.« Mrs. Featherby wandte sich ab, mar-
schierte zur Tür und hinter ihr formierten sich ihre Ko-
horten. Die Hand am Türgriff, stoppte sie, um zum
Abschied noch eine Breitseite abzuschießen.
»Wenn ich Sie wäre, Professor Putnam, würde ich
anfangen, meine Schreibtischfächer zu leeren. Ich ga-
rantiere, daß Sie höchstens noch bis morgen früh in
diesem Büro sitzen werden!«
Dr. Trine, der als letzter hinausging, schloß hinter
sich sanft die Tür.
Putnam sank zurück in seinen Stuhl und fuhr sich
mit zitternder Hand über die Augen. »Wenn ich Sie
wäre, Madame«, murmelte er finster, »würde ich mich
den Tyrannosauriern vorwerfen.«
»Kann … kann sie das, Herr Professor?« fragte Miss
Kalish schüchtern aus der hinteren Ecke des Büros.
»Ob sie was kann?« Professor Putnam fixierte sie
scharf. »Oh … mich hinauswerfen lassen? Ich weiß
nicht. Kann schon sein. Es heißt, ein Drittel der Ver-
waltungskommission besteht aus Mitgliedern der
AAL.«
Er zuckte die Achseln und stand auf. »Ich werde
mich deshalb jetzt nicht aufregen. Früher oder später
mußte es so kommen. Wichtiger ist, daß die Neander-
thalensis heute fertiggestellt werden sollten. Ich möch-
te dabei sein …«
Er wandte sich zur Tür, zögerte. »Würden Sie wohl
mitkommen, Miss Kalish? Ich brauche Ihnen nicht zu
sagen, was das für mich bedeutet. Übrigens, die Anrufe
in den nächsten Tagen zu beantworten, wird nicht lu-
stig sein.«
157
Miss Kalish starrte zu Boden. Geistesabwesend glät-
tete sie eine Falte an ihrem schlichten Rock. »Ich …«
Sie zögerte. »Seien Sie bitte nicht böse, Herr Professor,
aber … was Dr. Trine sagte …« Plötzlich hob sie den
Kopf und holte tief Atem. »Werden ... werden es wirk-
lich watschelnde, gräßlich aussehende Kreaturen
sein?«
Professor Putnam fuhr mit der Hand durch sein
straffes graues Haar. »Miss Kalish«, sagte er mit sanf-
tem Vorwurf, »ich bin nicht böse, aber Sie sind meine
Sekretärin, seit ich Leiter des Fachbereichs wurde. In
diesen fünfzehn Jahren haben Sie sicherlich einiges
von meiner Tätigkeit mitbekommen ..«
»Das ist nicht fair, Herr Professor!« unterbrach Miss
Kalish ihn erregt. »Ich glaube, über einige Dinge weiß
ich soviel wie kaum die Hälfte Ihrer graduierten Stu-
denten! Habe ich nicht das endgültige Manuskript Ihrer
Abhandlung über künstliche Uteri getippt? Ja, die gan-
ze Nacht bin ich mit Ihnen wach geblieben, als Sie
darauf warteten, daß Ihr erster Kükenembryo aus-
schlüpft. Und ich habe nie etwas gesagt, als Sie anfin-
gen, Fossilien zu neuem Leben zu erwecken. – Sie hät-
ten hören sollen, wie meine Mutter sich aufgeregt hat!
Aber das jetzt ist etwas anderes …«
»Es ist überhaupt nichts anderes: Wenn ich einen
Abdruck von einer Knochenzelle eines Stegosaurier-
fossils machen und auf eine Krokodilzygote übertragen
kann, was ist das anderes, als wenn ich die Genstruktur
einer Schimpansenzygote in die eines Neanderthalers
umwandele? Beides, Methode und Ergebnis, sind
gleich. Im einen Fall wird daraus ein kleiner Stegosau-
rier, im anderen …«
Miss Kalish gestikulierte ungeduldig. »Darum geht
es mir gar nicht, Herr Professor! Es ist doch so, daß ich
158
ganz schön schreckliche Dinger aus Ihren Brutkästen
habe schlüpfen sehen, ohne mit der Wimper zu zuc-
ken.« Sie schluckte und sah elend aus. »Aber wenn Sie
anfangen, mit menschlichen Babys herumzuspielen,
oder mit etwas Ähnlichem, und es zeigt sich, daß sie
aussehen, wie Dr. Trine sagte, und sie zu watschelnden
Bestien heranwachsen – nun, ich will einfach nicht in
Ihr altes Laboratorium runtergehen!«
Sie wandte sich ab und brach in Tränen aus. Philo
Putnam gluckste mitfühlend. Er ging zu ihr und legte
den Arm um ihre Schultern. Es war das erste Mal wäh-
rend der ganzen fünfzehnjährigen Zusammenarbeit,
daß sie irgendeinen intimen Kontakt hatten, und es
störte sie beide beträchtlich. Miss Kalish machte sich
steif und hörte auf zu weinen, Professor Putnam ließ
linkisch seinen Arm wieder fallen. Innerlich staunte er,
daß er auch zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren seine
Sekretärin als weibliches Wesen sah. Er dachte nach.
Nun, vielleicht waren es auch nur dreizehn.
»Der … äh … neun Monate alte Fötus, Miss ‚Ka-
lish«, sagte er und räusperte sich geräuschvoll, »ist,
furchte ich, nicht gerade der, der Vorurteile beseitigt.
Aber ich bin sicher, Sie haben ab und zu konservierte
Exemplare gesehen, ohne übermäßig aufgeregt zu sein.
Die im Laboratorium sind natürlich lebendig, was Sie
aber nicht aus der Ruhe bringen sollte. Praktisch gibt
es keine Unterschiede zwischen ihnen und anderen
menschlichen Säuglingen. Ich garantiere, daß sie einen
Monat nach ihrer Vollendung hinreichend attraktiv
sein werden, um das übliche weibliche Gegiggel her-
vorzurufen.«
Er hob die Hand, um einer drohenden Unterbre-
chung zuvorzukommen. »Wie sie aussehen werden,
wenn sie die Reife erlangen«, fuhr er fort, »das ist ei-
159
ner der Gründe, warum wir dieses Experiment machen.
Wir kennen die Knochenstruktur des Neanderthalers
und was immer wir daraus ableiten können. Aber wir
wissen nicht einmal, ob er zottelig oder haarlos war.
Wenn unsere Exemplare richtig Gestalt annehmen,
werden sie ungefähr einen Meter fünfzig sein, ein paar
Zentimeter mehr oder weniger, mit fliehender Stirn
und einem ebensolchen Kinn, langen Armen und leicht
gekrümmten Beinen. Das mag in Ihren Ohren nicht
sehr hübsch klingen, aber schließlich sind Sie auch
keine Neanderthaler-Lady.«
Professor Putnam lächelte seiner Sekretärin hoff-
nungsvoll zu.
»Nun, Miss Kalish – sind Sie jetzt dazu bereit, ins
Laboratorium hinunterzugehen?«
»Ja, sicher. Danke – Herr Professor«, sagte Miss
Kalish ernst und ging in Richtung Tür. Mit einer
schnellen Bewegung gelang es Professor Putnam,
rechtzeitig zur Stelle zu sein, um sie ihr öffnen zu kön-
nen.
160
der Reihe von Brutkästen einherschritt, gehörte ent-
schieden nicht in ein Laboratorium. Präsident D. Aber-
nathy Grosvenor gehörte dahin, wo er sich in der Tat
am wohlsten fühlte – auf eine provisorische Tribüne an
einem Ende des Fußballfeldes, wo er einem nervösen
Vizepräsidenten reihenweise frisch promovierte Stu-
denten mit Doktorhüten und kindische Eltern vorstel-
len konnte.
»Ah! Professor Putnam – da sind Sie ja endlich!«
sagte Grosvenor, als der Biologe mit seiner Sekretärin
eintrat. Nach einem Augenblick beunruhigenden Zö-
gerns fuhr er fort: »Ihr Laborant hat mich herumge-
führt« – Felzen riß erstaunt die Augen auf – »und ich
muß sagen, es war höchst informativ. Prächtiges Labo-
ratorium. Gute Arbeit. Wollte, ich hatte mehr Zeit,
umherzuwandern und all die großartigen Sachen zu
sehen, die ihr Jungs hier macht. Leider ist die Leitung
einer Universität eine Ganztagsbeschäftigung. Ich bin
gezwungen, all das zu vergessen, was ich gern tun
würde und mich statt dessen auf all diese unerfreuli-
chen, aber absolut notwendigen Einzelheiten der Ver-
waltung zu konzentrieren, die nur ich …«
Präsident Grosvenor holte tief Atem. Offensichtlich
war er bei dem wunden Punkt seines Besuchs ange-
langt.
Ȇbrigens, das erinnert mich daran, warum ich zu
Ihnen gekommen bin, Professor.« Sorgenvoll schüttel-
te er den Kopf. »Wirklich, Professor, Sie hätten diplo-
matischer mit Mrs. Featherby und ihrem Komitee um-
gehen sollen. Ich habe mein Bestes getan, um ihnen
klarzumachen, daß Sie Wissenschaftler seien – eigen-
willig, ganz und gar in ihre Arbeit vertieft – und all
das, aber ich furchte, sie waren zu wütend. Wenn Sie
nur im Gedächtnis behalten wollten, daß seit den
161
Schrecken des Atomkriegs der Haß auf die Wissen-
schaftler … nun, Mrs. Featherby sagte etwas wie ›den
Fall mit einem der Verwalter durchsprechen‹ und
stürmte davon. Als sich in Ihrem Büro niemand melde-
te, kam ich hierher. Ich muß sagen, Sie haben sich Zeit
gelassen, um herzukommen, das nur nebenbei …«
»Ich bin nicht sofort gekommen«, unterbrach ihn
Professor Putnam, und sein Gesicht wurde beinahe so
rot, wie das von Miss Kalish geworden war. »Meine
Sekretärin und ich … äh … hatten einiges zu bespre-
chen. Aber es tut mir leid, daß ich mit diesem unerträg-
lichen Komitee die Geduld verloren habe. Hätte ich
gewußt, daß sie Ihnen dann zur Last fallen würden
Aber egal«, setzte er erregt hinzu, »was hätte ich tun
sollen? Sie werden grundsätzlich solange nicht zufrie-
den sein, bis ich mich einverstanden erkläre, dieses
Experiment vollständig zu vergessen. Und dann wer-
den sie hinter uns her sein, damit wir weitere Projekte
abbrechen. Vielleicht wird man mich darauf beschrän-
ken, neue Geranien-Geschlechter zu züchten oder et-
was ähnlich Harmloses. Sind Sie bereit, das mitzuma-
chen, Präsident Grosvenor? Soll ich Felzen sagen, er
möchte beginnen, die Geräte abzubauen?«
Dramatisch erhob Präsident Grosvenor die Hand.
»Bitte, Professor! Solange ich Präsident dieser Univer-
sität bin, soll keine Gruppe und kein Individuum – egal
wie mächtig – die wissenschaftliche Freiheit beein-
trächtigen! Sie haben mein Wort!«
Er machte eine Pause und kratzte sich abwesend das
Kinn. »Andererseits muß man zugeben, daß dieses
kleine .. äh … Mißgeschick zu einer unpassenden Zeit
kommt. Und mit den Verwaltern fertigzuwerden, wenn
sie einmal aufgeschreckt sind, kann außerordentlich
schwer sein. Wäre es nicht gescheiter … sagen wir …
162
dieses Experiment für ein Weilchen zurückzustellen,
Professor? Ich bin sicher, daß es noch ungeheure Ge-
biete des prähistorischen Lebens gibt, die Sie bislang
noch nicht studiert haben. Ich würde sagen: Vergessen
Sie Neanderthal und restaurieren Sie irgendeine andere
Kreatur. Wissen Sie, objektiv gesehen war der Nean-
derthaler wirklich nur ein Tier, und zweifellos ist es
lächerlich, sich derart darüber zu erhitzen und erre-
gen.«
Professor Putnam runzelte die Stirn. »Der Neander-
thal-Mensch«, sagte er vorsichtig, »war kein Tier –
jedenfalls nicht in dem Sinne, wie Sie das Wort ge-
brauchen. Er war ein menschliches Wesen, eine andere
Spezies vielleicht, aber dennoch ein menschliches We-
sen.«
Der Präsident machte eine mißbilligende Handbe-
wegung. »Bitte, Professor«, mahnte er, »für den Zweck
dieser Diskussion hat es keinen Sinn, terminologisch
exakt vorzugehen. Die Kreatur mag annähernd
menschlich gewesen sein, aber das ist ein Gorilla auch.
Der Neanderthaler war ein Untermensch, mit einer nur
ganz rudimentären Fähigkeit zum Denken, etwas zu
schaffen oder irgend etwas anderes zu tun, das wir als
menschlich bezeichnen. Das werden Sie mir zweifellos
zugestehen?«
Philo Putnam schritt hinüber zu seiner Werkbank
und hob einen großen Stein auf Als er sich umdrehte,
machte Präsident Grosvenor in plötzlichem Schrecken
einen Schritt rückwärts. Der Professor zeigte den Stein
vor und fragte: »Wissen Sie, was das ist, Herr Präsi-
dent? Wahrscheinlich nicht, deshalb will ich es Ihnen
sagen. Es ist ein Acheuléen-Faustkeil aus Feuerstein –
etwa dreihunderttausend Jahre alt oder noch älter. Der
Neanderthaler hat ihn gemacht, und ein Freund von
163
mir, ein Anthropologe, hat ihn mir vor ungefähr einem
Jahr geschenkt. Ich konnte ihn nicht aus meinem Ge-
dächtnis streichen. Soll ich Ihnen sagen, warum?«
Oscar Felzen und Miss Kalish, beide neugierig ge-
macht, nickten, aber der Professor starrte auf Grosve-
nor.
Mit sanfter Stimme fuhr er fort: »Es ist eine primitive,
unattraktive Waffe. Verglichen mit einer Atombombe
ist das Ding mitleiderregend, und sicher hätte es keine
Chance gegen ein Gewehr. In der Tat, es könnte nicht
einmal mit den Pfeilen unserer Cro-Magnon-Vorfahren
konkurrieren. Aber wenn man es unter einem anderen
Aspekt sieht, ist es eine großartige Sache!«
Er hielt den Stein mit beiden Händen hoch und
drehte ihn langsam. »Ich rede nicht von der Herstel-
lungstechnik, obwohl ich weiß, daß sie von hervorra-
gender Handwerkskunst zeugt. Vergessen Sie dieses
Exemplar und denken Sie zurück an das erste, das je
gemacht worden ist. Es mußte ein erstes gegeben ha-
ben, verstehen Sie. Und da war ein Mensch, der es ge-
macht hat. Vor ihm, die ganze Zeitspanne zurück bis
zum Anfang, haben Sie eine ununterbrochene Linie
von Kreaturen, die ihre Pseudopodien, ihre Zähne oder
Klauen gebrauchen konnten. Affenähnliche Tiere, die
einen abgestorbenen Zweig schwenken und einen Stein
oder eine Kokosnuß werfen konnten. Spätere Affen
könnten sogar einen bestimmten Stein oder Zweig mit
sich herumgeschleppt haben.
Aber dieser ... dieser Mensch wählte einen Klumpen
Feuerstein aus und bearbeitete ihn, bis er etwas hatte,
das bequem in seine Hand paßte, wenn er es an einem
Ende festhielt. Das andere Ende formte er zu einer
scharfen Spitze, die ihm nützlich war, um damit einen
Bisonschädel einzuschlagen.«
164
Er schwenkte den Faustkeil vor seinen Zuhörern.
»Ich sagte, daß es ihm nützlich war. Was er hergestellt
hatte, war ein Werkzeug; das erste, das je auf diesem
Planeten existiert hat! Nach ihm finden sich Hersteller
größerer und besserer, verschiedenartigerer und kom-
plexerer Werkzeuge, aber er hat das erste gemacht!
Jeder Erfinder nach ihm fügte der Liste bloß etwas
hinzu, arbeitete aber mit Werkzeugen, die schon erfun-
den waren. Wichtiger noch: sie arbeiteten mit dem
Wissen, daß Werkzeuge existieren. Aber der Mensch,
der sich als erster eine Vorstellung von einem Werk-
zeug als solchem bildete, der das erste schuf – was für
einen Geist muß er gehabt haben! Ich frage mich, wie
viele überragende Menschen, die nach ihm gelebt ha-
ben, soviel Genie gehabt hätten? Da Vinci vielleicht …
möglicherweise Einstein? Sicher nicht der Mensch, der
lediglich das erste Rad konstruiert hat! Und Sie nennen
einen solchen Menschen Untermensch?« In plötzlicher
Gefühlsaufwallung schnaufte Professor Putnam und
zuckte die Schultern.
Präsident Grosvenor räusperte sich verlegen. »Eine
sehr interessante Theorie, Professor, obgleich vermut-
lich ein wenig phantastisch. Diese ganze Diskussion
hat mit der gegenwärtigen Angelegenheit nichts zu tun,
aber da wir so weit mitgerissen worden sind, möchte
ich auf eine offenkundige Schwäche in Ihrer Argumen-
tation hinweisen. Ich habe historische und politische
Wissenschaften studiert, nicht Laboratoriumswissen-
schaften –, und was mir auffallt, sind nicht die mecha-
nischen Fähigkeiten des Neanderthalers, wie groß auch
immer sie gewesen oder auch nicht gewesen sein mö-
gen. Sie selbst haben hervorgehoben, daß er den Pfeilen
des Cro-Magnon unterlegen war. Rein sachlich gesehen
war er also minderwertig. Er konnte die Feuerprobe
165
des Überlebens nicht bestehen und wurde von einem
überlegeneren Menschen ersetzt …«
»Überlegen! Sicher! Aber wie überlegen?« Putnam
stieß die Worte ärgerlich hervor. »Überlegen als Wil-
der – als Mörder – als Tier! Sie sagten, ich sei ein
Phantast. jetzt will ich wirklich phantasieren! Denken
Sie sich den Neanderthaler; die erste vernunftbegabte,
schöpferische Kreatur auf der Erde – das war er – mit
seinen Werkzeugen, seiner Kunst, seiner Religion und
Kultur. Nehmen Sie an, er war ein friedliches, im An-
satz zivilisiertes Geschöpf, das mühsam die ersten
formlosen Anfange der Zivilisation erarbeitete. Dann
kommen unsere Ahnen daher – edle Wilde, vollkom-
mene Wilde! Sie eignen sich sein Wissen an, übertreffen
es auf eine typisch primitive Art – um bessere Mittel
der Zerstörung zu konstruieren – und vernichten so den
tatsächlich höherstehenden Neanderthaler, wie sie es
mit jeder anderen Kreatur gemacht haben, die ihnen je
über den Weg lief!«
»Aber nichtsdestotrotz – der Cro-Magnon hat ge-
wonnen. Sie müssen zugeben, daß das ein Indiz der
Überlegenheit ist!«
Professor Putnam zuckte wieder die Achseln.
»Wenn ich es täte, müßte ich die angeborene Überle-
genheit eines jeden Haifisches, der je einen schwim-
menden Menschen gefressen hat, zugeben. Es ist die
Überlegenheit des Tieres in seiner natürlichen Umge-
bung. Falls meine These richtig ist, war der Cro-
Magnon ein besserer Wilder. Seine Vergangenheit als
zivilisiertes Wesen ist bestimmt nicht dazu angetan,
besonders damit zu prahlen …«
»Aber das ist doch alles idiotisch!« schrie Präsident
Grosvenor. »Wir verlieren Zeit, indem wir über kom-
pletten Unsinn debattieren. Worum es geht, ist: Werden
166
Sie Ihr gegenwärtiges Experiment abbrechen oder
nicht? Das wird mich der Aufsichtsrat bald fragen, und
ich bin hierhergekommen, um Ihre Zusicherung, daß
Sie es beendigen werden, einzuholen!«
Philo Putnam holte tief Luft. Bevor er antwortete,
blickte er in die besorgten Gesichter von Oscar Felzen
und Miss Kalish. Er lächelte ihnen kurz zu und ging
gedankenverloren zu den Brutkästen hinüber.
Er starrte durch die durchsichtige Oberfläche des
ihm nächststehenden Kastens und sagte: »Es tut mir
sehr leid, Herr Präsident, aber das kommt nicht in Fra-
ge. Ich möchte nicht unvernünftig sein oder Sie in Ver-
legenheit bringen, aber wenn ich an etwas arbeite, tue
ich es, weil es für mich das ist, was ich tun muß. Ich
kann es nicht einfach abbrechen und irgend etwas an-
deres tun, einfach weil es im Moment für mich nichts
anderes zu tun gibt Alles andere ist entweder schon
getan oder muß warten, bis ich die Resultate dieses
Experiments verarbeitet habe. Ich könnte ebensogut
meine Stelle aufgeben.«
»Merken Sie nicht, Putnam, daß Sie genau das wer-
den tun müssen, wenn Sie nicht nachgeben? Ich würde
Sie schützen, wenn ich könnte, aber ich kann es nicht!
Die AAL ist zu mächtig, und diesmal sind sie darauf
aus, Sie fertigzumachen. Wenn Sie bloß …
Was ist los, Mann?«
Mit steigender Erregung starrte Professor Putnam
hinunter in den Brutkasten. Nachdem er die Instrumen-
tentafel oben an der Wand nachgeprüft hatte, drehte er
sich auf der Stelle herum und starrte einen Augenblick
lang wild im Laboratorium umher.
»Miss Kalish!« schrie er mit einer Stimme, die
klang wie ein Peitschenknall, »öffnen Sie die Vitrine
an der Wand dort drüben. Sie werden Babyausstattun-
167
gen und Körbe für acht Babys finden – stellen Sie sie
in eine Reihe auf diese Bank. Versichern Sie sich, daß
wir alles haben, was wir brauchen und daß alles sterili-
siert ist. Bewegen Sie sich!«
Mit einem unterdrückten Keuchen sprang seine Se-
kretärin auf. Der Professor wandte seine Aufmerksam-
keit Felzen zu. »Setzen Sie lieber die Brutapparate in
Gang, Oscar – wir könnten sie brauchen. Und tun Sie
etwas für die Temperatur in diesem Labor – es friert!«
Putnam trabte in Richtung auf den Brutkasten am
anderen Ende der Reihe. Der Präsident, dem der Mund
offenstand, erwischte ihn am Arm, als der Biologe
vorbeikam.
»Sehen Sie, Professor!« protestierte Präsident Gros-
venor. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber wir
müssen eine wichtige Angelegenheit regeln. Der Auf-
sichtsrat …«
»Verdammter Aufsichtsrat!« explodierte Philo Put-
nam. »Lassen Sie meinen Arm los! Begreifen Sie denn
nicht? Sehen Sie nicht, daß die roten Lampen über die-
sen Kästen aufleuchten? Gleich findet die Endphase
statt!«
»Alles schön und gut«, sagte Präsident Grosvenor
unerschütterlich, »aber es bleibt die Tatsache, daß Ihre
Stellung an dieser Universität in Gefahr ist. Ich weigere
mich zu gehen, bis Sie mir eine eindeutige Erklärung
abgeben.«
Das Gesicht des Professors lief rot an. Er holte tief
Luft und hielt eine Zeitlang den Atem an. Als er
sprach, war seine Stimme erstaunlich ruhig.
»Sagen Sie den Aufsichtsräten – und der Anti-
Auferstehungs-Liga – daß, solange ich für mein Labo-
ratorium verantwortlich bin, ich auch allein entschei-
den werde, welche Experimente ich durchführe. Wenn
168
Sie und die anderen beschließen, sich der AAL zu fu-
gen, so ist das Ihre Sache, nicht meine. Tun Sie, was
Sie wollen – stellen Sie Mrs. Featherby als Leiterin des
Fachbereichs Biologie ein – aber jetzt verlassen Sie
bitte mein Laboratorium und bleiben Sie draußen, so-
lange es mir gehört. Ich habe zu arbeiten!«
Bei den letzten Worten hob seine Stimme sich ge-
fährlich an. Der Präsident ließ ihn los und trat zurück.
»Sie sind sehr dumm, Putnam – sehr dumm. Ich
werde tun, was ich kann; aber …« An der Tür blieb er
stehen. »Wenn ich Sie wäre …«
»Ich weiß! Ich weiß! Meine Schreibtischfächer habe
ich bereits geleert! Nun gehen Sie!«
Bevor das Geräusch der zuknallenden Tür verebbt
war, beugte sich Professor Putnam über den letzten
Uterus-Behälter in der Reihe. Dabei trällerte er leise
und glücklich vor sich hin.
Ungefähr zwei Stunden später schlug Miss Kalish
schüchtern vor, eine Tasse Kaffee zu trinken. Zwei
Stunden ununterbrochenen Überprüfens der Vorberei-
tungen, Inspizierens der Skalen und Meßgeräte und
sorgfaltigen Notierens der fötalen Bewegungen hatten
alle drei total erschöpft. Professor Putnam nickte fin-
ster, und mit einem erleichterten Seufzer begann Oscar
Felzen eine Kaffeekanne auf der Labor-Kochplatte zu
wärmen.
»Wie lange wird es noch dauern, Herr Professor?«
fragte Miss Kalish, während sie eine Dose Kondens-
milch anstach.
Der Professor zuckte die Schultern. »Schwer zu sa-
gen. Menschliche Geburten brauchen zwischen einer
und achtzehn Stunden. Die Brutkästen sind den Be-
dürfnissen des individuellen Fötus’ entsprechend ein-
gerichtet, so daß wir nach allem was ich weiß, eventuell
169
die ganze Nacht hier zubringen könnten.« Er lächelte
seiner Sekretärin wohlwollend zu. »Sie müssen nicht
bleiben, Miss Kalish. Gehen Sie nach Hause, wenn Sie
wollen.«
Abwehrend schüttelte Miss Kalish den Kopf. »Auf
keinen Fall! Ich meine – wenn es Ihnen recht ist, würde
ich gern bleiben. Seit meine Mutter gestorben ist, kann
ich solange wegbleiben, wie ich will.«
Ihre Augen leuchteten auf, und sie kicherte leise.
»Das ist ganz so wie in alten Zeiten. Erinnern Sie sich,
wie wir alle herumsaßen, Kaffee tranken und darauf
warteten, daß jenes Küken ausschlüpfen würde? Es tat
es nie, nicht wahr, Herr Professor?«
Der Professor räusperte sich. »Nein, leider tat es das
nie. Immerhin, das nächste tat es. Ach ja, nennen Sie
mich ruhig Philo, äh … Leona. Jedenfalls bezweifle
ich, daß ich noch sehr lange Professor bin.«
»Sie hätten es bleiben können, wenn Sie dem Präsi-
denten gegenüber die Ruhe bewahrt hätten«, brummte
Oscar Felzen, während er reihum Kaffee einschenkte.
»Auf jeden Fall haben Sie nicht alles, was Sie zu ihm
gesagt haben, auch gemeint, nicht wahr? Daß der
Neanderthaler einer überlegenen Rasse angehörte und
der moderne Mensch ihm unterlegen ist. Das ist
schwerlich wissenschaftlich …«
»Ich weiß, Oscar – du hast recht. Ich bin zu weit ge-
gangen. Jedenfalls, was den Neanderthalensis betrifft.
Ich gebe zu, daß dieser Teil vages Theoretisieren ge-
wesen sein mag, aber ich stehe zu allem, was ich über
die Spezies gesagt habe, die an seine Stelle getreten
sind.«
»Was stimmt nicht mit uns?« fragte Miss Kalish.
Professor Putnam zuckte die Achseln und schlürfte
seinen Kaffee. Er machte eine Grimasse und nahm
170
noch einen Löffel Zucker. »Mit uns? Als Individuum
vielleicht nichts – vielleicht sehr viel – ich weiß es
nicht. Aber als Spezies haben wir reichlich Grund, uns
zu schämen. Ach, wir bauen alles Mögliche und errich-
ten Städte, aber jeder weiß, daß das nur der Anfang ist.
Wenn wir einmal wirklich eine beginnende Zivilisation
haben, was passiert jedesmal? Was ist mit Babylon,
Griechenland, Samarkand, Chichen-Itza und all den
anderen passiert? Entweder werden sie zerrissen von
ihren eigenen inneren Spannungen und Konflikten,
oder brüllende Konquistadoren kommen daher und
zerschmettern alles.«
Er nahm einen großen Schluck Kaffee. Geschickt
ergriff seine Sekretärin die Gelegenheit. »Aber Sie
können das dem Individuum nicht vorwerfen! Die
Menschen wollen nicht kämpfen oder zertrümmern
oder töten. Wenn eine ganze Gesellschaft verrückt
wird, wie können Sie da dem armen Mann oder der
armen Frau auf der Straße die Schuld …«
»Wem sonst kann man die Schuld geben? Wer bil-
det die Gesellschaft? Was ist eine Masse?«
»Es hat einige Leute gegeben, die nicht mitgemacht
haben«, hob Felzen hervor.
Professor Putnam nickte heftig. »Sicher! Und was
passierte mit ihnen? Jedesmal, wenn ein Sokrates oder
ein Michael Servetus den Mund auftat, riß ihn die
Masse – die Masse der anwesenden Individuen – in
Stücke. Seht den Fakten ins Auge! Die menschliche
Rasse ist intelligent genug, um zu wissen, was Zivilisa-
tion ist, Pläne zu entwerfen und anzufangen, sie aufzu-
bauen, aber wir können darin nicht leben! Nicht auf
Dauer, soweit ich sehe. Wie ich gesagt habe, hervorra-
gende Wilde – wie geschaffen für die Höhlen, aber
nicht für etwas anderes. Nehmt die Gegenwart. Das 20.
171
Jahrhundert dauert nur noch fünfundzwanzig Jahre,
und wenn ihr zurückblickt …«
Er unterbrach sich plötzlich, da die Tür aufging.
Präsident D. Abernathy Grosvenor trat ein. Er sah aus,
als ob er sich ziemlich unbehaglich fühlen würde. Ihm
folgte Mrs. Featherby, der Triumph in Person.
Professor Putnam schob seine Kaffeetasse weg und
stand auf.
»Ah … Professor Putnam«, begann Präsident Gros-
venor. »Leider habe ich unerfreuliche Nachrichten …«
»Er meint, Sie sind fertig!« warf Mrs. Featherby ein.
»Erledigt!«
Putnam übersah sie geflissentlich. »Ich habe einen Ver-
trag, Sie wissen das, Präsident Grosvenor«, betonte er.
Der Gesichtsausdruck des Präsidenten wurde noch
jammervoller. »Natürlich. Wir wollen Sie in der Tat
bitten, Ihre Entlassung einzureichen. Schließlich –
wenn Sie unerwünscht sind … ich meine folgendes, es
hat keinen Sinn …«
Professor Putnam nickte. »Sie haben recht. Machen
Sie sich wegen meines Entlassungsgesuchs keine Sor-
gen – Sie werden es bekommen. Aber als Entschädi-
gung für meinen Vertrag möchte ich eine Woche völli-
ger Freiheit, um meine Experimente abzuwickeln, und
das Recht, einige Exemplare meiner Wahl mitzuneh-
men. Einverstanden?«
Präsident Grosvenor schien ungeheuer erleichtert.
»Gewiß, Professor! Und falls es noch irgend etwas
gibt …«
»Ja. Suchen Sie eine andere Sekretärin für die Ab-
teilung Biologie. Miss Kalish und ich haben vor, zu
heiraten, und sie wird mit mir gehen.«
»Ich gehe auch«, sagte Oscar Felzen mürrisch und
schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein.
172
Philo Putnam lächelte zustimmend. »Dann wirst du
auch mit uns kommen …« Sein Blick fiel auf Mrs.
Featherby und sein Lächeln fror ein. »Eine Woche ist
dies noch mein Laboratorium, Herr Präsident, also
bringen Sie sie hinaus, bevor ich … .«
»Haben Sie das gehört?« brüllte Mrs. Featherby be-
leidigt, während der Präsident sie eilig zur Tür hinaus-
beförderte.
»Absolut scheußlich, Mrs. Featherby. Äußerst ta-
delnswert.« Er schickte einen letzten Was-soll-ich-
machen-es-ist-meine-Stellung-Blick zu Professor Put-
nam und schloß die Tür hinter sich.
Einen Augenblick herrschte Stille.
»Wohin sollen wir denn gehen, Herr Professor?«
fragte Oscar Felzen trübsinnig.
Philo Putnam kicherte und schnippte mit den Fin-
gern. »Auf meine Farm in Südkalifornien natürlich!
Wir werden gemeinsam die Neanderthalenses aufzie-
hen und unsere Experimente fortsetzen. Miss Kalish …
Leona meine ich …« Plötzlich beunruhigt wandte er
sich an sie. »Du kommst mit uns, nicht wahr? Was ich
über unsere Heirat gesagt habe – du willst doch?«
Miss Kalish errötete und schlug die Augen nieder.
»Natürlich, Philo«, sagte sie leise. Dann fiel ihr etwas
ein und sie hob die Augen wieder. »Welche Farm?«
Putnam warf den Kopf zurück und lachte. »Ich habe
es seit Jahren kommen sehen«, erklärte er und schnippte
wieder mit den Fingern. »Ich habe das die ganze Zeit
vorbereitet, seit der erste Physiker gelyncht worden ist.
Ich habe hundert Morgen Land in einem praktisch un-
besiedelten Gebiet. Es ist immerhin ein Hügel darauf
und ein gutes Haus, Elektrizität und ein hübsches Labor.
Plus meine Ur-Nerze …«
»Herr Professor! Sehen Sie!« schrie Oscar Felzen.
173
Aufgeregt deutete er mit den Fingern auf etwas. »Das
grüne Licht über dem ersten Brutkasten leuchtet auf!
Der Fötus ist fertig!«
Professor Putnam eilte zu dem Brutkasten hinüber;
nur um sterile Handschuhe und eine Gesichtsmaske
überzustreifen, blieb er stehen. Vorsichtig hob er den
durchsichtigen Deckel hoch und legte ihn beiseite.
Während die anderen beiden den Atem anhielten, griff
er hinein und hob den winzigen, runzligen Bewohner
heraus.
Das Baby schnappte nach Luft, strampelte in seinen
Armen und fing an zu wimmern.
»Ich habe es geschafft!« jubelte der Professor. »Was
der Mensch zerstört hat, kann der Mensch wieder er-
schaffen! Und mit dem Geld, das wir mit den Ur-
Nerzen machen werden …«
»Was für Ur-Nerze?« fragte Miss Kalish.
Professor Putnam kicherte. »Erinnerst du dich an
den Nerz aus der Eiszeit, Oscar? Jener, der angeblich
keinerlei wissenschaftliche Bedeutung hatte?«
Oscar nickte unbestimmt und nahm ein Baby aus
dem vierten Brutkasten heraus. »Ich glaube. Aber ha-
ben wir sie nicht alle vernichtet?«
»Alle bis auf zwei. Ich habe sie auf meiner Farm
aufgezogen. Es hat sich herausgestellt, daß der erwach-
sene Ur-Nerz einen Pelz besitzt, der die aller anderen
lebenden Tiere – auch Zobel und Chinchilla – rattenar-
tig erscheinen läßt. Einleuchtend, versteht ihr. Um ei-
nen Vergleich zu geben, wir leben in einem nahezu
tropischen Klima. Als richtig pelztragende Kreaturen
sind die der Eiszeit unschlagbar.«
»Aber – was willst du mit ihnen machen?« fragte
seine zukünftige Ehefrau.
»Die Pelze verkaufen, natürlich! Wenn wir schon
174
sonst nichts haben, werden sie uns Leben und Labor-
Ausstattung finanzieren. Mit etwas Glück werden wir
ökonomisch völlig unabhängig sein.«
Oscar Felzen schien zu zweifeln. »Es hört sich etwas
phantastisch an, Herr Professor. Schließlich hat keiner
von uns irgendwie wirkliche Geschäftserfahrung …«
»Ich hasse es, wenn man mir sagt, ich könne irgend
etwas nicht durchführen«, sagte Professor Putnam ge-
reizt. »Man hat Appelbaum gesagt, er würde niemals
einen Chromosomenabdruck nehmen, der die Moleku-
larstruktur des Gens reproduzierte, und dann sagte man
meinem alten Professor Morelli, er würde niemals
Chromosomen in einer fossilen Knochenzelle finden!
Aber er fand sie, und ich habe sie erfolgreich auf eine
lebende Zygote übertragen!«
Felzen zuckte grinsend die Achseln. »O. K. Also
sind dem menschlichen Geist keine Grenzen gesetzt.
Aber was ist mit Ihrem Argument von der Minderwer-
tigkeit des Homo sapiens?«
Stirnrunzelnd leerte Professor Putnam den letzten
Brutkasten. »Ich weiß nicht. Vielleicht war es das, was
mir dieses Experiment so wichtig machte. All diese
Experimente, natürlich. Endlich machen wir die jahr-
hundertealte Zerstörung rückgängig, indem wir die
Kreaturen zurückbringen, die wir so mutwillig vernich-
tet haben.«
Er reichte den schreienden Säugling zu Miss Kalish
hinüber. »Mißverstehen Sie mich nicht, Oscar. Es ist
nicht der Ichthyosaurier vom letzten Monat, auf den es
ankommt oder hier der Neanderthalensis. Sie sind oh-
ne Bedeutung. Aber wenn der Mensch aus dieser Ar-
beit lernt, mit sich selbst und den anderen Kreaturen
um ihn herum gleichermaßen auszukommen, dann ist
die Humanität auf dem richtigen Weg!«
175
Das erste Neanderthal-Baby wachte auf und begann
kräftig zu schreien.
ENCYCLOPEDIA GALACTICA
176
Carleton S. Coon
Die Zukunft der menschlichen Rassen
177
ren. Einer geht dahin, die Anzahl der Nerven im
menschlichen Gehirn zu vergrößern, indem man dem
embryonalen Gehirn Wachstumshormone einspritzt,
ehe die Zahl der Nerven festliegt. Nach einem anderen
Entwurf will er einen Virus einsetzen, um in die
menschlichen Reproduktionszellen neue DNS-
Informationen zu tragen; so wäre der Stamm des Indi-
viduums einem steten Wechsel unterworfen. Lederberg
hat diese Methode bereits an Mikroorganismen ver-
sucht. Oder man könnte durch eine einfache Biopsie
den somatischen Zellen eines Genies DNS entziehen.
Eine etwas entferntere Möglichkeit bestünde darin,
lebende Chromosomen mit winzigen Messern, soge-
nannten Nanamessern oder mit Lasern zu zerlegen und
wieder zusammenzusetzen. Diese Neuerung verlangt
weiter fortgeschrittene technische Möglichkeiten und
eine bessere Kenntnis der Genesis der menschlichen
Chromosomen, als wir sie besitzen. Der verstorbene J.
B. S. Haldane, so lächerlich das auch anmuten mag,
nahm 1962 an, daß Kreuzungen zwischen den Gattun-
gen möglich seien, wenn man Chromosomenteile
zweier Gattungen zusammenfügte, man solle sogar
Menschen mit Robben kreuzen können und würde so
Froschmänner erhalten.
Das Problem bei all diesen Vorhaben, so gewitzt
und weitblickend sie auch sein mögen, ist, daß die
Menschen sich dazu bereit erklären müssen. Es ist
nicht damit zu rechnen, daß die Kirchen, Synagogen
und Moscheen der Welt derartige Frankensteinsche
Spielereien mit den Kräften der Natur zulassen werden.
Einige Kommunisten werden vielleicht Lederbergs
Schema aufgreifen, doch manche unter ihnen haben
eben erst begonnen, sich mit der modernen Genetik
auseinanderzusetzen. Dies wird die Russen und vor
178
allem die Chinesen zurückwerfen, zumindest in näch-
ster Zukunft. Doch die Japaner, die – hervorragende
Genetiker, Biochemiker und Mikroskophersteller – der
Welt die Geburtenkontrolle beschert haben, könnten
wohl das Rennen machen und uns ihren Zweig der
mongoloiden Subspezies an die Spitze setzen.
Ein Fortschritt, zu dem wohl wenige oder gar keine
Gegenstimmen aufkommen werden, wird der der Ge-
riatrie sein. Mit jeder Generation werden die Menschen
älter. Doch immer noch wenige, ja, so gut wie keine
überleben ihr 115. Lebensjahr. Mit wenigen Ausnah-
men nehmen Neunzig- und Hundertjährige kaum noch
am gesellschaftlichen Leben teil. Das zweite Ziel der
Geriatrie, das sinnvoller ist, als das Leben nur zu ver-
längern, stellt die Kontrolle über den Alterungsprozeß
dar. Wenn wir unsere Gewebe und unsere physiologi-
schen Prozesse so lange wie möglich erhalten können,
sagen wir bis Fünfunddreißig und uns dann weiterhin
um die größtmögliche Erweiterung der uns vererbten
geistigen Fähigkeiten bemühen, wird der Mensch
schließlich die Quelle der ewigen Jugend gefunden
haben, und ein Leben in Gesundheit und geistiger Fri-
sche verbringen, bis wir einer nach dem anderen durch
einen Unfall ums Leben kommen, der nicht durch eine
Organtransplantation geheilt werden kann, und der Tod
wird ein selteneres Phänomen werden. Unserer Ansicht
nach ist die Verlängerung des Lebens und die Kontrolle
über den durch das Alter ausgelösten Abbauprozeß das
Nahziel, das man eventuell bereits erreicht haben wird,
ehe die Öffentlichkeit die Absichten, Chromosomen
und die graue Gehirnsubstanz des Fötus zu verändern,
akzeptieren wird.
Wenn diese Erfolge in der Geriatrie schnell genug
eintreten, um auf jetzt lebende Personen von z. B. 50
179
Jahren angewandt werden zu können, werden diese
Individuen weiterhin ablehnend auf genetische Neue-
rungen reagieren. Menschen, die noch eine unbestimm-
te Lebenszeit vor sich haben, sind nicht gewillt, die
Kontrolle über die Welt an eine jüngere und weit
glücklichere Generation abzutreten. Schiebt man den
Sieg über das Altern bis nach deren Tod hinaus, so
wird den zukünftigen Mullers, Lederbergs und Halda-
nes der Weg bereitet sein.
Bis hierhin haben wir einige allgemein bekannte
Möglichkeiten aufgezeigt, die in Zukunft die Mensch-
heit in ihrer Gesamtheit werden beeinflussen können,
aber wie steht es um die einzelnen Rassen? Wie wir
schon erwähnten, wird die Rassenzugehörigkeit immer
schwerer zu bestimmen sein. Wir nehmen an, daß in
den nächsten 1-2 Jahrzehnten die Studien über Rassen-
fragen noch seltener werden. Wir nehmen ferner an,
daß die Rassenunterschiede sich in gewisser Weise
zuspitzen werden, da die meisten Altersforscher und
Genetiker Europäer, Amerikaner, Japaner oder Chine-
sen sind. Werden diese Zauberer mit gleicher Intensität
das Leben von Menschen anderer Rassen als ihrer ei-
genen, sieht man einmal von den amerikanischen Ne-
gern ab, zu verlängern oder deren geistige Fähigkeiten
zu steigern suchen? Die Anthropologen werden sich
vielleicht für die Erhaltung und geistige Weiterent-
wicklung alter australischer Stämme und Buschmänner
einsetzen, um sie zukünftigen Generationen von Stu-
dierenden als lebendes Material vorzuführen, doch ha-
ben Anthropologen in der Politik nun einmal kaum
etwas zu sagen.
Den Negern bieten sich unterdessen andere Perspek-
tiven. Neuere Forschungen über die Wirkung zweier
von der Zirbeldrüse ausgeschiedener Hormone bieten
180
die Möglichkeit, daß in Bälde die Menschen ihre Haut-
farbe durch simple Injektionen wechseln können. Eine
farbige Frau kann zur Weißen werden mit weniger
großem Aufwand als sie benötigt, um ihr Haar zu ent-
krausen, legen und kämmen zu lassen. Besonders wir-
kungsvoll wäre diese Möglichkeit bei Menschen mit
schmalen Gesichtszügen von dunkler Hautfarbe.
Wenn man den Genetikern, die auf dem Gebiet der
DNS- und der Chromosomensektion arbeiten geneh-
migen würde, ihre Theorien zu praktizieren, könnten
Rassenunterschiede zum Verschwinden gebracht wer-
den, nicht nur in Anatomie und Physiologie, sondern
auch auf dem stark umstrittenen Gebiet der Intelligenz.
Jeder der es wünschte, könnte einen Intelligenzquo-
tienten von genau 199,95 haben. Derartig einsichtige
Menschen werden imstande sein, Schritte zur Senkung
der Geburtenrate zu unternehmen, die Zahl der Welt-
bevölkerung auf einer gewissen Höhe stabil zu halten,
Seuchen zurückzudrängen, der Welt wieder ihre natür-
lichen Landschaften zu geben und einzusehen, daß die
Unterteilung der Menschen in Rassen ein kostbares
Geschenk der Natur ist und nicht der Quell von Feind-
seligkeiten sein kann.
Entgegen den Prognosen der Sunday Times werden
sie darüber entscheiden können, ob sie vier oder fünf
Zehen wollen und wer dem Teufel entsprechend nahe
steht, kann sich auf Hufen bewegen. Satyre werden
wieder über arkadische Lichtungen hüpfen und Engel
über Kirchtürmen schweben. Schwarze Zentauren
werden gegen weiße im Polo antreten, wobei Gnome
und Kobolde das Publikum stellen werden. Das klingt
wie ein comic-strip-artiger Traum eines Rauschgift-
süchtigen.
181
Computer, Biotechnik, Erziehung und Vernunft
182
sinnvolle Einsatz des Menschen erfordert eine genauso
große Kenntnis seiner Organe und deren Funktionen
wie sie die Physiker, Chemiker, Biologen und Ingeni-
eure bereits über Materie und Maschinen besitzen. Ein
wesentlicher Teil der benötigten Kenntnisse kann von
den Forschern auf dem Gebiet der Neurologie und der
Verhaltensforschung bezogen werden, an deren Arbeit
die Computerfabrikanten großes Interesse haben. Ob-
wohl Pierce mit seiner Untersuchung hauptsächlich auf
eine sinnvolle Nutzung der kulturellen Unterschiede
abgezielt hat, ist es klar, daß Rassenunterschiede un-
vermeidlich und unumgänglich darin eingeschlossen
sind.
Was diesen Punkt der Menschheitsgeschichte be-
trifft, vereinigen sich die fortschrittlichsten Zweige der
Wissenschaft und lösen nun die Anthropologen und
Soziologen, die mit grobschlächtigeren Mitteln, Tech-
niken und Konzepten arbeiten, in der Erforschung des
Menschen ab. Ihre vereinten Bemühungen müssen un-
vermeidlich zu dem fuhren, was heute noch eine unpo-
puläre Schlußfolgerung ist. Anstatt weiterhin die Kul-
turen der Welt zu nivellieren, indem man »unterent-
wickelte« Völker und Nationen entwickelt, anstatt wei-
terhin Rassenunterschiede zu verdrängen, wie man
früher das Thema »Krebs« totschwieg, werden vorur-
teilsfreie, verantwortungsbewußte und praxisbezogene
Wissenschaftler Möglichkeiten entwerfen und aufzei-
gen, die den Angehörigen aller Rassen und Kulturen
eine gleichwertige und interessante Tätigkeit bieten
oder aber es ihnen auch ermöglichen, solange sie wol-
len ungestört in ihrer traditionellen Kultur zu leben.
Auf dem Gebiet der Pädagogik – einst Brachland
der Universitäten – werden nun große Fortschritte er-
zielt. Moderne Pädagogen arbeiten bereits hart daran,
183
neue didaktische Praktiken zu entwickeln, die das
größtmögliche Quantum der jedermann angeborenen
Verhaltensschemata in einer beständig wachsenden
und konkurrierenden Umwelt einbeziehen. Wesentlich
für den Erfolg der Pädagogen wäre die Anerkennung
von Rassenunterschieden, dann erst können Schritte
unternommen werden, die verschiedenen Erziehungs-
methoden einander anzugleichen, die heute noch ge-
trennt sind nach den Bedürfnissen der verschiedenen
Rassen und Kulturen. Soweit haben die führenden Ver-
leger der USA eilig einen Ausweg gefunden, um zu
zeigen, daß sie die Existenz der Hauptrassen nicht ig-
norieren: Bei jeder Gruppendarstellung wurden die
Gesichter einiger Kinder übermalt, so daß der Leser
auf jedem Bild mit ursprünglich weißen Kindern
schließlich ein lächelndes schwarzes Gesicht sieht. Die
Verleger wissen sehr wohl, daß es damit allein nicht
getan ist.
Einigen von ihnen wird nun bewußt, daß ihre Ver-
antwortung sowohl gegenüber ihren Kunden als auch
ihren Aktionären darin besteht, ihren Teil dazu beizu-
tragen, daß so vielen Menschen wie möglich auch ihre
ursprüngliche Umgebung zurückgegeben wird und
ihnen ein auskömmlicher Lebensunterhalt gesichert
wird, daß vernünftige Beziehungen zwischen ihnen
untereinander und anderen Menschentypen geschaffen
werden, wie es bei den wenigen überlebenden Stam-
men australischer Eingeborener ist, die noch in Freiheit
leben, und die dort ebenso anerkannt sind wie ein Vo-
gel in seinem Nest oder eine Muschel in ihren Schalen.
Der Erfolg der Pädagogen würde einen größeren
Triumph als die Überwindung des Todes oder eine er-
folgreiche Spielerei mit der DNS oder als sonst ein
moderner Entwurf, wie z. B. Massenkreuzungen zur
184
Aufhebung der Rassenunterschiede, bedeuten. Ihre
Erfolgschance ist auch größer als die der anderen Spar-
ten. Weit mehr Menschen legen größeren Wert auf die
Kindererziehung als auf die Konstruktion von Fran-
kensteins oder sogar als auf die Möglichkeit, ewig zu
leben. Keiner sehnt sich nach Arbeitslosigkeit und Ar-
mut, die in der öffentlichen Meinung eine Folge gerin-
ger Ausbildungsmöglichkeiten sind.
Wer immer das Rennen machen wird: Unsere Pro-
gnose über die Zukunft der menschlichen Rassen bleibt
davon unberührt. Wir behaupten, daß, wenn die Dinge
weiterhin ihren bisherigen Verlauf nehmen, die Austra-
loiden und Capoiden eventuell von ihren Nachbarn
absorbiert werden, doch wird dieser Prozeß bei ihnen
als unvermischte Rassen länger dauern, als einige An-
thropologen annehmen. Wir behaupten weiterhin, daß
die Caucasoiden, die Mongoloiden und die Congoiden
sich noch für sehr lange Zeit in ihren Anlagen und
Neigungen von uns unterscheiden werden. Diese Vor-
hersagen haben nichts Erschreckendes an sich, und wir
hoffen, daß niemand enttäuscht sein wird, keine Über-
raschung erlebt zu haben.
185
… und seine Werke
Vorgeschichte
186
das, indem gezeigt wird, daß Heyerdahls Theorie ge-
nauso achtlos mit der Zeit umgeht, wie Vaters Theorie
in »Wegbereiter der Evolution«.
Die Erfindung des Schreibens zeichnete nicht auto-
matisch alle Einzelheiten der menschlichen Geschichte
auf. Außerdem hat nur ein kleiner Teil der gesamten
schriftlichen Aufzeichnungen die Zeit wohlbehalten
überstanden. Vielleicht ist das ganz gut so, wenn wir
auch immer noch über den Brand der Bibliothek von
Alexandria weinen können. Man denke nur an den lä-
stigen bürokratischen Plunder, der uns aus der Welt
des Altertums erhalten geblieben wäre, hätten die Rö-
mer den Gebrauch des Papiers gekannt! Hier kann
wieder Prosa die Lücke füllen, die aus der Abwesen-
heit von Fakten resultiert. General W. C. Hall tut das
mit »Ein Orden für Horatius«, einem Stückchen büro-
kratischer Geschichte, das so gut ist, daß es wahr sein
sollte.
187
Roy Lewis
Wegbereiter der Evolution
188
wir weiterzogen? Zurück in den Wald – wo es jetzt
sogar für Vanya immer schwieriger wird, sich am Le-
ben zu erhalten? Für mich war es undenkbar, die Be-
mühungen von hunderttausenden von Jahren der Ent-
wicklung und der Steinzeitkultur zu opfern und noch-
mals als Baumaffe zu beginnen. Mein alter Vater hätte
sich im Grab umgedreht, das ein Krokodil ist, wenn ich
alles das verraten hätte, wofür er eingetreten war. Wir
mußten bleiben, aber wir mußten unseren Kopf benut-
zen. Wir mußten einen Weg finden, die Löwen daran
zu hindern uns zu fressen, für jetzt und alle Zeiten.
Was konnte das sein? Am Ende fand ich heraus, daß
das die Schlüsselfrage war. Das ist die Schönheit logi-
schen Denkens; es befähigt dich systematisch dazu,
alle Alternativen auszusondern, bis uns noch die
Grundfrage übrigbleibt, die beantwortet werden muß.«
Vater zog einen verkohlten Stock aus dem Feuer
und untersuchte nachdenklich die qualmende Spitze.
»Ich wußte, wie wir alle, daß Tiere das Feuer fürch-
ten. Wir fürchteten es natürlich auch, da wir Tiere wie
die anderen sind. Von Zeit zu Zeit sahen wir es ko-
chend und Blasen schlagend an den Bergflanken her-
unterfließen, dabei setzte es Wälder in Brand; und
dann flieht jede Tiergattung in panischer Angst.
Wir flüchten fast genauso schnell wie das Wild, und
die Gefahr macht Löwen und Affenmenschen zu Brü-
dern. Ganze Berge haben wir in Rauch und Flammen
explodieren sehen, und dann läuft jedes Tier in Panik
blindlings umher. So etwas kommt nicht oft vor, aber
wenn es einmal geschieht, wissen wir was passiert.
Kein Schmerz ist so schlimm wie der, der durch
Verbrennungen entsteht, kein Tod so schrecklich wie
der Flammentod. So scheint es wenigstens. Davon
ausgehend war mein Problem, den Vulkan auszunut-
189
zen, ohne dabei selbst von ihm vernichtet zu werden.
Was ich wollte, war ein kleiner tragbarer Vulkan. Die-
ser grundlegende Gedanke wurde mir eines Nachts, als
ich die Barrikaden bemannte, plötzlich mit einleuch-
tender Klarheit bewußt. Aber die grundlegende Idee –
die theoretische Lösung – ist eine Sache; eine durch-
führbare Anwendung, eine ganz andere. Ideen allein
jagen noch keinen Bären aus seiner Höhle. Ich war in
gehobener Stimmung über die Eleganz meiner Theorie,
aber mir war klar, wenn ich nicht mehr tun würde, als
mich an ihr zu erfreuen, würden ich und der Rest mei-
ner Familie unweigerlich gefressen werden.
Wie funktionierte das Feuer? Meine zweite ent-
scheidende Idee, die ich einige Zeit später hatte, war,
daß ich auf einen Vulkan steigen mußte, um das he-
rauszufinden. Es war das Naheliegendste; schon ein-
mal hatte ich daran gedacht, und ich kann euch sagen,
ich habe mich verflucht, daß es mir nicht schon früher
eingefallen war. Jetzt zwang mich die Notsituation da-
zu. Aber es war klar, meine einzige Hoffnung, die Art
von begrenztem Feuer, gerade groß genug für die Fa-
milie, zu finden, war die, einen Vulkan zu besteigen
und irgendwie ein wenig Feuer herauszuholen. Ich hatte
keine andere Möglichkeit – keine Zeit zu überlegen,
wo ich sonst hätte suchen können. Deshalb entschied
ich mich, alles auf eine Karte zu setzen.
So stieg ich den Ruwenzori hinauf. Ich orientierte
mich an den Flammen, die aus der Bergspitze drangen
und kletterte, mich am Rande der Gletscher haltend,
ständig höher. Der Berg ist von einem Hochwaldgürtel
umgeben, dazwischen stehen Kampfer und Wolfs-
milch. So schnell ich konnte durchquerte ich ihn, in-
dem ich mich teils auf dem Boden, teils durch die
Bäume fortbewegte. Am Anfang war ich in Gesell-
190
schaft von Tieren – Warzenschweinen, Affen, ver-
schiedenen Katzen – und Schwärmen von Vögeln; aber
als der Wald allmählich lichter wurde, kam ich mir
immer einsamer vor. Ich vernahm ein Geräusch, ein
unterirdisches Grollen, das an Löwengebrüll erinnerte.
Schließlich befand ich mich in einer Art wilden Savan-
nenlandschaft aus schwarzen Felsen, Grasbüscheln und
verkümmerten Bäumen. Es war furchtbar kalt, und
stellenweise lag sogar Schnee. Die Luft wurde dünner
und ich atmete in kurzen schmerzhaften Zügen. Jetzt
war ich ganz allein, bis auf einen Tetratornis, der hoch
über den Baumwipfeln kreiste, die ich weit hinter mir
gelassen hatte, und der aus dieser Entfernung nicht
größer aussah als ein Adler. Ein eisiger Wind kam auf,
als ich eine öde Region erreichte, und ich zitterte vor
Kälte, obwohl die Felsen unter meinen Füßen oft
schmerzhaft heiß waren. Ich begann mich zu fragen,
warum ich überhaupt hierher gekommen war; blankes
Gestein und verfestigte Lava lagen nun vor mir, und
weit darüber, unter einer Decke schwarzen Rauchs,
ragte der geborstene Rand des Kraters empor. Nun
dämmerte mir die schiere Vermessenheit meines Un-
ternehmens: Ich wollte ein Mittel finden, womit ich die
Barthaare eines Löwen ansengen konnte, an einem Ort,
wo Felsen verbrannt waren als seien sie morsches
Holz. Mein Herz versagte fast; ich spürte einen starken
Drang, mich aus dem Staub zu machen; aber ich er-
kannte, daß eine Rückkehr mit leeren Händen genauso
sinnlos war, als kehrte ich überhaupt nicht zurück; und
es war das reine Interesse an der Sache, das mich nicht
aufgeben ließ.
Meine Hartnäckigkeit wurde plötzlich belohnt. Es
wurde mir klar, daß ich nicht, wie ich beabsichtigt hatte,
geraden Wegs zum Rand des Kraters hochklettern
191
konnte; die Felsen türmten sich noch immer zweitau-
send Fuß oder mehr über mir auf. Ich hatte keine andere
Wahl, als mich spiralförmig an den Krater heranzuar-
beiten, aber als ich die andere Seite des Berges erreicht
hatte, sah ich etwas, das meine ganzen Hoffnungen
wiederbelebte. Ich sah, daß es nicht notwendig war, bis
zur höchsten Spitze hinaufzuklettern, wofür ich wirk-
lich Tage gebraucht hätte, selbst wenn ich hier eine
Nacht im Freien überlebt hätte. Denn jetzt sah ich, daß
auf dieser Seite des Berges, Rauch und Dampf viel
weiter unten austraten, nur wenig oberhalb der Stelle,
wo ich mich jetzt befand. Feuer mußte daher auch wei-
ter unten vorhanden sein, viel weiter weg von den Ge-
fahren des Kraters, in dem es mit tausenden Grad Fah-
renheit glühte und blubberte. Darum setzte ich meinen
Weg, den Abhang entlang, dem Rauch entgegen, auf
Umwegen fort. Dann, nachdem ich auf keine größeren
Schwierigkeiten gestoßen war, kam mir der Zufall zu
Hilfe. Das flüssige Innere des Berges wurde herausge-
preßt und sickerte langsam die felsigen Querrinnen
hinunter. Es war, als wäre der Berg von einem Feind
aufgerissen worden, und nun drangen seine roten Ein-
geweide aus der Wunde heraus; oder vielleicht hatte
der Berg eine Art Gallenkolik und übergab sich. Dies,
so glaube ich, brachte mich der Wahrheit näher wie die
Welt aufgebaut war, aber unglücklicherweise hatte ich
nur für die oberflächlichsten Beobachtungen Zeit. Was
mich sofort interessierte, war, daß wenn der heiße Aus-
fluß einen im Wege stehenden Baum berührte, dieser
sofort in Flammen aufging.«
»Hier war nun, was ich wollte – eine Verbindung
zwischen dem Ausgangsfeuer in der Erde und dem
tragbaren Feuer, das ich suchte. Als ich den Vorfall
beobachtete, verstand ich augenblicklich das Geheim-
192
nis der Sache: fing ein Baum Feuer, fing danach auch
jeder andere Baum Feuer, der mit ihm in Berührung
kam. Das war das Prinzip der Feuerübertragung, de-
monstriert durch die Natur. Wenn man das Feuer mit
etwas berührt, das es fressen mag, fangt auch dieses
Ding Feuer. Dies erscheint euch jetzt alles sehr selbst-
verständlich, aber denkt daran; ich sah es zum ersten
Mal.«
Vaters Stock hatte aufgehört zu qualmen, und er be-
gann geistesabwesend die schwarze Spitze mit dem
Splitter eines Feuersteins abzukratzen.
»Der Vulkan war der Vater des Feuers; die Bäume
waren Söhne und Töchter, aber auch sie konnten Eltern
von Feuer werden, wenn sie mit einem anderen brenn-
baren Baum in Berührung gebracht wurden. Die einfa-
che Anwendung dieser Tatsache schoß mir durch den
Kopf. Alles was ich tun mußte, war einen abgefallenen
Ast aufheben, ihn an einen der brennenden Bäume hal-
ten und ihn dann davontragen. Ich probierte es sofort
aus; es war heiße Arbeit, denn der Lavastrom strahlte
eine fürchterliche Hitze aus, und ich mußte bis auf
vierzig Meter heran; aber es funktionierte! Mein Ast
brannte! Ich hielt Feuer in meinen Händen. Ich jauchz-
te vor Freude, als ich den Ast von den brennenden
Bäumen wegtrug und ihn hoch in die Luft hielt und
sah, daß in der Tat ein kleiner Vulkan über meinem
Kopf brannte und rauchte. Mit dieser schrecklichen
Fackel in meinen Händen, das wußte ich, konnte ich
jeden Löwen vor Angst um den Verstand bringen. Ich
zögerte nicht lange und eilte heimwärts. Ich war schon
eine Meile gegangen, als ich entdeckte, daß mein
flammender Ast aufgehört hatte zu brennen, und nur
noch ein schwarzer Stumpf war, der in meiner Hand
rauchte.«
193
»So ging ich zurück, um neue Experimente zu ma-
chen. Ich sah ein kleines Feuer, das bald sein Fressen
verschlungen hatte, man muß ihm mehr geben, bevor
es stirbt. Um es mitzunehmen, so wurde mir klar, mußte
ich eine Art Staffellauf machen. Zuerst setzte ich einen
Ast in Brand. Dann trug ich ihn, soweit ich konnte, bis
er nahezu aus war, oder bis zu meiner Hand herunter-
gebrannt war; dann brach ich einen Ast von einem
Baum, setzte ihn in Brand und trug ihn weiter und so
weiter bis zum nächsten. Alles ganz einfach und lo-
gisch, wenn es getan ist – aber nicht, solange man es
nicht erkennt. Dieses System klappte vorzüglich, ob-
wohl ich herausfand, daß nicht alle Bäume gleich gut
brennen. Aber mit Vorsicht erreichte ich euch endlich,
nachdem ich sechshundertneunzehn Fackeln getragen
hatte, mit denen ich die Löwen verjagt und unser eige-
nes Feuer innerhalb der Palisaden angezündet hatte,
das gleiche Feuer, das wir hierher brachten, und das
seitdem nicht ausgegangen ist. Aber selbst wenn, wäre
es sehr einfach …«
Vater hörte plötzlich auf, und starrte mit offenem
Mund auf den Stock in seiner Hand. »Gott sei Dank!«
keuchte er. »Während ich euch alles erzählte, und nicht
einmal daran dachte, habe ich eine höchst wichtige
Entdeckung gemacht: den schweren Jagdspeer mit der
feuergehärteten Spitze!«
194
Robert C. Suggs
Der Kon-Tiki Mythos
195
einzusammeln, die zwischen stacheligen Seeigeln und
Seeschnecken am Grund der gezeitenbedingten Untiefe
verstreut lagen.
Für Thor Heyerdahl, dem Anführer dieser Gruppe
von abgehärteten Seeleuten, war dieser Tag in mehr als
nur einer Hinsicht bedeutungsvoll. Er und seine Be-
gleiter hatten soeben eine 101-tägige Seereise beendet.
Von der südamerikanischen Küste aus war man an
Bord des nun halbwracken Balsaholz-Floßes Kon-Tiki
in See gestochen, und die Ankunft auf Raroia setzte
den Schlußstrich unter eine Seereise voller Entbehrung
und Gefahren. Wichtiger jedoch war die Tatsache, daß
Heyerdahl durch die erfolgreiche Floßfahrt zwischen
Südamerika und Polynesien seine Theorie untermauert
hatte; seine Theorie, für die er lange Zeit vergeblich
versucht hatte, wissenschaftliche Anerkennung unter
den Anthropologen der Welt zu gewinnen.
