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KOLLEG

NEU

C K
TEILDRU
KOLLEG ETHIK NEU
Unterrichtswerk für Ethik in der Sekundarstufe II

Herausgegeben von Bernd Rolf und Jörg Peters


Erarbeitet von Bernd Rolf und Jörg Peters unter Verwendung von Beiträgen von Klaus Draken, Matthias
Gillissen und Martina Peters
Unter Beratung und Mitarbeit von Marcel Remme

Zu diesem Lehrwerk sind erhältlich:


• Digitales Lehrermaterial click & teach Einzellizenz, Bestell-Nr. 220511
• Digitales Lehrermaterial click & teach Box (Karte mit Freischaltcode), ISBN 978-3-661-22051-2

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Teildruck
1. Auflage, 1. Druck 2021
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ISBN der vollständigen Ausgabe: 978-3-661-22050-5


KOLLEG

NEU

Herausgegeben von Bernd Rolf und Jörg Peters


Erarbeitet von Bernd Rolf und Jörg Peters
unter Verwendung von Beiträgen von
Klaus Draken, Matthias Gillissen und Martina Peters
Unter Beratung und Mitarbeit von Marcel Remme

C. C. BUCHNER
INHALT

GRUNDLAGEN
PHILOSOPHISCHER ETHIK 8

Moral und Ethik – worum geht es da? 10 Der Mensch als Produkt der Evolution 54
Werte und Normen 12 Evolution durch natürliche Auslese 56
Dimensionen der Ethik 14 Recht des Stärkeren? – Der Sozialdarwinismus 58
Ethisch argumentieren 16 Der weltoffene Mensch 60
Ethik als Teilgebiet der Philosophie 18 Der Mensch ist ein Kulturwesen! 62
Wissen kompakt 20 M E T H O D E N KO M P E T E N Z :
Einen philosophischen/ethischen Text
analysieren

Braucht der Mensch Institutionen? 64


Der Mensch als Geistwesen 66
Der Mensch – das seiner selbstbewusste Wesen 68
FREIHEIT UND SELBSTVER- Menschen kooperieren! 70
STÄNDNIS DES MENSCHEN 22 Der handelnde Mensch 72
Allein durch Erziehung 74
Wozu Bildung bilden kann 76
Selbstoptimierung des Menschen durch Technik 78
FREIHEIT UND NATURALISMUS
Wissen kompakt 80
(Un)frei(willig)? 24
Frei von etwas und zu etwas sein 26 * FREIHEIT UND DIGITALE WELT
Handlungs- und Willensfreiheit 28
Die digitale Revolution 82
METHOD E NKOMPET EN Z : Neue Formen der Kommunikation 84
Zentrale Begriffe der Ethik bestimmen Alles registriert: Die Macht der Daten 86
Unter staatlicher Kontrolle 88
Wenn die Handlungsfreiheit eingeschränkt Privatsphäre – ein Auslaufmodell? 90
wird – Beispiel: Corona-Pandemie 30 Die gefilterte Realität 92
Ist mein Wille wirklich frei? 32 Freiheit und Kontrolle im Internet 94
Willensfreiheit auf dem Prüfstand 34
Spielräume der Freiheit 36 M E T H O D E N KO M P E T E N Z :
Freiheit im Rahmen universeller Bedingtheit 38 Verschiedene Informationen und Sichtweisen zur
Freiheit als Selbstbestimmung 40 Deutung ethischer Fragestellungen nutzen
Der Einfluss des Unbewussten 42 Künstliche Intelligenz (KI) auf dem Vormarsch 96
Freiheit – Verantwortung – Strafe 44 Robots und Cobots in der Arbeitswelt 98
Die Verbindung von Freiheit und Menschenwürde 46 Was verstehen Computer? 100
Wissen kompakt 48 Der Chip im Gehirn 102
Auf dem Weg zum Cyborg 104
DAS SELBSTVERSTÄNDNIS Den Menschen überwinden? 106
DES MENSCHEN Eine Ethik der Digitalisierung 108
Der Mensch als Geschöpf Gottes 50 Wissen kompakt 110
Der aufgeklärte Mensch 52

* empfohlen für den Leistungskurs


INHALT

MORALPHILOSOPHIE 112

TUGENDETHIK Pflichtenkollision 172


Tugendhaft leben? 114 Ethik: deontologisch – utilitaristisch –
Die rechte Verfassung der Seele 116 eudämonistisch 174
Glückseligkeit als Ziel 118 M E T H O D E N KO M P E T E N Z :
Sich nach der Vernunft ausrichten 120 Ethische Positionen miteinander vergleichen
Wie man tugendhaft wird 122
Gerechte Verhältnisse 124 Wissen kompakt 176
Vorzüge des Verstandes 126
Kein Handeln ohne Urteilskraft 128 POSITIONEN DER MORALKRITIK
Unterschiedliche Wege zum guten Leben 130 Kann es ein Zuviel an Moral geben? 178
Inflation der Pflichten 180
ME THOD E NKO M PET EN Z :
Einen moralphilosophischen Sachzusammenhang in Die Umwertung aller Werte 182
Form eines (fiktiven) Briefes darstellen und beurteilen Der Wille zur Macht 184
Klassenkampf und Moral 186
Freiheit und Seelenruhe 132 Moralkritische Positionen – Können sie
Unabhängigkeit von Leidenschaften 134 (mich) überzeugen? 188
Wissen kompakt 136
M E T H O D E N KO M P E T E N Z :
Eine ethische Position bewerten
UTILITARISMUS
Das größte Glück der größten Zahl 138 Moral – eine Zwangsneurose? 190
Lässt sich Nutzen berechnen? 140 Die Relativität des Ethischen 192
Qualität vor Quantität? 142 Verteidigung der Moral 194
Nützliche Handlungen – nützliche Regeln 144 Wissen kompakt 196
Das Gerechtigkeitsproblem 146
Interessen abwägen 148
Die Präferenz zu leben 150
Utilitarismus auf dem Prüfstand 152
M E THOD E N KO M PET EN Z :
Mit Gedanken experimentieren VERANTWORTUNG UND
ANGEWANDTE ETHIK 198
Grenzen der Nutzenmaximierung 154
Wissen kompakt 156

PFLICHTETHIK VERANTWORTUNGSETHIK
Bürger zweier Welten 158 Verantwortlich entscheiden 200
Der gute Wille 160 Arten von Verantwortung 202
Neigung und Pflicht 162 Die Notwendigkeit einer neuen Ethik 204
Der kategorische Imperativ 164 Ein neuer ethischer Imperativ 206
Handlungsmaximen auf dem Prüfstand 166 Die Anwendung des neuen Imperativs 208
Der Mensch als Zweck an sich selbst 168 Verantwortung für das Ganze 210
Das Problem der Notlüge 170 Praxisnormen für die Zukunftsbewertung 212
INHALT

Eine strahlende Zukunft? 214 MEDIZINETHIK


Gefährdung zukünftigen Lebens? 216 Mein Bauch gehört mir 266
Wann beginnt menschliches Leben? 268
METHOD E NKOMPET EN Z :
Eine ethische Position an Beispielen / Leben dürfen – leben müssen 270
in Anwendungskontexten erläutern „Guter Tod“? 272
Der Wille des Patienten … 274
Wissen kompakt 218 Ein selbstbestimmtes Ende? 276
„Lass mich gehen!“ – Filmprojekte
TECHNIK- UND WISSENSCHAFTSETHIK zur Sterbehilfe 278
Dürfen wir alles machen, was wir können? 220 Entscheidung über Leben und Tod 280
Herausforderung: Technikfolgen einschätzen 222
Gentechnische Manipulation des Menschen? 224 M E T H O D E N KO M P E T E N Z :
Eine Erörterung auf der Grundlage eines (fiktiven)
Wie ich Verfahren der Biotechnologie bewerte 226
Fallbeispiels verfassen
METHOD E N KOMP ET ENZ :
Wissen kompakt 284
Eine Technikbewertung vornehmen

Menschen klonen – ein Dammbruch? 228


Autonomes Fahren – die Zukunft der Mobilität 230
Freiheit und Grenzen der Forschung 232
Wissenschaft, Wahrheit und Interesse 234
Postnormale Wissenschaft – Die Verantwor-
tung der Wissenschaft in Krisenzeiten 236
Wissen kompakt 238 RECHT, GERECHTIGKEIT
UND ZUSAMMENLEBEN 286
NATURETHIK
Verantwortung für die Natur übernehmen 240
Anthropozentrismus: Die Natur für den
Menschen nutzen und bewahren 242 GRUNDLAGEN DES ZUSAMMENLEBENS
Pathozentrismus: Moralische Pflichten In der pluralistischen Gesellschaft … 288
gegenüber Tieren? 244 Was bedeutet Toleranz? 290
Der wissenschaftliche Tierversuch Was man (nicht) tolerieren sollte 292
unter ethischen Aspekten 246
M E T H O D E N KO M P E T E N Z :
Biozentrismus: Der Wert des Lebendigen 248
Argumentieren nach dem Toulmin-Schema
Holismus: Das Ganze der Natur schützen 250
Gleiche Rechte für Mensch und Natur? 252 Grenzen der Toleranz 294
Klimagerechtigkeit 254 Gibt es universale Werte? 296
Wirtschaftlicher Nutzen versus Naturschutz 256 Stationen im Kampf um die Menschenrechte 298
Begründung der Menschenrechte 300
METHOD E N KOMP ET ENZ :
Einen Fall analysieren und ethisch beurteilen Menschenwürde und Menschenrechte 302
Menschenrechte – ein westliches Konzept? 304
Eine völkerrechtliche Pflicht zum Klimaschutz? Grundzüge eines aufgeklärten
– Filmprojekt „Ökozid“ 260 Multikulturalismus 306
Frieden mit der Natur schließen 262 Durch Diskurs zum Konsens 308
Wissen kompakt 264 Wissen kompakt 310
INHALT

GERECHTIGKEIT UND RECHT Krieg im Auftrag der UN? 374


Gerechte Verhältnisse? 312 Brücken in die Zukunft 376
Formen von Gerechtigkeit 314 Wissen kompakt 378
Gerechtigkeit als Fairness 316
Gerechtigkeit – Gleichheit – Ungleichheit 318 RELIGION IN DER SÄKULARISIERTEN
Worauf man Anspruch hat 320 GESELLSCHAFT
Anspruchsgerechtigkeit vs. Fairness 322 Das Heilige und das Profane 380
ME THOD E N KO M PET ENZ : Die Funktion von Religion 382
Eine Erörterung auf der Grundlage eines Theodizee: Das Problem des Bösen in der Welt 384
ethischen Textes verfassen Glaube und Vernunft: Ist die Existenz
Gottes beweisbar? 386
Gerechtigkeit in der Marktwirtschaft 326 Nietzsche: Gott ist tot! 388
Wirtschaft, Moral und Recht 328 Feuerbach: Gott – eine Projektion des Menschen 390
Funktionen des Rechts 330 Marx: Religion als Opium des Volkes 392
Positives Recht und Naturrecht 332 Freud: Religion – Neurose und Illusion 394
Recht auf Ungehorsam? 334 Woran glaubt ein Atheist? 396
Vergeltung von Normverletzungen 336 Die Wiederkehr des Religiösen 398
Präventionstheorien 338 Instrumentalisierung der Religion:
Resozialisierungsprogramme 340 der politische Islam 400
Wissen kompakt 342 Über Fragen von Religion und
Gesellschaft ins Gespräch kommen 402
* GERECHTIGKEIT UND GLOBALISIERTE WELT
M E T H O D E N KO M P E T E N Z :
Weltweite Verbundenheit 344 Ein Sokratisches Gespräch führen
Weltarmut – Was hat das mit uns zu tun? 346
Wie kann man Armut abschaffen? 348 Religionen für den Frieden 404
Der Befähigungsansatz zur Bekämpfung Die Zukunft der Religion 406
von Armut 350 Wissen kompakt 408
Was zu einem guten menschlichen Leben gehört 352
Flucht und Migration 354
Wen aufnehmen? – ABITURVORBEREITUNG 410
Die kommunitaristische Sicht 356
Mitgliedschaft aus präferenzutilitaris-
tischer Sicht 358
Grenzen offen halten oder schließen? 360
Krieg als Fluchtursache 362 Begriffsglossar 416
Kants Idee der Friedenstiftung 364 Methodenüberblick 420
Völkerbund und Weltbürgerrecht 366 Personenregister 424
Sachregister 426
ME THOD E NKO M PET EN Z : Textnachweise 431
Einen schwierigen ethischen/philosophischen Bildnachweise 446
Text durch Fragen erschließen
Operatorenübersicht 448
Kants Friedensidee aus heutiger Sicht 370
Friedensschutz durch die Vereinten Nationen 372

* empfohlen für den Leistungskurs


GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK

GRUNDLAGEN
PHILOSOPHISCHER ETHIK

1 Erläutern Sie Carlos Problem. Benennen Sie die Handlungsmöglichkeiten, zwischen


A
denen er sich entscheiden muss. Wozu würden Sie ihm raten? Begründen Sie Ihre
Auffassung.
2 Nennen Sie weitere Beispiele für Dilemmata, in denen man sich befinden kann, und
diskutieren Sie, ob und inwiefern Moral und Ethik dabei aus Ihrer Sicht eine Rolle
spielen.
G RUNDLAGEN
10 PHILOSOPHISCHER ETHIK

Moral und Ethik – worum geht es da?

M1 Warum eigentlich (nicht)? die erfüllt sein müssen, damit eine Handlung, ganz
gleich welchen Inhalt sie im Einzelnen haben mag,
Du sollst nicht lügen.
zu Recht als eine moralische Handlung bezeichnet 30
Du sollst ein Versprechen halten.
werden kann. Die Ethik setzt somit nicht fest, wel-
Du sollst anderen in der Not helfen.
che konkreten Einzelziele moralisch gute, für jeder-
Du sollst nicht töten. mann erstrebenswerte Ziele sind; vielmehr bestimmt
Du sollst die Menschwürde achten. sie die Kriterien, denen gemäß allererst verbindlich
Du sollst die Umwelt schützen. festgesetzt werden kann, welches Ziel als gutes Ziel 35

anzuerkennen ist. […] Die Ethik betreibt nicht selber


M2 Annemarie Pieper: Über Moral reden Moral, sondern redet über Moral. [Sie hat] […] Moral
Annemarie Pieper (*1941) war bis 2001 Professorin für Philoso- (Sitte) und Moralität (Sittlichkeit) zu ihrem Gegen-
phie an der Universität Basel. Ihre Einführung in die Ethik gehört stand. Ihre Fragen unterscheiden sich von denen der
zu den Standardwerken des Faches.
Moral dadurch, dass sie sich nicht unmittelbar auf 40

Wir fällen […] tagtäglich unzählige moralische Urtei- singuläre Handlungen bezieht, also auf das, was hier
le, und dies so selbstverständlich, dass es uns kaum und jetzt in einem bestimmten Einzelfall zu tun ist,
noch auffällt. Ob wir z. B. sondern auf einer Metaebene moralisches Handeln
- uns selber anklagen, schlampig gearbeitet zu haben, grundsätzlich thematisiert, indem sie z. B. nach dem
5 - beim Einkaufen jemandem, der sich an der Kasse Moralprinzip oder nach einem Kriterium zur Beur- 45

vordrängelt, Rücksichtslosigkeit vorwerfen, teilung von Handlungen fragt […]. Demjenigen, der
- über die Reklame im Fernsehen schimpfen und da- sich aus einem Interesse am Handeln und um des
bei von Verdummungseffekten reden, Handelns willen mit Ethik beschäftigt, [werden] Ar-
- uns über politische Ereignisse entrüsten gumentationsstrategien an die Hand gegeben, ver-
10 oder mittels deren er in der Lage ist, moralische Probleme 50

- dem Nachbarn für seine angebotene Hilfe danken, und Konflikte menschlichen Handelns als solche klar
- uns über ein besonders gut gelungenes Werk freuen, zu erfassen, mögliche Lösungsvorschläge zu entwi-
- einen kritischen Kommentar in der Tageszeitung mit ckeln und auf ihre moralischen Konsequenzen hin zu
Genugtuung zur Kenntnis nehmen, durchdenken sowie sich nach reiflicher Überlegung
15 so drückt sich in allen diesen ablehnenden bzw. zu- selbständig „mit guten Gründen“ für eine bestimmte 55

stimmenden Äußerungen ein Werturteil aus über das, Lösung zu entscheiden.


was wir für gut halten. Letzteres ist das eigentliche Ziel der Ethik: die gut
Wer es nun nicht dabei belässt, einfach moralisch zu begründete moralische Entscheidung als das einsich-
urteilen, sondern sich dafür interessiert, was das Mo- tig zu machen, was jeder selbst zu erbringen hat und
20 ralische eigentlich ist und ob es überhaupt einen Sinn sich von niemandem abnehmen lassen darf – weder 60

hat, moralisch zu handeln, wie man solches Handeln von irgendwelchen Autoritäten noch von angeblich
begründen und rechtfertigen kann, wer solche Fra- kompetenteren Leuten (Eltern, Lehrern, Klerus u. a.).
gen stellt, fängt an, Ethik zu betreiben. In Sachen Moral ist niemand von Natur aus kompe-
Die Ethik erörtert alle mit dem Moralischen zusam- tenter als andere, sondern allenfalls graduell aufge-
25 menhängenden Probleme auf einer allgemeineren, klärter und daher besser in der Lage, seinen Standort 65

grundsätzlicheren und insofern abstrakteren Ebene, zu finden und kritisch zu bestimmen.


indem sie rein formal die Bedingungen rekonstruiert, Einführung in die Ethik (1991)
GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK 11

M3 Norbert Hoerster: Begründung bindender und feierlicher Form versprochen, zeitlich 40

moralischer Prinzipien durch Ethik unbegrenzt eine enge Lebensgemeinschaft mit ihr zu
Norbert Hoerster (*1937) war Professor für Rechts- und Sozial- führen. Ein solches Versprechen darf man nicht bre-
philosophie an der Universität Mainz. chen, nur weil man jemanden kennengelernt hat, den
Das Problem der Begründung oder Rechtfertigung man momentan attraktiver findet“; oder
von Moral – von moralischen Verhaltensweisen, Ein- 3. „Das Unglück, das du durch eine Scheidung über 45

stellungen, Urteilen – wurde nicht von Philosophen deine Frau und deine Kinder brächtest, würde das
erfunden: Es ist ein Problem, mit dem wir alle fast Glück, das du in deinem Alter noch für dich und dei-
5 täglich im Alltag konfrontiert werden. Bin ich in ne neue Frau erwarten könntest, weit überwiegen.
einer bestimmten Situation berechtigt zu lügen? Ist Man darf sein eigenes Glück nicht auf Kosten anderer
Ehebruch ausnahmslos moralisch verboten? Nach verfolgen“; oder 50

welchen Gesichtspunkten sollen wir unsere Kinder 4. „Auf die Dauer gesehen, würdest du dir in deiner
erziehen? [...] Solche und ähnliche Fragen lassen sich Situation mit einer Scheidung und einer Wiederheirat
10 mit einem einfachen Ja oder Nein oder mit einem nur schaden. Man sollte nie etwas tun, wodurch man
lapidaren Satz nicht zufriedenstellend beantworten. auf lange Sicht die eigenen Interessen verletzt“. […]
Zufriedenstellend ist eine Antwort nur dann, wenn Man beachte, dass in jedem der vier Argumente min- 55

wir diese Antwort als stichhaltig, begründet, gerecht- destens zwei verschiedene Behauptungen enthalten
fertigt betrachten können. sind: Zum einen vertritt B jeweils ein bestimmtes
15 Die Antworten, die wir in unseren moralischen All- moralisches Prinzip („Wer Gottes Willen zuwider-
tagsüberlegungen und -argumentationen geben, wer- handelt, … Wer ein Versprechen bricht, … Wer andere
den diesem Erfordernis lediglich mehr oder weniger unglücklich macht, ... Wer sich selber schadet, der 60

gerecht und können insofern auch nur bis zu einem handelt moralisch falsch.“). Und zum anderen be-
gewissen Grade zufriedenstellen. Gewöhnlich haben hauptet B, dass A in seiner konkreten Situation un-
20 wir weder genug Zeit noch die Ausbildung und das ter dieses moralische Prinzip fällt und daher, wenn
Wissen, um bis zur letztmöglichen Begründung un- er sich scheiden lässt, moralisch falsch handelt. […]
serer Auffassungen vorzudringen. Das zu tun, ist die [Wenn A nun eines der von B geltend gemachten 65

Aufgabe der Ethik; sie versucht, die letzten Begrün- Prinzipien attackiert,] (etwa indem er behauptet, der
dungsprinzipien des moralisch Richtigen und Guten Wille Gottes sei für die Bestimmung des moralisch
25 zu ermitteln. [...] Richtigen nicht der entscheidende Gesichtspunkt) […]
Ein Beispiel und wenn B sodann versucht, das […] Moralprinzip A
Angenommen, A möchte sich von seiner Frau schei- gegenüber mit Argumenten zu verteidigen, dann – so 70

den lassen, um seine Sekretärin zu heiraten. B, ein wird man annehmen dürfen – hat der Disput zwi-
Freund des A, macht ihm deshalb Vorhaltungen; er schen den beiden eine derartig fundamentale Ebene
hält A’s Schritt für moralisch falsch. B macht sich erreicht, dass er als moralphilosophisch oder ethisch
30 also das moralische Urteil zu eigen: „A sollte sich bezeichnet werden kann. Ethik und Moral (1976)
nicht scheiden lassen.“ Im Zuge der von A geforder-
ten Begründung dieses Urteils könnte B früher oder
1  Sprechen Sie darüber, wie die moralischen Ge-
A
später (je nach seiner moralischen Grundüberzeu-
bzw. Verbote begründet werden können. > M1
gung) etwa die folgenden Sätze ins Treffen führen:
2  Erläutern Sie, womit sich Moral und Ethik je-
35 1. „Wenn du dich scheiden lässt, versündigst du dich;
weils befassen, und stellen Sie das Verhältnis
nach dem Willen Gottes darf eine gültig geschlos- beider Begriffe in einer Skizze dar. > M2
sene Ehe zu Lebzeiten der Ehegatten nicht aufgelöst 3 Führen Sie den ethischen Diskurs fort, indem
werden“; oder Sie Argumente finden, die A gegenüber B an-
2. „Du hast deiner Frau durch die Eheschließung in führen könnte. > M3 H
12 GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK

Werte und Normen

M1 René Magritte: Die persönlichen Werte bestimmten Hinsicht“; und da

? ? kann es durchaus sein, dass das-

? selbe für denselben Menschen


in verschiedenen Hinsichten gut 20

und schlecht ist. Zum Beispiel

? sind viele Überstunden für den


Lebensstandard gut, aber für die
Gesundheit schlecht. Und es kann
sein, dass dasselbe für den einen 25

gut, für den anderen schlecht ist –

? der Ausbau der Autostraße für


den Autofahrer gut, für die Anlie-
? ger schlecht usw.
Wir verwenden aber das Wort 30

„gut“ noch in einem anderen


Sinn, sozusagen in einem „abso-
luten“ Sinn, das heißt ohne Zusatz
von „für“ und „in einer bestimm-
? René Magritte: Les Valeurs Personelles (1954)
ten Hinsicht“. […] Wenn wir hö- 35

ren, dass Eltern ein kleines Kind,


M2 Robert Spaemann: Das an sich Gute weil es versehentlich ins Bett gemacht hat, grausam
Robert Spaemann (*1927) lehrte Philosophie an den Universi- misshandeln, dann urteilen wir nicht, diese Hand-
täten Stuttgart, Heidelberg und München. Von ihm stammen lung sei eben für die Eltern befriedigend, also „gut“,
viele Beiträge zu aktuellen ethischen Debatten.
für das Kind dagegen „schlecht“ gewesen, sondern 40

Achten wir einmal darauf, wie in […] [alltäglichen] wir missbilligen ganz einfach das Handeln der Eltern,
Zusammenhängen das Wort „gut“ verwendet wird. weil wir es in einem absoluten Sinne schlecht finden,
Der Arzt sagt: „Es ist gut, wenn Sie noch einen Tag wenn Eltern etwas tun, was für ein Kind schlecht ist.
im Bett bleiben.“ Genau genommen müsste er bei der Und wenn wir von einer Kultur hören, wo dies der
5 Verwendung des Wortes „gut“ zwei Zusätze machen. Brauch ist, dann urteilen wir, diese Gesellschaft habe 45

Er müsste sagen: „Es ist gut für Sie“, und er müsste eben einen schlechten Brauch. Und wo ein Mensch
dazu noch sagen: „Es ist gut für Sie, falls Sie in erster sich verhält wie der polnische Pater Maximilian Kol-
Linie gesund werden wollen.“ […] Und sagt einem be, der sich freiwillig für den Tod im Hungerbunker
nicht der Finanzfachmann: „Es ist gut, wenn Sie jetzt von Auschwitz meldete, um einen Familienvater im
10 noch einen Bausparvertrag abschließen; nächstes Austausch zu retten, da finden wir nicht, dass das 50

Jahr wird es mit der Prämie schlechter, und die Warte- eben für den Vater gut und für den Pater schlecht ge-
zeit wird länger.“ […] Wenn er sagte „gut“, dann mein- wesen, absolut gesehen aber gleichgültig sei, sondern
te er: „Gut für Sie, falls es Ihnen in erster Linie darum wir sehen einen Mann wie diesen als jemanden an,
geht, Ihr Vermögen längerfristig zu vergrößern.“ der die Ehre des Menschengeschlechtes gerettet hat,
15 In all diesen Ratschlägen bedeutet also das Wort die von seinen Mördern geschunden wurde. 55

„gut“ soviel wie: „gut für irgendjemanden in einer Moralische Grundbegriffe (1982)
GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK 13

M3 Michael Hauskeller: und geistige Unversehrtheit. Wir haben entsprechend


Instrumentelle und inhärente Werte moralische Normen, Regeln oder Pflichten, die diese 5

