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Ingo Schulze "Geschichten aus der ostdeutschen Provinz"

Kapitel 10 - Lächeln

Martin Meurer erzählt, wie er seinen leiblichen Vater


nach vierundzwanzig Jahren wiedersieht. Eine unerwartete
Beichte. Gläubige werden seltener krank und leben länger.
Die Apostelgeschichte und Topflappen.

Die Begegnung mit meinem Vater so wiederzugeben, wie ich sie damals erlebt habe, also zu
berichten, welchen Eindruck er und seine Geschichte auf mich machten, fällt mir schwer. Nicht
etwa, weil meine Erinnerung schlecht wäre - es liegt ja kaum ein Jahr zurück -, sondern weil ich
heute mehr weiß. Ich würde sogar sagen, ich bin ein anderer Mensch geworden. An einem
Morgen im März 1969 kam unsere Mutter zu Pit und mir ins Zimmer und sagte: Euer Vater ist
abgehauen. Sie zog die Vorhänge zurück, Öffnete das Fenster und ging wieder hinaus. Ich war
sieben und Pit fünf. »Egal, wer dich in der Schule fragt, du hast nichts zu verbergen, überhaupt
nichts«, ermahnte sie mich, bevor sie mit meinem Bruder zum Kindergarten ging. Mehr hörten
wir erst mal nicht von ihr darüber.
Nach Tinos Geburt am 13. Februar 88 schickte ich meinem Vater ein Foto von uns dreien. In
seiner Glückwunschkarte lagen hundert Westmark. Im Oktober 91 verunglückte Andrea, meine
Frau, Auch das schrieb ich ihm. Mit der Beileidskarte kamen wieder hundert Mark. Später erhielt
ich noch einen Gruß von einem Tagesausflug nach Murnau.
Kurz vor seinem fünften Geburtstag war Tino, unser Sohn, zu Danny, meiner Schwägerin,
gezogen. Sie kam einfach besser mit dem Jungen zurecht. Ein paar Wochen danach rief mich
Thomas Steuber an, unser früherer Nachbar, und fragte, ob ich ihm einen Jahreswagen, einen 5er
BMW, in Gröbenzell bei München abholen könnte. Er bot mir zweihundertfünfzig Mark dafür,
plus Spesen, plus Fahrtkosten. Er mußte gehört haben, daß ich arbeitslos war. Ich sagte sofort zu.
Vermutlich wußte ich selbst nicht, warum ich mir von der Auskunft die Nummer meines Vaters
geben ließ. Vielleicht geschah es einfach aus Neugier oder weil ich hoffte, von ihm ein bißchen
Geld zu bekommen. Schließlich war er mal Oberarzt gewesen.
Am Telefon schien er unsicher und nannte mich "mein Junge". Ich schrieb mir Namen und
Adresse eines Cafes auf, in dem er wochentags ab 16.00 Uhr anzutreffen sei. Am nächsten
Abend rief mein Vater zurück. Ich wisse ja wohl, wie es ihm körperlich gehe. Ich solle nicht
überrascht sein. Wir hatten uns 24 Jahre nicht gesehen.
Um vier stand ich am Bordstein, dem Eingang gegenüber. Ein paarmal glaubte ich, sein
Gesicht zu sehen.
Dann erkannte ich ihn sofort. Er kam, ein Bein nachziehend, aber ohne Stock, sehr langsam
voran. Ich stellte mich ihm in den Weg.
»Hallo Vater«, sagte ich. Ich hatte nie Vater gesagt. »Tag, mein Junge.« Sein Kopf wandte
sich etwas ab. »Ich seh nur noch links.«
Mein Vater hakte sich bei mir ein, und wir betraten, Schritt für Schritt, das Cafe. Er war
kleiner als ich.
«Dein Vater ist ein ziemliches Wrack«, sagte er, »äußerlich zumindest. Findest du nicht?«
»Nein«, sagte ich, »wieso denn?«
"Heißt du immer noch Meurer?" fragte er. »Ja«, sagte ich und half ihm, den Mantel
auszuziehen. Ohne uns zu berühren, liefen wir die wenigen Schritte zu dem runden Tisch in der
Ecke, auf den er gezeigt hatte. Das Cafe war gut besucht, viele Frauen ab sechzig, meist zu zweit
oder zu dritt, Paare seltener.
Eine sehr junge Kellnerin schrieb etwas auf ihren Block, bevor sie herantrat, »Grüß Gott«
sagte und das »Reserviert« - Schild in ihre Schürzentasche steckte. Wir bestellten zwei Tassen
Kaffee.
»Und?« fragte mein Vater. Wir schwiegen. «Hast du schon was Neues?« »Nein«, sagte ich.
» Keine Freundin ?« "Ach so", sagte ich, »nein.« »Wie lange ist es her, der Unfall deiner Frau.
Ein Jahr?«
»Anderthalb.«
»Und den Fahrer? Haben sie den ...?«
»Den gibts gar nicht«, sagte ich. »Zumindest haben sie keine Spuren gefunden. Vielleicht hat
jemand zu dicht überholt, oder irgendwas anderes hat sie erschreckt. Sie ist ganz dumm
gestürzt... hinter Serbitz.«
Ich sagte, daß ich mich an Andreas Tod schuldig fühlte, weil ich die Fahrerlaubnis verloren
und behauptet hatte, daß wir gar kein Auto brauchten. »Deshalb übte Andrea mit dem Fahrrad.
Sie war schrecklich unsicher.«
J. W. Goethe

DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS


Den 15. März
Ich habe einen Verdruss gehabt, der mich von hier wegtreiben wird. Ich knirschte mit den
Zähnen! Teufel! Er ist nicht zu ersetzen, und ihr seid doch allein schuld daran, die ihr mich
sporntet und triebt und quältet, mich in einen Posten zu begeben, der nicht nach Sinne war. Nun
habe ich's! Nun habt ihr's! Und dass du nicht wieder sagst, meine überspannten Ideen verdürben,
alles, so hast du hier, lieber Herr, eine Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenschreiber das
aufzeichnen würde.
Der Graf von C. liebt mich, distinguiert mich, das ist bekannt, das habe ich dir schon
hundertmal gesagt. Nun war ich gestern bei ihm zu Tafel, eben an dem Tage, da abends die
noble Gesellschaft von Herrn und Frauen bei ihm zusammenkommt, an die ich nicht gedacht
habe, auch mir nie aufgefallen ist, dass wir Subalternen nicht hineingehören. Gut. Ich speise bei
dem Grafen; und nach Tische gehn wir in dem großen Saal auf und ab, ich rede mit ihm, mit dem
Obristen B., der dazukommt, und so rückt die Stunde der Gesellschaft heran. Ich denke, Gott
weiß, an nichts. Da tritt herein die übergnädigre Dame von S. mit ihrem Herrn Gemahle und
wohlausgebrüteten Ganslein Tochter, mit der flachen Brust und niedlichem Schnurleibe, machen
en passant ihre hergebrachten hochadeligen Augen und Naslöcher, und wie mir die Nation von
Herzen zuwider ist, wollte ich mich eben empfehlen und wartete nur, bis der Graf vom garstigen
Gewäsche frei wäre, als meine Fräulein B. hereintrat. Da mir das Herz immer ein bisschen
aufgeht, wenn ich sie sehe, blieb ich eben, stellte mich hinter ihren Stuhl und bemerkte erst nach
einiger Zeit, dass sie mit weniger Offenheit als sonst, mit einiger Verlegenheit mit mir redete.
Das fiel mir auf. Ist sie auch wie all das Volk, dachte ich, und war angestochen und wollte
gehen, und doch blieb ich, weil ich sie gerne entschuldigt hätte und es nicht glaubte und noch ein
gut Wort von ihr hoffte und – was du willst. Unterdessen füllt sich die Gesellschaft. Der Baron
F. mit der ganzen Garderobe von den Krönungszeiten Franz des Ersten her, der Hofrat R., hier
aber in qualitate Herr von R. genannt, mit seiner tauben Frau etc., den übel fournierten J. nicht zu
vergessen, der die Lücken seiner altfränkischen Garderobe mit neumodischen Lappen ausflickt,
das kommt zuhauf, und ich rede mit einigen meiner Bekanntschaft, die alle sehr lakonisch sind.
Ich dachte – und gab nur auf meine B. acht. Ich merkte nicht, dass die Weiber am Ende des
Saales sich in die Ohren flüsterten, dass es auf die Männer zirkulierte, dass Frau von S. mit dem
Grafen redete (das alles hat mir Fräulein B. nachher erzählt), bis endlich der Graf auf mich
losging und mich in ein Fenster nahm. – Sie wissen, sagte er, unsere wunderbaren Verhältnisse;
die Gesellschaft ist unzufrieden, merke ich, Sie hier zu sehen; ich wollte nicht um alles – Ihro
Exzellenz, fiel ich ein, ich bitte tausendmal um Verzeihung; ich hätte eher dran denken sollen,
und ich weiß, Sie vergeben mir diese Inkonsequenz; ich wollte schon vorhin mich empfehlen,
ein böser Genius hat mich zurückgehalten, setzte ich lächelnd hinzu, indem ich mich neigte. –
Der Graf drückte meine Hände mit einer Empfindung, die alles sagte. Ich strich mich sacht aus
der vornehmen Gesellschaft, ging, setzte mich in ein Kabriolett und fuhr nach M., dort vom
Hügel die Sonne untergehen zu sehen und dabei in meinem Homer den herrlichen Gesang zu
lesen, wie Ulyß von dem trefflichen Schweinhirten bewirtet wird. Das war alles gut.
Des Abends komme ich zurück zu Tische, es waren noch wenige in der Gaststube; die
würfelten auf einer Ecke, hatten das Tischtuch zurückgeschlagen. Da kommt der ehrliche A.
hinein, legt seinen Hut nieder, indem er mich ansieht, tritt zu mir und sagt leise: Du hast
Verdruss gehabt? – Ich? sagte ich. – Der Graf hat dich aus der Gesellschaft gewiesen. – Hole sie
der Teufel! sagt ich, mir war's lieb, dass ich in die freie Luft kam. – Gut, sagte er, dass du es auf
die leichte Achsel nimmst. Nur verdrießt mich's, es ist schon überall herum. – Da fing mich das
Ding erst an zu wurmen. Alle, die zu Tische kamen und mich ansahen, dachte ich, die sehen dich
darum an! Das gab böses Blut.
Und da man nun heute gar, wo ich hintrete, mich bedauert, da ich höre, dass meine Neider nun
triumphieren und sagen: da sähe man's, wo es mit den Übermütigen hinausginge, die sich ihres
bisschen Kopfs überhöben und glaubten, sich darum über alle. Verhältnisse hinaussetzen zu
dürfen. Und was des Hundesgeschwätzes mehr ist – da möchte man sich ein Messer ins Herz
bohren; denn man rede von Selbständigkeit, was man will, den will ich sehen, der dulden kann,
dass Schurken über ihn reden, wenn sie einen Vorteil über ihn haben; wenn ihr Geschwätze leer
ist, ach, da kann man sie leicht lassen.
F. Schiller
DIE RÄUBER