Heyerdahls Theorie, vielen Laien vertraut durch das
Bekanntwerden der Kon-Tiki-Fahrt, betraf den Ur-
sprung der polynesischen Rasse. Im Unterschied zu
den Anthropologen glaubte Heyerdahl, daß die Polyne-
sier nicht von Asien gekommen waren, sondern daß es
vielmehr amerikanische Indianer waren, die von der
Küste der Neuen Welt – die zugegebenerweise dem
polynesischen Dreieck viel näher lag als die asiatische –
losgesegelt waren. Eine solche Theorie war keinesfalls
neu. Zuerst war sie 1803 von einem spanischen Missio-
nar auf den Philippinen, Pater Joacquin M. de Zuniga,
in seinem Buch Historia de las Islas Philipinas ent-
wickelt worden und beinhaltete die Annahme, die Ein-
geborenen dieser Inseln wären amerikanischer Ab-
kunft. Die Theorie erregte die Aufmerksamkeit des
Missionars und Wissenschaftlers William Ellis, der sie
in ihrer Anwendbarkeit auf die Polynesier nicht voll
196
akzeptieren konnte. In neuerer Zeit wurde die Mög-
lichkeit einer polynesisch-peruanischen Verwandt-
schaft bei mehreren Gelegenheiten wieder aufgegrif-
fen, einer ernsthaften Erwägung wurde sie jedoch nie
für wert befunden.
Gemäß Heyerdahls Hypothese waren es zwei ver-
schiedene Gruppen von Indianern, die die Bevölkerung
der polynesischen Inseln bildeten. Erstens eine Gruppe
peruanischer Indianer, die sich auf ihren Flößen, von
der Küste Perus aus lostreiben ließen, die Oster-Inseln
streiften und sich später weiter westwärts bewegend,
die Marquesas- und Gesellschafts-Inseln erreichten
und bis zur westlichen Grenze Polynesiens vordrangen.
Zweitens trennte sich eine Gruppe von Indianern des
pazifischen Nordwestens der Vereinigten Staaten und
Kanada von ihren Zedern und Totempfählen und pad-
delten in ihren Einbäumen nach Hawaii; danach breite-
ten sie sich Schritt für Schritt über die südlichen Inseln
des polynesischen Dreiecks aus und vermischten sich
mit den Peruanern, die in diesem Gebiet bereits ansäs-
sig waren. Dies setzt klarerweise eine fortgeschrittene
Entwicklung der Muskulatur an den paddelnden Ar-
men der Nordwestküstenindianer voraus, aber eine
derartige Stärke ist sicherlich nicht bemerkenswerter
als die unglaubliche Geduld, die die untersetzten Pe-
ruaner auf ihrer treibenden Rundreise zwischen den
Inseln aufbrachten.
Unterbrechen wir kurz, um das Kon-Tiki-Floß selbst
in Augenschein zu nehmen. Bewies Heyerdahl mit sei-
ner Fahrt nicht wirklich, daß peruanische Indianer Po-
lynesien auf solchen Flößen erreicht haben könnten?
Die Antwort ist klar negativ. Das Kon-Tiki-Floß ist ein
Wasserfahrzeug, wie es von den Peruanern entwickelt
wurde, nachdem die Spanier den Gebrauch des Segels
197
dort eingeführt hatten. Obwohl die Peruaner, lange be-
vor der Weiße Mann eintraf, tatsächlich Flöße benutz-
ten, um sich von ihren Küsten zu entfernen, so hatten
diese Flöße keine Segel, sondern wurden von Paddeln
angetrieben. Segelflöße vom Kon-Tiki-Typ wurden
von prähistorischen Indianern nie benutzt. Mehr noch,
die peruanischen Indianer, ob sie nun Segel oder Pad-
del benutzten oder sich nur treiben ließen, hatten nie
den Vorteil von Lebensmittelkonserven, moderner
Sonnendestillatoren, um aus dem Meer Trinkwasser zu
gewinnen, Radios, Seekarten, Navigationsinstrumenten
und das Wissen, wohin sie fahren würden. All das
wurde von der Kon-Tiki-Crew benutzt, und es muß
gesagt werden, daß ohne diese Hilfsmittel die Fahrt
sehr schnell mit einer Tragödie geendet hätte. Als die
Kon-Tiki auf Raroias Riff lief, waren noch immer 1500
Konserven an Bord. Demzufolge kann man annehmen,
daß es für die Mannschaft unmöglich war, von dem
allein zu leben, was das Meer lieferte. Warum sollte es
dann für die weniger gut ausgerüsteten, ohne Segel
fahrenden Indianer möglich gewesen sein?
Alles in allem war die Seereise der Kon-Tiki in kein-
ster Weise ein gerechter Test der Segelfähigkeit der
alten Peruaner und bewies nur folgendes: Benutzt man
ein modernes, nach dem ersten Kontakt mit Europäern
entstandenes Segelfloß, bestückt mit Navigationshilfen
und moderner Überlebens-Ausrüstung, können Men-
schen eine 101-tägige Seereise zwischen Peru und Po-
lynesien überleben.
Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß die Reak-
tion der wissenschaftlichen Welt einheitlich negativ
war, als Heyerdahls Theorie Schlagzeilen machte. Wie
ich schon erwähnt habe, wurde dieselbe These etliche
Male zuvor schon aufgestellt, und Heyerdahls Version
198
war die gleiche alte Geschichte, lediglich mit einem
neueren Mäntelchen versehen und von einer Springflut
an Sensationspropaganda unterstützt. Die Art und Weise,
wie Tatsachen in das Schema der peruanischen Aus-
wanderungstheorie hineingepreßt wurden, brachte
Heyerdahl keine Anhänger unter Wissenschaftlern ein,
die daran gewöhnt sind, sowohl von sich selbst, als
auch von ihren Kollegen höchste Objektivität zu for-
dern. Einige Wissenschaftler unterzogen sich der Mühe
und zeigten in wissenschaftlichen Zeitschriften ver-
schiedene der zahlreichen Widersprüche und Mängel
der Theorie, sowie der Anhaltspunkte, die ihr zu Grunde
lagen, auf. Das Bekanntwerden der Kon-Tiki-Theorie
stimulierte zu weiterer wissenschaftlicher Arbeit auf
dem Gebiet der polynesischen Anthropologie. Die Re-
sultate äußerten sich natürlich eher in einer Zunahme
der Beweise die gegen die Theorie aufgestellt wurden,
als zu ihrer Unterstützung beizutragen. Die Öffentlich-
keit, sich der detaillierten Literatur über polynesische
und amerikanisch-indianische Anthropologie voll-
kommen unbewußt, war gänzlich bereit die Hypothese
zu akzeptieren, als diese in den zahlreichen bekannten
Publikationen, die die Floßfahrt zum Thema hatten,
erschien. Der Glanz eines solchen Unternehmens, die
unleugbaren Mühen die der Besatzung auferlegt wur-
den, und ihr großer Mut, sich mit einer solchen Nuß-
schale dem mächtigen Pazifik zu stellen, trug zur At-
traktion der Theorie bei, wenn es nicht gar der Haupt-
grund für ihre Popularität war.
Nach dem anfänglichen Ausbruch öffentlicher Be-
geisterung, der gleich nach der Reise erfolgte, verebbte
das Öffentliche Interesse allmählich, während Wissen-
schaftler ihre Arbeit fortsetzten und gelegentlich ver-
suchten, die Theorie noch mehr zu durchlöchern, die
199
ohnehin nie mehr als ein Schweizer Käse gewesen
war.
Heyerdahl war jedoch nicht untätig, und 1956 leitete
er die norwegische Polynesien-Expedition. Das Vor-
haben der Expedition war, die Vorgeschichte Ost-
Polynesiens zu untersuchen. Dabei konzentrierte man
sich im besonderen auf die Oster-Insel. Von den In-
formationen, die auf einer solchen Expedition gefun-
den werden sollten und die zur Unterstützung der Kon-
Tiki-Theorie beitragen sollten, war natürlich nicht viel
zu erwarten. Das jüngste Heyerdahlsche Opus, Aku-
Aku betitelt, ist ein Ergebnis dieser Arbeit und dient
uns als Hauptwissensquelle über die Arbeit der Expe-
ditionsmitglieder auf der Oster-Insel und anderswo.
Aku-Aku steht in derselben Tradition, wie die voran-
gegangenen Werke und unterscheidet sich nur dadurch,
daß es eine extremere Position einnimmt. Der allge-
meine Stil des Werkes war schon in den bekanntesten
Büchern der abenteuerlichen Reiseliteratur wie Green
Hell und All The Rivers Ran East zu finden. Die Aura
des Mystischen, die die Oster-Insel umgibt, wird bis
ins Phantastische aufgebauscht, ohne daß auch nur eine
der erstklassigen anthropologischen Studien wie es sie
über die Oster-Insel von Métraux, Lavachery, Rout-
ledge und anderen gibt, erwähnt wird. Obwohl es Hey-
erdahl vermeidet, solche Quellen zu erwähnen, ist er
offensichtlich mit ihnen vertraut, wie jeder der
Métraux’ Arbeiten kennt, beim genauen Durchlesen
von Aku-Aku bemerken wird.
Indem er so dem uniformierten Leser beigebracht
hatte, daß die Oster-Insel und ihre Kultur terra inco-
gnita für die anthropologische Welt sind, fährt Heyer-
dahl fort zu erzählen was er während des fünfmonati-
gen Aufenthalts der Expedition, durch seine eigenen
200
speziellen Methoden herauszufinden in der Lage war.
Die Bewohner der Oster-Insel ließen natürlich diesen
eindrucksvollen Besucher ihre ganze Esoterik spüren,
und es wurden ihm alle Arten von Geheimnissen ge-
zeigt, die bis zu jenem Tag dem Auge des Weißen
Mannes verborgen geblieben waren. Dazu gehörten
Urhöhlen, die nur über gefährliche Pfade, die tief unter
die Inseloberfläche führten, erreicht werden konnten,
und die mit den seltsamen Skulpturen von Aku-Aku,
oder Dämonen angefüllt waren; das Geheimnis, wie
die großen Statuen bewegt und aufgerichtet wurden;
das Geheimnis, des auf der Oster-Insel gefundenen
Schriftstücks; und eine Anzahl anderer herausragender
Erstentdeckungen. Tatsächlich könnte man den Ein-
druck bekommen, die Eingeborenen der Oster-Insel
hätten für Heyerdahl eine Art Ed-Sullivan-Show abge-
zogen, mit dem Titel: ›Die Geschichte der Oster-Insel‹,
unter Mitwirkung der Originaldarsteller und der Be-
gleitmusik von Tiomkin.
Mitten unter diesen Leistungen sind einige ziemlich
störende Bestandteile. Die in den Urhöhlen entdeckten
Steinskulpturen sind ein plumper Betrug: sie werden
Tag für Tag von den Oster-Insulanern hergestellt, um
an Touristen und Matrosen verkauft zu werden. Die
armseligen Proportionen, die erbärmliche Meißeltech-
nik und die offensichtlich ausgeklügelte Form dieser
›Meisterwerke‹, entlarven sie als Schwindel, sogar auf
einem Photo. Verglichen mit den zierlichen Holz-
schnitzereien aus der heidnischen Vergangenheit des
›Nabels der Welt‹ sind diese Steinfiguren Monstrositä-
ten. Es ist jedoch ermutigend, wenn man sieht, wie
schnell die Eingeborenen der Oster-Insel die Möglich-
keiten eines solchen Geschäftstricks erkannt haben,
und man ist dabei von der Kreativität ihrer Vorstel-
201
lungsgabe genauso beeindruckt wie von einigen ande-
ren ›Geheimnissen‹, die sie enthüllten.
Was das Geheimnis der Oster-Insel-Schrift betrifft,
so hat die Arbeit von Dr. T. Barthel auf der Oster-Insel
nach der Abfahrt der norwegischen Expedition, auf die
wahre Natur des Zeichensystems, das in den rongo-
rongo-Bänden. benutzt wurde, hingewiesen. Die Er-
gebnisse seiner Arbeit zeigen, daß die Schritt von den
ersten Siedlern zur Oster-Insel gebracht wurde und
polynesischen Ursprungs ist.
Abgesehen von Zwischenspielen der Erregung und
Ungewißheit, enthält das Buch die üblichen Sprüche.
Zum Beispiel schreibt sich Heyerdahl die ersten ar-
chäologischen Forschungen, die jemals auf den Mar-
quesas gemacht wurden, selbst zu. Er kam etwa sie-
benunddreißig Jahre zu spät. Ralph Linton gebührt seit
1919 diese Ehre, und ich selbst machte die ersten stra-
tigraphischen Ausgrabungen auf Nuku Hiva, einen
Monat bevor Heyerdahls Schiff in der Taiohae-Bucht
vor Anker ging. Die Ehre des erstmaligem sollte be-
deutungslos sein, und sie ist es auch wirklich; es gibt
da weit erstrebenswertere Adjektive, die allerdings
nicht so einfach erworben werden können.
Heyerdahl fahrt fort, indem er für sich in Anspruch
nimmt, der erste Weiße gewesen zu sein, der die be-
kannte zweiköpfige Statue im Tal von Taipivai auf Nu-
ku Hiva gesehen hat. Tatsächlich wurde diese Statue
zuerst von Karl von den Steinen, dem berühmten deut-
schen Ethnographen, 1898 gesehen und in seinem Werk
über die Kunst auf den Marquesas gebührend erwähnt.
Von den Steinen wurde unglücklicherweise durch die
abergläubische Furcht seines Eingeborenenführers da-
von abgehalten, die Statue zu photographieren.
Weiter nimmt Heyerdahl für sich in Anspruch, die
202
große Befestigungsanlage von Morongo Uta auf Rapa
Iti entdeckt zu haben. Diese Fundstelle wurde von J. G.
Stokes vom Bernice-Bishop-Museum, in den zwanzi-
ger Jahren dieses Jahrhunderts kartographiert und ge-
nau untersucht, aber der Bericht wurde nie veröffent-
licht. Von der Museumsleitung wurde nie der Versuch
gemacht, die Tatsache zu verschleiern, daß Stokes dort
gearbeitet hat.
Das allgemeine Bild der Urgeschichte der Oster-
Insel wie es von Aku-Aku übermittelt wird, ist folgen-
des: Die Inseln wurden zuerst von peruanischen India-
nern besiedelt. Später, gegen Ende der prähistorischen
Periode, fielen Polynesier (die in Wirklichkeit Nord-
westküsten-Indianer waren) ein. Indem Heyerdahl An-
leihen von einer alten Legende der Oster-Insel macht,
die einen Krieg zwischen zwei Gruppen beschreibt, die
im einzelnen die Langohren und die Kurzohren ge-
nannt werden, identifiziert er die Langohren als Perua-
ner und die Kurzohren als Polynesier. Er zeigt einige
Bilder von angeblich reinrassigen Langohren, die im-
mer noch auf der Oster-Insel leben – die bemerkens-
wert kaukasoid aussehen, wie ich hinzufügen möchte.
Er spricht dies der Tatsache zu, daß die peruanischen
Eroberer in Wirklichkeit überhaupt keine Indianer wa-
ren, sondern weiße Menschen mit roten Haaren (Ist
hierin eine Nordische Hypothese versteckt?). Die Tat-
sache, daß keine prähistorische kaukasoide Bevölke-
rungsgruppe irgendwo in Peru nachgewiesen werden
kann, ist für die Theorie natürlich nebensächlich. Das
plötzliche Auftauchen von Weißen in der Heyerdahl-
schen Theorie ist total verwirrend, da Heyerdahl ver-
zweifelt zu zeigen versucht hat, daß polynesisches Blut
amerikanischem Indianerblut in punkto Blutgruppen-
verbreitung gleicht. Welche rassischen Beziehungen
203
haben also diese Weißen zu den Indianern? Besitzen
sie die gleichen Blutgruppen wie die Indianer? Wenn
ja, dann stehen Blutgruppe und physischer Phänotyp
nicht miteinander in Zusammenhang, was seiner Theo-
rie widersprechen würde.
Das Datum der Besiedlung der Oster-Insel wird mit
380 n. Chr. angegeben, festgestellt durch eine C-14
Messung, die in völlig unspezifiziertem Kontext steht,
wie weiter oben schon besprochen wurde. Nach Hey-
erdahl entspricht die Kultur der peruanischen Siedler
jener Epoche, die den Archäologen Südamerikas als
die der Tiahuanaco-Periode bekannt ist. Die Tiahuanaco-
Kultur blühte jedoch in den Hochländern Boliviens
(nahe dem Titicaca-See) ungefähr 750 n.Chr. auf; also
brachten die Peruaner die Tiahuanaco-Kultur etwa 400
Jahre bevor sie überhaupt existierte auf die Oster-Insel;
wahrlich eine Glanztat, sogar für die sagenhaften Pe-
ruaner! Was jedoch noch erstaunlicher ist, ist die Tat-
sache, daß diese Peruaner die Technik des Maurer-
handwerks mit sich brachten, verstanden sie es doch,
exakte Steinmauern zu bauen, was man in Peru erst
sehr viel später konnte, ungefähr ab 1500 n. Chr.
Obwohl sie diese bemerkenswert entwickelte (und
absolut anachronistische) Steinbearbeitungstechnik
besaßen, fehlten den Tiahuanaco-Entdeckern der Oster-
Insel seltsamerweise alle Dinge; die für Tiahuanaco
typisch sind. Die Tiahuanaco-Periode zeichnet sich
durch einen Reichtum an schönen Töpferwaren aus,
die als Dekoration sorgfältig gemalte Katzen, Bussarde
und Gottheiten von Menschengestalt trugen. Auf der
Oster-Insel wurden jedoch keine Töpferwaren gefun-
den. Auf dem Tiahuanacogelände in Bolivien wurden
Ruinen von großen Gebäuden und mehrere große Sta-
tuen gefunden. Es besteht keine Ähnlichkeit zwischen
204
den Statuen der Oster-Insel, die nahezu nackte mensch-
liche Wesen darstellen, und jenen von Tiahuanaco,
vermenschlichten, mit Fangzähnen ausgestatteten Kat-
zenwesen, die außerdem völlig bekleidet sind. Die Sta-
tuen der Oster-Insel und die von Tiahuanaco sind je-
weils aus Stein, aber das ist sicherlich nicht sehr be-
deutungsvoll.
Was die Bauten von Tiahuanaco anbelangt, so äh-
neln sie den ahu auf der Oster-Insel nicht im gering-
sten. Die ahu sind unbedeutend im Vergleich mit der
riesigen, rechtwinkeligen Akapana in der Nähe des
Titicaca-Sees und ihren gewaltigen, geschickt behaue-
nen Steinpfeilern, die durch gegossene Kupferkeile
zusammengehalten werden.
Weitere Charakteristiken der Tiahuanaco-Kultur
sind ihre wundervollen, aus einer Vielzahl von Pflan-
zen und auf verschiedene Art und Weise gewobenen
Kleiderstoffe. Nie wurden auf der Oster-Insel solche
Dinge gefunden.
Die Auswanderung, die diese, paradoxerweise,
Nicht-Tiahuanaco-Gruppe von Tiahuanaco-Indianern
auf die Oster-Insel trug, wurde angeblich von dem
großen Gott Viracocha geführt, dessen Namen Heyer-
dahl den Titel ›Kon-Tiki‹ voranstellte. Tatsächlich
kann die Verehrung Viracochas, eines Schöpfer-
Gottes, in Peru bis 750 n. Chr. zurückreichen, aber das
ist unsicher. Viracocha war allem Anschein nach ein
Inka, der erst zu Wichtigkeit aufstieg, als sich das In-
kareich nach 1500 n. Chr. ausweitete, und er kann so-
gar nur eine Stammesgottheit gewesen sein, die nur auf
die Inkas allein beschränkt blieb. Ganz sicher ist, daß
es keinen Beweis dafür gibt, daß er ein wirklicher
Mensch war, genausowenig wie von Apollo oder Zeus
angenommen wird, sie hätten wirklich existiert.
205
Heyerdahls Peruaner müssen von dem klassischen
Kunstgriff der Science Fiction – der Zeitmaschine –
Gebrauch gemacht haben, da sie 380 n. Chr. auf der
Oster-Insel auftauchten, geführt von einem Inka-Gott-
Held aus der Zeit nach 750 n. Chr., mit einer Tiahua-
naco-Baukultur des Jahres 750 n. Chr., die Inka-
Mauern aus dem Jahre 1500 n. Chr. aufweist, jedoch
nicht ein einziges Charakteristikum der Tiahuanaco-
Periode in Peru und Bolivien. Man könnte genausogut
sagen, Amerika wurde in den letzten Tagen des Römi-
schen Weltreichs von König Heinrich VIII. entdeckt,
der den Ford Falcon den unwissenden Ureinwohnern
brachte.
Solch ein gewandter Gebrauch von Einsteins Vierter
Dimension ist nur eine der vielen Facetten von Aku-
Aku die unter Anthropologen Besorgnis hervorruft,
aber es hat keinen Wert, das Buch hier noch länger zu
besprechen. Was die Kehrseite der Medaille angeht, so
hat der Leser an diesem Punkt einige Hinweise auf Na-
tur und Spannweite der wissenschaftlichen Beweisfüh-
rung erhalten, die die Grundlage der heutigen wissen-
schaftlichen Ansicht über den Ursprung der Polynesier
bildet. Die Bibliographie dieser Arbeit gibt nur eine
kleine Auswahl der Literatur wieder, die einen Studen-
ten erwartet, der sich mit Polynesien beschäftigt, trotz-
dem sei jeder Interessierte aufgefordert, die Original-
Quellen selbst zu lesen.
Letztendlich erkennt man in der Kon-Tiki-Theorie
ein – nach langer Abwesenheit – aus der Vergangen-
heit zurückgekehrtes Phänomen, das nur in ein attrak-
tiveres Mäntelchen gekleidet ist. Ihre Grundlage ist der
Erfolg einer zeitgenössischen Floßreise, die nichts be-
weist, was mit altperuanischer Navigation zu tun hat.
Der dürftige wissenschaftliche Nachweis der Theorie
206
ist schwach, sogar in den wenigen Fällen, wo sie
durchaus akzeptabel ist. Andererseits sind die Ähn-
lichkeiten, die den Anschein polynesisch-peruanischer
Beziehungen erwecken sollen, völlig zweifelhaft. Die
Kon-Tiki-Theorie ist ungefähr so plausibel wie die Sagen
von ›Atlantis‹, ›Mu‹ oder den ›Kindern von der Sonne‹.
Wie die meisten dieser Theorien ist sie spannend und
leicht zu lesen, aber als Beispiel wissenschaftlichen
Vorgehens nimmt sie sich recht dürftig aus.
207
Brigadegeneral William C. Hall
Ein Orden für Horarius
208
1. General-Adjutant
April CCCLX
An: Ausbildungs-Bataillon
I Zur Kenntnisnahme
General-Kommandeur
II. Ausbildungs-Bataillon
209
Personalbüro
IX. Januar CCCLXI
An: Rechtsberater.
I Vollständiger Name ist Gaius Cocles Horatius.
II Dauer der Dienstzeit von XVI in XV Jahre än-
dern. Vorherige Angaben sind durch militäri-
schen Irrtum entstanden.
H.J.
Rechtsberater
II. Februar CCCLXI
An: General-Adjutant.
General-Adjutant
I. Mai CCCLXI
An: Personal-Büro.
I Übereinstimmung mit Absatz IV, Rechtsbera-
ter.
L.J.
210
Personalbüro
I. Mai CCCLXI
An: General-Adjutant.
General-Adjutant
III. Juni CCCLXI
An: Rechtsberater.
I Zur Stellungnahme.
G.C.
Rechtsberater
XI. September CCCLXI
An: General-Adjutant.
General-Adjutant
Oktober CCCLXI
An: Personalbüro.
I Vorschlag: Verleihung der Papyrus-Rolle mit
Silberband.
211
Personalbüro
XX. Oktober CCCLXI
An: Militärischer Abschirmdienst.
Militärischer Abschirmdienst
XI. November CCCLXI
An: Personalbüro.
Personalbüro
XX. November CCCLXI
An: General-Adjutant.
212
I. April CCCLXII
Gutachten, Bericht des Kriegsministeriums.
H. Hocus Pocus
Leutnant der Kavallerie
Nachschuboffizier
213
Archäologie
214
in »Eine Voruntersuchung einer frühmenschlichen
Siedlung im Delawaretal« auf den Müllhaufen zurück.
Mit erbittertem Humor geben sie einen schonungslosen
Kommentar zu den Formalitäten der gegenwärtigen
archäologischen Forschung.
215
H. Beam Piper
Die universelle Sprache
216
Menschen, Proviant und Ausrüstung, die über fünfzig
Millionen Raummeilen heranzuschaffen wären. Man
würde Maschinen verwenden müssen; sonst gab es
keine andere Möglichkeit. Planierraupen, Schaufel-
bagger und Schleppseile; sie waren schnell, aber grob
und wahllos. Sie erinnerte sich an die Grabungen um
Harappa und Mohenjo-Daro im Indus-Tal und die vor-
sichtigen, geduldigen eingeborenen Arbeiter – die
Männer mit den Spitzhacken und Spaten, die langen
Reihen von Korbträgern, die die Erde wegtrugen.
Langsam und primitiv, wie die Zivilisation, deren Rui-
nen sie freilegten, ja, aber sie konnte die Fälle, in denen
einer ihrer Spitzhackenarbeiter ein wertvolles Objekt im
Boden beschädigt hatte, an den Fingern einer Hand ab-
zählen. Wäre nicht der unterbezahlte und niemals kla-
gende eingeborene Arbeiter gewesen, die Archäologie
wäre noch auf dem Stand, auf dem Winckelmann sie
vorgefunden hatte. Aber auf dem Mars gab es keine
Eingeborenen-Arbeit; der letzte Marsianer war vor
fünfzig Jahrtausenden gestorben.
Links von ihr, etwa fünfhundert Meter entfernt, be-
gann etwas wie ein Maschinengewehr zu knallen. Ein
Rammbohrer; Tony Lattimer hatte sich wohl entschie-
den, in welches Gebäude er als nächstes einbrechen
würde. Jetzt wurde ihr das lästige Gewicht ihrer Aus-
rüstung bewußt, und sie begann es neu zu verteilen,
indem sie die Riemen ihres Sauerstofftank-Tornisters
verlagerte, die Kamera von der einen Schulter und den
Proviant und das Zeichengerät von der anderen warf
und die Notizbücher und Skizzenblocks unter den lin-
ken Arm klemmte. Sie begann die Straße hinunterzu-
gehen, über kleine Hügel vergrabenen Bauschutts, um
aus dem Löß hervorragende Mauerstümpfe herum,
vorbei an noch stehenden Gebäuden, von denen einige
217
schon aufgebrochen und erforscht waren, und über die
mit Gestrüpp bewachsene Ebene zu den Hütten.
Es befanden sich zehn Leute im Zentralbüroraum
von Hütte eins, als sie eintrat. Kaum hatte sie ihre Sau-
erstoff-Ausrüstung abgelegt, zündete sie sich eine Zi-
garette an, die erste seit Mittag, dann sah sie einen
nach dem anderen an. Der alte Selim von Ohlmhorst,
der Deutsch-Türke, einer ihrer beiden Archäologenkol-
legen, saß am Ende des langen Tisches an der hinteren
Wand, rauchte seine große geschwungene Pfeife und
blätterte in einem Ringbuch. Der weibliche Geschütz-
offizier Sachiko Koremitsu saß zwischen zwei Hänge-
lampen am anderen Ende des Tisches, den Kopf über
ihre Arbeit gebeugt. Colonel Hubert Penrose, der Offi-
zier der Raumflotte und Captain Field, der Nachrich-
tenoffizier, lauschten dem Bericht des Raumschiffpilo-
ten, der von seinem nachmittäglichen Inspektionsflug
zurückgekehrt war. Zwei weibliche Oberleutnants von
der Nachrichtentruppe lasen das Abend-Fernseh-
programm durch, das zur Cyrano, die sich auf Umlauf-
bahn, sechstausend Kilometer über dem Planeten be-
fand, und von dort über Lunar nach Terra übertragen
werden sollte. Sid Chamberlain, der Transall Nachrich-
tendienstmann, war bei ihnen. Er war wie Selim und
sie selbst Zivilist; er brachte diese Tatsache mit einem
weißen Hemd und einem ärmellosen blauen Pullover
zum Ausdruck. Und da war Major Lindemann, der
technische Offizier, mit einem seiner Assistenten, die
über einige Entwürfe auf einem Zeichenbrett diskutier-
ten. Sie hoffte, während sie eine Handvoll heißes Was-
ser schöpfte, um ihre Hände zu waschen und ihr Ge-
sicht abzuwischen, daß sie etwas für die Wasserleitung
taten.
Sie setzte sich in Bewegung, um die Notiz- und
218
Skizzenbücher hinüberzutragen, wo Selim von Ohlm-
horst saß, und da drehte sie sich, wie sie es immer tat,
zur Seite und blieb stehen, um Sachiko zu beobachten.
Das japanische Mädchen restaurierte, was vor fünfzig-
tausend Jahren ein Buch gewesen war; ihre Augen wa-
ren hinter einem Doppelmikroskop versteckt, das
schwarze Stirnband war auf ihrem glänzenden schwar-
zen Haar fast unsichtbar, und sie kratzte mit einem
haarfeinen Draht an einem Kupferrohrgriff behutsam
an der brüchigen Seite. Schließlich löste sie ein Parti-
kel, winzig wie eine Schneeflocke, faßte es mit einer
Pinzette, plazierte es auf die durchsichtige Plastikfolie,
auf der sie die Seite rekonstruierte und befestigte sie
mit einem Hauch Fixiermittel aus einer kleinen Sprüh-
flasche. Es war eine reine Freude, ihr zuzusehen; jede
Bewegung war so graziös und präzise, als werde sie
nach hundertmaligem Proben zu Musik ausgeführt.
»Hallo, Martha. Es ist noch nicht Cocktail-Zeit,
nicht wahr?« Das Mädchen am Tisch sprach, ohne den
Kopf zu heben, fast ohne die Lippen zu bewegen, als
hätte sie Angst, der leiseste Atem würde den flockigen
Stoff vor ihr zerstören.
»Nein, es ist erst fünfzehn Uhr dreißig. Ich habe
meine Arbeit da drüben beendet. Ich habe keine Bü-
cher mehr gefunden, falls das eine gute Nachricht für
dich ist.«
Sachiko nahm die Lupe ab, lehnte sich in ihrem
Stuhl zurück und wölbte die Handflächen über ihren
Augen.
»Nein, ich mache das gern. Ich nenne es Mikro-
Puzzle. Dieses Buch hier ist wirklich ein einziges
Durcheinander. Selim hat es gefunden, wie es offen
dalag, mit irgendeinem schweren Zeug oben drauf, die
Seiten waren einfach zerquetscht.«
219
Sie zögerte kurz.
»Ich will hoffen, daß es etwas aussagt, wenn ich es
endlich geschafft habe.«
In ihrer Stimme schien ein leichter kritischer Unter-
ton mitzuschwingen. Als sie antwortete, merkte Martha,
daß sie in der Defensive war. »Eines Tages wird es
klappen. Bedenke, wie lange man gebraucht hat, die
ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern, sogar noch,
nachdem man den Rosetta-Stein hatte.«
Sachiko lächelte. »Ja, ich weiß. Aber sie hatten im-
merhin den Rosetta-Stein.«
»Und wir nicht. Es gibt keinen Rosetta-Stein, nir-
gends auf dem Mars.« Eine ganze Rasse, eine ganze
Spezies starb aus, während der erste Cro-Magnon-
Höhlenkünstler Bilder von Rentier und Bison pinselte,
und über fünfzigtausend Jahre und fünfzig Millionen
Kilometer gab es keine Brücke der Verständigung.
»Wir werden einen finden. Irgendwo muß etwas
sein, das uns die Bedeutung von ein paar Wörtern er-
schließt, und wir werden sie benutzen, um aus weiteren
Wörtern Bedeutungen herauszupressen, und so weiter.
Vielleicht reicht unser Leben nicht, um diese Sprache
zu lernen, aber wir werden einen Anfang machen, und
eines Tages wird irgend jemand es können.«
Sachiko nahm die Hände von den Augen, vermied
dabei sorgfältig in die ungeschützten Scheinwerfer zu
gucken und lächelte wieder. Diesmal war Martha si-
cher, daß es nicht das japanische Höflichkeitslächeln
war, sondern das universelle, menschliche Lächeln der
Freundschaft.
»Ich hoffe, Martha, ich hoffe es wirklich. Es wäre
wundervoll für dich, die erste zu sein, und es wäre
wundervoll für uns alle, wenn wir imstande wären, zu
lesen, was diese Leute geschrieben haben. Es würde
220
uns diese tote Stadt tatsächlich wieder zum Leben er-
wecken.« Langsam schwand das Lächeln. »Aber es
scheint so hoffnungslos.«
»Du hast keine Bilder mehr gefunden?«
Sachiko schüttelte den Kopf. Nicht, daß es viel be-
deutet haben würde, wenn sie welche gefunden hätte.
Sie hatten Hunderte von Bildern mit Titeln gefunden;
sie waren nie imstande gewesen, eine positive Beziehung
zwischen einem abgebildeten Objekt und irgendeinem
gedruckten Wort herzustellen. Sie schwiegen beide, und
nach ein paar Sekunden nahm sich Sachiko die Lupe
wieder vor und beugte den Kopf über das Buch.
Selim von Ohlmhorst sah von seinem Notizbuch auf
und nahm die Pfeife aus dem Mund.
»Alles erledigt da drüben?« fragte er und stieß eine
Rauchwolke aus.
»Was zu tun war, habe ich getan«. Sie legte die No-
tizbücher und Skizzen auf den Tisch. »Captain Gicquel
hat begonnen, das Gebäude vom fünften Stock abwärts
luftdicht zu verschließen, mit einem Eingang im sech-
sten Stock; sobald er damit fertig ist, wird er Sauer-
stoffgeneratoren darin aufstellen. Überall wo er arbei-
ten wird, habe ich alles gesäubert.«
Colonel Penrose blickte kurz auf, als würde er sich
in Gedanken notieren, womit er sich später befassen
wollte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder
dem Piloten zu, der auf eine Karte zeigte.
Von Ohlmhorst nickte. »Dabei war nicht viel zu
machen«, stimmte er zu. »Weißt du, in welches Ge-
bäude Tony als nächstes gehen will?«
»In das große mit dem konischen Ding oben drauf,
das wie ein Kerzenlöscher aussieht, glaube ich. Ich
habe ihn da drüben Löcher für die Sprengsätze bohren
hören.«
221
»Na, ich hoffe, das Gebäude erweist sich als eines,
das bis zum Ende bewohnt war.«
Das letzte Haus hatte nicht zu dieser Kategorie ge-
hört. Es war seiner Ausstattung und Einrichtung be-
raubt worden, und das augenscheinlich über einen lan-
gen Zeitraum hinweg, bis es so gut wie ausgeplündert
war. Jahrhundertelang hatte diese Stadt, während sie
starb, sich selbst in einem Prozeß von Selbstkanniba-
lismus verzehrt. Sie sagte etwas zu dieser Erscheinung.
»Ja. Das findet man immer – ausgenommen natür-
lich an Orten wie Pompeji. Hast du irgendeine andere
der römischen Städte in Italien gesehen?« fragte er.
»Minturnae zum Beispiel? Zuerst haben die Einwohner
das eine Gebäude abgerissen, um das andere mit die-
sem Material zu reparieren, und dann, nachdem sie die
Stadt geräumt hatten, kamen andere Leute daher und
rissen ab, was noch übrig war, brannten die Steine zu
Kalk oder zerschlugen sie, um Straßen damit auszubes-
sern, bis nichts übrig war als die Überreste der Funda-
mente. Da können wir hier von Glück sagen; dies ist
einer der Orte, wo die marsianische Rasse zugrunde-
ging, und es gab keine Barbaren, die später kamen und
zerstörten, was sie hinterlassen hatten.« Er paffte be-
dächtig an seiner Pfeife. »In diesen Tagen, Martha,
werden wir in eines dieser Gebäude einbrechen und
feststellen, daß es eines war, in dem die letzten dieses
Volkes gestorben sind. Dann werden wir die Geschichte
vom Ende dieser Zivilisation kennenlernen.« Und
wenn wir ihre Sprache zu lesen verstehen, werden wir
die ganze Geschichte erfahren, nicht nur die Todesan-
zeige. Sie zauderte, den Gedanken in Worte zu fassen.
»Irgendwann werden wir es finden, Selim«, sagte sie
und sah auf die Uhr. »Ich will vor dem Dinner noch
etwas an meinen Verzeichnissen weiterarbeiten.«
222
Für einen Moment verhärtete sich das Gesicht des
alten Mannes mißbilligend; er setzte an, etwas zu sa-
gen, besann sich eines Besseren und steckte die Pfeife
wieder in den Mund. Das kurze Verziehen seines
Mundes und das Zucken seines weißen Schnurrbarts
hatten jedoch genügt; sie wußte, was er dachte. Sie
verschwendete Zeit und Energie, glaubte er; Zeit und
Energie, die nicht ihr, sondern der Expedition gehörten.
Sie erkannte, daß er auch recht haben konnte. Aber er
mußte unrecht haben, es mußte einen Weg geben, es zu
schaffen. Sie wandte sich stumm von ihm ab und ging
zu ihrer eigenen Sitzkiste an der Mitte des Tisches.
Fotos und Fotokopien restaurierter Buchseiten und
Abschriften von Inschriften waren vor ihr aufgetürmt,
und die Notizbücher, in denen sie ihre Listen zusam-
menstellte. Sie setzte sich, zündete eine neue Zigarette
an und langte hinüber zu einem Stapel noch nicht ge-
sichteten Materials, von dem sie das oberste Blatt ab-
hob. Es war eine Fotokopie von etwas, das wie die Ti-
telseite mit Inhaltsverzeichnis irgendeiner Zeitschrift
aussah. Sie erinnerte sich daran; sie hatte sie selbst vor
zwei Tagen in einem Schrank in dem Keller des Ge-
bäudes gefunden, dessen Erforschung sie gerade been-
det hatte.
Sie saß einen Moment da und sah das Blatt an. Es
war lesbar, wenn man davon ausging, daß sie ein rein
willkürliches, aber folgerichtig aussprechbares System
phonetischer Werte für die Schriftzeichen aufgestellt
hatte. Die langen senkrechten Symbole waren Vokale.
Es gab nur zehn davon; nicht zu viel, da verschiedene
Zeichen für lange und kurze Laute vorgesehen waren.
Es gab zwanzig kurze waagerechte Schriftzeichen, was
bedeutete, daß Laute wie -ng oder -ch oder -sh durch
ein einzelnes Zeichen ausgedrückt wurden. Die Chan-
223
cen, daß ihr System dem Originallaut der Sprache in
irgendeiner Weise ähnlich war, standen eins zu einer
Million, aber sie hatte einige tausend marsianischer
Wörter katalogisiert und konnte sie alle aussprechen.
Und so weit ging es gerade. Sie konnte zwischen
drei- und viertausend Wörter unterscheiden und kei-
nem davon eine Bedeutung zuordnen. Selim von
Ohlmhorst glaubte, daß sie es nie können würde.
Ebenso Tony Lattimer, und er war sehr viel weniger
zurückhaltend, es auszusprechen. Ebenso, das war si-
cher, Sachiko Koremitsu. Hin und wieder gab es Mo-
mente, in denen sie glaubte, die anderen hätten recht.
Die Schriftzeichen auf der Seite vor ihr fingen an
sich zu winden und zu tanzen, schlanke Vokale mit
fetten kleinen Konsonanten. So erschienen sie ihr jetzt
jede Nacht in ihren Träumen. Und in anderen Träumen
las sie sie so flüssig wie Englisch; wenn sie erwachte,
versuchte sie verzweifelt und vergeblich, sich zu erin-
nern. Sie blinzelte und wandte den Blick von der pho-
tokopierten Seite ab; als sie wieder hinsah, benahmen
die Buchstaben sich wieder ordentlich. Drei Wörter
oben auf der Seite waren über- und unterstrichen, was
die marsianische Methode der Großschreibung zu sein
schien. Mastharnorvod Tadavas Sornhulva. Sie sprach
die Wörter in Gedanken aus und blätterte ihre Notizbü-
cher durch, um zu sehen, ob und in welchem Kontext
sie ihr vorher schon begegnet waren. Alle drei waren
registriert. In Zusammensetzungen war masthar ein
ziemlich häufiges Wort, ebenso norvod und auch nor,
aber -vod war eine Nachsilbe und nichts anderes. Da-
vas war auch ein Wort und ta- eine häufige Vorsilbe;
sorn und hulva waren beides häufig vorkommende
Wörter. Sie hatte schon längst entschieden, daß diese
Sprache so wie die Deutsche funktionieren mußte;
224
wenn die Marsianer ein neues Wort brauchten, hatten
sie einfach ein paar vorhandene Wörter aneinanderge-
reiht. Wahrscheinlich würde die Grammatik sich als
schrecklich erweisen. Nun, sie hatten Zeitschriften he-
rausgegeben, und eine davon nannte sich Mastharnor-
vod Tadavas Sornhulva. Sie überlegte, ob es so etwas
wie die Archäologische Vierteljahresschrift oder eher
etwas in der Art von Sex-Stories gewesen war.
Eine kürzere Zeile unter dem Titel gab offenbar die
Nummer der Ausgabe und das Datum an; es waren
genügend serienweise numerierte Sachen gefunden
worden, um sie instand zu setzen, die Ziffern zu
bestimmen und festzustellen, daß ein Dezimal-System
zur Zählung benutzt worden war. Dies war die eintau-
sendsiebenhundertvierundfünfzigste Ausgabe, Doma
14837; also mußte Doma der Name eines der Marsmo-
nate sein. Das Wort war schon mehrmals aufgetaucht.
Sie zog heftig an ihrer Zigarette, während sie Notizbü-
cher und Stapel bereits gesichteten Materials durch-
blätterte.
Sachiko sprach mit jemandem, und ein Stuhl scharrte
am Tischende. Martha hob den Kopf und erblickte einen
dicken Mann mit roten Haaren und einem roten Ge-
sicht in Raumflotten-Grün mit dem einzelnen Stern
eines Majors auf der Schulter. Er setzte sich. Ivan Fitz-
gerald, der Arzt. Er hob Gewichte von einem Buch
hoch, ähnlich dem, das der weibliche Geschützoffizier
restaurierte.
»Habe keine Zeit gehabt«, sagte er als Antwort auf
Sachikos Frage. »Das Finchley-Mädchen hegt noch
immer darnieder. Sie hat etwas, das ich bisher noch
nicht diagnostizieren konnte. Ich habe Bakterien-
Kulturen geprüft, und in der knappen Zeit, die mir zur
Verfügung steht, habe ich Spezimen für Bill Chandler
225
seziert. Bill hat endlich ein Säugetier gefunden. Sieht
aus wie eine Eidechse, und ist nur zehn Zentimeter
lang, aber es ist ein richtig warmblütiges, lebend gebä-
rendes Säugetier mit geschlechtlicher Fortpflanzung
und Plazenta. Gräbt sich ein und scheint von dem, was
hier als Insekten gelten kann, zu leben.«
»Ist denn genügend Sauerstoff für etwas derartiges
vorhanden?« fragte Sachiko.
»Scheint so, nahe am Boden.« Fitzgerald rückte das
Stirnband seiner Lupe zurecht und zog sie über die
Augen. »Er hat das Ding in einer Schlucht unten auf
dem Meeresgrund gefunden – Ha, diese Seite scheint
heil zu sein; jetzt, wenn ich sie ganz in einem Stück
herauslösen kann …«
Er sprach unhörbar weiter mit sich selbst, hob zu-
gleich die Seite ein wenig an und ließ eine der Plastik-
folien daruntergleiten. Er arbeitete mit sorgfältiger Be-
hutsamkeit. Nicht mit der Behutsamkeit der kleinen
Hände des japanischen Mädchens, die sich bewegten
wie die Pfoten einer Katze, die sich das Gesicht
wäscht, sondern wie ein Dampfhammer, der eine Erdnuß
knackt. Feld-Archäologie erfordert auch eine gewisse
Empfindsamkeit des Tastsinns, aber Martha betrachtete
das Paar, das die beiden abgaben, mit neidvoller Be-
wunderung. Dann wandte sie sich wieder ihrer eigenen
Arbeit zu und beendete das Inhaltsverzeichnis.
Die nächste Seite brachte den Anfang des ersten
aufgeführten Artikels; viele der Wörter wäre unge-
bräuchlich. Sie hatte den Eindruck, dies müsse eine Art
wissenschaftlicher oder technischer Zeitschrift sein; sie
konnte das vermuten, weil aus solchen Publikationen
meistens auch ihre eigene Zeitschriftenlektüre bestand.
Sie bezweifelte, daß es sich um eine Erzählung handelte;
die Absätze wirkten solide und gleichmäßig.
226
Endlich stieß Ivan Fitzgerald ein kurzes, heftiges
Grunzen aus. »Ha! Geschafft!«
Sie blickte auf. Er hatte die Seite abgelöst und war
dabei, eine zweite Plastikfolie darüberzukleben.
»Irgendwelche Bilder?« fragte sie.
»Nicht auf dieser Seite. Warte einen Moment.« Er
wendete das Blatt. »Auch nicht auf dieser Seite.« Er
besprühte noch eine Plastikfolie, um die Seite einzu-
hüllen, nahm dann seine Pfeife auf und zündete sie
wieder an.
»Das macht mir Spaß, und es ist eine gute Übung
für meine Hände, also denk nicht, daß ich mich bekla-
ge«, sagte er, »aber glaubst du wirklich, Martha, daß
irgend jemand jemals etwas damit anfangen kann?«
Sachiko hielt mit ihrer Pinzette einen Fetzen von
dem Siliziumkunststoff hoch, den die Marsianer als
Papier verwendet hatten. Es war ein Quadrat von nahe-
zu 2,5 cm Kantenlange.
»Sieh her; drei ganze Wörter auf diesem Stück«,
jubelte sie. »Ivan, du hast das leichte Buch genommen.«
Fitzgerald ließ sich nicht ablenken. »Dieses Zeug ist
absolut bedeutungslos«, fuhr er fort. »Es hat vor fünfzig-
tausend Jahren eine Bedeutung gehabt, als es geschrie-
ben wurde, aber jetzt hat es überhaupt keine mehr.«
Sie schüttelte den Kopf. »Eine Aussage verliert
nicht an Bedeutung, nur weil sie nicht neueren Datums
ist«, behauptete sie. »Sie hat jetzt ebensoviel Bedeu-
tung, wie sie es immer gehabt hat. Wir haben nur noch
nicht gelernt, sie zu entschlüsseln.«
»Diese Unterscheidung erscheint mir ziemlich sinn-
los«, warf Selim von Ohlmhorst in die Unterhaltung.
»Es gibt kein Mittel mehr, sie zu entschlüsseln.«
»Wir werden eines finden.« Sie merkte, daß ihr Ton
eher selbstermutigend denn streitsüchtig klang.
227
»Wie? Durch Bilder und Überschriften? Wir haben
Bilder mit Erläuterungen gefunden, und was haben sie
uns gegeben? Eine Überschrift soll das Bild erklären,
nicht das Bild die Überschrift. Angenommen, ein unserer
Kultur Fremder fände ein Bild eines Mannes mit weißem
Bart und Schnurrbart, der einen Holzklotz zersägt. Er
würde denken, die Überschrift bedeute ›Mann beim
Holzsägen‹. Wie könnte er je erfahren, daß in Wirklich-
keit ›Wilhelm II. im Exil zu Doorn‹ darübersteht?«
Sachiko hatte ihre Lupe abgenommen und steckte
sich eine Zigarette an. »Ich kann mich an Bilder erin-
nern, die ihre Überschriften erläutern sollen«, sagte sie.
»Diese Sprach-Bilderbücher, wie wir sie in der Armee
verwenden – kleine Strichzeichnungen mit einem Wort
oder mit einem Satz darunter.«
»Ja, natürlich, wenn wir etwas Derartiges fanden«,
begann von Ohlmhorst.
»Michael Ventris hat etwas Derartiges gefunden, in
den fünfziger Jahren«, unterbrach ihn Hubert Penroses
Stimme von hinten.
Sie drehte sich um. Der Colonel stand am Tisch der
Archäologen; Captain Field und der Raumpilot waren
weggegangen.
»Er fand eine Menge griechischer Inventarlisten von
Militär-Depots«, fuhr Penrose fort. »Sie waren in kreti-
scher Linearschrift B abgefaßt, und am Anfang jeder
Liste war ein kleines Bild, ein Schwert oder Helm oder
ein Dreifuß zum Kochen oder ein Wagenrad. Das gab
ihm den Schlüssel zu der Schrift.«
»Der Colonel wird ein richtiger Archäologe«, kom-
mentierte Fitzgerald. »Auf dieser Expedition lernen
wir alle unsere Spezialgebiete voneinander.«
»Davon habe ich gehört, längst bevor diese Expedi-
tion auch nur in Gedanken existierte.« Penrose klopfte
228
eine Zigarette auf seinem goldenen Etui zurecht. »Ich
habe damals vor dem Dreißig-Tage-Krieg davon ge-
hört, auf der Nachrichtenakademie, als ich Leutnant
war. Als große Leistung der Geheimschrift-Ent-
schlüsselung, nicht als archäologische Entdeckung.«
»Ja, Geheimschriftentzifferung«, versetzte von Ohlm-
horst. »Eine bekannte Sprache in einer unbekannten
Schriftform lesen. Ventris’ Listen waren in der bekann-
ten Sprache, Griechisch, abgefaßt. Weder er noch sonst
irgend jemand hat je ein Wort der kretischen Sprache
lesen können bis zum Fund des griechisch-kretischen
Zweisprachentexts 1963, denn nur mit einem zwei-
sprachigen Text, dessen eine Sprache schon bekannt
ist, kann man eine unbekannte alte Sprache lernen.
Und welche Hoffnung, frage ich, haben wir hier, ir-
gend etwas Derartiges zu finden? Martha, du hast die
ganze Zeit seit wir hier gelandet sind, an diesen mar-
sianischen Texten gearbeitet – die letzten sechs Monate.
Sag mir, hast du ein einziges Wort gefunden, dem du
mit Bestimmtheit eine Bedeutung zuordnen kannst?«
»Ja, ich glaube, ich habe eins.« Sie bemühte sich
sehr, es nicht zu triumphierend klingen zu lassen.
»Doma. Es ist der Name eines der Monate des Marska-
lenders.«
»Wo hast du das gefunden?« fragte von Ohlmhorst.
»Und wie hast du festgestellt …?«
»Hier.« Sie hob die Photokopie auf und reichte sie
ihm über den Tisch. »Ich würde das als Titelseite einer
Zeitschrift bezeichnen.«
Er schwieg einen Moment und betrachtete sie. »Ja,
das würde ich auch sagen. Hast du irgend etwas von
dem Rest?«
»Ich arbeite an der ersten Seite des ersten dort auf-
geführten Artikels. Warte einen Moment; ja, hier ist
229
alles, was ich gefunden habe, zusammen, hier.« Sie
erzählte ihm, wo sie es gefunden hatte. »Ich habe es da
einfach aufgesammelt und Geoffrey und Rosita zum
Photokopieren gegeben; das ist das erste Mal, daß ich
es richtig untersucht habe.«
Der alte Mann sprang auf die Beine, bürstete Tabak-
asche von seinem Jackett und kam zu ihr herüber. Er
legte die Titelseite auf den Tisch und blätterte den Sta-
pel Photokopien schnell durch.
»Ja, und hier ist der zweite Artikel, auf Seite acht,
und hier der nächste.« Er kam zum Ende des Stapels.
»Ein paar Seiten fehlen am Schluß des letzten Artikels.
Das ist bemerkenswert; überraschend, daß so etwas
wie eine Zeitschrift so lange überlebt haben soll.«
»Nun, dieses Silikon-Zeug, das die Marsianer als
Papier benutzten, ist ganz schön haltbar«, sagte Hubert
Penrose. »Es scheint ursprünglich kein Wasser oder
irgendwelche Flüssigkeit enthalten zu haben, so daß es
nicht mit der Zeit austrocknete.«
»Oh, es ist nicht bemerkenswert, daß das Material
überlebt hat. Wir haben ganz schön viel Bücher und
Papiere in ausgezeichnetem Zustand gefunden. Aber
nur eine wirklich vitale Kultur, eine organisierte Kul-
tur, wird Zeitschriften publizieren, und diese Kultur lag
vor dem Ende bereits Hunderte von Jahren im Sterben.
Es mag tausend Jahre vor der Zeit ihres völligen Aus-
sterbens gewesen sein, daß solche Publikationen einge-
stellt wurden.«
»Ja, stellt euch vor, wo ich es gefunden habe; in ei-
nem Schrank in einem Keller. Hineingeworfen und
vergessen, und dann ignoriert, als sie das Gebäude
plünderten. So etwas kommt vor.«
Penrose hatte die Titelseite aufgehoben und betrach-
tete sie.
230
»Ich glaube, es gibt überhaupt keinen Zweifel dar-
über, daß dies eine Zeitschrift ist.« Er blickte wieder
auf den Titel und bewegte stumm seine Lippen.
»Mastharnorvod Tadavas Somhulva. Möchte wissen,
was das heißt. Aber mit dem Datum hast du recht –
Doma scheint der Name eines Monats zu sein. Ja, Sie
haben ein Wort, Dr. Dane.«
Sid Chamberlain hatte gesehen, daß etwas Unge-
wöhnliches vorging, und kam von dem Tisch, an dem
er gearbeitet hatte, herüber. Nachdem er die Titelseite
und einige der inneren Seiten überprüft hatte, begann
er in das Stenophon, das er von seinem Gürtel genom-
men hatte, zu flüstern.
»Versuche nicht, dies zu irgend etwas großem auf-
zubauschen, Sid«, beschwichtigte sie. »Alles, was wir
haben, ist der Name eines Monats, und nur Gott weiß,
wie lange es dauern wird, bis wir auch nur herausfin-
den, welcher Monat es war.«
»Nun, es ist ein Anfang, nicht wahr?« brachte Pen-
rose vor. »Grotefend hatte nur das Wort für ›König‹,
als er die persische Keilschrift zu lesen begann.«
»Aber ich habe nicht das Wort für ›Monat‹; bloß
den Namen eines Monats. Jeder kannte die Namen der
persischen Könige, lange vor Grotefend.«
»Darum geht es gar nicht«, sagte Chamberlain.
»Was die Öffentlichkeit unten auf Terra interessieren
wird, ist die Entdeckung, daß die Marsianer Zeitschrif-
ten veröffentlicht hatten, genau wie wir. Etwas Ver-
trautes, das die Marsianer realer erscheinen läßt.
Menschlicher.«
Drei Männer waren eingetreten und nahmen ihre
Masken, Helme und Sauerstofftanks ab und schälten
sich aus ihren wattierten Arbeitsanzügen. Zwei waren
Raumflotten-Leutnants; der dritte war ein jüngerer
231
Zivilist mit dichtem, kurzgeschorenem blonden Haar in
einem karierten Wollhemd. Tony Lattimer und seine
Helfer.
»Erzählt mir nicht, daß Martha etwas aus diesem
Zeug herausbekommen hat«, sagte er, als er sich dem
Tisch näherte. Dem Tonfall nach hatte er eine Bemer-
kung über die dummen Streiche des Dorftrottels ge-
macht haben können.
»Ja, den Namen eines der marsianischen Monate.«
Hubert Penrose fuhr fort, zu erklären, indem er die
Photokopie zeigte.
Tony Lattimer nahm sie, sah sie an und ließ sie auf
den Tisch fallen.
»Klingt natürlich plausibel, ist aber bloß eine Ver-
mutung. Dieses Wort könnte auch ganz und gar nicht
der Name eines Monats sein – könnte bedeuten ›he-
rausgegeben‹ oder autorisiert‹ oder ›Copyright‹ oder
irgend etwas Ähnliches. Tatsache ist, ich glaube nicht,
daß es mehr als eine abenteuerliche Vermutung ist, daß
dieses Ding irgend etwas wie eine Zeitschrift ist.« Er
ließ den Gegenstand fallen und wandte sich an Penrose.
»Ich habe das nächste Gebäude ausgewählt, in das wir
eindringen wollen; das große mit dem konischen Ding
obendrauf. Es müßte innen in ziemlich gutem Zustand
sein; die konische Spitze verhindert eine Anhäufung
von Staub, und von außen scheint nichts eingestürzt
oder zerstört zu sein. Das Bodenniveau liegt höher als
beim anderen, ungefähr in Höhe des siebten Stocks.
Ich habe eine gute Stelle gefunden und Löcher für die
Sprengsätze gebohrt, morgen werde ich ein Loch hin-
einsprengen, und wenn Sie einige Leute erübrigen
können, um zu helfen, können wir gleich beginnen, es
zu erforschen.«
»Ja, natürlich, Dr. Lattimer. Ich kann ungefähr ein
232
Dutzend entbehren, und ich nehme an, Sie können ein
paar zivile Freiwillige finden«, sagte Penrose zu ihm.
»Was werden Sie an Ausrüstung brauchen?«
»Oh, ungefähr sechs Sprengladungen; sie können alle
zusammen gezündet werden. Und das Übliche an
Scheinwerfern, Brech- und Grabwerkzeugen und Klet-
tergeräten, falls wir auf eingebrochene oder unsichere
Treppen stoßen. Wir werden uns in zwei Gruppen tei-
len. Nichts sollte ohne Anwesenheit eines qualifizier-
ten Archäologen betreten werden. Drei Gruppen, falls
Martha sich von diesem Katalog systematisierter Un-
verständlichkeiten losreißen kann, den sie lange genug
gebastelt hat, um ein bißchen echte Arbeit zu leisten.«
Sue fühlte, wie etwas sich in ihrer Brust zusammen-
zog und ihr Gesicht verhärtete sich. Sie preßte die Lip-
pen zusammen, um eine wütende Erwiderung zurück-
zuhalten, als Hubert Penrose für sie antwortete: »Dr.
Dane hat so viel und so wichtige Arbeit geleistet wie
Sie«, sagte er brüsk. »Wichtigere Arbeit, bin ich sogar
geneigt zu behaupten.«
Von Ohlmhorst war sichtlich in Sorge; er sah einmal
zu Sid Chamberlain hinüber und dann hastig wieder
von ihm weg. Er fürchtete, unter den Archäologen
würde ein Streit ausbrechen.
»Ein Aussprachesystem auszuarbeiten, durch das
die marsianische Sprache transkribiert werden konnte,
war ein höchst wichtiger Beitrag«, sagte er. »Und
Martha hat das fast ohne Hilfe getan.«
»Ohne Hilfe von Dr. Lattimer jedenfalls«, fügte
Penrose hinzu. »Captain Field und Leutnant Koremitsu
haben einige Arbeit geleistet, und ich habe ein wenig
ausgeholfen, aber neun Zehntel davon hat sie selbst
getan.«
»Rein willkürlich«, sagte Lattimer geringschätzig.
233
»Wieso, wir wissen nicht einmal, daß die Marsianer
dieselbe Art von Vokallauten hervorbringen konnten
wie wir.«
»Oh, doch, wir wissen es«, widersprach Ivan Fitzge-
rald, der sich auf seinem eigenen Gebiet sicher fühlte.
»Ich habe keine echten marsianischen Schädel gesehen –
diese Leute scheinen sehr ordentlich in der Beseitigung
ihrer Toten gewesen zu sein – aber nach den Statuen
und Büsten und Bildern, die ich gesehen habe, würde
ich sagen, daß ihre Stimmorgane mit den unseren iden-
tisch gewesen sind.«
»Nun, das zugegeben. Und zugegeben, daß es ein-
drucksvoll sein mag, die Namen der marsianischen
Prominenz, deren Statuen wir finden, herunterzuras-
seln, und daß, wenn wir je in der Lage sein werden,
einige Ortsnamen hinzuzufügen, sie erheblich besser
klingen werden als dieses Pferdedoktorlatein, das die
alten Astronomen über die ganze Marskarte verspritzt
haben«, sagte Lattimer. »Wogegen ich protestiere, ist
ihre Zeitverschwendung mit dem Zeug, von dem nie-
mals jemand fähig sein wird, ein Wort zu lesen, wenn
sie mit Listen die Zeit verplempert, bis weitere hundert
Fuß Löß auf dieser Stadt lagern, wenn soviel ernsthafte
Arbeit zu tun ist und wir sowenig Arbeitskräfte haben,
wie es der Fall ist.«
Das war das erste Mal, daß es in so vielen Worten
herausgekommen war. Sie war froh, daß Lattimer es
gesagt hatte und nicht Selim von Ohlmhorst.
»Was Sie meinen«, erwiderte sie, »ist, daß es nicht
den gleichen Reklame wert hat, wie das Ausgraben
von Statuen.«
Einen Moment lang konnte sie sehen, daß der Schuß
getroffen hatte. Dann antwortete Lattimer mit einem
Seitenblick auf Chamberlain:
234
»Was ich meine, ist, daß Sie versuchen, etwas zu
finden, von dem jeder Archäologe, Sie selbst einge-
schlossen, wissen sollte, daß es nicht existiert. Ich pro-
testiere nicht dagegen, daß Sie Ihren fachlichen Ruf
verspielen und sich lächerlich machen; wogegen ich
protestiere ist, daß die Schnitzer eines Archäologen in
den Augen der Öffentlichkeit das ganze Fach diskredi-
tieren.« Das schien es zu sein, was Lattimer am mei-
sten beunruhigte. Während sie auf eine Antwort sann,
stieß die Funkanlage einen schrillen Pfiff aus und
quäkte dann: »Cocktail-Zeit! Dinner in einer Stunde;
Cocktails in der Bibliothek, Hütte vier!«
Die Bibliothek, die zugleich als Gesellschafts-, Er-
frischungs- und allgemeiner Versammlungsraum dien-
te, war bereits voll; die größte Menschenansammlung
befand sich an dem langen Tisch, der mit glasähnli-
chen Plastikfolien aus einem der zerstörten Gebäude
bedeckt war, wo sie als Wandbekleidung gedient hat-
ten. Martha schenkte sich etwas ein, das hier als Marti-
ni durchging, und trug es zu Selim von Ohlmhorst hin-
über, der allein saß.
Eine Weile sprachen sie über das Gebäude, dessen
Erforschung sie gerade beendet hatten, dann ergingen
sie sich in Erinnerungen an ihre Arbeit auf Terra – von
Ohlmhorst an Kleinasien mit dem Hethiter-Reich und
ihre an Pakistan, wo sie die Städte der Harappa-
Zivilisation ausgegraben hatte. Sie leerten ihre Drinks –
der Inhalt war reichhaltig: Alkohol und aus der Mars-
vegetation synthetisch hergestellte aromatische Ex-
trakte –, und von Ohlmhorst brachte die beiden Gläser
zum Tisch, um nachzufüllen. »Weißt du, Martha,« sagte
er, als er zurückkam, »in einem hatte Tony recht. Du
verspielst deine fachliche Position und deinen Ruf.
Daß eine so vollkommen tote Sprache wie diese entzif-
235
fert werden könnte, spricht gegen jede archäologische
Erfahrung. Zwischen all den anderen alten Sprachen
gab es einen Zusammenhang – durch Kenntnis des
Griechischen lernte Champollion Ägyptisch lesen;
durch Kenntnis des Ägyptischen lernte man Hethitisch.
Das ist der Grund, weshalb du und deine Kollegen
niemals imstande gewesen seid, die Harappa-
Hieroglyphen zu übersetzen: dort existiert kein solcher
Zusammenhang. Wenn du darauf bestehst, diese ganz
und gar tote Sprache könne man lesen, wird dein Ruf
darunter leiden.«
»Ich habe Colonel Penrose einmal sagen hören, daß
ein Offizier, der Angst hat, seinen militärischen Ruf zu
riskieren, es selten zu einem großen Ruf bringt. Bei
uns ist es das gleiche. Wenn wir wirklich etwas heraus-
finden wollen, müssen wir riskieren, Fehler zu machen.
Und ich bin weit mehr daran interessiert, etwas heraus-
zufinden, als an meinem Ruf.
Sie blickte quer durch den Raum zu dem Platz, wo
Tony Lattimer mit Gloria Standish saß und ernsthaft
redete, während Gloria einen der nachgeahmten Marti-
nis schlürfte und zuhörte. Gloria war die Hauptbewer-
berin um den Titel der Miß Mars 1996, wenn man
vollbusige Blondinen mag, aber Tony hätte ihr eben-
soviel Aufmerksamkeit gewidmet, wenn sie wie die
böse Hexe aus dem Film »Der Zauberer von Oz« aus-
gesehen hätte, weil Gloria der Kommentator des Pan-
Föderations-Fernseh-Systems bei der Expedition war.
»Das weiß ich«, sagte der alte Deutsch-Türke.
»Deshalb habe ich, als man mich bat, einen weiteren
Archäologen für diese Expedition vorzuschlagen, dich
genannt.«
Er hatte Tony Lattimer nicht vorgeschlagen; Latti-
mer war von seiner Universität auf die Expedition ge-
236
schickt worden. Es hatte darum viel Tauziehen auf ho-
her Ebene gegeben; sie wünschte, sie würde die ganze
Geschichte kennen. Ihr war es gelungen, sich aus Uni-
versitäten und Universitätspolitik herauszuhalten; all
ihre Ausgrabungen waren von nichtakademischen Stif-
tungen oder Kunst-Museen gefördert worden.
»Du hast eine ausgezeichnete Position; viel besser
als es meine eigene in deinem Alter war. Deshalb stört
es mich, zu sehen, wie du sie durch dieses Beharren
darauf, die marsianische Sprache könne übersetzt wer-
den, aufs Spiel setzt. Ich vermag wirklich nicht einzu-
sehen, wie du auf Erfolg hoffen kannst.«
Sie zuckte die Achseln und nahm noch einen
Schluck von ihrem Cocktail. Dann steckte sie sich eine
neue Zigarette an. Es wurde ermüdend, zu versuchen,
etwas, das sie nur fühlte, in Worte zu fassen.