Michael Hauskeller (*1964) lehrt Praktische Philosophie an der Werte realisieren sollen. Da gibt es das moralische
Universität Liverpool. Verbot, dass man nicht töten soll, bzw. das morali-
[Es] gibt es unterschiedliche Arten der Bewertung. sche Gebot, dass wir Leben schützen sollen. Da gibt
Man kann […] eine Sache im Hinblick auf ihren Nut- es das Verbot, Menschen zu quälen oder zu foltern.
zen (für uns) bewerten, also relativ zu unseren Inte- Ein anderer hoher Wert ist die wechselseitige Aner- 10

ressen; man kann aber auch von solchem Nutzen kennung und Achtung. Daraus ergibt sich die Pflicht
5 ganz absehen und ihr dann trotzdem noch einen (po- des rücksichtsvollen Umgangs miteinander oder die
sitiven oder negativen) Wert zuerkennen. […] Pflicht, ein einmal gegebenes Versprechen zu halten.
Einen instrumentellen Wert für mich hätte eine Sa- Wenn wir einige dieser unbestrittenen moralischen
che dann, wenn sie gut für etwas ist, das gut für mich Regeln ansehen und miteinander vergleichen, kön- 15

ist. Ein Auto etwa hat an sich einen (hohen) instru- nen wir deren Kerngehalt ermitteln und folgende
10 mentellen Wert, wenn man damit schnell, sicher und Moraldefinition vornehmen: Moral ist die Gesamt-
bequem von einem Ort zum anderen fahren kann, heit der Regeln, die zur Realisierung der Werte oder
und wenn ich dies zu schätzen weiß, hat es auch für zum Wohl der Menschen beiträgt, bzw. man kann
mich einen solchen Wert. […] Allerdings ließe sich auch sagen, dass die moralischen Regeln, wenn sie 20

schwerlich sagen, dass das Auto auch dann noch ei- angewendet werden, die Menschen, die vom Handeln
15 nen instrumentellen Wert habe, wenn niemandes In- anderer betroffen sind, schützen sollen. Das bedeutet
teressen je durch die Benutzung eines solchen Autos vor allem, wenn wir die letztgenannte Pflicht, das
befriedigt würden. […] Halten von Versprechen, ins Auge fassen –, dass es
Einen inhärenten Wert für mich hat eine Sache of- durchaus sein kann, dass man manchmal zu Hand- 25

fenbar dann, wenn sie für mich gut bzw. ein Gut ist, lungen verpflichtet ist, die nicht im eigenen Interesse
20 obwohl sie entweder für nichts (also nicht für etwas) liegen, ja, die zuweilen unserem Eigeninteresse zuwi-
gut ist oder, wenn sie doch für etwas gut ist, dies derlaufen und zu deren Einhaltung man sich bei frei-
doch nicht der Grund dafür ist, dass sie für mich gut er Wahlmöglichkeit nicht ohne Weiteres verpflichten
ist […] Eine Sache [kann] nur insofern einen inhä- würde. Was ist Moral? (2012) 30

renten Wert besitzen […], als sie von jemandem um


25 ihrer selbst willen wertgeschätzt wird. […] Der Wert,
den die Sache dann für uns hat, ist nun nicht mehr 1 
Erläutern Sie, inwiefern jemand die dargestell-
A
relativ, sondern in gewissem Sinne absolut, insofern ten Gegenstände als persönliche Werte anse-
hen kann. Ergänzen Sie die Darstellung durch
er nicht abhängig ist von den Zwecken und Interes-
die Nennung weiterer möglicher Werte, insbe-
sen, die wir verfolgen. Wenn wir sie wertschätzen, sondere aus dem Bereich Moral und Ethik. > M1
30 dann nicht um des Vorteils willen, den sie uns bringt 2 
Visualisieren Sie die begrifflichen Unterschei-
oder den wir von ihr erwarten, sondern um ihrer dungen von Robert Spaemann und Michael
selbst willen. Diese Alt der Wertschätzung ist der Hauskeller und setzen Sie sie in Bezug zuein-
Kern jeder Moral. Versuch über die Grundlagen der Moral (2001) ander. > M2/M3
3 
Erklären Sie den Zusammenhang zwischen
M4 Detlef Horster: Wozu Normen gut sind Werten, Normen (Regeln) und Pflichten nach
Detlef Horster. > M4
Detlef Horster (*1942) war bis 2007 Professor für Sozialphiloso-
phie an der Universität Hannover. 4 
Stellen Sie in einer Liste Beispiele für instru-
mentelle Werte („gut für etwas“) und morali-
Moralische […] Pflichten leiten sich aus […] [Werten] sche Werte („gut an sich“) gegenüber. Leiten
ab: Ein hoher Wert ist beispielsweise das menschli- Sie aus den von Ihnen zusammengestellten
che Leben oder unsere Gesundheit bzw. körperliche inhärenten Werten moralische Normen ab.
14 GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK

Dimensionen der Ethik

M1 Verschiedene Aussagen zum Thema Foltern Solche Untersuchungen sind Teil einer normativen
Theorie der Moral, gehören also zur normativen Ethik.
„Foltern ist moralisch illegitim.“ […] Auch wenn es die unterschiedlichsten Arten
normativer Ethiken gibt, die sich den verschiedens-
ten Gegenstandsbereichen zuwenden und in unter- 20

„Folter ist das ge- schiedlichen philosophischen Traditionen verwurzelt


„In der Gesellschaft a ist zum
zielte Zufügen von sind, so ist ihnen doch allen das Merkmal gemein-
Zeitpunkt t die Mehrzahl der
Personen davon überzeugt,
psychischem oder
physischem Leid, sam, dass sie selbst moralische Urteile fällen und in-
dass Foltern in manchen
Fällen moralisch legitim ist.“ um den Willen des sofern moralisch nicht neutral sind.
Folteropfers zu bre- Neben dem normativen Teil der Theorie der Moral, der 25
chen und Aussagen
zu erpressen.“ normativen Ethik, gibt es jedoch auch Disziplinen,
die sich demselben Gegenstand mit einer ganz ande-
„Es besteht ein statistisch ren Absicht zuwenden. Von solchen Disziplinen kann
signifikanter Zusammen-
nicht gesagt werden, sie seien auf der Suche nach
hang zwischen einer auto-
„Foltern ist in der richtigen Moral. […] Ihr Ziel besteht darin, die 30
ritären Erziehung und dem
manchen Fällen
Ausbilden der Überzeugung, vielfältigen Aspekte und Erscheinungsformen dieses
moralisch legitim.“
dass Foltern in manchen Phänomens zu beschreiben und für sie Erklärungen
Fällen moralisch legitim ist.“
auszuarbeiten. […] Wenn wir wissen wollen, welche
Rolle die Moral in unserem Leben spielt, wenn wir
erklären möchten, was es heißt, moralischen Regeln 35

M2 Nico Scarano: zu folgen oder sich von seinen moralischen Über-


Normative und deskriptive Ethik zeugungen leiten zu lassen, um also die Grundlagen
Nico Scarano (*1965) lehrt Philosophie an der Universität Erlan- unserer moralischen Praxis zu erfassen, kommt es
gen-Nürnberg. 2017 wurde er mit dem „Preis für gute Lehre“ des zunächst nicht darauf an, welches die richtige Moral
bayerischen Wissenschaftsministeriums geehrt.
ist. Vielmehr fragen wir dann nach den allgemeinen 40

Als „Ethiken“ können […] Theorien bezeichnet wer- Grundzügen, nach der Natur von Moral überhaupt.
den, die sich mit den verschiedenen Aspekten des […] Zwar variieren von Gesellschaft zu Gesellschaft
Phänomens Moral auseinandersetzen. Nun gibt es je- die Inhalte der moralischen Vorstellungen und Idea-
doch zu diesem Phänomen sehr unterschiedliche Zu- le. […] Aber der Stellenwert, den das Phänomen für
5 gangsweisen. Insofern lassen sich auch verschiedene das menschliche Handeln hat, bleibt trotz dieser Di- 45

Typen von Ethiken bzw. Moraltheorien voneinander vergenzen in einem gewissen Sinn der gleiche. […]
abgrenzen. […] Untersuchungen, die sich auf diese Art der Moral als
Die Frage „Was ist Moral?“ lässt sich zum einen als einem natürlichen Phänomen zuwenden, versuchen,
eine Frage danach verstehen, worin denn die „rich- soweit wie möglich deskriptiv vorzugehen, ihren Un-
10 tige Moral“ besteht. Welche Handlungsweisen sind tersuchungsgegenstand also auf normativ neutrale 50

moralisch erlaubt, welche verboten, welche mora- Weise zu beschreiben. […] Die menschliche Moral ist
lisch indifferent? Wie müssen unsere grundlegenden also nicht allein Gegenstand normativer Disziplinen,
politischen Institutionen beschaffen sein, damit sie sie kann auf vielfältige Weise auch zum Gegenstand
unter moralischen Gesichtspunkten als legitim gelten deskriptiv arbeitender Wissenschaften werden. […]
15 können? […] Metaethik – ein systematischer Überblick (2002)
GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK 15

M3 Nico Scarano: nur Einzelhandlungen klassifizieren wir nach mo-


Metaethik – ein Diskurs zweiter Ordnung ralischen Gesichtspunkten, auch Handlungsweisen
[Normative als auch deskriptive Ethiken beziehen werden von uns moralisch beurteilt. Manche Hand- 45

sich in verschiedener Weise auf moralische Urteile.] lungsarten sind als solche „moralisch verboten“, an-
Aber was ist eigentlich ein moralisches Urteil? Wo- dere „erlaubt“, wieder andere „moralisch geboten“.
rin unterscheiden sich moralische Urteile von ande- […] Und Personen sind „tugendhaft“, „ehrlich“ oder
5 ren Urteilsarten? Diese Frage ist keineswegs trivial. „unehrlich“, sie sind manchmal „skrupellos“ oder
Sowohl normative als auch deskriptive Ethiken sind auch „moralisch integer“. […] Mit der Äußerung eines 50

aber auf eine Antwort angewiesen. Es ist die Aufgabe moralischen Satzes […] machen wir keine Aussage,
der Metaethik, diese Frage zu beantworten. Metaethi- die wahr oder falsch sein kann. Vielmehr führen wir
sche Theorien fällen selbst keine moralischen Urteile mit der Äußerung solcher Sätze kraft der Bedeutung
10 wie die normativen Ethiken. Sie beschreiben auch der in ihnen vorkommenden moralischen Ausdrücke
nicht, welche moralischen Urteile gefällt werden und eine ganz andere Art von Sprechhandlung aus. 55

welche Rolle moralische Urteile für unser Denken Je nach Theorie steht dabei jeweils eine etwas ande-
und Handeln spielen, wie die deskriptiv arbeitenden re sprachpragmatische Funktion im Mittelpunkt. So
Moraltheorien. Vielmehr setzen sie eine Stufe tiefer wird beispielsweise im Emotivismus die Hauptfunkti-
15 an und fragen, was überhaupt unter einem morali- on moralischer Äußerungen im Zum-Ausdruck-Brin-
schen Urteil zu verstehen ist. Die Metaethik fällt also gen, der Expression, einer subjektiven Einstellung, 60

selbst keine moralischen Urteile, sondern macht Aus- beispielsweise eines moralischen Gefühls, gesehen.
sagen und formuliert Hypothesen über diese. Ihr Auf- Demgegenüber steht im Präskriptivismus eher der
gabengebiet erstreckt sich also auf die Analyse der viel- vorschreibende Aspekt unserer moralischen Sprache
20 fältigen formalen Aspekte einer besonderen Urteils- im Vordergrund. Moralische Äußerungen werden da-
klasse. Deshalb kann man von der Metaethik auch mit in ihrer Funktion normalen Imperativen ange- 65

als einem „Diskurs zweiter Ordnung“ sprechen). […] glichen. Wichtig zum Verständnis all dieser Ansätze
Wird […] zugestanden, dass […] ihre Aufgabe […] in ist deren Annahme, dass semantische Fragen nicht
der Ausarbeitung einer Theorie der formalen Aspekte unabhängig von pragmatischen Fragen beantwor-
25 moralischer Urteile liegt, dann lassen sich ihre Frage- tet werden können. […] Es ist nicht unerheblich, ob
stellungen relativ eindeutig eingrenzen. […] Zunächst moralische Urteile wahr oder falsch sein können. Je 70

gehören zum Gebiet der Metaethik die Untersuchun- nachdem, wie man diese Frage beantwortet, kommt
gen, die sich mit den sprachlichen Ausdrucksformen man beispielsweise zu einer ganz anderen Auffas-
der Moral befassen, […] [sowie] die Analyse grund- sung darüber, was es heißt, ein moralisches Urteil zu
30 legender moralischer Begriffe, wie der des „mo- begründen. Metaethik – ein systematischer Überblick (2002)
ralischen Sollens“ oder des „moralisch Guten“ […].
[Sie versucht], die allgemeinen semantischen* und
pragmatischen* Prinzipien zu rekonstruieren, die die 1  Analysieren Sie, wie sich die Aussagenarten
A
Produktion und das Verstehen moralischer Äußerun- voneinander unterscheiden. > M1
35 gen betreffen. […] Die Grundform einer moralischen 2  Stellen Sie die Unterscheidung von normativer
Äußerung sind prädikative Aussagen*, in denen be- und deskriptiver Ethik in graphischer Form dar.
> M2
stimmten Gegenständen ein moralisches Prädikat zu-
3  Ergänzen Sie Ihre graphische Darstellung der
oder abgesprochen wird. Wir reden beispielsweise
Dimensionen der Ethik (A2) um die Metaethik.
davon, dass bestimmte Handlungen „moralisch gut“, Finden Sie weitere Beispiele für metaethische
40 andere „moralisch schlecht“ oder „moralisch indif- Fragen. > M3
ferent“ sind. Wir schreiben also den Handlungen 4 Beurteilen Sie, welcher Dimension der Ethik die
selbst spezifische moralische Eigenschaften zu. Nicht Aussagen in M1 zuzuordnen sind > M1-M3
16 GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK

Ethisch argumentieren

M1 Im Straßenverkehr M3 Herbert Schnädelbach:


Der naturalistische Fehlschluss
An Straßenkreuzungen, an denen die Vorfahrt Herbert Schnädelbach (*1936) war Professor für Philosophie an
nicht durch ein Verkehrsschild geregelt ist, haben der Humboldt-Universität in Berlin.
Fahrzeuge, die von rechts kommen, Vorfahrt. An Das Argument ist […] bekannt: Man darf nicht von
dieser Straßenkreuzung steht kein Schild, das die dem, was ist, einfach ableiten, was sein soll. Tatsa-
Vorfahrt regelt. Also ist es richtig, dass ich dem von chenbehauptungen allein rechtfertigen keine norma-
rechts kommenden Fahrzeug Vorfahrt gewähre.
tiven Forderungen; ein unvermittelter Übergang vom
Beschreiben zum Vorschreiben, vorn Deskriptiven 5

zum Präskriptiven ist weder in grammatischer noch


Auf dieser Straße fahren alle Autofahrer in sachlicher Hinsicht erlaubt. Warum dieses Verbot,
schneller als 50 km/h. Also darf ich auch das man allgemein David Hume als das „Hume'sche
schneller als 50 km/h fahren. Gesetz“ zuschreibt, etwas betrifft, was angeblich na-
turalistisch und zudem ein Fehlschluss sein soll, liegt 10

freilich nicht auf der Hand. Mit dem Sein, aus dem
man Hume zufolge kein Sollen ableiten kann, ist ja
M2 David Hume: Vom Sein zum Sollen nicht bloß die Natur gemeint, sondern der Inbegriff
Der Schotte David Hume (1711-1776) war einer der einfluss- aller Seinsbereiche, und im Übrigen ist ein solcher
reichsten Philosophen des 18. Jahrhunderts. Übergang im streng logischen Sinn kein Schluss, 15

Bei jedem System der Moral, das mir bislang begeg- denn aus einem Satz allein kann man keinen anderen
net ist, habe ich stets festgestellt, dass der Autor eine erschließen; man benötigt dazu mindestens eine wei-
gewisse Zeit in der üblichen Argumentationsweise tere Prämisse. Die Redeweise „Naturalistischer Fehl-
fortschreitet und begründet, dass es einen Gott gibt, schluss“ ist in der Tat nur historisch zu erklären.
5 oder Beobachtungen über menschliches Verhalten Sie ist die deutsche Übersetzung des Ausdrucks 20

trifft. Dann plötzlich stelle ich überrascht fest, dass „naturalistic fallacy“, den George Edward Moore in
anstatt der üblichen Verbindungen von Worten, seinem Hauptwerk Principia Ethica (1903) in kriti-
nämlich durch „ist“ und „ist nicht“, ich nur auf Sätze scher Absicht einführte. Mit „fallacy“ meinte er in
stoße, welche mit „soll“ oder „soll nicht“ verbunden Übereinstimmung mit der englischen Umgangsspra-
10 sind. Diese Änderung geschieht unmerklich. Sie ist che etwas Trügerisches, Irreführendes, mit dem man 25

jedoch sehr wichtig. Dieses „soll“ oder „soll nicht“ glaubt korrekt argumentieren zu können – also eine
drückt eine neue Verknüpfung oder Behauptung aus. begriffliche Verirrung durch Verwechslung, und dies
Darum muss sie notwendigerweise beobachtet und als eine Denkfalle, in die man leicht geraten kann.
erklärt werden. Zugleich muss notwendigerweise ein […]
15 Grund angegeben werden für etwas, was sonst voll- Die Kritik am Naturalistischen Fehlschluss […] rich- 30

ständig unbegreiflich erscheint: Wie nämlich diese tet sich gegen die Vermengung von Werturteilen mit
neue Verknüpfung eine logische Folgerung sein kann Tatsachenfeststellungen und gegen das Ignorieren
von anderen, davon ganz verschiedenen Verknüp- der Sein-Sollen-Differenz. Es besteht weithin Kon-
fungen. Da die Autoren diese Vorsicht meistens nicht sens unter Philosophen, dass sich Werturteile nicht
20 gebrauchen, so erlaube ich mir, sie meinen Lesern zu auf Sollenssätze zurückführen lassen und umgekehrt. 35

empfehlen. A Treatise of Human Nature (1739-40) Was Philosophen wissen (2012)


GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK 17

M4 Der praktische Syllogismus chende Bedingung für ein ethisch zureichendes Urteil.
Wer hat es nicht im Mathematikunterricht so gelernt? Deshalb ist es in ethischen Argumentationen wichtig, 45

Aus den beiden Prämissen „a = b“ und „b = c“ er- a) 


darzulegen, von welchen normativen Prämissen
gibt sich die Schlussfolgerung: „a = c“. Eine solche ausgegangen wird, und
Schlussfigur nennt man in der Logik Syllogismus b) die Stimmigkeit dieser Prämissen zu überprüfen.
5 (altgr. für „Zusammenrechnen“). Autorenbeitrag
Ein praktischer Syllogismus ist eine besondere
Schlussform, die dazu dient, Handlungsaufforderun- M5 Wie in den sozialen Medien oft
gen zu begründen. Dabei wird von einem normativen argumentiert wird …
Obersatz und einem deskriptiven Untersatz eine nor-
10 mative Konklusion hergeleitet. Beispielsweise folgt A ist ja wohl eindeutig ein Asylsuchender. Also gestattet
aus der Norm: „Versprechen soll man halten“ und ihm auch endlich die Einreise nach Deutschland!
dem deskriptiven Untersatz „X hat Y ein Versprechen
Zuletzt sind über 200.000 Asylsuchende nach Deutsch-
gegeben“, dass X sein Versprechen gegenüber Y hal- land gekommen. Geht’s noch? Macht endlich die Gren-
ten soll. Wichtig ist dabei, dass der Obersatz eine zen dicht!
15 Norm enthält, sonst wäre die Schlussfolgerung nicht
Frau X hat nach der zwölften Schwangerschaftswoche
korrekt, denn aus Tatsachen lassen sich nach dem abgetrieben. Das muss man sich mal vorstellen!
sogenannten Hume‘schen Gesetz keine Normen ab- So etwas gehört doch bestraft!
leiten.
Die steigenden Corona-Fallzahlen gefährden unsere
In alltäglichen ethischen Begründungen werden die Gesundheit immer mehr! Jetzt kann man gar nicht
20 normativen Prämissen oft vergessen oder unter- anders, als die Ausgangssperre zu verhängen!
schlagen. Dann sind die Begründungen jedoch nicht
Wie viel Messungen sollen denn noch durchgeführt
stichhaltig. Aus dem Satz „X hat Y getan“ lässt sich
werden? Der ganze Autoverkehr auf der Hauptstraße
nicht ohne Weiteres folgern: „X ist ein Straftäter“. führt jetzt schon zu einer Feinstaubbelastung von
Diese Aussage kann nur dann als begründet gelten, mehr als 50 µg/m3. Eine Sperrung der Straße für Autos
25 wenn man die normative Prämisse voraussetzt: „Y ist ist die einzige Lösung!
eine Straftat“. Aber selbst dann, wenn eine normati-
ve Prämisse genannt und aus ihr logisch korrekt eine
Schlussfolgerung abgeleitet wird, heißt das nicht,
1 
Vergleichen Sie die Rechtfertigungen der bei-
A
dass das (ethische) Urteil deshalb auch immer richtig den Verkehrsteilnehmer und beurteilen Sie ihre
30 sein muss, wie sich unschwer an folgendem Beispiel Überzeugungkraft. > M1
erkennen lässt: 2 
Erklären Sie, was unter dem Hume‘schen Ge-
- Normative Prämisse: Wer die Staatsführung kriti- setz (bzw. unter dem naturalistischen Fehl-
siert, ist ein Terrorist (und muss zu einer lebens- schluss) zu verstehen ist, und wenden Sie es
länglichen Freiheitsstrafe verurteilt werden). auf die Rechtfertigungen in M1 an. > M2/M3
35 - Tatsachendeskription: X hat die Staatsführung kri- 3 
Ergänzen Sie die ethischen Begründungen
(M5) nach dem Muster eines praktischen Syl-
tisiert.
logismus (M4) und überprüfen Sie ihre Folge-
- Schlussfolgerung: Also ist X ein Terrorist (und muss richtigkeit. > M4/M5
zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt
werden).
Hinweis:
40 Obwohl hier formal korrekt gefolgert wird, kann das
Das Toulmin-Schema erweitert den praktischen Syl-
Ergebnis nicht überzeugen, und zwar deshalb, weil die logismus so, dass er für komplexere Begründungen
zugrunde gelegte normative Prämisse problematisch eingesetzt werden kann. Siehe dazu S. 292f.
ist. Auch logische Korrektheit ist also noch keine zurei-
18 GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK

Ethik als Teilgebiet der Philosophie

M1 Denker und Denkerin M3 Thomas Nagel: Grundsätzliches Fragen


Thomas Nagel (*1937), Professor für Philosophie in New York, ist
einem breiteren Leserkreis durch seine leicht verständliche Ein-
führung in die Philosophie mit dem Titel Was bedeutet das alles?
bekannt geworden.

Das Hauptanliegen der Philosophie besteht darin,


sehr allgemeine Vorstellungen in Frage zu stellen und
zu verstehen, die sich ein jeder von uns tagtäglich
macht, ohne über sie nachzudenken. Ein Historiker
mag fragen, was in einem bestimmten Zeitraum der 5

Vergangenheit geschah, doch ein Philosoph wird fra-


gen: „Was ist die Zeit?“ Ein Mathematiker wird das
Verhältnis der Zahlen untereinander erforschen, doch
ein Philosoph fragt: „Was ist eine Zahl?“ Ein Physiker
wird fragen, woraus die Atome bestehen und was für 10

die Schwerkraft verantwortlich ist, doch ein Philo-


soph wird fragen, woher wir wissen können, dass es
außerhalb unseres eigenen Bewusstseins etwas gibt.
Auguste Rodin: Der Denker Markus Lüpertz: Philosophin Ein Psychologe mag untersuchen, wie ein Kind eine
Sprache erlernt, doch ein Philosoph fragt eher: „Was 15

ist dafür verantwortlich, dass ein Wort eine Bedeu-


M2 Was heißt es, zu philosophieren?
tung hat?“ Jeder kann sich fragen, ob es unrecht ist,
sich ohne eine Eintrittskarte ins Kino zu schleichen,
Selbstdenken und Anleitung zum Selbst-
doch ein Philosoph wird fragen: „Was macht etwas
denken – darin besteht die Aufgabe derer,
die philosophieren. zu einer rechten oder unrechten Handlung?“ 20

Annemarie Pieper, Selber denken (1997) Wir könnten unser Leben nicht führen, würden wir
unsere Vorstellungen von der Zeit, den Zahlen, von
Wissen, Sprache, Recht und Unrecht nicht die meiste
Zeit unhinterfragt voraussetzen; in der Philosophie
Das griechische Wort Philosoph (philosophos) jedoch machen wir diese Dinge zum Gegenstand der 25
ist gebildet im Gegensatz zum Sophos. Es
Untersuchung. Wir sind bemüht, unser Verständnis
heißt: der die Erkenntnis (das Wesen) Lieben-
de im Unterschied von dem, der im Besitze der Welt und unserer selbst ein Stück weit zu vertiefen.
der Erkenntnis sich einen Wissenden nannte. Dies ist offensichtlich nicht leicht. Je grundlegender
Dieser Sinn des Wortes besteht bis heute: das die Ideen sind, die wir zu erforschen versuchen, um
Suchen der Wahrheit, nicht der Besitz der so weniger Werkzeug haben wir hierfür zur Verfü- 30
Wahrheit ist das Wesen der Philosophie […]. gung. […] Man philosophiert […], indem man fragt,
Philosophie heißt: auf dem Wege sein. Ihre
argumentiert, bestimmte Gedanken ausprobiert und
Fragen sind wesentlicher als ihre Antworten,
und jede Antwort wird zur neuen Frage. mögliche Argumente gegen sie erwägt, und darüber
Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie (1953) nachdenkt, wie unsere Begriffe wirklich beschaffen
sind. Was bedeutet das alles? (1990) 35
GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK 19

M4 Immanuel Kant: Leitfragen der Philosophie M6 Fragen über Fragen


Immanuel Kant (1724-1804) war der bedeutendste deutsche 1. Wie können wir zweifelsfreies Wissen erwerben?
Philosoph des 18. Jahrhunderts
Das Feld der Philosophie […] lässt sich auf folgende 2. Hat das Leben einen Sinn?
Fragen bringen: 3. Darf man Menschen klonen?
1) Was kann ich wissen?
4. Sind unserer Erkenntnis Grenzen gesetzt?
2) Was soll ich tun?
3) Was darf ich hoffen? 5. Muss man immer die Wahrheit sagen?
4) Was ist der Mensch? […]
6. Was ist eigentlich Bewusstsein?
Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthro-
pologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf 7. Ist der Mensch ein soziales Wesen?
die letzte beziehen. Logik (1800) 8. Was ist Wahrheit?