Vierter Akt
Erste Szene

Ländliche Gegend um das Moorsche Schloss. Räuber Moor, Kosinsky, in der Ferne.
MOOR. Geh voran und melde mich. Du weißt doch noch alles, was du sprechen musst?
KOSINSKY. Ihr seid der Graf von Brand, kommt aus Mecklenburg, ich Euer Reitknecht –
sorgt nicht, ich will meine Rolle schon spielen, lebt wohl! Ab.
MOOR. Sei mir gegrüßt, Vaterlandserde! Er küsst die Erde. Vaterlandshimmel!
Vaterlandssonne! – und Fluren und Hügel und Strome und Wälder! Seid alle, alle mir
herzlich gegrüßt! – Wie so köstlich wehet die Luft von meinen Heimatgebirgen! wie
strömt balsamische Wonne aus euch dem armen Flüchtling entgegen! – Elysium!
dichterische Welt! Halt ein, Moor! dein Fuß wandelt in einem heiligen Tempel. Er kommt
näher. Sieh da, auch die Schwalbennester im Schlosshof – auch das Gartentürchen! —
und diese Ecke am Zaun, wo du so oft den Fanger belauschtest und necktest – und dort
unten das Wiesenthal, wo du, der Held Alexander, deine Mazedonier ins Treffen bei
Arbela führtest, und nebendran der grasigte Hügel, von welchem du den persischen
Satrapen niederwarfst – und deine siegende Fahne flatterte hoch! Heiter. Die goldnen
Maienjahre der Knabenzeit leben wieder auf in der Seele des Elenden – da warst du so
glücklich, warst so ganz, so wolkenlos heiter – und nun – da liegen die Trümmer deiner
Entwürfe! Hier solltest du wandeln dereinst, ein großer, stattlicher, gepriesener Mann –
hier dein Knabenleben in Amalias blühenden Kindern zum zweiten Mal leben – hier! hier
der Abgott deines Volks – aber der böse Feind schmollte dazu! Er fährt auf. Warum bin
ich hierher gekommen? dass mir's ginge wie dem Gefangenen, den der klirrende
Eisenring aus Träumen der Freiheit aufjagt – nein, ich gehe in mein Elend zurück! – der
Gefangene hatte das Licht vergessen; aber der Traum der Freiheit fuhr über ihn wie ein
Blitz in die Nacht, der sie finsterer zurücklässt – Lebt wohl, ihr Vaterlandstäler! einst saht
ihr den Knaben Karl, und der Knabe war ein glücklicher Knabe – itzt saht ihr den Mann,
und er war in Verzweiflung. Er dreht sich schnell nach dem äußersten Ende der Gegend,
allwo er plötzlich stille steht und nach dem Schloss mit Wehmut herüberblickt. Sie nicht
sehen, nicht einen Blick? – und nur eine Mauer gewesen zwischen mir und Amalia –
Nein! sehen muss ich sie – muss ich ihn – es soll mich zermalmen! Er kehrt um. Vater!
Vater! dein Sohn naht – weg mit dir, schwarzes, rauchendes Blut! weg, hohler, grasser,
zuckender Todesblick! Nur diese Stunde lass mir frei – Amalia! Vater! dein Karl naht! Er
geht schnell auf das Schloss zu. – Quäle mich, wenn der Tag erwacht, lass nicht ab von
mir, wenn die Nacht kommt – quäle mich in schrecklichen Träumen! nur vergifte mir
diese einzige Wollust nicht! Er steht an der Pforte. Wie wird mir? was ist das, Moor? Sei
ein Mann! – – Todesschauer – – Schreckenahndung – – Er geht hinein.
Heinrich Heine
Deutschland. Ein Wintermärchen
Caput I
Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,


Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar,
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,


Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.

Ein kleines Harfenmädchen sang.


Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
Gerühret von ihrem Spiele.

Sie sang von Liebe und Liebesgram.


Aufopfrung und Wiederfinden
Dort oben, in jener besseren Welt,
Wo alle Leiden schwinden.

Sie sang vom irdischen Jammertal,


von Fieuden, die bald zerronnen,
Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt
Verklärt in ew'gen Wonnen.

Sie sang das alte Entsagungslied,


Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,


Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,


O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,


Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hinieden Brot genug


Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,


Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,


So wollen wir euch besuchen
Dort oben, und wir, wir essen mit euch
Die seligsten Torten und Kuchen.

Ein neues Lied, ein besseres Lied!


Es klingt wie Flöten und Geigen!
Das Miserere ist vorbei,
Die Sterbeglocken schweigen.

Die Jungfer Europa ist verlobt


Mit dem schönen Geniusse
Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,
Sie schwelgen im ersten Kusse.

Und fehlt der Pfaffensegen dabei,


Die Ehe wird gültig nicht minder –
Es lebe Bräutigam und Braut
Und ihre zukünftigen Kinder!

Ein Hochzeitkarmen ist mein Lied,


Das bessere, das neue!
In meiner Seele gehen auf
Die Sterne der höchsten Weihe –

Begeisterte Sterne, sie lodern wild,


Zerfließen in Flammenbächen -
Ich fühle mich wunderbar erstarkt,
Ich könnte Eichen zerbrechen!

Seit ich auf deutsche Erde trat,


Durchströmten mich Zaubersäfte –
Der Riese hat wieder die Mutter berührt,
Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.