»Ich auch nicht, aber ich glaube an ihn. Vielleicht
finde ich etwas ähnliches wie die Bilderbücher, von
denen Sachiko gesprochen hat. Eine Kinderfibel viel-
leicht; sicherlich haben sie etwas derartiges gehabt.
Und wenn nicht das, dann werde ich etwas anderes
finden. Wir sind erst sechs Monate hier. Ich kann den
Rest meines Lebens warten, wenn es sein muß, aber
eines Tages werde ich es schaffen.«
»Ich kann nicht so lange warten«, sagte von Ohlm-
horst. »Der Rest meines Lebens dauert nur noch ein
paar Jahre, und wenn die Schiaparelli einlauft, werde
ich auf der Cyrano nach Terra zurückkehren.«
»Ich wünschte, du tätest es nicht. Dies ist eine ganz
neue Welt der Archäologie. Im wahrsten Sinne des
Wortes.«
»Ja.« Er trank den Cocktail aus und betrachtete seine
Pfeife, als überlege er, ob er sie so kurz vor dem Din-
ner noch einmal anstecken sollte. Dann steckte er sie in
237
die Tasche. »Eine ganze neue Welt – aber ich bin alt
geworden, und sie ist nicht für mich. Ich habe mein
Leben damit verbracht, die Hethiter zu studieren. Ich
kann die Hethiter-Sprache sprechen, obgleich König
Muwatallis meinen modernen türkischen Akzent viel-
leicht nicht verstehen würde. Aber die Dinge, die ich
hier lernen müßte, heißen Chemie, Physik, Technik –
wie man analytische Tests an Stahlträgern und Berylli-
um-Silber-Legierungen und Kunststoffen und Siliko-
nen durchführt. Ich bin mehr bewandert in einer Zivili-
sation, die in Streitwagen fuhr und mit Schwertern
kämpfte und gerade lernte, Eisen zu bearbeiten. Der
Mars ist für jüngere Leute. Diese Expedition ist ein
Voraustrupp nicht nur für die Raumflottenleute, die die
Hauptexpedition leiten werden, sondern auch für uns
Wissenschaftler. Und ich bin nur ein alter Kavallerie-
General, der nicht lernen kann, Panzer und Luftwaffe
zu kommandieren. Du wirst Zeit haben, den Mars ken-
nenzulernen. Ich nicht.«
Sein Ruf als Haupt der Hethitologen ist ja auch ge-
festigt und gesichert, fügte sie im stillen hinzu. Dann
schämte sie sich dieses Gedankens. Er konnte nicht mit
Tony Lattimer auf eine Stufe gestellt werden.
»Ich bin nur gekommen, um die Arbeit in Gang zu
bringen«, fuhr er fort. »Die Bundesregierung spürte,
daß das eine erfahrene Kraft tun sollte. Nun, jetzt ist
sie in Gang gebracht; du und Tony Lattimer und wer
immer mit der Schiaparelli kommt, müßt sie fortfüh-
ren. Du hast es selbst gesagt: ihr habt eine ganz neue
Welt. Dies ist nur eine Stadt der letzten marsianischen
Zivilisation. Danach habt ihr die späte Hochland-
Kultur und die Kanalbauer und all die Zivilisationen
und Rassen und Reiche davor, direkt bis zur marsiani-
schen Steinzeit.«
238
Er zögerte einen Augenblick. »Du hast keine Ah-
nung, was du alles lernen mußt, Martha. Der Zeitpunkt
einer engen Spezialisierung ist noch nicht gekommen.«
Sie stiegen alle aus dem Lastwagen aus, vertraten
sich die Füße und bückten die Straße hinauf zu dem
großen Gebäude mit der sonderbaren konischen Haube
quer auf seiner Spitze. Die vier kleinen Gestalten, die
an seiner Wand beschäftigt gewesen waren, kletterten
in den Jeep und fuhren langsam zurück. Die kleinste
von ihnen, Sachiko Koremitsu, ließ ein Elektrokabel
abrollen. Als der Jeep neben dem Lastwagen stoppte,
kletterten sie heraus; Sachiko befestigte das freie Ka-
belende an einer atomaren Elektrobatterie. Sofort stie-
gen grauer Rauch und orangefarbener Staub von der
Mauer des Gebäudes auf, und eine Sekunde später
krachte die Mehrfach-Explosion, Sie, Tony Lattimer
und Major Lindemann stiegen auf den Lastwagen und
ließen den Jeep an der Straße stehen. Als sie das Ge-
bäude erreichten, war eine hinreichend breite Öffnung
in die Wand gesprengt. Lattimer hatte seine Sprengsätze
zwischen zwei Fenstern plaziert; sie waren beide mit
der Zwischenwand hinweggefegt worden und lagen
unbeschädigt auf dem Boden. Martha erinnerte sich an
das erste Gebäude, das sie betreten hatten. Ein Raum-
flottenoffizier hatte einen Stein aufgehoben und gegen
eines der Fenster geworfen in der Annahme, das sei
alles, was sie zu tun hätten. Der Stein war abgeprallt.
Der Offizier hatte seine Pistole gezogen – sie alle hat-
ten damals Waffen getragen, nach dem Grundsatz, daß
alles, was sie vom Mars nicht kannten, sie unter Um-
ständen würde verletzen können – und vier Schüsse
abgefeuert. Die Kugeln waren mit leisem Kreischen
abgeprallt; vier Kupferflecken von dem Metallgehäuse
blieben am Fenster, und die Oberfläche war etwas an-
239
gesplittert. Jemand versuchte es mit einer Flinte; die
Kugel verursachte einen Sprung in der glasähnlichen
Scheibe, drang aber nicht durch. Mit einem Sauerstoff-
Acetylen-Schweißbrenner hatte es eine Stunde gedauert,
um das Fenster herauszuschneiden; das Labor-Team an
Bord des Raumschiffes bemühte sich immer noch,
herauszufinden, aus welchem Material es bestand.
Tony Lattimer war vorausgegangen und schwenkte
seine Taschenlampe vor und zurück. Dabei fluchte er
gereizt. Seine Stimme wurde durch den Helm-Laut-
sprecher verschärft und verstärkt.
»Ich dachte, wir kämen in eine Eingangshalle; es
liegt aber nur ein Zimmer vor uns. Vorsichtig: da geht
es etwa einen halben Meter abwärts und außerdem
liegt eine Menge Sprengschutt hier herum.«
Er stieg durch die Einbruchstelle hinunter; die ande-
ren begannen die Ausrüstung aus den Lastwagen zu
schleppen – Schaufeln, Spitzhacken, Brechstangen und
Vorschlaghämmer, tragbare Scheinwerfer, Kameras,
Zeichenmaterial, eine ausziehbare Leiter, sogar Alpini-
sten-Seile, Steigeisen und Pickel. Hubert Penrose
schulterte etwas, das aussah wie ein surrealistisches
Maschinengewehr, tatsächlich aber ein atomar-
elektrischer Rammbohrer war. Martha wählte eine der
mit Spikes beschlagenen Bergsteigeräxte aus, mit der
sie graben, hacken oder stochern und brechen oder sich
über unebene Stufen helfen konnte.
Die Fenster, vom Staub der fünfzig Jahrtausende
verschmutzt und verkrustet, ließen ein trübes Licht
durchsickern; sogar der Mauerdurchbruch, im mor-
gendlichen Schatten gelegen, erleuchtete nur einen
kleinen Fleck auf dem Fußboden. Jemand knipste ei-
nen Scheinwerfer an und richtete ihn gegen die Decke.
Der große Raum war leer und kahl; Staub lag dick auf
240
dem Boden und rötete die einst weißen Wände. Es
konnte ein großes Büro gewesen sein, aber nichts mehr
war übriggeblieben, das auf seine Benutzung hinwies.
»Dieses Gebäude ist bis zum siebenten Stock hinauf
ausgeplündert worden!« rief Lattimer aus. »Das Erdge-
schoß dürfte völlig ausgeräumt sein.«
»Dann kann es zu Wohnquartieren und Läden her-
gerichtet werden«, sagte Lindemann. »Zusammen mit
den anderen wird es alle von der Schiaparelli beher-
bergen.«
»Es scheint, daß an dieser Wand eine Menge elektri-
scher oder elektronischer Apparate gestanden haben«,
bemerkte einer der Raumflottenoffiziere. »Zehn oder
zwölf elektrische Anschlüsse.« Mit seinen Handschu-
hen wischte er die staubige Wand ab, dann scharrte er
mit dem Fuß auf dem Boden herum. »Ich kann erken-
nen, wo Sachen losgebrochen worden sind.«
Die Tür, eins dieser doppelten Gleitdinger, die die
Marsianer verwendet hatten, war geschlossen. Selim
von Ohlmhorst testete sie, aber sie steckte fest. Die
metallenen Riegelteile waren zusammengefroren; seit
die Tür zum letzten Mal geschlossen worden war, hatte
sich Molekül an Molekül gebunden. Hubert Penrose
kam mit dem Rammbohrer herüber und setzte einen
Spitzmeißel ein. Er setzte den Meißel an den Punkt
zwischen den Türen, stemmte den Hammer gegen sei-
ne Hüfte und drückte den Auslöseschalter. Der Ham-
mer knallte kurz wie die Waffe, der er ähnlich sah, und
die Türen ruckten ein paar Zentimeter auseinander,
dann blieben sie wieder stecken. In die Hohlräume, in
die sie gleiten sollten, war genug Staub eingedrungen,
um sie auf beiden Seiten zu blockieren.
Das war altbekannt; sie erlebten das jedesmal, wenn
sie eine Tür bezwingen mußten, und sie waren darauf
241
vorbereitet. Jemand ging hinaus und brachte eine au-
tomatische Ramme herein, und endlich bewegte sich
eine der Türen Zentimeter für Zentimeter auf den Tür-
pfosten zu. Das war genug, um Scheinwerfer und Aus-
rüstung durchzubringen; sie gingen alle aus dem Zim-
mer in die dahinterliegende Eingangshalle. Ungefähr
die Hälfte der übrigen Türen war offen; jede hatte eine
Nummer und darüber ein einzelnes Wort, Darfhulva.
Jemand von den zivilen Freiwilligen, ein weiblicher
Professor für Ökologie von der Universität von Penn-
sylvania, ließ den Blick in der Halle umherschweifen.
»Wissen Sie«, sagte sie, »ich fühle mich hier zuhause.
Ich glaube, dies war irgendein College, und das hier
sind Klassenräume gewesen. Das Wort da oben be-
zeichnete den Unterrichtsgegenstand oder die Abtei-
lung. Und diese elektronischen Geräte: sie befinden
sich alle da, wo die Klasse sie vor sich hatte; audiovi-
suelle Lernhilfen.«
»Eine fünfundzwanzigstöckige Universität?« spottete
Lattimer.
»Nun, ein Gebäude wie dieses hätte dreißigtausend
Studenten aufgenommen.«
»Vielleicht waren es so viele. In ihrer Blütezeit war
dies eine große Stadt«, sagte Martha, vornehmlich von
dem Wunsch getrieben, Lattimer zu widersprechen.
»Ja, aber stellen Sie sich das Durcheinander auf den
Fluren vor, jedesmal, wenn sie die Klasse wechselten.
Es würde eine Stunde, dauern, bis alle hin und zurück
von einem Stockwerk ins andere gelangt wären.« Er
wandte sich an von Ohlmhorst. »Ich gehe von dieser
Etage aus nach oben. Bis hier herauf ist die Stätte leer-
geplündert worden, aber es besteht die Chance, daß
weiter oben noch etwas ist«, sagte er.
»Ich bleibe jetzt auf dieser Etage«, antwortete der
242
Deutsch-Türke. »Ein großes Kommen und Gehen wird
einsetzen, und man wird Sachen herein- und heraus-
schleppen. Zuerst sollten wir das hier vollständig un-
tersuchen und protokollieren. Dann können Major Lin-
demanns Leute machen, was sie wollen.«
»Gut, wenn sonst keiner will, werde ich die unteren
Stockwerke nehmen«, sagte Martha.
»Ich komme mit dir«, teilte Hubert Penrose ihr mit.
»Falls die unteren Etagen keinen archäologischen Wert
haben, werden wir sie in Wohnquartiere umwandeln.
Ich mag diesen Bau; er wird jedem genug Raum bie-
ten, auf daß man sich nicht dauernd gegenseitig auf
den Füßen herumtritt.« Er sah die Halle hinunter. »In
der Mitte müßten wir Rolltreppen finden.«
Auch die Eingangshalle war dick mit Staub bedeckt.
Die meisten offenen Zimmer waren leer, aber einige
enthielten Mobiliar, darunter enge Sitzbänke. Die ur-
sprüngliche Verfechterin der Universitäts-Theorie
machte darauf aufmerksam, daß man gerade dieselben
in Unterrichtsräumen finden könne. An jeder Seite der
Halle befanden sich Rolltreppen, aufwärts und abwärts,
und weitere an dem Durchgang nach rechts.
»So sind sie mit den Studenten zwischen den Unter-
richtsräumen fertiggeworden«, bemerkte Martha. »Und
ich wette, da vorne sind noch mehr.«
Wo der Flur in einer großen quadratischen Zentral-
halle endete, machten sie Halt. Dort befanden sich an
zwei Seiten Fahrstühle und vier Rolltreppen, die als
Treppenstufen noch benutzbar waren. Es waren jedoch
die Wände und die Malereien daran, die sie plötzlich
verstummen und ihre Blicke erstarren ließen. Sie wa-
ren mit Schmutz bedeckt – Martha versuchte sich vor-
zustellen, wie sie ursprünglich ausgesehen haben
mußten und taxierte zugleich die Arbeit, die es kosten
243
würde, sie zu reinigen –, aber sie waren noch zu erken-
nen, so wie das Wort Darfhulva in goldenen Buchstaben
über jeder der vier Seiten. Es dauerte einen Augen-
blick, bevor sie an den Wandgemälden bemerkte, daß
sie endlich ein sinnvolles marsianisches Wort gefunden
hatte. Im Uhrzeigersinn rund um den Raum bildeten
sie ein breites historisches Panorama. Eine Gruppe in
Felle gekleideter Wilder, die um ein Feuer hockten.
Jäger mit Speer und Bogen, die einen Tierkadaver tru-
gen, der einem Schwein nicht unähnlich sah. Nomaden,
die auf langbeinigen, anmutigen Reittieren, ähnlich
Hirschen ohne Geweih, ritten. Säende und erntende
Bauern, Lehmhüttendörfer und Städte; Prozessionen
von Priestern und Kriegern; Schlachten mit Schwert
und Bogen und mit Kanonen und Musketen; Galeeren
und Segelschiffe, Schiffe ohne sichtbare Antriebsmittel
und Flugzeuge. Verschiedenartige Kleidung und Waf-
fen und Maschinen und Architektur-Stile. Eine üppig
fruchtbare Landschaft, die allmählich in unfruchtbare
Wüsten und Buschlandschaften überging – die Zeit der
großen planetenweiten Dürre. Die Kanalbauer – Män-
ner mit Maschinen, die als Dampfbagger und Kräne zu
erkennen waren, wie sie gruben und wühlten und über
die leeren Ebenen mit den Aquädukten fuhren. Wieder
Städte – Seehäfen an den schrumpfenden Ozeanen;
eingehende, halb verwüstete Städte; eine verlassene
Stadt mit vier winzigen humanoiden Gestalten und ei-
nem Ding ähnlich einem Kampfwagen mitten auf dem
mit Gestrüpp bewachsenen Platz; sie erschienen mit
ihrem Gefährt zwergenhaft gegen die riesigen leblosen
Gebäude um sie herum. Sie hatte nicht den geringsten
Zweifel: Darfhulva war Geschichte.
»Wunderbar!« sagte von Ohlmhorst. »Die ganze
Geschichte dieser Rasse. Ja, wenn der Maler für jede
244
Epoche die passenden Kostüme und Waffen und Ma-
schinen abgebildet und die Architektur richtig darge-
stellt hat, können wir die Geschichte dieses Planeten in
Epochen und Perioden und Zivilisationen einteilen.«
»Man kann als sicher annehmen, daß sie authentisch
sind. Die Fakultät dieser Universität wird wohl auf Au-
thentizität in der Abteilung Darfhulva – Geschichte –
bestanden haben«, sagte sie.
»Ja! Darfhulva – Geschichte! Und deine Zeitschrift
war ein Journal der Sornhulva!« rief Penrose aus.
»Martha, du hast ein Wort!« Sie brauchte einen Au-
genblick, um zu bemerken, daß er sie bei ihrem Vor-
namen und nicht Dr. Dane genannt hatte. Sie war nicht
sicher, ob das nicht ein größerer Triumph war, als ein
Wort der marsianischen Sprache zu lernen. Oder ein
erfolgversprechenderer Beginn. »Für sich bedeutet
hulva, glaube ich, etwas wie ›Wissenschaft‹ oder
›Kenntnis‹ oder ›Studium‹; in Zusammensetzungen
wäre es gleichbedeutend mit unserem ›-ologie‹. Und
darf bedeutet wohl etwas wie ›Vergangenheit‹ oder
›Altertum‹ oder ›Menschheitsgeschichte‹ oder ›Chro-
nik‹.«
»Damit hast du drei Wörter, Martha!« jubilierte Sa-
chiko. »Du hast es geschafft.«
»Wir wollen nicht zu weit gehen«, sagte Lattimer,
diesmal nicht spöttisch. »Ich gebe zu, daß darfhulva
das marsianische Wort für ›Geschichte‹ als Studienge-
genstand ist; ich gebe zu, daß hulva das allgemeine
Wort ist und darf dieses modifiziert und angibt, wel-
cher Gegenstand gemeint ist. Aber was die Bestim-
mung spezieller Bedeutungen angeht, können wir sie
nicht vornehmen, weil wir gar nicht wissen, wie die
Marsianer gedacht haben, wissenschaftlich oder an-
ders.«
245
Er unterbrach sich plötzlich, erschreckt von dem
blauweißen Licht, das aufleuchtete, als Sid Chamber-
lains Scheinwerfer angingen. Als das Kamerasurren
aufhörte, war es Chamberlain, der redete:
»Das ist doch die tollste Sache; die ganze Geschichte
des Mars, von der Steinzeit bis zum Ende, alles auf
vier Wänden. Ich nehme es im Schnellgang auf, aber
wir werden es in Zeitlupe übertragen, von Anfang bis
Ende. Tony, ich möchte, daß du dazu sprichst – jede
Szene, die gezeigt wird, kommentierst und interpre-
tierst. Würdest du das tun?«
Ob er das tun würde! dachte Martha. Allein schon
der Gedanke daran würde ihn mit dem Schwanz we-
deln lassen, falls er einen hätte.
»Nun, es müßte weitere Wandgemälde in den ande-
ren Stockwerken geben«, sagte sie. »Wer will mit uns
nach unten gehen?« Sachiko wollte; unverzüglich mel-
dete Ivan Fitzgerald sich freiwillig. Sid beschloß, mit
Tony Lattimer hinauf zu gehen, und auch Gloria Stan-
dish entschied sich, treppaufwärts zu gehen. Der größte
Teil der Gruppe würde im siebten Stock bleiben, um
Selim von Ohlmhorst zu helfen, die Arbeit hier zu be-
enden. Nachdem sie versuchsweise mit der Spitze ihrer
Eis-Axt auf die Treppe gestoßen hatte, übernahm
Martha die Führung nach unten.
Der sechste Stock war ebenfalls Darfhulva; militäri-
sche und technologische Geschichte, nach Art der
Wandgemälde zu urteilen. Sie blickten in der Zentral-
halle umher und stiegen zum fünften Stock hinunter; er
entsprach den Etagen darüber, außer daß das große
Viereck mit staubigen Möbeln und Kisten vollgestapelt
war. Ivan Fitzgerald, der den Scheinwerfer trug,
schwenkte ihn langsam umher. Hier zeigten die Wand-
gemälde Marsianer von heroischer Größe, so mensch-
246
lich in ihrem Aussehen, daß sie Mitglieder ihrer eige-
nen Rasse zu sein schienen. Jeder hielt einen Gegen-
stand – ein Buch, ein Reagenzglas oder den Teil einer
wissenschaftlichen Apparatur, und hinter ihnen waren
Laboratoriums- und Fabrikszenen, Flammen, Rauch
und Blitzlichter. Das Wort oben an jeder der vier Wände
war eines, mit dem sie schon vertraut war – Somhulva.
»Heh, Martha; da ist dieses Wort«, rief Ivan Fitzge-
rald aus. »Das auf dem Titel deiner Zeitschrift.« Er
betrachtete die Gemälde. »Chemie oder Physik.«
»Beides«, erwog Hubert Penrose. »Ich glaube nicht,
daß die Marsianer sie streng unterschieden haben. Sieh
mal, der alte Bursche mit dem schmalen Backenbart
muß der Erfinder des Spektroskops sein; er hält eins in
den Händen und hat einen Regenbogen hinter sich.
Und die Frau in dem blauen Kittel neben ihm hat in
organischer Chemie gearbeitet; schau nur, die Schemata
langer Kettenmoleküle hinter ihr. Welches Wort würde
den Gedanken von Chemie und Physik als einheitli-
chen Gegenstand vermitteln?«
»Somhulva«, schlug Sachiko vor. »Wenn hulva so
etwas wie ›Wissenschaft‹ ist, muß som ›Materie‹ oder
›Körper‹ oder ›physischer Gegenstand‹ bedeuten. Du
hattest auf der ganzen Linie recht, Martha. Eine solche
Zivilisation würde sicherlich etwas wie das hier hinter-
lassen, etwas das sich selbst erklärt.«
»Lattimer wird sein überhebliches Grinsen wohl
bald verlieren«, sagte Fitzgerald, als sie die unbeweg-
liche Rolltreppe zu dem tieferliegenden Stockwerk
hinuntergingen. »Tony will Ruhm einstreichen. Er
kann es nicht ertragen, daß man ihn in dieser Bezie-
hung in den Schatten stellt. Und wer immer es schafft,
diese Sprache zu entziffern, wird den größten Ruhm
einstreichen, der in der Archäologie je zu erlangen war.«
247
Das war wahr. Sie hatte vorher nicht unter diesem
Aspekt daran gedacht und auch jetzt versuchte sie,
nicht daran zu denken. Sie wollte keine Berühmtheit
sein. Sie wollte die marsianische Sprache lesen kön-
nen und etwas über die Marsianer in Erfahrung brin-
gen.
Zwei Rolltreppen tiefer gelangten sie auf eine Zwi-
schenetage rund um eine weite Zentralhalle im Erdge-
schoß. Der Fußboden war zwölf Meter unter, und die
Decke neun Meter über ihnen. Ihre Scheinwerfer
leuchteten unten einen Gegenstand nach dem anderen
aus – in der Mitte eine riesige Skulpturengruppe; eine
Art Motor-Fahrzeug, aufgebockt zur Reparatur; Ge-
genstände, die wie Maschinengewehre und automati-
sche Kanonen aussahen; lange Tische, deren Oberflä-
che mit einem Staubgemisch bedeckt waren; Maschi-
nen, Kästen, Kisten und Kanister. Sie bahnten sich
durch das Durcheinander einen Weg nach unten. Auf
jeden Gegenstand, den sie erblickten, kamen hundert
übersehene. Schließlich fanden sie eine Rolltreppe, die
ins Kellergeschoß führte. Es waren insgesamt drei Kel-
lergeschosse, eines lag unter dem anderen. Endlich
standen sie am Fuß der letzten Rolltreppe, auf einem
nackten Zementboden. Der tragbare Scheinwerfer
schwenkte über gestapelte Kisten und Tonnen, Fässer
und Haufen von Pulverstaub. Die Kisten waren aus
Plastik – niemand hatte je irgend etwas aus Holz gefer-
tigtes in der Stadt gefunden –, die Tonnen und Fässer
aus Metall oder Glas oder irgendeinem anderen glas-
ähnlichen Stoff. Sie waren äußerlich unbeschädigt. Die
Haufen von Pulverstaub könnten irgend etwas Organi-
sches oder etwas Flüssigkeitshaltiges gewesen sein.
Hier unten, wo Wind und Staub nicht hingelangen
könnten, war die Verdunstung die einzige Zerstö-
248
rungskraft gewesen, nachdem das bißchen Leben, wel-
ches Fäulnis verursacht, verschwunden war.
Sie fanden auch Kühlräume, und indem sie von
Marthas Eisaxt und dem pistolenähnlichen Schlagvi-
brator, den Sachiko am Gürtel trug, Gebrauch machten,
drückten und stemmten sie einen davon auf. Sie fanden
aufgedörrte Haufen von etwas, das einmal Gemüse
gewesen war, und lederne Fleischklumpen. Stichpro-
ben von dem Zeug, per Rakete zum Raumschiff ge-
bracht, würden mittels der Carbon C-14 Methode eine
zuverlässige Schätzung ermöglichen, vor wie langer
Zeit dieses Gebäude bewohnt worden war. Die Kühl-
anlage, total anders als all das, was ihre eigene Kultur
hervorgebracht hatte, war elektrisch betrieben worden.
Sachiko und Penrose stöberten darin herum und fanden
die Schalter noch eingedrückt; die Maschine hatte le-
diglich aufgehört, zu funktionieren, weil die Energie-
quelle, was auch immer das gewesen sein mochte, aus-
gefallen war.
Der mittlere Keller war ebenfalls als Lagerraum be-
nutzt worden, zumindest im Endstadium der Zivilisation;
er war durch eine Trennwand mit nur einer Türe hal-
biert. Sie brauchten eine halbe Stunde, sie zu bezwin-
gen, und kurz bevor die ersten Stimmen laut wurden,
schweres Gerät von oben anzufordern, gab sie soweit
nach, daß sie sich hindurchzwängen konnten. Fitzge-
rald, der mit dem Licht vorneweg ging, blieb plötzlich
stehen, sah umher und gab ein Stöhnen von sich, das
durch seinen Helmlautsprecher klang, wie das Ge-
räusch eines Nebelhorns.
»Oh, nein! Nein!«
»Was ist los, Ivan?« fragte die hinter ihm eintretende
Sachiko ängstlich. Er trat beiseite. »Sieh dir das an,
Sachi! Werden wir das alles bearbeiten müssen?«
249
Martha drängte sich hinter ihrer Freundin durch und
schaute sich um. Sie erstarrte, dann wurde ihr schwin-
delig vor Erregung. Bücher. Kiste auf Kiste voller Bü-
cher, ein viertel Hektar von Kisten, fünf Meter hoch
bis unter die Decke. Fitzgerald und Penrose, der sich
hinter ihr hereingedrängt hatte, sprachen in heftiger
Erregung; sie hörte nur den Klang ihrer Stimmen, nicht
ihre Worte. Dies mußte das Hauptmagazin der Univer-
sitäts-Bibliothek sein – die gesamte Literatur der un-
tergegangenen Mars-Rasse. Im Zentrum konnte sie
durch einen Gang zwischen den Kisten das eingesun-
kene Schreibtisch-Viereck des Bibliothekars, Stufen
und einen Aufzug zur oberen Etage erkennen.
Sie bemerkte, daß sie mit den anderen darauf zu
ging. Sachiko sagte: »Ich bin die Leichteste, laßt mich
zuerst gehen.« Sie sprach wohl von den Metallstufen,
die dünner als Messerklingen waren.
»Ich würde sagen, sie sind sicher«, antwortete Pen-
rose.
»Die Mühe, die wir mit den Türen in dieser Gegend
hatten, zeigt, daß das Metall nicht verrottet ist.«
Schließlich ging das japanische Mädchen, katzen-
hafter denn je in ihrer Vorsicht, vorneweg. Die Stufen
waren trotz ihres zerbrechlichen Aussehens solide, und
alle folgten ihr. Die Etage darüber war ein Duplikat des
Raums, in den sie gerade eingedrungen waren und
schien ungefähr ebenso viele Bücher zu enthalten. Um
keine Zeit damit zu verschwenden, die Türe hier auf-
zubrechen, kehrten sie in das mittlere Kellergeschoß
zurück und stiegen über die Rolltreppe hoch, die sie zu
Anfang heruntergekommen waren.
Das obere Kellergeschoß enthielt Küchen – Elektro-
herde, einige noch mit Töpfen und Pfannen darauf –
und einen großen Raum, der ursprünglich der Speise-
250
saal für die Studenten gewesen sein mochte, obgleich
er bei seiner letzten Benutzung als Werkstatt gedient
hatte. Wie erwartet, befand sich der Lesesaal der Bi-
bliothek im Erdgeschoß, direkt über den Büchersta-
peln. Er schien in eine Art allgemeinen Aufenthalts-
raum für die letzten Bewohner des Gebäudes umge-
wandelt worden zu sein. Ein anschließender Hörsaal
war zu einer chemischen Fabrik gemacht worden, dort
standen Fässer, Destillationsapparate und ein metalle-
ner Fraktionierturm, der sich durch ein zwanzig Meter
oberhalb in die Decke geschlagenes Loch fortsetzte.
Eine beträchtliche Anzahl von Plastikmöbeln von der
Art, wie sie sie überall in der Stadt vorgefunden hatten,
einige davon zerbrochen, hatte man dort augenschein-
lich zur Aufarbeitung aufgestapelt. Die übrigen Räume
im Erdgeschoß schienen gleichfalls für Produktions-
und Reparaturarbeiten bestimmt gewesen. Lange Zeit,
wohl über einige Generationen hinweg, mußte hier,
nachdem die Universität aufgehört hatte, als solche zu
fungieren, eine ansehnliche Industrie betrieben worden
sein.
Auf der zweiten Etage fanden sie ein Museum; viele
Ausstellungsstücke waren noch vorhanden und mit
großer Mühe in den verschmutzten Glaskästen vage zu
erkennen. Auch Verwaltungsbüros waren da gewesen.
Die Türen der meisten waren verschlossen. Sie verlo-
ren keine Zeit mit dem Versuch, sie aufzubrechen, aber
diejenigen, die offenstanden, waren in Wohnquartiere
umgewandelt worden. Sie machten Notizen und grobe
Pläne der Stockwerke, die ihnen bei einer späteren,
gründlicheren Untersuchung helfen sollten. Es wurde
fast Mittag, bis sie wieder im siebten Stock angelangt
waren.
Selim von Ohlmhorst war in einem Raum an der
251
Nordseite des Gebäudes, wo er die Position der Gegen-
stände skizzierte, bevor er sie untersuchte und zusam-
mentrug, um sie wegzuschaffen. Er hatte den Fußbo-
den mit einem Gitter aus Kreidestrichen in Quadrate
eingeteilt und jedes numeriert.
»Wir haben alles auf dieser Etage fotografiert«, sagte
er. »Ich habe drei Trupps gebildet – mehr Scheinwerfer
habe ich nicht –, die Skizzen und Messungen machen.
Bei unserer bisherigen Geschwindigkeit werden wir,
die Zeit für das Mittagessen abgerechnet, im Laufe des
Nachmittags fertig werden.«
»Ihr habt schnell gearbeitet. Offenbar wachst du
nicht so priesterlich darüber, daß jeweils ein qualifi-
zierter Archäologe‹ zuerst die Räume betritt«, bemerkte
Penrose.
»Ach, Quatsch!« rief der alte Mann ungeduldig aus.
»Eure Offiziere sind schließlich keine Deppen. Sie wa-
ren alle auf der Nachrichten-Akademie und auf der
Kriminalpolizeischule. Einige der besten Amateur-
Archäologen, die ich je gekannt habe, waren ehemalige
Soldaten oder Polizisten. Aber es gibt nicht viel zu tun.
Die meisten Räume sind entweder leer oder wie dieser –
ein paar Möbelstücke und zerbrochener Plunder und
Papierfetzen. Habt ihr in den unteren Stockwerken ir-
gend etwas entdeckt?«
»O ja«, sagte Penrose mit einem Anflug von Heiter-
keit in der Stimme. »Was würdest du sagen, Martha?«
Sie begann, Selim zu berichten. Die anderen, unfä-
hig, ihre Erregung zu beherrschen, fielen mit Zwi-
schenreden ein. Von Ohlmhorst starrte sie ungläubig
staunend an.
»Aber diese Etage war fast völlig geplündert, und die
Gebäude, die wir bisher betreten haben, waren alle vom
Erdgeschoß aufwärts geplündert«, sagte er schließlich.
252
»Die Menschen, die diese Etage geplündert haben,
haben hier gewohnt«, antwortete Penrose. »Sie hatten
bis zum Schluß Elektrizität; wir haben Kühlschränke
voller Lebensmittel gefunden, und Herde, auf denen
noch das Essen stand. Sie müssen die Aufzüge benutzt
haben, um die Sachen aus der oberen Etage herunter-
zuholen. Der ganze erste Stock war zu Werkstätten und
Laboratorien umgebaut. Ich glaube, dieser Ort muß so
etwas wie ein mittelalterliches Kloster in Europa gewe-
sen sein oder wie ein solches Kloster gewesen wäre,
wenn das Mittelalter auf den Niedergang einer hoch
entwickelten, wissenschaftlichen Zivilisation gefolgt
wäre. Als erstes haben wir eine Menge Maschinenge-
wehre und leichte automatische Kanonen im Erdge-
schoß entdeckt, und alle Türen waren verbarrikadiert.
Die Menschen hier versuchten, eine Zivilisation auf-
recht zu erhalten, nachdem der übrige Planet in Barba-
rei zurückgefallen war; ich vermute, daß sie hin und
wieder Überfalle der Barbaren abwehren mußten.«
»Sie wollen doch hoffentlich nicht darauf bestehen,
dies Gebäude zum Quartier der Expedition zu machen,
Colonel?« fragte von Ohlmhorst besorgt.
»O nein! Diese Stätte ist eine archäologische
Schatzkammer. Mehr als das; nach dem, was ich gese-
hen habe, können unsere Techniker hier eine Menge
lernen. Aber immerhin sollten Sie diese Etage so
schnell wie möglich aufräumen. Ich will den unterirdi-
schen Teil, vom sechsten Stock an abwärts, luftdicht
versiegeln. Dann werden wir Sauerstoffgeneratoren
und Krafteinheiten aufstellen und ein paar Fahrstühle
in Betrieb setzen. Für die oberen Stockwerke können
wir etagenweise die provisorische Versiegelung und
tragbare Gerate verwenden. Wenn wir alles belüftet,
beleuchtet und geheizt haben, können Sie, Martha und
253
Tony Lattimer anfangen, systematisch und bequem zu
arbeiten, und ich werde Ihnen jede Unterstützung ge-
ben, die ich bei der sonstigen Arbeit erübrigen kann.
Das ist eine der tollsten Sachen, die wir bisher gefun-
den haben.«
Etwas später kam Tony Lattimer mit seinen Beglei-
tern in den siebten Stock hinunter.
»Ich verstehe das überhaupt nicht«, begann er, als er
bei ihnen angelangt war. »Dieses Gebäude ist nicht in
der Weise geplündert worden wie die anderen. Stets
scheint es so gewesen zu sein, daß man von unten nach
oben geplündert hat, aber hier haben sie offenbar die
oberen Etagen zuerst geplündert. Alle bis auf die ober-
ste. Ich habe übrigens herausgefunden, was dieses ko-
nische Ding ist. Es ist ein Wind-Rotor, und darunter
befindet sich ein Stromerzeuger. Dieses Gebäude hat
seine Elektrizität selbst erzeugt.«
»In welchem Zustand sind die Generatoren?« fragte
Penrose.
»Nun, natürlich ist alles voller Staub, den es unter
dem Rotor hereingeweht hat, aber er sieht aus, als sei er
in recht guter Verfassung. Mensch, ich wette, das ist es!
Sie hatten Strom, also benutzten sie die Fahrstühle, um
das Zeug herunterzuholen. Genau das haben sie getan.
Trotzdem scheinen einige Etagen über uns nicht berührt
worden zu sein.« Er unterbrach sich für einen Moment;
hinter seiner Sauerstoffmaske schien er zu grinsen. »Ich
weiß nicht, ob ich es vor Martha erwähnen sollte, aber
zwei Stockwerke höher sind wir auf einen Raum gesto-
ßen – es muß die Handbücherei einer Abteilung gewe-
sen sein –, der an die fünfhundert Bücher enthielt.«
Der Lärm, der ihn wie das Kreischen eines Papageis
unterbrach, war nur Ivan Fitzgeralds Lachen durch sei-
nen Helmlautsprecher.
254
Das Mittagessen in den Hütten wurde eine hastige
Mahlzeit unter dem Geschnatter erregter, mit vollem
Munde geführter Gespräche. Hubert Penrose und seine
nächsten Untergebenen hatten sich ihr Essen ge-
schnappt und sich zu einer Beratung an einem Ende
des Tisches zusammengedrängt; am Nachmittag wurde
die Arbeit an allen anderen Objekten eingestellt, und
die etwas über fünfzig Männer und Frauen der Expedi-
tion konzentrierten ihre Anstrengungen auf die Univer-
sität. Um die Mitte des Nachmittags war der siebte
Stock vollständig untersucht, fotografiert und skizziert,
die Wandgemälde in der quadratischen Zentralhalle
waren mit schützenden Zeltplanen abgedeckt, und Lau-
rent Gicquel war mit seiner Mannschaft zur luftdichten
Versiegelung eingezogen und bei der Arbeit. Man hat-
te beschlossen, die Zentralhalle an den Eingängen zu
versiegeln. Der franko-kanadische Ingenieur brauchte
fast den ganzen Nachmittag, bis er alle Belüftungska-
näle gefunden und plombiert hatte. Man fand einen
Aufzugschacht an der Nordseite, der direkt bis zum
fünfundzwanzigsten Stock reichte; er sollte als Zugang
zum oberen Teil des Gebäudes dienen. Ein anderer
Schacht sollte vom Zentrum aus die unteren Etagen
versorgen. Niemand schien bereit, den alten Aufzügen
zu trauen; es dauerte bis zum nächsten Abend, bis zwei
Fahrkörbe und die nötige Maschinerie in den Maschi-
nenwerkstätten an Bord des Raumschiffes hergestellt
und mit einer Landerakete heruntergeschickt werden
konnten. Währenddessen wurde die Luftabdichtung
beendet, der atomar-elektrische Energiekonverter und
die Sauerstoffgeneratoren wurden aufgestellt.
Am nächsten Tag, ungefähr eine Stunde vor Mittag,
befand sich Martha gerade im unteren Kellergeschoß,
als ein paar Raumflottenoffiziere aus dem Fahrstuhl
255
stiegen und zusätzliche Beleuchtung mitbrachten. Sie
benutzte immer noch ein Sauerstoffgerät; es dauerte
einen Augenblick, bevor sie merkte, daß die Neuan-
kömmlinge keine Masken trugen und daß einer von
ihnen rauchte. Sie nahm ihren eigenen Helmlautspre-
cher, Kehlmikrophon und Maske ab, schnallte den
Sauerstofftank-Tornister ab und atmete vorsichtig. Die
Luft war kühl und der Geruch modrig-scharf von Alter –
der erste marsianische Duft, den sie roch – aber als sie
eine Zigarette ansteckte, brannte das Feuerzeug hell
und stetig, und der Tabak fing Feuer und brannte
gleichmäßig.
Die Archäologen, viele andere zivile Wissenschaft-
ler, einige Raumflottenoffiziere und die beiden Nach-
richtenkorrespondenten, Sid Chamberlain und Gloria
Standish, zogen an diesem Abend ein.
Sie stellten in leeren Räumen Feldbetten auf, instal-
lierten Elektroherde und einen Kühlschrank in dem
alten Lesesaal der Bibliothek und stellten eine Bar und
eine Lunch-Theke hinein. Ein paar Tage lang war der
Ort voller Lärm und Aktivität; dann kehrten allmählich
die Raumflottenleute und bis auf einige wenige, die
Zivilisten an ihre Arbeit zurück, die bewohnbareren
der bereits erforschten Gebäude luftdicht zu versiegeln,
sie einzurichten und für die Ankunft der fünfhundert
Mitglieder der Hauptexpedition in anderthalb Jahren
bereitzumachen. Der Landeplatz für das Raketenfahr-
zeug des Raumschiffes mußte vergrößert und neue
Tanks mit chemischem Treibstoff hergestellt werden.
Es galt, die alten Wassertürme der Stadt von
Schlamm zu reinigen, bevor das nächste Frühjahrstau-
wetter mehr Wasser durch die unterirdischen Aquädukte
herunterbrachte, die jedermann in falscher Übersetzung
von Schiaparellis italienischem Wort Kanäle nannte,
256
obgleich sich das dann als erheblich leichter heraus-
stellte als vorher angenommen. Die alten Kanalbauer
mußten eine Zeit vorausgesehen haben, in der ihre
Nachkommen nicht mehr in der Lage sein würden, die
Instandhaltungsarbeiten auszuführen, und hatten Maß-
nahmen dagegen getroffen. Von dem Tag an, als die
Universität vollständig bewohnbar gemacht worden
war, wurde die dort anfallende Arbeit von Selim, Tony
Lattimer und ihr selbst getan, assistiert von einem hal-
ben Dutzend Raumflottenoffizieren, meist Madchen,
und vier bis fünf Zivilisten.
Sie arbeiteten von unten nach oben, unterteilten die
Fußbodenflächen in numerierte Quadrate, nahmen
Messungen vor, legten Verzeichnisse an, skizzierten
und fotografierten. Sie verpackten Proben organischer
Substanzen und schickten sie zum Carbon-14-
Vergleich und zur Analyse zum Raumschiff; sie öffne-
ten Büchsen, Einmachgläser und Flaschen und stellten
fest, daß alle Flüssigkeit daraus verdunstet war, wenn
keine andere Möglichkeit bestand, dann durch die Po-
rosität von Glas, Metall und Plastik. Wo sie auch hin-
sahen, fanden sie Beweise einer plötzlich eingestellten
und nie wieder aufgenommenen Tätigkeit. Einen
Schraubstock mit einem halb durchgeschnittenen Me-
tallstab darin, die Metallsäge daneben. Töpfe und
Pfannen mit hartgewordenen Essensresten; ein leder-
nes Stück Fleisch auf einem Tisch, das Messer griffbe-
reit. Toilettengegenstände auf Waschtischen; unge-
machte Betten, das Bettzeug drohte bei Berührung zu
Staub zu zerfallen, hatten noch den Körperabdruck des
Schläfers bewahrt; Papier und Schreibzeug auf
Schreibtischen, als sei der Schreiber aufgestanden in
der Absicht, in einem Augenblick vor fünfzigtausend
Jahren zurückzukehren und zu Ende zu schreiben.
257
Das beunruhigte Martha. Wider jede Vernunft ent-
wickelte sich in ihr das Gefühl, daß die Marsianer die-
sen Ort nie verlassen hatten; daß sie noch um sie her-
um waren und jedesmal mißbilligend zuschauten,
wenn sie etwas aufhob, das sie hingelegt hatten. Jetzt
verfolgten sie sie in ihren Träumen anstelle ihrer rät-
selhaften Schrift. Zuerst hatte jeder, der in die Univer-
sität einzog, ein separates Zimmer genommen, froh,
der Überfüllung und dem Mangel an Privatsphäre in
den Hütten zu entkommen. Nach wenigen Nächten war
sie froh, als Gloria Standish bei ihr einzog und akzep-
tierte die Entschuldigung der Nachrichtenfrau, sie fühle
sich einsam ohne jemand, mit dem sie vor dem Ein-
schlafen reden könne. Sachiko Koremitsu stieß am fol-
genden Abend zu ihnen, und vor dem Schlafengehen
reinigte und ölte der weibliche Offizier seine Pistole
mit der Bemerkung, sie fürchte, sie sei etwas rostig
geworden.
Die anderen spürten es auch. Selim von Ohlmhorst
entwickelte die Angewohnheit, sich schnell umzudre-
hen und hinter sich zu blicken, als versuche er jeman-
den oder etwas zu überraschen, der oder das sich an
ihn heranpirschte. Tony Lattimer, der einen Drink an
der Bar nahm, die aus dem Schreibtisch des Bibliothe-
kars im Lesesaal improvisiert war, stellte sein Glas ab
und fluchte.
»Wißt ihr, was dieser Ort ist? Es ist eine archäologi-
sche Marie Celeste!« behauptete er. »Es ist bis ganz
zum Schluß bewohnt gewesen – wir haben alle die
Notbehelfe gesehen, die diese Leute gebraucht haben,
um hier eine Zivilisation aufrechtzuerhalten – aber was
war das Ende? Was ist mit ihnen passiert? Wo sind sie
hingegangen?«
»Du hast doch nicht erwartet, daß sie draußen in
258
Frontstellung warten, mit einem roten Teppich und
einem großen Spruchband – WILLKOMMEN TER-
RANER – oder, Tony?« fragte Gloria Standish.
»Nein, natürlich nicht; sie sind alle seit fünfzigtau-
send Jahren tot. Aber wenn sie die letzten Marsianer
waren, warum haben wir nicht mindestens ihre Kno-
chen gefunden? Wer hat sie nach ihrem Tod begra-
ben?« Er sah sein Glas an – ein Kelch, dünn wie eine
Seifenblase, der mit Hunderten gleicher Art oben in
einem Schrank gefunden worden war – als debattiere
er mit sich selbst, ob er noch einen Drink nehmen solle.
Dann stimmte er für ›Ja‹ und griff nach dem Cocktail-
Shaker. »Und jede Tür in dem ehemaligen Erdgeschoß
ist entweder abgeschlossen oder von innen verbarrika-
diert. Wie sind sie herausgekommen? Und warum sind
sie weggegangen?«
Am nächsten Tag hatte Sachiko Koremitsu beim Es-
sen die Antwort auf die zweite Frage. Vier oder fünf
Elektroingenieure waren mit der Rakete vom Schiff
heruntergekommen, und sie hatte den Morgen mit ih-
nen mit Sauerstoffmasken auf dem Dach des Gebäudes
verbracht.
»Tony, ich glaube, du sagtest, jene Generatoren seien
in gutem Zustand«, begann sie, als sie Lattimer er-
blickte. »Das sind sie nicht. Sie sind in dem heillose-
sten Durcheinander, das ich je gesehen habe. Was da
oben passiert ist, war folgendes: Die Stützen des Wind-
rotors haben nachgegeben und das Gewicht zerbrach
den Hauptpfeiler und zerschmetterte alles darunter.«
»Nun, nach fünfzigtausend Jahren kann man etwas
Derartiges erwarten«, erwiderte Lattimer. »Wenn ein
Archäologe sagt, etwas sei in gutem Zustand, meint er
nicht unbedingt, daß es funktioniert, sobald man einen
Schalter anknipst.«
259
»Sie haben nicht bemerkt, daß es passiert ist, wäh-
rend der Strom eingeschaltet war, nicht wahr?« fragte
einer der Ingenieure, verärgert über Lattimers Ton.
»Nun, das war er. Alles ist ausgebrannt oder kurzge-
schlossen oder zusammengeschmolzen; ich habe eine
Stromzuführungsschiene gesehen von 20 Zentimetern
Durchmesser, die auf ganze 5 Zentimeter zusammen-
geschmolzen war. Es ist schade, daß wir die Sachen –
nicht einmal archäologisch betrachtet – in gutem Zu-
stand gefunden haben. Ich habe eine Menge interessan-
ter Dinge gesehen, Dinge, die fortschrittlicher sind als
das, was wir heute verwenden. Aber es wird einige
Jahre dauern, alles auszusortieren und ein Bild davon
zu gewinnen, wie es ursprünglich ausgesehen hat.«
»Sah es so aus, als ob irgend jemand einen Versuch
gemacht hätte, es zu reparieren?« fragte Martha.
Sachiko schüttelte den Kopf. »Sie müssen einen
Blick darauf geworfen und aufgegeben haben. Ich
glaube nicht, daß es irgendwie möglich war, etwas zu
reparieren.«
»Nun, das erklärt, warum sie ausgezogen sind. Sie
brauchten Elektrizität zur Beleuchtung und Heizung,
und ihre ganze Industrieausrüstung war elektrisch. Mit
Strom hatten sie hier ein gutes Leben; ohne ihn wäre
dieser Ort nicht bewohnbar gewesen.«
»Warum haben sie dann alles von innen verbarrika-
diert, und wie sind sie herausgekommen?« wollte Lat-
timer wissen.
»Um andere Leute daran zu hindern, einzubrechen
und zu plündern. Wer als Letzter herauskam, hat wahr-
scheinlich die letzte Tür verschlossen und sich an ei-
nem Seil von oben heruntergelassen«, brachte von
Ohlmhorst vor. »Dieser Houdini-Trick beunruhigt mich
nicht so sehr. Wir werden es eventuell herausfinden.«
260
»Ja, etwa um die Zeit, wenn Martha beginnt, mar-
sianisch zu lesen«, spottete Lattimer.
»Genau dann werden wir es vielleicht herausbe-
kommen«, antwortete von Ohlmhorst ernst. »Es würde
mich nicht überraschen, wenn sie, als sie diesen Ort
räumten, etwas Schriftliches hinterlassen hätten.«
»Fängst du wirklich an, diesen ihren Wunschtraum
als ernsthafte Möglichkeit zu betrachten, Selim?« frag-
te Lattimer. »Ich weiß, es wäre wunderbar, aber wun-
derbare Dinge passieren nicht, bloß weil sie wunderbar
sind. Nur weil sie möglich sind, und dies ist nicht mög-
lich. Laß mich den berühmten Hethitologen Johannes
Friedrich zitieren: ›Nichts kann aus nichts übersetzt
werden.‹ Oder jenen späteren, aber nicht minder be-
rühmten Hethitologen, Selim von Ohlmhorst: ›Wo
willst du deinen zweisprachigen Text finden?‹«
»Friedrich hat noch erlebt, daß die hethitische Spra-
che entziffert und gelesen wurde«, rief von Ohlmhorst
ihm in Erinnerung.
»Ja, nachdem man zweisprachige hethitisch-
assyrische Texte gefunden hatte.« Lattimer schüttete
einen Löffel Kaffeepulver in seine Tasse und goß hei-
ßes Wasser darauf. »Martha, du solltest besser als ir-
gendjemand anders wissen, wie gering deine Chancen
sind. Du hast jahrelang im Indus-Tal gearbeitet; wie
viele Wörter der Harappa-Sprache hast du oder sonst
irgend jemand je lesen können?«
»Wir haben in Harappa oder Mohenjo-Daro nie eine
Universität mit einer Bibliothek von einer halben Mil-
lion Bänden gefunden.«
»Und am ersten Tag, als wir dieses Gebäude betre-
ten haben, konnten wir bereits mehreren Wörtern eine
Bedeutung zuordnen«, fügte Selim von Ohlmhorst hin-
zu.
261
»Und seitdem habt ihr kein weiteres sinnvolles Wort
gefunden«, setzte Lattimer hinzu. »Und ihr seid euch
nur der allgemeinen Bedeutung sicher, nicht der spezifi-
schen Bedeutung der Wortelemente, und ihr habt für
jedes Wort ein Dutzend verschiedener Interpretationen.«
»Wir haben einen Anfang gemacht«, beharrte von
Ohlmhorst. »Wir haben Grotefends Wort für ›König‹.
Aber ich werde einige jener Bücher da drüben lesen
können, und wenn es mich den Rest meines Lebens
hier kosten wird. Das wird es wohl auf jeden Fall.«
»Willst du sagen, daß du deine Absicht geändert
hast und nicht auf der Cyrano zurückkehren wirst?«
fragte Martha. »Du willst hierbleiben?«
Der alte Mann nickte. »Ich kann das hier nicht ver-
lassen. Es gibt viel zu entdecken. Der alte Hase wird
eine Menge neuer Tricks lernen müssen, aber hier wird
von jetzt ab meine Arbeitsstätte sein.«
Lattimer war entsetzt. »Ihr seid übergeschnappt!«
schrie er. »Du meinst, du willst alles, was du in der
Hethitologie erreicht hast, wegwerfen und hier auf dem
Mars völlig neu beginnen? Martha, wenn du ihm diese
verrückte Entscheidung eingeredet hast, bist du eine
Verbrecherin!«
»Niemand hat mir etwas eingeredet«, sagte von
Ohlmhorst schroff. »Und was das Wegwerfen dessen,
was ich in der Hethitologie erreicht habe, angeht, weiß
ich nicht, wovon zum Teufel du redest. Alles, was ich
über das Hethiterreich weiß, ist veröffentlicht und je-
dermann zugänglich. Mit der Hethitologie ist es wie
mit der Ägyptologie: sie hat aufgehört, Forschung und
Archäologie zu sein und ist Gelehrsamkeit und Ge-
schichte geworden. Und ich bin kein Gelehrter oder
Historiker; ich bin ein Feld-Archäologe mit Hacke und
Spaten – ein äußerst geschickter und spezialisierter
262
Grabräuber und Trödelsammler – und auf diesem Pla-
neten gibt es mehr zu hacken und zu schaufeln, als ich
in hundert Leben bewältigen könnte. Dies ist etwas
Neues; ich war ein Narr, zu glauben, ich könnte allem
hier den Rücken kehren und zum Fußnoten-Kritzeln
über hethitische Könige zurückkehren.«
»In der Hethitologie könntest du alles haben, was du
willst. Es gibt ein Dutzend Universitäten, die lieber
dich als eine siegreiche Footballmannschaft hätten.
Aber nein! Du mußt auch noch in der Marsiologie an
der Spitze stehen. Das kannst du keinem anderen über-
lassen …« Lattimer schob seinen Stuhl zurück und
stand auf. Er verließ den Tisch mit einem Fluch, der
fast ein Wutgeheul war.
Vielleicht hatten seine Gefühle ihn überwältigt.
Vielleicht hatte er, wie Martha, gemerkt, daß er die
Katze ungewollt aus dem Sack gelassen hatte. Sie saß
da, mied die Blicke der anderen und starrte verlegen
zur Decke, als hätte Lattimer etwas Schmutziges vor
ihnen auf den Tisch geworfen. Tony Lattimer hatte
verzweifelt gewünscht, daß Selim auf der Cyrano zu-
rückkehren würde. Die Marsiologie war ein neues Ge-
biet; wenn Selim es betrat, würde er das Ansehen, das
er in der Hethitologie bereits gewonnen hatte, mitbrin-
gen und automatisch die Führungsrolle übernehmen,
die Lattimer für sich selbst vorgesehen hatte. Ivan
Fitzgeralds Worte kamen ihr wieder in den Sinn:
»Wenn man den Ruhm einstreichen will, kann man die
Möglichkeit, irgend jemand anders könnte einen über-
treffen, nicht ertragen.« Sein Gespött über ihre eigenen
Anstrengungen wurde ihr jetzt ebenfalls verständlich.
Nicht, daß er überzeugt war, sie werde niemals lernen,
die marsianische Sprache zu lesen. Er hatte genau das
Gegenteil befürchtet.
263
Ivan Fitzgerald hatte endlich den Keim, der die un-
diagnostizierte Krankheit des Finchley-Mädchens ver-
ursacht hatte, isoliert. Kurz danach ging die Krankheit
in ein leichtes Fieber über, von dem sie genas. Nie-
mand anders schien angesteckt zu sein. Fitzgerald be-
mühte sich immer noch, herauszufinden, wie der Keim
übertragen worden war.
Sie fanden einen Mars-Globus aus der Zeit, als die
Stadt Seehafen gewesen war. Sie ermittelten die Stadt
und erfuhren, daß ihr Name Kukan gewesen war – oder
etwas mit einem ähnlichen Verhältnis von Vokalen
und Konsonanten. Sofort begannen Sid Chamberlain
und Gloria Standish, ihre Fernsehübertragungen mit
einem Kukan-Datum zu versehen, und Hubert Penrose
benutzte den Namen in seinen offiziellen Berichten.
Sie fanden auch einen marsianischen Kalender; das
Jahr war in zehn mehr oder weniger gleiche Monate
eingeteilt gewesen, und einer davon war Doma. Ein
anderer Monat war Nor, und das war ein Teil des Na-
mens der wissenschaftlichen Zeitschrift, die Martha
gefunden hatte.
Bill Chandler, der Zoologe, war immer weiter auf
dem alten Meeresgrund der Syrtis vorgedrungen. Vier-
hundert Meilen von Kukan entfernt und auf einem
fünftausend Meter tiefer gelegenen Gebiet schoß er
einen Vogel ab. Zumindest war es etwas mit Flügeln
und etwas, das fast Federn glich, obgleich es den all-
gemeinen Merkmalen nach eher ein Reptil als ein Vo-
gel war. Zusammen mit Ivan Fitzgerald häutete und
präparierte er ihn, dann sezierten sie den Kadaver, bei-
nahe Gewebe für Gewebe. Ungefähr sieben Achtel
seines Körpervolumens bestand aus Lungen; sicherlich
atmete er Luft, die mindestens halb so wenig Sauer-
stoff enthielt, wie zum Unterhalt menschlichen Lebens
264
ausreiche, oder fünfmal soviel wie die Luft rings um
Kukan.
Das entzog der Archäologie das Hauptinteresse und
löste einen neuerlichen Schub von Aktivität aus. Alle
Flugzeuge der Expedition – vier Düsencopter und drei
Aufklärungsjäger ohne Tragflächen – wurden der in-
tensivierten Erforschung der tieferen Meeresgründe
zugeordnet, und die männlichen und weiblichen Biolo-
gen waren wahnsinnig aufgeregt und machten bei je-
dem Flug neue Entdeckungen.
Die Universität blieb Selim, Martha und Tony über-
lassen. Letzterer blieb für sich, während sie und der
alte Deutsch-Türke zusammenarbeiteten. Die zivilen
Spezialisten für andere Gebiete und die Raumflotten-
leute, die Meßbänder gehalten und Skizzen gemacht
und Kameras bedient hatten, flogen alle in die tiefere
Syrtis, um herauszufinden, wieviel Sauerstoff dort vor-
handen war und welche Art von Leben er unterhielt.
Manchmal schaute Sachiko herein; meist war sie
damit beschäftigt, Ivan Fitzgerald beim Sezieren der
Exemplare zu helfen. Sie hatten vier bis fünf Arten, die
ungenau als Vögel bezeichnet werden konnten, etwas,
das leicht als Reptil zu erkennen war, und ein fleisch-
fressendes Säugetier von der Größe einer Katze, mit
vogelähnlichen Klauen; außerdem einen Pflanzenfres-
ser, der beinahe identisch mit dem schweineähnlichen
Etwas auf dem großen Darfhulva-Wandgemälde war,
und noch etwas, das einer Gazelle mit einem einzelnen
Horn mitten auf der Stirn ähnelte. Der Höhepunkt kam,
als eine Gruppe in einem Gebiet von neuntausend Me-
tern unterhalb von Kukan atembare Luft vorfand. Einer
von ihnen erlitt eine leichte Sorroche-Attacke und
mußte eilends zur Behandlung zurückgeflogen werden,
aber die anderen zeigten keinerlei Krankheitssymptome.
265
Die täglichen Nachrichtenübertragungen von Terra
zeigten ein entsprechend gesteigertes Interesse daheim.
Die Entdeckung der Universität hatte die Aufmerk-
samkeit auf die tote Vergangenheit des Mars konzen-
triert; jetzt interessierte sich die Öffentlichkeit für den
Mars als mögliche Wohnstatt der Menschheit. Tony
Lattimer war es, der die Archäologie wieder in die Ak-
tivitäten der Expedition und die Nachrichten daheim
zurückbrachte.
Martha und Selim arbeiteten in dem Museum auf
der zweiten Etage, schrubbten den Dreck von den
Glaskästen, verzeichneten den Inhalt und schrieben mit
Fettstift Zahlen darauf. Lattimer und ein paar Raum-
flottenoffiziere durchkämmten die ehemaligen Verwal-
tungsbüros auf der anderen Seite. Einer von ihnen, ein
junger Leutnant, war es, der fast platzend vor Erre-
gung, aus dem Zwischenstock hereingestürzt kam.
»Heh, Martha! Dr. von Ohlmhorst!« rief er. »Wo
seid ihr? Tony hat die Marsianer gefunden!«
Selim ließ seinen Lappen in den Eimer zurückfallen;
Martha legte ihren Hefter auf den Kasten neben sich.
»Wo?« fragten sie beide zugleich.
»Drüben an der Nordseite.« Der Leutnant riß sich
zusammen und sprach langsamer. »Kleiner Raum, hin-
ter einem der alten Fakultätsbüros – Konferenzraum.
Er war von innen abgeschlossen, wir mußten die Tür
mit einem Schweißbrenner niederbrennen. Da sind sie.
Achtzehn, rund um einen langen Tisch …«
Gloria Standish, die zum Mittagessen hergekommen
war, stand auf dem Zwischenstock und kreischte gera-
dezu in ein Sprechfunkgerät:
»… Anderthalb Dutzend! Ja, natürlich, sie sind tot.
Was für eine Frage! Sie sehen wie lederbespannte Ske-
lette aus. Nein, ich weiß nicht, woran sie gestorben
266
sind. Ja, egal; mir ist es gleich, ob Bill Chandler ein
dreiköpfiges Flußpferd gefunden hat. Sid, kapierst du
nicht? Wir haben die Marsianer entdeckt!«
Sie knallte das Mikrophon auf den Haken und stürzte
vor ihnen davon.
Martha erinnerte sich an die verschlossene Tür; bei
der ersten Sichtung hatten sie nicht versucht, sie zu
öffnen. Jetzt war sie an beiden Seiten aufgeschweißt
und lag, an den Rändern noch heiß, auf dem Boden des
großen Büroraums davor. Ein Scheinwerfer war im
Innern des Raums eingeschaltet, und Lattimer ging
umher, und musterte die Gegenstände, während ein
Raumflottenoffizier an der Tür stand. Die Mitte des
Raums wurde von einem langen Tisch eingenommen;
um ihn herum saßen in den Lehnstühlen die achtzehn
Männer und Frauen, die den Raum in den letzten fünf-
zig Jahrtausenden belegt hatten. Vor ihnen auf dem
Tisch standen Flaschen und Gläser, und wenn das
Licht trüber gewesen wäre, hätte man annehmen kön-
nen, daß sie nur über ihren Drinks eingedöst seien. Ei-
ner der Marsianer hatte sein Knie über die Stuhllehne
gehängt und war gekrümmt wie ein schlafender Fötus.
Ein anderer war vornüber auf den Tisch gefallen, die
Arme ausgestreckt, an einem Finger glitzerte düster der
Smaragdschmuck eines Rings. Lederbespannte Skelette
hatte Gloria Standish sie genannt, und so sahen sie
auch aus – Gesichter wie Totenschädel, Arme und
Beine wie Stöcke, das Fleisch bis auf die Knochen
darunter geschrumpft.
»Ist das nicht ein Ding!« triumphierte Lattimer.
»Massenselbstmord, das ist es gewesen. Seht ihr, was
in den Ecken ist?«
Kohlenbecken, aus perforierten Metallbüchsen von
etwas über zehn Liter Inhalt hergestellt, und die wei-
267
ßen Wände darüber von Rauch verschmutzt. Von
Ohlmhorst hatte sie sofort bemerkt und stocherte mit
seiner Taschenlampe in einem davon herum.
»Ja, Holzkohle. Ich habe etwas davon um ein paar
Schmiedestätten herum in der Werkstatt im ersten
Stock gesehen. Deshalb hattet ihr so große Mühe,
einzubrechen: sie hatten den Raum von innen abge-
dichtet.« Er richtete sich auf und ging rund um den
Raum, bis er einen Ventilator fand, und spähte hin-
ein. »Mit Lumpen verstopft. Sie müssen die einzigen
gewesen sein, die hier zurückgeblieben sind. Sie hat-
ten keinen Strom mehr, und sie waren alt und müde,
und überall um sie herum starb ihre Welt. Also gin-
gen sie einfach hier herein und zündeten die Holz-
kohle an und saßen trinkend beisammen, bis sie ein-
schliefen. Nun, jedenfalls wissen wir jetzt, was aus
ihnen geworden ist.«
Sid und Gloria rückten die Entdeckung ins rechte
Licht. Die terranische Öffentlichkeit wollte etwas über
die Marsianer erfahren, und wenn keine lebendigen
Marsianer gefunden werden konnten, war ein Zimmer
voll toter immerhin besser als nichts. Vielleicht sogar
noch besser: die Orson-Welles-Invasions-Psychose lag
erst etwas über sechzig Jahre zurück. Tony Lattimer,
der Entdecker, begann von seinen Aufmerksamkeiten
für Gloria und seiner Einschmeichelei bei Sid zu profi-
tieren. Ständig gab er Ton- und Bild-Interviews für das
Fernsehen oder hörte die Nachrichten vom Heimatpla-
neten. Ohne Frage war er über Nacht zum weithin be-
kanntesten Archäologen der Geschichte geworden.
»Nicht, daß ich mich für all das nur meinetwegen
interessiere«, widerrief er zwei Tage nach seiner Ent-
deckung, nachdem er die Fernsehsendung aus Terra
verfolgt hatte. »Aber das wird eine großartige Sache
268
für die Mars-Archäologie werden. Die Öffentliche
Aufmerksamkeit erregen, alles dramatisieren. Selim,
kannst du dich erinnern, als Lord Carnarvon und Ho-
ward Carter das Grab Tut-Ench-Amuns entdeckten?«
»1923? Damals war ich zwei Jahre alt«, kicherte
von Ohlmhorst. »Ich weiß wirklich nicht, wieviel diese
Publicity der Ägyptologie je genützt hat. Oh, die Mu-
seen widmeten ägyptischen Ausstellungsstücken mehr
Raum, und du weißt, wie schwer es ist, einen Muse-
ums-Abteilungsleiter, nachdem er ein paar Extra-
Schaukästen bekommen hat, dazu zu bewegen, sie
wieder herauszurücken. Und eine Zeitlang war es
leichter, finanzielle Unterstützung für neue Ausgra-
bungen zu bekommen. Aber ich weiß nicht, wieviel
Gutes diese ganze öffentliche Aufregung auf lange
Sicht bewirkt.«
»Nun, ich finde, einer von uns sollte, wenn die
Schiaparelli eintrifft, auf der Cyrano zurückkehren«,
sagte Lattimer. »Ich hatte gehofft, du würdest es tun;
deine Stimme hätte das größte Gewicht. Aber ich glau-
be, es ist wichtig, daß einer von uns zurückgeht, um
die Geschichte unserer Arbeit und was wir geleistet
haben und was wir noch zu leisten hoffen, der Öffent-
lichkeit, den Universitäten, den Gelehrten-
Gesellschaften und der Bundesregierung darzulegen.