H M5 Die Teilgebiete der Philosophie 9. Darf man seine Interessen auf Kosten
anderer durchsetzen?
Die vier Fragen, die Kant in seinen Vorlesungen über
Logik benennt, sind ein hilfreiches Instrument, um das 10. Was ist Gerechtigkeit?
komplexe Gebiet der Philosophie zu strukturieren.
11. Welche Verpflichtungen haben wir
Die Frage „Was kann ich wissen?“ wird vor allem in der anderen gegenüber?
5 Erkenntnistheorie behandelt (die Kant selbst als „Meta-
physik“ bezeichnet). Auch Wissenschaftstheorie und Lo- 12. Ist der Mensch auf Erziehung angewiesen?
gik können viel zur Beantwortung dieser Frage beitragen. 13. Muss man Vorschriften und Befehle immer befolgen?
Mit der Frage „Was soll ich tun?“ ist die Ethik oder
14. Ist der Mensch die Krone der Schöpfung?
Moralphilosophie angesprochen. Sie befasst sich mit
10 Normen des menschlichen Handelns. 15. Dürfen wir alles tun, was technisch machbar ist?
Die Hoffnung, von der in der dritten Frage die Rede
16. Wie verhalten sich Geist und Gehirn
ist, bezieht sich auf den Glauben an ein Ziel oder zueinander?
einen Zweck des menschlichen Daseins. So fragt die

15
Geschichtsphilosophie, ob es eine zielgerichtete Ent-
wicklung in der Geschichte gibt, so dass sich künftige 1  Beschreiben Sie, wie Rodin und Lüpertz das
A
Entwicklungen voraussagen lassen. Und in der Reli- (Nach-)Denken in ihren Skulpturen darstellen,
und formulieren Sie je ein Beispiel für eine
gionsphilosophie und der rationalen Theologie wird
mögliche Frage, über die der Denker bzw. die
z. B. darüber nachgedacht, ob wir auf ein Weiterleben Philosophin sich gerade Gedanken machen
nach dem Tode hoffen können oder ob sich die Exis- könnte. > M1
20 tenz Gottes beweisen lässt. 2  Setzen Sie Ihre Ergebnisse aus Aufgabe 1 in
Die Frage „Was ist der Mensch?“ ist die Kernfrage der Bezug zu den Bestimmungen der Philosophie:
Anthropologie, kann aber darüber hinaus auch als Inwiefern sehen Sie Entsprechungen? > M2
Grundfrage der Philosophie überhaupt angesehen 3  Finden Sie weitere Beispiele für grundsätzliche
werden. Die Theorien darüber, was ein Mensch wis- Fragen, die sich aus alltäglichen bzw. wissen-
schaftlichen Fragen ergeben. > M3
25 sen kann, was er tun soll und hoffen darf, beruhen ja
4  Erklären Sie, inwiefern Ethik nach Kant ein Teil-
immer auf einem bestimmten Bild, das wir von uns
gebiet der Philosophie ist und Anthropologie
selbst als Menschen haben, ob wir den Menschen bei- für Ethik eine besondere Bedeutung hat. > M4
spielsweise als triebgesteuertes, durch die Natur fest- 5 Ordnen Sie die in M6 aufgeführten Fragen den
gelegtes oder als freies und vernünftiges Wesen anse- Leitfragen Kants (M4) zu und finden Sie wei-
30 hen. Autorenbeitrag tere Beispiele. > M4-M6
20 GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK

Wissen kompakt
Moral
bezieht sich auf singuläre Handlungen

Prinzipien Werte Normen/Regeln


Grundsätze zur Abwägung Vorstellungen von dem, Ge-/Verbote, die der Reali-
von Werten was (an sich) gut ist sierung von Werten dienen

Ethik
Nachdenken über Moral,
hat Moral zum Gegenstand

Deskriptive Ethik Normative Ethik


Beschreibung moralischer Sachverhalte Begründung von Werten und Normen
in der Gesellschaft des Handelns

Metaethik
Reflexion der Grundlagen der Ethik,
Bestimmung ethischer Grundbegriffe,
Untersuchung, wie ethische Urteile
begründet werden können

GRUNDLAGEN PHILOSOPHISCHER ETHIK 21

Philosophie:
Grundsätzliches Fragen

Die vier kantischen Fragen:


1. Was kann ich wissen?
(Erkenntnistheorie,
Wissenschaftstheorie)

2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?


(Ethik) (Geschichtsphilosophie,
Religionsphilosophie)

Grundlage:
4. Was ist der Mensch?
(Anthropologie)

Tatsachenurteil Werturteil
Urteil über etwas, das ist Urteil über etwas, das sein soll

„Naturalistischer Fehlschluss“
fehlerhafte Schlussfolgerung
vom bloßen Sein auf ein Sollen

Praktischer Syllogismus
Schlussfolgerung aus einer normativen
und einer deskriptiven Prämisse
Wie hat sich Entwicklung
vom Tier zum Menschen
vollzogen?

Funktionieren Menschen
wie Maschinen?

Kann der Mensch frei


entscheiden und handeln?

Kann man Intelligenz


künstlich herstellen?

Lässt sich das Gehirn des


Menschen optimieren?

Erweitert die Digitalisierung


unseren Freiheitsspielraum
oder bedroht sie unsere
Freiheit?
FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS
DES MENSCHEN

FREIHEIT UND NATURALISMUS

DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

FREIHEIT UND DIGITALE WELT

1 Beschreiben Sie die Abbildungen und formulieren Sie davon ausgehend Ihre Assozia-
A
tionen und Gedanken zum Wesen des Menschen.
2 Finden Sie erste Antworten auf die sechs Fragen.
FREIHEIT UND NATURALISMUS

(Un)frei(willig)?

M1 In Gefangenschaft dem Mann mit der Maske nicht. Wenn es nach dem
Kassierer ginge, bekäme er keinen Pfennig. Trotz-
dem händigt er ihm jetzt das ganze Geld aus. Was ist
geschehen?
„Er tut es gegen seinen Willen“, sagen wir in solchen 15

Fällen manchmal. Diese Wendung darf man indessen


nicht missverstehen. […] Niemand kann etwas gegen
seinen […] Willen tun, denn jedes Tun ist Ausdruck
eines Willens. […] Was die fragliche Redeweise be-
deuten muss, ist dieses: Er tut etwas, was er eigentlich 20

nicht will, was seinem eigentlichen Willen zuwider-


läuft. Zwar will er es, aber er will es nur gezwunge-
Wegen seiner Aktivitäten gegen die Apartheidspolitik in seiner nermaßen. […]
Heimat wurde der spätere südafrikanische Präsident Nelson
Mandela 1963 inhaftiert und verbrachte 27 Jahre in Gefangen-
Obwohl er im Prinzip zwischen zwei Dingen entschei-
schaft. Sein Wille wurde dadurch jedoch nicht gebrochen und den konnte und also die Wahl hatte, war das eine – der 25
sein Traum der Gleichberechtigung nicht zerstört: Tod – etwas, für das er sich nicht wirklich entschei-
„Nur mein Fleisch und meine Gebeine sind hinter den konnte, denn er ist ein derart großes Übel, dass
hohen Mauern eingeschlossen. […] In meinen Gedan- er es unmöglich wollen konnte. Deshalb blieb ihm
ken bin ich frei wie ein Falke.“ „Es gibt nur wenige nichts anderes übrig, als die Forderung des Bankräu-
Unglücksfälle auf dieser Welt, die sich nicht in einen bers erfüllen zu wollen. […] So ist es bei jeder Erpres- 30

persönlichen Triumph verwandeln lassen, wenn [S]ie sung. Der Erpresser erzwingt in mir einen Willen, den
den nötigen eisernen Willen […] besitzen.“ ich ohne seine Drohung nicht hätte.
Meine Waffe ist das Wort (2011)
Unter Hypnose
M2 Peter Bieri: Nehmen wir an, man hat Sie hypnotisiert und Ihnen
Frei oder unfrei? – Drei Fallbeispiele auf diesem Wege einen Willen eingepflanzt, den man 35

Der Schweizer Philosoph und durch ein Codewort abrufen und aktivieren kann.
Schriftsteller Peter Bieri (*1944) Wenn man Sie anruft und das Codewort sagt, lassen
lehrte bis zu seiner Emeritierung
Sie alles liegen, fahren los und sprengen das Rat-
2007 an der Freien Universität Berlin.
haus in die Luft. Anders als vorhin sind jetzt andere
Der erpresste Wille im Spiel, etwa Terroristen. Sie sind deren Marionette, 40

Betrachten wir [ein] […] klassi- man benützt Sie als ein Werkzeug, Sie funktionieren
sche[s] Beispiel […]: die Dro- wie ein ferngelenktes Spielzeugauto, mit dem man
hung mit der Waffe. Der Kassierer in der Bank wird eine Bombe platziert. Deshalb kann es scheinen, als
5 mit vorgehaltener Pistole gezwungen, das Geld he- bestünde Ihre offenkundige Unfreiheit und Verskla-
rauszugeben. Er ist bei klarem Verstand und ins- vung hauptsächlich darin, dass es da Drahtzieher 45

gesamt ein besonnener Mann. Er leidet nicht unter gibt, die Ihnen, ohne dass Sie sich wehren konnten,
dem bizarren inneren Zwang, Leuten Geld hinterher- einen Willen aufgezwungen haben. Doch dieser Ein-
zuwerfen. Wenn er Geld aushändigt, dann nur aus druck trügt. Es ist oft so, dass andere an unserer Wil-
10 den üblichen Gründen. Solche Gründe gibt es bei lensbildung beteiligt sind, ohne dass wir uns deshalb
FREIHEIT UND NATURALISMUS 25

50 unfrei vorkommen. Worauf es ankommt, ist, wie sie weiter, oder: „Für Sie bestand, wie für jeden anderen,
Einfluss darauf nehmen, was wir wollen. Wenn ihr die Möglichkeit, einen Bogen um das Casino zu ma-
Einfluss uns unfrei macht, dann deshalb, weil wir, chen.“ Wieder denken Sie: Das stimmt, und es stimmt 95

wie im Fall der Hypnose, in unserem Nachdenken nicht. Aber wie sollen Sie erklären, dass es so einfach
übergangen werden. Was der Hypnotiseur ausschal- nicht ist? Das Handwerk der Freiheit (2001)
55 tet, ist unsere Fähigkeit zu überlegen und den Willen
in Übereinstimmung mit unseren Schlussfolgerungen M3 Aristoteles:
zu bilden. Was er uns wegnimmt, ist der kritische Ab- Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit
stand zu uns selbst, der die Freiheit der Entscheidung Für den griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.)
ausmacht. Wenn die Trance vorbei ist, haben wir ist die Freiwilligkeit die Grundlage der Ethik.
60 diesen Abstand zurückgewonnen. […] Nach der Tat Lob und Tadel [gibt es] nur bei dem […], was freiwil-
gewinnen wir die Freiheit der Entscheidung zurück lig geschieht, während das Unfreiwillige Nachsicht
und sind entsetzt, zum einen über die Tat selbst, zum und manchmal auch Mitgefühl findet […].
anderen über die Unfreiheit, die uns befallen hatte Als unfreiwillig gilt, was unter Zwang oder aus Un-
wie eine Lähmung. wissenheit geschieht. Gewaltsam ist ein Vorgang, 5

dessen bewegendes Prinzip von außen her eingreift,


65 Der Sucht verfallen und zwar so, dass bei seinem Einwirken die han-
Nehmen Sie an, Sie sind einer Sucht verfallen. Stets delnde oder die erleidende Person in keiner Weise
von neuem greifen Sie zur Zigarette, Tablette oder mitwirkt: wenn z. B. jemand durch einen Sturmwind
Flasche. Vielleicht ist es auch eine Spielsucht, die Sie irgendwohin entführt wird, oder durch Menschen, in 10

immer wieder ins Casino treibt. […] Oft schon war deren Gewalt er sich befindet.
70 Ihnen danach, endlich aufzuhören. Sie haben sich Taten aber, die aus Angst vor noch größerem Unheil
ausgemalt, wohin es auf die Dauer führen würde: oder für ein edles Ziel ausgeführt werden — wenn z. B.
zu Krankheit, Ruin oder sogar Tod. Auch kennen Sie ein Tyrann jemandem ein Verbrechen zu tun be-
andere, denen Ihre Sucht fremd ist oder die sie los- fiehlt, dessen Eltern und Kinder er in seiner Gewalt 15

geworden sind. Sie wissen also um andere Möglich- hat, und wenn diesen im Falle der Ausführung der
75 keiten des Tuns und Wollens. Und man hat Ihnen Tat das Leben geschenkt, sonst aber verwirkt wäre –
gesagt, was man tun kann, um sich aus dem Griff lassen die Streitfrage entstehen, ob sie freiwillig oder
des zerstörerischen Willens zu befreien. Doch es hat freiwillig sind. […]
nichts genützt. Sie haben sich all das vor Augen ge- [I]mmer da, wo das bewegende Prinzip im Menschen 20

halten, Sie haben es sich tausendmal vorgesagt und liegt, steht es auch in der Macht des Menschen, zu
80 mögen es sogar aufgeschrieben haben, um sich besser handeln oder nicht zu handeln. So ist denn dieses
daran festhalten zu können: Bei nächster Gelegenheit Handeln freiwillig. Nikomachische Ethik (350 v. Chr.)
haben Sie wieder Jetons oder Schnaps gekauft. Sie
sind unfrei, ein Sklave Ihrer Sucht.
Schließlich enden Sie im Krankenhaus oder Armen- 1  Erläutern Sie, inwiefern man in Gefangenschaft
A
85 haus. „Bedauerlich“, sagt man zu Ihnen, „aber Sie unfrei ist und welche Freiheiten einem noch
wollten es ja so.“ Sie spüren, dass das irgendwie bleiben. > M1
stimmt und doch auch wieder nicht. Sie möchten 2  Diskutieren Sie Peter Bieris Sicht auf die Er-
pressung, die Hypnose und das Suchtverhalten.
sich verteidigen, wissen aber nicht wie, denn es ist ja
> M2
richtig: Sie wollten trinken, und Sie wollten spielen,
3 Wenden Sie Aristoteles‘ Unterscheidung von
90 Sie wollten es immer wieder, ein halbes Leben lang. freiwilligem und unfreiwilligem Handeln auf
Deshalb nicken Sie jetzt kleinlaut. „Schließlich wird die Fallbeispiele in M2 an und nehmen Sie
niemand zum Trinken gezwungen“, sagt man Ihnen Stellung zu seiner Auffassung. > M3/M2
26 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Frei von etwas und zu etwas sein

M1 Isaiah Berlin: Negative und positive Freiheit streckt sich jedoch nicht auf alle Formen von Un- 35

Isaiah Berlin (1909–1997) war ein rus- vermögen oder Nicht-tun-können. Wenn ich nicht
sisch-britischer Philosoph. Bei seiner höher als zwei Meter springen kann, wenn ich nicht
Antrittsvorlesung an der Universität Ox-
lesen kann, weil ich blind bin, wenn ich die dunklen
ford traf er 1955 eine wegweisende Un-
terscheidung zweier Freiheitsbegriffe. Stellen bei Hegel nicht verstehe, wäre es abwegig,
zu behaupten, ich sei insofern versklavt oder unter- 40

Einen Menschen zwingen heißt läge einem Zwang. Zwang setzt einen willentlichen
ihn seiner Freiheit berauben — Eingriff anderer Menschen in den Bereich voraus, in
seiner Freiheit in Bezug auf was oder von was? […] dem ich sonst handeln könnte. Politische Unfreiheit
Ich möchte hier nun weder die Geschichte dieses […] herrscht nur dort, wo man von Menschen daran ge-
5 Wortes noch jene mehr als zweihundert Bedeutungen hindert wird, ein Ziel zu erreichen. Bloßes Unvermö- 45

erörtern, die die Ideenhistoriker gesammelt haben. gen, ein Ziel zu erreichen, ist nicht politische Unfrei-
Ich möchte nur zwei dieser Bedeutungen untersuchen heit. […]
— aber eben jene beiden zentralen, die viel Mensch- Freisein in diesem Sinne bedeutet für mich, dass ich
heitsgeschichte hinter sich und, wie ich behaupten von anderen nicht behelligt oder gestört werde. Je
10 möchte, auch noch vor sich haben. Um die erste die- größer der Bereich der Ungestörtheit, desto größer 50

ser politischen Bedeutungen des Begriffs „Freiheit“ meine Freiheit. […] Die Verteidigung der Freiheit
(freedom und liberty verwende ich hier gleichbedeu- widmet sich dem „negativen“ Ziel, Einmischung ab-
tend), um die „negative“ Freiheit, wie ich sie nennen zuwehren. Einem Menschen mit Verfolgung drohen,
möchte, geht es in der Antwort auf die Frage: „In wenn er sich nicht einem Dasein unterwirft, in dem
15 welchem Bereich muss (oder soll) man das Subjekt ihm jede Wahl verwehrt ist; ihm alle Türen bis auf 55

– einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen – eine versperren, mag die Aussicht, die sich hinter
sein und tun lassen, wozu es imstande ist, ohne dass dieser Tür bietet, auch noch so herrlich sein, mögen
sich andere Menschen einmischen?“ Um die zweite die Motive derer, die dies arrangieren, noch so wohl-
Bedeutung – ich möchte sie die „positive“ Freiheit tätig sein — heißt gegen die Wahrheit sündigen, dass
20 nennen – geht es in der Antwort auf die Frage: „Von er ein Mensch ist, ein Wesen, das sein eigenes Leben 60

was oder von wem geht die Kontrolle oder die Einmi- zu leben hat. […]
schung aus, die jemanden dazu bringen kann, dieses Die „positive“ Bedeutung des Wortes „Freiheit“ leitet
zu tun oder zu sein und nicht jenes andere?“ […] sich aus dem Wunsch des Individuums ab, sein eige-
Gewöhnlich sagt man, ich sei in dem Maße frei, wie ner Herr zu sein. Ich will, dass mein Leben und mei-
25 niemand in mein Handeln eingreift, kein Mensch und ne Entscheidungen von mir abhängen und nicht von 65

keine Gruppe von Menschen. Politische Freiheit in irgendwelchen äußeren Mächten. Ich will das Werk-
diesem Sinne bezeichnet den Bereich, in dem sich ein zeug meiner eigenen, nicht fremder Willensakte sein.
Mensch ungehindert durch andere betätigen kann. Ich will Subjekt, nicht Objekt sein; will von Grün-
Wenn andere mich daran hindern, etwas zu tun, das den, von bewussten Absichten, die zu mir gehören,
30 ich sonst tun könnte, bin ich insofern unfrei; und bewegt werden, nicht von Ursachen, die gleichsam 70

wenn andere diesen Bereich über ein bestimmtes von außen auf mich einwirken. Ich will jemand sein,
Mindestmaß hinaus einengen, kann man von mir nicht niemand; ein Handelnder — einer, der Entschei-
sagen, ich unterläge einem Zwang, oder vielleicht dungen trifft, nicht einer, über den entschieden wird,
auch, ich sei „versklavt“. Der Ausdruck „Zwang“ er- ich will selbstbestimmt sein, nicht Gegenstand des
FREIHEIT UND NATURALISMUS 27

80 Wirkens der äußeren Natur oder anderer Menschen, All diese verschiedenen Einschränkungen meiner
als wäre ich ein Ding oder ein Tier oder ein Sklave, Freiheit auf einen Nenner zu bringen, ist ziemlich 25

der unfähig ist, die Rolle eines Menschen zu spielen, schwer. Haben sie überhaupt irgendetwas miteinan-
also eigene Ziele und Strategien ins Auge zu fassen der zu tun? […] [Der englische Philosoph Ian Carter
und zu verwirklichen. All dies meine ich zumindest stellt] zwei solche Arten von Einschränkungen ei-
85 auch, wenn ich sage, dass ich vernunftbegabt bin und nander gegenüber […]. In seinem Beispiel fährt ein
dass ich mich durch meinen Verstand als menschli- starker Raucher auf eine Kreuzung zu, an der er sich 30

ches Wesen von der übrigen Welt unterscheide. Vor völlig uneingeschränkt entscheiden kann, ob er nach
allem möchte ich meiner selbst als eines denkenden, rechts oder links abbiegen möchte. Links geht es zum
wollenden, aktiven Wesens bewusst sein, möchte Bahnhof, wo er einen Zug zu einem wichtigen Ter-
90 verantwortlich für meine Entscheidungen sein und min erreichen möchte; rechts befindet sich ein Taba-
sie aus meinen eigenen Ideen und Absichten erklären kladen, der bald schließt. Er biegt nach rechts ab, um 35

können. Ich fühle mich in dem Maße frei, wie ich Zigaretten zu kaufen, um seine Sucht zu befriedigen,
glaube, alles dies sei so, und in dem Maße versklavt, obwohl er weiß, dass er dadurch seinen Zug und sei-
wie ich mir klarmachen muss, dass es nicht so ist. nen Termin verpassen wird, was er eigentlich nicht
Zwei Freiheitsbegriffe (1958) möchte. Wie frei ist dieser Mensch?
Hier kommt eine Unterscheidung ins Spiel, die der 40
H M2 Matthias Warkus: Philosoph Isaiah Berlin […] populär machte: jene
Unterschiedliche Freiheitseinschränkungen zwischen positiver und negativer Freiheit. Negative
Matthias Warkus (*1981) lehrt Philosophie an den Universitäten Freiheit ist Freiheit von äußeren Einschränkungen;
Jena und Weimar und ist auch als Publizist tätig. positive Freiheit ist die Freiheit, über sich selbst zu
Was heißt überhaupt Freiheit? Ganz naiv könnte man bestimmen. Der Raucher in Carters Beispiel ist hin- 45

vielleicht sagen: Frei ist, wer jederzeit tun kann, was sichtlich seiner Entscheidung an der Kreuzung ne-
er will. […] Davon, zu tun, was wir wollen, können gativ völlig frei, da ihn keine äußere Einwirkung
uns nun äußere Einflüsse abhalten. Es gibt Regeln zwingt, rechts abzubiegen. Positiv ist er jedoch alles
5 unterschiedlicher Verbindlichkeit, die mit einem andere als frei: Er tut etwas, was ihn anwidert, und
unterschiedlichen Maß an Macht durchgesetzt wer- unterlässt dafür etwas, was er eigentlich sehr gerne 50

den, Verbotsgesetze etwa. Auch wenn ich es gerne tun möchte.


möchte: Ich darf innerorts nicht mit 160 Stundenki- […] Positive Freiheit soll immer Selbst-Gesetzgebung
lometern im Auto durch die Gegend rasen, ich darf des Individuums bleiben; die Fähigkeit, darüber zu
10 niemanden töten und ich darf keine Steuern hinter- entscheiden, was er wirklich will, soll dem einzelnen
ziehen. Wie stark meine Freiheit dadurch praktisch Menschen nie ganz abgesprochen werden. 55

eingeschränkt ist, hängt davon ab, wie diese Regeln Warkus‘ Welt (2018)
gegenüber meiner Person durchgesetzt werden und

15
welche Einstellung ich zu ihnen habe.
Dann gibt es natürlich auch Umstände, die keine Re- 1  Erläutern Sie, worin nach Isaiah Berlin der
A
geln sind, mich aber gegebenenfalls effektiv davon Unterschied zwischen negativer und positiver
abhalten, zu tun, was ich will: Wenn ich Plattfüße Freiheit besteht, und fertigen Sie ein Schaubild
dazu an. > M1
habe, kann ich tendenziell nicht sonderlich hoch
2  Erläutern Sie Berlins Unterscheidung von ne-
springen; wenn ich wenig Geld habe, kann ich nicht
gativer und positiver Freiheit anhand der Bei-
20 viermal im Jahr in den Urlaub fliegen. Wenn die Mie- spiele aus Matthias Warkus‘ Text. > M2
ten in der Nähe meiner Arbeitsstätte exorbitant sind, 3 Diskutieren Sie anhand von Beispielen aus Ih-
kann ich dort nicht wohnen, sondern muss pendeln. rem Lebensumfeld, inwiefern beide Arten von
[…] Freiheit wichtig sind. > M1/M2
28 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Handlungs- und Willensfreiheit


MET HO D ENKO M P E TE N Z : Zentrale Begriffe der Ethik bestimmen
In einem ethischen Diskurs ist begriffliche Klarheit unerlässlich, um Missverständnisse zu vermei-
den. Gerade bei vielschichtigen Bedeutungsebenen eines Begriffs sollte immer eine genaue Definiti-
on zugrunde gelegt werden. Es bieten sich v. a. zwei Verfahren an (vgl. Abenteuer Ethik 2, S. 56-57):
1. Begriffsklassifikation
• Bestimmen und erläutern Sie den zum Begriff gehörigen Oberbegriff.
• Bestimmen Sie die spezifische Differenz, d. h. das, was den Begriff von anderen Begriffen,
die der Oberbegriff umfasst, unterscheidet.
• Erläutern Sie diese Bestimmung durch Beispiele.
2. Abgrenzung von anderen (verwandten/entgegengesetzten) Begriffen:
• Benennen, bestimmen und erläutern Sie den Abgrenzungsbegriff, der wegen seiner Nähe
oder Gegensätzlichkeit zu dem zu bestimmenden Begriff zur Unterscheidung dienen kann.
• Erklären Sie in einer Gegenüberstellung, was in Abgrenzung dazu (Gegensätzlichkeit, andere
Bedeutungsnuance, etc.) die Besonderheit des zu bestimmenden Begriffs ausmacht.
• Erläutern Sie diese Bestimmung durch Beispiele.