Heinrich Heine

IDEEN. DAS BUCH LE GRAND

Kapitel VI
Damals waren die Fürsten noch keine geplagte Leute wie jetzt, und die Krone war ihnen am
Kopfe festgewachsen, und des Nachts zogen sie noch eine Schlafmütze darüber und schliefen
ruhig, und ruhig zu ihren Füßen schliefen die Völker, und wenn diese des Morgens erwachten, so
sagten sie: „Guten Morgen, Vater!" - und jene antworteten: „Guten Morgen, liebe Kinder!"
Aber es wurde plötzlich anders; als wir eines Morgens zu Düsseldorf erwachten und „Guten
Morgen, Vater!" sagen wollten, da war der Vater abgereist, und in der ganzen Stadt war nichts
als stumpfe Beklemmung, es war überall eine Art Begräbnisstimmung, und die Leute schlichen
schweigend nach dem Markte und lasen den langen papiernen Anschlag auf der Türe des
Rathauses. Es war ein trübes Wetter, und der dünne Schneider Kilian stand dennoch in seiner
Nankingjacke, die er sonst nur im Hause trug, und die blauwollenen Strümpfe hingen ihm herab,
daß die nackten Beinchen betrübt hervorguckten, und seine schmalen Lippen bebten, während er
das angeschlagene Plakat vor sich hinmurmelte. Ein alter pfälzischer Invalide las etwas lauter,
und bei manchem Worte träufelte ihm eine klare Träne in den weißen, ehrlichen Schnauzbart.
Ich stand neben ihm und weinte mit, und frug ihn: warum wir weinten? Und da antwortete er:
„Der Kurfürst läßt sich bedanken." Und dann, las er wieder, und bei den Worten: „für die
bewährte Untertanstreue" "und entbinden euch eurer Pflichten", da weinte er noch stärker — Es
ist wunderlich anzusehen, wenn so ein alter Mann mit verblichener Uniform und vernarbtem
Soldatengesicht plötzlich so stark weint. Während wir lasen, wurde auch das kurfürstliche
Wappen vom Rathause heruntergenommen, alles gestaltete sich so beängstigend öde, es war, als
ob man eine Sonnenfinsternis erwarte, die Herren Ratsherren gingen so abgedankt und langsam
umher, sogar der allgewaltige Gassenvogt sah aus, als wenn er nichts mehr zu befehlen hätte,
und stand da so friedlich-gleichgültig, obgleich der tolle Alouisius sich wieder auf ein Bein
stellte und mit närrischer Grimasse die Namen der französischen Generale herschnatterte,
während der besoffene, krumme Gumpertz sich in der Gosse herumwälzte und Ca ira, ca ira!"'
sang.
Ich aber ging nach Hause und weinte und klagte :"Der Kurfürst läßt sich bedanken." Meine
Mutter hatte ihre liebe Not, ich wußte, was ich wußte, ich ließ mir nichts ausreden, ich ging
weinend zu Bette, und in der Nacht träumte mir: die Welt habe ein Ende - die schönen
Blumengärten und grünen Wiesen wurden wie Teppiche vom Boden aufgenommen und
zusammengerollt, der Gassenvogt stieg auf eine hohe Leiter und nahm die Sonne vom Himmel
herab der Schneider Kilian stand dabei und sprach zu selber: "Ich muß nach Hause gehn und
mich hübsch anziehen, denn ich bin tot und soll noch heute begraben werden" — und es Wurde
immer dunkler, spärlich schimmerten oben einige Sterne, und auch diese fielen herab wie gelbe
Blätter im Herbste, allmählich verschwanden die Menschen, ich armes Kind irrte ängstlich
umher, stand endlich vor der Weidenhecke eines wüsten Bauernhofes und sah dor einen Mann,
der mit dem Spaten die Erde aufwühlte, und neben ihm ein häßlich hämisches Weib, das etwas
wie einen abgeschnittenen Menschenkopf in der Schürze hielt, und das war der Mond, und sie
legte ihn ängstlich sorgsam in die offne Grube — und hinter mir stand der pfälzische Invalide
und schluchzte und buchstabierte :"Der Kurfürst läßt sich bedanken."

Thomas Mann

BUDDENBROOKS

Sechster Teil Viertes Kapitel


Es war ein Mann von vierzig Jahren. Kurzgliedrig und beleibt, trug er einen weit
offenstehenden Rock aus braunem Loden, eine helle und geblümte Weste, die in
weicher Wölbung seinen Bauch bedeckte und auf der eine goldene Uhrkette mit
einem wahren Bukett, einer ganzen Sammlung von Anhängseln aus Hörn,
Knochen, Silber und Korallen prangte — ein Beinkleid ferner von unbestimmter
graugrüner Farbe, welches zu kurz war und aus ungewöhnlich steifem Stoff
gearbeitet schien, denn seine Rander umstanden unten kreisförmig und faltenlos
die Schatte der kurzen und breiten Stiefel. — Der hellblonde, sparfiche,
franseartig den Mund überhängende Schnurrbart, gab dem kugelrunden Kopfe mit
seiner gedrungenen Nase und seinem ziemlich dünnen und unfrisierten Haar etwas
Seenhundsartiges. Die „Fliege", die der fremde Herr zwischen Kinn und
Unterlippe trug; stand im Gegensatz zum Schnurrbart ein wenig borstig empor. Die
Wangen waren außerordentlich dick, fett, aufgetrieben und gleichsam
hinaufgeschoben zu den Augen, die sie zu zwei ganz schmalen, hellblauen Ritzen
zusammenpreßten und in deren Winkeln sie Fältchen bildeten. Dies gab dem
solcherart verquollenen Gesicht einen Mischausdruck von Ergrimmtheit und
rührender Gutmütigkeit. Unterhalb des kleinen Kinnes lief eine steile Linie in die
schmale weiße Halsbinde hinein … die Linie eines kopfartigen Halses, der keinen
Vatermörder geduldet haben würde. Untergesicht und Hals, Hinterkopf und
Nacken, Wangen und Nase, alles ging ein wenig formlos und gepolstert ineinander
über... Die ganze Gesichtshaut war infolge aller diese Schwellungen über die
Gebühr straff gespannt und zeigte an einzelnen Stellen, wie am Ansatz der
Ohrläppchen und zu beiden Seiten der Nase eine spröde Rötung... in der einen
seiner kurzen, weißen und fetten Hände hielt der Herr seinen Stock, in der anderen
ein grünes Tirolerhütchen, geschmückt mit einem Gemsbart.