Da wird ein schönes Stück Arbeit getan werden müs-
sen. Wir dürfen nicht zulassen, daß die anderen Wis-
senschaftsgebiete und die sogenannten praktischen In-
teressen die öffentliche und akademische Unterstüt-
zung für sich monopolisieren. Daher meine ich, daß ich
zumindest für einige Zeit zurückkehren sollte, um zu
sehen, was ich tun kann …«
Vorlesungen. Die Organisation einer Gesellschaft
für Mars-Archäologie mit Dr. phil. Anthony Lattimer,
269
dem logischerweise der Vorsitz gebührt. Rang und
Ehren; der Respekt des Gelehrten und die Lobhudelei
des Laienpublikums. Stellungen mit eindrucksvollen
Titeln und Gehältern. Süß sind die Vorteile der Publi-
city. Martha drückte ihre Zigarette aus und stand auf.
»Nun, ich muß noch die endgültigen Listen von dem,
was wir in der Halvhulva – Biologieabteilung – gefun-
den haben, überprüfen. Morgen werde ich mit Somhuha
beginnen, und ich möchte dieses Material zur fachli-
chen Auswertung bereit haben.«
Das war es, wovon Tony Lattimer loskommen wollte,
die Detailarbeit und Plackerei. Soll die Infanterie sich
durch den Dreck schlagen; die hohen Offiziere ernten
die Medaillen.
Eine Woche später war sie mit dem fünften Stock
zur Hälfte fertig und nahm das Mittagessen im Lese-
saal im ersten Stock ein, als Hubert Penrose herüber-
kam und sich neben sie setzte, um sich zu erkundigen,
woran sie arbeitete. Sie sagte es ihm.
»Ich wüßte gern, ob du für ungefähr eine Stunde ein
paar Leute für mich auftreiben kannst«, setzte sie hinzu.
»Ein paar verrammelte Türen in der Zentralhalle sind
mir im Weg. Lesesaal und Bibliothek, falls die Anlage
dieses Stockwerkes wie die der unteren ist.«
»Ja. Ich selbst bin auch ein ganz anständiger Türen-
Knacker.« Er blickte im Raum umher. »Da wäre noch
Jeff Miles; er hat nicht besonders viel zu tun. Und zur
Abwechslung werden wir auch Sid Chamberlain etwas
Arbeit geben. Wir vier sollten deine Türen schon auf-
kriegen.« Er rief Chamberlain an, der gerade sein Ta-
blett zur Geschirrspülmaschine hinübertrug. »Sid, hast
du in der nächsten Stunde irgendwas zu tun?«
»Ich wollte zum vierten Stock ’rauf und schauen,
was Tony macht.«
270
»Laß das. Tony hat den Höchstpreis der Saison für
Marsianer eingesackt. Ich will Martha helfen, ein paar
Türen aufzubrechen; wahrscheinlich werden wir einen
ganzen Friedhof voller Marsianer finden.«
Chamberlain zuckte die Achseln. »Warum nicht.
Eine verrammelte Tür kann alles hinter sich bergen,
und ich weiß, was Tony macht – bloß Routinekram.«
Jeff Miles, der Raumflotten-Kapitän, kam in Beglei-
tung von jemand aus dem Laborteam vom Raumschiff,
der am Tag zuvor mit der Rakete heruntergekommen
war.
»Das sollte nach deinem Geschmack sein, Mort«,
sagte er zu seinem Begleiter. »Abteilung Chemie und
Physik. Willst mitkommen?«
Der Labormann, Mort Tranter, wollte. Der Sehens-
würdigkeiten wegen war er ja vom Raumschiff herun-
tergekommen. Sie trank ihren Kaffee aus, rauchte die
Zigarette zu Ende, und zusammen gingen sie hinaus
auf den Flur, nahmen die Gerätschaften auf und fuhren
mit dem Aufzug in den fünften Stock.
Die Tür zum Lesesaal lag am nächsten; sie wurde
zuerst in Angriff genommen. Mit geeignetem Gerät
und Hilfskräften war das kein Problem, und in zehn
Minuten hatten sie sie weit genug offen, um sich mit
den Scheinwerfern durchzuzwängen. Der Innenraum
war ganz leer und, wie die meisten Räume hinter ver-
schlossenen Türen, staubfrei. Die Studenten hatten au-
genscheinlich mit dem Rücken zur Tür, einem niedri-
gen Podium gegenüber gesessen, aber ihre Stühle, Pult
und Apparatur des Dozenten waren fortgeschafft wor-
den. An den beiden Längswänden befanden sich
Schrifttafeln: an der rechten ein Muster aus konzentri-
schen Kreisen, das sie als Diagramm der Atomstruktur
erkannte, und an der linken eine komplizierte Tabelle
271
von Zahlen und Wörtern in zwei Kolonnen. Tranter
zeigte auf das Diagramm zur Rechten.
»Jedenfalls sind sie bis zum Bohrschen Atommodell
vorgedrungen«, sagte er. »Hm, nicht ganz. Sie kannten
die Elektronenschalen, aber den Kern haben sie als
feste Masse dargestellt. Kein Hinweis auf die Proto-
nen- und Neutronenstruktur. Ich wette, wenn es dir
gelingt, ihre wissenschaftlichen Bücher zu übersetzen,
wirst du feststellen, daß sie gelehrt haben, das Atom
sei das letzte und unteilbare Teilchen. Das erklärt,
weshalb eure Leute nie einen Anhaltspunkt dafür ge-
funden haben, daß die Marsianer Atomenergie ver-
wendeten.«
»Das ist ein Uranatom«, bemerkte Captain Miles.
»Wirklich?« fragte Sid Chamberlain erregt. »Dann
haben sie die Atomenergie gekannt. Bloß weil wir kei-
nerlei Bilder von Atompilzen gefunden haben, bedeu-
tet das nicht …«
Sie drehte sich um, um die andere Wand zu betrach-
ten. Sid gab wieder einmal Signalreaktionen von sich:
Uran bedeutete für ihn Atomkraft, und die beiden Wör-
ter waren austauschbar. Während sie die Zusammen-
stellung der Zahlen und Wörter studierte, hörte sie
Tranter sagen: »Unsinn, Sid. Wir kannten das Uran
lange bevor irgend jemand entdeckt hatte, was man
damit machen kann. Das Uran wurde auf Terra 1789
von Klaproth entdeckt.«
Die Tabelle an der linken Wand hatte irgend etwas
Vertrautes an sich. Sie versuchte sich zu erinnern, was
man ihr in der Schule über Physik beigebracht und was
sie späterhin davon aufgeschnappt hatte. Die zweite
Kolonne war eine Fortsetzung der ersten: in jeder be-
fanden sich sechsundvierzig Positionen, jede Position
fortlaufend numeriert.
272
»Wahrscheinlich haben sie Uran genommen, weil es
das größte der natürlichen Atome ist«, sagte Penrose.
»Die Tatsache, daß darüber hinaus nichts da ist, zeigt,
daß sie keins der Transurane hergestellt haben. Ein
Student konnte an diese Tafel gehen und das äußere
Elektron jedes der zweiundneunzig Elemente zeigen.«
Zweiundneunzig! Das war es: auf der Tabelle an der
linken Wand befanden sich zweiundneunzig Positio-
nen! Wasserstoff war die Nummer Eins, wie sie wußte:
Eins, Sarfaldsom. Helium war zwei: das war Tirfald-
som. Sie konnte sich nicht erinnern, welches Element
als nächstes kam, aber auf Marsianisch hieß es Sar-
falddavas, Som mußte also »Stoff« oder »Substanz«
bedeuten. Und davas: sie versuchte, zu überlegen, was
es heißen könnte. Sie wandte sich rasch den anderen
zu, ergriff mit einer Hand Penroses Arm und schwenkte
in der anderen ihren Notizblock.
»Seht euch das an, hier drüben«, schrie sie erregt.
»Sagt mir, was es eurer Meinung nach ist. Könnte es
eine Tabelle der Elemente sein?«
Alle drehten sich um und guckten. Mort Tranter
starrte die Tabelle einen Augenblick an.
»Könnte sein. Wenn ich nur wüßte, was diese Kra-
kel bedeuten …« Richtig: er hatte die Zeit an Bord des
Raumschiffs zugebracht.
»Wenn du die Zahlen lesen konntest, würde das
weiterhelfen?« fragte sie und fing an, die arabischen
Ziffern und ihre marsianischen Entsprechungen hinzu-
schreiben. »Es ist das Dezimalsystem, dasselbe, das
wir benutzen.«
»Sicher. Wenn das eine Elemententafel ist, sind die
Zahlen alles, was ich brauche. Danke«, fügte er hinzu,
als sie das Blatt abriß, und es ihm gab.
Penrose kannte die Zahlen und war ihm voraus.
273
»Zweiundneunzig Positionen, fortlaufend numeriert.
Die erste Zahl wäre die Nummer des Atoms. Dann ein
einzelnes Wort, der Name des Elements. Dann das
Atomgewicht …«
Sie begann, die Namen der Elemente Vorzulesen.
»Ich kenne Wasserstoff und Helium; was ist tirfaldda-
vas, das dritte?«
»Lithium«, sagte Tranter. »Die Atomgewichte sind
hinter dem Komma nicht ganz ausgerechnet. Wasser-
stoff hat plus eins, falls dieses Doppelhakendingsda ein
Pluszeichen sein soll; Helium hat plus vier, das stimmt.
Und Lithium ist mit sieben angegeben, das stimmt
nicht. Es hat sechs Komma neun vier null. Oder ist
dieses Dings ein marsianisches Minuszeichen?«
»Natürlich! Sieh mal: ein Pluszeichen ist ein Haken,
um etwas aneinanderzuhängen, ein Minuszeichen ist
ein Messer, um etwas von etwas abzuschneiden –
siehst du, die kleine Schlaufe ist der Handgriff, und die
lange zugespitzte Schlaufe ist die Schneide. Stilisiert
natürlich, aber das ist es. Und das vierte Element, kira-
davas: was ist das?«
»Beryllium. Atomgewicht wird mit neun und einem
Haken angegeben; tatsächlich beträgt es neun Komma
null zwei.«
Sid Chamberlain war verstimmt, weil er keine Ge-
schichte über Marsianer, die Atomenergie entwickelt
hatten, zustande bekam. Er brauchte ein paar Minuten,
um die neueste Entwicklung zu begreifen, aber schließ-
lich dämmerte es ihm.
»Heh! Ihr lest es!« schrie er. »Ihr lest marsianisch!«
»Das stimmt«, antwortete Penrose. »Wir lesen es ein-
fach ab. Dennoch, ich verstehe die beiden Posten hinter
dem Atomgewicht nicht. Sie sehen aus wie Monate des
marsianischen Kalenders. Was müßte das sein, Mort?«
274
Tranter zögerte. »Nun, die nächste Information nach
dem Atomgewicht müßten die Perioden- und Grup-
pennummern sein. Aber das hier sind Wörter.«
»Welches wären die Zahlen für das erste Element,
Wasserstoff?«
»Erste Periode, Gruppe eins. Eine Elektronenschale,
ein Elektron auf der äußeren Schale«, antwortete ihr
Tranter. »Helium ist auch erste Periode, aber seine äu-
ßere – einzige – Elektronenschale ist voll, somit gehört
es zur Gruppe der chemisch inaktiven Elemente.«
»Trav, Trav. Trav ist der erste Monat des Jahres.
Und Helium ist Trav, Yenth: Yenth ist der achte Mo-
nat.«
»Die inaktiven Elemente könnten als Gruppe acht
bezeichnet werden, ja. Und das dritte Element, Li-
thium, ist zweite Periode, Gruppe eins. Stimmt das
überein?«
»Sicher tut es das. Sanv, Trav; Sanv ist der zweite
Monat. Welches ist das erste Element der dritten Peri-
ode?«
»Natrium, Nummer elf.«
»Das stimmt; es ist Krav, Trav. Klar, die Monats-
namen sind einfach ausgeschriebene Zahlen von eins
bis zehn.«
»Dotna ist der fünfte Monat. Das war dein erstes
marsianisches Wort, Martha«, sagte Penrose zu ihr.
»Das Wort für ›fünf‹. Und wenn davas das Wort für
›Metall‹ ist und somhulva ›Chemie‹ und/oder ›Physik‹
bedeutet, wette ich, daß Tadavas Somhulva wörtlich
als ›Stoffkunde der Metalle‹ zu übersetzen ist. Mit an-
deren Worten Metallurgie. Ich möchte wissen, was
Masthamarvod bedeutet.« Es überraschte sie, daß er
nach so langer Zeit und bei so viel Ereignissen in der
Zwischenzeit sich noch daran erinnern konnte. »Etwas
275
wie ›Zeitschrift‹ oder ›Rundschau‹ oder vielleicht
›Vierteljahresschrift‹.«
»Das werden wir auch noch herausbekommen«,
sagte sie zuversichtlich. Nach diesem schien nichts
unmöglich. »Vielleicht können wir herausfinden …«
Sie unterbrach sich kurz. »Du sagtest ›Vierteljahres-
schrift‹. Ich glaube, es hieß stattdessen ›Monatsschrift‹.
Es war auf einen bestimmten Monat datiert, den fünf-
ten. Und wenn nor zehn heißt, könnte Masthamorvod
›Jahrzehntel‹ bedeuten. Und ich wette, wir werden
feststellen, daß masthar das Wort für ›Jahr‹ ist.« Sie
betrachtete wieder die Tabelle an der Wand. »Nun, laßt
uns all diese Wörter aufschreiben, mit so viel Überset-
zungen, wie wir können.«
»Laß uns eine Minute Pause machen«, schlug Pen
rose vor und holte seine Zigaretten heraus. »Und dann
sehen wir uns alles in Ruhe an. Jeff, ich denke, du und
Sid, ihr geht über den Flur und seht nach, was ihr in dem
anderen Raum an Schreibtischen oder ähnlichem und
Stühlen findet. Das wird eine Menge Arbeit geben.«
Sid Chamberlain wandt sich, als werde er von
Ameisen heimgesucht und versuche, sich zu beherr-
schen. Jetzt legte er aufgeregt plappernd los.
»Das ist wirklich eine Sensation! Die Sensation,
nicht nur der Woche wie die Entdeckung der Staubecken
oder jener Statuen oder dieses Gebäudes oder selbst
der Tiere und der toten Marsianer! Wartet, wenn Tony
das sieht: ich möchte sein Gesicht sehen! Und wenn
ich das ins Fernsehen bringe, wird ganz Terra durch-
drehen!« Er wandte sich an Captain Miles. »Jeff, ich
denke, du wirfst einen Blick auf diese andere Tür,
während ich jemanden ausfindig mache, den ich zu
Selim und Tony schicken kann, um es ihnen zu erzäh-
len. Und Gloria; wartet, bis sie das gesehen hat …«
276
»Immer mit der Ruhe, Sid«, warnte Martha. »Du
solltest mich lieber einen Blick in dein Manuskript
werfen lassen, bevor du im Fernsehen zu weit gehst.
Das ist nur ein Anfang: es wird Jahre dauern, bevor wir
imstande sein werden, irgendeins von den Büchern da
unten zu lesen.«
»Es wird schneller gehen, als du denkst, Martha«,
entgegnete ihr Hubert Penrose. »Wir werden alle daran
arbeiten, und wir werden per Fernschreiben Material
nach Terra übermitteln, und dort werden Menschen
daran arbeiten. Wir werden ihnen alles schicken, was
wir ausarbeiten, und Kopien deiner Wortlisten …«
Und es würde weitere Tabellen geben – astronomi-
sche Tabellen, Tabellen zur Physik und Mechanik zum
Beispiel –, in denen Wörter und Zahlen einander ent-
sprachen. Die Bibliotheksmagazine unten würden voll
davon sein. Sie würden in die Orthographie des lateini-
schen Alphabets und arabische Ziffern übertragen, und
irgendwo würde jemand jede Zahlenbedeutung heraus-
finden, wie Hubert Penrose und Mort Tranter und sie
es mit der Tabelle der Elemente gemacht hatten. Und
alle Chemie-Lehrbücher in der Bibliothek heraussu-
chen: neue Wörter würden durch den Kontext, in dem
die Namen der Elemente auftauchten, Bedeutung an-
nehmen. Sie selbst würde anfangen müssen, Chemie
und Physik zu studieren.
Durch die Tür spähte Sachiko Koremitsu und trat
herein.
»Gibt es irgend etwas für mich zu tun …?« fing sie
an. »Was ist passiert? Etwas Wichtiges?«
»Wichtig?« explodierte Sid Chamberlain. »Sieh dir
das an, Sachi! Wir lesen es! Martha hat herausgefun-
den, wie man Marsianisch liest!« Er packte Captain
Miles am Arm. »Komm, Jeff, laß uns gehen. Ich will
277
die anderen rufen …« Er redete noch vor sich hin, als
er aus dem Raum eilte.
Sachiko musterte die Schrifttafel. »Ist das wahr?«
fragte sie, und dann, bevor Martha auch nur anfangen
konnte, es ihr zu erklären, schlang sie die Arme um sie.
»Oh, es ist wirklich wahr! Du kannst es lesen! Ich bin
so glücklich!«
Sie mußte von neuem anfangen, zu erklären, als Se-
lim von Ohlmhorst eintrat. Diesmal kam sie zu Ende.
»Aber, Martha, kannst du wirklich sicher sein? Du
weißt, daß es mir jetzt genauso wichtig ist wie dir, diese
Sprache zu lesen, aber wie kannst du sicher sein, daß
diese Wörter wirklich Dinge bedeuten wie Wasser-
stoff, Helium, Bor und Sauerstoff? Woher weißt du,
daß ihre Tabelle der Elemente unserer irgendwie ähn-
lich gewesen ist?«
Tranter und Penrose und Sachiko sahen ihn alle er-
staunt an.
»Das ist nicht bloß die marsianische Tabelle der
Elemente, das ist die Tabelle der Elemente. Es ist die
einzige, die existiert«, Mort Tranter explodierte beinahe.
»Schau, Wasserstoff hat ein Proton und ein Elektron.
Wenn mehr davon vorhanden wären, wäre es nicht
Wasserstoff, es wäre etwas anderes. Und ebenso bei
den übrigen Elementen. Und Wasserstoff auf dem
Mars ist derselbe wie der auf Terra, oder Alpha Cen-
tauri, oder in der nächsten Galaxis …«
»Man braucht nur diese Zahlen in dieser Reihen-
folge aufzuführen, und jeder Chemiestudent im ersten
Semester könnte sagen, welche Elemente sie repräsen-
tieren«, sagte Penrose. »Das heißt, er könnte es, wenn
er darauf bedacht ist, eine ausreichende Zensur zu be-
kommen.«
Der alte Mann lächelte und schüttelte bedächtig den
278
Kopf. »Ich fürchte, ich würde keine ausreichende Zen-
sur bekommen. Das wußte ich nicht, oder zumindest
nicht mehr. Ich werde dafür sorgen, daß auf der Schia-
parelli eine Reihe von Elementarbüchern für Chemie
und Physik mitgebracht werden, von der Sorte, wie sie
für ein aufgewecktes Kind von zehn oder zwölf Jahren
vorgesehen sind. Anscheinend muß ein Marsiologe
eine Menge Sachen lernen, von denen die Hethiter und
die Assyrer nie gehört haben.« Tony Lattimer hatte bei
seinem Eintritt den letzten Teil der Erläuterung mitbe-
kommen. Er blickte rasch auf die Wände, und als er
herausbekommen hatte, was soeben passiert war, ging
er zu Martha und ergriff ihre Hand.
»Du hast es tatsächlich geschafft, Martha! Du hast
dein zweisprachiges Werk gefunden! Ich hätte nie ge-
glaubt, daß es möglich wäre; laß mich dir gratulieren!«
Vermutlich dachte er, damit all die Sticheleien und
Verspottungen der Vergangenheit auszulöschen. Wenn
er das wollte, konnte er es so haben. Seine Freund-
schaft würde ihr so wenig bedeuten wie sein Gespött –
außer, daß seine Freunde ihren Rücken und sein Mes-
ser im Auge behalten mußten. Aber er würde auf der
Cyrano nach Hause zurückkehren, um ein hohes Tier
zu werden. Oder hatte seine Absicht sich dadurch wie-
der geändert?
»Das ist etwas, was wir der Welt vorweisen können,
um jeden Aufwand an Zeit und Geld für marsianische
Archäologie zu rechtfertigen. Wenn ich nach Terra
zurückkehre, werde ich dafür sorgen, daß man dir für
diese Leistung volle Anerkennung zuteil werden läßt …«
Auf Terra würden ihr Rücken und sein Messer ihrer
Wachsamkeit entzogen sein.
»So lange brauchen wir nicht zu warten«, antwortete
Penrose ihm trocken. »Ich werde morgen einen offizi-
279
ellen Bericht abschicken; du kannst sicher sein, daß Dr.
Dane volle Anerkennung zuteil wird, nicht nur für diese,
sondern auch für ihre vorangegangene Arbeit, die es
ermöglicht hat, diese Entdeckung auszuwerten.«
»Und du könntest hinzufügen, Arbeit, die trotz der
Zweifel und Entmutigung ihrer Kollegen geleistet
wurde«, sagte Selim von Ohlmhorst. »Woran ich, wie
ich zu meiner Scham gestehen muß, meinen Anteil
gehabt habe.«
»Du hast gesagt, wir müßten etwas Zweisprachiges
finden«, sagte sie. »Du hattest auch recht.«
»Das ist besser als etwas Zweisprachiges, Martha«,
sagte Hubert Penrose. »Die Naturwissenschaft ist Aus-
druck einer universellen Sprache. Bisher haben die
Archäologen nur mit vorwissenschaftlichen Kulturen
zu tun gehabt.«
280
Dean McLaughlin
Im Gewölbe der Ewigkeit
281
hatten, war allein schon ein erstklassiges Zeugnis für
die Sorgfalt der Erbauer.
Millar wanderte zwischen den verfallenen Türmen
umher, leuchtete mit der Taschenlampe die tiefen
Schatten aus; er fragte sich, wo die Arbeit beginnen
sollte. Die Stadt hatte hunderttausend Jahre gewartet –
eine Woche konnte sie noch warten, wahrend Pläne zur
systematischen Ausgrabung gefaßt wurden.
Archäologie war keine leichte Sache, weder daheim
noch hier – besonders hier. Erkläre eine große Kultur
aus einigen Fragmenten jahrtausendealten Töpferwerks
und zerbrochenem Werkzeug; studiere ein rostiges
Schwert und sage, warum es zuschlug, wo blieben seine
Besitzer? Schwierig genug mit der eigenen Rasse; aber
bei einer völlig anders gearteten Spezies, jetzt gänzlich
verschwunden, und auf einer fremden Welt – war das
zu schaffen?
So besichtigte Millar die Ruinen in einer seltsamen
Mischung von Gefühlen: Ahnungen, Neugier und Pes-
simismus.
Johnatan Millar hatte sich vorgenommen, die Wan-
derung durch die Ruinen allein zu unternehmen; das
Lager, die Mitarbeiter und Studenten zu verlassen, die
Stadt von Westen her zu betreten, nach Norden zu
durchschreiten und zum Lager um den Stadtrand zu-
rückzukehren.
Aus der Luft waren die Ruinen groß erschienen.
Nun, inmitten der umgestürzten Mauern und metalle-
nen Skelette, erkannte Millar ihre tatsächlichen Di-
mensionen. Vor Jahrtausenden, als die Stadt neu erbaut
wurde, mußten die Strukturen noch mächtiger gewesen
sein, und regelmäßiger. Damals hatte hier eine Stadt
gestanden; jetzt waren es Trümmer – Berge über Berge
von Schutt. Die Erbauer waren eine große Rasse gewe-
282
sen – mußten es gewesen sein, um so meisterhaft und
gut zu bauen. Nun war diese Rasse, verschwunden.
Warum? Und ihr Werk war zerfallen, als die Rasse
selbst starb.
»Das Böse lebt länger als die Menschen. Das Gute
wird oft begraben mit ihren Gebeinen.«
Nein, das war nicht recht. Aber was war richtig?
Welche Worte waren angebracht über dieses Denkmal
einer Rasse, die tot war, bevor der Mensch geboren
wurde? Nicht über das Böse. Diese Ruinen verlangten
Anerkennung; Nachruf und Lobrede zugleich.
Millar verließ die vorzeitliche Metropole durch die
Randgebiete aus flacheren Schutthügeln und gelangte
in die grüne Graslandschaft jenseits der Stadt. Die
Dunkelheit brach an – auf diesem fernen Himmelskör-
per waren die Tage kürzer als auf der Erde – und von
seinem jetzigen Standort aus war das Lager nicht zu
sehen, es wurde von einer sanften Bodenwelle ver-
deckt. Um sich zu orientieren, erklomm Millar einen
Hügel, der westlich von ihm lag, und, so vermutete er,
nördlich des Lagers.
Und so war es. Vom höchsten Punkt des Hügels aus
konnte er durch seinen Feldstecher das Lager schnell
ausfindig machen. Es befand sich fast genau dort, wo
er es vermutet hatte. Er beglückwünschte sich selbst,
während er den südlichen Hang hinabschritt.
Er näherte sich einer Öffnung am Sockel des Hü-
gels. Zuerst dachte er, sie sei natürlichen Ursprungs,
aber dann stellte er fest, daß ihre Umrisse zu gleich-
förmig waren. Er richtete den Strahl der Taschenlampe
in die Höhle. Das Licht drang tief in die Finsternis ein,
aber es stieß auf keine Wand, und der Lichtkegel der
Lampe blieb kreisrund. Dies Gewölbe hatte sich nicht
natürlich herausgebildet; es war erbaut worden.
283
Millar fühlte sich versucht, das Gewölbe sofort zu
erforschen, aber jede Vernunft sprach dagegen. Die
Tage waren zu kurz, und die Sonne, welche nicht die
heimatliche war, sank rasch hinter den Horizont. Er
mußte unbedingt schnell das Lager erreichen, wollte er
nicht Gefahr laufen, sich in der Dunkelheit zu verirren.
Seltsamen Gedanken nachhängend, setzte er den
Weg zum Lager fort.
»Ich würde sagen, es war die Evolution«, erklärte
einer der älteren Archäologen. »Die Dinosaurier evol-
tierten sich selbst vom Erdboden hinweg. Überspezia-
lisierung. Möglicherweise ist das ihnen auch gesche-
hen.«
Er hatte weißes Haar, aber war rüstig, und einen Al-
lerweltsnamen: Robert Smith. Seine Stimme klang
kräftig und überzeugender als es seine Person war.
Aber die Diskussion war eröffnet.
Das Licht des Lagerfeuers, obschon nicht sehr hell,
warf flackernde Flammenspeere und drohende Schat-
ten auf die Gesichter ringsum. Smith blickte von Mann
zu Mann, in Erwartung einer Antwort. Es war ein jun-
ger Student, Alfred Nieheimer, der sie aussprach.
»Sie haben etwas vergessen, Sir. Diese Rasse besaß
etwas, das den Sauriern fehlte. Sie besaßen Gehirne
und konnten denken. Die Ruinen sind der offensichtli-
che Beweis dafür. Ich glaube, sie starben aus, weil die
Evolution zum Stillstand kam.«
Smith grinste. Der Junge hatte wenigstens Einfalle.
Und er war lebhafter als seine erfahrenen Kollegen.
Nieheimer war beweglicher und tatendurstig.
»Na schön, junger Mann«, forderte Smith ihn auf.
»Erklären Sie uns das näher.«
Nieheimer streckte die Arme aus und zuckte die
Schultern. »Naja, Sie kennen doch das Gesetz der na-
284
türlichen Auslese – Überleben der Stärkeren. Nur die
stärksten Exemplare einer Rasse pflanzen sich fort.
Diese Stärksten haben die größte Chance zu überleben
und sich zu vermehren. Auf diese Weise werden nicht
lebensfähige rassische Eigenschaften beseitigt, und die
stärksten lebensfähigen Eigenschaften werden meist
der nächsten Generation vererbt. Aber diesem Gesetz
sind nur Tiere unterworfen. Menschen – und sie, was
immer sie waren –, sind nicht wie Tiere, weil sie einen
Verstand entwickelt haben. Aus ihrem Verstand ent-
wickelten sie zum Beispiel die Wissenschaft der Medi-
zin und erhalten dadurch auch die Schwachen; die
Kranken und Verkrüppelten, die also überleben und
ihre Eigenschaften weitergeben können. Das entspricht
einer hohen Ethik, aber es beeinträchtigt die Evolution.
Die schlechten Eigenschaften werden nicht ausge-
schieden, sondern beibehalten. Gelegentlich bestim-
men diese schlechten Eigenschaften die Entwicklung
einer Rasse. Deshalb verläuft die Evolution einer intel-
ligenten Rasse nicht konstant. Sie entwickelt sich, bis
die Zivilisation einen Stand erreicht hat, in der die
Medizin weitgehendst entfaltet wurde. Dann setzt die
Degeneration ein; die Zivilisation bricht zusammen
und die Rasse fällt in die Barbarei zurück. Und die
Evolution beginnt erneut. Die Rasse erblüht und
schließlich geht sie wieder nieder. Bei einer intelli-
genten Spezies ist die Evolution kein geradliniger
Marsch, kein ständiges Aufwärts und Vorwärts. Es ist
ein Zirkel, ein Kreis.«
Smith war erfreut. Diese Gedanken waren gut, aber
nicht fehlerfrei.
»Eine feine Erklärung, Mr. Nieheimer, aber da gibt
es einige Aspekte, die Sie vergessen haben.«
Er verstummte und lächelte in das primitive Lager-
285
feuer, das mehr zufriedenstellte als der kräftige Ofen,
der zur Ausrüstung gehörte. »Erstens haben Sie die
Möglichkeit einer Genetischen Kontrolle vergessen,
zweitens unterstellen Sie, daß ihre Ethik der unseren
gleichartig ist.«
Anscheinend hatte Nieheimer die anfängliche Be-
merkung seines Diskussionspartners mißverstanden,
denn er begann seine weitere Argumentation mit den
Worten: »Diese Punkte sprechen nicht für Ihre Theo-
rie. Genetische Kontrolle würde der Überspezialisie-
rung so gut vorbeugen wie der Degeneration, und was
die Ethik betrifft –« er hielt ein und versuchte zu for-
mulieren – »… unsere Ethik ist freundlicher als die der
Dinosaurier. Ein Volk, das eine Stadt wie diese zu
bauen vermochte, muß selbstverständlich eine ähnliche
Ethik wie wir besessen haben. Ein hoher Stand der Zi-
vilisation ist unmöglich ohne ein hohes Maß an Indivi-
dualität. Ein kurzer Rückblick zeigt die Resultate einer
niederen, barbarischen Ethik.«
So weit so gut. Smith versuchte eine neue Bresche
zu schlagen.
»Sie sagten, daß die Degeneration einmal stoppen
und die Evolution erneut einsetzen würde. Diese Rasse
aber, ich erinnere Sie, ist untergegangen.«
Wie ein zweitrangiger Schauspieler streckte er einen
Arm in Richtung der schweigenden Ruinen aus, die
nun in der Dunkelheit verborgen lagen, unter Sternbil-
dern, welche sich sehr von jenen unterschieden, die
man von der Erde aus sah.
»Das spricht nicht für Ihre Theorie«, wiederholte
Nieheimer. »Eine Kette von Evolution-Degeneration-
Kreisläufen endet über einen langen Zeitraum hin-
weg in einer rückläufigen Haupttendenz, wenn
schwächliche Charakteristika mehr richtungsbestim-
286
mend sind als die lebensfähigen Eigenschaften. Es
gibt nur einen richtigen Weg, und viele, sehr viele
falsche Wege.«
Smith runzelte die Stirn. Er spürte, daß da immer
noch Fehler waren, aber er konnte sie nicht sofort fin-
den. In die Runde gewandt, meinte er: »Das ist
schlüpfrige Logik, junger Mann. Ein paar Unterstel-
lungen zuviel. In fünf Jahren werden wir darauf zu-
rückkommen und sehen, wer recht hat – Sie, ich oder
jemand anders. Jedenfalls, ich denke, daß Unwissen-
heit bei diesem Untergang eine Rolle spielte, auf diese
oder jene Weise.«
Nieheimer lächelte zweideutig und ließ die Diskus-
sion fallen.
Wenig später senkte sich Stille über das Lager, als
seine Bewohner die Zelte aufsuchten, denn die Nächte
waren ebenso kurz wie die Tage. Und die Nacht war
dunkel, denn dieser Planet besaß, im Gegensatz zur
Erde, keinen Mond.
Am Morgen suchte Millar wieder die Höhle auf –
oder den Tunnel, wie er es nun nannte. Er hatte ge-
hofft, einer der Studenten, vielleicht Nieheimer, würde
ihn begleiten, aber seine Hoffnung entsprach nicht den
Notwendigkeiten, und ein Teil der Ausrüstung für das
Lager und für die Ausgrabungen war noch unterwegs.
Seine Kollegen würden nicht mitmachen, jeder ging
seinen eigenen Interessen nach.
Als er aufbrach, voll ausgerüstet für einen ganzen
Marschtag, munterte er sich mit einem Wahlspruch auf –
jenem Motto, das er, oder jemand anders, über seine
erste Ausgrabung gestellt hatte; ein Motto für Archäo-
logen, vor allem für die jungen Mitglieder einer Expe-
dition: »Wir tun der Geschichte schmutziges Werk.«
Aber das Motto war schnell vergessen, als er, während
287
er den Hügelkamm zwischen Höhle und Lager über-
querte, im Anblick der Ruinen verharrte.
Ihre Farbe war weiß – ein bleiches, kalkiges Weiß
wie von Gebeinen – doch hier und dort schimmerte es
rot, rosa, blau und purpurn durch, bildete ein sinnloses
Muster von Farbtupfern in dem Bild der Verwüstung.
Und plötzlich erkannte Millar, daß die Grundmauern
dieser fremdartigen Architektur zu Staub zerfallen sein
mußten, seit die Stadt verlassen wurde und die Men-
schen eintrafen. Das allein erklärte das Ausmaß der
Zerstörung, die keine Mauer hinterlassen und kein
Stockwerk erhalten hatte. Und er spürte auch die plötz-
liche Überzeugung, daß diese Stadt erbaut worden war,
allem und jedem zu widerstehen – außer jenem einen
Ereignis, das sie dann zerstört hatte. Diese Türme muß-
ten errichtet worden sein, den mächtigsten Erdstößen
zu trotzen; auch dem Sturm der Hurrikans, den Aus-
brüchen der Vulkane, allen Erschütterungen der Erde
und des Himmels; noch immer ragten die entblößten
Skelette der Bauwerke empor, geschüttelt von Zusam-
menbrüchen, aber gewaltig, fest und rostfrei unter dem
weiten Firmament.
Sie waren ein Volk von Architekten gewesen, und
sie hatten ihre Arbeit verstanden.
Millar war noch nachdenklich, als er den Tunnel er-
reichte: Wieviel Jahrtausende – oder Millionen Jahre –
mußte eine Stadt unbehütet bleiben, bevor der Boden,
auf dem sie stand, von den Elementen fortgeschwemmt
wurde? Er wußte es nicht, doch allein der Gedanke an
solche Zeiträume ließ ihn erschauern.
Der Hügel, der das Gewölbe verbarg, war mit ver-
witterten, bemoosten Schieferfelsen bedeckt, die Ab-
hänge mit flachen Bruchstücken übersät. Wie hoch, so
fragte sich Millar, war dieser Hügel in den Zeiten der
288
Stadt gewesen? Dann bemerkte er, daß einst, vor so
langer Zeit, auch auf diesen Hängen Ruinen geruht
hatten.
Der Tunneleingang war ringsum von einem dicken
schwarzen Material eingefaßt, das direkt mit dem Erd-
reich des Hügels verschmolz, als hätten beide sich über
Äonen hinweg miteinander ihren Weg durch den Bo-
den gefressen. Nach kurzer Untersuchung fand Millar,
daß dies in der Tat der Fall sein mußte. Die dicke
schwarze Fassung war an der Innenseite praktisch un-
zerstörbar. Die innere Fläche gab nicht nach, als Millar
eine Probe entnehmen wollte. Aber das Material zer-
bröckelte, als er die Außenseite berührte. Millar war
erstaunt, und er empfand Respekt vor den Erbauern
dieser Stadt. Sie hatten ihre Kunst gut beherrscht. Den
Tunneleingang, so schien es, hatten sie erfolgreich mit
der natürlichen Oberfläche des Hügels verbunden, über
ihren Untergang hinaus.
Wo sind jene großen Könige nun? dachte Millar.
Er löste die Taschenlampe vom Gürtel und betrat
den Tunnel. Er war sehr geräumig und vermochte ein
Personenfahrzeug ohne Schwierigkeiten aufzunehmen.
Der Durchmesser schien sich auch nicht zu verringern,
als Millar seinen Weg einwärts fortsetzte.
Als Millar mehrere hundert Meter zurückgelegt hatte,
versuchte er die Strecke abzuschätzen, und stellte fest,
daß der Tunnel einen rechtsseitigen Verlauf nach unten
nahm, wie eine weitgeschwungene Spirale. Als er sich
noch einmal umblickte, war der Eingang außer Sicht,
und kein Licht mehr bis auf das der Taschenlampe, in
dem er nur die gleichmäßigen schwarzen Wände sah.
Das Geräusch seiner Schritte verlor sich in der Tiefe,
eilte ihm voraus und warf ein Echo zurück. Auf einmal
fühlte Millar sich sehr, sehr einsam. Da war ein Hauch
289
von Zeit und Zeitlosigkeit, von Jugend und Alter, von
Vergangenheit und Gegenwart, und dazu erklangen
Echo um Echo seine Schritte, eine andauernde beharr-
liche Melodie wiederkehrender Töne.
Wie weit er ging, oder wie weit er dem Verlauf des
spiralenförmig in die Tiefe führenden Tunnels folgte,
vermochte er nicht zu sagen. Er traf auf keine Abzwei-
gungen, ein Umstand, der ihn erleichterte; in einem
ganzen Tunnelnetz hätte er sich auf dem Rückweg ver-
irren können. Einmal wurde das Licht der Taschen-
lampe trübe, und er mußte in der Dunkelheit die
schwachen Batterien austauschen, ehe er den Weg fort-
setzen konnte.
Schließlich, wie auch immer, kam er zu einem Ende.
Plötzlich versperrte eine Wand den Gang in seiner
ganzen Breite. In der Wand, deren größten Teil es ein-
nahm, befand sich ein quadratisches, massives Portal –
es war verschlossen. Aber seitlich an der Wand war ein
Rad, und darunter, mit ihm verzahnt, eine Reihe von
Hebeln. Millar erkannte, daß es sich um einen Öff-
nungsmechanismus handelte. Einer der Hebel fehlte; er
fand ihn zu seinen Füßen auf dem Boden liegen. Wäh-
rend er den Hebel an seinen Platz steckte, begann das
Rad sich zu drehen; zu seiner Überraschung bewegte
es sich mit einer für das offenbar vorhandene Gewicht
enormen Leichtigkeit.
War hier kein anderes Schloß notwendig gewesen,
als dieser einfache Mechanismus, oder handelte es sich
um einen Test?
Die Luft drang zischend in eine über dem Tor ent-
stehende Öffnung, als ob sich dahinter ein Vakuum
befände; wie sich später herausstellte, war dies der
Fall. Das Vakuum mußte große Ausdehnung besitzen,
denn Millar fühlte die Atmosphäre heftig eindringen
290
wie einen Wasserfall, und hörte das Röhren, mit dem
der Luftstrom den Tunnel herabschoß. Er setzte sich,
um sich zu entspannen, da er möglicherweise lange
warten mußte.
Seine Annahme erwies sich als richtig. Er hatte sei-
ne Verpflegung verzehrt und erneut die Batterien der
Taschenlampe ausgetauscht, ehe das Tor, nachdem der
Druckausgleich hergestellt war, sanft aufschwang. Auf
der anderen Seite fand er in kurzer Entfernung ein
zweites, gleichartiges Tor, ebenfalls geöffnet, und da-
hinter noch eine ganze Reihe solcher Tore.
Und hinter dieser Reihe von Portalen befand sich
ein großer Raum. Er war rechteckig und langgestreckt,
seine Ausmaße übertrafen die einer Bahnhofshalle.
Millar trat von einer der Langseiten ein; nur Sekunden
vergingen, und plötzlich war Licht da, dessen Quelle er
nicht entdecken konnte, aber der Raum wurde völlig
ausgeleuchtet. Er schaltete die Taschenlampe aus und
befestigte sie wieder am Gürtel. Dann begann er mit
der Untersuchung der Halle.
Der am meisten beeindruckende Gegenstand der
Halle befand sich am Fuß der gegenüberliegenden
Wand. Eine halbrunde Rinne war dort über die ganze
Länge der Wand verlegt und verschwand zu beiden
Seiten in Torbogen. Und in der Rinne ruhte, wie ein
Schiff im Dock oder wie eine Kugel im Pistolenlauf,
ein großes kapselartiges Objekt, dessen Durchmesser
ein wenig geringer war als der Durchmesser der Rinne,
aber gleich dem des Außentunnels. Die Kapsel bestand
aus einem Zylinder mit abgerundeten Polen. An einer
Stelle des Körpers, über die Hälfte einer Umdrehung,
gähnte eine Öffnung und gab den Blick auf das Innere
frei. Seine Taschenlampe in die Öffnung richtend,
konnte Millar nichts entdecken, was nach einer Steuer-
291
vorrichtung aussah, aber er war sicher, daß es sich um
ein Transportmittel handelte, vielleicht automatischer
Art. Doch die erstaunlichste Tatsache war, daß die
Kapsel die Rinne an keiner Stelle berührte. Zwischen
dem Fahrzeug und der Rinne lagen mehrere Fuß freien
Raums. Millar nahm an, daß dieser Effekt mit einem
Magnetfeld erreicht worden war, aber die genaue An-
wendung des Prinzips war ihm unklar.
Verwirrt ließ er seine Augen durch die Halle
schweifen. An der Wand hinter der Kapsel, in der gan-
zen Höhe und Länge, befand sich ein Bildnis. Er hatte
es schon vorher bemerkt, aber das ungewöhnliche Ve-
hikel hatte seine ganze Aufmerksamkeit zuerst bean-
sprucht. Erst jetzt betrachtete er das Bild.
Eine Stadt ruhte auf dem Hang eines verwitterten
Berges, eher ein großer Hügel als ein Berg, beides in
klaren Formen. Die Bauten der Stadt bewiesen archi-
tektonische Meisterschaft; ihre kühne Verschachtelung
und ihre farbenprächtigen steinernen Säulen ver-
schmolzen zu einer Komposition funktioneller und
ästhetischer Schönheit. Das, dachte Millar traurig, war
also jene Stadt, bevor die Zeit ihr Werk begonnen hat-
te.
Auf der linken Seite des Bildes, am höchsten Punkt
des Abhangs, war eine Stelle des Hügels als Aufriß
eingezeichnet, mit einer schwarzen Spirale darin, die
aussah wie eine auseinandergezogene Sprungfeder,
und im Innern des Erdbodens verschwand. Sie begann
tief unter der Oberfläche und endete in einem Raum,
der offenbar hinter der Wand mit dem Bild lag. Aus
der Abbildung entnahm Millar, daß die Rinne, in wel-
cher sich die Kapsel befand, in beide Richtungen nach
unten verlief. Dort, in nicht näher bestimmbarer Tiefe,
führte sie in ein anderes Gewölbe. Das ganze Unter-
292
grundnetz bestand aus einem Kreisverkehr zwischen
zwei Stationen in nur einer Richtung.
Ein anderer Gegenstand zog seine Aufmerksamkeit
auf sich. In die Wand neben dem Tor, durch das er
eingetreten war, fand er eine Anzahl von Zeichen ein-
graviert, die, leicht verständlich, Markierungen für die
Planetenjahre setzten. Diese Zeichen dienten zur Erklä-
rung der langen Reihe von Markierungen darunter.
Dicht bei dicht, in sieben horizontalen Spalten, bedeck-
ten die Markierungen die ganze Wand und setzten sich
weiter fort in einen Seitengang. Am Boden, nahe der
Wand, war eine Art Leiste angebracht, nicht unähnlich
der Fußleiste an einem Tresen. Millar stellte nach kur-
zer Untersuchung fest, daß die Leiste als Schiene für
eine Apparatur diente, welche die Markierungen setzte.
Diese Maschine befand sich nun in dem Seitengang,
offensichtlich dem weiteren Verlauf folgend, und zog
eine achte Spalte von Markierungen hinter sich.
Millar erschrak, als er die Bedeutung der erklären-
den Zeichen erkannte. Tausende Meter dichtgedrängter
Markierungen an der Wand, jede Markierung ver-
zeichnete ein Planetenjahr. Und jedes dieser Jahre war
doppelt so lang wie ein Erdenjahr.
Der Gedanke an diesen unermeßlichen Zeitraum er-
innerte Millar – es schien wie eine Ironie – an die Ge-
genwart, und ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß es
bereits Spätnachmittag war. Die weitere Erforschung
des Gewölbes, so entschied er, mußte verschoben wer-
den. Wesentlich wichtiger war, vor Einbruch der Dun-
kelheit wieder das Lager zu erreichen, und dazu
verblieb nicht mehr viel Zeit.
Obwohl er sich beeilte, ging die Dämmerung rasch
in Finsternis über, und bevor er das Lager erreichte,
blitzte schon ein fremder Abendstern am Himmel auf.
293
Und als er ausgestreckt unter seiner Wolldecke lag,
den fremden Himmel über sich, in Erwartung des
Schlafs, grübelte er für eine Weile den merkwürdigen
Winkelzügen des Schicksals nach. Hier hatte eine Ras-
se existiert, die, allem Anschein nach, mehr Größe ge-
habt hatte, als die Menschheit heute besaß. Aber im
Gegensatz zur Menschheit hatte sie nicht die Sterne
erreicht, und jetzt wühlten Menschen in den zerstörten
Meisterwerken jener langst vergangenen Rasse. Weich
eine Ungerechtigkeit des Schicksals!
Warum, so fragte er sich, hatten sie in der Raum-
fahrt versagt, trotz ihrer offensichtlich hochentwickel-
ten Wissenschaft und Technik? Und warum mußten sie
untergehen? Warum existierte die Menschheit, aber
jene Rasse nicht mehr?
Vielleicht war er der Antwort sehr nahe. Vielleicht
hatte Nieheimer ihn in der vorangegangenen Nacht
darauf gestoßen.
Endlich wurde er schläfrig, und er war auf einmal
froh, daß dieser Planet keinen Mond besaß, der in seine
himmelwärts gerichteten Augen hatte scheinen können.
Am frühen Morgen erwachte er und spürte kühlen
Regen auf dem Gesicht. Er räumte seine Decken zu-
sammen und schlug das Einmannzelt auf, wie er es
sofort hätte tun sollen. Dann schlief er wieder ein.
Ab der Tag anbrach, regnete es noch immer. Er war
fest entschlossen, den Tunnel dennoch erneut aufzusu-
chen. Aber weder allein noch zu Fuß.
Das Fahrzeug der Expedition, speziell für unbe-
kanntes schwieriges Gelände bei jedem Wetter geeig-
net, überwand die Hügelkette zwischen dem Lager und
dem Eingang zum unterirdischen Gewölbe unter hefti-
gem Schütteln und Stoßen. Nieheimer, der Student, saß
am Steuer, während Millar bemüht war, den in aller
294
Frühe eingenommenen Imbiß bei sich zu halten. Das
Fahrzeug mochte gewiß für rauhes Gelände gebaut
sein, aber sein Magen nicht.
»Warum haben Sie die anderen nicht mitgenom-
men? Sie hätten gewollt, glaube ich«, meinte Niehei-
mer, plötzlich das Steuerrad herumreißend, um einigen
großen Felsbrocken auszuweichen. Millar stürzte fast
vom Sitz, als die Maschine ins Schleudern geriet.
»Hat keinen Sinn«, antwortete er. »Es paßt nur eine
Person in die Kapsel. Ich gehe allein hinab.«
»Na, nun hören Sie mal. Ich dachte, ich könnte
mit.«
»Im Prinzip habe ich nichts dagegen, aber man kann
nie wissen, in welchem Zustand sich die unteren Ge-
wölbe befinden. Ein paar hunderttausend Jahre sind
nicht eben gestern.«
Sie erreichten den Tunnel. Es regnete immer noch,
und kleine Bäche wuschen den Rand des Eingangs frei.
Wasserrinnsale stürzten in die Höhle, und der Boden
saugte alles auf wie ein Schwamm. Ein Bächlein unter-
spülte die Schwelle, und ein großer Brocken Erdreich
rutschte vor den Augen der Männer den Hang hinab.
Nieheimer schaltete die Scheinwerfer an und lenkte
das Fahrzeug in den Tunnel. Das Prasseln des Regens
auf dem Dach verstummte. Die Wände warfen das
Brummen des Motors verstärkt zurück, aber dies Ge-
räusch war längst nicht so gespenstisch wie beim er-
sten Besuch das Echo von Millars Schritten. Schnell
brachten die Männer den Tunnel hinter sich.
Vor dem ersten Tor ließen sie das Fahrzeug stehen
und setzten den Weg zu Fuß fort. Insgesamt waren es
acht Tore. Jede der acht Schwellen war hüfthoch, sank
aber beiderseits bis in Fußhöhe ab. Den Weg mit den
Taschenlampen ausleuchtend, stiegen sie darüber hin-
295
weg. In der Halle dahinter leuchtete wieder das Licht
auf, als sie eintraten.
Millar ließ Nieheimer an dieser Stelle zurück.
»Fotografieren Sie diese Räumlichkeiten«, ordnete
er an, »und alle Einzelheiten, die Ihnen wesentlich er-
scheinen. Sie wissen, worum es geht. Wenn Sie fertig
sind, versuchen Sie festzustellen, wie alt das Gewölbe
ist.« Er deutete auf die dichten Reihen von Markierun-
gen an der Wand. »Falls ich eine Stunde vor Sonnen-
untergang noch nicht zurück sein sollte, gehen Sie zum
Lager und geben Nachricht. Verstanden?«
Nieheimer nickte. Er machte ein enttäuschtes Gesicht.
Millar stieg in die Kapsel. Er untersuchte das Innere
sorgfältiger als beim ersten Mal und leuchtete jeden
Winkel aus. Die Kapsel war innen gänzlich ausgepol-
stert; sonst gab es nichts zu sehen.
Möglicherweise war die Kapsel nur ein Behälter für
ein unterirdisches Versorgungsnetz und nicht zur Per-
sonenbeförderung bestimmt. Millar richtete sich auf
und wandte sich an Nieheimer, der neben der Rinne
stand. »Ich weiß nicht, wie man das Ding starten soll.
Ich finde keine Kontrollen.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, fiel die Öff-
nung der Kapsel zu, und Nieheimer verschwand aus
dem Blickfeld. Ein lautes Klicken war zu hören. Es
gab kein Licht in der Kapsel außer dem der Taschen-
lampe, und Millar war froh, daß er nicht zur Klaustro-
phobie neigte. Langsam setzte das Gefährt sich in Be-
wegung, jedoch in eine Richtung, die Millar nicht er-
wartet hatte. Er verlor das Gleichgewicht und fiel auf
die Polsterung.
Der Boden neigte sich, und er erkannte, daß die
Kapsel abwärts schoß. Millar kämpfte um das Gleich-
gewicht und tastete nach einem Halt. Es gab keinen.
296
Er kroch nach der anderen Seite und spürte, daß es
der obere Pol der Kapsel war. Abrupt ließ das Gefühl
des Fallens nach, und er plumpste gegen den unteren
Pol, wo das Polster sein Gewicht auffing. Dann kehrte
die Kapsel in die Horizontale zurück, und er rutschte in
die Mitte auf den Boden. Er bemerkte eine vorsichtige
Bremsung, und endlich kam die Kapsel zum Stillstand.
Die Luke öffnete sich wieder; Licht fiel herein. Millar
schaltete die Taschenlampe aus.
Er kletterte aus der Kapsel, was bei den abgerunde-
ten Außenseiten nicht einfach war. Der Raum, in den
das Gefährt ihn gebracht hatte, war klein, nur wenig
größer als die Kapsel selbst. Ein Torbogen führte von
hier aus in ein ungewisses Halbdunkel.
Millar folgte diesem Gang durch mehrere hundert
Meter Zwielicht, bis er eine Stelle erreichte, an der die
Beleuchtung sich wieder verstärkte; ein neues eindring-
liches Geräusch zerschnitt das Echo seiner Schritte. Er-
schrocken fuhr er herum und wandte sich der Ge-
räuschquelle zu – es kam aus der linken Wand.
Vor seinen Augen erschien eine dünne Linie, die
vom Boden bis unter die gewölbte Decke reichte, auf
der glatten Oberfläche. Die Linie verbreiterte sich zu
einer Nische, die Nische zu einer Öffnung, die Öffnung
zu einem Tor.
Zuerst war nicht viel zu erkennen; dann sah Millar
in einem schwachen, zentral von oben ausgehenden
Glühen ein gewaltiges, ungeheuerliches Standbild vor
sich. Die Formen waren lediglich animalischer Art,
aber Millar empfand sie als ebenso fremdartig wie
scheußlich. Sie waren widerwärtig; er wandte die Au-
gen ab.
Schließlich erkannte er, daß der Raum sehr groß
war, denn das Licht, das auf das Standbild fiel, ver-
297
mochte die Wände ringsum nicht mehr zu erhellen.
Zwischen dem Eingang und dem Standbild lagen lang-
gestreckte schwarze Schatten. Der Umfang des Stand-
bilds, so erkannte Millar, war noch weitaus größer als
er zunächst angenommen hatte.
Er musterte es erneut, und obschon seine häßliche
Fremdartigkeit ihn verunsicherte, schritt er darauf zu.
Während er sich näherte, dehnte sich der Lichtschein
über dem Standbild aus, so langsam, daß Millar den
Vorgang deutlich wahrnehmen konnte; ein Lichtkegel
kroch ihm entgegen und erreichte ihn, dehnte sich all-
mählich aus.
Es schien, als habe eine Stimme gerufen: Es werde
Licht!, und da war Licht, das den Raum jetzt bis unter
die Decke und nach allen vier Wänden erleuchtete. Der
Raum schien von allen Seiten zu erglühen, alle Schat-
ten waren verschwunden.
Und der Raum war riesig. Er war ungefähr tausend
Meter breit und über zweitausend Meter lang. Das
fremdartige Standbild erhob sich fast einhundert Me-
ter in die Höhe; darüber wölbte sich eine Decke, die
noch einmal etwa achthundert Meter höher liegen
mochte.
Die Gebilde auf dem Boden, welche zuerst nur
schattenhaft erkennbar gewesen waren, erwiesen sich
als Maschinen von merkwürdig fremder Form. Über
ihnen, wie ein Turm, wie ein Herrscher über seine
Sklaven, erhob sich das mächtige Abbild. Die Anord-
nung der Maschinen war übersichtlich und streng ge-
ordnet. An den Seitenwänden erkannte Millar zahlrei-
che Galerien, und in die Wände eingelassen, dichtge-
drängt, befanden sich schwere Metallschränke. Ihr
Zweck war klar: sie bewahrten das Wissen eines unter-
gegangenen Volkes.
298
Sie errichteten dies, dachte Millar, der seine Vermu-
tungen bestätigt sah, als ein Denkmal für ihre Rasse.
Und irgendwie, vielleicht unter dem Eindruck der
Entdeckung, sah er keine Anmaßung darin.
Die vierte hintere Wand, teilweise von dem Stand-
bild verdeckt, hatte keine Galerien. Statt dessen ent-
hielt sie eine Inschrift. Die Schriftzeichen waren fremd
und ungewöhnlich; nur einige hatte Millar schon in den
Ruinen der Stadt gesehen, die über diesem Gewölbe an
der Oberfläche lagen. Unbekannt geblieben war bisher
die Bedeutung der Zeichen.
Obwohl er die Inschrift nicht entziffern konnte, be-
absichtigte Millar, sich eine Vorstellung vom Umfang
des Textes zu machen. Er ging weiter, hinter das
Standbild. Aufmerksam blickte er sich um, aber er
vermied es, das Abbild nochmals anzuschauen.
Urplötzlich verlor er jedes Interesse an den Maschi-
nen. Ihm schien fast, als habe er einen Befehl ver-
nommen, und sein Blick fiel erneut auf die Inschrift.
Auf einmal besaßen die Schriftzeichen eine Bedeu-
tung für ihn, waren jetzt mehr als eine Anhäufung von
Symbolen, als wäre eine fremde Stimme in sein Be-
wußtsein gedrungen, die sich anschickte, den Text in
menschliche Begriffe zu fassen.
Telepathie – mit einer ausgestorbenen Rasse? Viel-
leicht mechanischer Natur. Oder erlag er einfach sei-
ner Phantasie? In diesem Augenblick waren solche
Umstände nicht wichtig, und Millar fragte nicht län-
ger danach. Sein Bewußtsein gab sich dem Strom er-
klärender Impulse hin, die von jenem Volk stammten,
das diese Halle erbaut und mit ihrem Erbe versehen
hatte, bewacht von ihrem Abbild, dem Hüter der
Schätze.
Millar verharrte, das Standbild im Rücken, und las.
299
Euch, die ihr durch eure Klugheit und euren For-
schergeist den Weg in diese Halle gefunden habt,
übereignen wir, als Vertreter unserer Rasse und unse-
rer Zivilisation, was ihr hier vorfindet. Weder wissen
wir, oh dieses Erbe für euch von Nutzen sein wird,
noch haben wir Kenntnis von eurer Art, eurer Rasse
oder eurer Persönlichkeit. Die Zukunft ist uns doppelt
verwehrt, und das Schicksal mag darüber entscheiden.
Aber die Rasse ist nicht bedeutsam für uns. Wenn
unser Volk noch existieren sollte, werden wir selbst
schon lange tot sein. Vielleicht war es Eitelkeit, die uns
bewegte, die Reste unserer Kultur hier in den Tiefen
der Erde zu konservieren. In gewissem Sinne, so geste-
hen wir, ist es so. Aber ebenso hegen wir die Hoffnung,
daß die Trümmer unserer sterbenden Zivilisation für
euch eine Lehre sein werden, auf daß die Zukunft euch
gehöre, vor der wir versagt haben.
Dies übergeben wir euch: unsere Geschichte, unsere
Künste und unsere Wissenschaft. Aber unsere Wissen-
schaft kann euch zu primitiv sein, und unsere Kunst
mag euch zu plump erscheinen oder geschmacklos.
Sollte dies zutreffen, so haben wir euch nichts zu hin-
terlassen als unsere Geschichte. Möge sie euch Wahr-
heiten vermitteln, die sie vor uns verbarg. Denn wir
sehen unsere Kultur zusammenbrechen, wie schon
frühere Kulturen unserer Rasse zerfielen. Die Ursa-
che ist unbekannt und der Grund nicht erkennbar.
Unsere Kultur geht dem Verderben entgegen; die
Kräfte der Jugend verlassen uns im Alter. Wir wissen
nicht warum. Und wahrhaftig, wußten wir den Pfad
der Rettung, schöner und größer würden wir unsere
Zivilisation erbauen, statt dieses Monument zu errich-
ten. Möge euch Erfolg beschieden sein, worin wir
fehlgingen.
300
Und solltet ihr das Wissen bereits besitzen, welches
wir nicht zu erlangen vermochten, so versteht diese
Hallen als hilflose und leere Geste einer Kultur, die
den Anforderungen des Schicksals nicht genügte.
Seid ihr auch nicht Fleisch von unserem Fleisch, so
seid ihr doch lebendige Wesen und verdient daher un-
seren Respekt. Laßt uns auch der Ehre eures Respekts
teilhaftig werden.
Unser Erbe, reichte es uns auch zu diesem Zwecke
nicht, soll euch eine Hilfe im Kampf ums Überleben
sein. Vielleicht gibt uns nur die Eitelkeit diesen Ge-
danken ein, aber das schmälert nicht die Aufrichtigkeit
dieser unserer Hoffnung. Und laßt es ebenso Anma-
ßung sein, so glauben wir doch, daß keine Kultur,
keine Rasse vollständig versagt hat, wenn an sie eine
Erinnerung bleibt.
Die Halle war so ausgedehnt, daß seine Schritte kein
Geräusch hinterließen, als Millar sich abwandte und
ging; von dem gewaltigen Standbild fort, das er nicht
länger als häßlich empfand, sondern als ein Monument
von Würde und Größe; vorbei an den langen Reihen
schweigender Maschinen, vorbei auch an den Türen,
hinter denen die Aufzeichnungen einer toten Rasse
ruhten, ein Paradies für Enzyklopädisten.
Hinter dem Tor verharrte er wie auf einen unhör-
baren Ruf, drehte sich um und musterte noch einmal
das prächtige Abbild eines Wesens, das nicht
menschlich war. Während er so stand, verglomm das
Licht und ließ Schatten und Dunkelheit zurück.
Langsam erlosch es, bis nur die hintere Wand noch
beleuchtet war. Wie ein Planet auf seiner Bahn, er-
hob sich davor als majestätischer Schatten das
Standbild, ein schwarzer Koloß über der eingemei-
ßelten Inschrift.
301
Sie kannten den eigenen Verstand nicht so gut wie
wir den unseren, dachte Millar.
Vor seinen Augen schloß sich die Pforte.
Nieheimer erwartete ihn bereits, als er die obere
Halle erreichte. Der Student half ihm mit kräftigen
Armen aus der Kapsel. Nebenbei bemerkte Millar, daß
die Kapsel ihre schwebende Position nicht veränderte,
als sein Gewicht daraus verschwand; möglicherweise
blieb der Abstand zwischen Gefährt und Rinne immer
konstant.
»Haben Sie etwas gefunden?« erkundigte sich Nie-
heimer. Seine Stimme war so hintergründig sachlich,
daß er innerlich bestimmt vor Ungeduld schäumte.
Millar antwortete seufzend.
»Ich habe gelernt, weshalb wir hier sind und sie
nicht«, sagte er, und versuchte die Gedanken, die in
seinem Kopf umherwirbelten, in Worte zu kleiden.
»Erfolg setzt für eine intelligente Rasse immer eine
Herausforderung voraus, oder, wenn diese fehlt, ein
Selbstverständnis. Wir verfügen über beides: wir haben
die Sterne erreicht, und wir stellen uns Aufgaben. Diese
hier, sie hatten keinen Mond, der sie verlockte, wie er
unsere Vorfahren anzog, und so reisten sie nie zu den
Sternen. Ihre hohe Zivilisation hatte kein Ziel mehr.
Und sie besaßen nie die Einsicht und die Kenntnisse,
es trotzdem zu wagen. Deshalb mußten sie abtreten
von dieser Welt.«
Dann fügte er hinzu: »Wie alt ist dieser Ort?«
»Ich konnte es nicht herausfinden«, berichtete Nie-
heimer. »Die Maschine hat ihre Tätigkeit eingestellt.«
»Eingestellt?«
»Ja. Sie ist unbeschädigt und verfügt über jede
Menge Energie. Sie hat ganz einfach –«er zuckte die
Schultern »– aufgehört zu arbeiten.«
302
»Warum? Konnten Sie das feststellen?«
»Nun, Sie wissen ja, wie eine Atomuhr funktioniert.
Man isoliert Radium in einem Behälter und mißt den
Zeitablauf am Schwund der Radioaktivität. Mathema-
tisch gesehen, verschwindet die Radioaktivität niemals
ganz. Auf genau diese Weise maß und verzeichnete die
Maschine den Zeitablauf. Das hier ist übrig geblie-
ben.«
Und er zeigte einen kleinen mattgrauen Barren vor:
es war pures Blei.
Sie hatten ihr Monument errichtet, auf daß es alle
Zeit überdauern solle. Darin, zuletzt, waren sie erfolg-
reich gewesen.
303
Charles W. Ward und Timothy J. O’Leary
Eine Voruntersuchung einer frühmenschlichen
Siedlung im Delawaretal
304
Die Fundstelle (siehe Anmerkung oben)
305
Zeigefinger in interessanten Objekten herumzusto-
chern, die stellenweise durch frische Regenfalle vom
Schmutz saubergewaschen waren (zukünftigen For-
schern sei nahegelegt, sich gegen die Zerstörungswut
der offenkundig giftigen Fauna und Flora der Fundstelle,
die eine gründliche Forschung unmöglich machte, ent-
sprechend zu schützen). Gelegentlich wurden Bespre-
chungen abgehalten, um zweifelhafte Funde zu disku-
tieren. Die meisten davon wurden schließlich wegge-
worfen.