M1 Fernando Savater: Was Freiheit bedeutet


Fernando Savater (*1947) ist Professor für Philosophie an der Universität Madrid.
Der Begriff Freiheit wird […] in […] unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, die in
der Erörterung des Themas häufig durcheinandergeraten. Es ist daher ratsam, sie so
weit wie möglich zu unterscheiden.
a) Die Freiheit als Fähigkeit, gemäß den eigenen Wünschen und Plänen zu handeln.
5 Dies ist die gebräuchlichste Bedeutung des Wortes, auf die wir uns am häufigsten be-
ziehen, wenn das Thema im Gespräch auftaucht. Es bezieht sich auf Situationen, in de-
nen physische, psychologische oder rechtliche Hindernisse fehlen, die unseren Willen
beschränken könnten. Nach diesem Verständnis ist derjenige frei – sich zu bewegen, zu
gehen oder zu kommen –, der nicht gefesselt oder eingesperrt ist, bedroht oder gefoltert
10 wird oder unter Drogeneinfluss steht.
Darüber hinaus ist in diesem Sinne frei – am öffentlichen Leben teilzunehmen, sich
um öffentliche Ämter zu bewerben –, wer nicht durch diskriminierende Gesetze an den
Rand gedrängt oder ausgeschlossen ist, wer nicht in furchtbarem Elend oder völliger
Unwissenheit lebt und so weiter. Meiner Auffassung nach umfasst diese Definition von
15 Freiheit nicht nur die Möglichkeit, das Gewollte anzustreben, sondern auch eine gewis-
se Chance, es zu erreichen. Wenn es überhaupt keine Erfolgsaussicht gibt, würden wir
auch nicht sagen, dass es Freiheit gibt: Vor dem Unmöglichen ist niemand wirklich frei.
b) Die Freiheit zu wollen, was ich will – noch vor jeglichem Versuch, das Gewollte wirk-
lich zu erreichen. […] So stramm gefesselt oder sicher eingesperrt ich auch sein mag,
20 niemand kann mich daran hindern, eine Reise machen zu wollen – man kann mich
lediglich daran hindern, sie tatsächlich anzutreten. Wenn ich nicht will, kann mich nie-
mand zwingen, meinen Folterer zu hassen oder die verordneten Meinungen zu glauben,
die er mir mit Gewalt aufnötigen will. Mein Wollen ist frei, auch wenn die Umstände
die Möglichkeit seiner Ausführung vereiteln. […] Ein Beispiel dafür unter Tausenden
FREIHEIT UND NATURALISMUS 29

25 bot der Stoiker Cato der Jüngere im alten Rom, als er die Rebellion der Republikaner gegen
Cäsar unterstützte. Nachdem die Rebellen besiegt waren, sagte Cato […], die Sache der Besiegten
habe zwar den Göttern missfallen, ihm selbst jedoch gefallen. Die Götter – die Notwendigkeit,
die Geschichte, das Unvermeidliche – können die Pläne des Menschen vereiteln. Doch sie kön-
nen nicht verhindern, dass er diese Pläne hat und keine anderen. Die Fragen des Lebens (1999)

M2 Bestimmung des Begriffs Handlungsfreiheit durch Begriffsklassifikation:


Handlungsfreiheit ist nicht mit Freiheit schlechthin gleichzusetzen, sondern stellt – neben Wil-
Oberbegriff:
lensfreiheit, Wahlfreiheit usw. – eine spezifische Form von Freiheit dar. Mit dem Oberbegriff Freiheit
Freiheit bezeichnet man einen Zustand, in dem jemand nicht durch irgendwelche Bedingungen
oder Zwänge eingeschränkt wird, also unabhängig ist.
5 Bei der Handlungsfreiheit bezieht sich diese Unabhängigkeit speziell auf das Handeln des Men- Spezifische
schen. Jemand ist in diesem Sinne frei, wenn er seine Pläne und Absichten verwirklichen kann, Differenz von
Handlungs-
d. h., wenn er das, was er will, auch ausführen kann, ohne dass er durch äußere Einschränkun- freiheit
gen daran gehindert wird.
Über Handlungsfreiheit verfügt jemand z. B. dann, wenn er seinen Willen, eine Urlaubsreise an-
10 zutreten, ungehindert in die Tat umsetzen kann. Unfrei ist er dann, wenn er durch behördliche Beispiel
Reisebeschränkungen im Zuge einer Pandemie, daran gehindert wird, in den Urlaub zu fahren.

M3 Bestimmung des Begriffs Willensfreiheit durch Abgrenzung


Der Begriff Willensfreiheit kann von dem der Handlungsfreiheit abgegrenzt werden.
Jemand besitzt Handlungsfreiheit, wenn er tun und lassen kann, was er will. D. h. er ist in Abgrenzungs-
begriff: Hand-
seinem Handeln frei und wird nicht daran gehindert, seinen Willen, etwa sich ein neues Smart-
lungsfreiheit
phone zu kaufen oder seine Meinung zu einem bestimmten politischen Ereignis zu posten, in
5 die Tat umzusetzen.
Der Begriff Willensfreiheit bezieht sich dagegen auf den Willen, der einer Handlung zugrun-
deliegt. Die Frage ist nicht, ob ich meinen Willen ungehindert verwirklichen kann, sondern ob Gegenüber-
stellung von
der Wille selbst frei zustande kommt. Unter Willensfreiheit versteht man die Freiheit zu wollen,
Willensfreiheit
was man will – noch vor jedem Versuch, das Gewollte wirklich zu erreichen. Ein Wille ist dann
10 frei, wenn durch nichts bedingt ist.
Bedingt wäre z. B. ein Wille, wenn er auf einer Sucht (etwa Drogensucht) beruht oder auf psy-
chischen Zwängen, z. B. einer Neurose. Wenn derartige determinierende Faktoren nicht vorlie-
Beispiel
gen, ist der Wille frei, selbst wenn das dem Willen entsprechende Handeln nicht möglich sein
sollte. So konnte man zwar z. B. Nelson Mandela ins Gefängnis sperren, doch seine Ablehnung
15 der Apartheid dadurch nicht ändern.

M4 Anwendung: Bestimmung weiterer Freiheitsbegriffe


• Freiwilligkeit (vgl. S. 25, M3) • Positive Freiheit (vgl. S. 26, M1) ANWENDUNG
• Wahlfreiheit (vgl. S. 38, M1) • Selbstbestimmung (vgl. S. 40f., M2)

1 Vollziehen Sie nach, wie die Begriffe Handlungsfreiheit und Willensfreiheit durch Begriffs-
A
klassifikation bzw. Abgrenzung bestimmt werden. > M1-M3
2 Bestimmen Sie die Begriffe, indem Sie eines der vorgeschlagenen Verfahren anwenden. > M4
30 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Wenn die Handlungsfreiheit eingeschränkt wird –


Beispiel: Corona-Pandemie

M1 Demonstration mit Distanz jedes Jahr täglich zum Beispiel in Deutschland ca.
Nachdem einige Städte Demonstrationen wegen der Corona- 2.600 Menschen versterben. In Italien sind dies ca.
Regeln verboten hatten, entschied das Bundesverfassungsge- 1.700 Menschen täglich. Aus den dieser Tage veröf- 20
richt am 15.04.2020, dass das Grundrecht auf Versammlungs-
fentlichten Zahlen ist kein signifikanter Anstieg zu
freiheit nicht eingeschränkt werden darf, wenn der Mindest-
abstand von 1,5 Metern zwischen den Teilnehmenden eingehal- erkennen.
ten wird. Angesichts dessen sind die angeordneten Maßnah-
men unverhältnismäßig, insbesondere da sie die ge-
samte Bevölkerung dafür in Haft nehmen, obwohl 25

das Virus für mindestens 95% der Bevölkerung un-


gefährlich ist. Massive Grundrechtsverletzungen, wie
die Einschränkungen des Persönlichkeitsrechts, der
Wegfall der Versammlungsfreiheit, das Verbot unge-
hinderter Berufsausübung oder die Beschneidungen 30

Demonstration für Freiheitsrechte auf dem


der Religionsausübung, werden rechtsstaatswidrig als
Marienplatz in München am 17.04.2020 alternativlose Gegenmaßnahmen vermittelt. […] Ei-
genverantwortliches Handeln wird uns mündigen
M2 Unverhältnismäßige Bürgern abgesprochen. […]
Freiheitseinschränkungen Wir fordern: 35

Der Zittauer Videoproduzent Steffen Golembiewski und 23 wei- - Eine vernünftige Risikobewertung und daran aus-
tere Bürgerinnen und Bürger haben am 06.04.2020 eine Erklä- gerichtet verhältnismäßige Schutzmaßnahmen.
rung zum Umgang mit dem Corona-Virus veröffentlicht.
- Sofortige Wiedereinführung aller Bürgerrechte.
Wir protestieren gegen die massiven, unverhältnis- - Sofortige Wiederaufnahme des Wirtschaftsbetrie-
mäßigen Grundrechtsverletzungen durch Einschrän- bes! Facebook 06.04.2020 40

kung unserer persönlichen Freiheit und die unab-


sehbaren Folgen für unsere wirtschaftliche und damit M3 Juli Zeh: Grundrechte sind kein Luxus
5 existentielle Basis. nur für gute Zeiten
Die Aussetzung der Bürgerrechte wird mit einer frag- Die Juristin Juli Zeh (*1974) ist Verfassungsrichterin des Landes
lichen und einseitigen Risikobewertung der Corona- Brandenburg und Schriftstellerin.
Gefahr begründet. Wir sollen die wissenschaftlich Heute zeigen sich laut „Politbarometer“ knapp 90
nicht erwiesene Annahme hinnehmen, das Virus sei Prozent der Deutschen mit Maßnahmen einverstan-
10 gefährlicher als jede bisher bekannte „normale“ Grippe. den, die aufgrund der Ausbreitung von Covid-19
Unsere Auffassung: Mithilfe in falsche Zusammen- große Teile ihrer Grundfreiheiten quasi auf null set-
hänge gebrachter Zahlen und Statistiken werden die zen. Binnen weniger Wochen wurden Schulen und 5

Menschen massiv in Angst und Panik versetzt. Es Kitas geschlossen, Ausgangssperren und Arbeits-
wird zum Beispiel nicht unterschieden, ob ein Patient verbote erlassen, Gottesdienste unterbunden, Reise-
15 „an Corona“ oder „mit Corona“ verstorben ist, ob- und Versammlungsfreiheit abgeschafft. Die Telekom
wohl dies für eine seriöse Bewertung elementar wäre. übermittelt Handy-Daten ans Robert Koch-Institut,
Wir wissen aus öffentlich zugänglichen Quellen, dass um „Bewegungsströme“ zu analysieren. […] Es ist 10
FREIHEIT UND NATURALISMUS 31

von Krieg, Notstand und „Ermächtigung“ die Rede. das „mildest mögliche Mittel“ darstellen. Es gibt kein 55

Die Liste der betroffenen Grundgesetzartikel ist un- Recht des Staates darauf, so viel wie möglich zu tun
glaublich lang. […] und alles Denkbare auszuprobieren, in der Hoff-
Natürlich ist es notwendig und richtig, etwas ge- nung, irgendetwas davon möge zum Erfolg führen.
15 gen die Ausbreitung von Covid-19 zu unternehmen. Auch in Krisenzeiten gilt nicht „Viel hilft viel“, son-
Nicht notwendig oder richtig ist die Behauptung, es dern „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“. […] 60

müsse „alles getan“ werden, weil im „Krieg gegen das Die Aufgabe von demokratischer Politik […] [be-
Virus“ alles erlaubt sei. Solche Äußerungen ignorie- steht] nicht darin, ein vermeintliches Optimum he-
ren die Existenz von Rechtsstaatlichkeit und Grund- rauszufinden, sondern Legitimität herzustellen. Die
20 rechtsschutz. […] Bürger haben ein Recht darauf zu hinterfragen, ob
Das Coronavirus steigert das Unbehagen an der zeit- allgemeine Kontaktverbote tatsächlich milder sind 65

genössischen Lebensform zu panischen Reflexen wie als zum Beispiel die sogenannte Umkehrisolation,
kein anderes Ereignis der vergangenen Jahrzehnte. bei der Risikogruppen gezielt geschützt werden. Oder
Angesichts der Pandemie verwandelt sich Politik zu- warum man uns verpflichtet, zu Hause zu bleiben,
25 nehmend in eine Form von Gefahrenabwehr. Dabei statt das Tragen von Mundschutz anzuordnen, um
heiligt der Zweck die Mittel und duldet keinen Wi- das öffentliche Leben fortsetzen zu können. Das sind 70

derspruch. Wer dem Streben nach Sicherheit die Idee keine pietätlosen Fragen, sondern notwendige Be-
von Freiheit entgegensetzen will, muss sich sagen standteile einer Abwägung, die unerlässlich ist, um
lassen, ihm seien die unzähligen potenziellen Opfer Grundrechtseingriffe im Rahmen der Verfassung zu
30 egal. Auf diese Weise entsteht ein giftiger Antagonis- legitimieren. […]
mus, der die demokratische Diskursfähigkeit zerstört: Demokratisches Handeln muss also stets berücksich- 75

Menschenrechte gegen Menschenleben. tigen, dass es entgegenstehende, schutzwürdige Inte-


Entweder wir verhindern schlimmes Leid oder wir ressen gibt. Wer dabei vergisst, dass ein allgemeines
halten uns an die freiheitliche Grundordnung. Dieser Lebensrisiko existiert, weshalb wir trotz aller Sehn-
35 Fundamentalirrtum betrachtet unser Grundgesetz als sucht nach Sicherheit niemals in der Lage sein wer-
Schönwetter-Papier, das Gültigkeit besitzen mag, so- den, Krankheiten, Unfälle oder Verbrechen endgül- 80

lange alles einigermaßen gut läuft. In Krisensituatio- tig zu verhindern, wird notorisch über das Ziel hin-
nen aber sollen andere Regeln gelten. Dann werden ausschießen. Focus Magazin Nr. 15 vom 04.04.2020
Grundrechte zu einem Luxus, den man sich „in Zeiten
wie diesen“ nicht mehr erlauben zu können glaubt.
A
40

Dabei ist das Grundgesetz in Wahrheit viel klüger


1  Erläutern Sie den Konflikt, der mit der Frage
als jede apokalyptische Rhetorik, die Menschenrech-
des Verbots bzw. der Erlaubnis von Demonstra-
te und Menschenleben als unvereinbar erscheinen tionen angesprochen ist. > M1
lässt. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit 2 Recherchieren Sie, welche Maßnahmen seit
45 als konkurrierende Wertekonzepte gehört zum Kern- Beginn der Corona-Pandemie 2020 in Deutsch-
geschäft unserer Verfassungswirklichkeit. Auch die land getroffen wurden, um die Ausbreitung des
Vermittlung zwischen allgemeinen und persönlichen Virus einzudämmen. Beurteilen Sie, inwiefern
Interessen ist alltägliche Daueraufgabe. Der Schlüs- dadurch gesetzlich garantierte Grundfreihei-
ten eingeschränkt wurden. > M1 H
sel zur Lösung heißt „Verhältnismäßigkeit“. Niemals,
3 Erarbeiten Sie Steffen Golembiewskis Argu-
50 auch nicht „in Zeiten wie diesen“, heiligt der Zweck mente gegen Freiheitseinschränkungen. > M2
sämtliche Mittel. 4 Analysieren Sie Juli Zehs Auffassung der Auf-
Eine freiheitsbeschränkende Maßnahme muss immer gabe demokratischer Politik und beurteilen Sie
geeignet sein, ihr Ziel überhaupt zu erreichen. Sie ihren Vorschlag zur Abwägung von Freiheit
muss außerdem erforderlich sein, das heißt, sie muss und Sicherheit. > M3
32 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Ist mein Wille wirklich frei?

M1 Arthur Schopenhauer: Handlungen unter wenn ich will! – Aber ich vermag nicht, es zu wollen;
Voraussetzung der Willensfreiheit weil die entgegengesetzten Motive zu viel Gewalt
Der deutsche Philosoph Arthur Scho- über mich haben, als dass ich es könnte. Hingegen, 35
penhauer (1788-1860) gewann mit sei- wenn ich einen anderen Charakter hätte, und zwar
ner Schrift Über die Freiheit des mensch-
in dem Maße, dass ich ein Heiliger wäre, dann würde
lichen Willens 1839 den Preis der
Königlich Norwegischen Societät der ich es wollen können; dann aber würde ich […] auch
Wissenschaften. nicht umhinkönnen, es zu wollen, würde es also tun
müssen. […] 40

[Wir] […] wollen […] uns einen Unter der Voraussetzung der Willensfreiheit wäre
Menschen denken, der, etwa auf der Gasse stehend, jede menschliche Handlung ein unerklärliches Wun-
zu sich sagte: „Es ist 6 Uhr abends, die Tagesarbeit ist der – eine Wirkung ohne Ursache.
beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841)
5 oder ich kann in den Klub gehn; ich kann auch auf
den Turm steigen, die Sonne untergehn zu sehn; ich M2 Wolfgang Prinz:
kann auch ins Theater gehn; ich kann auch diesen Wie Entscheidungen entstehen
oder aber jenen Freund besuchen; ja ich kann auch Wolfgang Prinz (*1942) war bis 2010
zum Tor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wie- Direktor des Max-Planck-Instituts für
Kognitions- und Neurowissenschaften
10 derkommen. Das alles steht allein bei mir, ich habe
in Leipzig. Im folgenden Interview er-
völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, klärt er die in der Hirnforschung vor-
sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner herrschende Auffassung zur Frage der
Frau.“ Das ist geradeso, als wenn das Wasser sprä- Willensfreiheit.

che: „Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! nämlich im Frage: Sie gehen von Ihrem For-
15 Meer und Sturm), ich kann reißend hinabeilen (ja! schungsbereich der Handlungssteuerung immer wie-
nämlich im Bette des Stroms), ich kann schäumend der auch in philosophische Bereiche, beschäftigen
und sprudelnd hinunterstürzen (ja! nämlich im Was- sich mit […] der Frage nach der Willensfreiheit. In
serfall), ich kann frei als Strahl in die Luft steigen diesem Zusammenhang haben Sie den Satz geprägt: 5

(ja! nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen,
20 gar verkochen und verschwinden (ja! bei 80° Wär- was wir tun.“ Was meinen Sie damit? […]
me); tue jedoch von dem allen jetzt nichts, sondern Wolfgang Prinz: Wir glauben, dass wir, wenn wir
bleibe freiwillig, ruhig und klar im spiegelnden Tei- handeln, uns erst entscheiden und dann tätig wer-
che.“ Wie das Wasser jenes alles nur dann kann, den. Ich als mentaler Akteur kommandiere meinen 10

wann die bestimmenden Ursachen zum einen oder physischen Körper: Ich tue, was ich will. Die Wis-
25 zum andern eintreten; ebenso kann jener Mensch, senschaft erklärt unser Handeln aber anders. [Einige
was er zu können wähnt, nicht anders als unter der Experimente der Hirnforschung deuten darauf hin,
selben Bedingung. Bis die Ursachen eintreten, ist es dass] eine Entscheidung früher im Gehirn als im Be-
ihm unmöglich: dann aber muss er es sogar wie das wusstsein einer Person statt[findet]. Das kann nur be- 15

Wasser, sobald es in die entsprechenden Umstände deuten, dass unser bewusster Willensimpuls so etwas
30 versetzt ist. […] wie ein Ratifizieren einer Entscheidung ist, die das
Ich kann […], wenn ich will, alles, was ich habe, den Gehirn schon getroffen hat: Ich will, was ich tue. […]
Armen geben und dadurch selbst einer werden – [Darüber hinaus ist] die Idee eines freien menschli-
FREIHEIT UND NATURALISMUS 33

20 chen Willens […] mit wissenschaftlichen Überlegun- aber nicht alle Ausgangsbedingungen. Aber niemand
gen prinzipiell nicht zu vereinbaren. Wissenschaft — zumindest niemand, der auch nur etwas von Wis-
geht davon aus, dass alles, was geschieht, seine Ursa- senschaft versteht — glaubt, dass der Weg des Steins
chen hat und dass man diese Ursachen finden kann. nicht berechnet werden könnte, wenn wir die tau-
Für mich ist unverständlich, dass jemand, der empiri- sendundeinen Faktoren, die betrachtet werden müs- 35

25 sche Wissenschaft betreibt, glauben kann, dass freies, sen, wenn der Weg des Steins bergabwärts berechnet
also nichtdeterminiertes Handeln denkbar ist. wird, kennen würden oder uns darum bemühten, sie
Hirnforschung und Willensfreiheit (2004) kennenzulernen.
Nun hat niemals irgendjemand behauptet, dass Steine
M3 John Hospers: frei sind oder einen freien Willen haben. Es ist aber 40

Der freie Wille – ein bloßer Aberglaube wohl behauptet worden, dass Menschen dies haben,
John Hospers (1908-2011) war Profes- und die Wissenschaft zeigt schrittweise, was diese
sor für Philosophie an der University of Behauptung ist – ein bloßer Aberglaube. Wir wissen
Southern California.
heute viel mehr als je zuvor über die Erbanlage und
Mit jedem Tag, der vergeht, kann Umweltbedingungen, die Gesetze des menschlichen 45

die Wissenschaft uns mehr sa- Verhaltens, all die Faktoren, die bewirken, dass die
gen über die Gründe von Din- Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten.
gen – über die determinierenden Der Mensch wird mehr und mehr dem Stein ähnlich.
5 Faktoren, die bewirken, dass etwas so geschieht, wie Er mag denken, er sei frei, aber dies ist ein Irrtum: Er
es geschieht. Dies schließt menschliche Handlungen ist nicht eine Spur freier als der Stein. Die Kräfte, die 50

ebenso ein wie Vorgänge in der physikalischen Welt: auf ihn wirken, sind komplexer und daher schwieri-
Wir wissen mehr als je zuvor über die Gründe dafür, ger zu entdecken als die, die auf den Stein wirken;
dass sich die Leute so verhalten, wie sie sich verhal- aber es ist hier wie dort ähnlich. Ob er weiß, was sie
10 ten. sind oder nicht, es gibt sie, und sie machen ihn un-
Zukünftige Ereignisse werden mehr und mehr vor- ausweichlich zu dem, was er ist, und bestimmen das, 55

hersagbar. Früher waren Sonnenfinsternisse nicht was er tut. Jeder, der die Gesetze und alle seine Um-
vorhersagbar, jetzt können wir ihr Auftreten 10000 stände zu jeder Zeit kennt, könnte alles vorhersagen,
Jahre im Voraus und bis auf die Zehntelsekunde was er in jeder zukünftigen Situation tun würde; er
15 vorhersagen. Früher konnte der Weg eines Projektils könnte, kurz gesagt, zeigen, wie jeder Moment des
nicht vorhergesagt werden; jetzt kann er mit einer menschlichen Lebens determiniert ist. 60

solchen Genauigkeit geplant werden, dass wir wis- An Introduction to Philosophical Analysis (1970)
sen, wie wir es anfangen müssen, damit es ein Ziel in
bestimmter Entfernung gerade im richtigen Moment
20 trifft.
Selbst wenn wir nicht genau wissen, was geschehen
wird, z. B. wie ein Stein den Berg hinabrollen wird,
1 E rläutern Sie Schopenhauers Auffassung, dass
A
so ist dies nicht deswegen so, weil der Weg des Steins
nicht vollständig bestimmt wäre durch die Kräfte, Handlungen unter der Voraussetzung der Wil-
lensfreiheit ein unerklärliches Wunder wären.
25 die auf ihn wirken, sondern deswegen, weil wir nicht > M1
jede dieser Kräfte kennen: wo genau der Stein diese
2 Diskutieren Sie die Auffassung von Wolfgang
Felsspalte trifft, ob die glatte Seite des Steins beim Prinz zur Frage der Determiniertheit menschli-
Herabrollen vom Berg auf den glatten Teil des Bo- chen Handelns. > M1
dens stößt, während dieses bestimmten Teils seiner 3 Rekonstruieren Sie Hospers Begründung dafür,
30 Reise abwärts und so weiter. Wir kennen die Gesetze, dass Willensfreiheit eine Illusion ist. > M3
34 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Willensfreiheit auf dem Prüfstand