B. Brecht

MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER


11. Szene
Januar 1636. Die kaiserlichen Truppen bedrohen die evangelische Stadt Halle. Mutter Courage ist in
die Stadt gegangen. Ihre stumme Tochter Kattrin bleibt allein in ihrem Planwagen in einem
Bauerngehöft unweit der Stadt. In das Gehöft kommen ein Fähnrich und drei Soldaten, die katholi -
schen Kundschafter. Aus ihrem Gespräch mit den Bauersleuten begreift Kattrin, welche Gefahr der
Stadt droht. Sie entschließt sich, die Einwohner der Stadt vor der Gefahr zu warnen: sie klettert aufs
Stalldach und beginnt die Trommel zu schlagen.
Kattrin beginnt, auf dem Dach sitzend, die Trommel zu schlagen, die sie unter ihrer Schürze
hervorgezogen hat.
Die Bäuerin: Jesus, was macht die?
Der Bauer: Sie hat den Verstand verloren.
Die Bäuerin: Hol sie runter, schnell!
Der Bauer läuft auf die Leiter zu, aber Kattrin zieht sie aufs Dach.
Die Bäuerin: Sie bringt uns ins Unglück.
Der Bauer: Hör auf der Stell auf mit Schlagen, du Krüppel!
Die Bäuerin: Die Kaiserlichen auf uns ziehn!
Der Bauer sucht Steine am Boden: Ich bewerf dich!
Die Bäuerin: Hast denn kein Mitleid? Hast gar kein Herz? Hin sind wir, wenn sie auf uns kommen!
Abstechen tuns uns.
Kattrin starrt in die Weite, auf die Stadt, und trommelt weiter.
Die Bäuerin zum Alten: Ich hab dir gleich gesagt, daß das Gesindel nicht auf den Hof. Was kümmerts
die, wenn sie uns das letzte Vieh wegtreiben.
Der Fähnrich kommt mit seinen Soldaten und dem jungen Bauern gelaufen: Euch zerhack ich!
Die Bäuerin: Herr Offizier, wir sind unschuldig, wir können nix dafür. Sie hat sich raufgeschlichen. Eine
Fremde.
Der Fähnrich: Wo ist die Leiter?
Der Bauer: Oben.
Der Fähnrich hinauf: Ich befehl dir, schmeiß die Trommel runter.
Kattrin trommelt weiter.
Der Fähnrich: Ihr seids alle verschworen. Das hier überlebt ihr nicht.
Der Bauer: Drüben im Holz haben sie Fichten geschlagen. Wenn wir einen Stamm holn und stochern
sie herunter...
Erster Soldat zum Fähnrich: Ich bitt um Erlaubnis, daß ich einen Vorschlag mach. Er sagt dem
Fähnrich etwas ins Ohr. Der nickt. Hörst du, wir machen dir einen Vorschlag zum Guten. Komm
herunter und geh mit uns in die Stadt, stracks voran. Zeig uns deine Mutter, und sie soll verschont
werden.
Kattrin trommelt weiter.
Der Fähnrich schiebt ihn roh weg: Sie traut dir nicht, bei deiner Fresse kein Wunder. Er ruft hinauf:
Wenn ich dir mein Wort gebe? Ich bin ein Offizier und hab ein Ehrenwort.
Kattrin trommelt stärker.
Der Fähnrich: Der ist nix heilig.
Der junge Bauer: Herr Offizier, es is ihr nicht nur wegen Ihrer Mutter!
Erster Soldat: Lang dürfts nicht mehr fortgehn. Das müssen sie hörn in der Stadt.
Der Fähnrich: Wir müssen einen Lärm mit irgendwas machen, wo größer ist als ihr Trommeln. Mit was
können wir einen Lärm machen?
Erster Soldat: Wir dürfen doch keinen Lärm machen.
Der Fähnrich: Einen unschuldigen, Dummkopf. Einen nicht kriegerischen.
Der Bauer: Ich könnt mit der Axt Holz hacken.
Der Fähnrich: Ja, hack. Der Bauer holt die Axt und haut in den Stamm. Hack mehr! Mehr! Du hackst um
dein Leben!
Kattrin hat zugehört, dabei leiser geschlagen. Unruhig herum spähend, trommelt sie jetzt weiter.
Der Fähnrich zum Bauern: Zu schwach. Zum ersten Soldaten: Hack du auch.
Der Bauer: Ich hab nur eine Axt. Hört auf mit dem Hacken.
Der Fähnrich: Wir müssen den Hof anzünden. Ausräuchern müssen wir sie.
Der Bauer: Das nützt nix, Herr Hauptmann. Wenn sie in der Stadt hier Feuer sehn, wissen sie alles.
Kattrin hat während des Trommelns wieder zugehört. Jetzt lacht sie.
Der F ä h n r i c h: Sie lacht uns aus, schau. Ich halts nicht aus. Ich schieß sie herunter, und wenn alles
hin ist. Holt die Kugelbüchs!
Zwei Soldaten laufen weg, Kattrin trommelt weiter.
Die Bäuerin: Ich habs, Herr Hauptmann. Da drüben steht ihr Wagen. Wenn wir den zusammenhaun,
hört sie auf. Sie haben nix als den Wagen.
Der Fähnrich zum jungen Bauern: Hau ihn zusammen. Hinauf: Wir haun deinen Wagen zusammen,
wenn du nicht mit Schlagen aufhörst.
Der junge Bauer führt einige schwache Schläge gegen den Planwagen.
Die Bäuerin: Hör auf, du Vieh!
Kattrin stößt, verzweifelt nach ihrem Wagen starrend, jämmerliche Laute aus. Sie trommelt aber
weiter.
Der Fähnrich: Wo bleiben die Dreckkerle mit der Kugelbüchs?
Erster Soldat: Sie können in der Stadt drin noch nix gehört haben, sonst möchten wir ihr Geschütz
hörn.
Der Fähnrich hinauf: Sie hörn dich gar nicht. Und jetzt schießen wir dich ab. Ein letztes Mal. Wirf die
Trommel herunter!
Der junge Bauer wirft plötzlich die Planke weg: Schlag weiter! Sonst sind wir alle hin! Schlag weiter,
schlag weiter...
Der Soldat wirft ihn nieder und schlägt auf ihn mit dem Spieß ein. Kattrin beginnt zu weinen, sie
trommelt aber weiter.
Die Bäuerin: Schlagts ihn nicht in'n Rücken! Gottes willen, ihr schlagt ihn tot!
Die Soldaten mit der Büchse kommen gelaufen.
Zweiter Soldat: Der Obrist hat Schaum vorm Mund, Fähnrich. Wir kommen vors Kriegsgericht.
F ä h n r i r h: Stell auf! Stell auf! Hinauf, während das Gewehr auf die Gabel gestellt wird: Zum
allerletzten Mal: Hör auf mit Schlagen! Kattrin trommelt weinend so laut sie kann. Gebt Feuer! Die
Soldaten feuern. Kattrin, getroffen, schlägt noch einige Schläge und sinkt dann langsam zusammen.
Der Fähnrich: Schluß ist mitm Lärm!
Aber die letzten Schläge Kattrins werden von den Kanonen der Stadt abgelöst. Man hört von weitem
verwirrtes Sturmglockenläuten und Kanonendonner.
Erster Soldat: Sie hats geschafft.