Ausgrabung
306
Stein-Artefakte
Projektilspitzen
Gefundene Anzahl: 1
Zustand: Gut
Typ: Scharfkantig
Material: Jaspis
Fundort: Flußabwärts liegende Ecke der Fundstelle
Schaber
Unterschiedliche Steinsplitter
Gefundene Anzahl: 40
Zustand: Einwandfrei bis gut
Typ: Unterschiedlich
Material: Schwarzer Feuerstein (23); Grauer Feuer-
stein (5); gelber Jaspis (9); roter Jaspis (3); wei-
ßer Kieselgur (1); roter Kieselgur (1)
Fundort: Über den ganzen Platz verstreut
307
Knochen-Artefakte
308
daraus zu machen. Dies ist ungeheuer interessant, da
es, soviel die Forscher wissen, keinen anderen Beleg
dafür gibt, daß die Indianer solche Gegenstände vor
dem Kontakt mit Europäern hergestellt haben.
309
Diskussion der Projektilspitze
310
ältesten bis heute entdeckten, im östlichen Teil der
Vereinigten Staaten ist. Selbstverständlich ist der Juni-
or-Autor bereit zuzugeben, daß die zeitliche Bestim-
mung des Klimatischen Optimums leicht fehlerhaft
sein kann, aber das tut der Wichtigkeit der Entdeckung
als Ganzem keinen Abbruch. Um jedoch Vorsicht wal-
ten zu lassen, möchten wir sagen, daß die Altersbe-
stimmung der Fundstelle nur eine provisorische ist.
311
Keramikgegenstände
Behausungen
312
Ergebnisse
313
die Leute der Fundstelle Nachkommen einer vorprimi-
tiven Rasse, die in Nordost-Nordamerika existierte und
später von der Zange der Irokesen- und Algonkin-
expansion eingeschlossen wurde, oder sie waren ein
fremdes Volk (Thule? Dorset?), das aus seiner Heimat
wegzog und nicht mehr zurückfand. Jedoch bleibt die
Theorie vom ›isolierten Volk‹ allen Fragen offen, und
die Forscher wollen sich keinesfalls auf sie versteifen.
Sie neigen eher zu der Theorie der ›Wanderer aus dem
Norden‹, und falls irgendwelche Specksteinlampen
entdeckt worden wären, hätten sie sich pauschal hinter
diese Hypothese gestellt.
314
ligen Irokesen und Algonkins vernichtet wurden (wir
müssen hier eine Neutralität ausschließen).
(Die Forscher möchten klarstellen, daß diese Ergeb-
nisse nur provisorischer Natur sind, und sie geben zu,
daß intensivere Forschungen – vielleicht die Arbeit
eines ganzen Tages – Material an den Tag bringen
könnte, das allem widerspricht. Dieser Abschnitt wurde
eingefügt, um eine Art Vorbereitung für einen geord-
neten Rückzug, im Falle eines Angriffs gegen uns, zu
treffen.)
Bibliographie
315
Lokale Sitten
316
Horace M. Miner
Das Körperritual der Renakirema
317
über den Pa-To-Mac Fluß und fällte einen Kirsch-
baum, in dem der Geist der Wahrheit residierte.
Die Renakirema-Kultur wird durch eine hochent-
wickelte Marktwirtschaft charakterisiert, die sich in
reicher natürlicher Umgebung entwickelt hat. Während
die meiste Zeit der Menschen wirtschaftlichen Zwecken
gewidmet wird, werden große Teile der Früchte dieser
Mühen und ein beträchtlicher Anteil des Tages ritueller
Aktivität geopfert. Das Zentrum dieser Aktivität bildet
der menschliche Körper, dessen Äußeres und dessen
Wohlergehen als ein dominierendes Anliegen die Ge-
sinnung dieses Volkes durchdringt. Wenn ein solches
Anliegen auch sicher nicht ungewöhnlich ist, so sind
seine zeremoniellen Aspekte und die damit verbundene
Philosophie doch einzigartig.
Der dem ganzen System zugrundeliegende funda-
mentale Glaube scheint zu sein, daß der menschliche
Körper häßlich ist, und seine natürlichen Tendenzen
auf Schwäche und Krankheit abzielen. Eingekerkert in
einen solchen Körper ist es des Menschen einzige
Hoffnung, diese Charakteristika durch den Gebrauch
des machtvollen Einflusses von Ritual und Zeremonie
abzuwehren. Jeder Haushalt verfügt über einen oder
mehrere Schreine, die diesem Zweck geweiht sind. Die
machtvolleren Individuen dieser Gesellschaft haben
mehrere Schreine in ihren Häusern, und tatsächlich
wird der Wohlstand eines Hauses oft an der Anzahl der
Kultstätten, die es besitzt, gemessen. Die meisten Häu-
ser sind von einer Flechtwerk- und Lehmkonstruktion,
aber die Schrein-Räume sind bei den Wohlhabenderen
mit Steinen ummauert. Ärmere Familien imitieren die
Reichen, indem sie tönerne Platten an ihren Schrein-
wänden anbringen.
Obwohl jede Familie über mindestens einen solchen
318
Schrein verfügt, sind die damit verbundenen Riten kei-
ne Familien-Zeremonien sondern persönlich und ge-
heim. Die Riten werden in der Regel nur mit Kindern
besprochen, und dann auch nur während der Periode,
in der diese in die Mysterien eingeführt werden. Ich
war dennoch in der Lage eine ausreichende Beziehung
zu den Eingeborenen herzustellen um diese Schreine
untersuchen zu können, und mir die Riten beschreiben
zu lassen.
Den Brennpunkt des Schreins bildet eine Kiste oder
Truhe, die in die Wand eingebaut ist. In dieser Truhe
werden viele Amulette und Elixiere aufbewahrt, ohne
die kein Eingeborener leben zu können glaubt. Diese
Präparate werden von einer Vielfalt spezialisierter
Fachleute erstellt. Von diesen sind die Medizinmänner
die mächtigsten, deren Beistand durch beträchtliche
Gaben belohnt werden muß. Die Medizinmänner stel-
len jedoch die heilenden Elixiere für ihre Kunden nicht
zur Verfügung, sondern beschließen, was die Zutaten
sein sollen, und schreiben sie in einer altertümlichen
und geheimen Sprache nieder. Die Schrift wird nur von
den Medizinmännern verstanden und von den Gräser-
kundigen, die, für eine weitere Gabe, das gewünschte
Zaubermittel beschaffen.
Das Zaubermittel wird nicht beseitigt, nachdem es
seinem Zweck gedient hat, sondern es wird in dem
Zaubermittelkasten im Haushaltsschrein untergebracht.
Da diese zauberkräftigen Stoffe speziell auf bestimmte
Krankheiten abgestimmt sind, und es gibt zahllose
wirkliche oder eingebildete Krankheiten bei diesen
Leuten, ist die Zaubertruhe gewöhnlich bis zum Ber-
sten voll. Die zauberkräftigen Päckchen sind so zahl-
reich, daß die Leute vergessen, was ihre Bestimmung
war, und sich fürchten, sie wieder zu gebrauchen. Die
319
Eingeborenen sind in dieser Sache sehr unsicher, des-
halb können wir nur vermuten, daß die Absicht, die
dieser Aufbewahrung all der alten zauberkräftigen
Wirkstoffe zugrundeliegt, die Annahme ist, daß ihre
Anwesenheit in dem Zauberkasten, vor dem die Kör-
perrituale vollzogen werden, auf irgendeine Art den
Gläubigen beschützen wird.
Unterhalb der Zauberkiste befindet sich ein kleines
Becken. An jedem Tag betritt in einer Folge jedes Mit-
glied der Familie den Schreinraum, beugt seinen Kopf
vor dem Zauberkasten, vermischt verschiedene Arten
heiligen Wassers in dem Becken und vollführt einen
kurzen Waschritus. Die heiligen Wasser entströmen
dem Wassertempel der Gemeinschaft, in dem Priester
ausgearbeitete Zeremonien leiten, um die Flüssigkeit
rituell rein zu machen. In der Hierarchie der zaubertä-
tigen Fachleute finden sich, im Ansehen unterhalb der
Medizinmänner, Spezialisten, deren Bestimmung am
besten mit »Heilige Männer des Mundes« übersetzt
wird. Schrecken und Faszination über den Mund sind
bei den Renakirema fast pathologisch; man glaubt, daß
sein Zustand einen fast übernatürlichen Einfluß auf alle
sozialen Beziehungen habe. Wenn es die Mundriten
nicht gäbe, so glauben sie, würden ihre Zähne ausfal-
len, ihr Zahnfleisch bluten, ihre Kiefer schrumpfen,
würden ihre Freunde sie verlassen und ihre Liebhaber
sie zurückweisen. Sie glauben auch, daß eine enge
Verwandtschaft zwischen moralischen und oralen
Kennzeichen besteht. Zum Beispiel gibt es eine rituelle
Mundwaschung bei Kindern, die ihr moralisches We-
sen starken soll. Das tägliche Körperritual, das von
jedermann vollzogen wird, schließt einen Mundritus
ein. Trotz der Tatsache, daß dieses Volk in der Sorge
um den Mund so förmlich ist, schließt dieser Ritus ei-
320
nen Vorgang ein, der den uneingeführten Fremden als
ekelerregend abstößt. Mir wurde berichtet, der Ritus
bestehe darin, daß man ein kleines Büschel Schweine-
borsten in den Mund einführt, dazu einige zauberkräf-
tige Pulver, und das Büschel dann in einer Serie äu-
ßerst formeller Gesten bewegt.
Zusätzlich zu diesem persönlichen Mundritus su-
chen die Leute ein- oder zweimal im Jahr einen heili-
gen Mann des Mundes auf. Diese Fachleute besitzen
eine eindrucksvolle Ausrüstung, die aus einer Vielzahl
von Bohrern, Sonden und Stachelstöcken besteht. Der
Gebrauch dieser Instrumente bei der Austreibung der
Übel des Mundes schließt eine fast unglaubliche rituelle
Folter des Patienten ein. Der Heilige des Mundes öff-
net den Mund des Patienten und vergrößert, die oben-
genannten Werkzeuge gebrauchend, alle Löcher, die
die Fäulnis in den Zähnen verursacht haben mag. Zau-
bermaterialien werden in diese Löcher gestopft. Wenn
keine natürlich entstandenen Löcher in dem Zahn sind,
werden große Teile eines oder mehrerer Zähne ausge-
höhlt, damit die übernatürliche Substanz eingefüllt
werden kann. Aus der Sicht des Patienten ist der Sinn
dieser Hilfsmaßnahmen, die Fäulnis aufzuhalten und
Freunde anzuziehen. Der äußerst geheiligte und tradi-
tionelle Charakter des Ritus wird durch die Tatsache
deutlich, daß die Eingeborenen Jahr für Jahr zu dem
heiligen Mann des Mundes zurückkehren trotz der Tat-
sache, daß ihre Zähne zu verfaulen fortfahren.
Es ist zu hoffen, daß nach einem gründlichen Studi-
um der Renakirema, eine sorgfältige Untersuchung der
Personalstruktur dieser Menschen angestellt wird. Man
braucht nur den Glanz im Auge eines Mundheiligen zu
beobachten, während dieser eine Ahle in einen freige-
legten Nerv stößt, um zu vermuten, daß dabei ein ge-
321
wisser Anteil Sadismus eine Rolle spielt. Wenn dies
festgestellt werden kann, entsteht ein interessantes
Bild, denn der größte Anteil der Bevölkerung zeigt
eindeutig masochistische Tendenzen. Auf diese bezog
sich Professor Linton, als er einen speziellen Teil des
Körperrituals besprach, dem sich nur Männer unter-
werfen. Dieser Teil schließt das Abschaben und Zer-
fleischen der Oberfläche des Gesichtes unter Verwen-
dung eines scharfen Instrumentes ein. Spezielle Frau-
enriten werden nur viermal während jedes Kalender-
monats vollzogen, aber was ihnen an Häufigkeit fehlt,
gleichen sie durch Barbarei wieder aus. Bei einem Teil
dieser Zeremonie backen die Frauen ihre Köpfe in
kleinen Öfen, etwa eine Stunde lang. Ein interessanter
Gesichtspunkt ist es, daß eine Gesellschaft die über-
wiegend masochistisch scheint, sadistische Fachleute
herausgebildet hat.
Die Medizinmänner haben einen imposanten Tem-
pel, ein Latipsoh, in allen Gemeinden jeder Größe. Die
höher entwickelten Zeremonien, die zur Behandlung
sehr kranker Patienten nötig sind, können nur in die-
sem Tempel vollführt werden. Diese Zeremonien
schließen nicht nur den Thaumaturgen (Wundertäter)
ein, sondern auch eine dauernd anwesende Gruppe ve-
stalischer Jungfrauen, die sich mit Kopfschmuck und
besonderem Kostüm feierlich durch die Tempelkam-
mern bewegen.
Die Latipsoh-Zeremonien sind so rauh, daß es er-
staunlich ist, daß ein guter Teil der wirklich kranken
Eingeborenen, die den Tempel betreten, sich je wieder
erholt. Kleine Kinder, deren Einführung noch unvoll-
ständig ist, sind dafür bekannt geworden, daß sie sich
Versuchen, sie in den Tempel zu schaffen, widersetz-
ten, denn: »Da geht man doch zum Sterben hin!« Trotz
322
dieser Tatsache sind Erwachsene nicht nur bereit son-
dern begierig, sich der ausgedehnten rituellen Reini-
gung zu unterwerfen, wenn sie es sich leisten können.
Wie krank der Bittsteller, oder wie ernst der Notfall
auch immer sein mag, die Wächter vieler Tempel las-
sen keinen Patienten ein, der dem Aufseher keine rei-
che Gabe darbringen kann. Selbst wenn man Zutritt
erlangt hat, und die Zeremonien überlebt hat, lassen die
Wächter den Neubekehrten nicht ziehen, bevor er eine
weitere Gabe entrichtet hat.
Bittsteller, die den Tempel betreten, werden zuerst
völlig entkleidet. Im Alltagsleben vermeidet der Rena-
kirema die Enthüllung seines Körpers und dessen na-
türliche Funktionen. Das Bad und die Ausscheidungs-
akte des Körpers werden in der Abgeschiedenheit des
Haushaltsschreins vollzogen, wo sie als ein Teil des
Körperritus ritualisiert sind. Ein psychischer Schock
entspringt der Tatsache, daß die Verborgenheit des
Körpers mit dem Eintritt in das Latipsoh plötzlich ver-
loren geht. Ein Mann, dessen eigene Frau ihn niemals
bei einem Ausscheidungsakt gesehen hat, findet sich
plötzlich nackt und mit Unterstützung durch eine ve-
stalische Jungfrau beim Vollzug seiner natürlichen
Funktionen in ein geheiligtes Gefäß. Diese Art zere-
monielle Behandlung wird durch die Tatsache notwen-
dig, daß die Ausscheidungen von einem Wahrsager
benutzt werden, um Verlauf und Art der Krankheit des
Patienten zu bestimmen. Auf der anderen Seite stellen
weibliche Patienten fest, daß ihre nackten Körper den
prüfenden Blicken, den Manipulationen und Betastun-
gen der Medizinmänner unterworfen sind.
Wenigen Bittstellern geht es gut genug, daß sie et-
was anderes tun könnten, als auf ihren harten Betten zu
liegen. Die täglichen Zeremonien schließen, wie die
323
Riten der heiligen Männer des Mundes, Unbequem-
lichkeiten und Folterungen ein. Mit ritueller Präzision
wecken die Vestalinnen ihre unglückseligen Schützlin-
ge zur Morgendämmerung auf und rollen sie auf ihren
Leidensstätten hin und her, während sie Waschungen
vornehmen, in jenen formellen Bewegungen, in denen
sie besonders geschult sind. Zu anderen Zeiten führen
sie Zauberstäbe in den Mund des Bittstellers ein, oder
zwingen ihn Substanzen zu essen, denen man Heilkraft
zuschreibt. Von Zeit zu Zeit kommen die Medizin-
männer zu ihren Patienten und stoßen ihnen magisch
behandelte Nadeln ins Fleisch. Die Tatsache, daß diese
Zeremonien den Neubekehrten auch nicht heilen und
eventuell töten können, verringert in keiner Weise den
Glauben der Leute an die Medizinmänner.
Es bleibt noch eine Art Spezialist übrig, dieser ist
bekannt als der »Zuhörer«. Dieser Zauberdoktor hat
die Macht, die Teufel auszutreiben, die sich in den
Köpfen der Menschen aufhalten, die verhext worden
sind. Die Renakirema glauben, daß Eltern ihre eigenen
Kinder verhexen. Mütter werden insbesondere verdäch-
tigt, einen Fluch über die Kinder zu breiten, während sie
sie die geheimen Körperrituale lehren. Der Gegenzauber
des Hexendoktors ist ungewöhnlich in seinem Mangel
an Ritual. Der Patient erzählt dem »Zuhörer« einfach
alle seine Sorgen und Ängste, wobei er mit den frühe-
sten Schwierigkeiten beginnt, an die er sich erinnert.
Das von den Renakirema bei diesen Austreibungs-
Sitzungen entwickelte Erinnerungsvermögen ist wahr-
haft bemerkenswert. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn
ein Patient die Zurückweisung beklagt, die er als Baby
bei der Entwöhnung spürte, und ein paar Individuen
erkennen, daß ihre Leiden auf traumatische Nachwir-
kungen ihrer eigenen Geburt zurückzuführen sind.
324
Zum Abschluß müssen gewisse Praktiken Erwäh-
nung finden, die ihren Ursprung in der Ästhetik der
Eingeborenen haben, die aber von der beherrschenden
Abneigung gegen den natürlichen Körper und seine
Funktionen abhängen. Es gibt rituelle Fastenperioden,
die fette Leute dünn machen sollen und zeremonielle
Feste, die dünne Leute fett machen sollen. Wieder an-
dere Riten dienen dazu, die Brüste der Frauen größer
zu machen, wenn sie klein sind, und kleiner, wenn sie
groß sind. Generelle Unzufriedenheit mit der Brust-
form symbolisiert sich in der Tatsache, daß die ideale
Form praktisch außerhalb der Reichweite menschlicher
Variationsbreite liegt. Ein paar Frauen, die mit einer
fast ultramatrimonischen Entwicklung ausgestattet
sind, sind soweit idolisiert, daß sie sich einen ordentli-
chen Lebensunterhalt verdienen, indem sie einfach von
Dorf zu Dorf ziehen und den Eingeborenen für ein
Handgeld erlauben, sie anzustarren.
Berücksichtigt wurde bereits die Tatsache, daß Aus-
scheidungshandlungen ritualisiert, routinisiert und in
die Heimlichkeit verbannt sind. Natürliche Fortpflan-
zungsprozesse sind ähnlich verzerrt. Geschlechtsver-
kehr ist als Gesprächsthema tabu, und als Handlung
schematisiert. Es werden Anstrengungen unternom-
men, die Schwangerschaft zu vermeiden, entweder
durch magische Mittel, oder durch Begrenzung des
Geschlechtsverkehrs auf bestimmte Mondphasen.
Empfängnis ist zur Zeit sehr selten. Wenn sie schwan-
ger sind kleiden die Frauen sich so, als ob sie ihren
Zustand verbergen wollten. Die Niederkunft findet im
geheimen statt, ohne den Beistand von Freunden und
Verwandten; und die Mehrzahl der Frauen stillt ihre
Kleinkinder nicht.
Unser Überblick über die Renakirema hat sie gewiß
325
als ein magiebesessenes Volk gezeigt. Es ist schwer zu
verstehen, wie sie es geschafft haben, unter dieser Bür-
de, die sie sich selbst auferlegt haben, so lange zu exi-
stieren. Aber selbst so exotische Gebräuche nehmen
eine wirkliche Bedeutung an, wenn man sie mit soviel
Einsicht betrachtet, wie sie Malinowski erwies, als er
dies schrieb (1948:70).
Zitierte Autoren:
326
Kit Reed
Das Warten
327
der mit seinem Traktor die aufgeweichte Asphaltstraße
hinunterfuhr, und zwei Kindern, die in einen scheinbar
verlassenen Dorfladen gingen. Nun erreichten sie ein
kleines Städtchen – ausgestorben –, denn es war Mittag
und die Sonne flimmerte über den Straßen. Sie mußten
anhalten, wußte Miriam, unter dem Vorwand, daß sie
etwas Kaltes zu trinken haben wollte. Sie mußte sich
davon überzeugen, daß es auch noch andere Menschen
gab – hier im Städtchen, in Georgia, auf der Welt.
Auf einem verlassenen Platz lag ein Mann. Er stützte
sich auf seine Ellbogen, als er das Auto sah und winkte
Miriam grinsend zu.
»Mama, sieh mal da! Wärst du sauer, wenn ich da
arbeiten würde?«
Die Fahrt ging an einem Drugstore vorbei, einem
Chrompalast.
»O Miriam! Fang nicht schon wieder damit an. Wie
oft habe ich dir schon gesagt, daß ich nicht möchte,
daß du in einem Drugstore arbeitest, wenn wir zurück
sind!«
Ihre Mutter suchte eine Parklücke und drehte eine
Runde über den Platz. »Warum, meinst du, habe ich
dich wohl auf die High School geschickt? Ich wollte,
daß du in diesem Sommer zu Katie Gibbs gehst, und
im Herbst einen Job annimmst. Welche Art Jungs,
denkst du, kannst du im Drugstore kennenlernen? Du
weißt, ich möchte, daß du für den Rest deines Lebens
nicht mehr zu arbeiten brauchst. Alles, was du zu tun
hast, ist, einen guten Job zu finden. Du wirst einige nette
Jungs kennenlernen, vielleicht aus deinem Büro, und
heiraten. Dann brauchst du nicht mehr zu arbeiten.«
Sie parkte den Wagen, stieg aus und strich ihr Kleid
glatt. Sie standen unter den Straßenbäumen und disku-
tierten.
328
»Ich wollte ja schon längst deine netten Leute ken-
nenlernen, Mama, aber ich hatte nie was rechtes zum
Anziehen.« Das Mädchen vertraute dem alten Argu-
ment. »Ich wollte ein paar schicke Kleider und einen
Wagen. Ich kenne ein Geschäft, wo man nur Vierzig-
Dollar-Raten im Monat zu bezahlen braucht; im Drug-
store würde ich in einer Woche fünfunddreißig verdie-
nen.«
»Und es alles verprassen, wie ich annehme. Wie oft
muß ich dir noch erklären, daß die besseren Leute nicht
an Orten wie diesen zu arbeiten pflegen. Ich habe dich
aufgezogen, gefuttert, gekleidet, alles für dich getan,
seitdem dein Vater gestorben ist, und nun, wenn ich
möchte, daß du eine gesicherte Zukunft hast, wirfst du
alles über den Haufen für ein paar verrückter Kleider!«
Ihre Lippen zitterten. »Trotzdem ich todkrank bin,
mache ich mit dir eine herrliche Reise und gebe dir die
Chance, Schreibmaschine und Steno zu lernen, damit
du eine gute Zukunft hast.«
»Ach, Mama!« Das Mädchen stieß unruhig mit dem
Fuß gegen die Bordsteinkante, seufzte und sagte die
Worte, die die Diskussion beenden würden: »Es tut mir
leid. Mir wird es im Drugstore gefallen, glaube ich,
wenn ich erst einmal angefangen habe.«
Beleidigt und entschlossen ging die Mutter voran.
Mit viel zu hohen Absätzen umrundete sie den Platz.
»Hauptsache, man ist ein anständiges Mädchen. Wenn
die Jungs dich hinter einer Theke sehen, könnten sie
leicht auf falsche Gedanken kommen. Sie könnten
meinen, sie hätten leichtes Spiel, und versuchen, es
auszunutzen.«
Quer über die Straße lag ein Strohsack in der Sonne.
Ein Junge beobachtete sie und rief etwas.
»Beachte ihn nicht!« sagte die Mutter. »… und
329
wenn die Jungs erst einmal wissen, daß du ein anstän-
diges Mädchen bist, wird eines Tages einer kommen,
der dich heiraten möchte. Vielleicht ein großer Ge-
schäftsmann oder ein Bankier, wenn du eine gute Ste-
notypistin bist. Aber wenn ein Mann denkt, er könnte
dich ausnutzen«, ihre Augen hatten plötzlich einen raf-
finierten Ausdruck, »wird er dich nie heiraten. Du
mußt vorsichtig sein. Laß nicht immer die Jungs mit
irgend etwas gehen. Wie bei einer Verabredung, mache
immer …«
»Oh, Mama!« rief Miriam beleidigt.
»Tut mir leid, Schätzchen, aber ich möchte so gerne,
daß du ein anständiges Mädchen bleibst. Hörst du mir
überhaupt zu, Miriam?«
»Mama, die Dame da scheint mich zu rufen. Die
vom Park da drüben. Was denkst du, was sie will?«
»Ich weiß nicht. Nun steh nicht hier rum. Sie sieht
wie eine bessere Dame aus. Geh hin und sieh nach, ob
du ihr helfen kannst. Ich glaube, sie nimmt ein Sonnen-
bad. Aber es sieht ulkig aus, als wenn sie im Bett läge.
Frag sie, Mirry, beeil dich!«
»Würden Sie mich bitte in den Schatten hinüber-
rücken?« Die Frau, anscheinend eine der besseren Da-
men der Stadt, lag auf einer dünnen Matratze. Der
Schatten des Baumes, unter dem sie ruhte, war mit der
Sonne weitergewandert und ließ sie in der Hitze zu-
rück. Unbeholfen zerrte Miriam an den Enden der Ma-
tratze und zog sie in den Schatten.
»Und mein Wasser und meine Medizin auch, bitte?«
»Ja gerne. Stimmt irgend etwas nicht?«
»Nun«, die Frau zählte die gesammelten Familien-
leiden an ihren Fingern auf, »es begann mit Krämpfen
und – Sie wissen schon – Frauenleiden. So weit, so
gut. Nun dröhnt mir der Kopf die ganze Zeit über und
330
ich habe Schmerzen in meiner linken Seite, kein Zie-
hen, sondern mehr eine Art Kribbeln.«
»Oh, das ist unangenehm!«
»Hat Ihre Mutter jemals diese Art Leiden gehabt?
Was hat der Arzt verordnet? Was würden Sie dagegen
tun? Kennen Sie jemand, der etwas Ähnliches hat? Ja,
kennen Sie jemand? Dieser Schmerz! Er beginnt an mei-
nen Rippen und zieht sich nach unten, im Zickzack …«
Miriam suchte das Weite.
»Mama, ich habe meine Meinung geändert. Ich
möchte kein Eishörnchen. Laß uns hier verschwinden,
bitte!«
»Wenn es dir nichts ausmacht, Liebling, dann
möchte ich eine Cola trinken.«
Ihre Mutter machte es sich auf einer Bank bequem.
»Ich fühle mich nicht so richtig … mein Kopf …«
Sie gingen in den Drugstore. Hinter dem Chrom und
den verspiegelten Fenstern sah es aus, wie in jedem
Drugstore, den sie in den kleinen Städten entlang der
Ostküste gesehen hatten: kalt, unfreundlich, dunkel
und schmutzig im Hintergrund. Sie saßen an einem der
kleinen hölzernen runden Tische und eine unausge-
schlafene Kellnerin erkundigte sich nach ihren Wün-
schen.
»Was sagten Stanny und Bernice, als du ihnen sag-
test, daß wir auf die große Reise gehen?« Miriams
Mutter schlürfte ihre Cola und atmete schwer.
»Och, sie fanden es O. K.«
»Nun, ich nehme an, daß du ihnen alles erzählst,
wenn wir zurück sind. Nicht jedes junge Mädchen hat
die Gelegenheit, alle diese historischen Denkmäler zu
sehen. Ich wette, Bernice ist noch nie in Manassas ge-
wesen!«
»Ich glaube nicht, Mama.«
331
»Ich glaube, Stanny und diese Mrs. Fyle werden
sehr beeindruckt sein, wenn du ihnen erzählst, wo wir
überall waren. Ich wette, Mrs. Fyle könnte Toby nie-
mals dazu bewegen, mit ihr irgendwohin zu gehen.
Allerdings verstehen sie sich auch nicht so gut, wie wir
zwei.«
»Ich glaube nicht, Mama.« Das Mädchen leckte an
der Spitze seines Eishörnchens, um zu verhindern, daß
das Eis auf das Kleid heruntertropfte.
Im Hintergrund hielt eine junge Frau in schmutzigen
weißen Shorts die Hand ihres Babys und sprach mit
der Kellnerin. Das ungefähr zwei Jahre alte Baby saß
auf grauen, fleckigen Windeln im Flur.
»Bald ist dein Geburtstag, nicht wahr?« Sie tätschelte
die Hand des Babys. »Oh, du solltest mein weißes
Kleid sehen, Anne, ich wünschte, ich brauchte nicht
mehr so lange zu warten. Anne, wie war es?«
Die junge Frau sah mit dem gelangweilten Gesicht
einer Verheirateten, die nicht mehr über solche Dinge
spricht, weg.
»Mary war vorige Woche hier, allerdings nur für ein
paar Tage. Erzähle es aber keinem; sie wird natürlich
Harry nächste Woche heiraten, aber sie wollte IHN
noch einmal sehen …«
Die junge Frau bewegte einen Fuß und traf unglück-
licherweise das Baby. Es fing an zu weinen, sie half
ihm auf ihren Schoß und sprach zu ihm. Vorne im La-
den hörte Miriam das Baby schreien und sprang auf.
»Mama, komm jetzt! Wir werden nicht nachts nach
Richmond fahren, das wäre nur verlorene Zeit.«
Ihre Mutter, die sich mit einem Strohhalm im ge-
schmolzenen Eis ihres Pappbechers beschäftigte, er-
hob sich. Sie warf ein paar Cents neben die Kasse und
ging.
332
Sie spazierten wieder um den Platz herum und igno-
rierten dabei die drei Leute, die im Gras lagen, ihnen
heftig zuwinkten und etwas riefen. Miriam stieg ins
Auto.
»Mama, komm endlich!« Ihre Mutter stand vor der
Vordertüre und rüttelte am Türgriff. Miriam rutschte
hinüber, um die Türe von innen zu öffnen. Sie drehte
den Griff ungeduldig, als sie den Oberkörper und das
Gesicht ihrer Mutter langsam am Fenster hinunter und
auf den Bürgersteig gleiten sah.
»Oh, ich wußte, daß wir nie hätten hierherkommen
sollen!« Es klang gequält und ärgerlich. Mit rotem Ge-
sicht und voller Wut stieg sie aus dem Wagen und
rannte um ihn herum, um ihrer Mutter zu helfen.
Die kranken Leute im Park richteten sich auf. Von
allen Seiten kamen Männer und Frauen. Autos hielten
und immer mehr Leute kamen. Auf dem Bürgersteig
kniend versuchte Miriam, ihre Mutter in eine günstigere
Lage zu bringen. Sie fächelte ihr Luft zu und sprach zu
ihr, aber als sie sah, daß sie nicht wach wurde oder sich
bewegte, blickte sie in plötzlicher Angst in die Gesich-
ter über ihr.
»Bitte, helfen Sie mir. Wir sind alleine hier. Ich
glaube, ihr fehlt nichts, wir legen sie erst einmal ins
Auto. Sie hatte so etwas noch nie vorher. Bitte, jemand
muß einen Arzt holen!«
Die Gesichter schauten interessiert, aber niemand
bewegte sich. Miriam schrie fast: »Nein, helfen Sie mir
nur, sie ins Auto zu legen. Wenn sie nach ein paar
Meilen nicht wieder in Ordnung ist, bringe ich sie zu
einem Arzt.« Dann verzweifelt: »Ich möchte so schnell
wie möglich von hier weg!«
»Warum, Kind? Du brauchst das nicht. Mach dir
keine Sorgen!« Ein kahlköpfiger, sympathischer Mann
333
um die Vierzig kniete neben ihr und legte seine Hand
auf ihre Schulter.
»Wir untersuchen sie und werden sie in Nullkom-
manichts geheilt haben. Kannst du mir sagen, was sie
für Beschwerden hat?«
»Nicht genau, Doktor.«
»Ich bin kein Arzt!«
»Nicht genau«, sagte sie benommen, »außer, daß es
ihr furchtbar warm war.«
(Zwei Frauen im Hintergrund nickten sich vielsa-
gend zu.)
»Ich dachte, es sei das Wetter, aber nun glaube ich,
sie hat Fieber.«
Die Leute warteten. »Und sie hat eine offene Blase
an ihrem Fuß bekommen, während unserer Rundfahrt
durch Tallahassee.«
»Okay, Mädchen, vielleicht ist es besser, wenn wir
mal nachsehen.«
Der Schuh wurde ausgezogen. Als das geschah,
rückten die Männer und Frauen enger zusammen und
unterhielten sich flüsternd über die entzündete, feuchte,
wunde Stelle.
»Wenn wir nur zurück nach Queens könnten!« sagte
Miriam. »Wenn wir nur nach Hause fahren könnten
wäre alles wieder in Ordnung.«
»Nun, wir haben sie untersucht, bevor du es wuß-
test«, sagte der kahlköpfige Mann und erhob sich. »Hat
hier sonst noch jemand ähnliche Beschwerden?«
Die Menge flüsterte angeregt.
»Ja!« sagte ein Mann. »Harry Perkins’ Tochter hat
das gleiche Fieber. Es könnte in Lungenentzündung
ausarten, aber sie hatte noch nie etwas Ähnliches ge-
habt. Ich schätze, sie braucht ein Mittel gegen ihr Fie-
ber.«
334
»Hier! Ich hatte so etwas an meinem Arm.« Eine
einarmige Frau mischte sich ein. »Es wollte und wollte
einfach nicht besser werden. Sie sagten, ich wäre ge-
storben, wenn sie das hier nicht getan hätten.« Sie be-
wegte den Stumpf.
»Das wollen wir nicht tun. Es braucht nicht dasselbe
zu sein«, sagte der kahlköpfige Mann. »Sonst noch
jemand?«
»Könnte Wundstarrkrampf sein!«
»Könnte typhös sein, aber das glaube ich nicht!«
»Bestimmt ist es eine Art eitrige Infektion!«
»Nun«, sagte der Mann, »solange wir nichts Genau-
es feststellen können, ist es meiner Meinung nach bes-
ser, wenn wir sie erst einmal hier vom Platz schaffen.
Ruft eure Freunde, wenn ihr heute abend nach Hause
geht, Leute, und fragt sie, ob jemand etwas über die
Sache weiß. Wenn nicht, werden wir auf durchreisende
Touristen angewiesen sein.«
»In Ordnung, Hermann.«
»Tschüß, Hermann!«
»Halt die Ohren steif, Hermann!«
Die Mutter, die während des Gespräches wieder zu
sich gekommen war und voller Schrecken zugehört
hatte, schluckte eine Medizin und ein Glas Wasser,
welches der Kaufmann ihr gebracht hatte. Vom Ein-
richtungshaus kam ein Laufbursche mit einer dünnen
Matratze, ein anderer brachte ein paar Decken. Der Rest
der Menge brachte sie vom Platz und legte sie nicht weit
entfernt von der vornehmen Dame in den Park. Als
Miriam zuletzt ihre Mutter sah, sprach sie schläfrig mit
der Frau – die Medizin zeigte ihre Wirkung.
Besorgt, aber froh, endlich weg von allen Krankhei-
ten zu sein, folgte Miriam Hermann Clark eine Seiten-
straße hinein.
335
»Du kannst mit mir nach Hause kommen, Mäd-
chen«, sagte er. »Ich habe eine Tochter in deinem Al-
ter, und du bist gut aufgehoben, bis es deiner Mutter
wieder besser geht.« Miriam lächelte beruhigt und
folgte dem Älteren.
»Schätze, du wunderst dich über unsere Einrich-
tung«, sagte Clark, während er sie in sein Auto dräng-
te. »Trotz all der Spezialisierung und was Ärzte so
haben, wissen sie doch so wenig, fragen so viel und
sind zu teuer. Hier in Babylon haben wir gemerkt,
daß wir sie wirklich nicht brauchen. Praktisch jeder in
dieser Stadt war schon krank, auf diese oder jene
Weise, und von der Art, wie Frauen über ihre Opera-
tionen sprechen, haben wir eine ganze Menge über
Behandlungsmethoden gelernt. Wir brauchen einfach
keine Ärzte mehr. Uns helfen die Erfahrungen ande-
rer Leute.«
»Erfahrungen?«
Nichts davon war realistisch. Miriam war sicher.
Aber Clark hatte die Autorität, die Eltern nun mal
haben, und Miriam wußte, daß Eltern immer recht
hatten.
»Ja, sicher! Wenn du Windpocken hättest und drau-
ßen in der Stadt wärst, wo dich jeder sehen könnte,
käme sehr bald jemand, der sie auch schon gehabt hat.
Er würde dir sagen, was du hast und was du dagegen
tun mußt. Du brauchst keinen Dollar zu zahlen, um dir
etwas verschreiben zu lassen. Nun, ich brauchte Silas
Laphams Nerventonikum für meine Frau, als sie ihre
Periode hatte und es ihr schlecht ging. Sie fühlte sich
danach pudelwohl – hat uns nichts gekostet, außer den
paar Cents für das Nerventonikum. Wenn du krank
bist, stellen wir dich deshalb auf den Platz, und du
stehst da, bis jemand kommt, der mal die gleichen
336
Symptome hatte. Dann versuchst du wie er, deine
Krankheit loszukriegen. Gewöhnlich klappt das prima.
Wenn nicht, ist bestimmt ein anderer da. Natürlich
können wir keinen der Kranken vom Platz lassen, bevor
er gesund ist; keiner will sich schließlich anstecken.«
»Wie lange wird es dauern?«
»Nun, wir probieren etwas von dem Zeug, das Maysie
Campbell nimmt – und Gilyard Pinckneys Penicillin-
Rezepte. Wenn das nicht hilft, müssen wir warten, bis
ein Tourist aufkreuzt.«
»Aber wie sollte ein Tourist auf die Idee kommen,
daß er über seine Krankheiten sprechen soll?«
»Er muß! Es ist Gesetz! Du kommst mit mir nach
Hause und wir werden versuchen, deine Mutter wieder
auf die Beine zu bringen.«
Miriam lernte Clarks Frau und Familie kennen. In
der ersten Woche wollte sie ihre Koffer nicht auspacken.
Sie war sicher, daß sie bald würde weiterreisen kön-
nen. Wenn sie es nur hier aushalten konnte! Sie pro-
bierte Asa Whitleafs Tonikum an ihrer Mutter aus und
behandelte ihren Fuß mit der Salbe, die Harmon John-
son seinen Jüngsten gab, wenn sie Geschwüre hatten.
Sie gab ihr auch Gilyard Pickneys Penicillin.
»Sie macht überhaupt keinen besseren Eindruck«,
sagte Miriam eines Tages zu Clark. »Vielleicht könnte
ich sie nach Richmond oder Atlanta ins Krankenhaus
bringen.«
»Wir können sie nicht aus Babylon hinauslassen,
bevor sie gesund ist. Sie könnte ihre Krankheit in an-
dere Städte schleppen. Außerdem, wenn wir sie heilen,
wird sie alle Landkrankenschwestern hierherschicken,
damit sie unsere Methoden versuchen. Außerdem kann
ihr Reisen schaden. Dir wird es hier schon gefallen,
Mädchen.« In dieser Nacht packte Miriam ihre Koffer
337
aus. Montag nahm sie einen Job als Verkäuferin im
Diskontladen an.
»Sie sind die Neue, wa?« Das Mädchen hinter der
Theke der Schmuckabteilung kam freundlich und in-
teressiert auf sie zu. »Warten Sie auch schon? Nein –,
sicher nicht, dafür sehen Sie zu jung aus.«
»Nein, ich habe noch nie auf Leute gewartet. Das
hier ist mein erster Job«, sagte Miriam vertraulich.
»Ich meine nicht diese Art zu warten«, sagte das
Mädchen spöttisch. Dann sagte sie, scheinbar nebenbei:
»Sie kommen aus einer schönen großen Stadt, wie ich
hörte. Sie haben sicher schon genug von den Jungs und
so wollen Sie nicht mehr warten.«
»Was meinen Sie? Ich habe noch nie gewartet, noch
nie! Ich bin ein anständiges Mädchen!«
Fast schluchzend lief Miriam zurück in das Büro des
Filialleiters. Sie wurde der Süßwarenabteilung, die ein
paar Ladentische weiter lag, zugeteilt.
In der Nacht blieb Miriam lange wach. Mit einer
Straßenkarte und einer Taschenlampe lag sie da und
überlegte und überlegte.
Am nächsten Tag war das Schild »Keine Besuchs-
zeit« von den Bäumen im Park verschwunden und Mi-
riam besuchte ihre Mutter.
»Ich fühle mich schrecklich, Liebes. Du mußt im
Laden arbeiten, während ich hier draußen unter diesen
schönen Bäumen liege. Du solltest daran denken, was
ich dir erzählt habe. Laß dir keinen dieser Straßenjun-
gen zu nahe kommen. Gerade daß du in dem Diskont-
laden arbeitest, macht den Eindruck, als wärst du kein
anständiges Mädchen. Sobald ich kann, werde ich dich
aus diesem Laden herausholen. Oh, ich wollte, ich wäre
schon wieder auf den Beinen.«
»Arme Mama!« Miriam glättete das Laken und
338
schob einen Stapel Filmmagazine unter das Kopfkissen.
»Wie kannst du es nur aushalten, den ganzen Tag hier
draußen zu liegen?«
»Ist nur halb so schlimm, wirklich. Und, weißt du,
diese Mrs. Whitleaf scheint etwas über meine Schmerzen
zu wissen. Ich habe mich nicht mehr so wohl gefühlt,
seit du neun warst.«
»Mama, ich denke, wir sollten hier verschwinden.
Manches hier stimmt nicht …«
»Die Leute sind aber in Ordnung. Zwei Frauen
brachten mir heute morgen eine Fleischbrühe.«
Miriam hätte am liebsten ihre Mutter gepackt und so
lange geschüttelt, bis sie ihr Bettzeug genommen hätte
und mit ihr davongelaufen wäre. Sie gab ihr einen Ab-
schiedskuß und ging wieder zurück zum Laden. Beim
Essen unterhielten sich zwei Verkäuferinnen.
»Ich höre nächste Woche auf; ich möchte Harry
Phipps bald heiraten und ich hoffe nur, daß es nicht so
lange dauern wird. Manchmal muß man drei Jahre
warten.«
»O du hast Glück, Donna; du wirst nicht lange war-
ten brauchen!«
»Ich habe etwas Angst. Ich frage mich, wie es sein
wird!«
»Tja, wie wird es wohl sein? Ich beneide dich!«
Miriam war es aus irgendeinem Grunde kalt. Sie
ging hinter den beiden her zu ihrem Ladentisch und
begann, die Süßwaren sorgfältig einzuräumen.
In der Nacht ging sie über die Straße, auf der sie ge-
kommen waren, zum Stadtrand. An dem Schild, das
die Stadtgrenze anzeigte, standen zwei finstere Gestal-
ten. Sie hatte Angst, näher heranzugehen und lief
schließlich wieder zurück in die Stadt. Sie trödelte ei-
nige Zeit an der Bushaltestelle herum und überlegte,
339
wieviel wohl ein Fahrschein zur Stadt hinaus kosten
würde. Aber natürlich konnte sie ihre Mutter nicht ein-
fach zurücklassen. Sie suchte das Auto, das sie auf
dem Platz geparkt hatten, als Tommy Clark kam.
»Zeit, nach Hause zu gehen, nicht?« sagte er und
dann gingen sie beide.
»Mama, ob du’s glaubst oder nicht – aber es ist fast
unmöglich, aus diesem Nest hinauszukommen!« sagte
Miriam eine Woche später zu ihrer Mutter.
»Reg dich nicht auf. Ich weiß, es ist hart für dich,
daß du in dem Diskontladen arbeiten mußt, aber es ist
ja nicht für immer. Warum schaust du dich nicht mal
nach einem besseren Job um?«
»Mama, das meine ich nicht. Ich möchte nach Hause!
Hör mal – ich habe eine Idee. Ich nehme die Wagen-
schlüssel aus deiner Tasche hier, und heute nacht,
bevor sie euch alle ins Gemeindehaus zum Schlafen
schicken, laufen wir zum Auto und hauen ab!«
»Liebes«, sagte ihre Mutter sanft, »du weißt doch,
daß ich mich nicht bewegen kann.«
»Kannst du es denn nicht einmal versuchen?«
»Wenn ich ein wenig kräftiger bin, versuchen wir es
vielleicht. Mrs. Pinckney kommt morgen und bringt
mir Kräutertee von ihrer Tochter. Der wird mich ein
bißchen aufpäppeln. Hör mal – kannst du es nicht so
einrichten, daß du morgen auch hier bist? Sie hat näm-
lich den bestaussehendsten Sohn der Stadt. Miriam –
du kommst hierhin und sagst mir ›Auf Wiedersehen‹.«
Tommy Clark lud Miriam nun öfters zum Essen ein.
Sie gingen zusammen ins Kino und gingen Hand in
Hand in der unbeschreiblich rosafarbenen Dämmerung
spazieren.
Beim zweiten Treffen hatte Tommy versucht, sie zu
küssen, aber sie hatte gesagt: »Oh, Tommy, ich kenne
340
eure Sitten hier nicht«, denn sie wußte, daß es nicht gut
war, einen Jungen zu küssen, den sie nicht genau kannte.
Während sie Tommy ihr halbes Erdnuß-Sandwich gab,
sagte Miriam: »Können wir nicht heute abend auf die
Veranstaltung gehen? Die American Legion spielt.«
»Heute nicht, Mädchen. Margy ist fällig.«
»Was meinst du mit: ›ist fällig‹?«
Tommy errötete. »Och, du weißt schon!«
An diesem Nachmittag holte Tommy sie von der
Arbeit ab und sie gingen zur Geburtstagsparty von
Hermann Clarks ältester Tochter. Margy wurde acht-
zehn. Am Ende der Party, gerade als es dunkel wurde,
verließ Margy, die in strahlendes Weiß gekleidet war,
mit ihrer Mutter das Haus.
»Ich bringe dir morgen früh etwas zu essen mit dem
Wagen«, sagte Clark. »Paß auf dich auf!«
»Wiedersehen!«
»Tschüß!«
»Fröhliches Warten, Margy!«
»Tommy, wo geht Margy hin?« Etwas an der Party
und in Margys Augen ängstigten Miriam.
»Du weißt schon. Wo sie alle hingehen. Aber mach
dir keine Gedanken«, Tommy hielt ihre Hand, »sie
kommt bald zurück. Sie ist in Ordnung.«
Am nächsten Tag im Park flüsterte Miriam ihrer
Mutter ins Ohr: »Mama, wir sind nun schon einen Mo-
nat hier. Bitte, wir müssen verschwinden. Würdest du
bitte versuchen, mit mir zu gehen?« Sie kniete sich
neben sie und sprach eindringlich. »Das Auto ist weg.
Ich war gestern nacht da, um zu sehen, ob noch alles in
Ordnung ist – und es war verschwunden! Mir kam so
eine Idee – wenn wir es schaffen, die Autobahn zu er-
reichen, könnten wir ein Auto anhalten. Mutter, wir
müssen unbedingt hier weg!«
341
Ihre Mutter seufzte leise und reckte sich.
»Du sagst immer, du möchtest nicht, daß ich ein
schlechtes Mädchen werde, nicht wahr?«
Die Augen der älteren Frau wurden zu einem
Schlitz.
»Du läßt dich von diesem Clark-Jungen ausnutzen!«
»Nein, Mutter! Nein, das ist es überhaupt nicht! Ich
dachte gerade an etwas Furchtbares, was ich gehört
habe. Ich wollte nur nicht darüber sprechen. Es handelt
sich um so ein Gesetz. Mama, bitte – ich habe Angst!«
»Na, na, Süßes! Du weißt, daß es dazu überhaupt
keinen Grund gibt. Bist du so nett, und reichst mir mein
Wasser, Liebes? Ich glaube, sie haben mich bald geheilt,
weißt du? Helva Smythe und Margaret Box haben mich
jeden Tag besucht. Sie brachten mir einige Penicillin-
Tabletten in heißer Milch; das hat mir sehr gut getan!«
»Aber Mama – ich habe Angst!«
»Noch etwas, Liebling. Ich habe dich mit dem net-
ten Clark-Jungen weggehen sehen. Die Clarks sind
eine prächtige Familie. Da hast du einen guten Fang
gemacht, du mußt deine Karten nur richtig ausspielen
und an eines denken: Bleibe immer ein anständiges
Mädchen!«
»Mama, wir müssen hier weg!«
»Beruhige dich nur, junge Dame. Nun geh zurück
und sei nett zu diesem Tommy Clark. Helva Smythe
sagt, er würde eines Tages das Geschäft seines Vaters
erben. Du kannst ihn mir morgen vorstellen.«
»Mutter!«
»Ich hab’s mir überlegt. Sie machen mich gesund
und wir werden solange hier bleiben. In einer Groß-
stadt beachten die Leute dich nicht, aber in einer klei-
nen Stadt bist du wer.« Sie zog ihre Bettdecke glatt
und legte sich zum Schlafen hin.
342
Am Abend saßen Miriam und Tommy Clark auf der
Veranda in der Hollywood-Schaukel. Sie unterhielten
sich über alles mögliche. »… deshalb, glaube ich, soll-
ten wir das Geschäft machen«, sagte Tommy. »Ich wäre
nicht abgeneigt, nach Wesleyan oder Clemson oder
sonstwohin zu gehen, aber Vater meinte, ich hätte
mehr davon, wenn ich mit ihm hier im Geschäft bliebe.
Warum lassen sie uns nicht das tun, was wir gerne tun
möchten?«
»Ich weiß es nicht, Tommy. Meine Mutter möchte,
daß ich zu Katherine Gibbs gehe – das ist eine Sekretä-
rinnenschule in New York – in diesem Herbst.«
»Das willst du aber nicht, nicht wahr?«
»Nee, außer jetzt. Jetzt läge mir viel daran, dahin zu
gehen, nämlich, um aus dieser Stadt hinauszukom-
men.«
»Dir gefallt es hier nicht?« Tommys Gesicht bekam
einen verstörten Ausdruck. »Du magst mich nicht?«
»O doch, Tommy, ich habe dich sehr gern. Aber ich
bin fast erwachsen und möchte gerne nach New York
zurückgehen und einen Job annehmen. Ich habe letzten
Monat meinen High School-Abschluß gemacht.«
»Willst du mich veräppeln? Du siehst gerade wie
fünfzehn aus!«
»Nee, niemals! Ich werde nächste Woche achtzehn –
Oh, das wollte ich dir gar nicht sagen. Ich möchte nicht,
daß deine Leute etwas an meinem Geburtstag machen.
Verspreche, daß du es ihnen nicht erzählen wirst!«
»Du wirst achtzehn! Alt genug zum Warten! Junge,
Junge, ich wünschte, ich würde dich nicht kennen!«
»Tommy, was ist los? Magst du mich nicht?«
»Das ist es ja gerade! Ich mag dich – und wie!
Wenn ich ein Fremder wäre, könnte ich dein Warten
beenden«
343
»Warten? Was für’n Warten?«
»Das weißt du doch!« Er räusperte sich verlegen.
Eine Woche später – nach einem frustrierenden Be-
such bei ihrer Mutter im Park – ging Miriam nach
Hause zu Clarks und schleppte sich auf ihr Zimmer.
Ausgerechnet ihre Mutter hatte ihren Geburtstag ver-
gessen! Sie wollte sich auf ihr Kopfkissen fallen lassen
und weinen. Sie fiel auf ihr Bett und sprang er-
schrocken auf. Ein weißes, hauchdünnes, bodenlanges
Kleid hing an der Türe. Hermann Clark und seine Frau
stürzten herein und gratulierten ihr zum Geburtstag.
»Das Kleid ist für dich.«
»Nein, das solltet ihr doch nicht!« schrie Miriam.
Mrs. Clark scheuchte ihren Mann aus dem Zimmer
und half Miriam beim Anziehen. Sie gingen hinunter,
mit meterlangem weißen Chiffon, der um Miriams
Knöchel rauschte und knitterte.
Keiner der Geburtstagspartygäste war besonders ge-
kleidet. Einige andere Frauen aus der Nachbarschaft
beobachteten mit feuchten Augen Tommy, der Miriam
half, den Kuchen zu schneiden.
»Sie scheint aber auch alt genug zu sein.«
»Es wäre schade, wenn sie lange warten müßte!«
»Hübsches, kleines Ding. Ob Tommy sie mag?«
»Ich wette, Hermann Clarks Sohn wünscht, er würde
sie nicht kennen!« sagten sie.
Miriam sprach mit allen, versuchte zu lachen und
würgte etwas Eiscreme und Kuchen hinunter.
»Tschüß, Mädchen«, sagte Tommy und drückte ihre
Hand. Draußen dämmerte es.
»Wohin gehst du, Tommy?«
»Nirgendwohin, Dummerchen. Ich werde dich in
ein paar Wochen wiedersehen. Vielleicht möchte ich
mit dir über etwas sprechen, wenn alles vorbei ist.«
344
Die Männer waren nacheinander aus dem Zimmer
geschlichen. Die Schatten wurden länger, aber nie-
mand im Partyzimmer kam auf die Idee, das Licht an-
zuknipsen. Die Frauen versammelten sich um Miriam.
Mrs. Clarks Augen glänzten. »Und hier ist das beste
Geburtstagsgeschenk von allen!« sagte sie und hielt
einen Sack mit leuchtend blauen Bändern hoch.
Miriam sah sie fragend an und versuchte ein »Dan-
keschön« hervorzustammeln.
»Und nun komm mit mir, Liebes!« sagte Mrs. Clark.
Voller Angst versuchte Miriam aus dem Raum auszu-
reißen. Mrs. Clark und Helva Smythe schnappten sie
am Arm und führten sie sachte aus dem Haus und die
Hauptstraße hinunter.
»Ich seh mal nach, ob ich dich in der Nähe von
Margy unterbringen kann«, sagte die eine; dann gingen
sie weiter durch die Augustdämmerung.
Als sie die Felder erreichten, dachte Miriam erst, die
Frauen wären mit der letzten Ernte beschäftigt, aber
dann erkannte sie, daß die meisten von ihnen auf klei-
nen Kisten und Stühlen saßen, stets einige Meter von-
einander entfernt.
In den Büschen am Rand sah Miriam viele Männer.
Alle Augenblicke folgte einer von ihnen einem
leuchtend gefärbten Band, das zu einer Frau in einem
leuchtend weißen Kleid, führte.
Erschrocken drehte Miriam sich zu Mrs. Clark um.
»Warum bin ich hier? Warum? Bitte, Mrs. Clark,
sagen Sie es mir!«
»Bist ein bißchen nervös, armes Kind. Das wären
wir auch, wenn wir an deiner Stelle wären«, sagte Mrs.
Clark. »Ist schon gut, Liebes. Stell dich hier an den
Rand und schau eine Zeitlang zu, bis du dich an den
Gedanken gewöhnt hast. Denke daran: Der Mann muß
345
ein Fremder sein! Wir werden sonntags, wenn Be-
suchszeit ist, kommen und dir was zu essen bringen.
Alles klar? Und wenn du aufs Feld gehst, versuche
einen Platz neben Margy zu kriegen. Es wird das War-
ten schöner für dich machen!«
»Welches Warten?«
»Na, das Warten einer Jungfrau, Liebes. Bis bald!«
Benommen stand Miriam am Rande des großen,
weiten Feldes.
Sie sah ihre kleine Welt durchkreuzt von Hunder-
ten gefärbter Bänder. Sie ging ein wenig näher heran
und versteckte ihre Bänder unter ihrem Kleid, um
nicht so auszusehen, als ob sie dazugehöre. Zwei
Männer kamen auf sie zu, einer ganz manierlich, der
andere unrasiert und abstoßend, aber als sie sahen,
daß sie das Feld noch nicht betreten hatte, gingen sie
wieder zurück und warteten. In ihrer Nähe sah sie die
Verkäuferin aus ihrem Geschäft, die ihren Job vor
zwei Wochen gekündigt hatte und plötzlich ver-
schwunden war.
Sie war sehr nervös und warf einem jungen Mann,
der in der langen Reihe am Feldrand stand, heiße Blicke
zu. Miriam sah, wie der junge Mann ohne etwas zu
sagen ihr Band nahm und Geld in ihren Schoß warf.
Lächelnd stand das Mädchen auf und die zwei ver-
schwanden in den Büschen.
Direkt vor Miriam sah ein Mädchen mit Hasen-
scharte und unbeschreiblich häßlicher Haut von ihrem
halbfertigen Pullover auf, den sie strickte.
»Tja, da geht wieder eine«, sagte sie zu Miriam.
»Die Schönsten gehen immer zuerst. Ich rechne damit,
daß jemand sich sagt: ›Da sind keine Schönheiten
mehr‹, dann werde ich gehen.« Sie wickelte ihre Wolle
auf. »Das hier ist mein vierzigster Pullover.«
346
Miriam erschrak. Sie wußte nicht, was das Mädchen
meinte.
»Ich wäre schon zufrieden, wenn ich einen dieser
Fettsäcke da hinten haben könnte«, sagte sie und zeigte
auf einen alten Mann, der mit lüsternem Blick heran-
wankte, »aber gerade diese fetten Typen suchen sich
die Schönsten aus. Mensch, du solltest einmal sehen,
wenn er mit einer dieser Hochschulköniginnen ver-
schwindet. Laut Gesetz dürfen sie nicht nein sagen.«
Von Neugier gepackt, vor Angst zitternd und steif
versuchte Miriam, das Mädchen auszufragen.
»Wo … wohin gehen sie?«
Die Hasenscharte sah sie mißtrauisch an. Ihr Kleid,
zerknittert und die längste Zeit weiß gewesen, stank
drei Meilen gegen den Wind. »Mensch, weißt du das
wirklich nicht?«
Sie zeigte auf das Gebüsch. »Sie gehen pimpern; das
ist Gesetz.«
»Mama, Mamamamamama!« Mit wippendem, wei-
ßem Kleid rannte Miriam auf den Platz zu ihrer Mutter.
Gerade rechtzeitig, bevor die Kranken zum Schlafen
ins Gemeindehaus gebracht wurden.
»Oh, Liebling, wie gut du aussiehst!« rief die Mut-
ter. Dann meinte sie schelmisch: »Man sagt immer:
›Gehe in Weiß, wenn du einen Mann fangen willst.‹«
»Mutter, wir müssen von hier verschwinden!« Miri-
am schrie sich bald die Lunge aus dem Hals.
»Ich dachte, wir hätten das Thema schon erledigt.«
»Mama, du sagst immer, du möchtest, daß ich ein
anständiges Mädchen bin und mich nicht von Männern
ausnutzen …«
»Ja, Liebes, das sagte ich.«
»Mama, fällt dir denn nichts auf? Bist du blind? Du
mußt mir helfen – wir müssen von hier verschwinden,
347
oder jemand – ich weiß nicht was … Oh, Mutter, bitte!
Ich helfe dir beim Gehen. Ich weiß, daß du es kannst,
ich sah dich mit Mrs. Pinckney zusammen üben.«
»Nun, setze dich hier hin, und erkläre mir alles.
Aber beruhige dich!«
»Mama, hör zu! Es gibt etwas, was jedes Mädchen
hier tun muß, wenn es achtzehn ist. Du weißt doch, daß
sie hier überhaupt keinen Arzt brauchen?« Verlegen
zögerte sie. »Kannst du dich an Violet erinnern? Als
sie geheiratet hat, ging sie zu Doktor Dix und ließ sich
untersuchen.«
»Ja, Liebling. Nun beruhige dich doch und erzähle
alles deiner Mutter!«
»Es ist eine Art Abschlußprüfung, verstehst du? Es
ist wie eine Abschlußprüfung auf der Hochschule und
es ist, als wollten sie nachsehen, ob du … ob du gut
bist …«
»Was, zum Teufel, versuchst du mir eigentlich bei-
zubringen?«
»Man muß zu diesen Feldern gehen und sich da hin-
setzen und darauf warten, daß ein Mann einem Geld in
den Schoß wirft. Dann muß man mit ihm ins Gebüsch
gehen und mit ihm schlafen!« Hysterisch sprang Miri-
am auf und zerrte an der Matratze.
»Beruhige dich! Beruhige dich doch!«
»Ach, Mutter, ich wollte tun, was du mir gesagt
hast. Ich wollte anständig sein.«
Ihre Mutter sagte: »Du erzähltest mir, du hättest
dich mit diesem netten Clark-Jungen getroffen? Sein
Vater ist Grundstücksmakler. Gutes Geschäft, Liebes.
Überlege doch mal: Du brauchtest nicht mehr zu arbei-
ten!«
»Oh, Mutter!«
»Und wenn ich wieder gesund bin, könnte ich mit
348
euch zusammen leben. Die Leute hier sind sehr gut zu
mir. Es ist das erstemal, daß ich Leute gefunden habe,
die sich wirklich Gedanken um mich machen. Und
wenn du mit diesem netten, soliden Jungen, der einen
ausgezeichneten Job bei seinem Vater zu haben
scheint, verheiratet wärst, nun, dann könnten wir ein
herrliches Haus zusammen haben – wir drei.«
»Mutter, wir müssen unbedingt hier weg! Ich kann
es nicht tun! Ich kann es einfach nicht!«
Das Mädchen warf sich ins Gras.
Wütend schlug die Mutter nach ihm.
»Miriam! Miriam Elsie Holland! Ich habe dich
großgezogen, dich gekleidet, bin für dich aufgekom-
men und habe dich behütet wie meinen Augapfel, seit
dein Vater gestorben ist. Und du dachtest immer nur an
dich, an dich, an dich! Kannst du nicht einmal was für
mich tun? Erst habe ich dich gebeten, auf die Sekretä-
rinnen-Schule zu gehen, damit du einen guten Start
hast und nette Leute kennenlernst. Das wolltest du
nicht. Dann kriegst du die Chance, dich in einer hüb-
schen kleinen Stadt bei einer netten, ordentlichen Fa-
milie niederzulassen, und du willst schon wieder nicht!
Du denkst nur an dich. Hier habe ich endlich die Chance,
wieder gesund zu werden und in einer schönen kleinen
Stadt zu wohnen, wo die nettesten Familien leben, und
dich mit dem Richtigen verheiratet zu sehen.«
Auf ihre Ellbogen gestützt, starrte sie ihre Tochter an.
»Kannst du denn nicht einmal etwas für mich tun?«
»Mama, Mama – du verstehst nichts!«
»Ich weiß schon seit der Woche, in der wir hier an-
kamen, alles über das Warten«, sagte die Frau und
lehnte sich zurück in ihr Kopfkissen.
»Hol mir ein Glas Wasser und geh zurück und tue,
was auch immer Mrs. Clark dir sagt.«
349
»Mutter!«
Schluchzend stolperte Miriam vom Platz. Sie lief
zunächst zum Stadtrand, erreichte die Stelle der Auto-
bahn, an der das Ortsschild stand und sah die zwei
schäbigen Typen auf einem Kilometerstein sitzen, an-
scheinend in angenehmer abendlicher Unterhaltung
versunken. Sie lief zurück und versuchte, über ein
frisch gepflügtes Feld weiterzukommen. Hinter sich
sah sie die Pinckney-Jungs, vor sich die Campbells und
die Dodges über die Felder laufen. Als sie sich zitternd
der Stadt zuwandte, gingen sie an ihr vorbei, ignorier-
ten sie, mit sich selbst beschäftigt. Es wurde dunkel.
Sie ging fast die ganze Nacht hindurch über die Fel-
der. Jedes war besetzt von einem Campbell, einem
Smythe oder einem Pinckney. Die Männer trugen Ge-
wehre und Scheinwerfer und unterhielten sich heiter,
wenn sie sich an den Zäunen trafen und sprachen von
einer wilden Fuchsjagd.
Sie kroch auf das Grundstück der Clarks, als es
schon hell wurde und schleppte sich in ihr Zimmer.
Niemand beachtete sie, als sie tobend und schreiend in
ihrem Zimmer umherlief.
In dieser Nacht schlich Miriam aus ihrem Zimmer –
immer noch in dem verschmutzten, zerrissenen weißen
Kleid – und die Treppen hinunter. Sie hielt vor dem
Flurspiegel, um etwas Lippenstift aufzulegen, ihre
Haare in Ordnung zu bringen und riß die halbabgeris-
senen Chiffon-Spitzen von ihren Ärmeln ab. Dann
ging sie zu dem Feld, auf dem die Jungfrauen warteten.
Sie stand schaudernd am Rand, als sie sah, wie der alte
Mann, den sie Fettsack nannten, sie beobachtete. Eini-
ge Meter weiter sah sie einen anderen Mann, jung,
schlank, mit vollem, glänzendem Haar. Sie seufzte, als
sie eine junge Frau mit einem schlanken, in Jeans ge-
350
kleideten Jungen das Feld verlassen und auf den Wald
zugehen sah.
Sie knotete ihr Band an einen Pfahl am Rande des
riesigen Feldes. Dann suchte sie sich einen Weg durch
die vielen buntgefärbten Bänder, an wartenden Mäd-
chen in Weiß vorbei, hielt an einer angenehm wirken-
den Stelle und setzte sich hin.
351
Lao Shaw
Jedermannoffskismus in Katzenstadt
352
wirklich etwas taugen, während wir weitermachen wie
zuvor: je schlechter es bei uns klappt, desto mehr
stümpern wir mit blindlings ausgeliehenen politischen
Systemen herum.«
»Sie meinen, daß die Katzenstädter niemals eigene
Häuser bauten, sondern immer anderer Leute Häuser
ausgeliehen haben?«
»Sehr wahr! Und geradeso verhielt es sich mit der
Jedermanoffskiski-Clique.«
»Clique?« Ich war verwirrt.