M1 Ansgar Beckermann:
Die Experimente Benjamin Libets

Bereitschafts- Bewusstsein Bewegung


potential der Absicht
1 1 1

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Zu den empirischen Befunden, die in den Augen vie- Roth kommt in seinem Buch Fühlen, Denken, Handeln
ler Neurobiologen gegen die Möglichkeit von Wil- zu einem klaren Schluss: Die Experimente von Libet
lensfreiheit sprechen, gehören insbesondere die Re- […] zeigen, dass es keine Willensfreiheit gibt. War-
sultate der Experimente von Benjamin Libet […]. Der um? […] Die zeitliche Reihenfolge ist das entschei-
5 Versuchsaufbau sieht so aus: Eine Person sitzt vor dende Argument für Roth. Der Willensakt kommt zu 35

einem Tisch, auf dem eine sehr schnell laufende Uhr spät; er tritt erst auf, wenn die Entscheidung längst
steht. Die Person erhält folgende Instruktion: 1. Führe gefallen ist, wenn das Gehirn bereits entschieden hat.
innerhalb eines bestimmten Zeitraums, wann immer Also wird das, was geschieht, nicht durch den Wil-
du möchtest, eine Handbewegung aus. (Die Person lensakt, sondern durch Gehirnprozesse bestimmt.
10 kann also den Zeitpunkt der Ausführung der Bewe- Gehirn, Ich, Freiheit (2008)
gung frei bestimmen.) 2. Merke dir den Zeitpunkt,
an dem dir bewusst wird, dass du die Hand bewegen M2 Brigitte Falkenburg:
willst. (Dafür muss sich die Person die Stellung des Kritische Betrachtung der Versuche Libets
Zeigerpunktes der Uhr merken.) Während der ganzen Brigitte Falkenburg (*1953) ist Professorin für Philosophie an der
15 Zeit wird über am Schädel der Person angebrachte Technischen Universität Dortmund.
Elektroden ihr EEG abgeleitet. Den Zeitpunkt der Handlungsabsicht im Vergleich
Die Ergebnisse des Experiments waren auf den ersten zum Bereitschaftspotential zu messen, stellt das ex-
Blick tatsächlich verblüffend. Der bewusste Wille, die perimentelle Verhältnis von Reiz und Reaktion auf
Bewegung auszuführen, wird von den Versuchsper- den Kopf. Ein mentaler Reiz – die Absicht, die Hand
20 sonen im Mittel 200 ms vor Ausführung der Bewe- zu bewegen, die im Bewusstsein auftaucht – wird mit 5

gung registriert. Jedoch bereits 550 ms bevor sich der Messung einer physischen Reaktion – dem Be-
die Hand bewegt, baut sich ein Bereitschaftspotential reitschaftspotential – verknüpft. Da sich der mentale
auf, das anzeigt, dass im Gehirn der Versuchsperson „Reiz“ nicht experimentell überprüfbar im Bewusst-
eine Bewegung vorbereitet wird. Schon 350 ms, d. h. sein der Versuchsperson isolieren lässt, ist ein wich-
25 eine Drittelsekunde bevor den Versuchspersonen be- tiges Kriterium dafür verletzt, das experimentelle Er- 10

wusst wird, dass sie die Bewegung ausführen wol- gebnis verlässlich zu deuten.
len, beginnt ihr Gehirn also mit der Vorbereitung der […] Libets Vorstellung von einem Handlungswillen,
Ausführung dieser Bewegung. der sich als isoliertes mentales Ereignis vom Rest des
Das ist sicher verblüffend. Aber was folgt daraus […] Bewusstseins abhebt, ist eine Idealisierung. Dabei
30 für die Frage nach der Willensfreiheit? kann er überhaupt nicht kontrollieren, welche kausal 15
FREIHEIT UND NATURALISMUS 35

relevanten Faktoren er vernachlässigt. Nach den Kri- Person und Gehirn gibt: Wenn die Person etwas ent- 10

terien der experimentellen Methode […] ist schlicht scheidet, wird es nicht vom Gehirn entschieden, und
und einfach völlig unklar, was Libet eigentlich genau umgekehrt. Dieser Gegensatz scheint mir auf einem
gemessen hat. […] cartesischen* […] Menschenbild zu beruhen, demzu-
20 Nach Henrik Walter und anderen Kritikern war die folge Personen etwas sind, das außerhalb des natür-
entscheidende Absicht beim Libet-Experiment nicht, lichen Ereigniszusammenhangs steht und das in der 15

die Hand zu bewegen, sondern vielmehr die Absicht, Lage ist, von außen in diesen Zusammenhang einzu-
den Instruktionen des Experimentators gerecht zu greifen. Und dieses Menschenbild ist […] unhaltbar.
werden. Libets Anweisung an die Versuchsperson Menschen sind biologische Wesen mit besonderen
25 war, „nicht im Voraus zu planen, wann sie handeln kognitiven Fähigkeiten – nicht mehr, aber auch nicht
würde; sie sollte vielmehr die Handlung ‚von sich weniger. Wenn das so ist, spricht aber sehr viel für 20

aus‘ erscheinen lassen“. […] Was sie dann spürten, die Annahme, dass mentale Eigenschaften und Pro-
war aber nicht ihre Handlungsabsicht, sondern […] zesse neuronal realisiert sind. Mit anderen Worten:
eine periphere Muskelspannung, die sie dazu brach- Wenn wir vor einer Entscheidung überlegen, was
30 te, anweisungsgemäß einen Bewegungsdrang zu wir tun sollen (und diese Überlegungen laufen sicher
verspüren. „Wenn dies stimmt, dann zeigt sich, dass zum Teil unbewusst ab), dann ist auch dieser Über- 25

eine bewusste Absicht unmittelbar vor der Bewegung legensprozess neuronal realisiert, d. h., dann gibt es
selbst keine Rolle mehr spielt, allenfalls die bewusste einen neuronalen Prozess, der in einem bestimmten
Empfindung des Überschreitens einer Schwelle. Die Sinne dieser Überlegensprozess ist. So gesehen ist
35 Personen warteten auf ein Startsignal, mit der schon es also erstens gar kein Wunder, wenn unseren Ent-
längst gefassten Absicht, einen Finger zu bewegen.“ scheidungen neuronale Prozesse vorhergehen. Und 30

Zur Deutung des Experiments akzeptierten sie nur zweitens folgt daraus keinesfalls, dass nicht wir diese
das blanke empirische Resultat: Neuronale Prozesse Entscheidungen treffen. Dass ich eine Entscheidung
leiten die (freiwillige? oder von Libet gewollte? oder treffe, kann doch nichts anderes heißen, als dass die-
40 durch eine Empfindung verursachte?) Handbewe- se Entscheidung auf meinen Wünschen, meinen Prä-
gung ein, bevor die Versuchsperson konstatiert, dass ferenzen und meinen Überlegungen beruht. Und dass 35

sie einen Bewegungsimpuls spürt. Darüber hinaus diese Wünsche, Präferenzen* und Überlegungen neu-
heben sie hervor, dass absichtliche Handlungen oft ronal realisiert sind, ändert überhaupt nichts daran,
auf einer längeren Zeitskala geplant werden – auf dass es sich dabei um meine Wünsche, meine Präfe-
45 Tage, Wochen, Monate oder Jahre im Voraus. renzen und meine Überlegungen handelt. Kurz: Aus
Mythos Determinismus (2012) naturalistischer Sicht ist das, was Libet festgestellt 40

hat, genau das, was man sowieso hätte erwarten sol-


M3 Ansgar Beckermann: Mein Gehirn oder ich? len. Greifen die Argumente der Hirnforscher zu kurz? (2005)

Ansgar Beckermann (*1945) war von 1995 bis 2012 Professor


für Philosophie an der Universität Bielefeld.
Bestenfalls […] zeigen [die Forschungen Libets], dass
1 Erläutern Sie Libets Experiment anhand der Ab-
A
im Gehirn einer Person zu einem Zeitpunkt neuro-
bildungen. > M1
nale Prozesse stattfinden, die an der Verursachung
2 Diskutieren Sie Roths Schlussfolgerung aus
bestimmter Handlungen beteiligt sind, der vor dem
dem Libet-Experiment. > M1
5 Zeitpunkt liegt, an dem sich die Person bewusst wird,
3 Stellen Sie die Argumente gegen eine deter-
eine entsprechende Entscheidung getroffen zu haben. ministische Deutung des Libet-Experiments
Bedeutet dies, dass das Gehirn Entscheidungen trifft, zusammen. > M2/M3
bevor die Person sie treffen kann? Nur, wenn man 4 Nehmen Sie Stellung im Streit um die Deutung
voraussetzt, dass es einen klaren Gegensatz zwischen des Libet-Experiments. > M1-M3
36 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Spielräume der Freiheit

M1 Der Mensch – eine Maschine?

SOLANGE DER COLA-AUTOMAT


WIE EIN VERKAUFSAUTOMAT FUNK-
MICH INTERESSIERT ES TIONIERT, BIN ICH GLÜCKLICH.
NICHT, WAS HINTER DEN
KULISSEN PASSIERT.

VERKAUFS-
DORT KÖNNTE ZUSTAND
Z. B. AUSSERIRDISCHE
TECHNOLOGIE SEIN ...

UM GENAU ZU SEIN, ... ODER EINE


EINE EISKALTE ZOOP- WINZIGE PERSON, MENTALER
COLA MIT EINEM HAUCH DIE DIE DOSEN ... ES IST MIR ZUSTAND
W
VON LIMONE. SORTIERT ... WIRKLICH EGAL. AH VE
RNEHMUNG RHA
LTEN

Michael F. Patton

M2 J ulian Nida-Rümelin: Die naturalistische und die mit den Möglichkeiten der klassischen Phy-
Unbestimmtheit unserer Entscheidungen sik nicht zu berücksichtigenden biologischen Gesetz- 20

Julian Nida-Rümelin (*1954) ist Pro- mäßigkeiten eine nicht unwesentliche Rolle spielen,
fessor für Philosophie an der Univer- fällt in der physikalischen Beschreibung des Prozes-
sität München. 2001/2002 war er
ses gar nicht auf. A fortiori* gilt das für […] die, wie
Kulturstaatsminister in Berlin.
wir annehmen wollen, rationalen Absichten, die Ihre
Wie verhält sich Freiheit zu Heimwerkerei steuern. Diese „höheren“ Ebenen der 25

Kausalität? […] [Die Frage lau- […] intentionalen Erklärung bleiben auf der physika-
tet], ob naturalistische Be- lischen Beschreibungsebene unauffällig. […]
stimmtheit mit der Freiheit menschlicher Entschei- Man kann, da unsere Entscheidungen auf der Ab-
5 dung vereinbar ist. Ich verstehe dabei „naturalisti- wägung von Gründen beruhen, dies auch so formu-
sche Bestimmtheit“ […] im Sinne der vollständigen lieren, dass unsere Handlungsgründe naturalistisch 30

Erklärbarkeit von Ereignissen durch naturwissen- unterbestimmt sind. […] Naturalistisch unterbestimmt
schaftliche Theorien. […] Stellen Sie sich vor, Sie sind ist ein Ereignis oder ein Vorgang, […] wenn es nicht
zu Hause als Heimwerker tätig. Ein Physiker beob- möglich ist, aus einer vollständigen Beschreibung ei-
10 achtet Sie und registriert alle Vorgänge auf das ge- nes vorausgehenden Weltzustandes und den beste-
naueste. Ihm stehen alle Analyse-Instrumentarien der henden naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten 35

klassischen Physik zur Verfügung. Er wird jede be- das betreffende Ereignis (den Vorgang, die Tatsache)
schleunigte Bewegung auf Grund einwirkender Kräf- deduktiv* herzuleiten. […] Die naturwissenschaftli-
te erklären können. […] [Es] ist nicht anzunehmen, chen Gesetzmäßigkeiten legen zusammen mit einem
15 dass irgendein Ereignis während Ihrer Heimwerkerei in naturwissenschaftlicher Terminologie vollständig
sich einer befriedigenden Erklärung im Rahmen klas- beschriebenen Weltzustand den jeweiligen Nachfol- 40

sischer Physik verweigern wird. Dass bei Ihrer Heim- gezustand nicht fest. Zu jedem naturwissenschaftlich
werkerei ein biologischer Körper, nämlich der Ihre, beschreibbaren Weltzustand zum Zeitpunkt t1 gibt es
FREIHEIT UND NATURALISMUS 37

eine Menge von möglichen Zuständen, die ohne Ver- Als Analysen des Mentalen sind alle […] [reduktio-
letzung der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkei- nistischen] Theorien jedoch unzureichend, weil sie
45 ten zum Zeitpunkt t2 bestehen können. Die natura- etwas Entscheidendes unberücksichtigt lassen, was 25

listische Unterbestimmtheit unseres Verhaltens, d. h. jenseits der von außen beobachtbaren Gründe da-
des öffentlich zugänglichen und naturwissenschaft- für liegt, anderen mentale Zustände zuzuschreiben,
lich beschreibbaren Bestandteils unserer Handlungen nämlich den Aspekt mentaler Phänomene, der vom
äußert sich dann darin, dass in diesem Möglichkeits- Standpunkt der ersten Person, aus der Binnenpers-
50 raum, d. h. in der Menge von Nachfolgezuständen pektive des bewussten Subjekts, evident ist: wie ei- 30

zu t2 eine Vielzahl alternativer Verhaltensweisen nem zum Beispiel Zucker schmeckt oder wie Rot aus-
der betreffenden Person enthalten ist. […] Die voll- sieht oder wie Zorn empfunden wird. […]
ständige naturwissenschaftliche Beschreibung der Das Bewusstsein ist das hervorstechendste Hindernis
Ausgangsbedingungen belässt einen Spielraum der für einen umfassenden Naturalismus, der einzig auf
55 Freiheit, einen Spielraum der Effektivität von Delibe- den Ressourcen der physikalischen Wissenschaften 35

ration, einen Spielraum alternativer Möglichkeiten beruht. Die Existenz des Bewusstseins impliziert of-
des Beabsichtigens und des Handelns. fenbar, dass die physikalische Beschreibung des Uni-
Über menschliche Freiheit (2005) versums trotz ihres Detailreichtums und ihrer Erklä-
rungskraft nur ein Teil der Wahrheit ist und dass die
M3 T homas Nagel: Naturordnung bei weitem weniger schlicht ist, als sie 40

Die Unzulänglichkeit des Reduktionismus es wäre, wenn Physik und Chemie alles erklärten.
Thomas Nagel (*1937) ist Professor Geist und Kosmos (2012)
für Philosophie an der New York Uni-
versity School of Law.

Wir Menschen sind Bestandteil Naturalismus und Reduktionismus


der Welt, und der Wunsch nach Unter Naturalismus versteht man die Auffassung,
einem einheitlichen Weltbild dass alles (auch Geistiges und Sittliches) aus-
lässt sich nicht unterdrücken. schließlich auf natürliche Prozesse zurückzuführen
und kausal erklärbar ist. Demnach kann es Willens-
5 Im Licht großer Erfolge mag es zunächst naheliegen,
freiheit nicht geben.
diese Einheit des Weltbilds durch eine vergrößer- Diese Auffassung wird auch reduktionistisch ge-
te Reichweite von Physik und Chemie anzustreben, nannt, insofern sie davon ausgeht, dass mentale
die so vieles an der Naturordnung erklären konnten. Phänomene vollständig auf biologische, chemische
Diese Erfolge haben bislang die Form einer Reduzie- und physikalische Prozesse reduzierbar sind.
10 rung […] angenommen: Es gilt, die Grundelemente zu
entdecken, aus denen alles zusammengesetzt ist […].
Die Molekularbiologie vergrößert ständig unser Wis-
sen von unserer eigenen physikalischen Zusammen- 1  Erklären Sie die Funktionsweise eines Geträn-
A
setzung, Wirkungsweise und Entwicklung. Soweit keautomaten und diskutieren Sie den Vergleich
15 wir das sagen können, ist unser geistiges Leben mit- des Menschen mit einem Automaten. > M1
samt unseren subjektiven Erfahrungen und das geis- 2  Erläutern Sie Julian Nida-Rümelins Auffassung
tige Leben anderer Lebewesen letztlich stark mit den der naturalistischen Unterbestimmtheit unse-
rer Entscheidungen am Beispiel des Handwer-
physikalischen Ereignissen im Gehirn verknüpft […].
kers und nehmen Sie Stellung dazu. > M2
Vielleicht sind es diese Entwicklungen in der Neuro-
3 Beurteilen Sie auf der Grundlage von Thomas
20 physiologie und Molekularbiologie, die zu der Hoff- Nagels Ausführungen die Plausibilität der re-
nung ermuntert haben, den Geist in eine einzige physi- duktionistischen Erklärung mentaler Phäno-
kalische Konzeption der Welt einfügen zu können […]. mene. > M3
38 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Freiheit im Rahmen universeller Bedingtheit

M1 Peter Bieri: Die Freiheit der Wahl Sinne des Worts wäre er deshalb gar nicht Ihr Wil-
Wir können überlegen, bevor wir etwas tun, und in le. Statt zum Ausdruck zu bringen, was Sie – dieses
diesem Überlegen zeigt sich ein Spielraum verschie- bestimmte Individuum – aus der Logik Ihrer Lebens-
dener Möglichkeiten, zwischen denen wir wählen geschichte heraus wollen, bräche ein solcher Wille, 15

können. Ich kann überlegen, ob ich jetzt an diesem aus einem kausalen Vakuum kommend, einfach über
5 Buch weiterschreibe oder lieber ins Kino oder essen Sie herein, und Sie müssten ihn als einen vollständig
gehe. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass mir entfremdeten Willen erleben […].
all diese Handlungen offenstehen. Wenn schon zum Das ist das Ergebnis, zu dem wir gelangen werden,
Voraus feststünde, was ich tun werde: Was hätte es wenn wir die Idee der Unbedingtheit beim Wort neh- 20

dann für einen Sinn, darüber nachzudenken, was ich men […]. Beginnen wir mit dem Einfluss, den das
10 tun will? Es ist aus dieser Perspektive unmöglich, mir Überlegen […] auf den Willen ausübt. Dieser Einfluss
vorzustellen, ich hätte keine Wahl. [Zur Erfahrung stellt eine Bedingtheit dar, und deshalb könnten wir
der Freiheit gehört nämlich,] dass ich der Urheber auf einen unbedingt freien Willen keinen solchen
meines Tuns bin und nicht ein Wesen, das als bloßer Einfluss ausüben. Das heißt nichts weniger als die- 25

Spielball des Weltgeschehens eine zuvor gezogene ses: Es könnte das Phänomen des Entscheidens nicht
15 Weltlinie entlanggeführt wird. geben. […] Ein unbedingter Wille ist, wie er ist, man
Das gilt auch, wenn ich aus dieser Perspektive erneut kann ihn nicht lenken. Besäßen wir einen solchen
auf mein vergangenes Tun zurückblicke. Es gehört zu Willen, so hätten wir über seine Richtung nicht die
meinem Selbstverständnis als freie Person, dass ich geringste Macht und nicht die geringste Kontrolle. 30

damals auch etwas anderes hätte tun können, als ich Da es der Einfluss des Überlegens auf den Willen
20 tatsächlich tat. Jeder vergangene Moment war auch ist, der […] die Urheberschaft des Wollens ausmacht,
eine vergangene Gegenwart mit einer vergangenen könnten wir uns nicht als Urheber eines unbeding-
Zukunft, und in jedem dieser Momente galt dasselbe, ten Willens erfahren. Das Verhältnis zu einem sol-
was jetzt gilt: Ich hätte auch anders handeln können. chen Willen müsste vollkommen passiv bleiben: Wir 35

Ich hatte die Wahl und die Freiheit der Entscheidung. könnten ihn nur als etwas erleben, das uns zustößt.
Das Handwerk der Freiheit (2001) Und damit wäre noch eine weitere Erfahrung ver-
bunden: Da dieser Wille an der Gesamtheit unseres
M2 Peter Bieri: Nachdenkens, Überlegens und Urteilens vorbeiliefe,
Der losgelöste Wille: ein Alptraum müsste er uns als vollkommen fremd erscheinen. 40

Nehmen wir an, Sie hätten einen unbedingt freien Diese Konsequenz ist überraschend, denn sie bedeu-
Willen. Es wäre ein Wille, der von nichts abhinge: ein tet, dass ein unbedingt freier Wille exakt diejenigen
vollständig losgelöster, von allen ursächlichen Zu- Merkmale besäße, die […] die Unfreiheit eines Willens
sammenhängen freier Wille. Ein solcher Wille wäre ausmachen: Unbeeinflussbarkeit, fehlende Urheber-
5 ein aberwitziger, abstruser Wille. Seine Losgelöstheit schaft, Fremdheit. […] 45

nämlich würde bedeuten, dass er unabhängig wäre [W]enn wir annehmen, dass Sie einen unbedingten
von Ihrem Körper, Ihrem Charakter, Ihren Gedan- Willen besitzen, so kommt das der Annahme gleich,
ken und Empfindungen, Ihren Phantasien und Erin- dass Sie keinen Willen besitzen. […]
nerungen. Es wäre, mit anderen Worten, ein Wille Jetzt gilt es, sich Klarheit über die gedankliche Situ-
10 ohne Zusammenhang mit all dem, was Sie zu einer ation zu verschaffen, die durch dieses Ergebnis ent- 50

bestimmten Person macht. In einem substantiellen standen ist. Zunächst können wir folgende Einsicht
FREIHEIT UND NATURALISMUS 39

festhalten: Es ist ein fundamentaler Fehler, den Un- legt ist, wie es zu diesem Zeitpunkt weitergeht? Frei-
terschied zwischen Freiheit und Unfreiheit des Wil- heit, so der Inkompatibilist, setzt voraus, dass die Zu-
lens mit dem Kontrast zwischen Unbedingtheit und kunft offen ist, d. h. dass es im Weltverlauf Zeitpunk- 10

55 Bedingtheit in Verbindung zu bringen. […] Die Idee te gibt, an denen es so oder so weiter gehen kann, an
der Bedingtheit ist gegenüber den Ideen der Freiheit denen der weitere Weltverlauf nicht durch vorange-
und Unfreiheit vorgeordnet, und deshalb begeht man gangene Ereignisse determiniert ist. […]
einen schwerwiegenden und folgenreichen Fehler, Kompatibilisten haben seit vielen Jahrhunderten für
wenn man den Gedanken der Bedingtheit benutzt, die These gestritten, dass es eine Alternative zu die- 15

60 um den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit sem Freiheitsbild gibt. […] [Sie gehen davon aus],
zu erklären, denn das bedeutet, die wahre begriffliche dass es unserer Freiheit keinen Abbruch tut, wenn
Ordnung auf den Kopf zu stellen. unsere Entscheidungen – unser Wille – mit kausaler
Im Lichte dieser Beobachtung wird ein zweiter Fehler Notwendigkeit durch das Ergebnis unserer Überle-
sichtbar, den es zu vermeiden gilt: Man versteht die gungen bestimmt werden. Für [sie] hängt die Freiheit 20

65 Frage nach der Freiheit des Willens gänzlich falsch, einer Entscheidung nicht davon ab, dass ein außer-
wenn man sie mit der anderen Frage in Verbindung halb des Naturzusammenhangs stehendes Ich kausal
bringt, ob es in der Welt Ereignisse gibt, die durch bestimmt, wie es an einer bestimmten Stelle im Welt-
keinerlei Vorbedingungen eindeutig bestimmt und verlauf weitergeht. […] Eine Entscheidung ist für [den
festgelegt werden. Es ist eine mikrophysikalische Ent- Kompatibilisten] meine Entscheidung, wenn sie […] 25

70 deckung, das es solche Ereignisse gibt [gemeint ist, auf meine Wünsche, meine Präferenzen und meine-
dass in der Quantenphysik keine exakten Vorhersa- Überlegungen zurückgeht. […] [Diese] Bedingungen
gen möglich sind]. Doch diese Entdeckung kann für können auch dann erfüllt sein, wenn es im Weltver-
die Frage nach der Willensfreiheit keinerlei Bedeu- lauf keine Lücken der Indeterminiertheit gibt.
tung haben. Nicht nur, weil das Phänomen des Wil- Neuronale Determiniertheit und Freiheit (2005)
75 lens einer anderen, viel grobkörnigeren Ebene der Be-
schreibung und Analyse angehört und weil es unklar
ist, ob sich mikrophysikalische Unbestimmtheit von Kompatibilismus und Inkompatibilismus
der feinkörnigen auf die grobkörnige Ebene überträgt. Unter Kompatibilismus versteht man die Auffassung,
dass die Freiheit des Willens mit der Annahme einer
Der wahre Grund liegt tiefer und ist wiederum be-
durchgängigen kausalen Bestimmtheit (Determi-
80 grifflicher Natur: Man sucht die Freiheit am falschen niertheit) der Naturvorgänge kompatibel, d. h. ver-
Ort, wenn man sie in der Lockerung oder Abwesenheit träglich ist. Der Inkompatibilismus hält beides für
von Bedingtheit und Bestimmtheit sucht. […] unvereinbar.
[W]as wir tun müssen, ist zu verstehen, wie sich
Freiheit und Unfreiheit im Rahmen universeller Be-
85 dingtheit unterscheiden. Das Handwerk der Freiheit (2001)

Analysieren Sie, was nach Bieri die Erfahrung


1 
A
M3 Ansgar Beckermann: Determination und
Freiheit – kein Widerspruch eines freien Willens ausmacht. > M1
Inkompatibilisten vertreten die These, dass Determi- Vollziehen Sie Bieris Gedankenexperimen nach.
2 
> M2
nismus und Freiheit unvereinbar sind. Warum? Ers-
Erklären Sie, warum Unbedingtheit ein falscher
3 
tens, weil Freiheit voraussetzt, dass ich eine Wahl
Ausgangspunkt für die Bestimmung der Wil-
habe. Und, so fragen Inkompatibilisten, wie kann ich lensfreiheit ist. > M2
5 eine Wahl zwischen verschiedenen Alternativen ha- Unterscheiden Sie die unterschiedlichen Posi-
4 
ben, wenn zu jedem Zeitpunkt durch den jeweiligen tionen in der Kontroverse um die Willensfrei-
Zustand der Welt und durch die Naturgesetze festge- heit und nehmen Sie dazu Stellung. > M3
40 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Freiheit als Selbstbestimmung

M1 Peter Bieri: Der Entschluss des Emigranten wollen, was Sie für richtig halten. […] 40