H. Mann
Der Untertan

Herr von Wulckow saß in einer Rauchwolke am Schreibtisch, er wendete den ungeheueren
Rücken her.
"Guten Tag, Herr Präsident", sagte Diedrich mit einem Katzenfuß. "Nanu, quatschst du
auch schon, Schnaps?" fragte Wulckow, ohne sich umzusehen. Er faltete ein Papier, zündete
langsam eine neue Zigarre an … "Jetzt kommt es", dachte Diedrich. Aber dann begann Wulckow
etwas anderes zu schreiben, Interesse an Diedrich nahm nur der Hund. Offenbar fand er den Gast
hier noch weniger am Platz, seine Verachtung ging in Feindseligkeit über; mit gefletschten
Zähnen beschnupperte er Diedrichs Hose, fast war es kein Schnuppern mehr. Diedrich tanzte, so
geräuschlos wie möglich, von einem Fuß auf den anderen, und die Dogge knurrte drohend, aber
leise, wohl wissend, ihr Herr könnte es sonst nicht weiter kommen lassen. Endlich gelang es
Diedrich, zwischen sich und seinen Feind einen Stuhl zu bringen, an den geklammert er sich
umherdrehte, bald langsamer, bald schneller, und immer auf der Hut vor Schnaps`
Seitensprüngen. Einmal sah er Wulckow den Kopf ein wenig wenden und glaubte ihn
schmunzeln zu sehen. Dann hatte der Hund genug von dem Spiel, er ging zum Herrn und ließ
sich streicheln; und neben Wulckows Stuhl hingelegt, maß er mit kühnen Jägerblicken Diedrich,
der sich den Schweiß wischte.
"Gemeines Vieh!" dachte Diedrich – und plötzlich wallte es auf in ihm. Empörung und der
dicke Qualm verschlugen ihm den Atem, erdachte, mit unterdrücktem Keuchen: "Wer bin ich,
dass ich mir das bieten lassen muß? Mein letzter Maschinenschmierer lässt sich das von mir
nicht bieten. Ich bin Doktor. Ich bin Stadtverordneter! Dieser ungebildete Flegel hat mich nötiger
als ich ihn!" Alles, was er heute Nachmittag erlebt hatte, nahm den übelsten Sinn an. Man hatte
ihn verhöhnt, der Bengel von Leutnant hatte ihm den Rücken geklopft! Diese Kommißköpfe und
adeligen Puten hatten die ganze Zeit von ihren albernen Angelegenheiten geredet und ihn wie
dumm dabei sitzen lassen! "Und wer bezahlt die frechen Hungerleider? Wir!" Gesinnung und
Gefühle, alles stürzte in Diedrichs Brust auf einmal zusammen, und aus den Trümmern schlug
wild die Lohe des Hasses. "Menschenschinder! Säbelrassler! Hochnäsiges Pack! Wenn wir mal
Schluß machen mit der ganzen Bande- !" Die Fäuste ballten sich ihm von selbst, in einem Anfall
stummer Raserei sah er alles niedergeworfen, zerstoben: Herren des Staates, Heer, Beamtentum,
alle Machtverbände und sie selbst, die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe
wir küssen! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil
wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekül von
etwas; das sie ausgespuckt hat! … Von der Wand dort, hinter blauen Wolken, sah eisern
hernieder ihr bleiches Gesicht, eisern, gesträubt, blitzend: Diederich aber, in wüster
Selbstvergessenheit, hob die Faust.
Da knurrte der Wulckowsche Hund, unter dem Präsidenten hervor aber kam ein
donnerndes Geräusch, ein lang hinrollendes Geknatter – und Diedrich erschrak tief. Er verstand
nicht,was dies für ein Anfall gewesen war. Das Gebäude der Ordnung , wieder aufgerichtet in
seiner Brust, zitterte nur noch leise. Der Herr Regierungspräsident hatte wichtige
Staatsgeschäfte. Man wartete eben, bis er einen bemerkte; dann bekundete man gute Gesinnung
und sorgte für gute Geschäfte…
"Na, Doktorchen?" sagte Herr von Wulckow und drehte seinen Sessel herum. "Was ist mit
Ihnen los? Sie werden ja der reine Staatsmann. Setzen Sie sich mal auf diesen Ehrenplatz."
"Ich darf mir schmeicheln", stammelte Diedrich. "Einiges habe ich schon erreicht für die
nationale Sache."
Wulckow blies ihm einen mächtigen Rauchkegel ins Gesicht, dann kam er ihm ganz nahe
mit seinen warmblütigen, zynischen Augen und ihrer Mongolenfalte. "Sie haben erstens erreicht,
Doktorchen, dass Sie Stadtverordneter geworden sind. Wie, das wollen wir auf sich beruhen
lassen. Jedenfalls konnten Sie es brauchen, denn Ihr Geschäft soll ja `ne ziemlich faule Karre
sein." Da Diedrich zusammenzuckte, lachte Wulckow dröhnend. "Lassen Sie nur, Sie sind mein
Mann. Was meinen Sie, das ich da geschrieben habe?" Das große Blatt Papier verschwand unter
der Pranke, die er drauf legte. "Da verlange ich vom Minister einen kleinen Piepmatz für einen
gewissen Doktor Heßling, in Anerkennung seiner Verdienste um die gute Gesinnung in Netzig…
Für so nett haben Sie mich wohl gar nicht gehalten?" setzte er hinzu, denn Diedrich, mit einer
Miene, geblendet und wie mit Blödheit geschlagen, machte von seinem Stuhl herab immerfort
Verbeugungen. "Ich weiß tatsächlich nicht", brachte er hervor. "Meine bescheidenen
Verdienste-"
"Aller Anfang ist schwer", sagte Wulckow. "Es soll auch nur eine Aufmunterung sein. Ihre
Haltung im Prozeß Lauer war nicht übel. Na, und Ihr Kaiserhoch in der Kanalisationsdebatte hat
die antimonarchistische Presse ganz aus dem Häuschen gebracht. Schon an drei Orten im Lande
ist deshalb Anklage wegen Majestätsbeleidigung erhoben. Da müssen wir uns Ihnen wohl
erkenntlich zeigen."
Diedrich rief aus: "Mein schönster Lohn ist es, dass der Lokal-Anzeiger meinen
schlichtbürgerlichen Namen vor die Allerhöchsten Augen selbst gebracht hat!"
HEINRICH BÖLL
Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral

In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem
Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen
Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen
schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick,
und da aller guten Dinge drei sind und sicher sicher ist, ein drittes Mal: klick. Das spröde, fast
feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach
seiner Zigarettenschachtel angelt; aber bevor das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist
schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund
gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die
eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes kaum meßbare, nie nachweisbare Zuviel an flinker
Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist - der Landessprache
mächtig - durch ein Gespräch zu überbrücken versucht.
„Sie werden heute einen guten Fang machen."
Kopfschütteln des Fischers.
„Aber man hat mir gesagt, daß das Wetter günstig ist."
Kopfnicken des Fischers.
„Sie werden also nicht ausfahren?"
Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiß liegt ihm das Wohl des
ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpaßte
Gelegenheit.
„Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?"
Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über. „Ich
fühle mich großartig", sagte er. „Ich habe mich nie besser gefühlt." Er steht auf, reckt sich, als
wolle er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle mich phantastisch."
Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr
unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: „Aber warum fahren Sie dann
nicht aus?"
Die Antwort kommt prompt und knapp. „Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin."
„War der Fang gut?"
„Er war so gut, daß ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen
Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen ..."
Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen beruhigend auf die
Schulter. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar
unangebrachter, doch rührender Kümmernis.
„Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug", sagt er, um des Fremden Seele zu
erleichtern. „Rauchen Sie eine von meinen?"
„Ja, danke."
Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd
auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner
Rede Nachdruck zu verleihen.
„Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen", sagt er, „aber stellen Sie
sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus und Sie
würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen . . . stellen Sie sich das mal
vor."
Der Fischer nickt.
„Sie würden", fährt der Tourist fort, „nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem
günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren - wissen Sic, was geschehen würde?"
Der Fischer schüttelt den Kopf.
„Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein
zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei
Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen - eines Tages würden Sie zwei
Kutter haben, Sie würden . . . " , die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die
Stimme, „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine
Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen
und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben. Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein
Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren - und
dann . . . " , wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im
tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich
hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. „Und dann", sagt er, aber
wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache.
Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt hat. „Was dann?"
fragt er leise.
„Dann", sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen
sitzen, in der Sonne dösen - und auf das herrliche Meer blicken."
„Aber das tu ich ja schon jetzt", sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr
Klicken hat mich dabei gestört."
Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er
auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es
blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig
Neid.
F. FÜHMANN