»Verstehen Sie, das ist, was man auf der Erde eine
politische Partei nennt.«
»Oh«, machte ich.
Mein Gewährsmann setzte seine Erzählung fort.
»Es ging voran mit dem Jedermannoffskismus, und
nach langen Jahren wurde der Imperator gestürzt. Es
begann mit der ökonomischen Frage, und die Lösung
war, die Eigentümer der Produktionsmittel aus der
Welt zu schaffen, ihr Eigentum den Bauern und Arbei-
tern zu übereignen und damit die Macht in die Hände
der kleinen Leute zu legen.«
»Wer waren die Führer dieser Partei?« unterbrach
ich. »Stammten sie selbst aus den Massen?«
»Gott behüte, nein! Keineswegs! Sie waren kleine
Krämerseelen, die sich von den großen Geschäften des
Imperators beeinträchtigt fühlten; sie besaßen kein
Wissen, keine Bildung, kein Gehirn – nichts! Ihr ge-
heimer Plan war, die Großeigentümer auszuschalten,
das Volk im Stich zu lassen und ihren eigenen Angele-
genheiten nachzugehen. Nicht die Hinrichtung der
Ausbeuter war der Fehler – die Katzenstädter hegten
diesen Wunsch immer. Noch war es falsch, daran zu
glauben, daß ehrliche Bauern und Arbeiter ihre Sache
selbst anpacken könnten – die Möglichkeit, daß das
353
gelingen würde, war außergewöhnlich gut. Aber Kat-
zenstädter sind und bleiben endlich doch Katzenstäd-
ter. Wer bestechen konnte, wurde nicht gehängt, wer
einen Protektor hatte, wurde nicht verscheucht. Die
hängen sollten, starben nicht, und wer nicht sterben
durfte, kam um. Jene, die hätten sterben sollen, ström-
ten in die Partei und stellten deren Ziele und Aufgaben
auf den Kopf. Das Hauptziel war, daß jeder nach sei-
nen Fähigkeiten arbeite und nach seinen Bedürfnissen
erhalte. Doch in der Jedermannoffskiski-Clique
verstand niemand auch nur das geringste von Ökono-
mischen Fragen, nicht einmal von Bildungsreformen,
in denen jeder hätte lernen können, für jeden da zu
sein. Das Ergebnis war, daß täglich Leute umgebracht
wurden, ohne klar ersichtlichen Grund. Es wurden eine
Anzahl Landreformen verpfuscht, weil niemand in der
Jedermannoffskiski-Clique eine Ahnung von Land-
wirtschaft hatte. Die Werktätigen waren nur zu eifrig
um Arbeit bemüht, aber die Industrie wurde nur lang-
sam entwickelt. Deshalb wurden noch mehr Leute um-
gebracht – werde die lästigen Gläubiger los, und alles
ist in Ordnung.«
»Das ist«, bemerkte ich, »als wolle man sich die
Haut abziehen, wenn sie juckt.«
»Ich sehe, Sie verstehen mich richtig«, stimmte
mein Gewährsmann zu. »Das geschah also mit dem
Jedermannoffskismus. Das geschieht jedesmal, wenn
wir uns ein neues politisches System ausleihen. Jetzt
ist der Chef der Jedermannoffskiski-Clique zum Impe-
rator aufgestiegen. Gar nicht verwunderlich in einem
Land wie unserem. Den Jedermannoffskismus ver-
mochten wir nicht zu verwirklichen, und zum Schluß
kam dabei ein Imperator heraus.«
Der Marsianer begann zu weinen.
354
Angewandte Anthropologie
355
wägt in »Natürlich« eine viel friedlichere Geschichte.
Er bedenkt die Möglichkeit, die fremden Besucher
könnten eventuell ihre eigenen SF-Autoren haben, die
ihnen für den ersten Kontakt mit den Fremden auf der
Erde gute Ratschläge erteilen.
356
Julian Chain
Die Gefangenen
357
Zeit notieren zu lassen. Er hatte nicht die leiseste Ah-
nung, daß allein diese Verpflichtung ihn vor einer Ge-
walttat von Seiten des verzweifelten Mädchens be-
wahrte, das umgekehrt war und ihm nun lautlos folgte.
Die Prozession der beiden passierte den Ausgang D;
dann ging der Wachtposten allein weiter.
Merriel erlaubte sich zehn gefahrvolle Schritte in
den Ausgang D und preßte sich dann gegen die Wand.
Ihr Körper bebte vor übermäßiger Anstrengung. Tat-
sächlich war das Risiko bis zu diesem Punkt gering
gewesen. Wenn der Wachtposten umgekehrt wäre, hätte
sie eine Frage bereit gehabt, und es hätte ausgesehen,
als sei sie ihm nur gefolgt, um diese an ihn zu richten.
Was den Ausgang D betraf, so hätte ihr erster Schritt
hinein einen Alarm auslösen können, aber alles, was
sie wußte, deutete darauf hin, daß die Fallen sich am
anderen Ende befanden. Jetzt war sie im Dunkeln eini-
germaßen sicher, falls nicht ein unglücklicher Einfall
den Wachtposten mit seiner Taschenlampe in den Kor-
ridor leuchten ließ. Dennoch ließ ein rascher Blick von
ihm, als er den Ausgang passierte, sie erneut erzittern.
Während sie ihre einfachen Vorbereitungen traf, wartete
sie seine Rückrunde ab. Dann bog sie ihren Hals-
schmuck auseinander. Nun hielt sie einen überzogenen,
formbaren Draht in den Händen, den sie langsam vor
sich in einem vertikalen Bogen schwenkte, während sie
ebenso langsam den Flur hinunterging.
Drei Schritte, und der Draht flammte blau auf. Be-
stürzt blieb Merriel stehen. Sie war die ganze Zeit,
während sie darauf wartete, daß der Wachtposten vor-
beikam, fast besinnungslos gewesen. Der Ultraviolett-
strahl mußte natürlich auf eine Reihe elektrischer Pho-
tozellen treffen; eine Unterbrechung des Stromkreises
hätte sämtliche Alarmanlagen am Ort ausgelöst. Die
358
Prüfung mit dem Draht ergab, daß der Strahl den Flur
im rechten Winkel wie ein Vorhang durchkreuzte, der
einen Fuß hoch kurz über dem Boden aufhörte. Ein
kurzes Zögern, und Merriel wand sich flach auf dem
Boden, schloß ihre Handtasche und schwenkte den
Draht vor sich her. Als sie wieder aufstand, konnte sie
ein hysterisches Kichern nur mit Mühe unterdrücken.
Sie wurde sich bewußt, daß sie während der Feuerpro-
be verzweifelt an einem ungewöhnlichen Bild ihrer
selbst festgehalten hatte – einem praktisch zweidimen-
sionalen.
Die erste Tür mußte jetzt nahe sein. Bis er gegen sie
kratzte, zeigte der Draht nichts an. Merriel wagte nicht,
zu denken. Sie tastete nach dem Schloß und benutzte
Bests gestohlenen Schlüssel. Es klappte. Ein kurzes
Wedeln mit dem Draht, und sie ging hindurch. Nach
einigen vorsichtigen Schritten zwang sie sich, zurück-
zugehen, um die Tür wieder zu schließen. Es war
durchaus möglich, daß der Wachtposten sich veranlaßt
sah, sie zu untersuchen.
Auf halbem Wege den zweiten Korridor entlang
brannte der Draht wieder, und Merriel wiederholte ihre
Vorstellung. Diesmal jedoch zeigte der Draht, während
sie noch unter dem Strahl lag, einen weiteren an, zu
dicht, als daß es ihr möglich gewesen wäre, auch nur
zu stehen. Und dieser Vorhang reichte ganz bis auf den
Boden hinunter. Das Mädchen blieb eine volle Minute
lang ausgestreckt liegen und versuchte, sich zu beherr-
schen. Nach dieser Pause begann sie mit unendlicher
Vorsicht, das letzte Hilfsmittel aus ihrer Handtasche zu
kramen, einen winzigen, batteriebetriebenen Ultravio-
lett-Generator, der einen breiten, flachen Strahl warf.
Mit Hilfe des fluoreszierenden Drahtes richtete sie den
Strahl auf den gleichen senkrechten Streifen auf der
359
gegenüberliegenden Wand, auf den der Originalstrahl
traf; daß dies die linke Wand sein mußte, war daraus
ersichtlich, daß die rechte Seite des Drahtes fluores-
zierte. Die Photozellen nahmen die Überladung ruhig
auf, und Merriel machte, dem Zusammenbruch nahe,
wieder eine Pause. Nach der Arbeit in dieser unbe-
quemen Stellung, unter psychischer Anspannung, war
sie naß wie nach einem Bad.
Als sie sich halbwegs wieder erholt hatte, krabbelte
sie hinter die außer Gefecht gesetzten Photozellen und
ließ den ausgerichteten Generator hinter sich zurück.
Es war hoffnungslos, ihn hinter dem zweiten Vorhang
wegzunehmen, ohne seine Ausrichtung zu zerstören.
Sollte noch ein weiterer Strahl da sein, war sie ge-
schlagen.
Es gab keine weiteren. Im nächsten Augenblick
stand sie vor der Tür der Gefangenen.
Zu dieser Tür besaß sie keinen gestohlenen Schlüs-
sel. Das einzige, was sie hatte tun können, war, einen
Wachsabdruck zu machen, und der Trick, mit dem sie
ihn sich verschafft hatte, war aus einem Guß mit dem
unvernünftigen Wagemut dieser Nachtarbeit. Sie erin-
nerte sich an das warme Wachs in ihrer Hand. »Ist das
meiner?« hatte sie gefragt, als sie Bests Schlüssel an
sich genommen hatte. Sie hatte so getan, als prüfe sie
ihn genauer, währenddessen sie ihn die ganze Zeit mit
den Fingern in das Wachs auf ihrer Handfläche preßte.
»Ich dachte, es sei der Schlüssel zu meinem Schreib-
tisch«, hatte sie dann gesagt, und gab ihn zurück. Best
hatte sie sonderbar angesehen; der höfliche, immer
strahlende Best, dem ihr Herz sich zugewandt hatte, bis
sie entdeckte, daß auch er in das ungewöhnliche
Verbrechen verstrickt war, menschliche Wesen von
hundert verschiedenen Planeten in dem Raum hier
360
gleich hinter dieser Tür gefangenzuhalten, um im Na-
men der Anthropologie ihre Reaktionen zu studieren.
So hatte sie nach dem Abdruck den Schlüssel angefer-
tigt, wohl wissend, daß er unzulänglich sein konnte.
Noch ein Zufall, dachte sie; es war ein Wunder, daß sie
überhaupt so weit gekommen war. Sie nahm eine win-
zige Kamera aus ihrer Handtasche und tastete in der
Dunkelheit nach dem Schloß. »Diese cleveren Teufel«,
murmelte sie laut. Sie meinte Best und all die anderen.
Sie steckte den Schlüssel ein.
Merriel wurde zu einer Frau des Lichts. Elektrische
Funken umgaben sie mit einem Glorienschein, und
eine überwältigende Kraft schleuderte sie gegen die
Tür, die sie zu öffnen versucht hatte. Sie sollte nicht
verletzen, sondern nur festhalten, aber erschöpft von
ihrer langen, schweren Prüfung, hatte das Mädchen
keine Widerstandskraft. Der Atem wurde ihr aus den
Lungen gepreßt, und ihre unglücklich eingeklemmten
Rippen zerbrachen unter dem Druck. Der Gang war von
Licht überflutet, und überall schellten Alarmglocken.
Sogar, als ihr Bewußtsein sich verdunkelte, konnte sie
noch immer die Glocken schrillen hören, endlos schril-
len.
Das zentrale Problem, dem wir gegenüberstehen,
wenn die terrestriale Kontrolle ausgeweitet wird, um
Planeten oder Systeme einzubeziehen, die Jahrhunderte
lang von der Mutterkultur isoliert gewesen sind, ist die
soziale Neurose. Man muß daran erinnern, daß die
große Emigration, die auf die Entwicklung des Shroe-
dinger Antriebs folgte, das unkontrollierte Produkt
einer chaotischen Ära gewesen ist und größtenteils
einen Protest gegen die bestehenden Verhältnisse dar-
stellte. Die Emigranten rekrutierten sich daher aus den
am meisten abweichenden Elementen der Bevölkerung
361
und waren durch verschiedene Ideale von sozialer Ge-
rechtigkeit motiviert, die zu Hause nicht populär wa-
ren. Daraus resultierte, daß die Hauptarbeit der Kolo-
nisation von jenen Männern und Frauen getan wurde,
die am wenigsten mit dem breiten Strom der terrestria-
len Kultur jener Tage sympathisierten, die vielmehr
geneigt waren, soziale Strukturen zu entwickeln, die
von denen, die sie zurückgelassen hatten, verschieden
waren. Als die Kräfte, die den ersten Exodus veranlaßt
hatten, erschöpft waren, setzte eine langsame kontrol-
lierte Expansion ein, die schließlich die ursprünglichen
Kolonisten überwältigen sollte, welche inzwischen in
wirksamer Isolation die andersartigen und oft bizarren
Gesellschaftsformen entwickelt hatten, die uns heute
überraschen.
Das gewaltsame Einreißen der Isolationsmauer, die
solch eine Kultur schützte, führt, wie sich in der Ver-
gangenheit gezeigt hat, zu einer Reihe von Übeln: ge-
genseitiger Mangel an Verständnis, aktiver Widerstand
und abweisende Antipathie sind die gewöhnlichen Fol-
gen des Versuchs, die neue Gesellschaft unter terre-
striale Kontrolle zu bringen. Eine Kultur ist ein ein-
heitliches Ganzes, entsprechend einem urzeitlichen
Sprichwort: »Gott gab jedem Volk einen Kelch voll
Erde, und aus diesem Kelch tranken sie ihr Leben.«
Die terrestriale Kontrolle hat in der Tat den Kelch
zerbrochen, indem sie fundamentale kulturelle Werte
verletzte; ihrer beraubt, schleppt die Gesellschaft sich
ohne Bedeutung und Kreativität dahin.
So kommt es, daß die terrestriale Expansion weni-
ger ein Triumphmarsch als ein sich ausbreitender
Schandfleck der Zerstörung und planetarischen Neuro-
se gewesen ist. Wir mußten die Lektion von der essen-
tiellen Einheit einer Gesellschaft und den Katastro-
362
phen, die der Zerstörung scheinbar unwichtiger Kul-
turelemente folgen, neu erlernen. Wir mußten neue
Verhaltensweisen der Gewissenhaftigkeit und Beschei-
denheit im Umgang mit Kulturen entwickeln, die uns
anomal erscheinen. Vor allem – und das ist die der
DEI hauptsächlich verbleibende Aufgabe – mußten wir
wirklich objektive Methoden erfinden, die uns erlau-
ben, die wesentlichen Elemente neuer Kulturen ohne
terrestriale Vorurteile zu bewerten. Nur auf der Basis
solch unpersönlicher Wertungen kann eine Gesell-
schaft unter terrestriale Vormundschaft gebracht wer-
den ohne irreparablen Schaden oder totale Vernich-
tung.
Das Tonbandgerät klickte, als Lloyd Best aufhörte,
zu diktieren. Er erhob sich, ging in die Küche und be-
gann mit Eiswürfeln herumzufummeln, um einen
Drink herzustellen. Best war einer jener Männer, bei
denen man sicher sein kann, daß sie jede manuelle Tä-
tigkeit verpfuschen; infolgedessen schien ihm die ge-
wöhnliche Lebenstätigkeit außerhalb seiner Arbeit aus
unzähligen kleinen unerfreulichen Pflichten zu beste-
hen. Wehmütig erinnerte er sich an das Geschick, mit
dem seine Sekretärin Drinks und dazu noch ein kleines
Abendessen bereitet hatte, wenn sie ihm bei einer zu-
sätzlichen Arbeit in seinem Appartment half. Jene
Nächte waren angenehm. Eine Zeitlang hatte er ge-
glaubt, es werde eine tiefere Beziehung entstehen, aber
in letzter Zeit war Merriel ganz kalt gewesen.
Nach einem planlosen Geplansche trug er sein Ge-
bräu ins Wohnzimmer zurück und setzte sich neben
das Tonbandgerät, fing aber nicht gleich zu diktieren
an. Er überdachte noch einmal, was er bereits gesagt
hatte und versuchte festzustellen, ob ihm irgendwelche
Andeutungen entschlüpft waren. Das Lehrgangsmate-
363
rial für den Übungskurs der DEI-Interpretations-
abteilung durfte keinerlei Anspielungen auf die Gefan-
genen enthalten, nicht einmal indirekte. Er seufzte träge.
Die Gefangenen waren eines der großen Geheimnisse
des Departments. Jede Veröffentlichung dieser Methode,
individuelle kulturelle Motivationen zu bestimmen,
ließ eine überschäumende Reaktion von Seiten der be-
troffenen Gesellschaften erwarten. Zweifellos war die
aus dem Studium der Gefangenen gewonnene Informa-
tion die durch die Notwendigkeit der Geheimhaltung
erforderte Mühe wert, aber Lloyd fand sie äußerst wi-
derwärtig. Die unaufhörliche Geheimnistuerei machte
es unvermeidlich, daß es einige Wissende und einige
Nicht-Wissende geben sollte, und zerstörte gewisser-
maßen den Sinn einer vereinten Inangriffnahme des
Problems der Motivationen. Der Versuch, Information
zugleich zu vermitteln und zurückzuhalten, war fru-
strierend. Er schärfte seinen Geist an dem doppelten
Problem:
Auf praktischer Ebene hängt die Bewertung kultu-
reller Motivationen von der Analyse geschulter Beob-
achter ab und findet ihren Platz in der allgemeinen
Disziplin zeitgenössischer Anthropologie. Den Gegen-
stand dieses Studiums bildet die Synthese des Indivi-
duums und seiner Kultur. Das Verständnis für diese
Synthese war das große Meisterstück der Anthropolo-
gen des zwanzigsten Jahrhunderts, und zu ihrem Scha-
den haben die galaktischen Politiker des einundzwan-
zigsten und zweiundzwanzigsten Jahrhunderts es außer
acht gelassen. Seither sind wir klüger geworden, und
das Department für extraterrestriale Integration ist ein
Ergebnis dieser Reform. Tatsächlich ist es ein riesiges
Laboratorium für angewandte zeitgenössische Anthro-
pologie, deren Entdeckungen es der Erde ermöglichen,
364
die Sozialstruktur ihrer Töchter ohne die Gewißheit
einer Katastrophe zu ändern.
Lloyd schlürfte seinen Cocktail und ordnete seine
Gedanken.
Es ist offenbar, daß die Anthropologie das Problem
der Persönlichkeit in Angriff nimmt, wo es sich auf
einem Stand befindet, wo es diffus, statistisch und in
gewissem Grade subjektiv ist. Keine Summe von
Übung und Erfahrung garantiert ein von den Vorurtei-
len des Beobachters freies Urteil. Erst, wenn die Me-
chanismen von Persönlichkeit und Neurose aufgedeckt
sind, werden unsere Lösungen die solide Zuverlässig-
keit haben, die nur dann erwartet werden kann, wenn
unser Studium seinen Platz als Randgebiet der Physik
einnimmt.
Das Studium des Persönlichkeitsmechanismus hat
eine lange Geschichte im menschlichen Denken ge-
habt, und eine erfolgreiche Lösung ist nicht völlig aus-
geschlossen. In der Tat könnte es scheinen, daß die
zentralen Probleme, die der Menschheit keine Ruhe
lassen, dahin tendieren, sich zu vollständigen oder
partiellen Lösungen irgendeiner Art vorzuarbeiten.
Der Stein der Weisen führte zur Atombombe. Spekula-
tionen über die Stellung des Menschen im Universum
wurden von den Griechen, von Newton, von Einstein
und von Scharen späterer Kosmogonisten beantwor-
tet. So hat sich auch der künstliche Mensch aus dunk-
len Anfängen in Mythos und Magie über die Uhr-
werk-Figuren des achtzehnten und die Maschinen des
neunzehnten Jahrhunderts mit dem lernfähigen
Schachautomaten von Wiener und Shannon zu einer
einfachen, aber nicht trivialen Lösung entwickelt.
Schon bevor solch ein Programm der Maschine einge-
geben wurde, deutete eine Untersuchung seiner be-
365
grifflichen Grundlagen darauf hin, daß er als Modell
für das Studium des Persönlichkeitsmechanismus die-
nen könnte. Tatsächlich wurden in dem Schachauto-
maten die Bedingungen für neurotisches Verhalten
festgestellt: vielfache Grundlagen für eine Entschei-
dung; Vorurteile gegen Daten gewisser Art und eine
Fähigkeit zur Assoziation, aufgrund derer das Vorur-
teil so operiert, daß eine Zurücknahme ungünstig be-
einflußt wird, in einer Weise, die für das Treffen kor-
rekter Entscheidungen verhängnisvoll ist. Perfektio-
nierte Modelle dieser Art
Das Visiphon lärmte. Lloyd schaltete das Ding an
und sah, daß der Schirm von dem besorgten Gesicht
Howard Rapers ausgefüllt wurde, des Direktors des
DEI, der aus dem Konferenzraum der Verwaltungsab-
teilung sprach. Hinter dem Direktor scharten sich die
ranghöchsten Mitglieder des Departments um den lan-
gen Tisch, während Joel Ferguson von der Abwehr
durch den Raum schritt.
»Können Sie sofort kommen, Best? Es ist ein Ver-
stoß gegen die Sicherheit vorgefallen.«
»Tatsächlich?« Der Direktor nickte. »Wessen Per-
sonal?«
»Von der Interpretation. Jemand von Ihnen.«
Lloyd unterdrückte den Impuls, zu fragen, ob die
Angelegenheit die Gefangenen betraf. Nicht über eine
öffentliche Sprechanlage! Er nickte dem Schirm zu.
»Ich bin gleich unten.« Raper legte auf.
Lloyd kramte in dem Appartment nach seinem Man-
tel und überlegte. Ohne zu wissen wie, wußte er, daß
es Merriel sein mußte. Er überdachte ihr Verhalten,
ohne den geringsten Beweis für seine Annahme zu fin-
den, doch die sonderbare Gewißheit blieb bestehen.
Schließlich kam er darauf, daß man es ihm, sobald er
366
in die Konferenz kam, sagen würde. Nach einer heroi-
schen Suche fand er den Mantel und ging.
Das vergessene Tonbandgerät schnarrte in dem lee-
ren Appartment weiter.
Als Lloyd den Konferenzraum betrat, war Ferguson
gerade dabei, die Abwehr zu verteidigen:
»Sicher, wir hätten auf jedem Kubikzentimeter des
Ausgangs eine Falle errichten können, aber es ist keine
gute Abwehr, ein Geheimnis dadurch aufzudecken,
daß man es ankündigt! Bedenken Sie die Zahl von Ar-
beitern, die hätten wissen können, daß da etwas Über-
wachenswertes war. Wie die Dinge lagen, haben wir
die Lichtschranken als automatische Mechanismen zur
Öffnung von Schwingtüren eingebaut und später die
Türen entfernt. Und erinnern Sie sich, daß wir einen
Wachtposten im Korridor hatten. Und überhaupt, die
Vorsichtsmaßregeln waren angemessen, zumindest für
diesen Zweck; Sie scheinen zu vergessen, daß das
Mädchen aufgehalten wurde!«
Lloyd, der die Blicke auf sich gerichtet spürte, fand
einen Stuhl. Ferguson fuhr fort:
»Und in diesem Fall schien kein Grund für mehr als
die Routine-Kontrolle zu bestehen. Das Mädchen hatte
die übliche Vergangenheit: College-Abschluß, spezia-
lisiert auf zeitgenössische Anthropologie (es war also
Merriel!), Exkursionen zu den üblichen Planeten und
so fort – die gewöhnliche Routine. Bevor sie zur Inter-
pretation versetzt wurde, hat sie bei einigen Delegatio-
nen für Marktforschung gearbeitet. Keine Andeutung
irgendeiner Abweichung.«
Raper unterbrach ihn, um vorzuschlagen, Lloyd Be-
richt zu erstatten. Ferguson stellte in großen Zügen die
Einzelheiten dar und schloß dann: »Offenbar hat sie
den Schlüssel zur ersten Tür gestohlen und für die
367
zweite einen Nachschlüssel angefertigt. Das schlug
natürlich fehl: es ist ein Induktionsschloß, das auf ei-
nen Hohlresonator im Schlüssel abgestimmt ist. Offen-
sichtlich wollte sie die Gefangenen fotografieren, zu
welchem Zweck, kann ich mir nicht vorstellen. Politi-
sche Erpressung wahrscheinlich. Oder vielleicht glaubte
sie, eine Zeitung würde sie für eine Exklusiv-Meldung
bezahlen. Wichtiger als ihre Motivation ist, wie sie so
viel über die Gefangenen herausfinden konnte, oder
auch nur, daß sie überhaupt existieren. Meine Vermu-
tung geht dahin, daß fahrlässig geredet worden ist.« Er
vermied es, Lloyd anzusehen, aber die Worte hingen in
der Luft.
Lloyd war begierig, den Hinweis aufzugreifen.
Sonst stets gelassen, hegte er jetzt einen Groll, der seit
Rapers Anruf ständig gestiegen war. Ferguson war ein
ebenso gutes Angriffsziel wie jeder andere.
»Es ist gut möglich, daß geredet wurde«, wählte er
seine Worte. »Ich weiß nicht, ob ich es als fahrlässig
bezeichnen soll. Vielleicht ist es Ihnen nie eingefallen –
und ich sage das nicht nur zu Joel –, daß es schwierig
ist, ein kompliziertes Projekt zu leiten, ohne manchmal
darüber zu reden. Und wenn geredet wird, kann je-
mand zuhören, besonders die Chefsekretärin einer Ab-
teilung. Auch ist da die Sache mit der Korrespondenz.
Eine Methode zu finden, wie sie geführt werden kann,
ohne gelesen zu werden, dürfte schwierig sein. Eine
findige Frau wie Miss Stevenson konnte ein Gutteil
Tatsachenmaterial sammeln, ohne mein Büro zu ver-
lassen.«
Ferguson brauste auf. »Jeder Fetzen interne Korre-
spondenz wird von der Abwehr durchgesehen!«
»Ja, aber wie! Ich weiß, daß der gewöhnliche Bo-
tendienst durch Ihr Büro gefiltert wird. Geträufelt wäre
368
vielleicht treffender. Aber so bedauerlich es sein mag,
Ihren gewissenhaften jungen Leuten fehlt es etwas an
wissenschaftlichem Scharfsinn. Nachdem sie die Hin-
weise ein paarmal aus einem Bericht herauszensiert
haben, gilt er als geeignet, persönlich an meinem
Schreibtisch abgeliefert zu werden. Tatsächlich ist das
unschöne Gezeter über einige der sinnlosen Kniffe der
Abwehr geeignet, zu enthüllen, daß mehr als das Übli-
che geheimgehalten werden sollte. Ferner: der törichte
Akt; einen Abteilungschef mit einer persönlichen Se-
kretärin auszustatten, die für Geheiminformationen
nicht zugelassen ist …«
Hier fiel Raper ein: »Lassen wir die Gegenbeschul-
digungen. Joel hat nur versucht, seinen Job korrekt
auszuführen.«
»Aber hat er das? Ihr alle scheint die Tatsache zu
übersehen, daß einer der Leute, für die ich verantwort-
lich bin, verletzt worden ist. Ich hatte den bestimmten
Eindruck, die Vorsichtsmaßnahmen zur Bewachung
der Gefangenen seien auf die Entdeckung beschränkt!«
Lloyd musterte die Gruppe. »Sie finden es sonderbar,
daß ich mir Sorgen um Miss Stevenson mache? Zwei-
fellos meinen Sie, daß ihre Handlungsweise sie jenseits
allen Mitleids verurteilt, aber Sie vergessen, daß ihre
Motive bisher völlig unbekannt sind. Soweit es mich
betrifft, ist es eine armselige Interpretation, die die
bloßen Fakten für sich sprechen läßt; gewöhnlich spre-
chen sie nur die eigenen Vorurteile an. Ich werde das
Urteil aussetzen, bis ich genau weiß, was das Mädchen
getan hat. Ich möchte vorschlagen, die Angelegenheit
in der Interpretations-Abteilung zu belassen, bis wir
irgendwie daraus schlau werden können.«
»Der Fall gehört jetzt in die Hände der Abwehr!«
Ferguson war wütend.
369
»Diesmal wird der Abwehr gestattet, auf ihre Ver-
antwortlichkeiten zu verzichten.« Lloyds überspannter,
kategorischer Ton zeigte, daß seine Aussage ein Ulti-
matum bedeutete. Ferguson sagte keinen Ton; es war
kaum zu bezweifeln, daß, wenn es zu Lloyd Bests
Rücktritt kam, das Department sich eher von hundert
Abwehrmanagern trennen würde. Raper brach das
Schweigen:
»Wir werden es dabei belassen. Lloyd wird Bericht
erstatten, wenn er fertig ist.«
370
Lloyd lauschte mit einem Erstaunen, das sich zum
Schrecken steigerte, während das Mädchen weiterflü-
sterte. Die Gefangenen, die Gefangenen! Die Worte
trafen ihn mit einer neuen Bedeutung. Fergusons Arg-
wohn fiel ihm wieder ein: »Zu welchem Zweck, kann
ich mir nicht vorstellen; politische Erpressung viel-
leicht. Oder eventuell glaubt sie, eine Zeitung würde
sie für eine Exklusivmeldung bezahlen.« Das Mädchen
wollte einfach den Gefangenen helfen! Das krasse
Mißverhältnis überkam Lloyd, und er lachte laut auf.
Merriel zuckte zusammen. Langsam kamen ihr die
Tränen.
Lloyd berührte ihre Wange. »Ich lache nicht über
dich«, sagte er sonderbar rauh. »Ein bißchen über mich
selbst.«
Ihre Bitte äußerte sich in einem Wortschwall. »O
Loyd, bitte hilf ihnen! Nichts was du herausfinden,
nichts, was du lernen kannst, ist eine solche Folter
wert! Sie zu versklaven. Mit ihnen zu experimentieren.
Wie kannst du Menschen das antun? Wie kannst du
das tun? Ich dachte, du seist so anders. So nett. Ich
dachte …«
Merriel brach ab. Lloyd entdeckte, daß er ihr Haar
streichelte, und versuchte sie zu beruhigen. Er wußte
nichts zu sagen.
»Du mußt ihnen helfen, es gibt sonst niemanden
mehr. Ich habe versagt.« Der dunkle Schrecken von
Ausgang D überkam sie. Es war nicht die unter Strom
stehende Tür, an die sie sich erinnerte, sondern die Mi-
nuten, die sie unter dem Strahl verbracht hatte. »Es war
wie ein langer Alptraum, ich lag da, wagte nicht zu at-
men und mußte versuchen, den Generator anzubringen.
Es war, als ob die Zeit still stünde, als sei ich da auf
ewig!« Schluchzer schüttelten sie. »Bitte hilf ihnen.«
371
Lloyd stand über ihr und flüsterte eindringlich. »Es
ist in Ordnung. Es ist in Ordnung, Merriel. Du mußt dir
keine Sorgen um sie machen; ich werde mich um alles
kümmern! Verstehst du? Verstehst du, daß alles in
Ordnung kommen wird?«
Das Madchen hörte auf zu weinen. Lloyd hielt ihre
Arme fest, halb scherzend, halb liebkosend. Schließ-
lich lächelte sie. »Schlaf jetzt und werde gesund und
stark!« Es war noch erheblich mehr, was Lloyd sagen
wollte. Irgendwie erriet es Merriel und war getröstet.
Sie schloß die Augen. Nach einer Weile ging er.
An der Tür traf er den Arzt, der das Ende seines Be-
suchs erwartet hatte. »Wie bald wird sie diese Folgen
überwunden haben?« fragte er.
»Praktisch sofort. Morgen können Sie ihre Befra-
gung fortsetzen.«
In Lloyd stieg der ganze elende Vormittag wieder
hoch. »Halten Sie mich für ihren Inquisitor? Danach
habe ich nicht gefragt! Wie bald wird sie völlig gesund
sein?«
»Gebrochene Knochen brauchen Zeit, um zusam-
menzuwachsen. Miss Stevenson hat auch noch andere
innere Verletzungen erlitten. Keine davon ist sehr
ernst, aber es wird einige Wochen dauern, bis sie ent-
lassen werden kann.«
Diese Antwort, die den Tatsachen entsprach, brächte
Lloyd zur Erde zurück. Er nickte und ging.
Zurück im DEI vergrub er sich in seinem Büro und
nahm keinerlei Anrufe an. Eine schöne Bescherung!
Die Gefangenen! Warum hatte man ihnen nicht einen
weniger naheliegenden Decknamen gegeben? Und
jetzt lag Merriel unter der Marter physischer und psy-
chischer Qualen, und er sah keinen Weg, sie vor einer
Anklage wegen Spionage zu bewahren. Gewöhnlich
372
konnte ein Abteilungschef der DEI bei sich selbst als
Richter fungieren, aber ein Verbrechen gegen das De-
partment war nicht gewöhnlich. In einer unerhörten Art
und Weise hatte er seine Macht in die Waagschale ge-
worfen, um den Fall der Abwehr zu entziehen. Wahr-
scheinlich hatten sie den idiotischen Eindruck, er sei
unsterblich in das Mädchen verliebt. Er hatte die
schwachsinnige Abwehrroutine einfach satt und war
deprimiert über die Unschuldstragödie seiner Sekretä-
rin. Eines jedenfalls konnte er tun! Seine Gedanken
konzentrierten sich: »Ein Foto in der Zeitung«, hatte
Merriel gesagt. »John hat es versprochen!« Es gab ei-
nen Komplizen bei der Sache, jemand, der dem un-
glücklichen Mädchen erlaubt hatte, für das Foto seinen
Kopf zu riskieren, und der gleichfalls der Spionage
schuldig war. Es fiel ihm nicht schwer, zu erraten, wer
dieser John war. Er schaltete das Haustelefon ein und
verlangte Ferguson.
»Hier Ferguson.« Die Stimme war eisig.
»Jod, ich schicke eine Bandaufnahme von Miss Ste-
venson runter, einfach irgendein Bürodiktat. Ich bin
sicher, daß einer eurer Agenten in kürzester Zeit die
Stimmodulation schlucken kann. Hast du Material für
ein visuelles Bild?«
»Natürlich.«
»Ich möchte, daß sie das Verlagsbüro des Messen-
ger anruft und John verlangt. Das ist John Lyons, der
Besitzer. Wenn er mit ihr spricht, soll sie sagen, daß sie
das Foto von den Gefangenen hat und ihn treffen
möchte. Den Ort kannst du bestimmen. Wenn er die
Einladung annimmt, soll er in mein Büro entführt wer-
den. Kannst du das?«
»Sicher.« Pause. »Darf ich etwas mehr erfahren?«
»Tut mir leid, Joel, im Augenblick nicht.« Lloyd
373
zögerte. »Joel, es tut mir auch leid wegen des Theaters
gestern abend. Die Nachricht hat mich in Erregung
versetzt.«
»Sie hat uns alle erregt.« Ferguson war kalt. »Das ist
dann also alles.«
374
Schuldgefühl ließ ihn Beifall ersehnen. Das konnte der
Messenger ihm nicht geben, aber zumindest garantierte
er Aufmerksamkeit, die er als Ersatzbefriedigung ak-
zeptierte. Wie viele unbefriedigte Menschen war er
von einer großen Anzahl gewissenhafter Vertrauter
umgeben, die er periodisch abstieß. Seine Macht und
Berühmtheit machten es ihm leicht, solche Menschen
zu treffen, und sein Mangel an Entschlußkraft fand in
ihrer Aufrichtigkeit etwas Vitales und Notwendiges,
das ihn wie einen Parasiten anzog. Eigenartigerweise
konnte er daher ausgezeichnet Charakter und Integrität
beurteilen, und diese Eigenschaft war es, die ihn an
Merriel Stevenson fesselte. Merriel hatte sich in sein
Büro begeben, um die Geschichte ihres Verdachts hin-
sichtlich der Gefangenen in ihrer typisch einfachen Art
zu erzählen. Sie hatte ihren DEI-Ausweis gezeigt und
über Amtsangelegenheiten gesprochen. Die Geschichte
mit den Gefangenen interessierte ihn; das war genauso
ein Ding, das der Messenger hochgehen lassen konnte.
Aber das aufrichtige, lebhafte Mädchen interessierte
ihn noch mehr, und um ihre Zuneigung zu gewinnen,
hatte er das unleugbare Risikoelement in einer Sache,
die schließlich ein Spionagefall war, außer acht gelas-
sen.
Dennoch konnte er die Geschichte nicht ohne Beleg
drucken lassen. Das bedeutete ein Foto. Merriel war
bereit es zu versuchen, wenn er ihr mit einigen Appara-
ten behilflich war, die in der Maschinen-Werkstatt des
Messenger hergestellt werden konnten. Sie brauchte
einen Ultraviolett-Detektor und einen Spaltstrahlenge-
nerator. Das würde genügen, schloß sie aus Hinweisen,
die sie in Bests Büro aufgeschnappt hatte, und aus ihrer
früheren Erfahrung in der Marktforschung, der Pio-
nierabteilung des DEI. Lyons wurde sich vollends be-
375
wußt, daß die Lieferung des Werkzeugs ihn mitschul-
dig machen würde und versuchte Zeit zu gewinnen,
indem er inzwischen bei einer Reihe von Einladungen
zum Essen in verschiedenen exklusiven Klubs eine
persönliche Beziehung zu Merriel entwickelte.
Miss Stevenson war jedoch keine leichte, romanti-
sche Eroberung. Bei der Marktforschung hatte sie sich
einen beträchtlichen Grad von Weltklugheit angeeig-
net. Die aggressiven Männer dort mit ihren durch Ab-
stinenz geschärften Trieben waren zügellos gewesen.
Sie befand sich dort in einer schwierigen Position, um
ihre etwas provinziellen Ansichten klarzustellen, aber
sie tat es. Und Lyons war nicht erfolgreicher. Schließ-
lich sah er ein, daß er, wenn er die Freundschaft des
Mädchens nicht ganz verlieren wollte, ihr helfen müsse.
Letzten Endes konnte man sich auf den Messenger ver-
lassen. Seiner Zahlungsfähigkeit wegen würde er für
ihn bürgen.
Er war entzückt über Merriels Anruf. Sie hatte das
Foto und der Messenger eine neue Kampagne. Und
wenn er geschickt vorging, würde er wahrscheinlich
auch das Mädchen haben. Die Welt war ein herrlicher
Ort! John Manning Lyons pfiff sogar vor sich hin, als
er sich auf den Weg zu seiner Verabredung machte.
Wheeler hielt ihm am Bordstein die Tür des blauen
Wagens auf. Der fähige Chauffeur manövrierte den
großen Wagen mit jener kalkulierten Rücksichtslosig-
keit in den Verkehrsstrom, die sein Kompromiß zwi-
schen dem Gesetz und Lyons’ gewöhnlicher Ungeduld
war. An der zweiten Kreuzung wurde er von einem
Verkehrsstreifenwagen leicht gerammt. Der Beamte
stieg aus, besah sich die eingebeulte Front seines Op-
fers und machte ts-ts-ts. Gleichmütig überhörte er Ly-
ons’ aufgebrachten Vortrag und führte Wheeler, der
376
ihn zur Rede stellen wollte, ab. Von dessen Fahrweise
schien er in toto eine entgegengesetzte Meinung zu
haben. Lyons ließ er zurück, so daß dieser seine Fahrt
in dem bequemen Taxi, das gerade vorbeikam, fortset-
zen konnte. An der nächsten Ecke bremste Ferguson
das Taxi auf Schneckentempo herunter, um Sonderper-
sonal aufzunehmen. Joel hatte die Operation persönlich
überwacht, und unter seiner Leitung erfüllte die Ab-
wehr ihre gewöhnlich fehlerfreie Funktion.
Lyons verschwitzte eine böse Nacht in Haft. Unter
der völligen Nichtbeachtung durch seine Häscher wich
seine erste Wut einer bewußteren Verzweiflung über
seine Verhaftung. Lyons war bei weitem nicht dumm.
Er konnte die Identität seiner Bewacher deutlich genug
erraten. Noch erschreckender war, daß er die volle Be-
deutung ihrer unbekümmerten Frechheit erkannte: Sie
fürchteten weder ihn noch den Messenger, und die
richtigste Vermutung war, daß sie nicht die Absicht
hatten, ihn je freizulassen, damit er die Zeitung als
Vergeltungsinstrument gegen sie verwenden konnte.
Seine Gedanken verweilten bei einer unendlichen Viel-
falt von Alibis und Ausreden, aber es kam nichts dabei
heraus. Tief unterschwellig saß noch ein Stachel, der
ihn peinigte und verwirrte. Merriels Verrat. Jedes
Wort, das sie über das Visiphon gesprochen hatte, je-
der trügerische Ausdruck auf ihrem attraktiven Gesicht
war in sein Hirn eingebrannt. Mühelos überredete er
sich, daß seine Absichten ihr gegenüber mehr als eh-
renhaft waren – altruistisch sogar. Und dennoch hatte
sie ihn verraten! Ihn, John Manning Lyons, den außer-
gewöhnlichen Menschen! Wie in einen Kokon spann
sein verwundetes Ego sich in ein rührendes Drama ein.
Es erregte Lloyds heftigen Widerwillen, daß er sich
bei diesem selben Drama in der Rolle des Zuschauers
377
befand. Längst bevor er Lyons je begegnet war, hatte
er sich eine klare Meinung über diesen Mann gebildet.
Der Sachverständige für hunderte von Kulturen konnte
kaum umhin, präzise den neurotischen Charakter hinter
einer Publikation wie dem Messenger zu erkennen.
Aber selbst ihm wurde übel bei Lyons’ monotonem
Fluchen auf das Mädchen, das er auf dem Krankenla-
ger wußte. Ferguson war emsig gewesen. Auf Lloyds
Schreibtisch lagen der Detektor aus verkleidetem Draht
und der Ultraviolettgenerator, die Merriel benutzt hatte.
Daneben lagen die Werkzeuge, mit denen sie in der
Maschinenwerkstatt des Messenger hergestellt worden
waren, und eine Photokopie des Auftrags dafür, der
Lyons’ Unterschrift trug. Lyons wischte sie beiseite.
»Ich gebe es zu. Ich gebe zu, ihr geholfen zu haben.
Aber sie hat es ausgeführt! Sie hat es geplant und dann
mich beschuldigt! Das wissen Sie. Sie wissen, daß sie
mich angerufen hat, damit ich auf Ihre Agenten treffe.
Das ganze Gerede von Humanität!« Er verfiel wieder
in sein wildes, monotones Fluchen.
»All das Gerede, was auch immer es war, hat
schwerlich Ihre Verantwortung als Mitschuldiger bei
der Spionage verringert. Auch bin ich, Mr. Lyons, mit
diesem Ihrem Skandalblättchen hinreichend bekannt,
um Sie von irgendwelchen altruistischen Motiven in
diesem Fall freizusprechen. Das bezeugen die Opfer
Ihrer vielen Verleumdungskampagnen. Nein. Sie wa-
ren auf eine Sensation aus, und diesmal sollte das De-
partment für Extraterrestriale Integration das Opfer
sein.«
»Sie sind nicht der Richter meiner Moral! Wenn Sie
Motive beurteilen wollen, sollten Sie sich besser mit
dieser widerlichen Stevenson befassen!«
Etwas Boshaftes regte sich in Lloyd. »Aber wie Sie
378
sehen, bin ich Richter Ihrer Moral. In der Tat, genau
das bin ich! Zweifellos ist das, was Sie getan haben,
ein Grund zur Inhaftierung; vielleicht sogar zu noch
strengeren Maßnahmen.« Er ließ die Worte einwirken.
»Aber hier beim DEI haben wir eine ziemlich unge-
wöhnliche Auffassung von Gerechtigkeit. Auf unsere
Art versuchen wir, die Strafe dem Verbrechen anzu-
passen, und wir haben mehr Möglichkeiten, es erfolg-
reich zu tun, als die meisten Justizbehörden. Schon
lange, bevor Sie das offenkundige Verbrechen der Spi-
onage begingen, haben Sie deutlich gemacht, daß Sie
in unserer Gesellschaft zwar lebten, aber nicht wirklich
zu ihr gehörten. Unter dem Deckmantel des Messenger
haben Sie willentlich gelogen, verleumdet und zerstört.
Sie haben Ihr Vergnügen an der Erniedrigung Ihrer
Opfer gehabt. Sie haben unendlichen Kummer verur-
sacht, weil unsere Kultur Ihre Art nicht erwartet und
nicht darauf eingestellt ist, sich gegen Sie zu verteidi-
gen. Aber es gibt einige wenige Gesellschaften in der
Galaxis, die ganz gut mit Ihnen umgehen können. Tat-
sächlich kann ich mich an eine entsinnen, wo fast jedes
Individuum ein verantwortungsloser John Manning
Lyons ist, glücklicherweise ohne einen Messenger.
Sie sehen also, daß Ihre Moral äußerst wichtig für
mich ist, weil ich eine Kultur auswählen muß, wo sie
ohne Schaden agieren kann. Und dahin werden Sie ge-
hen; auf einen Planeten, wo jeder die Hand gegen Sie
erheben wird, so wie Sie es gegen jeden getan haben.
Dort wird keine Chance bestehen, Schwache und Arglo-
se zu verletzen: jeder ist streitsüchtig und argwöhnisch.«
Zwei Wachen traten ein, um Lyons abzuführen. An
der Tür drehte er sich um und wiederholte in krankhaf-
tem Stumpfsinn: »Wegen einer Verleumdung durch
dieses Mädchen muß ich das alles erleiden!«
379
Lloyd machte eine Bewegung, um die Wachen auf-
zuhalten. »Ich will Sie nicht mit einem Mißverständnis
entlassen. Sie bezahlen nicht für Miss Stevensons Sün-
den, sondern für Ihre eigenen. Sie hat Sie nicht verra-
ten. Umgekehrt. Sie haben sie veranlaßt, zu versuchen,
ein Foto von den Gefangenen für Ihr Blättchen zu be-
kommen. Die Folge ist, daß sie im Krankenhaus liegt,
und es ist bloßer Zufall, daß sie wieder genesen wird.
Jene Unterhaltung über Visiphon haben Sie mit einer
durch das Entgegenkommen unserer Abwehrabteilung
sorgfältig konstruierten Erscheinung geführt.«
Lyons blickte überrascht auf. Irgendwie war das am
schwersten von allem zu ertragen. Der plötzliche Ent-
zug einer Person, die er beschuldigen und hassen konnte,
ließ ihn leer und haltlos zurück. Die Wachen führten
ihn ab.
Die Interpretations-Abteilung war ihrer Natur nach
nicht so stark zu Handlungen und Entscheidungen ge-
drängt wie die meisten anderen Abteilungen des DEI,
aber als die Tage vergingen und die Arbeit auf Bests
Schreibtisch sich häufte, begann sein Versagen Scha-
den anzurichten. Lloyd war ein, ungewöhnlicher Be-
amter. Seine natürliche Trägheit in Verbindung mit
seiner Abneigung gegen unwichtige Details bewahrte
ihn vor endlosen Konferenzen, Koordinationen und
Demonstrationen, die den meisten Managern so lieb
und teuer sind. Teilweise war diese Arbeit notwendig,
und die Effektivität seiner Abteilung wurde durch diese
Nachlässigkeit in gewisser Weise beeinträchtigt. Es
gab aber auch einen klaren Vorteil, da der Mangel er-
zwungener Koordination die Notwendigkeit engerer
Zusammenarbeit auf einer Arbeitsstufe zwischen den
Leuten in der Interpretation bedingte, und naturgemäß
paßte sich die Abteilung in dieser Richtung an. Lloyd
380
Bests Beitrag war von ganz anderer Art: er bestand in
seiner Fähigkeit, Tatsachen so in Verbindung zu brin-
gen, daß sie relevant wurden und oft in einem einzigen
Intuitionsakt zu Lösungen führten. Diese Gabe in Ver-
bindung mit höchster fachlicher Brillanz auf dem Ge-
biet der zeitgenössischen Anthropologie hatte ihm den
oft widerwilligen Respekt der anderen DEI-Beamten
und begeisterte Bewunderung seiner Untergebenen
eingetragen.
Die Tatsache, daß Lloyds Beziehung zu seinen Leu-
ten eher die eines Beraters als die eines Koordinators
war, erschwerte die Dinge, wenn seine Hilfe ausblieb.
Es wurden nur ein paar Fehler gemacht, aber sie pas-
sierten bevorzugt auf einer grundlegenden technischen
Ebene, wo sie nicht durch reine Beamten-Flickarbeit
berichtigt werden konnten. Natürlich gab es Gerede,
und Lloyd bemerkte es, aber er schien nichts dagegen
unternehmen zu können. Die wunderbare Konzentrati-
onsfähigkeit war dahin. Sie wurde durch ein anderes
Problem, das von Merriel Stevenson, abgelenkt. Es
schien ebenfalls unlösbar. Er entsann sich seines Ver-
sprechens: »Ich werde alles in Ordnung bringen!«
Aber noch hing die Anklage wegen Spionage wie eine
Gewitterwolke über ihr. Er konnte keine Lösung ent-
decken, und sein plötzlicher Anfall beruflicher Unzu-
länglichkeit schwächte zusätzlich sein Selbstvertrauen.
Schließlich veranlaßte seine Ohnmacht ihn, Hilfe zu
suchen. Er ging zu Sam Pennington.
Selbst unter den Myriaden von Charakteren im DEI
ragte Pennington als Exzentriker heraus. Groß, dünn
und völlig kahlköpfig, betrachtete er die Welt spottlu-
stig unter bleistiftdünnen Augenbrauen hervor. In einer
sauber rasierten Epoche wurde sein Gesicht von dem
dicksten, schwärzesten Schnurrbart, den man sich vor-
381
stellen kann, beherrscht. Auch trug er eine Pfeife zur
Schau, sicher die letzte noch existente; das vorletzte
Exemplar mußte vor Jahrzehnten ausrangiert worden
sein. Seine Respektlosigkeit, besonders seinen Vorge-
setzten gegenüber, war sprichwörtlich. Und überdies
war er vermutlich der fähigste Psychologe der Galaxis,
zumindest, soweit sein Spezialgebiet in Frage stand. Er
war beim DEI für psychologische Konditionierung
angestellt und für die emotionale Haltung jedes Agen-
ten verantwortlich, der zum Einsatz kam. Man sagte, er
könne einen fanatischen Neuling innerhalb einer Stunde
von seiner terrestrischen Moral befreien und ihm in
noch kürzerer Zeit eine neue Haltung aufpfropfen.
Man sagte auch, und mit größerem Recht, er werde für
die Synthese bezahlt, genieße aber die Analyse.
Sams Augenbrauen-Bleistifte hoben sich, als Lloyd
eintrat. Natürlich hatte er Lloyd ein paarmal behandelt,
während dessen Außenarbeitsphase. Das war eine ganze
Weile her; Manipulation von Abteilungsleitern war
verpönt. Er winkte seinen Besucher auf einen Stuhl.
Widerwillig akzeptierte Lloyd. Er kannte diesen
Stuhl mit seiner versteckten Hypophysenspritze; er war
überall im DEI als »der Narkosesitz« bekannt.
»Außeneinsatz?« fragte Sam. »Ich hätte angenom-
men, deine Haut werde für zu kostbar gehalten, um sie
zu riskieren.«
»Nein. Persönliche Probleme. Ich scheine nicht
mehr klar denken zu können, und die Interpretation
steht kurz vor dem Zusammenbruch. Und ich auch.«
Sam war natürlich über alles aufgeklärt, und ein
paar geschickte Einwürfe brachten die ganze Geschichte
ans Licht, angefangen bei Rapers mitternächtlichem
Ruf zu der Abwehr-Konferenz, bei der der Psychologe
auch anwesend war. Schließlich erriet Lloyd die Funk-
382
tion von Penningtons unvermeidlicher Pfeife: Er ge-
brauchte sie fast wie einen Dirigentenstock, indem er
die Erzählung durch kunstvolle Einsätze leitete. Als die
Geschichte zu Ende war, tauchte er aus einer Rauch-
wolke empor.
»Ich vermute, daß ich helfen soll«, bemerkte er,
»aber ich weiß nicht, wie. Das ist ein bißchen anders
als Agentenbehandlung. Es ist nicht allzu schwierig,
das Unsinnsgespinst auseinanderzuzupfen, das den
meisten Menschen als ethischer Schleier dient; zumin-
dest ist es einfach, es soweit zu tun, daß es möglich
wird, genügend Assoziationen und Hemmungen einzu-
impfen, um sie davon abzuhalten, beim ersten Mal, wenn
irgendein Extraterrestrier ihr Gefühl für Schicklichkeit
verletzt, zu explodieren. Es ist eine ganz oberflächliche
Tünche, die ich ihnen gebe. Dein Fall liegt anders. Die-
ser Verlust an Leistungsfähigkeit zeugt von einem inne-
ren Konflikt, und ein wenig sogar von Selbstbestrafung.
Und bei einem Abteilungschef kann ich mich nicht
tiefgreifend einmischen; es ist zu leicht möglich, daß
genau das richtige Gleichgewicht gestört wird, das ihn
brauchbar machte.« Er erlaubte sich ein Grinsen.
»Zumindest können wir einen Blick riskieren und
feststellen, wo dein Problem liegt. Lehn dich zurück.
Es ist die rechte Schulter, wie du weißt.«
Lloyd lehnte seine Schulter in die gepolsterte Rücken-
lehne. Er glaubte, den Stich der Spritze zu spüren.
»Laß uns zurückdenken«, hörte er Sam beginnen, »zu-
rück zu Rapers Anruf und deiner Ahnung, es betreffe
Miss Stevenson. Sonderbar, so etwas: zu wissen, bevor
man es erfährt. Erinnere dich. Dein Appartment. Plötz-
lich wußtest du …« Die Stimme summte weiter.
Unter dem Einfluß der neutralisierenden Spritze er-
langte Lloyd eine klare Bewußtheit. Er stellte fest, daß
383
ein Tisch zwischen ihm und dem Psychologen aufge-
taucht war, der einen Kuchenteller und eine Kaffeema-
schine von uraltem Design trug, aus der Sam gerade
eine Tasse einschenkte. Er reichte sie Lloyd und deutete
auf Zucker und Sahne in einem Silberservice. Die ganze
antike Darbietung erheiterte ihn derart, daß er in offe-
nes Lachen ausbrach.
»Angemessene klinische Reaktion«, meinte Sam.
»Hast du je aufgehört, Best, darüber nachzudenken,
welches die wirkliche Funktion der sonderbaren sozia-
len Zeremonien auf den Planeten, die du studierst, ist?
Sie alle sind kleinere Sakramente, wirklich. Sie befreien
das Individuum während seiner Teilnahme daran von
der Verantwortung, seine Identität aufrechtzuerhalten.
Entlastung von starker Anspannung.«
»Eine sehr allgemeine Aussage natürlich.« Mit Ap-
petit griff Lloyd zu dem Kuchen und genoß die Wärme
des Kaffees. Er fühlte sich sonderbar leicht. Ein plötz-
licher Verdacht tauchte in ihm auf, und er sah den Psy-
chologen scharf an.
»Ich habe soeben aufgehört, daran zu denken, daß
du dich nicht allein auf Kaffee verläßt, um eine post-
analytische Euphorie bei deinen Patienten zu erzeugen.
Tatsächlich, meine Diagnose neigt zu intravenösem
Alkohol.«
Sams Augenbrauen wölbten sich in gespielter ver-
letzter Unschuld. »Ein regelrechter Angriff auf meine
Berufsethik, nichts weniger. Nimm noch eine Tasse.«
Durch die Zerstreuung der künstlich bewirkten Eu-
phorie und die Konversation hindurch schlich sich eine
Ahnung des alten Kummers in Lloyds Bewußtsein. In
plötzlichem Schrecken bemerkte er, daß er tatsächlich
den Zweck seiner Anwesenheit hier vergessen hatte.
Sam bemerkte die Reaktion und nickte.
384
»Laß uns also darauf kommen. Aber laß deinen Kaf-
fee trotzdem nicht außer acht; die Hälfte jeder Therapie
beruht auf der Wahrnehmung, daß das Leben noch etwas
zu bieten hat, sogar nachdem die Ursünde begangen
worden ist. Nicht, daß ich in deinem Fall eine Lösung
aufzwingen wollte.« Lloyd sah ihn schief an. »Ja, auf-
zwingen. Oder, wenn du es vorziehst, vorschlagen,
herbeiführen oder auch vorantreiben. Oder welcher
Terminus auch immer die glückliche Entdeckung des
gelobten Landes, das seinem Analytiker so verdächtig
vertraut ist, von Seiten des Patienten beschreibt. Da das
Problem ganz einfach und der Patient von glänzenden
Geistesgaben und sogar« – Sam ließ offene Ironie in
die Worte einfließen – »in Interpretation geschult ist,
werde ich eine höchst unprofessionelle Methode wäh-
len, einen Fehlschlag kalkuliere ich dabei durchaus ein.
Ich werde dir meine eigene Interpretation sagen, die du
mit einem so verwickelten und trügerischen Verfahren
zurückweisen kannst, wie du willst. Bedenke aber, daß
ich in derartigen Angelegenheiten ganz gut bin. Sonst
wäre es schlecht um eure Agenten bestellt, die durch
meine Hände gehen.«
Lloyd reagierte auf die in der Äußerung des Psycho-
logen enthaltene Brutalität. »Du hast recht, du bist un-
professionell. Auch etwas rachsüchtig. Vielleicht
brauchst du selbst eine kleine Analyse.« Sam grinste.
»Ich werde ab und zu deine Couch aufsuchen.« Er
schlürfte seinen Kaffee.
»Also gut«, sagte er. »Du bist in Merriel Stevenson
verliebt. Bis über beide Ohren.« Er wischte Lloyds
Protest beiseite. »Ich kenne deine Einwände. Ich habe
mir nur ein bißchen die Zeit mit dir vertrieben. Du er-
innerst dich?« Lloyd merkte, daß eine Analyse stattge-
funden hatte und beruhigte sich.
385
»Darauf komme ich später. Inzwischen sieh dir die
Fakten an. Dieses eigenartige Gefühl nach Rapers An-
ruf, das Miss Stevenson mit dem Verstoß gegen die
Sicherheit zu tun habe; kannst du das erklären?« Auf
Lloyds Schweigen fuhr Sam fort: »Also gut. Ich meine,
es deutet lediglich auf einen unwiderstehlichen
Wunsch hin, das Mädchen wäre darin verwickelt.«
»Du sagst, ich liebte sie, wünschte aber, sie sei
schuldig?«
»Sicher. Deine Beziehung zu ihr war abgekühlt. Es
scheint jetzt, daß der Grund dafür ihre Interpretation
deiner Rolle im Falle der Gefangenen gewesen ist.
Aber das wußtest du nicht, und die Zurückweisung, die
du gespürt hast, ist der Grund für deine nachträgliche
Feindseligkeit gegen den Gedanken, daß du sie liebst.
Da das zärtliche Gefühl dennoch vorhanden war, be-
grüßtest du die Vorstellung, sie habe damit zu tun,
denn das würde dir eine Gelegenheit geben, ihr zu hel-
fen und sie zu verteidigen und die abgebrochene Be-
ziehung wiederaufzunehmen. Der weiße Ritter Best!
Und verteidigt hast du sie bestimmt. Wie du weißt, war
ich auf der Konferenz und habe mit angesehen, wie du
Joel Ferguson im Interesse von Miss Stevenson abge-
kanzelt hast wie einen Stümper. Damals fand ich, daß
deine Darbietung nicht so ganz rational war. Ich glau-
be, sogar du würdest zugeben, daß sie übertrieben war.
Ich übergehe die zärtliche Szene im Krankenhaus,
aber sie ist wirklich kaum zu mißdeuten, Best! Un-
glücksfälle sind beim DEI schwerlich unbekannt,
selbst in der Interpretation. Keiner hat dich zuvor so
betroffen wie dieser. Kommen wir jetzt zu dem kurzen
Prozeß mit John Manning Lyons.«
»Du glaubst, das hatte einen persönlichen Grund!«
»Ja. Oh, ich räume ein, daß der berüchtigte Lyons
386
jemand ist, bei dem du es dir überlegen würdest, ihm
aus der Patsche zu helfen, und daß deine Entscheidung
ebenso gerechtfertigt war wie auch bester DEI-
Tradition in Unbarmherzigkeit entsprechend. Wir sind
duldsam mit den Eingeborenen, aber furchtbar hart ge-
gen Terrestrier! Was ich verdeutlichen will, ist, daß dein
Handeln nicht in deiner Tradition lag. Du hast einen gut
beglaubigten Ruf in der Interpretations-Abteilung, deine
Toleranz und Nachsicht betreffend. Nein. Lyons hat,
wie Ferguson, nicht für seine offenkundigen Fehler ge-
litten. Sein wahres Verbrechen war seine Komplizen-
schaft bei dem Abenteuer, das deine Liebste verletzt hat.
Das und vielleicht eine Spur von Eifersucht deinerseits.
Offensichtlich kannte er Mendel gut.«
»Eine nette Sammlung widerlicher Motive schreibst
du mir zu.«
»Eine Sammlung unterschwelliger Motive, ja. Ver-
drängte. Aber sie erklären den inneren Konflikt, der
dich jetzt lahmlegt. Teilweise ist es dein Schuldgefühl
wegen deiner kürzlichen Handlungen, das aus diesen
Motiven erwächst. Aber größtenteils ist es deine ambi-
valente Haltung Miss Stevenson gegenüber, die aus
deinem Gefühl für sie in Verbindung mit deiner Feind-
seligkeit gegen sie entsteht, weil sie dich neulich ab-
gewiesen hat. Diese Zurückweisung, die durch die
Verwirrung wegen der Gefangenen so leicht erklärlich
ist, hat bis jetzt einem Entschluß entgegengestanden,
weil sie nie eingestanden worden ist. Das ist die große
Schwierigkeit. Nicht, wie du Merriel entlasten kannst,
wie du dir eingeredet hast. Das wäre eine Kleinigkeit
für einen Abteilungschef des DEI, der normalerweise
Planeten manipuliert! Aber ob du sie völlig entlasten
oder sie für ihre Zurückweisung deiner Person zahlen
lassen sollst!«
387
Da Lloyd schweigend dasaß, fuhr Sam fort: »Es gibt
eine einfache Lösung. Akzeptiere deine vergangenen
Handlungen, deren Folgen, von den Motivationen ab-
gesehen, niemand anfechten kann. Was die hübsche
Merriel angeht, will ich dir ein offenes Geheimnis ver-
raten. Bis vor einiger Zeit ist ihre offenkundige Be-
wunderung für dich eine Quelle des Amüsements für
das Department und eine Enttäuschung für seine be-
gehrlicheren männlichen Angestellten gewesen. Be-
freie sie, söhne sie mit den Gefangenen aus und ge-
winne das Mädchen. Also spricht Pennington, berühmt
als Ratgeber bei Liebeskummer.« Er grinste.
Als Lloyd gegangen war, schenkte er sich noch eine
Tasse Kaffee ein. Niemand würde nach der eben abge-
laufenen Unterhaltung vermuten, dachte er, daß er Best
wirklich gern mochte.
An dem Tag, als Merriel wieder, soweit genesen
war, daß sie das Krankenhaus verlassen konnte, saß
Lloyd in seinem Büro und wartete. Er dachte über
Penningtons Analyse nach und überlegte, ob er sie
wirklich ganz akzeptieren konnte. Er gab zu, daß vieles
der Wahrheit entsprechen mußte; sicher war das Pro-
blem, Merriel zu entlasten, kinderleicht gewesen, nach-
dem er sich einmal aufgerafft hatte, sich darum zu be-
mühen. Ein Gespräch mit Raper und Ferguson hatte
genügt, ohne daß auch nur die erwarteten Einwände
geäußert worden wären. Ohne daß Lloyd es wußte,
hatte Pennington vorher mit ihnen geredet, und seine
präzise Diagnose hatte überzeugt. Was sein eigenes
Gefühl für das Mädchen anging, war der Zustand ge-
spannter Erwartung, in dem er sich befand, Bestäti-
gung genug. Seine unbehagliche Stimmung ver-
schwand bei Merriels Eintreten.
Sie war geheilt, aber noch blaß, und verwirrt und
388
unsicher. Undeutlich erinnerte sie sich an Lloyds Be-
such an ihrem Krankenbett, aber der Trost, den er ge-
bracht hatte, schwand, als Wochen vergingen und er
ausblieb. Nur heute hatte sie wieder Hoffnung ge-
schöpft, als man ihr die Verabredung mit ihm bestellt
und ihr erlaubt hatte, das Departments-Gebäude ohne
Wachtposten zu betreten. Unsicher lächelte sie ihm zu.
»Geht es besser?« fragte er.
Merriel nickte. »Irgendwie hatte ich geglaubt, du
würdest wiederkommen.«
»Ich hatte soviel zu tun hier mit meinen Bemühun-
gen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Ich wollte nicht
kommen, bevor ich dir nicht sagen konnte, daß alles in
Ordnung ist.«
Ein inneres Strahlen ließ Merriels blasses Gesicht
erglühen und erhöhte die Stimmlage des Mädchens.