Nehmen wir […] an, Sie sind [ein] Emigrant, der zwi- [Aus der Sicht eines unbedingten Freiheitsverständ-
schen Fliehen und Bleiben hin- und hergerissen ist. nisses müsste eine solche Einengung der Möglichkei-
Es könnte sein, dass Sie nicht allein sind, während ten …] eine Beschneidung der Freiheit bedeuten, und
Sie am Bahnhof auf den Zug warten. Frau und Kin- die Einschränkung auf eine einzige Möglichkeit schien
5 der sind bei Ihnen, Sie haben sich entschieden, mit einer Vernichtung der Freiheit gleichzukommen. Nun 45

der ganzen Familie auszuwandern. Wiederum war es sehen wir, dass es, wenn wir nur genau genug hinse-
eine Qual, sich zu einem Entschluss durchzuringen. hen, keineswegs so ist. […] Die Freiheit des Willens,
Den Ausschlag gegeben hat die Frage der Sicherheit, das zeigt unser Beispiel, bedeutet nicht seine voll-
die jetzt nicht nur Sie selbst, sondern auch die An- ständige Ungebundenheit. Es macht die Freiheit eines
10 gehörigen betrifft. Wenn Sie keine Familie hätten, Willens aus, dass er auf bestimmte Weise gebunden 50

denken Sie, wäre alles klar: Sie wären längst in den ist. Es liegt in der Natur von Entscheidungen, dass sie
Widerstand gegangen, Sicherheit hin oder her. Doch den Willen binden. Das Handwerk der Freiheit (2001)
so einfach ist es jetzt nicht: Wie wägt man ab zwi-
schen der Verpflichtung dem Land und der Verpflich- M2 Michael Pauen:
15 tung der Familie gegenüber? Nacht für Nacht haben Freiheit und personale Präferenzen
Sie damit verbracht, sich das eine, dann das andere Michael Pauen (*1956) ist Professor
und dann wieder das eine auszumalen. Sie sind den für Philosophie an der Universität
Magdeburg.
verschlungenen Pfaden Ihrer Phantasie gefolgt, und
das, was Sie von den Phantasien Ihrer Frau und der [Basis der Konzeption von per-
20 Kinder wussten, war Teil Ihres Gedankenspiels. Die sonaler Freiheit] sind zwei An-
Frage, die schließlich am meisten Schwerkraft entwi- nahmen darüber, was Freiheit
ckelte, war: Könnten Sie damit leben, dass Frau und nicht ist.
Kinder eines Tages abgeholt würden, während Sie für Freie Handlungen müssen […] erstens von Ereignis- 5

den Widerstand unterwegs wären? Wann immer Sie sen unterschieden werden, die unter Zwang oder
25 das fordernde Gesicht Ihres ledigen, kompromisslo- vollständig unter dem Diktat externer Notwendigkei-
sen Freundes vor sich sahen, schoben sich – und Sie ten zustande gekommen sind. […] Ich bezeichne als
erlebten es als ein Sichstemmen gegen seinen An- Zwang solche externen Einflussfaktoren, die das Zu-
spruch – Bilder von Deportationen darüber, Bilder, standekommen einer Handlung gegen den Willen des 10

die schließlich den Sieg über die Angst vor der Feig- Handelnden bewirken oder bewirken können. Sollte
30 heit davontrugen. sich herausstellen, dass der vermeintliche Mörder nur
Was Sie als Ihre Freiheit erleben, ist, dass Sie am Ende durch einen für ihn nicht zu überwindenden äußeren
dasjenige wollen, was in Ihrem Urteil überwiegt – Zwang zu seiner Tat gebracht werden konnte, dann
dass Ihr Wille Ihrem Urteil gehorcht. „Ich hätte auch könnte man ihn nicht mehr für die Tat verantwortlich 15

etwas anderes wollen können“, mögen Sie sich später machen. […] In jedem Falle dürfen freie Handlungen
35 im Zug sagen. Und nun ist es entscheidend nicht zu nicht ausschließlich auf äußere Umstände zurückzu-
übersehen, dass es einen verschwiegenen Zusatz gibt: führen sein. Diese Forderung werde ich im Folgenden
„wenn ich anders geurteilt hätte“. Die Freiheit, derer als das „Autonomieprinzip*“ bezeichnen. […]
Sie sich durch Ihre inneren Worte versichern, ist die Freie Handlungen müssen zweitens auch von zu- 20

Tatsache, dass Sie die Macht besitzen, dasjenige zu fälligen Ereignissen abgegrenzt werden. Sollten wir
FREIHEIT UND NATURALISMUS 41

erfahren, dass eine zufällige neuronale Aktivität im nicht eine alternative Handlung y ausgeführt wurde.
Motorcortex [der für Bewegung zuständigen Hirnre- Damit ist wie gesagt gemeint, dass erst der Bezug auf
gion] einer Person dafür verantwortlich war, dass die die Person selbst verständlich macht, warum in der
25 Person einen Schuss abgegeben hat, dann könnten fraglichen Situation x und nicht y ausgeführt wurde.
wir ebenfalls nicht mehr von einer freien Handlung Selbstbestimmung stellt erstens eine hinreichende 70

sprechen. Der Grund besteht offenbar darin, dass sich Bedingung für Autonomie und für Urheberschaft
die fragliche Aktivität unter diesen Umständen völlig dar. […] [Sie] ist unverträglich mit Fremdbestimmung
unabhängig von dem Handelnden ereignet hat. Der und daher auch mit Zwang und externer Determina-
30 entscheidende Unterschied zwischen einem zufälli- tion – selbstbestimmte Handlungen erfüllen also das
gen Ereignis und einer freien Handlung scheint mit- Autonomieprinzip. Gleichzeitig entsprechen selbst- 75

hin darin zu bestehen, dass die freie Handlung eine bestimmte Handlungen auch der Forderung nach Ur-
Person zum Urheber hat und folglich dieser Person heberschaft: Von Selbstbestimmung kann schließlich
auch zugeschrieben werden kann. Freie Handlungen nur dann die Rede sein, wenn die handelnde Person
35 müssen also dem „Urheberprinzip“ entsprechen. […] selbst bestimmt, was sie tut. Dies schließt aus, dass
Doch was heißt es, einer Person eine Handlung zuzu- die fragliche Aktivität zufällig zustande gekommen 80

schreiben? Der hier gemeinte Sinn von Zuschreibbar- ist, vielmehr muss es möglich sein, die Handlung der
keit lässt sich am einfachsten erläutern, wenn man be- Person zuzuschreiben. Selbstbestimmte Handlungen
rücksichtigt, dass Freiheit […] einen Handlungsspiel- erfüllen damit auch das Urheberprinzip. […]
40 raum zwischen einer Option x und einer Option y im- Ich werde im Folgenden diejenigen Merkmale, die das
pliziert. Zuschreibbar ist eine Handlung unter die- „Selbst“ ausmachen, allgemein als personale Merk- 85

sen Bedingungen dann, wenn der Bezug auf die Per- male bezeichnen. […] Bei personalen Präferenzen […]
son eine kritische Rolle in der Erklärung dafür spielt, handelt es sich um spezifische Überzeugungen, Wün-
dass die Handlung x statt der Handlung y vollzogen sche und Dispositionen, die eine Person als ein ganz
45 worden ist, d. h. wenn erst der Bezug auf die Person bestimmtes Individuum gegenüber anderen Individu-
selbst verständlich machen kann, warum in der gege- en auszeichnen. Diese Präferenzen dürften also eine 90

benen Situation die Handlung x und nicht die Hand- zentrale Rolle in der Erklärung dafür spielen, dass
lung y vollzogen worden ist. […] eine Person eine bestimmte Handlungsoption einer
Nehmen wir einmal an, ich hätte die feste Über- anderen Option vorgezogen hat. […] Frei im Sinne
50 zeugung, dass finanzielle Hilfen für die Dritte Welt [personaler Freiheit] handelt eine Person, die in einer
angesichts der dort herrschenden Armut zwingend bestimmten Situation eine Option x statt einer Opti- 95

geboten seien, während der Konsum von Gebrauchs- on y wählt, genau dann, wenn sich die Entscheidung
artikeln wegen des damit verbundenen Verbrauchs für x und gegen y auf die personalen Präferenzen der
von Umweltressourcen eingeschränkt werden müs- Person zurückführen lässt. Illusion Freiheit? (2004)
55 se. Unter diesen Voraussetzungen sieht es zumindest
auf den ersten Blick so aus, als könnte man es mir
zuschreiben, wenn ich mein Weihnachtsgeld für die
1 
Erläutern Sie Peter Bieris Verständnis von Frei-
A
Dritte Welt spende, statt es für die Anschaffung ei-
nes neuen CD-Spielers auszugeben. Diese Handlung heit am Beispiel des Emigranten. > M1
60 scheint also dem Urheberprinzip zu entsprechen. […] 2 
Erarbeiten Sie Michael Pauens Konzeption der
personalen Freiheit. > M2
[Freiheit in diesem Sinne lässt sich] als „Selbstbe-
3 
Vergleichen Sie die Konzeption von Freiheit als
stimmung“ verstehen, sofern man eine Handlung x
Selbstbestimmung mit der deterministischen
dann und nur dann als selbstbestimmt bezeichnet, Position von Schopenhauer und Hospers und
wenn der Bezug auf die handelnde Person eine kriti- nehmen Sie dazu Stellung.
65 sche Rolle in der Erklärung dafür spielt, dass x und > M1/M2 und S. 32f., M1/M3 H
42 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Der Einfluss des Unbewussten

M1 Sigmund Freud: mit dem dir Bewussten zusammen; es ist etwas ande- 35

Nicht Herr im eigenen Haus res, ob etwas in deiner Seele vorgeht und ob du es auch
Der österreichische Arzt Sigmund erfährst.“ […] Dass die seelischen Vorgänge an sich
Freud (1856-1939) erlangte als Be- unbewusst sind und nur durch eine unvollständige
gründer der Psychoanalyse welt-
und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugäng-
weite Bekanntheit.
lich und ihm unterworfen werden, komm[t] der Be- 40

Der Mensch […] fühlt sich hauptung gleich, dass das Ich nicht Herr sei in seinem
souverän in seiner eigenen eigenen Haus. Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917)
Seele. Irgendwo im Kern sei-
nes Ichs hat er sich ein Auf- M2 Sigmund Freud: Der psychische Apparat
sichtsorgan geschaffen, wel- Zur Kenntnis dieses psychischen Apparates sind wir
ches seine eigenen Regungen und Handlungen über- durch das Studium der individuellen Entwicklung des
wacht, ob sie mit seinen Anforderungen zusammen- menschlichen Wesens gekommen. Die älteste dieser
stimmen. […] In gewissen Krankheiten, allerdings psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir
gerade bei den von uns studierten Neurosen, ist es das Es, sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mit- 5

10 anders. Das Ich fühlt sich unbehaglich, es stößt auf gebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem aber
Grenzen seiner Macht in seinem eigenen Haus, der die aus der Körperorganisation stammenden Trie-
Seele. Es tauchen plötzlich Gedanken auf, von denen be, die hier einen ersten uns in seinen Formen unbe-
man nicht weiß, woher kannten psychischen Ausdruck finden.
sie kommen; man kann auch nichts dazu tun, sie Unter dem Einfluss der uns umgebenden realen Au- 10

15 zu vertreiben. Diese fremden Gäste scheinen selbst ßenwelt hat ein Teil des Es eine besondere Entwick-
mächtiger zu sein als die dem Ich unterworfenen; sie lung erfahren. Ursprünglich als Rindenschicht mit den
widerstehen allen sonst so erprobten Machtmitteln Organen zur Reizaufnahme und den Einrichtungen
des Willens, bleiben unbeirrt durch die logische Wi- zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besonde-
derlegung, unangetastet durch die Gegenaussage der re Organisation hergestellt, die von nun an zwischen 15

20 Realität. Oder es kommen Impulse, die wie die eines Es und Außenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres
Fremden sind, so dass das Ich sie verleugnet, aber Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs.
es muss sich doch vor ihnen fürchten und Vorsich- […] Infolge der vorgebildeten Beziehung zwischen
ten gegen sie treffen. Das Ich sagt sich, das ist eine Sinneswahrnehmung und Muskelaktion hat das Ich
Krankheit, eine fremde Invasion, es verschärft seine die Verfügung über die willkürlichen Bewegungen. Es 20

25 Wachsamkeit, aber es kann nicht verstehen, warum hat die Aufgabe der Selbstbehauptungen, erfüllt sie,
es sich in so seltsamer Weise gelähmt fühlt. […] indem es nach außen die Reize kennenlernt, Erfah-
Die Psychoanalyse unternimmt es, diese unheimli- rungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), über-
chen Krankheitsfälle aufzuklären […] und kann dem starke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen
Ich endlich sagen: „Es ist nichts Fremdes in dich ge- begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die 25

30 fahren; ein Teil von deinem eigenen Seelenleben hat Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vor-
sich deiner Kenntnis und der Herrschaft deines Wil- teil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen das
lens entzogen. Darum bist du auch so schwach in der Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche
Abwehr; du kämpfst mit einem Teil deiner Kraft ge- gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zuge-
gen den anderen. […] Das Seelische in dir fällt nicht lassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in 30
FREIHEIT UND NATURALISMUS 43

der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstän-


de verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt
ÜBER-ICH Außenwelt
unterdrückt.
vorbewusst Gebote,
In seiner Tätigkeit wird es durch die Beach- Verbote
35 tungen derin ihm vorhandenen oder in das-
Elterl. Einfluss
selbe eingetragenen Reizspannungen geleitet.
Deren Erhöhung wird allgemein als Unlust, ICH
deren Herabsetzung als Lust empfunden. […] bewusst / Vermittlung
Reaktionen
vorbewusst mit der Außenwelt,
Als Niederschlag der langen Kindheitsperio- Triebkontrolle
40 de, während der der werdende Mensch in Ab-
hängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich Reize
in seinem Ich eine b sondere Instanz heraus, ES
in der sich dieser elterliche Einsatz fortsetzt. unbewusst Bedürfnisse,
Sie hat den Namen des Über-Ichs erhalten. Triebe
45 Insoweit dieses Über-Ich sich vom Ich sondert
und sich ihm entgegenstellt, ist es eine dritte
Macht, der das Ich Rechnung tragen muss. […] ahnen, in den ökonomischen Konflikten, die sich hier 75
Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie ergeben, machen Es und Über-Ich oft gemeinsame
gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs Sache gegen das bedrängte Ich, das sich zur Erhal-
50 und der Realität genügt, also deren Ansprüche mitein- tung seiner Norm an die Realität anklammern will.
ander zu versöhnen weiß. […] Werden die beiden Ersteren zu stark, so gelingt es
Die Macht des Es drückt die eigentliche Lebensa sicht ihnen, die Organisation des Ichs aufzulockern und zu 80
des Einzelwesens aus. Sie besteht darin, seine mit- verändern, so dass seine richtige Beziehung zur Rea-
gebrachten Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Absicht, lität gestört oder selbst aufgehoben wird. […]
55 sich am Leben zu erhalten und sich durch die Angst Wir haben […] den psychischen Vorgängen drei Qua-
vor Gefahren zu schützen, kann dem Es nicht zuge- litäten zugeschrieben, sie sind entweder bewusst, vor-
schrieben werden. Dies ist die Aufgabe des Ichs, das bewusst oder unbewusst. […] Das, was vorbewusst ist, 85
auch die günstigste und gefahrloseste Art der Befrie- wird […] ohne unser Zutun bewusst, das Unbewusste
digung mit Rücksicht auf die Außenwelt herauszu- kann durch unsere Bemühung bewusst gemacht wer-
60 finden hat. Das Über-Ich mag neue Bedürfnis geltend den, wobei wir die Empfindung haben dürfen, dass
machen, seine Hauptleistung bleibt aber die Ein- wir oft sehr starke Widerstände überwinden. […] Dem
schränkung der Befriedigungen. […] [Über-Ich kann] man den Charakter des Vorbewuss- 90
Nach unserer Voraussetzung hat das Ich die Aufgabe, ten nicht bestreiten […]. Das Unbewusste ist die allein
den Ansprüchen seiner drei Abhängigkeiten von der herrschende Qualität im Es. Abriss der Psychoanalyse (1938)
65 Realität, dem Es und dem Über-Ich zu genügen und
dabei doch seine Organisation aufrechtzuhalten, sei- A
1 Diskutieren Sie, was Freuds These für die Frage
ne Selbständigkeit zu behaupten. […]
Die schwerste Anforderung an das Ich ist wahr- nach der Freiheit des Willens bedeutet. > M1
scheinlich die Niederhaltung der Triebansprüche des 2  Erklären Sie, wie der psychische Apparat nach
Freud aufgebaut ist und wie er funktioniert.
70 Es, wofür es große Aufwände an Gegenbesetzungen > M2
zu unterhalten hat.
3 Erläutern Sie auf der Grundlage der Zuweisung
Es kann aber auch der Anspruch des Über-Ichs so der psychischen Qualitäten (Z. 83-92), wel-
stark und so unerbittlich werden, dass das Ich seinen chen Einfluss das Unbewusste nach Freud auf
anderen Aufgaben wie gelähmt gegenübersteht. Wir unsere Entscheidungen hat. > M2
44 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Freiheit – Verantwortung – Strafe

M1 Vor Gericht List, er schwelgt in Pseudo-Aggressivität, er fühlt


sich elend, aber er weiß nicht, was sich in seinem In- 25

Herr Richter, ich bin nicht schuldig. neren abspielt und die Katastrophe des Verbrechens
Fragen Sie doch meinen Psychologen. vorbereitet. [...]
Ich konnte gar nicht anders. [Und] könnte es nicht sein, dass es [zudem noch] eine
Und ich kann bestimmte Kombination von Speisen zu sich genom-
nicht anders men hat – etwa Thunfischsalat zusammen mit Erbsen, 30
als Sie schuldig
Pilzsuppe und Heidelbeertorte. Was wäre, wenn uns
zu sprechen.
Ich habe keine gelänge, die Faktoren ausfindig zu machen, die allen
freie Wahl, fragen Morden, die in den letzten zwanzig Jahren in diesem
Sie doch die Land begangen wurden, gemeinsam sind, und fest-
Hirnforscher. stellen, dass just dieser Faktor in allen Faktoren und 35

als einziger in allen Faktoren enthalten ist? Natürlich


ist dieses Beispiel empirisch absurd. Aber könnte es
nicht sein, dass es eine bestimmte Kombination von
M2 John Hospers: Faktoren gibt, die regelmäßig zu einem Mord führt
Ist nicht jeder Kriminelle unschuldig? […]? Gesetzt den Fall, dass solche spezifischen Fakto- 40

Nehmen wir als Beispiel einen Kriminellen, der, sagen ren entdeckt würden: wäre dann nicht evident, dass
wir, mehrere Menschen erwürgt hat und nun dazu es töricht und sinnlos und außerdem unmoralisch ist,
verurteilt ist, auf dem elektrischen Stuhl zu sterben. Menschen für Verbrechen verantwortlich zu machen?
Sowohl die Geschworenen wie auch die Öffentlich- Oder […] stellen wir uns vor, ein Neurologe sei in
5 keit halten ihn für voll verantwortlich […], denn die einem Mordprozess als Gutachter bestellt und lege 45

Morde waren bis ins kleinste Detail vorausgeplant, Röntgenaufnahmen des Gehirns des Kriminellen vor.
und der Angeklagte schildert den Geschworenen ge- „Wie jeder sehen kann“, argumentiert er etwa, „war
nau, wie er sie im Einzelnen geplant hat. die sella turcia bereits im Alter von neunzehn Jahren
Doch nun erfahren wir, wie es zu allem gekommen verkalkt; eigentlich sollte sie ein biegsamer Knochen
10 ist: wir erfahren von Eltern, die ihn vom Säugling- sein, der wächst, ohne das Wachstum der Drüse zu 50

salter an ablehnten, von einer Kindheit, die er in ei- beeinträchtigen.“ […] Sämtliche Verhaltensstörun-
nem Heim nach dem anderen verbrachte, in denen es gen des Angeklagten könnten aus dieser frühzeiti-
ihm stets wieder klar wurde, dass er nicht er wünscht gen Verkalkung herrühren. Freilich, diese besondere
war; von dem stets wieder enttäuschten Wunsch, ge- Erklärung mag empirisch falsch sein; aber wer kann
15 liebt zu werden, von der harten Schale von Gleich- sagen, dass es keinerlei Faktoren dieser Art (wenn 55

gültigkeit und Bitterkeit, die er sich zulegte, um die auch weit komplexere) gibt? […]
schmerzliche und demütigende Tatsache des Uner- „Aber“, wendet ein Kritiker ein, „es ist doch unmora-
wünschtseins zu verbergen, und seinen späteren Ver- lisch, die Menschen derart unterschiedslos zu entlas-
suchen, die Wunden seines zerbrochenen Ichs durch ten. Ich hätte es für vertretbar gehalten, jemanden zu
20 defensive Aggressivität zu heilen. […] entschuldigen, weil er in einer schlechten Gegend 60

Der unglücklich Geschädigte ist sich der inneren aufgewachsen ist.“ […] [W]enn er in einer schlechten
Triebkräfte, die ihm diesen grausigen Tribut abver- Gegend aufgewachsen ist und ein hochgradig nar-
langen, nicht bewusst; er wehrt sich, er greift zur zisstisches Kind war und von seinen Eltern abgelehnt
FREIHEIT UND NATURALISMUS 45

oder vernachlässigt wurde und … (hier folgt eine war, das verletzte Verhaltensgebot überhaupt zu ken-
65 endliche Zahl von Bedingungen), und wenn dieser nen, oder wer beim Begehen der Tat sein Handeln 5

Komplex von Faktoren regelmäßig bestimmte Ver- nicht entsprechend steuern konnte. Einfacher gesagt:
haltensmerkmale im Erwachsenenalter zur Folge hat Wer nicht wissen kann, dass man nicht töten darf,
und unweigerlich zur Folge hat – das heißt sie treten weil er etwa schwer geisteskrank ist, den können wir
ein, ganz gleich, was er oder andere dagegen unter- nicht zur Verantwortung ziehen. Und wer die Norm
70 nehmen –, dann ist er für uns in moralischer Hinsicht zwar kennt, aber in der konkreten Situation unfähig 10

entschuldigt und wir sagen, er sei für seine Tat nicht war, ihr Folge zu leisten, der wird auch noch ent-
verantwortlich. Zweifel eines Deterministen (1978 schuldigt. Alle anderen nicht – wenn wir einmal von
Ausnahmelagen wie dem entschuldigenden Notstand
M3 Gerhard Roth: Aufgabe des Schuldprinzips? absehen, wo jemand in einer Zwangssituation bei-
Im bekannten Strafrechts-Lehrbuch von Wessels und spielsweise den Tod eines anderen herbeiführt, um 15

Beulke […] [heißt es]: „In Übereinstimmung mit dem dadurch sein eigenes Leben zu schützen. […] Wir ver-
Menschenbild des Grundgesetzes beruht das deutsche urteilen jemanden, weil wir davon ausgehen, dass er
Strafrecht auf dem Schuld- und Verantwortungsprin- sein Verhalten hätte anders steuern können. […] Ich
5 zip: Strafe setzt Schuld voraus […]. Grundlage des halte es auch für eine unausweichliche Vorausset-
Schuld- und Verantwortungsprinzips ist die Fähig- zung für die Schuldzuschreibung, dass das Individu- 20

keit des Menschen, sich frei und richtig zwischen um die Zukunft als offen erlebt und nicht weiß, wie
Recht und Unrecht zu entscheiden. Nur wenn diese es entscheiden wird, bevor es entschieden hat. […]
Entscheidungsfreiheit existiert, hat es Sinn, einen Ich bezweifle […], dass wir auf die Schuldzuschreibung
10 Schuldvorwurf gegen den Täter zu erheben.“ […] ganz verzichten können. Es genügt nicht, nach ei-
Ein solcher „moralischer“ Schuldbegriff ist auf einem ner Straftat den Leuten zu sagen: „Wir sorgen schon 25

starken Begriff von Willensfreiheit aufgebaut. Dies dafür, dass dieser Mensch das nie wieder macht –
steht nicht nur den […] Erkenntnissen [der Hirnfor- entweder er ist hinreichend abgeschreckt oder thera-
schung] entgegen. […] piert, oder wir halten ihn in Sicherheitsverwahrung.“
15 Sofern sich die Erkenntnisse der Hirnforschung und […] Es muss also etwas hinzukommen, damit die vom
der Persönlichkeitspsychologie weiter erhärten, muss Täter gebrochene Norm in ihrer Geltung wiederher- 30

im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld gestellt werden kann. Die Justiz gleicht in dieser
aufgegeben werden. Es rückt damit der Gedanke der Hinsicht einer Reparaturanstalt für die symbolische
Normenverletzung in den Vordergrund, bei der die Wiederherstellung verletzter Normen. Wer eine Norm
20 Gesellschaft das Recht hat, sie zu ahnden. Erziehung, bricht, muss für ihre „Reparatur“ bezahlen.
Therapie und Schutz der Gesellschaft vor unerzieh- Reparaturanstalt für verletzte Normen (2008)
baren bzw. nicht therapierbaren Straftätern treten
dann anstelle des strafrechtlichen Sühnegedankens.
Das Problem der Willensfreiheit (2004) 1  Diskutieren Sie die Aussagen in der Abbildung.
A
> M1
M4 Reinhard Merkel: 2  Beurteilen Sie, ob der Kriminelle in dem Fall-
Schuldzuweisung im Strafrecht beispiel schuldig ist oder nicht. Erörtern Sie da-
bei, wieweit die dargestellten Faktoren das Han-
Reinhard Merkel (*1950) ist emeritierter Professor für Strafrecht
und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg und war deln tatsächlich determinieren können. > M2
Mitglied im Deutschen Ethikrat. 3 Stellen Sie die Argumente dar, die für und ge-
gen die Aufrechterhaltung des Schuldprinzips
Im Strafgesetzbuch regelt Paragraf 20 das Problem im Strafrecht und in moralischen Fragen ange-
der Schuldfähigkeit und des Schuldausschlusses. Da- führt werden, und nehmen Sie dazu Stellung.
nach handelte ohne Schuld, wer entweder unfähig > M3/M4
46 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Die Verbindung von Freiheit und Menschenwürde

M1 Susan Neiman: Unter dem Galgen dafür sorgen, dass er seinerseits hingerichtet wird. 35

Die amerikanische Philosophin Susan Wie im ersten Fall meint Kant, es sei leicht, sich in
Neiman (*1955) war Professorin an der diesen Burschen hineinzuversetzen. Doch anders als
Yale Universität und in Tel Aviv. Seit
im ersten Fall zögern wir plötzlich: Wir wissen nicht,
2000 ist sie Direktorin am Einstein Fo-
rum in Potsdam. was wir tun würden. Kant betont immer die Grenzen
des Wissens, und zu dem, was wir nie mit Gewissheit 40