Das Gottesgericht

So standen sie da, die drei, verdrossen, abwartend, wütend; allein der junge Funker hingegen
ging ganz in seiner ihm anbefohlenen Aufgabe auf, und er empfand, je länger er vor dem Koch
stand, desto betörender, ein eigenartiges Gefühl, ganz eigenartig, glückhaft, berauschend; ein
Gefühl, wie er es in dieser Wucht noch nicht erfahren hatte. Er entsann sich, ein ähnliches
Gefühl empfunden zu haben, als er zum erstenmal ein richtiges Gewehr in der Hand gehalten
und dessen stählerne Last in der Handfläche gefühlt und dessen Lauf in der Sonne blitzen
gesehen hatte. Es war ein herrliches Gefühl gewesen, herrlich, herrisch, ein wahrhaftes
Herrengefühl, und er hatte, wie unter einem Zwang, das Schloß aus dem Gewehr genommen und
war ans Kasernenfenster getreten, und dann hatte er durch den gedrehten blinkenden Lauf auf die
Straße hinabgesehen, und er hatte unter den vielen schlendernden Spaziergängern ein Mädchen
gesehen, und das Mädchen hatte heraufgesehen, und er hatte sein Gewehr abgesetzt, und sie
hatte ihn gesehen, wie er das Gewehr hielt, und sie hatte gelächelt, da sie ihn angesehen, und er
hatte gedacht, wie er von nun an in ihrer Phantasie fortleben würde: als Held, mit Waffen
behangen, ein Krieger, der in die großen Schlachten eilt! Da hatte er das Gefühl gehabt, erst in
diesem Augenblick wahrhaft zum Manne geworden zu sein, und nun entsann er sich dieses
Bildes wieder und dieses ihres Blickes, und er empfand dies Gefühl wie damals, nur stärker,
brennender und zwingender, „Wenn sie mich jetzt hier sehen könnte", dachte er, „wenn sie
mich jetzt hier sehen könnte, wie ich hier stehe, mit meiner Waffe vor dem Besiegten!" Und er
faßte das Gewehr fester.— ...
...„Wie dieser Kerl mich feige anfleht!", dachte A. „Wie er mich anstiert, der stinkt ja vor
Angst!" Er sah, wie der Grieche in den Knien schwankte und wie ihm die Hände zitterten, und er
sah den Blick, wie er schnell aus seinen Augen huschte, und er hörte den Koch sagen, heiser, mit
brüchiger Stimme: „Nu — Kameraden, guten Tag —", und er hörte diese Stimme ratlos vor dem
Schweigen verstummen, und plötzlich dachte er, daß er ja nur ein Glied seines Fingers zu rühren
brauchte, und dieser Mensch da läge, ausgelöscht, vor ihm. „Ich brauche es ja nur zu wollen!"
dachte er. „Ein Blitz meines Willens nur, und sein Leben ist hin!"...
„Es ist ja nicht nur einfach sein Leben, das in meiner Hand ist! Ich kann ihn ja nicht nur
umlegen, ich kann alles aus ihm machen, ich brauche nur ein bißchen tiefer oder höher zu halten!
... ich kann ihn lahm machen oder Blind oder taub oder zu einem Wrack, das sich in seinen Kot
wälzt, oder ich kann ihn auch begnadigen, daß er mir diene. Ich könnte ihm das Leben lassen,
und er müßte mir, sagen wir, täglich die Stiefel wichsen oder meine Wäsche waschen, oder,
wenn ich auf Wache stehe, so müßte er herumhüpfen auf einem Bein, wie eben, um mich zu
unterhalten, und mit den Armen schlagen, und ich werde ihn hüpfen lassen, bis er umfällt!"
Da stieg ihm aus der Registratur seines Gehirns ein lateinischer Name auf ... Deus, dei, dröhnte
es: Der Gott, die Götter! Der junge Soldat erschauerte. „Was ist denn das überhaupt für ein
Gottesgericht?" dachte er. „Weicher Gott soll denn da richten?" Er hob und senkte das Gewehr
ein wenig. „Wir sind die Götter!" dachte er.
Wir! — Da sah er auf einmal das Meer, ganz grün, wie Stein, und er sah weit über das Meer
hinaus, und hinten, wo der Horizont hell war, sah er Land heraufkommen, es eilte herauf, immer
höher, schräg, eine riesige Fläche: dies Europa, auf dem Sie standen, dies Europa mit seinen
Bergen und Wäldern und Inseln und Küsten, und überall, so sah er, standen sie da, Menschen
wie er, Söhne seines Volkes, und hatten das Gewehr angelegt auf die anderen Völker, die vor
ihnen im Staub lagen, und überall waren sie die Herren über Leben und Tod. „Der Führer hat uns
zu Göttern gemacht!" dachte er, und er dachte, wie sein Leben wohl verlaufen würde, wenn der
Führer nicht da wäre. Er würde, so dachte er, jetzt studieren, Rechtswissenschaft, wie sein Vater,
und er würde Richter werden oder Staatsanwalt und zu den Honoratioren seiner kleinen
sächsischen Heimatstadt gehören, und er würde am Stammtisch sitzen und Bier trinken und
fachsimpeln, nachdem er tagsüber hinter den Schranken des Gerichts seine Pflicht getan hätte,
und wen würde er schon seinen Schranken gehabt haben: zänkische, kleine Betrüger,
Schwindler, Streithälse, Klatschbasen, Erbschleicher, Baumfrevler, Bettler und Hausierer, was
für läppische Fälle! Einmal würde er dann auf dem Rhein fahren, zur Hochzeitsreise, und er
würde eine Frau haben, brav, und Kinder, brave, von ihr, und vielleicht würden sie auch einmal
nach Norwegen fahren oder nach Italien mit der KdF, aber dann, dachte er, daß, wenn es keinen
Führer geben würde, es auch keine KdF geben und er doch nicht nach Norwegen oder Italien
kommen würde. Aber es gab ja einen Führer, Gott sei Dank, und so stand er jetzt hier, er, der
Neunzehnjährige, auf griechischem Boden, ein Waffenträger, ein Held in den Träumen der
Mädchen, und er war noch nicht ein Jahr Soldat, und er hatte schon Ragusa gesehen und Split,
das zauberhafte Split, und die Rosentäler Bulgariens hatte er gesehen und den Olymp, die
Thermopylen und die Akropolis, und nun stand er in Pelops' Land, er, Euphorion, und vor
seinem Gewehrlauf hatte er einen Menschen, über dessen Leben und Tod er die Würfel warf.
„Jetzt erst geht mir der Sinn dieses Krieges auf!" dachte er, und sein Finger zuckte wieder am
Abzug.

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