»Dann ist also alles in Ordnung. Die Gefangenen sind
frei!«
»Laß uns zuerst von dir sprechen. Es scheint, daß
der Schlamassel, in den du geraten bist, einfach nur auf
einem dummen Irrtum beruhte. Als meine Sekretärin
wäre es für dich erforderlich gewesen, zu allen Geheim-
sachen zugelassen zu sein. Diese Zulassung wurde am
Tag vor deinem Abenteuer rechtskräftig. Also existiert
kein Fall von Verstoß gegen die Sicherheit.«
»Danke, Lloyd.« Merriel entdeckte, daß ihre Augen
feucht waren.
Zwei Jahre beim DEI vermittelten ihr eine vage
Vorstellung von den heroischen Anstrengungen, die
notwendig waren, um diesen »dummen Irrtum« passie-
ren zu lassen. »Und die Gefangenen?«
»Sie sind hier. Daran hat sich nichts geändert.«
Ein Gefühl der Beleidigung und des Verrats über-
kam sie. Wie hatte sie zulassen können, daß dieser
389
Mann sie zweimal enttäuschte! »Warum habe ich dir
wieder vertraut?« flüsterte sie erstickt. »Ich hätte nicht
hierher zu kommen brauchen. Ich hätte stattdessen zu
den Zeitungen gehen können! Glaubst du denn, daß ich
mich selbst retten wollte?« Ihre Stimme steigerte sich
zu einem Schreien. »Du solltest mich lieber schnell
einsperren! Ich werde auf der Straße schreien, um sie
zu retten!«
»Sei ruhig«, sagte Lloyd. »Ich will dir die Gefange-
nen zeigen.« Der Überraschungseffekt brachte sie zum
Schweigen.
»Warum schiebst du deine Entscheidung nicht auf,
bis du sie siehst? Es hat mehr als einen Irrtum in die-
sem Wirrwarr gegeben; man kann kaum behaupten,
daß die Gefangenen mißhandelt werden. Wenn du sie
siehst, wirst du mir zustimmen, und die ganze Affäre
kann beigelegt werden.«
Merriel glaubte ihm nicht mehr. Sie sprach in hoff-
nungsloser Verzweiflung. »Was soll mich hindern, zu
heucheln, bis ich entkommen und ihnen Hilfe bringen
kann? Genau das werde ich tun!«
»Sieh mich an, Merriel.« Und als das Mädchen sein
feuchtes Gesicht zu ihm erhob, sprach Lloyd zu ihr,
aber die Bedeutung seiner Worte sollte sie erst später
verstehen. »Du wirst mir wegen der Gefangenen zu-
stimmen. Aber ob du das tust oder nicht, wirst du dein
Leben lang von einem Mitglied dieser Abteilung be-
wacht werden. Komm jetzt.«
Der Gang durch den Ausgang D war für Merriel wie
ein Traum. Erinnerungen, die sie haßte, überkamen sie.
Eine Wache kam auf sie zu und schloß die erste und
die zweite Türe auf. Sie hörte Lloyd reden. »Sieh die
Gefangenen an«, sagte er.
Da waren sie alle, die Centaurianer, die Rigelianer,
390
die Leute vom fernen Polaris, Vertreter aller Men-
schenrassen. Und das größere Wunder: Unsichtbar wa-
ren die Planeten selbst hier, denn die Gefangenen
wuchsen auf und lernten jeder in seiner eigenen hei-
matlichen Umgebung. Aber der Prozeß war unsichtbar,
denn die Umweltfakten wurden den Gefangenen durch
Lochkarten eingegeben, und das geistige Reifen der
Gefangenen war eine Angelegenheit des veränderten
Widerstands in einem Transistor, einer komplexeren
Struktur des elektronischen Befehls auf dem halblei-
tenden Dielektrikum eines Gedächtnisspeichers. Ver-
ständnislos betrachtete Merriel die großen Rechenan-
lagen.
»Was …?« flüsterte sie. »Was …?«
Lloyd fühlte eine heftige Enttäuschung. Er hatte sich
eingebildet, Merriel würde sofort verstehen, daß dies
die Gefangenen waren; diese lernenden Rechenanla-
gen, die den Wissenschaftlern des DEI als Modelle für
die Menschen auf den Planeten dienten, Modelle, an
denen geplante Maßnahmen ohne die Gefahr sozialer
Zerstörung getestet werden konnten, und deren Exi-
stenz ihren menschlichen Ebenbildern für immer ver-
borgen bleiben mußte, wenn ihr Nutzen aufrecht erhal-
ten werden sollte.
»Es existiert die Legende«, lächelte er, »daß ein In-
genieur, der in seinem Labor, wo außerordentlich fort-
geschrittene Rechenanlagen entwickelt wurden, anrief
und folgende Antwort bekam: ›Es ist niemand hier
außer uns komplizierten elektronischen Geräten.‹«
Endlich begriff Merriel. Sie warf einen letzten Blick
auf die Gefangenen und blickte in Erinnerung an ihre
schwere Prüfung zurück in den Ausgang D. Sie dachte
an die langen schrecklichen Minuten, die sie sich unter
dem Strahl gewunden hatte bei dem Versuch – diese zu
391
befreien! Sie brach in Gelächter aus, ein ersticktes,
hysterisches Kichern schüttelte sie und steigerte sich,
bis Lloyd besorgt den Arm um ihre Schultern legte.
Seine Berührung beruhigte sie. Amer Lloyd! Was für
eine harte Prüfung war sie für ihn gewesen! Sie spürte
eine warme, glühende Zuneigung, als er sie festhielt.
Was hatte er vor ein paar Minuten in seinem Büro ge-
sagt?
Sie drehte sich um und schaute auf zu dem Mann,
der sie ihr Leben lang bewachen würde.
392
Chad Oliver
Natürlich
393
dete, und lächelte. Es gab nur einen wahren Gott, Em-
Gai, und die friedlichen Massai waren stolz. Zu guter
Letzt würde altes Unrecht ausgeglichen werden! Die
Massai würden wieder aufsteigen. Sie waren die einzig
logische Wahl. Natürlich.
Überall auf der Welt war es dasselbe.
394
»Nein«, sagte der General, »das können wir nicht.
Und die Marine oder die Luftwaffe können, wie ich
hervorheben darf, auch nichts tun.«
»Oder die Küstenwache«, äffte Morton Hillford ihm
nach. Er begann wieder umherzuschreiten. »Warum
können Sie nicht irgend etwas tun? Es ist Ihr Beruf,
nicht wahr?«
General Larsen wurde rot. »Es tut mir leid, Mr. Hill-
ford. Unser Beruf, wie Sie hervorheben, ist es, dies
Land zu verteidigen. Wir sind bereit, das nach bestem
Können zu tun, ganz gleich, was die Umstände …«
»Oh, Schwamm drüber, Larsen. Ich wollte Sie nicht
reizen. Ich glaube, mir ist das Frühstück heute morgen
einfach nicht bekommen. Ich verstehe Ihre Situation in
dieser Angelegenheit. Sie ist … unangenehm, das ist
alles.«
»Um das mindeste zu sagen«, stimmte General Lar-
sen zu. »Aber ich wage zu behaupten, daß wir an alles
gedacht haben, von Wasserstoffbomben bis zur psy-
chologischen Kriegführung. Wir haben absolut nichts,
das auch nur den Schatten einer Chance auf Erfolg bie-
tet. Wenn wir mit Gewalt vorgehen, wäre das Selbst-
mord für uns alle, Mr. Hillford. Melodramatik mißfallt
mir, aber Fakten sind Fakten. Es geht nicht an, die
Leute wissen zu lassen, in welchem Maße wir ihrer
Macht ausgeliefert sind, aber nichtsdestotrotz sitzen
wir in der Falle und ich weiß keinen Weg, um wieder
herauszukommen. Wir werden es natürlich weiterhin
versuchen, aber der Präsident muß die korrekten Fak-
ten zur Verfügung haben. Zum gegenwärtigen Zeit-
punkt können wir überhaupt nichts tun.«
»Nun, General, ich schätze Ihre Aufrichtigkeit, auch
wenn Sie wenig zu bieten haben. Es sieht so aus, als
müßten wir die Hände in den Schoß legen und ein brei-
395
tes, kollektives Lächeln auf unseren Gesichtern zur
Schau tragen. Dennoch wird es dem Präsidenten nicht
gefallen, Larsen.«
»Mir gefallt es auch nicht«, sagte Larsen.
Morton Hillford machte eine lange Pause und sah
aus dem Fenster auf die Straßen von Washington hin-
unter. Es war Sommer, und die Sonne hatte die meisten
Menschen in die Häuser getrieben, obwohl einige
Hubschrauber und Autos zu sehen waren. Die alten
vertrauten Gebäude und Denkmäler jedoch waren da,
und sie gaben ihm ein gewisses Gefühl von Beständig-
keit, wenn nicht gar Sicherheit. Es ist nicht die Hitze,
witzelte er in Gedanken, es ist die Demut.
»Wir werden einfach auf Ihr gutes Urteil vertrauen
müssen, glaube ich«, sagte Morton Hillford laut. »Es
könnte schlimmer sein.«
»Viel schlimmer«, stimmte der General zu. »Die Stel-
lung der Vereinigten Staaten in der heutigen Welt …«
Hillford fegte die Worte ungeduldig beiseite. »Dar-
an gibt es nicht den geringsten Zweifel! Das ist nicht
unser Problem. Natürlich werden die Vereinigten Staa-
ten gewählt werden.«
»Natürlich«, echote der General.
»Und dann wird alles in Ordnung sein, nicht wahr,
Larsen?«
»Natürlich!«
»Ganz gleich«, betonte Morton Hillford, »Sie erfin-
den uns eine Waffe, die funktioniert, und zwar
schnell.«
»Wir werden es versuchen, Mr. Hillford.«
»Sie tun es, General. Das ist alles für heute.«
Der General ging und behielt seine Gedanken für
sich.
Morton Hillford, Präsidenten-Berater, begann wie-
396
der umherzuschreiten. Vierzehn Schritte zum Fenster,
vierzehn Schritte zurück. Pause. Eine Zigarette anstec-
ken. Vierzehn Schritte zum Fenster …
»Natürlich«, sagte er laut, »werden es die Vereinig-
ten Staaten sein.«
Und in Gedanken fügte er ein Postscriptum an: Es
wäre besser, wenn es die Vereinigten Staaten wären.
Drei Wochen zuvor war das Schiff aus dem Welt-
raum gekommen.
Es war ein großes Schiff, zumindest für irdische
Verhältnisse. Es war fast einen Kilometer lang, dick,
rund und schimmerte wie ein fetter, silberner Fisch auf
der Sandbank eines tiefen und einsamen Meeres. Es tat
nicht viel. Es hing einfach hoch in der Luft direkt über
dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York. Es
wartete.
Wie eine riesige Scherzartikel-Zigarre, die einem
jeden Augenblick ins Gesicht hinein explodieren kann.
Gleichzeitig mit seinem Erscheinen hatte jede Re-
gierung auf der Erde dieselbe Botschaft erhalten. Das
Schiff war auch nicht wählerisch bei der Definition
von »Regierung«. Es kontaktierte jede Art politischer
Einheit. In gewissen Fällen, wo die Empfänger Anal-
phabeten waren oder nicht schriftkundig, wurde die
Botschaft mündlich übermittelt.
Jede Botschaft war in der jeweiligen Muttersprache
abgefaßt. Das war für sich genommen schon ausrei-
chend, den Leuten Stoff zum Nachdenken zu geben. Es
gab eine Menge Sprachen auf der Erde, und viele da-
von waren niemals niedergeschrieben worden.
Die Leute, die mit dem Schiff gekommen waren,
sahen, soweit man sie zu Gesicht bekam, ganz mensch-
lich aus.
Es gab viel Gerede und rasende Aktivität, als das
397
Raumschiff und die Botschaften auftauchten. Vor al-
lem hatte niemand je zuvor ein Raumschiff gesehen.
Doch dieser Neuigkeitswert verlor sich bald. Die Leute
hatten mehr oder weniger auf ein Raumschiff gewartet,
und die neigten dazu, es philosophisch zu nehmen, wie
sie Elektrizität, Flugzeuge, Telefone und Atombomben
akzeptiert hatten. Prima Stoff natürlich. Was kommt
als nächstes?
Die Botschaft war wieder etwas anderes.
Die Vereinten Nationen und die Vereinigten Staaten
begrüßten das Schiff aus dem Weltraum mit etwas
halbherziger Freude. Kontakt zu anderen Welten war
sehr dramatisch und wichtig und all das, aber es stellte
wirklich einige unangenehme Fragen.
Es ist schwierig zu verhandeln, ohne daß man etwas
anbieten kann oder wenn man nicht stark genug ist,
nichts verschachern zu müssen. Angenommen, das
Schiff war gar nicht in freundlicher Absicht gekom-
men?
Die Vereinigten Staaten kramten in ihrer militäri-
schen Trickkiste und stellten Forschungen an. Sie
nahmen die Sache aber auch nicht zu leicht. Niemand
kam ohne hinreichende Vorbereitung daher und ver-
suchte, eine Wasserstoffbombe auf eine unbekannte
Größe zu werfen. Man erkannte sofort, daß der Abwurf
einer Bombe auf das Schiff einer Tigerjagd mit Platz-
patronen gleichkommen könnte.
Die Militärs prüften die Angelegenheit vorsichtig.
Sie sammelten Fakten und kontrollierten die Instru-
mente.
Die Resultate waren nicht ermutigend.
Das Schiff war von einer Art Feld umgeben. In Er-
mangelung einer genauen Bezeichnung nannte man es
Kraftfeld. Zweifellos war es irgendein Energieschirm –
398
und nichts drang hindurch. Er war absolut unnachgie-
big. Er war die ultimate Panzerung.
Wenn jemand eine wirklich narrensichere Panzerung
hat, man selbst aber nicht, ist man unglücklich dran.
Das Militär konnte nicht kämpfen.
Nachdem sie die Botschaft aufgenommen hatten,
schien auch den Diplomaten nicht viel zu tun zu blei-
ben.
Die Botschaft enthielt keine ausdrückliche Drohung;
es war einfach eine Absichtserklärung. Wenn über-
haupt, litt sie an einer gewissen ärgerlichen Unbe-
stimmtheit, die es schwierig machte, genau herauszu-
finden, was das Schiff zu tun beabsichtigte.
Die Botschaft lautete:
»Bitte seien Sie nicht beunruhigt. Wir sind in Frie-
den in einer Mission des guten Willens gekommen!
Unsere Aufgabe hier ist es, zu unserer Zufriedenheit
festzustellen, wer unter Ihnen die fortschrittlichste Kul-
tur auf Ihrem Planeten hat. Es wird notwendig sein,
einen Repräsentanten Ihrer fortschrittlichsten Kultur
zu Studienzwecken mit uns zurückzunehmen. Er wird in
keiner Weise verletzt werden. Als Gegenleistung für
ihn werden wir seine Kultur nach unseren besten Fä-
higkeiten mit dem ausstatten, was diese sich am mei-
sten wünscht. Wir hoffen aufrichtig, daß wir Ihnen
durch unsere Arbeit keine Unannehmlichkeiten berei-
ten werden. Es wird Ihnen nahegelegt, nicht zu versu-
chen, Kontakt mit diesem Schiff aufzunehmen, bis un-
sere Wahl bekanntgegeben wird. Es wird Ihnen gleich-
falls nahegelegt, feindliche Aktionen Ihrerseits sorgfäl-
tig zu vermeiden. Wir sind in Frieden gekommen und
möchten ebenso wieder gehen, wenn unsere Arbeit ge-
tan ist. Wir danken Ihnen für Ihr Entgegenkommen.
Wir genießen Ihren Planeten.«
399
Das war alles.
Anscheinend war die Botschaft nicht allzu beunru-
higend, wie beispiellos sie auch sein mochte. Doch
bald stellten sich weitere Gedanken ein.
Angenommen, dachten die Vereinigten Staaten,
Rußland würde gewählt werden. Weiterhin ange-
nommen, das, was Rußland sich am meisten wünsch-
te, sei eine unschlagbare Waffe gegen die Vereinig-
ten Staaten – was dann? Und angenommen, dachte
Rußland, die Vereinigten Staaten würden gewählt
werden.
Die Situation war etwas ungemütlich.
Sie wurde durch die völlige Hilflosigkeit der Kandi-
daten entschieden verschlimmert.
Sie konnten gar nichts tun außer warten und sehen.
Natürlich war jede einzelne betroffene Regierung
ganz sicher, sie werde diejenige sein, die ausgewählt
werden würde. Da das so war, wurden die Scharfsinni-
geren unter ihnen gewahr, daß, ganz gleich, wer ge-
wählt werden würde, es für alle übrigen eine schreckli-
che Überraschung bedeuten werde.
Das tat es.
400
»Ich glaube es nicht«, sagte Morton Hillford. »Es tut
mir leid, Charlie, aber ich glaube es einfach nicht.«
»Hier«, sagte der Delegierte, indem er ihm die Bot-
schaft überreichte, »lies das.«
Hillford las es. Sein erster Impuls war es, zu lachen.
»Nun, sie sind verrückt!«
»Kaum.«
Es gelang Hillford, auf die Beine zu kommen und
sein Schreiten wieder aufzunehmen. Seine randlose
Brille beschlug von der Hitze, weshalb er sie mit sei-
nem Taschentuch abwischte. »Ich komme mir vor wie
ein Idiot«, sagte er schließlich. Beinahe zornig schwenk-
te er die Botschaft. »Es ist so ein verfluchter Tiefschlag,
Charlie! Bist du sicher, daß sie nicht scherzen?«
»Es ist ihnen todernst. Sie wollen den Mann morgen
in New York ausstellen. Danach wollen sie ihn in allen
anderen Hauptstädten der Erde vorzeigen. Danach …«
Er zuckte die Achseln.
Morton Hillford spürte ein übles Gefühl in der Ma-
gengrube. »Willst du es dem Boss sagen, Charlie?«
»Nein«, sagte der Delegierte. »Tausendmal nein. Ich
muß zurück zur UNO, Mort. Du mußt es ihm sagen.«
»Ich?«
»Wer sonst?«
Morton Hillford nahm die Bürde mit so viel Stoi-
zismus auf sich, wie er eben aufbringen konnte. Es war
nicht seine Aufgabe, weitere Fragen zu stellen. »Laß
uns zuerst einen Drink nehmen, Charlie«, sagte er müde.
»Nur einen kleinen.«
401
Der Präsident war kein schöner Mann, aber seine Zü-
ge waren kraftvoll. Seine ziemlich kalten blauen Augen
blickten lebhaft und intelligent, und wenn er lächelte,
folgten sie nur selten der Bewegung seiner Lippen.
Jetzt lächelte er überhaupt nicht.
»Nun, Boss«, fragte Morton Hillford, »was machen
wir jetzt?«
Der Präsident runzelte die Stirn. »Wir werden so
bald wie möglich eine Fernsehansprache bringen müs-
sen«, sagte er und sprach damit eine Anordnung aus.
»Wir werden den Leuten irgendetwas sagen müssen.
Laß Boyle und Blatski sich sofort daranmachen, Mort –
und sag ihnen, sie sollen – wenn möglich – mit irgend-
einer positiven Tendenz berichten. Ihrem Stolz
schmeicheln, darauf hinweisen, daß wir nicht lernun-
willig sind, etwas über eine unbekannte Wissenschaft
und geheimnisvolle Faktoren einwerfen … du weißt
schon. Danach müssen wir einen Plan entwerfen, um
diese ganze Affäre eingehend zu untersuchen.« Er las
die Botschaft noch einmal durch. »Hm-m-m. Ich sehe,
sie wollen in hundert Jahren – unserer Zeitrechnung –
wiederkommen, um uns zu prüfen. Gut! Bis dahin ha-
ben wir vielleicht etwas, um uns mit ihnen auseinan-
derzusetzen, falls sie Ärger machen wollen, obgleich
ich es bezweifle. Ich bedaure den Mann, der im Amt
ist, wenn sie zurückkommen – ich hoffe, er ist Mitglied
der loyalen Opposition. Nun! Wir müssen herausfin-
den, was das alles bedeutet.«
Der Delegierte der Vereinten Nationen riskierte ein
einziges Wort: »Wie?«
Der Präsident setzte sich an seinen Schreibtisch und
zündete sich eine Zigarette an. Langsam blies er aus
seihen zusammengepreßten Lippen den Rauch aus. Es
war eine gute Pose, und sie gefiel ihm. In der Tat war
402
er jemand, der an schwierigen Problemen Geschmack
fand – sogar an diesem. Er liebte Taten, und Routine
langweilte ihn.
»Wir brauchen einen Wissenschaftler«, gab er be-
kannt. »Und diesmal keinen Kernphysiker. Wir brau-
chen hier jemand, der uns etwas über diese Leute er-
zählen kann. Tatsache ist, wir brauchen einen Sozial-
wissenschaftler.«
Morton Hillford warnte: »Laß das nicht die Tribune
herausfinden. Sie werden dich kreuzigen.«
Der Präsident zuckte die Schultern. »Wir werden es
geheimhalten«, sagte er. »Nun! Wie ich sagte, brau-
chen wir einen Sozialwissenschaftler. Die Frage ist,
welches Fach?«
»Keinen Psychologen«, grübelte Morton Hillford.
»Jedenfalls noch nicht. Ich furchte, wir brauchen einen
Soziologen. Wenn die Tribune das je herauskriegt …«
»Vergiß die Zeitungen, Mensch! Wir haben wichti-
geres zu tun.« Der Präsident begab sich an sein Privat-
telefon. »Hallo … Henry? Es ist etwas dazwischenge-
kommen. Ich möchte, daß du sofort rüberkommst, und
ich möchte, daß du einen Soziologen mitbringst. Rich-
tig, einen Soziologen. Was ist? Ja, ich weiß das mit der
Tribune! Bring ihn durch die Hintertür rein.«
Nach einer Weile erschien Henry, der Staatssekre-
tär. Er brachte einen Soziologen mit. Der Soziologe
sah wider Erwarten normal aus, und er hörte sich re-
spektvoll an, was der Präsident zu sagen hatte. Er war
natürlich überrascht, als er die Wahl des Raumschiffs
erfuhr, kam aber schnell wieder zu sich.
Der Soziologe war ein aufrichtiger Mensch. »Es tut
mir furchtbar leid, Herr Präsident«, sagte er. »Ich
könnte es versuchen, wenn Sie wollen, aber was Sie
wirklich brauchen, ist ein Anthropologe.«
403
Der Präsident trommelte mit den Fingern auf seinem
Schreibtisch. »Henry«, sagte er, »bring mir einen An-
thropologen her, und beeile dich.«
Henry rannte.
404
wir seine Kultur zur Belohnung mit dem ausstatten,
was sie sich am meisten wünscht. Der Vertreter der
höchsten Kultur auf Ihrem Planeten wird in Ihren poli-
tischen Zentren vorgestellt werden, um Ihnen zu bewei-
sen, daß er nicht verletzt worden ist, zu einem Zeit-
punkt, der in einer besonderen Mitteilung bekanntge-
geben wird. Wir werden in hundert Erdenjahren auf
Ihren Planeten zurückkehren. Wir hoffen, dann aus-
führlicher mit Ihnen über gemeinsame Probleme disku-
tieren zu können. Wir danken Ihnen nochmals für Ihr
Entgegenkommen. Es hat uns auf Ihrem Planeten ge-
fallen.«
»Nun?« fragte der Präsident.
»Ich weiß kaum, was ich sagen soll«, sagte der An-
thropologe. »Es ist grotesk.«
»Das wissen wir bereits, Doktor. Sagen Sie irgend
etwas.«
Edgar Vincent nahm einen Stuhl und setzte sich. Er
strich sich nachdenklich den Bart. »Vor allem«, sagte er,
»bin ich nicht wirklich der Mann, den Sie brauchen.«
Henry stöhnte. »Sie sind Anthropologe, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Aber ich bin physischer Anthropologe.
Sie verstehen – Knochen und Evolution und Bluttypen
und all das. Ich furchte, das ist nicht ganz das, worauf
Sie hier aus sind.« Er hob seine Hand, um eine Woge
des Protestes abzuwehren. »Was Sie brauchen, ist ein
Ethnologe oder Sozialanthropologe, und der Mann,
den Sie holen sollten, ist Irvington; er ist der Mann für
die Zentral-Eskimos.« Er erhob nochmals seine Hand.
»Einen Moment bitte, Gentlemen! Wie ich sagte, brau-
chen Sie Irvington. Aber Sie werden ihn einstweilen
nicht erreichen können. Ich schlage vor, daß Sie einen
Anruf für ihn anmelden – er ist zur Zeit in Boston –,
und in der Zwischenzeit werde ich Ihnen, so gut ich
405
kann, aushelfen. Ich verstehe ein wenig von Kulturan-
thropologie; wir sind nicht so total spezialisiert.«
406
»Aber sehen Sie«, warf Morton Hillford ein. »Ich
will Ihren Wissensbereich nicht herabsetzen, Doktor,
aber die Eskimos haben einfach nicht die fortschritt-
lichste Zivilisation auf diesem Planeten! Wir haben
eine Technologie, die der ihren Hunderte von Jahren
voraus ist, Wissenschaft wissen sie nicht einmal zu
schätzen, eine Bill of Rights, ein in Jahrhunderten aus-
gebildetes politisches System – tausenderlei Dinge!
Die Eskimos zählen einfach nicht.«
Vincent zuckte die Achseln. »Für Sie nicht«, berich-
tigte er. »Aber Sie nehmen die Bewertung nicht vor.«
Morton Hillford beharrte. »Angenommen, Sie wür-
den die Wahl treffen, Doktor. Würden Sie einen Eskimo
wählen?«
»Nein«, gab der Anthropologe zu. »Wahrscheinlich
nicht. Aber dann betrachte ich die Sache von etwa den
gleichen Wertvorstellungen ausgehend wie Sie. Ich bin
auch Amerikaner, verstehen Sie.«
»Ich glaube, ich erkenne das Problem«, sagte der
Präsident langsam. »Die Leute auf diesem Schiff sind
uns weit voraus – sie müssen es sein, sonst hätten sie
nicht dieses Schiff. Daher sind ihre Maßstäbe nicht
dieselben wie die unsrigen. Sie addieren, die Punkte
nicht auf dieselbe Art wie wir. Ist das richtig, Doktor?«
Vincent nickte. »Aufs Geratewohl würde ich das sa-
gen. Es ist einleuchtend. Vielleicht hat unsere Kultur
etwas Wichtiges übersehen – etwas, das die Wolken-
kratzer, die Massenproduktion, die Wahlen und alles
übrige aufwiegt. Wie können Wir das wissen?«
Der Präsident trommelte mit den Fingern auf seinem
Schreibtisch. »Betrachten wir es einmal aus anderer
Sicht«, schlug er vor. »Könnte es sein, daß geistige
Werte wichtiger sind als technologischer Fortschritt –
etwas in der Art?«
407
Vincent überlegte. »Das glaube ich nicht«, sagte er
schließlich. »Es könnte irgend etwas Derartiges sein,
aber warum sollte man dann die Eskimos wählen? Es
gibt viele Völker, die in technologischer Hinsicht
schlechter dran sind als sie – die Eskimos sind mecha-
nisch ganz geschickt. Sie haben eine Reihe von Sachen
erfunden, wie zum Beispiel Schneebrillen und Jagd-
techniken und komplizierte Harpunenspitzen. In der
Tat, sie sind ganz gut in technischen Einrichtungen.
Ich glaube nicht, daß wir die Technologie zum Fenster
hinauswerfen können; so einfach ist es nicht. Und was
die ›geistigen Werte‹ angeht, haben sie es an sich, daß
ihre Handhabung trügerisch ist. Aus dem Stegreif wür-
de ich nicht sägen, daß die Eskimos mehr als andere
Völker davon haben, und es ist sogar möglich, daß sie
weniger haben. Nehmen Sie, sagen wir, Indien – die
Inder haben wirklich das Schwergewicht auf die Reli-
gion gelegt. Ich glaube, sie haben vielleicht die richtige
Richtung eingeschlagen, sind aber noch nicht auf dem
richtigen Gleis.«
Der Delegierte der Vereinten Nationen rieb sich die
Brauen. »Nun gut, was haben die Eskimos denn?«
»Ich kann Ihnen nur eine Antwort darauf geben«,
sagte Vincent. »Jedenfalls nur eine ehrliche Antwort:
ich weiß es nicht. Sie werden auf Irvington warten
müssen, und ich vermute, er wird genauso überrascht
sein wie jeder andere. Ich habe nicht die leiseste Ah-
nung, warum die Eskimos von allen Völkern auf der
Erde ausgewählt werden sollten. Wir werden es ein-
fach herausfinden müssen, das ist alles – und das be-
deutet, daß wir viel mehr über jede Menschengruppe
auf diesem Planeten wissen müssen als im Augenblick,
um herauszufinden, was die Eskimos haben, das die
anderen nicht haben.«
408
»Noch mehr Geld«, seufzte der Präsident etwas fin-
ster. »Doktor, können Sie uns nicht etwas sagen, um
weiterzukommen, nur provisorisch? Ich habe in einer
Stunde Kabinettssitzung, und ich muß dort erscheinen
und etwas sagen. Und anschließend eine Fernsehan-
sprache, und die Zeitungen, und die ausländischen Di-
plomaten, und der Kongreß, und Gott weiß was alles.
Dies wird in einigen Jahren nicht mehr so amüsant
sein. Irgendwelche Ideen, Doktor?«
Vincent tat sein Bestes. »Die Eskimos haben sich in
ihrem technologischen Niveau bemerkenswert gut an
ihre Umgebung angepaßt«, sagte er langsam. »Sie
werden oft als Beispiel dafür genannt. Ich erinnere
mich an einen Anthropologen, der erwähnte, daß sie
kein Wort für Krieg und keine Vorstellung davon ha-
ben. Das könnte ein guter Gesichtspunkt sein, um wei-
terzuarbeiten. Im übrigen werden Sie mit Irvington
sprechen müssen. Ich bin nicht in meinem Element.«
»Nun, vielen Dank, Dr. Vincent«, sagte der Präsi-
dent. »Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Hilfe. Und jetzt
wollen wir alle einen kleinen Drink nehmen.«
Sie begaben sich unter lebhaften Gesprächen in ein
anderes Zimmer, um sich auf die bevorstehende Kabi-
nettssitzung vorzubereiten.
Morton Hillford verließ das Büro des Präsidenten
als Letzter.
»Eskimos«, sagte er traurig und schüttelte den Kopf.
»Eskimos.«
409
zuschauten, konnten sich kaum des Eindrucks erweh-
ren, daß eine Zigarette aus einer gewaltigen Zigarre
auftauchte.
Das kleine Schiff landete sanft wie ein fallendes
Blatt auf der dafür vorgesehenen und geräumten Flä-
che. Eine kleine Energieblase, die in der Morgensonne
schwach glitzerte, umgab das Schiff. Eine runde Tür
glitt auf und die Vorstellung begann.
Es war die Einfachheit selbst.
Zwei große, heiter aussehende Männer, kamen aus
dem Schiff und blieben innerhalb des Energieschutzes.
Ihre Kleidung war ungewöhnlich, wirkte aber trotzdem
bescheiden. Sie lehnten sich in den Eingang zurück
und schienen mit jemandem zu sprechen.
Ein bißchen widerwillig kam der Eskimo heraus und
gesellte sich zu ihnen. Er war neu eingekleidet und sah
unbehaglich aus. Er war klein, neigte eher zur Pumme-
ligkeit, und sein Haar war ungekämmt.
Mit unverhohlenem Staunen starrte er auf New
York City.
Er lächelte verschämt und erfreut.
Auf einen nur angedeuteten Impuls der beiden
Männer hin winkte er der Menge, die sich versammelt
hatte, ihn zu sehen, freudig erregt zu. Er stand zwei
Minuten lächelnd da und wurde dann zurück in das
Schiff geleitet.
Das Schiff stieg lautlos auf und kurvte nach oben,
um dem größeren Schiff zu folgen.
Das war alles.
Die Vorstellung war zu Ende.
Genau nach Plan wurde sie andernorts wiederholt.
In Bern, in der Schweiz.
In Moskau, Rußland.
In London, England.
410
Im Lande der Massai, Ostafrika.
In China, Schweden, Australien, Mexiko, Finnland,
Brasilien, Samoa, der Türkei, Griechenland, Japan,
Tibet
Rund um die ganze Welt.
Und natürlich erhoben sich überall, wohin das
Schiff kam, einige höchst lästige Fragen. Natürlich
wußte jede Regierung, daß irgendwie ein Fehler ge-
macht worden war.
Aber dennoch
411
»Oh, die Erde wird schon gedeihen«, sagte der
zweite. »Endlich machen sie wirklich ein paar Fort-
schritte da unten.«
Der Eskimo wählte einen weiteren Fisch aus seinem
eigenen Eimer und beobachtete die beiden Männer oh-
ne Interesse.
»Es muß ein ziemlicher Schock gewesen sein, daß
wir ihn ausgewählt haben. Ein furchtbar netter Kerl,
aber er ist doch primitiv.«
»Ein sanfter Ansporn hat noch nie jemandem ge-
schadet, mein Freund. Mit der Zeit werden sie aufhö-
ren, sich über diesen Eskimo zu beunruhigen, dann
sollten sie da unten eine echte Wissenschaft haben.«
Der erste Mann gähnte und streckte sich. »Und wenn
wir in hundert Jahren zurückkommen«, sagte er,
»weißt du, wen wir mit einer Kultur vorfinden werden,
die wirklich so weit fortgeschritten ist, daß wir ihnen
einen Platz in der Zivilisation anbieten können?«
Der zweite Mann nickte. »Natürlich«, sagte er und
lächelte.
Der Eskimo bediente sich mit einem weiteren Fisch
aus dem Eimer und wanderte zum Fenster hinüber.
412
Leon E. Stover
Nachwort
413
Während meines einjährigen Urlaubs lehrte ich an
der Universität Tokio. Meine japanischen Studenten
waren sehr interessiert an SF und fragten mich, ob ich
Harry Harrison, einen ihrer Lieblingsautoren, kenne.
»Natürlich!« antwortete ich und entdeckte plötzlich die
Lösung meines alten Bibliotheksproblemes. Ich schrieb
also an Harrys Adresse in Dänemark, und ein Brief-
wechsel zwischen Snekkersten und Tokio lieferte uns
das vorliegende Werk, das sich hoffentlich auch bei
den Bibliothekaren behaupten wird, wo meine armseli-
gen Werke mit Magazinen scheiterten. Aber wie dem
auch sei, jetzt bin ich an einer technischen Hochschule,
wo man SF ernsthafter behandelt.
Wenn ich dieses Nachwort anhänge, führe ich Harrys
Idee aus. Er fand, daß ich, wenn ich diese Anthologie
zur begleitenden Lektüre meines Einführungskurses
machen wollte, einige wichtige Punkte beiläufig erklären
sollte.
Neanderthal
414
schen Kontinents kann folgendermaßen angegeben
werden:
416
Anpassung erbrachten. UV ist nach Breitengraden ver-
schieden, der Mensch aber ist eine globale Spezies.
Unterschiede in der UV-Strahlung reichen aus, um
bei jedem Extrem Schädigungen beim Menschen zu
verursachen – wäre da nicht die Tatsache, daß rassisch
verschiedene Menschenvölker nach einer langen bio-
logischen Entwicklungsperiode eine Anpassung an die
Extreme vollzogen haben. Ein weiß geborener Europäer
würde an Hyperdosis Vitamin sterben, wenn er ohne
künstliche Körperbedeckung in die offenen Steppen-
gebiete Äquatorialafrikas verpflanzt würde, wo die
UV-Strahlung am stärksten ist. Und vor dem Eintritt in
dies Jahrhundert, wo Milch und andere Nahrungsmittel
künstlich mit Vitamin D angereichert werden, konnten
Neger nicht nördlich des 40. Breitengrades leben, ohne
durch Rachitis verkrüppelt zu werden.
Das Sonnenlicht trifft überall auf dem Globus mit
gleicher Intensität auf die äußere Erdatmosphäre.
Aber die Menge an Sonnenlicht – einschließlich der
unsichtbaren UV-Strahlung zwischen 3.900 und
2.900 Ängströmeinheiten –, die den darunterliegen-
den Boden erreicht, ist von dem Breitengrad nördlich
oder südlich des Äquators abhängig. Da die Sonnen-
strahlen am Äquator fast senkrecht einfallen, haben
sie weniger Atmosphäre zu durchqueren. Vom Äqua-
tor entfernt durchschneidet das Licht die Luft in ei-
nem Winkel – statt senkrecht von oben einzufallen –
und muß daher mehr Atmosphäre durchdringen: Und
unsere Atmosphäre absorbiert die UV-Strahlung. Je
länger das Licht hindurchwandert, desto mehr wird
absorbiert. So bekommt ein Mensch, der auf dem 70.
Grad nördlicher Breite steht, ungefähr ein Drittel so-
viel UV wie ein Mensch am Äquator, wenn dieselben
atmosphärischen Bedingungen gegeben sind und kein
417
Waldbewuchs vorhanden ist, der ebenfalls UV absor-
biert.
Zufällig entwickelte sich die Menschheit in dem
Gebiet mit der stärksten solaren UV-Strahlung auf der
Erde. Die Heimat des Menschen ist Schwarzafrika.
Diese Entwicklung war von einer ökologischen Wand-
lung aus einer Wald- in eine Flachlandumgebung be-
gleitet. Als unsere Ahnen zum ersten Mal auf den Ebe-
nen auftauchten, ähnelten sie den Menschen, wie wir
sie heute kennen – voll aufgerichtet und mit einem
kompletten Gehirn ausgestattet – überhaupt nicht. Da-
mals gehörten unsere Ahnen einer Spezies von Affen-
menschen der Art Australopithecus an. Sie waren nackt
wie wir und Zweibeiner wie wir, aber mit kleinerem
Gehirn. Und sie jagten in Rotten nach Nahrung, wie
Wölfe. Sie konkurrierten in den Steppen mit den
Raubkatzen und anderen vierbeinigen Raubtieren, da
diese alle entweder in der Morgen- oder Abenddämme-
rung jagten. Die Affenmenschen jagten unter der Mit-
tagssonne, während ihre in Pelz gehüllten Feinde
schliefen. Daher wird angenommen, daß die Affen-
menschen unbehaart waren. Wie sonst sollten sie die
Stoffwechselhitze ausschwitzen, die in den Stunden
ihrer Aktivität bei Tageslicht erzeugt wurde? Unbe-
haart und schwitzend empfingen die Affenmenschen
die UV-Strahlung direkt auf ihrer Haut. Anders als ihre
behaarten Vorfahren im Wald bekamen die Affenmen-
schen ihre Vitamin-D-Rationen nicht durch das Ab-
lecken von Körperölen. Wie alle heute lebenden Men-
schen erhielten sie ihr Sonnenvitamin als Folge der
Irradiation von UV-Strahlen durch Ergosterol, einem
chemischen Bestandteil der Fettgewebeschicht unter
der menschlichen Haut.
Die ersten menschlichen Nachkommen der Affen-
418
menschen waren so viel erfolgreicher bei der Nah-
rungssuche auf zwei Beinen, daß eine neue Art, Homo,
die mit einem besseren Gang und einem größeren Ge-
hirn ausgestattet war, sich aus Afrika bis nach Europa,
Westasien und weiter bis in den fernen Osten ausbrei-
tete.
Die Geschichte der Art Homo in Europa, vom Homo
erectus heidelbergensis bis zum Homo sapiens sapiens
spielte sich nördlich des 40. Breitengrades ab, wo die
Wintersonne weniger als 20 Grad über dem Horizont
steht. Von seinem Ursprung in den Tropen, wo zu viel
UV-Strahlung eine Gefahr darstellte, hatte sich der
Mensch nach Norden ausgebreitet, um Länder jenseits
des Mittelmeers in Besitz zu nehmen, wo die Gefahr
von zu wenig UV bestand.
Die Anpassung an Extreme von UV-Licht findet bei
Menschen durch ständige Pigmentierung der Haut
statt. Je dunkler die Haut, desto mehr UV wird reflek-
tiert. Das bedeutet, je weniger UV von den Schichten
unter der Haut absorbiert wird, desto weniger Vitamin D
wird dort synthetisiert.
Das Problem für die Populationen von Pleistozän-
Menschen, die den 40. Breitengrad nach Norden über-
querten, war die Anpassung an schwaches UV-Licht.
Dunkelhäutige Babies hatten O-Beine, X-Beine oder
Rückgratverkrümmung bekommen, Erwachsene eine
weiche und plastische Knochenstruktur. Frauen wür-
den unter Hüftdeformationen leiden, die eine Geburt
für Mutter und Kind unmöglich machten. Aber hell-
häutigere Nachkommen würden als gesunde Kinder
und fortpflanzungsfähige Erwachsene überleben.
Ungefähr 100 000 Jahre vor der Gegenwart hatte sich
der Mensch in Europa während nicht viel weniger als
einer Million Jahre an schwaches ultraviolettes Licht
419
angepaßt. Zu dieser Zeit betritt der Neanderthaler den
Schauplatz. Er wurde meistens als dunkler, behaarter,
dummer Untermensch dargestellt, von »The Grisley
Folk« (»Das schreckliche Volk«) von H. G. Wells bis zu
»The Inheritors« (»Die Erben«) von William Golding.
Das Bild ist sicherlich falsch. Der Neanderthaler war
weiß, unbehaart und so intelligent wie unser eigenes
Geschlecht. Letzteres ist dadurch bewiesen, daß er sich
durch dieselbe übermäßige Anwendung technologischer
Fähigkeiten ausgelöscht hat, die uns selbst verhext.
Bis zum Erscheinen der Neanderthaler-Populationen
hatte der Mensch in Europa unter den milden Tempera-
turen einer warmen Zwischeneiszeit-Periode gelebt –
genau gesagt, der dritten Zwischeneiszeit. Es war das
Schicksal der Neanderthaler, es mit der heranrücken-
den vierten Eiszeit aufnehmen zu müssen, der eisigen
Kälte der Würm-Eiszeit. Sie taten es mit bewunderns-
wertem technischem Geschick. Sie erfanden die Klei-
dung. Sie mummelten ihre Kinder in Pelze ein. Ihre
Rasse starb aus. So hatten sich die nackten Menschen
aus Afrika mit dem natürlichen Wissen ihrer Körper
unter dem Selektionsdruck der Natur an höhere Breiten
angepaßt. Als die große Kälte einfiel, benutzten die
Neanderthaler das Wissen ihres Hirns und paßten sich
durch technologische Neuerungen an die veränderte
Situation an. Ihre Lösung war zu gut.
Unter den Bedingungen verminderten ultravioletten
Lichts gewährleistete die völlige Entblößung der de-
pigmentierten Haut des Neanderthalers die Aufrechter-
haltung einer ausreichenden Vitamin-D-Synthese.
Weiße Haut ist da geeignet, wo UV durch die schwerere
atmosphärische Decke, die die nördliche Sonne in
schräger Richtung durchdringen muß, weitgehend her-
ausgefiltert wird.
420
Aber künstliche Körperbedeckung zum Schutz gegen
die strenge, feuchte Kälte des eiszeitlichen Europas zur
Würm-Zeit hatte den Effekt, die dunkle Pigmentierung
der Haut wiederherzustellen. Die Wirkung der Klei-
dung auf die Neanderthaler war dieselbe, als hätte man,
vor den Zeiten der Vitamintabletten und angereicherter
Milch, Afrikaner nach Europa gebracht. Pelzkleidung
schaltete die Irradiation von Körperchemikalien, die
zur Produktion von Vitamin D notwendig ist, sogar
noch sicherer aus als schwarze Haut.
Was konnte verheerender für ein paläolithisches
Volk sein als endemische Rachitis? Ein reifer Mann,
der als Kind von Rachitis verkrüppelt worden ist, kann
als Erwachsener kein Wild jagen.
Die technische Lösung der Neanderthaler angesichts
der Eiszeitkälte funktionierte auf kurze Sicht sehr gut.
Auf lange Sicht bedeutete sie Selbstmord. Aber natür-
lich lebten anderswo auf der Welt andere Menschen,
und nachdem das Würm-Eis sich zurückgezogen hatte,
kamen sie nach Europa, um es wieder zu bevölkern.
Wenn darin eine Moral liegt, ist es nicht die übliche,
auf die man sich beim Aussterben der Dinosaurier be-
ruft. Die großen Reptilien verschwanden vor einigen
hundert Millionen Jahren von der Erde aufgrund ihrer
engen ökologischen Anpassung. Sie waren zu sehr
spezialisiert. Eine leichte Veränderung der Temperatur
des Planeten veränderte die Vegetation und entfernte
so einige eßbare Pflanzen aus der Nahrung der Pflanzen-
fresser, die in der Folge aus der Nahrung der großen
Raubtiere ausschieden.
Der Fall des Neanderthalers ist genau das Gegenteil.
Wie das Menschengeschlecht überhaupt, zeigte er eine
ziemlich große Flexibilität in der Reaktion auf die
Umwelt. Seine Schwierigkeit war die Unfähigkeit, die
421
unerwarteten Folgen seiner glänzenden Technologie
vorherzusehen und sich dagegen zu schützen. Er jagte
von einem Ausgangslager aus, das durch Feuer und
Herd gekennzeichnet war, nach Wild und benutzte da-
zu verschiedenartige Waffen. Sein Werkzeugkasten
enthielt Hautschaber, um Tierhäute vom Fleisch zu
lösen, aus denen er mit noch einem anderen Satz von
Werkzeugen Kleidung anfertigte. Alles in diesem
Merkmalkomplex von Material und Organisation paßte
zusammen und diente dem Neanderthaler gut. Doch
am Ende tötete es ihn. Wie konnte er wissen, daß die
Kleidung mehr Probleme schaffen als lösen würde?
Wie konnte er wissen, daß er seine Technologie über-
mäßig ausgeweitet hatte?
Affenmenschen
422
schaft stammen die Überschriften der beiden Teile von
›Anthropofiction‹. Der eine (DER MENSCH) befaßt sich
mit physischer Anthropologie, der andere (SEINE WERKE)
mit Kulturanthropologie.
Die Affenmenschen repräsentieren die erste der drei
Stufen anatomischer Organisation, in die die physi-
schen Anthropologen die Evolution der Hominiden
einteilen. Diese Stufen verfolgen eine Linie über zwei
Arten und mindestens drei Spezies zurück. Deren rela-
tive Dominanz während des Quartärs (das das Pleisto-
zän und die jüngste Epoche umfaßt) kann folgender-
maßen dargestellt werden:
423
kung Pithecanthropus nannte. Dieser Oberbegriff wird
nicht mehr verwendet. Die archaischen Züge des Ja-
vamenschen scheinen nicht mehr eindrucksvoll genug,
um zu rechtfertigen, ihn von unserer eigenen Gattung
abzutrennen, da nun eine wirklich primitive Stufe zu-
tage getreten ist, die des Australopithecus im Jahre
1924.
Wenn statt des Neanderthalers 1856 die Affenmen-
schen entdeckt worden wären, hätte es keinen Erken-
nungsschock gegeben. So, wie die Dinge standen,
wurde ein nur wenig verschiedenartiger Angehöriger
unserer eigenen Spezies nur unter Schwierigkeiten er-
kannt. Schließlich lag die ganze Bedeutung der Ent-
deckung darin, die Einsicht zu beschleunigen, daß der
Mensch genauso wie der moderne Elefant im Elephas
primigenius, eine ausgestorbene Form im Homo sapiens
neanderthalensis besitzt. In dem allgemeinen Erstaunen,
daß eine Eiszeit-Population von Menschen tatsächlich
mit dem Mammut zusammengelebt hatte, wurden die
abweichenden Züge des Neanderthalers für exotischer
gehalten, als sie in Wirklichkeit sind.
Die Entdeckung des Australopithecus von 1924 for-
derte den ersten konkreten Beweis für Darwins Theorie
zutage, daß der Mensch und die Affen beide von einem
gemeinsamen Vorfahren abstammen. In der Tat
stammte der Australopithecus von einem Standort, der
dem Punkt des gemeinsamen Ursprungs so nahe kam,
daß seine Stellung innerhalb der Systematik über
zwanzig Jahre lang umstritten war. Gehörte der Austra-
lopithecus zur Familie der Affen (Pongiden) oder zur
Familie der Menschen (Hominiden)? Sein Entdecker,
Raymond Dart, behauptete, er sei ein früher Hominide.
Ungeachtet dessen, daß der Australopithecus mehr Ge-
sicht als Gehirn hatte. Wenn Affen und Menschen eine
424
gemeinsame Abstammung hatten, würden die frühe-
sten Hominiden wohl eher wie frühe Affen als wie
moderne Menschen aussehen müssen, mit ihrem auf-
geblähten, zwiebelförmigen Hirnkasten hoch über ei-
nem unfertigen, babyhaften Gesicht.
Schließlich setzte sich Raymond Darts Ansicht
durch. Aber selbst er wollte zuerst eine neue Familie,
einfuhren, die den Australopithecus aufnehmen sollte,
ein Zwischenglied zwischen den Hominiden und den
Pongiden. Die neue von Dart vorgeschlagene Familie
waren die Homosimiden oder Familie der Menschenaf-
fen. Der beschreibende Ausdruck »Menschenaffen«
hat jedoch das lateinische Etikett überlebt. Menschen-
affe ist genau die richtige Bezeichnung für die Mi-
schung aus affenartigen und menschenartigen Zügen,
die beim Australopithecus auftreten.
Affen-Mensch ist die Umkehrung von Menschen-
Affe, eine Verwechslung, die in der Literatur manch-
mal auftaucht. Es ist ein signifikanter und akzeptabler
Irrtum. Da Eugene Dubois’ Pithecanthropus oder »auf-
rechter Affenmensch« heute als menschliches Wesen
betrachtet wird und der Australopithecus nur als mit
Bindestrich versehener Mensch, hat letzterer auf jeder
Seite des Bindestriches »Mensch« oder »Affe« stehen,
ohne daß es einen Unterschied ausmacht.
Es wäre nicht ganz falsch, sich den typischen Af-
fenmenschen als eine Art aufrechten, langbeinigen,
kurzarmigen Schimpansen vorzustellen, der in Rudeln
über das offene Land hinter Pavianbabies und anderen
unglücklichen Kreaturen langsamer Tiere herjagte.
Aber da den Affenmenschen die dentalen Werkzeuge
in Form reißender, scharfer Eckzähne fehlten, brachen
sie entweder auf der Stelle Kieselsteine aus, um sie als
Schneidewerkzeuge zu benutzen, oder gaben sich mit
425
bereits gerissenem Aas, der zurückgelassenen Beute
der Raubkatzen, zufrieden.
Kooperatives Jagen von einem Lagerplatz aus mit
zu diesem Zweck angefertigten Waffen und Werkzeu-
gen kam später mit dem Homo erectus. Mit den Erecti,
den Menschen mit halbem Gehirn, kam die Vergröße-
rung des Hirnkastens von 435-700 Kubikzentimetern
auf 775-1300 Kubikzentimeter, und die Größe und
Vervollkommnung des Hinterkopfskeletts nahmen zu.
Vom Nacken abwärts kommt der erectus dem sapiens
nahe. Homo erectus war überall ein richtiger Jäger, und
seine Werkzeuge waren planmäßig gestaltet. Das Ent-
scheidende in seinem Verhalten zur Erlangung des
menschlichen Status war sein Gebrauch des Feuers.
Das Feuer lieferte nicht nur ein Zentrum für die Grup-
penorganisation, einen Lagerplatz, sondern ermöglichte
auch das Kochen der Nahrung und dadurch schnelleres
Essen. Der Australopithecus verbrachte wie die Affen
heute die meisten Stunden seines Wachseins damit,
seine Nahrung mit seinen gewaltigen Zähnen zu zer-
stückeln; für eine Lebensweise mit Herd, Heim und
Jagdausrüstung standen weder das Hirn noch die Zeit
zur Verfügung. Die Affenmenschen nahmen jedoch die
menschliche Art, zu kauen, vorweg: kreisendes Kauen
oder Mahlen. Die Affen sind durch ihre überlappenden
Eckzähne stets zu einer Auf- und Niederbewegung der
Kiefer gezwungen gewesen. Mit dem sapiens, dem
Menschen mit voll ausgebildetem Gehirn und dem Ba-
bygesicht, erschien unsere eigene Gattung mit den letz-
ten evolutionären Retuschen oberhalb des Halses. Diese
umfassen die Ausweitung des Hirnkastens auf 1100 bis
1700 Kubikzentimeter, Rückbildung der Brauenwülste,
so daß sie mit dem restlichen Schädel, der höher und
dünner wurde, eine glatte Eierschale bildeten. Die
426
Form und Anordnung der Zähne hat sich in der ganzen
Reihe der Hominiden nicht bedeutend verändert, noch
wurde der Zahnbogen zu irgendeiner anderen Kurve
als der hyperbolischen Form umgewandelt, die bei den
Affenmenschen erstmals auftrat und zu der U-Form bei
den Pongiden im Kontrast steht. Tatsächlich sind die
Paläoanthropologen unter anderem aufgrund dieser
dentalen Merkmale zu einer Definition der Familie der
Hominiden gelangt. Nur die Größe der Zähne und des
Kiefers hat sich bei der Hominidenfamilie zugunsten
der kleineren verändert.
Fünfhundert-Kilo-Kerle
427
bei chinesischen Apothekern, die sie seit langem unter
dem Namen von Drachenknochenpulver für eine magi-
sche Pharmakologie benutzten. Das Tier, dem diese
Zähne gehörten, kann man als ziemlich großen Affen
von konservativem Äußeren beschreiben, der, abgese-
hen von gewachsener Körpergröße, relativ unverändert
bis ins Mittlere Pleistozän von einem Zweig auf dem
Boden lebender Miozän-Pongiden mit verkürzter
Schnauze und bescheidenen Eckzähnen, dem sehr
wahrscheinlichen gemeinsamen Vorfahren von Men-
schen und Affen, überlebt hatte. Interessanter ist, daß
der Gigantopithecus vielleicht noch in Gestalt eines
riesigen, zweibeinigen Affen lebt, den die Tibetaner
ihren metohkangmi oder ›Schrecklichen Schneemen-
schen‹ nennen.
Der Meganthropus, was »riesiger Mensch« bedeu-
tet, ist durch zwei schwere Vorderkieferfragmente be-
kannt, die in geologischen Ablagerungen unterhalb
derer, in denen Dubois’ Pithecanthropus oder Java-
Mensch gefunden wurde, entdeckt worden sind. Ge-
genwärtig ist der systematische Status dieser Fragmente
strittig. Einige Anthropologen behaupten, die Frag-
mente gehörten zu einer robusten Abart des Java-
Menschen, die noch als Homo erectus klassifiziert
werden kann. Eine andere Denkschule vertritt die An-
sicht, daß sie zu einer asiatischen Population von Af-
fenmenschen gehören und dementsprechend den Au-
stralopithecinae zuzurechnen sind. Von Koenigswald
machte die Entdeckung und prägte den Namen Megan-
thropus. Franz Weidenreich war es, der als erster den
Gedanken zur Diskussion stellte, der Meganthropus sei
ein größerer und schwererer Vorläufer des Pithecan-
thropus. Weidenreich brachte das interessante Argu-
ment vor, im Laufe der hominiden Evolution habe der
428
Mensch eine Phase des Gigantismus durchlaufen, von
der die massiven Kieferknochenfragmente Zeugnis
ablegten.
Aber ein großer Kiefer bedeutet, wie die kleinen
Hinterkopfreste der Affenmenschen in Afrika anzei-
gen, nicht unbedingt, daß ein großer Körper dazugehö-
ren muß. Zweifellos gehört der Meganthropus zu den
Australopithecines. Es ist sogar wahrscheinlicher, daß
der Mensch keine Phase des Gigantismus durchlaufen
hat.
Offenbar hat de Camp sich auf Weidenreichs Theorie
verlassen, um die Vorstellung menschlicher Riesen in
›Fünfhundert-Kilo-Kerle‹ zu stützen. Diese Theorie ist
jedoch, nachdem die Geschichte geschrieben wurde,
verworfen worden. Aber das macht nichts. Der Gigan-
thropus ist eine riesige Form des Homo sapiens, die de
Camp mit eigenen Absichten erfunden hat.
›Throwback‹ soll mit seinem Klang von Atavismus
zusammen mit dem Namen Gigantanthropus, der präa-
damitische Barbarei verspricht, die Vorstellung eines
geistigen und körperlichen Rohlings hervorrufen. Daß
der Held der Geschichte lieber Kunst studieren möchte,
als seinen plumpen Körper beim Football zu trainieren,
ist ein Grund zum Staunen für Leute, die nicht wissen,
daß ein prähistorischer Mensch, der der Vergangenheit
entrissen worden ist, dennoch mit einem menschlichen
Hirn denkt, das nicht umhin kann, auf seine unmittel-
bare Umgebung zu reagieren. Man kann von dem Gi-
gantanthropus der Älteren Steinzeit nicht erwarten, daß
er ein Leben als Jäger führt, wenn der Rahmen für den
Gigantanthropus das Amerika von 1940 ist.
Zu seiner Behauptung der intellektuellen Gleichheit
der Menschheit in ihrer Erziehbarkeit könnte de Camp
durchaus durch die wirkliche Lebensgeschichte von
429
Ishi angeregt worden sein, dem letzten wilden Indianer
Nordamerikas. Ishi kam aus einer Steinzeitwelt der
Jagd in das urbane Amerika des frühen zwanzigsten
Jahrhunderts. Theodora Kroeber sagte von Ishi, er sei
eine lebendige Bestätigung des Glaubens der Anthro-
pologen, daß der moderne Mensch – Homo sapiens –,
ob zeitgenössischer amerikanischer Indianer oder
Athener des Griechenlands zu Phidias’ Zeiten, ganz
einfach und vollständig menschlich ist; in seiner Bio-
logie, in seiner Fähigkeit, neue Fertigkeiten und neue
Verhaltensweisen, denen eine veränderte Umwelt ihn
aussetzt, zu erlernen, in seiner Beherrschung abstrakten
Denkens und in seinem moralischen und ethischen Un-
terscheidungsvermögen. (Kroeber, 1961:230).
Die Geschichte der kulturellen Evolution von den
prähistorischen Jägergesellschaften bis zur urbanen
Zivilisation ist ein Gegenstand von anwachsendem
Inhalt, der zur Materie der politischen Wissenschaft
gehört. Fortschritte in der Komplexität der Technolo-
gie und sozialen Organisation beruhen nicht auf neu
erworbenen Fähigkeiten der Menschen, so daß wir
näher auf das grundlegende Modell für das menschli-
che Leben, das Universale Kulturmodell, eingehen
wollen.
430
1. Werkzeuggebrauch
2. Soziale Organisation
3. Ökonomische Organisation
4. Soziale Kontrolle
5. Wissen und Weltanschauung
6. Kunst und Spiel
7. Sprache
8. Weitergabe der Kultur oder Erziehung
431
kommt auch eine ökonomische Organisation hinzu.
Wenn soziale Kontrolle aus einer Verteilung von
Rechten und Pflichten besteht, dann gibt es keine ele-
mentare Unterscheidung im Ausüben verschiedener
Dinge als die zwischen Männern und Frauen; und zwi-
schen ihnen gibt es keine elementareren Aufgabenver-
teilungen als die ökonomischen in Produktion, Vertei-
lung und Verbrauch der Nahrung. Der Mensch legt ein
ökonomisches Verhalten an den Tag; seine nächsten
Verwandten, die Affen, tun es nicht. Bei den Affen wie
bei den Affenmenschen-Vorfahren des Menschen
sucht jedes Geschlecht auf eigene Faust nach Nahrung,
die niemals geteilt wird, ökonomisches Verhalten be-
ginnt mit einer sexuellen Teilung der Arbeit. Die Rol-
len der Geschlechter sind Definitionen von Tätigkei-
ten; Definitionen setzen Grenzen. Die sexuelle Teilung
sozialer Rollen beim Menschen hängt damit zusam-
men, daß der ganze Aufbau von Wissen und Sitten – in
Verbindung mit den sozialen Kontrollen, die erforder-
lich sind, um ein sexuelles Verbot von Aufgaben auf-
rechtzuerhalten – einer langen Periode kindlicher Ab-
hängigkeit von weiblicher Hilfe zu verdanken ist, in
deren Verlauf das Gehirn genügend reifen kann, um
die erlernten Verhaltensweisen der Kultur in sich auf-
zunehmen. Schließlich ruft, um den Kreis zu schließen,
der Lernprozeß selbst einen spielerischen Ausdruck der
Nervenkräfte hervor, die von den höchst ästhetischen
Fähigkeiten der Werkzeugproduktion nach einem Mo-
dell freigesetzt werden.
Boucher de Perthes hat das UKM im wesentlichen
vor über hundert Jahren aus den birnenförmigen Faust-
keilen des Steinheim-Menschen in Abbeville abgelei-
tet. Boucher de Perthes war der erste, der in Abbeville
die Industrien des paläolithischen Menschen entdeckte
432
und die vergrabenen Faustkeile als das erkannte, was
sie waren: der Beweis für ein in sich perfektes way of
life des vorsintflutlichen Menschen. Er präsentierte
diese archäologischen Reliquien dem skeptischen Pu-
blikum seiner Zeit, das die Menschlichkeit ihrer Her-
steller anzweifelte, mit der unbändig modernen Erklä-
rung, daß
diese rohen Steine in ihrer Unvollkommenheit die An-
wesenheit des Menschen nicht weniger sicher verkün-
den als der gesamte Inhalt des Louvre (de Perthes,
1860:3).
Die ähnlichen zweiseitigen Mousterien-Faustkeile, die
der Neanderthaler zu einem späteren Zeitpunkt schleu-
derte, sind Verfeinerungen dieser selben Grundwerk-
zeuge aus Abbeville. Die gediegene Handwerkskunst
der Neanderthaler basiert auf den früheren technischen
Experimenten des Steinheim-Menschen. Darin hegt
eine Lehre, die in der Natur des UKM enthalten ist. Sie
lautet, daß der Inhalt der Kultur innerhalb eines be-
ständigen Musters anwächst. Unsere paläolithischen
Vorväter in Abbeville haben eine Vielfalt von Schneide-
werkzeugen aus abgeschlagenem Feuerstein erfunden,
die wir bei unseren Maschinen als selbstverständlich
voraussetzen. Wir haben neue Materialien und eine
neue Energiequelle hinzugefügt, aber wir hätten diese
Neuerungen nicht entwickeln können, hätten wir nicht
in unserer Geschichte die grundlegenden paläolithi-
schen Werkzeugtypen, um sie zu verbessern. Die
Werkzeuge des industriellen Zeitalters liegen auf einer
Linie mit der Industrie von Abbeville und der des
Neanderthalers, der wiederum die Werkzeuge des
Steinheim-Menschen voraussetzte, als er sie in kleine-
rem Maßstab mit mehr Sekundärbearbeitung zu den
Feinheiten der Mousterien-Tradition umarbeitete. Nir-
433
gends auf der Entwicklungslinie haben sich die Men-
schen in ihrer intellektuellen Fähigkeit, menschlich zu
sein, unterschieden; was sich unterschied, war die
Menge angehäuften Kulturbestands, mit dem sie arbei-
ten mußten. Wie Boucher de Perthes sagt, ist dieselbe
Art von Menschlichkeit erforderlich, um einen paläo-
lithischen Faustkeil herzustellen, wie um ein Gemälde
für den Louvre hervorzubringen. Und Menschlichkeit
bedeutet das UKM.
Der Abtrünnige
434
der abstrakteren Funktionen der Sprache? Vielleicht
denken unsere Wissenschaftler das, die sich entschie-
den haben, die Intelligenz des Schimpansen einzig an
seiner Reaktion auf eine Banane zu messen« (Collier,
1931:12).
Emily, die von Anfang an in Mr. Fatigay verliebt ist,
wird, bevor sie eine Sprache zu sprechen gelernt hat,
mit dem Problem konfrontiert, ihre Gefühle mitzuteilen:
»Wer hätte gedacht, wenn er die hübsche braune Ge-
stalt so selbständig durch das Dorf trippeln, oder sie
solch einen glatten Bogen am Ende eines wippenden
Astes beschreiben sah, der sie gerade hier wieder zu
Mr. Fatigays Füßen landen ließ, der beim Dinner auf
der Veranda saß, wer hätte, wenn er das alles sah, ge-
dacht, daß unter der ziemlich Charlotte-Brontë-haften
Oberfläche in der Tat das Innere einer Charlotte Bron-
te steckte, voll sanften Stolzes, hoffnungsloser Hoff-
nung und schüchterner Entschlossenheit« (Collier,
1931:15).
Sogar George Schaller, der Erfahrung im Studium in
der Wildnis lebender Affen hat, kann eine ähnliche
innere Menschlichkeit bei den Gorillas nur widerstre-
bend ableugnen.
Während ich die Gorillas über Wochen und Monate
hinweg beobachtete, ging eine feine Veränderung in
meinem Denken über die Affen vor. Zuerst war ich
höchst beeindruckt von ihrem menschlichen Verhalten,
aber etwas Fundamentales fehlte, etwas, das ihre
braunen Augen, wie ausdrucksvoll sie auch immer wa-
ren, nicht übernehmen konnten, nämlich ein Verständ-
nismittel, um miteinander über die Vergangenheit und
die Zukunft und über Dinge, die nicht direkt sichtbar
waren, zu kommunizieren. (Schallery 1968: 248).
435
Ohne Sprache keine Kultur
436
Lord Monboddo folgte dieser Auffassung, indem er
über den Orang-Utan schrieb, daß er
hinsichtlich seines sittlichen Charakters zweifellos ein
Mensch ist, und ein viel besserer Mensch als viele, die
man in zivilisierten Ländern trifft (Monboddo, 1779-99,
IV:55).