Ein Mann meint, immer wenn er kennen können, gehört das Innerste unserer Seele.
an einem „gewissen Haus“ – so Niemand von uns ist moralisch so gefestigt, dass er
nennt es Kant – vorbeikäme, überwältige ihn die Ver- sich sicher ist, angesichts von Tod und Folter nicht
suchung. (Im Gegensatz zu dem unseren war das 18. einzuknicken. Die meisten von uns würden es ver-
5 Jahrhundert dezent.) Gleichgültig was er sich vorher mutlich. Dennoch wissen wir alle, was wir tun soll- 45

eingeredet hat, sobald er das Bordell erreicht, muss ten: uns weigern, den Brief zu schreiben, auch wenn
er es betreten. Er wäre gern klug, er wäre gern treu, es uns das Leben kostet. Und wir alle wissen, dass
vielleicht glaubt er, Sex sollte nicht käuflich sein. wir genau das tun könnten – ob wir nun am Ende
Doch weder die Bande der Liebe noch die Furcht vor schwanken oder nicht. In diesem Augenblick, sagt
10 Krankheit oder Schande sind stärker als die Forde- Kant, erkennen wir mit Ehrfurcht und Staunen unse- 50

rungen des Fleisches. Können wir diesen Mann ver- re Freiheit. Nicht Lust, wohl aber Gerechtigkeit ver-
stehen? Kein Problem, meint Kant. Was aber wäre, mag Menschen zu Taten zu bewegen, die das stärkste
wenn er, unmittelbar nachdem er aus dem Sünden- animalische Verlangen, die Liebe zum Leben selbst,
pfuhl auftaucht, gehängt würde – und vor dem Bor- überwinden. Das zu betrachten ist so schwindelerre-
15 dell ein Galgen errichtet ist, um ihn daran zu erin- gend, wie in den Himmel über uns zu schauen: Mit 55

nern? Plötzlich entdeckt er, dass er der Versuchung dieser Macht ausgestattet, sind wir so unendlich wie
sehr gut widerstehen kann. Gewöhnliche Wünsche – er. Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten (2010)
nach Sex, Reichtum oder anderen Formen vergängli-
cher Lust – können uns noch so strahlend erscheinen, M2 Julian Nida-Rümelin: Warum Menschen-
20 sie alle verblassen vor dem Wunsch zu leben. Das würde auf Freiheit beruht
ist geradezu eine Sache der Logik: Ohne Leben kein Für Immanuel Kant besteht eine enge Verbindung
Genuss. Alle Freuden der Welt zusammen wiegen das zwischen der Menschenwürde und der Freiheit. Es
nicht auf. ist die Freiheit des Menschen, seine Fähigkeit, auto-
Denken wir uns nun denselben Mann, wie er vor nom, nach selbst gewählten Grundsätzen zu han-
25 einen Tyrannen gerufen und vor eine Wahl gestellt deln, die ihm seine spezifische Würde verleiht. […] 5

wird. Der Herrscher möchte einen unschuldigen Un- Die menschliche Würde ist Ausdruck der besonderen
tertanen, der gegen sein Regime die Stimme erhoben Fähigkeit des Menschen, moralisch, d. h. allein aus
hat, hinrichten lassen. Aber noch gibt es im Land den Achtung vor dem Sittengesetz, zu handeln. […]
Anschein von Recht, und das verlangt, den Schein Die kantische Freiheit besteht darin, nicht lediglich
30 eines gerechten Verfahrens zu wahren. Jemand muss das zu tun, was den eigenen Neigungen, die gera- 10

einen Brief schreiben und den Unschuldigen denun- de dominieren mögen, entspricht, sondern sich we-
zieren, ihn fälschlich eines Schwerverbrechens be- nigstens so weit zu distanzieren, dass die Befolgung
schuldigen. Unserem Lüstling ist diese Aufgabe zu- dieser Neigungen nur in den Grenzen stattfindet, die
gedacht. Sollte er sich weigern, würde der Herrscher es einem selbst und allen anderen Menschen (bzw.
FREIHEIT UND NATURALISMUS 47

15 genauer: Vernunftwesen) ermöglichen, ihr eigenes Die in Jahrhunderten gebildete moralische Sprache
Leben zu leben. […] Die Augenblicksneigungen kon- und die Sprache des (Straf-)Rechts gründen nicht auf 60

trollieren zu können, ist unabdingbare Voraussetzung einer Chimäre* der Freiheit, […] sondern werden getra-
für ein gutes Leben, das durch Selbstachtung und gen von einem komplexen Netzwerk moralischer Ur-
durch die Achtung gegenüber anderen geprägt ist. teile und Empfindungen, Reaktionsweisen und Erwar-
20 Die Freiheit, die für ein Leben in Selbstachtung und tungen. Wir trauen uns wechselseitig zu, dass wir uns
in Achtung gegenüber anderen unverzichtbar ist, […] von guten Gründen affizieren* lassen, daher bringen 65

verlangt, dass […] mein Handeln und Urteilen das Er- wir Gründe vor, die für oder gegen eine Handlung, die
gebnis eigener Abwägung ist und nicht lediglich kau- für oder gegen eine Überzeugung sprechen. Wir ach-
sale Folge von Vorprägungen genetischer und bio- ten uns als verantwortliche Individuen insofern, als
25 graphischer Art sowie von Umweltbedingungen. […] wir uns wechselseitig zutrauen, guten Gründen folgen
Bei manchen zeitgenössischen Theoretikern wird die- zu können. Wir achten uns selbst, weil wir uns selbst 70

se kantische Freiheit existentialistisch radikalisiert. zutrauen, uns von guten Gründen leiten zu lassen. Wir
[…] [Für den israelischen Philosophen Avishai Mar- wissen, dass wir den genetischen und biographischen
galit begründet] die menschliche Fähigkeit, „dem ei- Prägungen nicht entkommen, dass wir nur innerhalb
30 genen Leben zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine völ- dieser Prägungen Gründen zur Wirksamkeit verhel-
lig neue Deutung zu geben und es dadurch radikal zu fen können. Wir wissen mit einem Wort, dass es diese 75

ändern“, Gefühle der Achtung und der Selbstachtung für unsere Selbstachtung konstitutive Freiheit gibt und
[…]. „[…] Achtung vor dem Menschen bedeutet daher dass es sich um eine bedingte Freiheit handelt. […]
auch, niemals jemanden aufzugeben, da alle Men- Mit dem Begriff und der normativen Rolle von Men-
35 schen fähig sind, ihrem Leben eine entscheidende schenwürde, die auf Selbstachtung begründet ist, ist
Wendung zum Besseren zu geben.“ eine Position skizziert, die man als ethischen Huma- 80

Dies ist zweifellos ein stärkerer Begriff von Freiheit nismus bezeichnen kann. […] Ethische Begründun-
als der, den ich für unverzichtbar halte, um Achtung gen, die auf Menschenwürde rekurrieren, sind Aus-
und Selbstachtung zu begründen. […] Die Fähigkeit, druck unseres menschlichen Selbstbildes.
40 sich am Ergebnis der Abwägung von Gründen in Über menschliche Freiheit ( 2005)
seinem Handeln und Urteilen zu orientieren, impli-
ziert nicht, dass radikale Freiheit möglich ist, dass
ich meinem Leben zu jedem Zeitpunkt eine radikale 1 E rläutern Sie anhand des von Susan Neimann
A
Wendung geben kann, dass ich mich selbst neu in- dargestellten Beispiels, warum Menschen für
45 terpretieren und mich von dem, was meine Biogra- ihr Handeln verantwortlich sind, und nehmen
phie geprägt hat, vollständig lösen kann. […] Unsere Sie Stellung dazu. > M1
Freiheit ist eine lediglich bedingte Freiheit: […] Die 2  Analysieren Sie Julian Nida-Rümelins Ausfüh-
Steuerung durch Gründe findet in den Grenzen statt, rungen über den Zusammenhang von Freiheit
und Menschenwürde. > M2
die durch unser genetisches Erbe und durch unsere
3 Erklären Sie, inwiefern Freiheit nach Nida-Rü-
50 biographischen Prägungen abgesteckt sind. Diese
melin lediglich bedingte Freiheit ist. > M2
Grenze ist nicht trennscharf, und traumatische Erfah-
4  Erläutern Sie die Auffassung des ethischen Hu-
rungen äußern sich auch darin, dass die Grenzen neu manismus, dass dem menschlichen Selbstbild
abgesteckt werden. Schwere Lebenskrisen zwingen eine normative Kraft innewohnt. > M2
zur Reflexion und können damit neue Spielräume für
55 die Affektion* durch Gründe schaffen. Lebenskrisen Hinweis:
können aber auch zu affektiven Störungen führen, Kants Verständnis der Menschenwürde wird aufge-
die die Spielräume freien, d. h. durch Gründe geleite- griffen und vertieft im Kapitel Pflichtethik, S. 158ff.
ten Handelns verengen.
48 FREIHEIT UND SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Wissen kompakt
Negative Freiheit:
Freiheit von etwas,
Unabhängigkeit

Freiwilligkeit: Positive Freiheit:


Freiheit von Zwang, Freiheit zu etwas, Selbst-
Übereinstimmung mit bestimmung
dem eigenen Willen

Freiheit

Willensfreiheit: Wahlfreiheit:
Freiheit, sich einen eigenen Freiheit, zwischen zwei (oder
Willen zu bilden mehr) Optionen zu wählen

Handlungsfreiheit:
Freiheit, das tun und lassen
zu können, was man will

Kontroverse um das Verhältnis


von Freiheit und Sicherheit

durch die Grundrechte Einschränkungen der Grundrechte


geschützte Freiheiten, zu handeln durch behördliche Anordnung
(z. B. Freizügigkeit, Berufsfreiheit, in Krisenzeiten
Religionsfreiheit) (z. B. Kontaktverbot, Reisebeschrän-
kungen während der Corona-Krise)

Verhältnismäßigkeit
einer freiheitseinschränkenden Maßnahme:
Sie muss geeignet sein, ihr Ziel zu erreichen und
das mildest mögliche Mittel zur Herstellung
von Sicherheit sein.
FREIHEIT UND NATURALISMUS 49

Debatte um die Willensfreiheit

Inkompatibilismus: Kompatibilismus:
Willensfreiheit ist nicht mit Willensfreiheit ist mit
Determinismus vereinbar. Determinismus vereinbar.

Mentale Phänomene sind durch natürliche Unsere Entscheidungen sind


Vorgänge erklärbar (Naturalismus). naturalistisch unterbestimmt.

Alles, was in der Natur geschieht, Entscheiden bedeutet, zwischen ver-


hat eine Ursache (Determinismus). schiedenen Optionen wählen zu können.

Willensfreiheit (Unbedingtheit) Willensfreiheit ist nicht Unbedingtheit


ist eine bloße Illusion. (Freiheit von Determination),
sondern Bestimmung durch die eigenen
Präferenzen (Selbstbestimmung).

Bedingte Freiheit
Faktoren, die unsere Entscheidungen beeinflussen können:
•u  nbewusste Wünsche, Triebe (z. B. Sexualtrieb)
•b  iologische, genetische Faktoren
• s oziologische Faktoren
•… 

Verantwortlichkeit / Schuldfähigkeit:
sind gegeben, wenn jemand prinzipiell fähig ist,
einer Norm Folge zu leisten

Würde des Menschen:


die Fähigkeit, autonom, d. h. nach selbst
gewählten Grundsätzen, zu handeln
Vor allem will ich Spaß haben und
mein Leben genießen. Moral ist mir
nicht wichtig, die velangt doch nur
Einschränkung und Verzicht.“

Ich finde es wichtig,


nicht nur an sein eigenes Fort-
kommen zu denken, sondern
an das, was allen nützt.

Man ist schon für


sein Handeln verantwortlich, Ich versuche immer, mein
und Respekt und Rücksicht- Bestes zu gebe. Tugenden wie
nahme finde ich wichtig. Ehrgeiz und Fleiß halte ich gar
nicht für veraltet.

Ich fühle mich verpflichtet,


mich für den Umweltschutz zu
engagieren. So wie wir leben,
kann es nicht weitergehen.“

Über die Folgen meines Han-


delns denke ich nicht nach. Ich
lebe im Hier und Jetzt und ent-
scheide aus dem Bauch heraus.“
MORALPHILOSOPHIE

TUGENDETHIK

UTILITARISMUS

PFLICHTETHIK

POSITIONEN DER MORALKRITIK

1 Diskutieren Sie die Aussagen der Jugendlichen zu Werten, die sie in ihrem Leben als
A
wichtig erachten. Welche Haltung überzeugt Sie am meisten?
2 Alle vier Jahre erstellen Wissenschaftler der Universität Bielefeld im Auftrag des
Unternehmens Shell eine empirische Studie zur Wertorientierung und zum Sozi-
alverhalten von Jugendlichen. Informieren Sie sich über die Ergbnisse der letzten
Shell-Jugendstudie.
3 Führen Sie in Ihrer Jahrgangsstufe eine eigene Umfrage zur Wertorientierung durch
und werten Sie diese aus.
UTILITARISMUS

Das größte Glück der größten Zahl

M1 Wem nützt was?

Organspende
In Deutschland gibt es zu wenig Organspenden, um allen, die auf Umverteilung
ein Spenderorgan angewiesen sind, helfen zu können. 2018 warteten In Deutschland besitzen die
9797 Personen auf ein lebensrettendes Organ, die Zahl der Spen- obersten 10 % etwa 50 % des
der betrug lediglich 3113. Der Mangel an Spenderorganen liegt nach gesamten Vermögens. Dage-
5 Einschätzung einiger Experten an der seit 1997 geltenden Zustim- gen leben ca. 15 % (1,2 Mio.
mungsregelung, nach der Organe nur entnommen werden können, 5 Menschen) unter der Armuts-
wenn die oder der Betreffende zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt grenze. Stellen Sie sich vor, in
hat oder nach dem Tod die Angehörigen ausdrücklich zustimmen. Deutschland wäre eine soge-
Daran änderte auch die 2020 vom Bundestag beschlossene erweiterte nannte „Vermögensabgabe“
10 Zustimmungslösung wenig, derzufolge alle Bürger regelmäßig Auf- geplant, die in regelmäßigen
klärungsmaterial über die Organspende erhalten sollen. In anderen 10 Abständen die besonders Rei-
Ländern, beispielsweise Luxemburg, Italien und Österreich, gilt dage- chen dazu zwingen würde,
gen die Widerspruchsregelung. Sie legt fest, dass grundsätzlich jeder einen Großteil ihres Vermö-
Verstorbene als Organspender in Frage kommt, sofern er sich nicht gens zur Unterstützung der
15 zu Lebzeiten ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat. Armen zur Verfügung zu
Wäre es nicht besser, auch in Deutschland die Widerspruchsregelung 15 stellen. Fänden Sie eine sol-
anzuwenden, damit mehr Menschen, die auf Organspenden angewie- che Abgabe richtig?
sen sind, weiterleben können? (Im Bundestag wurde ein entsprechen-
der Antrag auf Gesetzesänderung gestellt.)

Enteignung
In einer deutschen Großstadt kommt es im täglichen Berufsverkehr zu kilometer-
langen Staus, wodurch tausende von Menschen auf ihren Fahrten mit dem Auto
behindert werden. Um den Verkehr zu entzerren, soll die Stadtautobahn auf sechs
Spuren ausgebaut werden. Dazu muss allerdings ein Haus abgerissen werden. Der
Eigentümer, der mit drei Generationen in dem Haus lebt, lehnt es ab, das Haus an
die Stadt zu verkaufen. Deshalb erwägt diese, den Eigentümer gegen Zahlung einer
entsprechenden Entschädigung zu enteignen. Halten Sie einen solchen Entschluss
für gerechtfertigt, um die Autobahn bauen und den Verkehr entlasten zu können?

Arzneimittelforschung
Die Erforschung und Entwicklung eines Arzneimittels dauert bis zu 12 Jahre und kostet
einen Pharmakonzern im Durchschnitt ca. 450 Millionen US-Dollar.
In einer Vorstandssitzung eines Pharma-Konzerns soll über ein neues Forschungsvorhaben
entschieden werden. Zur Auswahl steht ein Medikament gegen die Krankheit A, an der eine
Person auf 20.000 Menschen, und ein Medikament gegen die Krankheit B, an der eine Per-
son auf 5.000 Menschen leidet. Wie sollte der Vorstand Ihrer Meinung nach entscheiden?
Autorenbeiträge
UTILITARISMUS 139

M2 Jeremy Bentham: Die Arten von Freude und Leid


Das Prinzip der Nützlichkeit Leiden und Freuden kann man allgemein als Emp-
Der englische Jurist, Philo- findungen bezeichnen, für die man sich interessiert.
soph und Sozialreformer Empfindungen, für die man sich interessiert, sind
Jeremy Bentham (1748-
entweder einfach oder zusammengesetzt. Einfach
1832), gilt als Begründer
des (klassischen) Utilitaris- sind diejenigen, die sich nicht in mehrere auflösen
mus. Abgebildet ist seine lassen; zusammengesetzt sind diejenigen, die sich in 5
Auto-Ikone, sein mumifi- verschiedene einfache auflösen lassen. […]
zierter Leichnam, der nach
seinem letzten Willen in der Die verschiedenen einfachen Freuden, für die die
Universität London ausge- menschliche Natur empfänglich ist, scheinen die fol-
stellt wird. genden zu sein: a) Die Sinnesfreuden. b) Die Freuden
Das Prinzip der Nütz- des Reichtums. c) Die Freuden der Kunstfertigkeit. d) 10

lichkeit ist die Grund- Die Freuden der Freundschaft. e) Die Freuden eines
lage des vorliegenden guten Rufes. f) Die Freuden der Macht. g) Die Freu-
Werkes; es wird daher den der Frömmigkeit. h) Die Freuden des Wohlwol-
5 zweckmäßig sein, mit einer ausdrücklichen und be- lens. i) Die Freuden des Übelwollens. j) Die Freuden
stimmten Erklärung dessen zu beginnen, was mit der Erinnerung. k) Die Freuden der Einbildungskraft. 15

ihm gemeint ist. Unter dem Prinzip der Nützlichkeit l) Die Freuden der Erwartung. m) Die gesellschaftlich
ist jenes Prinzip zu verstehen, das schlechthin jede fundierten Freuden. n) Die Freuden der Entspannung.
Handlung in dem Maß billigt oder missbilligt, wie Die verschiedenen Leiden scheinen die folgenden zu
10 ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück der sein: a) Die Leiden der Entbehrung. b) Die Leiden der
Gruppe, deren Interesse in Frage steht, zu vermehren Sinne. c) Die Leiden der Unbeholfenheit. d) Die Lei- 20

oder zu vermindern, oder – das gleiche mit anderen den der Feindschaft. e) Die Leiden eines schlechten
Worten gesagt – dieses Glück zu befördern oder zu Rufes. f) Die Leiden der Frömmigkeit. g) Die Leiden
verhindern. […] der Mildtätigkeit. h) Die Leiden der Missgunst. i) Die
15 Die Bezeichnung Prinzip der Nützlichkeit hat man Leiden der Erinnerung. j) Die Leiden der Einbildungs-
unlängst durch das Prinzip des größten Glücks oder kraft. k) Die Leiden der Erwartung. l) Die gesellschaft- 25

der größten Glückseligkeit* ergänzt oder ersetzt. Dies lich fundierten Leiden.
ist eine Kurzformulierung, an deren Stelle man aus- Einführung in die Prinzipien der
Moral und Gesetzgebung (1780, 1822)
führlich sagen müsste: jenes Prinzip, das das größte
20 Glück all derer festsetzt, deren Interesse als das rich-
tige und angemessene, und zwar als das einzig rich-
tige und angemessene und schlechthin wünschens- 1  Erörtern Sie jeweils die Folgen für die Einzel-
A
werte Ziel menschlichen Handelns in Frage steht. […] nen sowie die Gesellschaft und treffen Sie eine
Das Wort Nützlichkeit verweist nicht so eindeutig auf Entscheidung zu den aufgeworfenen Fragen.
25 die Vorstellung von Freude und Leid, wie es die Wör- > M1

ter Glück und Glückseligkeit tun; es veranlasst uns 2  Stellen Sie dar, was Sie schon über das Nutzen-
auch nicht zur Berücksichtigung der Zahl der betrof- prinzip wissen (vgl. Abenteuer Ethik 3, S. 253).
fenen Interessen, obwohl die Zahl der Umstand ist, 3  Erläutern Sie Benthams Maßstab für Richtig
und Falsch, insbesondere den Zusammenhang
der in größtem Ausmaß bei der Aufstellung des Maß-
von Nutzen und Freude bzw. Glück. > M2
30 stabs, um den es hier geht, mitwirkt: des Maßstabs
4 Finden Sie Beispiele für die von Bentham dar-
für Richtig und Falsch, mit dem allein die Angemes- gestellten Freuden und Leiden und beurteilen
senheit menschlichen Verhaltens in jeder Situation Sie, inwiefern sie als Maßstab für ethische
angemessen überprüft werden kann. […] Entscheidungen dienen können. > M2
140 MORALPHILOSOPHIE

Lässt sich Nutzen berechnen?

M1 Jeremy Bentham: Das hedonistische Kalkül c) den Wert jeder Freude, die von ihr in zweiter Linie
hervorgebracht zu sein scheint. Dies begründet die
Folgenträchtigkeit der ersten Freude und die Un- 30

reinheit des ersten Leids;


d) den Wert jeden Leids, das von ihr in zweiter Linie
anscheinend hervorgebracht wird. Dies begründet
die Folgenträchtigkeit des ersten Leids und die Un-
reinheit der ersten Freude. 35

e) Man addiere die Werte aller Freuden auf der einen


und die aller Leiden auf der anderen Seite. Wenn
die Seite der Freude überwiegt, ist die Tendenz der
Handlung im Hinblick auf die Interessen dieser
einzelnen Person insgesamt gut; überwiegt die Sei- 40

Für eine Anzahl von Personen wird der Wert einer te des Leids, ist ihre Tendenz insgesamt schlecht.
Freude oder eines Leids, sofern man sie im Hinblick f) 
Man bestimme die Anzahl der Personen, deren
auf jede von ihnen betrachtet, gemäß sieben Umstän- Interessen anscheinend betroffen sind, und wie-
den größer oder kleiner sein: das sind die sechs vo- derhole das oben genannte Verfahren im Hinblick
5 rigen, nämlich auf jede von ihnen. Man addiere die Zahlen, die 45

a) die Intensität, den Grad der guten Tendenz ausdrücken, die die
b) die Dauer, Handlung hat – und zwar in Bezug auf jedes Indi-
c) die Gewissheit oder Ungewissheit, viduum, für das die Tendenz insgesamt gut ist; das
d) die Nähe oder Ferne, Gleiche tue man in Bezug auf jedes Individuum,
10 e) die Folgenträchtigkeit, für das die Tendenz insgesamt schlecht ist. Man 50

f) die Reinheit einer Freude oder eines Leids. ziehe die Bilanz; befindet sich das Übergewicht
Hinzu kommt ein weiterer Umstand, nämlich auf der Seite der Freude, so ergibt sich daraus für
g) das Ausmaß, das heißt die Anzahl der Personen, die betroffene Gesamtzahl oder Gemeinschaft von
auf die Freude oder Leid sich erstrecken oder (mit Individuen eine allgemein gute Tendenz der Hand-
15 anderen Worten) die davon betroffen sind. lung; befindet es sich auf der Seite des Leids, ergibt 55

Wenn man also die allgemeine Tendenz einer Hand- sich daraus für die gleiche Gemeinschaft eine all-
lung, durch die die Interessen einer Gemeinschaft gemein schlechte Tendenz.
betroffen sind, genau bestimmen will, verfahre man Es kann nicht erwartet werden, dass dieses Verfahren
folgendermaßen. Man beginne mit einer der Perso- vor jedem moralischen Urteil und vor jeder gesetz-
20 nen, deren Interessen am unmittelbarsten durch eine gebenden oder richterlichen Tätigkeit streng durch- 60

derartige Handlung betroffen zu sein scheinen, und geführt werden sollte. Es mag jedoch immer im Blick
bestimme: sein, und je mehr sich das bei solchen Anlässen tat-
a) den Wert jeder erkennbaren Freude, die von der sächlich durchgeführte Verfahren diesem annähert,
Handlung in erster Linie hervorgebracht zu sein desto mehr wird sich ein solches Verfahren dem Rang
25 scheint; eines exakten Verfahrens annähern. 65

b) den Wert jeden Leids, das von ihr in erster Linie Eine Einführung in die Prinzipien der Moral
und der Gesetzgebung (1780/1789)
hervorgebracht zu sein scheint;
UTILITARISMUS 141

H M2 Otfried Höffe: Elemente des Utilitarismus M3 Otfried Höffe:


Der Utilitarismus […] besteht […] aus vier Elementen Kritik am Bentham’schen Kalkül
oder Teilkriterien oder Teilprinzipien: Eine grundlegende Schwierigkeit [des Utilitarismus]
1. […] Handlungen [sollen] nicht für sich selbst […] besteht in dem stillschweigend angesetzten Postulat
als richtig oder falsch beurteilt werden; ihre Rich- der Messbarkeit und Vergleichbarkeit aller Gratifika-
5 tigkeit bestimmt sich vielmehr von den Folgen her. tionen. Das von Bentham vorgeschlagene Verfahren
2. Gemessen werden die Folgen an ihrem Nutzen (lat. der Addition und Subtraktion von Gratifikationswer- 5

utilitas, daher die Bezeichnung Utilitarismus). ten setzt nämlich eine gemeinsame Maßeinheit von
3. Entscheidend ist aber nicht der Nutzen für beliebi- Freude und Schmerz voraus; ohne ihre Hilfe lassen
ge Ziele, Werte oder Zwecke […]. Als höchster Wert sich die Gratifikationswerte nicht numerisch ange-
10 gilt die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse ben und ohne eine numerische Angabe überhaupt
und Interessen: das menschliche Glück; Ziel ist die nicht addieren oder subtrahieren. Die Annahme einer 10

maximale Bedürfnis- und Interessenbefriedigung solchen Maßeinheit muss aber […] als hoffnungslos
bzw. die minimale Frustration. Deshalb gilt das als realitätsfremd gelten.
sittlich geboten, was am meisten Lust (griech. he- Ferner setzt der Kalkül voraus, dass die Basis der
15 done) bereitet […] oder aber Unlust vermeidet […]. Kalkulation, die Bedürfnisse und Interessen der Be-
Genauer: Kriterium der Beurteilung der Folgen ei- troffenen, schon jeweils hinreichend genau bekannt 15

ner Handlung ist ihr Gratifikationswert*: das Maß ist. Wie die Basis bestimmt werden soll, wird im Ver-
an Lust, das die Handlung hervorruft, vermindert lauf der Darstellung des Kalküls nicht deutlich. […]
um das mit ihr verbundene Maß an Unlust. Überdies ist es kaum sinnvoll, auf alle Interessen in
20 4. Es kommt nicht auf den Gratifikationswert für den gleicher Weise einzugehen. Denn dann müsste man
Handelnden allein an […]; das würde einen ratio- unsoziale Interessen: die exzentrischen und fanati- 20

nalen Egoismus begründen […]. Ausschlaggebend schen Intentionen sowie die verschiedenen Formen
ist auch nicht das Wohlergehen bestimmter Grup- von Neid, Eitelkeit und Herrschsucht, von Aggressi-
pen, Klassen oder Schichten, sondern das aller von on, Destruktion und Sadismus, mit gleichem Gewicht
25 der Handlung Betroffenen. Der Utilitarismus […] berücksichtigen wie die sozial indifferenten; und die
verpflichtet das menschliche Handeln auf das all- sozial engagierten Interessen, Notleidenden zu helfen 25

gemeine Wohlergehen […]. oder Andersdenkende zu tolerieren, bekämen auch


Die vier Teilkriterien: das Folgen- (Konsequenzen-) nur dasselbe Gewicht.
und das Nutzen- (Utilitäts-) Prinzip, das hedonisti- Einführung in die utilitaristische Ethik (1992)
30 sche und das universalistische Prinzip lassen sich in
das eine utilitaristische Prinzip, das Prinzip der Nütz-
lichkeit, zusammenfassen: „Diejenige Handlung […] 1  Erläutern Sie, wie das hedonistische Kalkül nach
A
ist moralisch richtig, deren Folgen für das Wohlerge- Bentham anzuwenden ist. > M1
hen aller Betroffenen optimal sind“ […]. 2 Erproben Sie das hedonistische Kalkül an den
Einführung in die utilitaristische Ethik (1992) Fallbeispielen von S. 138 in arbeitsteiliger
Gruppenarbeit. Setzen Sie als Höchstwert für
Utilitarismus Freude +10 und als Tiefstwert für Leid –10 fest.
Der Utilitarismus (von lat. utilis: nützlich) ist eine Sollten Sie bei der Kalkulation auf Schwierig-
ethische Position, der die Moralität einer Handlung keiten stoßen, dann leiten Sie daraus Einwän-
nach der Nützlichkeit der Folgen (ihrem Beitrag zur de gegen den Utilitarismus Benthams ab. > M1 H
Förderung von Freude, Wohlergehen, Glück) bewer- 3 Visualisieren Sie die vier Elemente des Utilita-
tet. Gut ist demnach die Handlung, die für alle Be- rismus nach Höffe. > M2
troffenen den größtmöglichen Nutzen hervorbringt. 4 Diskutieren Sie Höffes Kritik an Benthams he-
donistischem Kalkül. > M3
142 MORALPHILOSOPHIE

Qualität vor Quantität?