Alles in allem spricht Lord Monboddo dem Orang-
Utan mehr Sinn für Höflichkeit, Humor, Bescheiden-
heit und Liebe zu, als dem Menschen. Er tut es mit der
Begründung, daß der Orang-Utan den ursprünglichen
Zustand des Menschen darstellt. Er sagt,
der Orang-Utan hat die verschiedenen Künste, die wir
praktizieren, noch nicht erlernt; und unter anderen, die
er nicht erworben hat, ist die Kunst der Sprache
(Monboddo, 1773-92, I:347).
Das Fehlen einer Sprache ist natürlich ausschlagge-
bend, um eine Kultur auszuschließen. Aber was Lord
Monboddo hervorheben will, ist, daß, wenn die Kultur
wie die Sprache erworben werden kann, der natürliche
Mensch die natürliche Fähigkeit haben muß, sie zu
erlernen. Er besteht auf diesem Punkt, weil er annimmt,
daß es keine einzelne dem Menschen angeborene Spra-
che geben kann, weil eine große Anzahl verschiedener
Sprachen die Menschen unterteilt. Er führt Sektionen
als Beweis an, um darzutun, daß Orangs dieselben
Sprachorgane besitzen wie Menschen. Man muß die
Orangs nur lehren, ihre Fähigkeiten zu gebrauchen,
wie man Stumme sprechen lehrt, um sie artikulations-
fähig zu machen. Schließlich argumentiert er, wenn
solch ein Tier kein Mensch sein soll, möchte ich gerne
wissen, worin das Wesen des Menschen besteht und
was es ist, das einen natürlichen Menschen von dem
kunstfertigen Menschen unterscheidet (Monboddo,
1779-99, III: 42).
437
Die Erziehbarkeit von del Reys Gorillas basiert auf
Monboddos Behauptung der Unterscheidbarkeit des
Menschen und seiner Werke, des natürlichen und
kunstfertigen Menschen, aus dem achtzehnten Jahr-
hundert. In Der Abtrünnige sind Gorillas natürliche
Menschen, die durch Unterricht zu kunstfertigen Men-
schen gemacht werden. Del Rey fügt nur vorsorglich
hinzu, daß die Gorilla-Population vorher zugunsten
einer höheren Intelligenz eine genetische Veränderung
durchmacht, die die Individuen empfänglicher für den
Unterricht macht. Ist dieser veränderte Zustand des
Gehirns ausreichend, um die angegebenen Resultate zu
erzielen? Wohl kaum.
Doch befand sich Monboddo auf der richtigen Spur.
Er begriff, daß der Mensch einheitlich, seine Verhal-
tensweisen aber mannigfaltig sind. Menschliches Ver-
halten ist nicht spezies-spezifisch. In den verschiede-
nen Gesellschaften der Welt gibt es verschiedene Arten,
menschlich zu sein. Bei den anderen Tiefen, wo jeder
Spezies ein bestimmtes Verhaltensmuster entspricht,
besteht keine solche Formbarkeit des Verhaltens: tieri-
sches Verhalten ist spezies-spezifisch. Aber die Fähig-
keit des Menschen zu formbarem, nicht spezies-
spezifischem Verhalten selbst ist für ihn spezifisch und
das genetische Markenzeichen seiner Spezies. Die Tä-
tigkeit des Menschen in seinen »verschiedenen Kün-
sten« kann daher am besten ab biokulturelles Verhalten
beschrieben werden.
Biokulturelles Verhalten ist kulturell, insofern das
Verhalten durch außerkörperliche Lernprozesse wei-
tergegeben wird: es wird wie Erbstücke ererbt. Biokul-
turelles Verhalten ist biologisch, insofern die Fähig-
keit, erlerntes Verhalten zu übertragen und aufzuneh-
men, genetisch verwurzelt ist: diese Fähigkeit wird wie
438
blaue Augen ererbt. Menschliches Verhalten bedingt
also eine praktische Beziehung zwischen sozialem und
genetischem Erbgut.
Lord Monboddo hat einen unmöglichen Zustand
angenommen: den Menschen ohne seine Werke. Er
nahm an, es könne so etwas wie einen natürlichen
menschlichen Organismus geben, bevor er die Kunst-
fertigkeiten der Kultur in sich aufgenommen habe, und
er nahm an, die Orang-Utan seien ein Beispiel dieses
Seinszustandes. Thomas Love Peacock läßt Sir Oran
Hautton mit all dem unverdorbenen, stummen Anstand
des ursprünglichen Menschen auf einer Dinnerparty
erscheinen. Er ist noch ungebildet in den Sitten zivili-
sierter Menschen mit Ausnahme seiner Geschicklich-
keit auf Flöte und Waldhorn. Diese hatte er durch den
Unterricht eines Marineoffiziers an Bord eines Schif-
fes, während seiner Gefangenschaft auf dem Weg nach
England, erworben. Dort wurde er sogleich, nachdem
man die philosophische Bedeutung seiner inneren
Menschlichkeit erkannt hatte, zur Erziehung in eine
intellektuelle Gesellschaft entlassen.
Der Mensch ist tatsächlich von Natur aus geneigt,
sich erziehen zu lassen, aber diese Bereitschaft selbst
ist ein Produkt der evolutionären Entwicklung wie
Wuchs und Gestalt des menschlichen Körpers. Kultu-
relles Verhalten hat nicht wie ein Blitz im Menschen
eingeschlagen, in der Weise, wie irgendeine Mutation
bei del Reys Gorillas ihre Erziehbarkeit bewirkte. Die
menschliche Evolution ist die Geschichte einer Rück-
koppelungsbeziehung zwischen dem Organismus und
dem Verhalten, zwischen Biologie und Kultur.
Körper und Verhalten sind zwei in Wechselwirkung
stehende Produkte des evolutionären Prozesses – Pro-
dukte der Phylogenese. Ein anderes phylogenetisches
439
Produkt ist die ontogenetische Entwicklung, oder le-
bensgeschichtliche Entwicklung des individuellen Or-
ganismus vom Beginn bis zur Reifung. Der individuelle
Lebenszyklus bei den Affen würde wahrscheinlich die
Beherrschung hinreichender Lernerfahrung beschränken,
die erforderlich ist, um die Intelligenz zu bekunden, die
del Rey durch seine Gorillas bekundet wissen will.
Del Rey läßt Harvey Lane bei Gorillas, deren Intel-
ligenz durch Mutation vergrößert worden ist, ein Lern-
programm für Erwachsene in Angriff nehmen. Aber
was ist mit der nächsten Gorillageneration? Werden
die Eltern imstande sein, ihre Jungen ohne weitere
menschliche Hilfe zu unterrichten? Nur das Gehirn des
Gorillas hat sich verändert, und während seiner Periode
kindlicher Abhängigkeit muß es in das Entwicklungs-
schema des Gorillakörpers eingesperrt bleiben. Für
Affen endet die kindliche Abhängigkeit mit etwa drei
Jahren, für Menschen mit ungefähr acht Jahren. Men-
schen wachsen langsam heran, weil sie viel lernen
müssen und eine lange Kindheit brauchen, um alles
aufzunehmen. Menschen werden in sehr unreifem Zu-
stand geboren; ihre Abhängigkeit ist ihr Modus der
Aufnahmebereitschaft für eine verlängerte Lernerfah-
rung. Affen werden in einem späteren Stadium der ute-
rinen Entwicklung geboren; sie sind bei ihrer Geburt
bereits zu reif, um ihr Verhalten durch Interaktion mit
Erwachsenen nachhaltig zu programmieren. Der Le-
benszyklus menschlicher Wesen ist als Ergebnis der
Evolution einer Programmierung durch das UKM an-
gepaßt, der der Affen nicht.
Es ist unmöglich, von einer Mutation zugunsten er-
höhter Erziehbarkeit zu sprechen, wenn die Intelligenz
sowohl ontologisch als auch phylogenetisch ganz und
gar mit der Geschichte des Körpers verbunden ist. Da-
440
her können wir del Reys Geschichte als eine Bestäti-
gung der egalitären Ethik in der amerikanischen Ge-
sellschaft auffassen, die die Erziehung als Lösung aller
Probleme ansieht und speziell als Mittel, um peinliche
Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen und sozio-
ökonomischen Klassen zu beseitigen.
441
kooperierte der Hund mit menschlichen Jägern, wie er
es mit seinen angestammten Kumpanen getan hatte.
Hunde waren den Jägern alter Zeiten von Nutzen – und
sind es noch für die kleinen Gruppen primitiver Jäger,
die heute noch leben – beim Treiben und Aufstöbern
des Wildes, bei der Fährtensuche mit Hilfe des Ge-
ruchssinnes, beim Erlauschen von Gefahrenlauten, die
jenseits der menschlichen Hörschwelle liegen und
beim nächtlichen Bewachen des Lagerplatzes. Und mit
Hilfe des Menschen ist dem Hund sein Beuteanteil, die
Knochen und Eingeweide, sicher.
Sogar als Haustier bleibt der Hund heute für Hunde-
liebhaber ein enger Gefährte. Hunde und Menschen
verstehen einander immer noch, weil sie beide bis vor
einigen wenigen tausend Jahren als soziale Raubtiere,
die größeres Wild jagten als sie selbst, die gleiche Le-
bensweise hatten. Menschliche Jäger organisieren ihre
Jagdgesellschaften natürlich aufgrund eines hochent-
wickelten Systems einer vokal-auditiven Signalspra-
che. Das Bellen eines Hunderudels beruht ebenfalls auf
vokal-auditiven Nachrichtenübermittlungen, aber das
Niveau der Signale ist das eines Rufsystems. Ein Ruf-
system ist genauso wenig sprachlich wie das System
visueller Signale, mit dem Hunde durch Körperbewe-
gungen und Schwanzstellung miteinander kommuni-
zieren.
Insgesamt geben Hunde viel mehr Signale als alle
Affenarten, die nächsten Verwandten des Menschen.
Letztere machen jedoch viel mehr Lärm um seiner
selbst willen. Aber Affen sind wiederum vegetarische
Weidetiere, nicht in Gruppen jagende Raubtiere wie
Menschen und Hunde. Schäferhunde, die auf ein großes
Repertoire vom Menschen ausgestoßener akustischer
Signale reagieren, werden niemals durch trainierte
442
Schimpansen ersetzt werden. Die Sprache unterschei-
det sich von allen anderen Systemen dadurch, daß nur
die Sprache eine symbolische Form der Kommunikation
ist. Symbole sind arbiträr. Zwischen dem physikali-
schen Signal und seiner inhaltlichen Mitteilung besteht
keine innere Beziehung. Bei Menschen sind die voka-
len Signale natürlich nicht die einzigen physikalischen
Merkmale, die symbolische Bedeutung annehmen
können. Weihwasser besteht aus zwei Dingen, einer in
der Natur vorgefundenen Substanz, H20 – Wasser –,
und einer Bedeutung, die ihm vom Menschen zuge-
schrieben wird. Kein Hund kann den Unterschied zwi-
schen Weih- und Trinkwasser begreifen, aber jedes
normale menschliche Wesen kann es.
Ein Mensch, der einem Hund Kunststücke beibringt,
kann die Worte »mach Männchen!« als Stichworte für
das »Männchen machen« einfuhren. Ebenso leicht
könnte der Hund daran gewöhnt werden, in Reaktion
auf irgendwelche Wörter oder auf einen Pfeifton be-
sonderer Höhe oder einen Lichtstrahl von besonderer
Wellenlänge »Männchen zu machen«.
Menschen sind konditioniert, auf Signale von ande-
ren Menschen ganz ähnlich zu reagieren, wie Hunde
von ihren menschlichen Herren stimuliert werden.
Aber der Mensch spielt nicht nur eine passive Rolle.
Allein der Mensch kann aktiv bestimmen, welche Be-
deutung ein vokaler oder sonstiger Anreiz haben soll.
Ein Mensch kann einen anderen Menschen lehren, daß
»Halt!« heißt, man solle stehenbleiben. Ein Mensch
kann das einem Hund lehren. Aber ein Hund kann das
nicht einen Menschen lehren und nicht ein Hund den
anderen.
Jede Sprache ist Kommunikation, aber nicht jede
Kommunikation ist Sprache. Sprache ist das Merkmal
443
des Homo sapiens und keines anderen lebenden Orga-
nismus. Die Sprache ist von den Rufsystemen anderer
Säugetiere verschieden – dem Bellen der Hunde, dem
Trompeten der Elefanten, dem Schreien der Gibbons
und den Unterwassergeräuschen, die die Delphine her-
vorbringen. Die Unterscheidung kann in vier Punkte
zusammengefaßt werden:
1. Andere Säugetiere stoßen Signale nur in Gegen-
wart des Reizes aus, auf den der Ruf eine Reaktion
darstellt. Nehmen wir zum Beispiel die Gibbons, eine
Spezies asiatischer Affen. Die Anwesenheit eines
Feindes alarmiert die Erwachsenen so, daß sie ein De-
fensivknurren von sich geben. Alle Gruppenmitglieder
stoßen leise Schreilaute aus, um so das Territorium
unter Respektierung benachbarter Gruppen abzugren-
zen. Spielgefährten zwitschern und quieken miteinan-
der. Und das erwachsene Männchen plappert und
gluckst, indem es die Gruppe auf ihrem täglichen Zug
durch den Wald anführt. Im Gegensatz dazu befähigt
die Sprache den Menschen, über außer Sichtweite be-
findliche Dinge, über nicht Existentes oder in Vergan-
genheit oder Zukunft Liegendes zu sprechen.
2. Rufsysteme sind größtenteils angeboren. Das
Knurren, Schreien, Zwitschern, Quieken und Glucksen
der Gibbons sind genetisch programmierte Reaktionen.
Sprache wird durch eine Tradition von Lehren und
Lernen vermittelt. Es gibt nur eine Spezies der Gattung
Homo, aber viele verschiedene Sprachen. Die Fähigkeit
des Menschen, die Laute seiner besonderen Sprachge-
meinschaft zu behalten und zu äußern, ist das geneti-
sche Markenzeichen der Spezies. Sprache ist wie Kul-
tur überhaupt ein Beispiel biokulturellen Verhaltens.
3. In den Rufsystemen nichtmenschlicher Wesen
gibt es für jede Situation nur einen angemessenen Aus-
444
druck. Das Repertoire von Lauten ist begrenzt. Die
Sprache ist ein offenes System. Es ermöglicht die Bil-
dung neuer, nie zuvor gehörter Lautkombinationen.
Ein dressierter Hund kann lernen, auf 77 bis 100 ver-
schiedene Signale zu reagieren. Aber diese Signale
schließen sich gegenseitig aus und gehören einem ge-
schlossenen System an.
4. Die unbegrenzte Produktivität der Sprache beruht
darauf, daß ein begrenzter Satz von Lauten (Phone-
men) zu einer unendlichen Anzahl größerer Kombina-
tionen (Morphemen und Sätzen) angeordnet werden
kann. Die Sprache operiert auf zwei Ebenen. Die Bau-
steine der Sprache auf phonemischer Ebene sind in
sich bedeutungslos. Diese Phonem-Einheiten, faktisch
die Laute einer Sprache, bestimmen in keiner Weise
die Begriffe, Gedanken oder Bedeutungen von Spra-
chen. Der symbolische Aspekt der Sprache taucht auf
der nächsthöheren Ebene auf, wenn diese phonemi-
schen Einheiten auf Morphemebene gruppiert und um-
gruppiert werden. Die Laute, die im internationalen
phonetischen Alphabet zum Beispiel durch (t), (i) und
(m) dargestellt werden, können einmal so zusammen-
gestellt werden, daß man »team« ausspricht, und auf
andere Weise, daß man »meat« ausspricht. Die Pho-
neme ergeben Worteinheiten, die entsprechend der
Grammatik einer gegebenen Sprache ganze Gedanken-
ketten in Form von Sätzen nach sich ziehen können.
Damit haben wir es. Das Bellen, Heulen und Win-
seln von Hunden kann nicht in Glieder einer phonemi-
schen Struktur zerlegt werden. Wo es keine Phoneme
gibt, gibt es auch keine Sprache.
Das betrifft Hunde. Wie steht es mit Delphinen? Dr.
Lilly behauptet, Delphine könnten lernen, mit Men-
schen linguistisch zu kommunizieren, weil sie äußerst
445
gesellige Tiere mit einem großen Gehirn sind, einem
Gehirn, das größer sei als das menschliche.
In der Tat ist das Gehirn der Delphine größer als das
menschliche Gehirn. Ein Delphin ist ungefähr dreimal
so schwer wie ein Mensch! Aber die absolute Größe
des Gehirns besagt wenig über die Intelligenz. Wichti-
ger ist das Verhältnis des Hirngewichts zum Körper-
gewicht. Für Nachtaffen, Schimpansen, Menschen,
Elefanten und gemeine Delphine gelten folgende Zahlen
(vgl. Buettner-Janusch, 1966:350):
446
halten, Sprache und Kultur, nicht Teil dieser Anpas-
sung sind.
Die Fähigkeit des Menschen, zu sprechen, steht in
enger Beziehung zu der Tatsache, daß er ein Primat ist.
Das Potential für die Sprache ist einfach nicht in dem
evolutionären Potential irgendeines anderen Säugetiers
vorhanden.
Was den Primaten ihren Vorsprung auf dem Weg
zur symbolischen Kommunikation beim Menschen
verschafft hat, war ihre Anpassung an das Leben auf
den Bäumen. Primaten sind Baumbewohner. Die we-
nigen auffallenden Ausnahmen wie der Mensch und
die Paviane stammen von Baumbewohnern ab.
Das Baumleben ist ein sicheres Leben. Bis zum Er-
scheinen des Menschen mit seinen Expeditionen nach
Primatenskeletten und lebenden Exemplaren für zoo-
logische Gärten waren die Primaten jeder Spezies vor
räuberischen Bodenbewohnern sicher. Die Lärmorgien,
denen speziell die Brüllaffen, Guerezas [(afrikan.
Stummelaffe)], Gibbons und Schimpansen frönen,
trägt zur Sicherheit der ›Primaten-Nische‹ im Dasein
bei. Nichts Böses kann ihnen zustoßen, wenn sie durch
Lärmen ihren Standort verraten. Das Lallen der Babies
ist eine Anlage aus unserem Primatenerbe. Das Lallen
bildet nämlich die Grundlage, auf der die Sprache auf-
baut.
Die intellektuelle Fähigkeit, Lallen zur Sprache zu
formen, muß jedoch den ganz speziellen Merkmalen
des Sehvermögens der Primaten zugeschrieben wer-
den. Der Mensch ist wie seine Primatenvorfahren in
hohem Maße ein visuelles Tier. Hoch über dem Boden
ist die Waldumgebung eine dreidimensionale Umge-
bung. Die Bewegung darin setzt eine Belohnung für
Tiefenwahrnehmung aus. Das Sehvermögen der Prima-
447
ten ist nahezu vollständig stereoskopisch. Das binoku-
lare Gesichtsfeld beträgt bei Affen, Menschenaffen
und Menschen 120° (aus einem gesamten Gesichtsfeld
von 180°) im Gegensatz zu Pferden zum Beispiel, de-
ren Augen sich an den Seiten des Kopfes so um eine
Achse drehen, daß sie in alle Richtungen in einem Ge-
sichtsfeld von 360° sehen können. Aber die in Pferde-
augen einfallenden Strahlen können nur innerhalb ei-
nes binokularen Gesichtsfeldes von 57° aus dem ge-
samten Gesichtskreis in einem Brennpunkt treffen (vgl.
Campbell, 1966:75). Delphine sind vergleichsweise
sehr beschränkt im Umfang der Überschneidung eines
Doppelbildes, falls überhaupt eine solche existiert. Die
höheren Primaten mit ihren vorwärts blickenden Au-
gen können fast alles dreidimensional sehen, Affen,
Menschenaffen und Menschen nehmen die Welt durch
ein Paar außerordentlich feiner Entfernungsmesser
wahr.
Die Tiefenwahrnehmung ist lebenswichtig für die
Primaten, wenn sie sich mit allen vier Füßen sprin-
gend, hangelnd und kletternd durch die Äste und
Zweige der Bäume bewegen. Schnelle Fortbewegung
auf diese Art erfordert eine hervorragende Koordination
zwischen Fuß und Auge. Eine exakte visuelle Informa-
tion über eine dreidimensionale Umgebung wird im
Gehirn mit präzisen Bewegungen der Gliedmaßen ko-
ordiniert. Jeder, der einmal die blitzschnelle Grazie der
Gibbons beim Durchstreifen der tropischen Wälder
Thailands beobachtet und bewundert hat, muß auch
das Gehirn der Gibbons bewundern, das so exakte
Querverbindungen zwischen dem visuellen und moto-
rischen Zentrum herstellt. Diese nervlichen Querver-
bindungen innerhalb des Hirns kann man selbst, wenn
die Primaten rasten, am Werk sehen. Sie heben lose
448
Gegenstände auf, um sie vor ihren Augen zu untersu-
chen.
Grundlegend für die Fähigkeit, Hand und Auge zu
koordinieren, sind die Gedächtnisspeicher des Pri-
matengehirns. Diese Gewebe des Hirns haben sich bei
den Primaten weit über alles, was bei anderen Säuge-
tieren vorkommt, hinausgehend ausgedehnt. Ohne um-
fangreiche Gedächtnisspeicher wären die Primaten
nicht fähig, sich so, wie sie es tun, durch die Bäume zu
manövrieren. Erstens muß ihr Gehirn die beiden sich
überschneidenden Bilder des Zweiges, auf den sie
springen wollen, vergleichen, wenn die Entfernung
richtig geschätzt werden soll. Zweitens müssen sie ge-
speicherte Erinnerungen an die Eindrücke früherer
Sprünge, Flugbahnen und Landungen heranziehen.
Die zur Sprache befähigte menschliche Intelligenz
ist die zu einem Extrem geführte Intelligenz eines Pri-
maten. Die Intelligenz ist nicht an irgendeinem speziel-
len Ort des Gehirns angesiedelt. Sie ist eher eine ganz
allgemeine Möglichkeit der Erinnerung und Analyse
von Eingaben. Unsere Primaten-Vorfahren haben diese
Möglichkeit entwickelt als Folge der bei der Anpas-
sung an ein Baumleben auftretenden Anforderungen an
ihr Gehirn, visuelle Eingaben mit motorischen Lei-
stungen in Beziehung zu setzen.
Der Mensch hat sich in Afrika als am Boden lebender
Primat entwickelt. Er ging auf großflächigen Füßen,
und die vorderen Gliedmaßen waren von der Aufgabe
der Fortbewegung befreit. Seine Greifhände, die die
Fähigkeit, zu greifen, von seinen baumbewohnenden
Vorfahren beibehielten, wurden seitdem eher durch
den Umgang mit Werkzeugen als durch die Fortbewe-
gung in einer Waldumgebung mit den Augen koordi-
niert. Die afrikanischen Steppen des Miozän vor unge-
449
fähr 25 Millionen Jahren boten einem bei Tageslicht
jagenden Räuber zwischen der Morgen- und Abend-
dämmerung, wenn die Raubkatzen und Schakalrudel
nach Wild jagten, eine Chance. Die vormenschlichen
Ahnen des Menschen, die Affenmenschen, nutzten
diese Chance. Schlachterwerkzeuge kompensierten das
Fehlen von Eckzähnen, die im Verlauf komplexer kör-
perlicher Anpassungen an die aufrechte Haltung ver-
kleinert wurden.
Werkzeuge komplizierten die Umwelt des frühen
Menschen. Sie bildeten faktisch einen zusätzlichen
Teil davon, den das Gehirn aussortieren mußte. Tat-
sächlich könnte man sagen, daß die Inanspruchnahme
der Primatenanlage des Menschen zur Intelligenz bei
seiner Anpassung ihre Weiterentwicklung notwendig
machte, um das sinnvolle Wissen aus dem statischen,
das die Umwelt in ständig zunehmendem Maße anfüllte,
auszusortieren. Wissen ist das Heizmaterial der Intelli-
genz. Die Fähigkeit des Menschen zu symbolischem
Denken in Sprache und Kultur ist möglicherweise ein
Nebenprodukt der Notwendigkeit, mit einer Überla-
stung der sensorischen Aufnahmekanäle, die durch den
Werkzeuggebrauch verursacht wurde, fertigzuwerden.
Aber jedenfalls kann es keinen Zweifel geben, daß die
Intelligenz des Menschen als eine Methode der Wis-
sensverarbeitung ihre menschliche Qualität einem Pri-
matenhirn verdankt, das durch manuelle Geschicklich-
keit und deren visueller Koordination ausgebildet wor-
den ist.
Nun zur Widerlegung der sprechenden Delphine.
Ohne Hände, um lose Gegenstände aus der Umge-
bung vor die Augen zu bringen, hat der Delphin ein-
fach kein Mittel, um genügend Wissen über seine Welt
zu erlangen, es an der Weißglut des symbolischen
450
Denkens zu entzünden. Man kann den Delphin lehren,
auf ein großes Repertoire von Signalen zu reagieren,
wie ein dressierter Hund. Aber das Ergebnis ist das
gleiche: ein geschlossenes System von Rufen, nicht
Sprache.
Eltonsche Pyramide
451
stattet ihm, mit technischen Hilfsmitteln die Nahrungs-
ketten zu verkürzen und zu modifizieren. Diese drama-
tische Veränderung der Biosphäre gereicht ihm zu sei-
nem eigenen Nachteil.
Marston Bates, ein Zoologe, beschreibt den Scha-
den, den sich der Mensch so zufügt, mit folgenden
Worten:
452
wird, wird auch die Gesundheit der Biosphäre durch
eine abwechslungsreiche Ökologie gefördert. Das Ein-
heitsgetreide-System befindet sich immer in einem un-
sicheren Gleichgewicht. Es ist von Menschen geschaf-
fen und muß von Menschen erhalten werden, stets mit
Chemikalien und Maschinerie zum Einsatz bereit, ohne
irgendeinen anderen Schutz gegen die Zufälle irgend-
einer neuen Entwicklung in dem verletzten System der
Natur. Es ist der Mensch, der gegen die Natur arbeitet:
ein künstliches System mit den Ungewißheiten von Ar-
tefakten. Epidemische Katastrophen werden zur stets
gegenwärtigen Drohung.
453
Goldfischglas
454
Goldfische sind ein Produkt experimenteller Züch-
tung. Die Menschen in Heinleins Geschichte, die
gehalten werden, als wären sie Goldfische, sind jedoch
durch die Beziehung Wärter/Mensch nicht in ähnlicher
Weise modifiziert worden. Die andere Form der
Haustierhaltung ist das Einfangen wild lebender Indi-
viduen und ihre Zähmung, nicht Züchtung. Aber das
trifft auf diesen Fall auch nicht zu: die Menschen in der
Geschichte sind aus einer künstlichen Umgebung ein-
gefangen worden, ungeachtet dessen, daß sie sie selbst
geschaffen haben, per Mensch kultiviert sich selbst.
Die extraterrestrischen (ET) Menschenarten, die
Forscher von der Erde in »Kultur«t einer in dieser
Sammlung nicht enthaltenen Story von Jerry Shelton,
entdecken, werden als domestiziertes Eigentum einer
höheren Intelligenz erkannt. Wie einer der Erdenmen-
schen mit Schrecken beobachtet, werden die ET-
Menschen »wie Kaninchen gezüchtet«. Die ET-
Menschen sind kulturbegabt, aber dennoch werden sie
von ihren Herren als Impfstoffquelle gezüchtet. Die
Forschungsgruppe von der Erde zieht den richtigen
Schluß und ist gründlich entsetzt.
Das Wort »Kultur« als Titel ist doppelsinnig: es hat
die gebräuchliche anthropologische Bedeutung und die
des kontrollierten Wachstums von Mikroorganismen in
einer Petrischale. Daher kann man spekulieren, daß
intelligentes Leben, das in einer Ecke des Universums
entstanden ist, sich experimentell der Aufgabe zuwen-
den könnte, es in irgendeiner anderen Ecke ins Leben
zu rufen. Aber Shelton hat eine symbiotische Bezie-
hung zwischen seinen gezüchteten ETs und ihren Her-
ren arrangiert. Wenn man sich ein kulturelles Tier als
Haustier vorstellen soll, muß es als kultigenes, symbio-
tisches oder Haustier vorgestellt werden. All diese Sta-
455
dien des Seins erfordern, daß das Ziel der Domestizie-
rung durch die Beziehung zu den Herren modifiziert
wird – mit Ausnahme der Haustiere, die man als Indi-
viduen aus der Wildnis einfangen kann, aber das muß
als Ursprung der ETs ebenfalls ausgeschlossen werden,
da sie, wenn sie kulturelle Tiere sind, per definitionem
keine wilden Tiere sein können.
Am Anfang
456
wo der Mensch tatsächlich seine Selbstvernichtung
herbeiführt, aber nicht, bevor er im Laboratorium den
Neanderthaler rekonstruiert hat. Dann erben die Nean-
derthaler die Welt. Die Menschheit lebt dank den
Wundern der Biotechnik in einer anderen Subspezies
weiter. Der Technologie als einem Teil der Kultur wird
eine ungewöhnlich dramatische Rolle bei der Ände-
rung der biologischen Eigenschaften der Menschheit
eingeräumt, aber im Prinzip hat der Autor recht. Die
biologische Evolution ist für den Menschen nicht ab-
geschlossen, nur weil sie für ihn biokulturelles Verhal-
ten entwickelt hat. Die Kultur ist ein Artefakt der
Selbstdomestizierung des Menschen, ein Artefakt, der
den Organismus beeinflussen muß, weil die Kultur eine
Erweiterung des Organismus ist. Nur die Technologie
des Autors ist phantastisch. Aber keineswegs phanta-
stischer als Carleton Coons Voraussagen für die Bio-
technologie in »Die Zukunft der menschlichen Rassen«.
457
Selektionszwang seines natürlichen Standortes reagierte.
Schlachtwerkzeuge und Jagdgruppen gestatteten es
selbst den Menschen mit halbem Gehirn, wanderndes
Wild durch die ganze Alte Welt südlich der Winter-
frostlinie von Europa und Afrika durch Westasien und
Indien nach China, Südostasien und den größeren In-
seln des indonesischen Archipels zu verfolgen. Aber
ein Teil seiner Reaktion auf diese verschiedenen Orte
ereignete sich sowohl auf biologischer als auch auf
technologischer und sozialer Ebene.
Kenner der Naturgeschichte haben seit dem 19.
Jahrhundert der zoogeographischen Verbreitung des
Tierlebens Beachtung geschenkt. Dementsprechend
haben sie die Welt in Faunagebiete aufgeteilt und jedes
durch die charakteristische Spezies des dort ansässigen
wilden Lebens gekennzeichnet. Die Alte Welt ist in
vier Faunagebiete aufgeteilt, das Paläarktische, das
Äthiopische, das Orientalische und das Australische.
Abgesehen vom Australischen Gebiet (dort haben
sich keine Menschen entwickelt; sie sind vor rund
20000 Jahren dort eingewandert. Dasselbe gilt für die
beiden Amerikas) sind die übrigen Regionen mit ihrem
typischen wilden Leben folgendermaßen abgegrenzt:
458
Wenn klimatische und topographische Grenzen so ver-
schiedenartigen Tierarten Raum lassen, sich in ihren
eigenen zoogeographischen Gebieten zu entwickeln,
wäre es erstaunlich, wenn diese selben Gebiete nicht
seit ältester Zeit ihre eigene lokale Vielfalt von Men-
schen hervorgebracht hätten. Die Heimatländer der
menschlichen Subspezies entsprechen den Faunaregio-
nen der Alten Welt ungefähr folgendermaßen:
459
CONGOIDE – reine Neger: Die Hautfarbe liegt in einem
engen Bereich zwischen schwarz und dunkelbraun.
Beine und Arme relativ lang im Verhältnis zum
Rumpf; Lendenkrümmung. Wenig Körperbehaarung;
voller Bart; Kopfhaar ergraut spät. Nasen breit,
Zähne groß, Lippen aufgeworfen. Bambutide: Klei-
ner von Wuchs und mit relativ kürzeren Gliedma-
ßen. Heller in der Farbe und stärker behaart.
AUSTRALIDE – Die Hautfarbe variiert von schwarz bis
hellbraun. Die Körperbehaarung schwankt von spär-
lich bis sehr stark wie bei den Ainu. Körperpropor-
tionen ähnlich wie bei den Caucasiden. Haar von
wollig über gekräuselt bis glatt, manchmal auch
blond. Voller Bart; Kopfhaar ergraut früh und fallt
aus. Große Brauenwülste, große Zähne. Nasen flach
mit großer, breiter Nasenspitze.
CAUCASIDE – Umfassen Europäer, Berber, Araber, In-
der und die weißen Einwohner beider Amerikas,
Südafrikas, Australiens, Neuseelands und Sibiriens.
Die Caucaside sind durch die weiteste Spanne der
Hautfarbe von allen Subspezies charakterisiert, von
fast pigmentlos bis fast schwarz. Das Haar ergraut
früh und fällt früh aus und schwankt farblich von
blond bis schwarz. Haare wie bei den Australiden,
aber weniger kraus. Gesicht schmal, Nase schmal,
Zähne klein.
MONGOLIDE – Umfassen amerikanische Indianer und
Ostasiaten. Hautfarbe schwankt von mattweiß
(»gelb«) bis zu sattem Braun. Körper- und Ge-
sichtsbehaarung spärlich; das schwarze Kopfhaar
ergraut kaum und fällt kaum aus. Häufiges Vor-
kommen von Epikanthus-Augenfalten (ursprünglich
eine Anpassung an kaltes Wetter in der paläarkti-
schen Heimat der Mongoliden). Lange Körper im
460
Verhältnis zu kurzen Gliedmaßen; kleine Hände und
Füße. Unterschiede im Körpertypus zwischen den
Geschlechtern (Dimorphismus) geringer als bei Au-
straliden und Caucasiden. Nasenform variiert zwi-
schen gekrümmt (amerikanische Indianer und Nagas)
und flach (klassisch mongolid).
461
scheidungsmerkmal für jede Subspezies erkennt, wie
zum Beispiel die Anzahl der Höcker auf den Backen-
zähnen. Diese Unterschiede weisen nicht auf Unter-
schiede in der Anpassungsfähigkeit hin. Ein vierhöck-
riger Backenzahn ist weder besser noch schlechter als
ein fünfhöckriger Backenzahn; noch sind schaufelför-
mige Schneidezahne bei der Anpassung irgendwie vor-
teilhafter als nicht schaufelförmige. Solche Unterschiede
deuten hingegen auf die relative genetische Isolation der
vier ursprünglichen Subspezies des Menschen während
ihrer Bildung auf ihrem altertümlichen Nährboden hin,
bei denen verschiedene unwesentliche Unterschiede sich
mit der Zeit bei jedem Zweig angesammelt haben. Die
fossilen Ahnen dieser vier Zweige sind mehr oder we-
niger bekannt. Das früheste bekannte Fossil des Sapiens
ist unten zusammen mit seinem am besten bekannten
Erectus-Vorfahren angegeben. Die Zahlen bedeuten
Jahre (von der Gegenwart an zurückgerechnet).
Homo sapiens
Rhodesien- Nia Cave Mapa Steinheim
Mensch (40000) (100000) (200000)
(40000)
Homo erectus
Chelléen- Java-Mensch Peking- Heidelberg
Mensch Mensch Kiefer
(1000000) (500000) (400000) (500000)
463
in der Grenzziehung bestimmten zum Teil die Ge-
schwindigkeit, mit der die Gene für den Sapiens sich
von dem Gebiet aus, wo die Schwelle vom Erectus
zum ersten Mal überschritten worden war, überallhin
verbreiteten. Um die Zeit, als alle Zweige Sapiens ge-
worden waren, waren sie alle noch Jäger. Sie wurden
so geschickte Jäger, daß sie in fast alle gegenwärtig
bewohnbaren Teile des Globus eindrangen.
Bald nach dem Pleistozän hatte sich das Verbrei-
tungsgebiet der vier Haupt-Subspezies ungeheuer aus-
geweitet. Die Mongoliden wanderten nach Nordostasien
und besetzten es ebenso wie die ganze westliche Hemi-
sphäre bis auf die baumlose Arktis, wo die amerikani-
schen Indianer ihrem eigenen Variabilitätsmuster für
eine halbe Welt Geltung verschafften. Die amerikani-
sche Arktis wurde von den Eskimos besetzt, die später
dorthin kamen und deren physische Merkmale als klas-
sisch mongolid bestehen geblieben sind, wie bei den
sibirischen Ureinwohnern, vielen Koreanern und eini-
gen Japanern. Auch die Mongoliden stießen von ihrem
paläarktischen Heimatgebiet nach Süden vor und ver-
mischten sich gründlich mit den Australiden. Ver-
schiedene Rückkreuzungen dieser Mischung stachen
schließlich mit Auslegerkanus in See, die auf den Be-
ginn der Landwirtschaft und eine neolithische Techno-
logie folgten, und besetzten die kleineren Pazifikinseln.
Das durchgehende Beispiel der Variation bei Polynesi-
ern und Mikronesiern, die zu Anfang verschiedene
Grade der Kreuzung aufwiesen, ist durch die relative
Isolation der Inseln nach ihrer Ansiedlung bedingt.
Andere Australide wurden durch den Vorstoß der
Mongoliden nach Süden verlagert und zogen sich nach
Australien zurück, während zwergenhafte Negrito-
Bevölkerungen in den malaiischen Wäldern, auf den
464
Philippinen, in Indien und auf den Andaman-Inseln
zurückblieben. Die Ainu auf Hokkaido sind vielleicht
Australide, die nach Norden abgedrängt wurden. Nach
der Eiszeit hat sich die Faunagrenze zwischen der äthi-
opischen und paläarktischen Region zu einer ost-
westlich verlaufenden Trennungslinie verschoben, die
durch die Sahara verläuft und Afrika in einen congoiden
Süden und einen von Caucasiden bewohnten Norden
teilt. Die Caucasiden haben auch Europa bis über den
Ural hinaus durchdrungen.
In historischer Zeit, nach 1492 etwa, hat eine sogar
noch umfangreichere Völkerwanderung und -mischung
stattgefunden. Caucaside von der europäischen Halbin-
sel segelten auf Ozeanschiffen überallhin und drängte
den Rest der Welt mit einer Eisen-und-Schießpulver-
Technologie zusammen. Von dieser Zeit an ist die
Weltkarte der Rassen mehr und mehr durcheinander-
gebracht worden im Verhältnis zu den relativ isolierten
Brutstätten der ursprünglichen Subspezies. Zwei neue
Rasseneinheiten haben sich in nachkolumbianischer
Zeit gebildet: die Mestizen Südamerikas und die nord-
amerikanischen Neger. Mestizen sind eine Kreuzung
aus amerikanischen Indianern (Mongoliden), Kapitänen
und Mannschaften der spanischen Eroberungsschiffe
(Caucasiden), die ohne Frauen in die Neue Welt kamen,
und den Negern (Congoiden), die die Europäer mit-
brachten. Die Hauptkraft, die das Ausmaß möglicher
Variation begrenzt, ist die soziale Auslese. Die nord-
amerikanischen Neger stammen von hochgewachsenen
Congoiden mit Beimischungen amerikanischer India-
ner ab. In diesem Fall haben die europäischen Koloni-
sten weder Ehen mit der eingeborenen mongoliden
Bevölkerung, noch mit den importierten Congoiden
geschlossen. Es hat Mischungen gegeben. Aber für
465
keine der drei Subspezies, die Nordamerika bewohnen,
gibt es eine sozial anerkannte Kategorie wie die der
Mestizen. Die congoide Bevölkerung dort unterschei-
det sich von ihren afrikanischen Vorfahren dank einer
einzigartigen Mischung importierter Anlagen, die in
einen neuen Rahmen der Umgebung und Ernährung
versetzt wurden. Daraus ist ein lokales Muster für
Wachstum und Reifung entstanden, was der allen
Menschen innewohnenden Fähigkeit, ihre genetischen
Möglichkeiten unter veränderten Bedingungen auf
neue Weise zum Ausdruck zu bringen, entspricht.
Man könnte noch viele andere neue Rasseneinheiten
der nachkolumbianischen Welt beschreiben. Zwei be-
sonders interessante sind die Kap-Farbigen Südafrikas
und die Neo-Hawaiianer. Die Kap-Farbigen sind junge
Mischungen von Bantus (Neger-Congoiden), Hotten-
totten (Capoiden) und Europäern und Hindus (beide
Caucaside). Die Neo-Hawaiianer sind ein eingeborener
Polynesierstamm, vermischt mit Mongoliden aus China
und Japan und Caucasiden aus verschiedenen Teilen
Europas.
Amerikanische Indianer, Polynesier und Mikrone-
sier, Mestizen, amerikanische Neger, Kap-Farbige,
Neo-Hawaiianer – diese und andere rassische Popula-
tionen sind sämtlich aus den altertümlichen Subspezies
des Menschen zusammengesetzt. Und sie alle bezeu-
gen die Tatsache, daß der Mensch eine einzige globale
Spezies ist. Obgleich es so ist, daß man die frühe Ge-
schichte der Menschheit bis zu einigen verschiedenen
Brutstätten in den unterschiedlichen Faunaregionen
zurückverfolgen kann, repräsentieren alle rassischen
Einheiten nichts weiter als lokale Kombinationen der-
selben Gen-Substanz, die der menschlichen Spezies als
Ganzem angehört.
466
Die genetische Auslese schließt beim Menschen
eine Reaktion auf seine eigene Schöpfung, die Kultur,
ein. Carleton Coon hat das in einem Wortspiel mit
dem Titel eines Werks eines anderen Anthropologen
zu folgender zweideutigen Feststellung zusammenge-
faßt:
467
geborenen Familien gründeten. Die städtische Bevöl-
kerung der vorindustriellen Städte selektierte sich
selbst durch unterschiedliche Sterblichkeitsquoten bei
der Anpassung an die ansteckenden Krankheiten, die
die Städter sich durch die Dichte ihrer eigenen An-
sammlung zuzogen. Die japanische Elite wählt hell-
häutigere Frauen, was die Variabilität zwischen den
sozialen Klassen fördert. Dies alles sind Beispiele der
fortgesetzten Wirkungen der menschlichen Kultur auf
die menschliche Variabilität.
Aber obgleich der Mensch seine eigenen Rassen
macht, macht die Rasse nicht den Menschen. In keiner
Hinsicht kann man die Rasse als Basis einer Klassifi-
kation größerer und geringerer Fähigkeiten, mensch-
lich zu sein, betrachten.
Unterschiede zwischen menschlichen Kulturen hin-
sichtlich ihrer Einfachheit oder Kompliziertheit haben
mit historischen Zufällen der Aufteilung, nicht mit ein-
fachen und komplizierten menschlichen Wesen zu tun.
Einst sind alle Menschen auf der Welt Jäger gewesen.
Später wurden einige Bauern und andere Städter. Bei-
spiele aller drei Lebensweisen kann man noch bei
sämtlichen Subspezies finden. Die zoologischen Unter-
schiede zwischen den heute lebenden Menschen haben
nichts Wesentliches an sich, das entweder für eine ver-
langsamte oder für eine rasche kulturelle Entwicklung
der einen oder anderen Rasse verantwortlich wäre. Die
Entwicklung komplexer Strukturen ist die natürliche
Tendenz der menschlichen Kultur, denn das UKM ist,
soweit es die Quantität der Inhalte speichern kann, of-
fen.
Das früheste Stadium menschlicher Kultur war die
Jagdkultur. Die Menschen wurden um die Zeit zu Jä-
gern, als der Übergang vom Genus Australopithecus
468
zum Genus Homo sich vollzog. Zu dieser Zeit erstreckte
sich das Verbreitungsgebiet der Australopithecines
über verschiedene zoogeographische Regionen hinweg
von Afrika bis in den Fernen Osten, und der Übergang
fand nicht in allen Regionen statt. Daher existierte der
Mensch als Jäger in einigen Weltteilen zur gleichen
Zeit, als in anderen Regionen noch Affenmenschen als
Futtersucher lebten. Die Affenmenschen stammen aus
Afrika, aber der Übergang zum Homo erectus hat ir-
gendwo außerhalb Afrikas stattgefunden, und von da
an strömten diese ersten menschlichen Jäger zurück
und überschwemmten die letzten futtersuchenden Af-
fenmenschen in ihrer Heimat. Ähnlich irregulär war
der Übergang zum sapiens, der sich infolge uneinheit-
licher genetischer Verbindungen zwischen den ver-
schiedenen Ursprungsgebieten der Menschen vollzog.
Mit der Zeit waren alle frühen Subspezies der Men-
schen zu sapienses geworden. Alle waren sie noch Jä-
ger.
Der Wechsel vom Sammeln der Nahrung zur Nah-
rungsproduktion vor etwa achttausend Jahren vollzog
sich in den Hochebenen nördlich des Persischen Golfes.
Der Städtebau folgte in den Tiefebenen um 3000 v. Chr.
Das erstmalige Auftauchen des sapiens in der Evolution
hat ebenfalls irgendwo in Westasien stattgefunden, und
aus demselben Grund. Dieses Kerngebiet der Caucasi-
denregion blieb nach wie vor günstig gelegen, um die
anregenden Wirkungen sowohl des genetischen als
auch des kulturellen Verkehrs über die Grenzen der
Congoiden- und Australidenregion und vielleicht auch
die der Capoiden zu erfahren. Spätere Ereignisse waren
durch die Geographie und einen erweiterten Kontakt
der Kulturen untereinander bestimmt.
Jäger, die in Landschaften gekommen waren, die für
469
jede andere ökonomische Aktivität als Nahrungssuche
ungünstig waren, sind nicht zur neolithischen Nah-
rungsproduktion übergegangen, bis heute noch nicht.
Andere Gebiete waren isoliert und von den Strömun-
gen der Ausbreitung der Kultur, die Verbindung mit
der einen oder anderen Entwicklung hatten, abgelegen.
Wieder andere waren auf Randgebiete neben sich ent-
wickelnder Kulturen begrenzt. Kulturen existieren in
der Umgebung anderer Kulturen. Die Art und Weise,
wie diese größere Umgebung, jetzt in weltweitem
Rahmen, Gestalt gewonnen hat, ist es, die die unglei-
che Verteilung des kulturellen Niveaus verursacht hat,
nicht Unterschiede der Menschen selbst.
470
Steinbearbeitung von einer Generation an die nächste
weitergegeben wurde, nicht in ähnlicher Weise ge-
plant, entworfen und angewendet. Die Technologie ist
es, die Auswirkungen auf die Gesellschaft hat.
Eine Konsequenz der Entdeckung des Feuers für das
menschliche Leben war ein stärkerer sozialer Zusam-
menhalt. Vielleicht sollte es nur bezwecken, Raubtiere
abzuschrecken. Aber eine unbeabsichtigte Folge war,
daß es dazu beitrug, den Menschen menschlicher zu
machen. Das Feuer schuf Heim und Herd, um die sich
eine Menschengruppe nach der Zerstreuung auf der
Jagd tagsüber versammeln konnte.
471
aus irgendeinem Grund läßt Lewis die Entdeckung des
Feuers in Afrika stattfinden. Um die Wahrheit zu sa-
gen: es ist ein Trick des Autors, der in seinem Roman
Generationen der Prähistorie in der Person eines einzi-
gen menschlichen Wesens zusammenfaßt, dem Weg-
bereiter der Evolution selbst. Aber dieser literarische
Trick unterstreicht zu Recht, daß die Technologie der
am meisten zielgerichtete und zweckentsprechende
Aspekt der Kultur ist.
472
In den letzten paar Jahrzehnten ist die Menschheit von
der entscheidendsten Veränderung in ihrer gesamten
Geschichte überwältigt worden. Moderne Wissenschaft
und Technologie haben ein so dichtes Netz der Kom-
munikation, des Transports, der wirtschaftlichen Un-
abhängigkeit – und potentieller atomarer Zerstörung –
geschaffen, daß der Planet Erde auf seiner Reise durch
die Unendlichkeit die Intimität, die Kameradschaft und
die Verwundbarkeit eines Raumschiffs erlangt hat
(Ward, 1966: VII).
473
wird, sogar im Plankton und in Kieselalgen am Boden
der Eltonschen Pyramide. Die Sauerstoffmenge ver-
ringert sich und wird sich weiter verringern bis zum
Punkt universeller Erstickung, wenn der Verbrennung
keine Grenzen gesetzt werden. Die Gefahren unbe-
grenzter Bevölkerungszunahme sind nicht weniger
bestimmt. Die Welt ist groß und der Mensch ist klein,
aber er ist fähig, die physikalischen Grenzen der Be-
lastbarkeit der Welt zu überschreiten. Vor dieser Zeit
aber könnten die politischen Probleme des ökonomi-
schen Wettkampfs zu einem Atomkrieg fuhren. Hun-
gersnot großen Ausmaßes in der vorindustriellen Welt
wird für die 1970er Jahre vorausgesagt (und ist einge-
troffen. Die Red.). Wenn nicht Wissenschaftler aus
allen Ländern ihre Regierungen überreden können,
international zusammenzuarbeiten, um einer davon-
laufenden Technologie Einhalt zu gebieten, können
wir ebensogut anfangen, unser eigenes Museum für
»die, die nachher kommen« zu bauen, wer immer
»sie« sein mögen. Dann werden wir mit dem Nean-
derthaler gleichgezogen haben. Zweifellos hat er das
Ende nicht kommen sehen, aber wir können es.
474
sung zu einem höchst wünschenswerten Bestandteil
politischer Planung.
In der menschlichen Geschichte konnten unter-
schiedliche Kulturen des Menschen ihre Unterschiede
selbstsicher behaupten. Als Passagiere an Bord eines
Raumschiffs Erde können sie es sich nicht länger lei-
sten, diese Selbstsicherheit unreflektiert zu genießen.
Der Ökologe John Storer, der einiges über den Platz
des Menschen im globalen Gewebe des Lebens weiß,
weist auf die Konsequenzen kultureller Überfülle für
unsere Umwelt hin.
Diese Umwelt wird von mehr als drei Milliarden
Menschen gebildet, deren Gedanken und Auffassungen
durch viele Barrieren voneinander getrennt sind – Tau-
sende von Sprachen und Dialekten, die wechselseitig
unverständlich sind; viele verschiedene Wertmaßstäbe
und Denkweisen über sie; viele verschiedene Voraus-
setzungen der Kultur, des Aberglaubens und religiöser
Überzeugungen; hohe Bildung und bares Analphabe-
tentum; überquellender Reichtum und hoffnungsloses
Elend; roher Nationalstolz; widerstreitende nationale
Interessen und ererbte nationale Haßgefühle, verschärft
durch Jahrhunderte der Auswanderung, Aggression
und Eroberung.
475
sind. Heute erstreckt sich die Umwelt jedes lebenden
Menschen über den gesamten Globus, und das Überle-
ben eines jeden ist in die Gedanken und Handlungen
anderer Menschen auf der entgegengesetzten Halbkugel
der Erde eingebaut. Die Bevölkerung vieler ärmerer
Nationen wächst derart an, daß sie die Kapazität ihres
Landes, sie zu ernähren, übersteigt Ihre Fehler werden
zu den Sorgen ihrer Nachbarn, und sie selbst werden
zum gefährlichen Pfand in der Konfrontation der stär-
keren Mächte (Storer, 1968:123).
476
Das Warten
477
Normalerweise spielen sich die Sitten und Bräuche
unseres Lebens unterhalb unserer bewußten Wahrneh-
mung ab.
Miriams Gewahrwerden des Neuen und Andersarti-
gen ist dem Feingefühl für fremde Sitten, auf die der
Anthropologe bei der ethnographischen Feldforschung
trifft, verwandt. Als Außenseiter kann er klar erkennen,
was die Menschen ohne Bewußtsein tun.
Bronislaw Malinowski, der die Tradition ethnogra-
phischer Feldforschung für die moderne Anthropologie
begründet hat, macht darauf aufmerksam, daß die mei-
sten Bürger der Nationalstaaten hinsichtlich ihrer Le-
bensweise nicht aufmerksamer oder artikulationsfähi-
ger sind als die Eingeborenen der Trobriand-Inseln
hinsichtlich ihrer Stammesriten.
478
Zum Beispiel
wäre es bei der Erkundigung, wie sie [die Tobriander]
ein Kriminaldelikt behandeln oder bestrafen, zwecklos,
einem Eingeborenen eine so umfassende Frage zu stel-
len wie: »Wie behandelt und bestraft ihr einen Krimi-
nellen?« (12).
479
ren sollen, die Unkenntnis ihrer selbst. Wenn eine Ste-
notypistin aufhört zu schreiben und überlegt, wie ihre
Finger tippen, behindert sie damit das Tippen. Die Be-
wußtheit, die in den Lernprozeß des Tippens einge-
gangen ist, wieder zu beschwören, bedeutet, die Kunst-
fertigkeit zu ruinieren, und zwar gerade deshalb, weil
die Kunstfertigkeit vom Vergessen des Lernprozesses
abhängt. Genauso ist es mit vielen unserer Lebensge-
wohnheiten. Wie Hall sagt, ist es
die Abwesenheit der Bewußtheit, [die] einen hohen
Grad der Strukturierung ermöglicht. Ein Augenblick
Überlegung wird erweisen, daß beim Gehen oder Au-
tofahren das Bewußtsein des Vorgangs in die Lage
versetzt, die reibungslose Funktion zu behindern; ähn-
lich kann zuviel Bewußtsein des Schreib- oder Sprech-
vorgangs dem, was man sagen will, in die Quere kom-
men (Hall, 1961: 73).
480
Das Körperritual der Renakirema
481
von weither kommender Anthropologe, der die Verei-
nigten Staaten besucht, um das Leben dort zu studieren.
Renakirema ist Amerikaner rückwärts buchstabiert,
wie andere Wörter in dem Essay ein Kunstgriff, darauf
berechnet, den Leser dazu zu bringen, sich selbst als
ein fernliegendes Wahrnehmungsobjekt eines krassen
Außenseiters zu sehen. In ganz ähnlicher Weise pfleg-
ten die Amerikaner China als ein verkehrtes Land zu
betrachten, wo alles rückwärts angefangen wurde:
Suppe zum Schluß der Mahlzeit, Weiß als Trauerfarbe,
Ehrenplatz zur Linken, Schreiben von oben nach unten
usw. Den Schluß von Miners Essay bildet ein Ver-
zeichnis von Gewohnheiten, die nutzlos und verächt-
lich erscheinen müssen, weil sie von einem entfernten
Beobachterstandpunkt betrachtet werden. Aber durch
diese Art der Satire werden die verborgenen oder un-
bemerkten Aspekte der eigenen Kultur sichtbar ge-
macht.
Jedermannoffskismus in Katzenstadt
482
nach dem Terminus »Jedermannoffskismus« oder
ta-chiafu-ssu-chi mit seiner (für chinesische Ohren)
russisch klingenden Endung fu-ssu-chi für »-offski« zu
urteilen.
Die Gefangenen
483
Astronom, der für den Autor und Astronomen Fred
Hoyle spricht, fragt, warum es so ist, daß
wir trotz der Veränderungen, die die Wissenschaft her-
beigeführt hat – das heißt, unsere Kontrolle über unbe-
lebte Energie –, immer noch dieselbe alte soziale
Rangordnung bewahren? Politiker an der Spitze, dann
das Militär, und die wirklichen Köpfe ganz unten. Zwi-
schen diesem Aufbau und dem im alten Rom oder den
ersten Zivilisationen in Mesopotamien existiert in
dieser Hinsicht kein Unterschied. Wir leben in einer
Gesellschaft, die einen gewaltigen Widerspruch ent-
hält: modern in ihrer Technologie, aber archaisch in
ihrer sozialen Organisation (Hoyle, 1957:107).
484
Teilnehmer und Beobachter, »Beides im und aus dem
Spiel«, um ein Zitat von Walt Whitman zu stehlen.
Nicht anzuerkennen, daß der Anthropologe in Wech-
selwirkung mit anderen, gleich ihm Werte bildenden
Personen arbeiten muß, ist ein grundlegendes Versehen.
Chains Erhebung der Anthropologie in den rigorosen
Status einer Computerwissenschaft verrät einen unange-
brachten Glauben an rationales Verfahren, um einen
sauberen Ort aus der Welt zu machen, in der ihrem We-
sen nach nicht rationale menschliche Wesen leben.
Da die strukturellen Ziele der Gesellschaft nicht so
wie ihre technischen Mittel rationalisiert werden kön-
nen, ist Verzweiflung darüber, daß die Modernität der
letzteren schneller vorwärtskommen kann als der Archa-
ismus der ersteren, gleichbedeutend mit dem Glauben,
beide seien Gegenstand eines umfassenden Systems
der Zielorientierung. Totalitäre Regierungen handeln
aufgrund dieses Glaubens. Amerikanische Sozialinge-
nieure würden es gern tun. Aber Michel Crozier, der
französische Soziologe, warnt sie vor »der Arroganz
der Rationalität«. Wie die Förderung des materiellen
Fortschritts, ohne ihn je zu bremsen, eine davonlaufende
Technologie zur Folge hat, so führt ein unangebrachter
Glaube an die wissenschaftliche Methodologie, um
menschliche Probleme in der Gesellschaft zu bewälti-
gen, indem man sie rekonstruiert, zu einer Gewalt-
Regierung. Eine humane Technologie vorausgesetzt,
wird die Sozialstruktur für sich selbst sorgen.
Natürlich
485
»modernisieren«. Führer des betroffenen Landes glau-
ben vielleicht, die Sozialstruktur sei es, die nach dem
Modell der fortgeschrittenen Nationalstaaten moderni-
siert werden müsse, und nicht einfach die Technologie
der Industrie, der Kommunikation, des Verkehrs, der
Landwirtschaft oder des Gesundheitswesens. Soziale
Veränderung ist jedoch nur indirekt zu erreichen,
durch die häufig unvorhergesehenen Konsequenzen
technologischer Veränderung. Die Reaktion auf letztere
kann nicht umhin, im Sinne der lokalen Kultur stattzu-
finden, eher als durch Imitation der sozialen Ordnung,
die die industrielle Revolution in ihren Ursprungslän-
dern begleitet hat. Die beste Unterstützung, die die An-
thropologie bei der Steuerung sozialen Wandels anbieten
kann, ist der Versuch, die Konsequenzen technischer
Innovation vorauszusagen und zu bestimmen, ob sie
wahrscheinlich mehr oder weniger mit den nicht redu-
zierbaren Werten der in Frage stehenden Gesellschaft
übereinstimmen werden.
Aber stückweise Hilfe für dieses und jenes Land
ohne Rücksicht auf die umfassende Planung des globa-
len ökologischen Systems der Welt kann nur neue
Schwierigkeiten schaffen. Die Frage ist, wie man Lö-
sungen für lokale Probleme finden kann, die auch als
Lösungen globaler Probleme brauchbar sind. Das er-
fordert die Raumschiff-Erde-Mentalität, die nicht leicht
zu kultivieren ist. In Natürlich überläßt Chad Oliver
den kosmischen Standpunkt ET (extraterrestrischen)
Superwesen, die ihn zum Wohle der Erde einnehmen.
486
bereits hinter uns haben, zu leben, nicht zu noch mehr
Übergangsstörungen, die durch eine Fortsetzung tech-
nologischer Innovation im selben Umfang verursacht
werden. John R. Platt, Professor für Biophysik an der
Universität von Chicago, behauptet, daß die schnellen
technischen Errungenschaften des zwanzigsten Jahr-
hunderts »ziemlich bald auf verschiedenartige Schran-
ken stoßen müssen«. Wahrscheinlich wird tausend Jahre
oder länger nichts mehr als der »Sprung aus einer unter-
entwickelten wissenschaftlichen und technologischen
Gesellschaft zu einer vollentwickelten« noch einmal
stattfinden. Transport mit Hochgeschwindigkeit, rasche
Kommunikation und schnelle Computer haben den
Unterschied bewirkt, und nichts anderes ist geeignet,
»je wieder einen so großen Unterschied zu bewirken«.
Mit den zukünftigen Perspektiven in Kommunikation
und Verkehr »kann man wenig mehr tun, als das Netz
auszuweiten«. Platt zieht die Schlußfolgerung, daß die
jüngste Beschleunigung des technologischen Wandels
jetzt auf ihre natürlichen und ökonomischen Grenzen
stößt und daß die Gestalt unserer zukünftigen Anpas-
sung in der heutigen Gesellschaft bereits sichtbar ist,
die einmal, wie noch in lebendiger Erinnerung ist, keine
Automobile und Flugzeuge und nicht lange zuvor keine
Eisenbahn hatte (Platt, 1965 :607-17).
Die bemerkenswerteste Konsequenz der Revolution,
die die Pferdekutschen-Technologie beseitigte, war das
Anwachsen des Stadtlebens. Während die neue Tech-
nologie sich rund um die Welt ausbreitet, beginnen die
Menschen überall, in die Städte zu strömen. Der Zug
vom Land in die Stadt hat in den Vereinigten Staaten
die Städte bereits mit Problemen der kulturellen Über-
fülle überschwemmt. Die Krisen der Städte, der Erzie-
hung und der ethnischen Gruppen in unserer Zeit sind
487
alle verschiedene Aspekte desselben Komplexes, durch
blinde Kräfte der Technik hervorgelockter, unvorher-
gesehener Konsequenzen. Edward T. Hall schreibt
über diese explosiven Probleme:
Der Mensch und seine Auswirkungen bilden ein ein-
heitliches System der Wechselbeziehung. Es ist ein
Fehler von größter Bedeutung, so zu handeln, ab seien
der Mensch und seine Häuser oder seine Städte, seine
Technologie oder seine Sprache etwas Verschiedenes.
Wegen der Wechselbeziehung zwischen dem Menschen
und seinen Auswirkungen kommt es uns zu, mehr dar-
auf zu achten, was für Auswirkungen wir schaffen,
nicht nur für uns selbst, sondern für andere, für die sie
vielleicht unpassend sind. Die Wechselbeziehung des
Menschen zu seinen Auswirkungen ist einfach eine
Fortsetzung und spezialisierte Form der Beziehung
von Organismen zu ihrer Umgebung im allgemeinen.
Wenn aber ein Organ oder Prozeß zu Auswirkungen
führt, beschleunigt sich die Evolution mit solcher Ge-
schwindigkeit, daß die Auswirkungen überhand neh-
men können. Genau das sehen wir in unseren Städten
und bei der Automation. Das ist es, wovon Norbert
Wiener sprach, ah er im Computer, einer spezialisier-
ten Auswirkung eines Teils des menschlichen Hirns,
Gefahren voraussah. Da Auswirkungen starr (und
auch stumm) sind, ist es erforderlich, ihnen eine Rück-
koppelung (Untersuchung) einzubauen, so daß wir er-
fahren können, was vorgeht, besonders hinsichtlich
solcher Auswirkungen, die die natürliche Umwelt for-
men oder substituieren. Diese Rückkoppelung muß
sowohl in unseren Städten als auch in unserer Hand-
habung der Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen
verstärkt werden (Hall, 1966:177-78).
488
Die Rückkoppelung zwischen dem Menschen und sei-
nen Auswirkungen, die Hall fordert, bedeutet, in eine
verborgene Dimension menschlichen Verhaltens Ein-
blick zu nehmen. Die verborgene Dimension ist natür-
lich jene nicht instrumentale Dimension der Kultur, der
es so leicht gelingt, sich vor ihren Teilhabern zu ver-
stecken. Die Kultur in all ihren Dimensionen ist das
Medium, in dem der Mensch lebt, wie Wasser das Me-
dium ist, in dem die Fische leben. Bis heute mußte der
Mensch sich nicht der Kultur bewußt sein, um zu le-
ben. Aber jetzt ist er gezwungen, dieses Bewußtsein zu
erwerben, trotz der Schrecken kultureller Bewußtheit.
Die gegenwärtige Annäherung des sozialen Wan-
dels an einen anderen dauernden Zustand der Anpas-
sung wird ein höheres Bewußtsein des Selbst in der
Gesellschaft erfordern, als je notwendig war, um eine
stabile Struktur des Lebens, wie sie bei früheren tech-
nologischen Systemen errichtet wurde, zustande zu
bringen. Jetzt wissen wir, daß die Technologie für die
übrige Kultur Konsequenzen hat. Daher müssen wir
lernen, was wir mit unseren materiellen Kräften zu tun
und zu lassen haben. Wenn sie die Technologie richtig
einschätzen, können die Menschen ihre eigenen sozia-
len Probleme lösen. Aber das ist ein großes Wenn.
Einschätzung der Technologie bedeutet, überhand-
nehmende Auswirkungen in gleicher Weise zu kontrol-
lieren wie überhandnehmende Massen kultureller Un-
terschiede. Etwas von dem Wissen, das die professio-
nellen Anthropologen eröffnet haben, muß irgendwie
Teil des allgemeinen Wissens werden. Science Fiction
ist ein geeignetes Mittel der Erziehung.
Aber universelles Wissen über die Kultur wird
ebensoviel Einfluß auf die Kultur haben, wie ihn die
Technologie in der Vergangenheit gehabt hat. Was
489
sind die Konsequenzen davon? Es gibt nur eine Ant-
wort – eine Abnahme der Unterschiede zwischen den
Kulturen zugunsten vermehrter Individualität innerhalb
der Kulturen. Aber diesen Gewinn wird der Mensch
sich hart verdienen müssen. Er kann nicht auf die kos-
mische Vision von am achten Tage erschaffener ET
(extraterrestrischer) Wesen rechnen, die sie ihm über-
reichen. Jene Wesen, die Erfindung von Science-
Fiction-Autoren, sind die Erfindung, die der Mensch
ausersehen hat, von sich selbst zu machen.
490