M1 Von Menschen und Schweinen einbar. Es wäre unsinnig anzunehmen, dass der Wert 20

einer Freude ausschließlich von der Quantität abhän-


gen sollte, wo doch in der Wertbestimmung aller an-
deren Dinge neben der Quantität auch die Qualität
Berücksichtigung findet.
Fragt man mich nun, was ich meine, wenn ich von 25

der unterschiedlichen Qualität von Freuden spreche,


und was eine Freude – bloß als Freude, unabhängig
von ihrem größeren Betrag – wertvoller als eine an-
dere macht, so gibt es nur eine mögliche Antwort:
von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die 30

von allen oder nahezu allen, die beide erfahren […],


Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein, entschieden bevorzugt wird. Wird die eine von zwei
als ein zufrieden gestelltes Schwein. John Stuart Mill Freuden von denen, die beide kennen und beurteilen
können, so weit über die andere gestellt, dass sie sie
M2 John Stuart Mill: auch dann noch vorziehen, wenn sie wissen, dass sie 35

Der qualitative Utilitarismus größere Unzufriedenheit verursacht, und sie gegen


John Stuart Mill (1806–1873) war ein noch so viele andere Freuden, die sie erfahren könn-
Anhänger des von Bentham begründe- ten, nicht eintauschen möchten, sind wir berechtigt,
ten Utilitarismus, den er weiterentwi-
jener Freude eine höhere Qualität zuzuschreiben, die
ckelt hat.
die Quantität so weit übertrifft, dass diese im Ver- 40

Die Auffassung, für die die gleich nur gering ins Gewicht fällt.
Nützlichkeit oder das Prinzip Es ist nun aber eine unbestreitbare Tatsache, dass
des größten Glücks die Grund- diejenigen, die mit beiden gleichermaßen bekannt
lage der Moral ist, besagt, dass und für beide gleichermaßen empfänglich sind, der
Handlungen insoweit und in Lebensweise entschieden den Vorzug geben, an der 45

dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz auch ihre höheren Fähigkeiten beteiligt sind. Nur
haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch wenige Menschen würden darein einwilligen, sich in
falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von eines der niederen Tiere verwandeln zu lassen, wenn
Glück zu bewirken. Unter „Glück“ (happiness) ist da- man ihnen verspräche, dass sie die Befriedigungen
10 bei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), des Tiers im vollen Umfange auskosten dürften. 50

unter „Unglück“ (unhappiness) Unlust und das Feh- Kein intelligenter Mensch möchte ein Narr, kein ge-
len von Lust verstanden. […] bildeter Mensch ein Dummkopf, keiner, der feinfüh-
Der Gedanke, dass das Leben […] keinen höheren Zweck lig und gewissenhaft ist, selbstsüchtig und nieder-
habe als die Lust, […] erscheint […] [vielen Menschen] trächtig sein – auch wenn sie überzeugt wären, dass
15 im äußersten Grade niedrig und gemein; als eine An- der Narr, der Dummkopf oder der Schurke mit seinem 55

sicht, die nur der Schweine würdig wäre […]. Schicksal zufriedener ist als sie mit dem ihren. Das,
Die Anerkennung der Tatsache, dass einige Arten der was sie vor ihm voraushaben, würden sie auch für
Freude wünschenswerter und wertvoller sind als an- die vollständigste Erfüllung all der Wünsche nicht
dere, ist mit dem Nützlichkeitsprinzip durchaus ver- aufgeben, die sie mit ihm gemeinsam haben. […]
UTILITARISMUS 143

60 Ein höher begabtes Wesen verlangt mehr zu seinem hen sind, deren die tierische Natur ohne die höheren
Glück, ist wohl auch größeren Leidens fähig und ihm Fähigkeiten fähig ist, dann verdienen sie auch in die- 105

sicherlich in höherem Maße ausgesetzt als ein nie- ser Frage unsere volle Beachtung. […]
deres Wesen; aber trotz dieser Gefährdungen wird es Nach dem Prinzip des größten Glücks ist […] der letz-
niemals in jene Daseinsweise absinken wollen, die es te Zweck, bezüglich dessen und um dessentwillen
65 als niedriger empfindet. […] alles andere wünschenswert ist […], ein Leben, das
Es ist unbestreitbar, dass ein Wesen mit geringerer so weit wie möglich frei von Unlust und in quan- 110

Fähigkeit zum Genuss die besten Aussichten hat, titativer Hinsicht so reich wie möglich an Lust ist;
voll zufrieden gestellt zu werden; während ein We- wobei der Maßstab, an dem Qualität gemessen und
sen von höheren Fähigkeiten stets das Gefühl haben mit der Quantität verglichen wird, die Bevorzugung
70 wird, dass alles Glück, das es von der Welt, so wie derer ist, die ihrem Erfahrungshorizont nach […] die
sie beschaffen ist, erwarten kann, unvollkommen ist. besten Vergleichsmöglichkeiten besitzen. Indem dies 115

Aber wenn diese Unvollkommenheiten überhaupt nach utilitaristischer Auffassung der Endzweck des
nur erträglich sind, kann es lernen, mit ihnen zu le- menschlichen Handelns ist, ist es notwendigerweise
ben, statt die anderen zu beneiden, denen diese Un- auch die Norm der Moral. Diese kann also definiert
75 vollkommenheiten nur deshalb nicht bewusst sind, werden als die Gesamtheit der Handlungsregeln und
weil sie sich von den Vollkommenheiten keine Vor- Handlungsvorschriften, durch deren Befolgung ein 120

stellung machen können, mit denen diese verglichen Leben der angegebenen Art für die gesamte Mensch-
werden. Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu heit im größtmöglichen Umfange erreichbar ist; und
sein, als ein zufrieden gestelltes Schwein; besser ein nicht nur für sie, sondern, soweit es die Umstände
80 unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. […] erlauben, für die gesamte fühlende Natur.
Darüber, welche von zwei Befriedigungen es sich zu Der Utilitarismus (1861)
verschaffen am meisten lohnt […], kann nur das Ur-
teil derer, die beide erfahren haben, oder, wenn sie Quantitativer und qualitativer Utilitarismus
auseinander gehen sollten, das der Mehrheit unter Der quantitative Utilitarismus bewertet die Folgen
85 ihnen als endgültig gelten. Und wir dürfen umso we- einer Handlung ausschließlich nach dem rein rech-
niger zögern, ihr Urteil über die Qualität einer Befrie- nerischen Übergewicht von Freude gegenüber Leid
bei allen Betroffenen, der qualitative Utilitarismus
digung zu akzeptieren, als wir uns selbst hinsichtlich
berücksichtigt zudem unterschiedliche Gewichtun-
der Quantität auf keinen anderen Richtspruch beru- gen für verschiedene Arten von Freude und Leid.
fen können. Was anders sollte darüber entscheiden,
90 welche von zwei Schmerzempfindungen die heftigste
oder welche von zwei lustvollen Empfindungen die 1 S tellen Sie sich vor, Sie könnten sich in ein Tier
A
intensivste ist, als das Mehrheitsvotum derer, denen verwandeln, das alle sinnlichen Genüsse er-
beide vertraut sind? fährt und immer zufrieden gestellt ist. Würden
Angenehme und unangenehme Empfindungen sind Sie der These Mills dann zustimmen? > M1
95 unter sich sehr ungleichartig, und Unlust ist stets von 2 Analysieren Sie, welches Prinzip Mill zur Be-
anderer Art als Lust. Welche andere Instanz als das wertung von Handlungen aufstellt und wie er
es begründet. > M2
Empfindungs- und Urteilsvermögen der Erfahrenen
3 Erarbeiten Sie, wie nach Mill über die mora-
sollte uns sagen können, ob es sich auszahlt, für eine
lische Qualität von Handlungen entschieden
bestimmte angenehme Empfindung eine bestimm- werden soll. > M2
100 te unangenehme Empfindung in Kauf zu nehmen? 4  Vergleichen Sie Mills Theorie mit der Benthams
Wenn diese aber nun erklären, dass die aus den hö- (s. S. 140f.). > M1/M2
heren Fähigkeiten erwachsenden Freuden der Art 5  Nehmen Sie Stellung zum qualitativen Utilita-
nach – ungeachtet ihrer Intensität – denen vorzuzie- rismus Mills. > M1/M2
144 MORALPHILOSOPHIE

Nützliche Handlungen – nützliche Regeln

M1 William K. Frankena: Anderer Meinung ist der Regelutilitarismus […]. [Er


Zwei Formen des Utilitarismus betont] die zentrale Rolle von Regeln für die Moral
William K. Frankena (1908– und besteht darauf – wenn schon nicht immer, so
1994) lehrte Philosophie an doch im Allgemeinen konkrete moralische Entschei-
der University of Michigan
dungen im Einklang mit einer Regel zu fällen (wie der 35
in Ann Arbor. Im folgenden
Text erläutert er zwei For- Regel, die Wahrheit zu sagen), ohne Rücksicht dar-
men des Utilitarismus, die auf, welche Handlungsalternative in der betreffenden
der australische Philosoph Situation die besten Folgen hat. […] Der Regelutilita-
John J. C. Smart unter-
schieden hat. rismus [verlangt] weiter, Regeln stets so zu wählen,
dass sie ihrerseits auf das größte allgemeine Wohl 40

Wir müssen zwei For- ausgerichtet sind. Das heißt, die Frage lautet nicht
men des Utilitarismus mehr, welche Handlung am nützlichsten ist, sondern
unterscheiden: den welche Regel. Wenn wir eine Handlung in Betracht
Handlungsutilitarismus und den Regelutilitarismus. ziehen, so sollten wir uns nicht fragen „Was werden
5 Handlungsutilitaristen sind der Meinung, man sol- die Folgen sein, wenn ich in diesem Fall so handle?“, 45

le, was richtig oder pflichtgemäß ist, im Allgemeinen sondern „Was wären die Folgen, wenn jeder in der-
(oder zumindest, sofern es durchführbar ist) unter artigen Fällen so handelte?“ – eine Frage, die wir uns
unmittelbarer Heranziehung des Prinzips der Nütz- tatsächlich in unseren moralischen Überlegungen
lichkeit entscheiden; mit anderen Worten, man solle häufig stellen. Das Utilitätsprinzip wird – im Nor-
10 herauszufinden suchen, welche der möglichen Hand- malfall zumindest – nicht bei der Festlegung unserer 50

lungen vermutlich das größte Übergewicht von gu- konkreten Pflichten relevant, sondern bei der Festle-
ten gegenüber schlechten Konsequenzen in der Welt gung von Regeln, nach denen diese sich richten. Die
herbeiführen wird. Man muss sich fragen: „Welche Auswahl, Beibehaltung, Abänderung und Aufhebung
Folgen wird meine Ausführung dieser Handlung in dieser Regeln darf allein auf der Basis ihrer Nütz-
15 dieser Situation haben?“ und nicht: „Welche Folgen lichkeit erfolgen. Das Prinzip der Nützlichkeit bleibt 55

wird die allgemeine Ausführung derartiger Handlun- damit der letzte Maßstab, wenn es auch, anstatt auf
gen in derartigen Situationen haben?“ Verallgemei- der Ebene von konkreten Urteilen, auf der Ebene von
nerungen wie „Die Wahrheit zu sagen dient wahr- Regeln eingreift. Auch der Handlungsutilitarist kann
scheinlich immer dem größten allgemeinen Wohl“ den Gebrauch von Regeln zulassen. Er muss jedoch
20 oder „Die Wahrheit zu sagen dient im Allgemeinen eine Regel wie „Sag die Wahrheit“ im Sinne von „Die 60

dem größten allgemeinen Wohl“ mögen als Faustre- Wahrheit zu sagen dient im Allgemeinen dem größ-
geln, gegründet auf in der Vergangenheit gemachte ten allgemeinen Wohl“ auffassen, der Regelutilitarist
Erfahrungen, von Nutzen sein; aber die entscheiden- dagegen im Sinne von „Immer die Wahrheit zu sagen
de Frage ist stets, ob es in diesem Fall dem größten dient dem größten allgemeinen Wohl“. Das bedeutet,
25 allgemeinen Wohl dient, die Wahrheit zu sagen oder dass es für den Regelutilitaristen die Pflicht geben 65

nicht. Es kann niemals richtig sein, der Regel, die kann, einer Regel einfach deshalb zu folgen (etwa
Wahrheit zu sagen, Folge zu leisten, wenn in einem der Regel, die Wahrheit zu sagen), weil es nützlich ist,
konkreten Fall stichhaltige Gründe für die Annahme diese Regel zu haben, selbst wenn im konkreten Fall
bestehen, dass dem genannten Ziel mit einer Lüge die Befolgung der Regel nicht zu den besten Folgen
30 besser gedient ist […]. führt. Analytische Ethik (1963) 70
UTILITARISMUS 145

Vorzug verdient. Wenn das richtig ist, so müssen wir


Handlungs- und Regelutilitarismus selbst den Regelutilitarismus aufgeben.
Ein Handlungsutilitarist fragt sich: „Was wären die Die Sache ist, dass eine bestimmte Regel zwar die 35
Folgen, wenn ich in diesem Fall so handle?“, d. h. er
Summe des Guten in der Welt maximal vergrößern
bewertet die Folgen einer einzelnen Handlung. Ein
Regelutilitarist fragt sich dagegen: „Was wären die mag, aber trotzdem ungerecht sein kann in der Art,
Folgen, wenn jeder in derartigen Fällen so handelt?“ wie sie diese Summe verteilt, so dass eine weniger
Er orientiert sich an einer Regel, eine Richtlinie, die ergiebige Regel, die gerecht vorgeht, vorzuziehen ist.
für alle Handlungen dieser Art gilt. […] Danach wäre also das Kriterium für die Aufstel- 40

lung moralischer Regeln nicht bloß ihre Nützlichkeit,


sondern auch ihre Gerechtigkeit. […] Die Gerechtig-
M2 William K. Frankena: keit [geht] der Nützlichkeit […] vor.
Gemeinwohl und Gerechtigkeit Analytische Ethik (1963)
[Es] […] kann Fälle geben, in denen wir etwa den
Regeln, Versprechen zu halten oder nicht zu lügen,
selbst dann Folge leisten müssen, wenn wir damit im
speziellen Fall nicht dem größten allgemeinen Wohl
5 dienen. […] Daher können wir den Handlungsutilita-
rismus nicht akzeptieren. […] [Alles scheint also] für
den Regelutilitarismus zu sprechen. […] Jedoch gibt
es auch gegen [ihn] einen entscheidenden Einwand.
[…]
10 Angenommen, wir haben zwei Regeln, R1 und R2, die
nicht beide unserer Moral einverleibt werden kön-
nen. Für jede dieser beiden Regeln kennen wir die
Ergebnisse ihrer allgemeinen Befolgung (was freilich
in der Praxis schwer zu erreichen ist) und finden,
15 dass in beiden Fällen das Übergewicht von guten
gegenüber schlechten Folgen – auf lange Sicht und
für alle Betroffenen – das gleiche ist. Dann muss der
Regelutilitarist sagen, dass R1 und R2 als moralische
Handlungsprinzipien die gleiche Funktion erfüllen
20 und dass beide gleich annehmbar sind. Es könnte je-
doch der Fall sein, dass sie das in gleichem Umfang
realisierte Gute in verschiedener Weise verteilen:
In Befolgung von Regel R1 könnte alles einer rela-
tiv kleinen Gruppe von Personen zukommen, ohne
1 S tellen Sie die Unterschiede zwischen Hand-
A
25 dass diese es besonders verdient haben (an dieser
Stelle den Gesichtspunkt des Verdienstes ins Spiel lungs- und Regelutilitarismus grafisch dar und
veranschaulichen Sie sie am Beispiel der Lüge.
zu bringen, widerspricht im Übrigen dem Utilitaris-
> M1 H
mus); in Befolgung von Regel R2 dagegen könnte es
2 Nehmen Sie Stellung zu Frankenas Bewertung
gleichmäßiger unter einen größeren Teil der Bevölke- des Handlungsutilitarismus (Z. 1-9). > M2
30 rung verteilt werden. In diesem Fall (so scheint mir) 3 Erläutern Sie Frankenas Kritik am Regelutilita-
müssen und würden wir wohl auch sagen, dass R1 rismus anhand der Abbildungen (Z. 10-34).
eine ungerechte Regel ist und dass R2 moralisch den > M2
146 MORALPHILOSOPHIE

Das Gerechtigkeitsproblem

M1 Ist Hartz IV gerecht?


ALG I:
60 % des letzten
Nettogehalts

ALG II:
446 Euro

Das oft als „Hartz IV“ bezeichnete Arbeitslosengeld II


wurde im Jahr 2005 eingeführt. Nach Meinung seiner
Kritiker/innen birgt es die Gefahr von Ungerechtigkei-
ten auf Kosten von Minderheiten und zugunsten des
Gesamtnutzens der Mehrheit.

M2 Otfried Höffe: Eine Gerechtigkeitslücke? M3 Bernward Gesang: Humaner Utilitarismus


[Es gibt] Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit, Jede Form des Utilitarismus beruht auf dem Gedan-
Prinzipien der Verteilung von öffentlichen Gütern, ken, die Interessen bzw. das Glück […] aller von einer
von Rechten und Pflichten, von Vor- und Nachteilen Entscheidung Betroffenen bei seiner „Glücksbilanzie-
gemeinsamer Handlungen, die uns als moralisch rung“ zu berücksichtigen. […] Ein humaner Utilitarist
5 richtig einleuchten und die zugleich mit dem Prinzip muss auch die Interessen von nicht direkt betroffenen 5

der Nützlichkeit in Konflikt stehen. Wenn von zwei Menschen in seine Berechnung einbeziehen. Er kann
möglichen Handlungen, die den gleichen kollektiven diese Interessen nicht einfach als irrational abquali-
Gesamtnutzen hervorbringen, die eine den Nutzen fizieren. Genau dies scheint die utilitaristische Stan-
auf eine kleine Zahl von Personen, die andere auf dardreaktion angesichts so genannter „externer Präfe-
10 viele oder alle verteilt, so sind utilitaristisch gesehen renzen“ zu sein. Externe Präferenzen sind eben dieje- 10

beide Handlungen gleichwertig. Nach unseren nigen der Abtreibungsgegner, wenn sie sich Sorgen
Gerechtigkeitsüberzeugungen würden wir dagegen um die Präferenzen von Embryonen machen. […] Lau-
die eine als ungerecht verurteilen und die andere als tet das Motto, dass jedes Interesse zählt, dann kann
gerecht hervorheben. […] man externe Präferenzen nicht ausschließen. Ansons-
15 [O]hne die Gerechtigkeit als Korrektiv, stellt der Utili- ten müsste man Gründe dafür vorbringen, welche 15

tarismus eine Art Kollektivegoismus dar, dem eine Interessen zählen und welche nicht. Diese Gründe
Unterdrückung oder Benachteiligung von Minder- würden sich aber kaum auf Nützlichkeit beziehen
heiten, selbst eine Verletzung unveräußerlicher können und müssten auf andere Ressourcen zurück-
Menschenrechte erlaubt ist – sofern sie sich mit einer greifen. […]
20 größeren Besserstellung der Mehrheit verbindet […]. Damit dürfte klar sein: Ein (humaner) Utilitarist muss 20

Einführung in die utilitaristische Ethik (1975) auch die moralischen Präferenzen in der Gesellschaft
UTILITARISMUS 147

aufgreifen. Diese erhalten also Gewicht, ein Grund (4) Beachtung aller externen Präferenzen: Toleriert
dafür, dass der Utilitarismus nicht beliebig weit von eine Mehrheit in einer Gesellschaft Homosexu-
ihnen abweichen kann. Die externen Präferenzen alität und lehnt Antiliberalismus ab, dann wird
25 setzen jeder Revolution Grenzen. So werden die diese Mehrheit Präferenzen über die Präferenzen
moralischen Intuitionen der Menschen zu einem der antiliberalen Gegner der Homosexualität ha- 70

„Korrektiv“ des Utilitarismus, denn moralische Intui- ben, die eventuell ausreichen, um diese Gegner
tionen haben die Eigenschaft, in Präferenzen darüber zu rückzuweisen, selbst wenn die Präferenzen der
überzugehen, was der Fall sein soll. […] Antiliberalen im direkten Vergleich mit denen der
30 Aber hat dieser Utilitarismus auf den zweiten Blick Homosexuellen stärker sein würden. Zählen Prä-
betrachtet nicht auch Schwächen? Was passiert, wenn  ferenzen der Gegner der Homosexualität, dann 75

eine große Zahl der Bürger angibt, Homosexualität zählen auch die der Gegner der Gegner der
abzulehnen? Muss man dann dieser antiliberalen Homosexualität.
Intoleranz einen Raum geben, weil sie auf externen Mit Gerechtigkeitsproblemen müsste der Utilitarist
35 Präferenzen beruht, die zu berücksichtigen sind? Dem ebenso wie gerade gezeigt verfahren. Auch hier könn-
Gegner der Homosexualität könnte man begegnen, te der Utilitarist auf das vorhandene Interesse vieler 80

indem man verschiedene Instrumente auf ihn an- Menschen an einer gerechten Welt hinweisen, das im
wendet, deren Auflistung den humanen Utilitarismus […] „Gerechtigkeitssinn“ wurzelt. Dieser Sinn ist im-
charakterisiert. merhin eines der stärksten Gefühle, das Menschen
40 (1) Aufweisen von Rationalitätsdefiziten: Man könnte leitet. […] Die Existenz dieser externen Gerechtig-
bezweifeln, ob die Meinung dessen, der Homosexu- keitspräferenzen ist – neben den jeweiligen internen 85

alität eingeschränkt wissen will, wirklich rational Interessen – ein starker Grund für die Beachtung von
ist. […] Gerechtigkeit im Utilitarismus.
(2) Idealere Präferenzlagen erzeugen: Ein Utilitarist Nützlichkeit und Glück (2008)
45 sollte manchmal auf die Erstellung einer idealen
bzw. idealeren Präferenzlage hinarbeiten. Als
Utilitarist sucht er nach maximalen Nutzenwerten. 1 Werten Sie die Informationen zum Arbeitslo-
A
Wird eine Minderheit „für die Mehrheit geopfert“, sengeld I und II aus. Stimmen Sie darüber ab,
dann gibt es viele, die eventuell davon profitieren, ob Sie „Hartz IV“ für gerecht halten, und be-
50 und einige, die darunter stark leiden. Erstrebens- gründen Sie Ihre Position. > M1
wert wäre eine idealere Präferenzlage, in der alle 2 Erarbeiten Sie, worin genau nach Otfried
Höffe die Gerechtigkeitslücke des Utilitarismus
profitieren, weil niemand ein Interesse hat, eine
besteht. > M2
Minderheit zu opfern. Die Nutzensumme wäre
3 Prüfen Sie am Beispiel der aktuellen Hartz IV-
hier jedenfalls größer als in dem Fall, dass man Regelungen, ob der Vorwurf gegen den Utilita-
55 höchst intensive Interessen von Minderheiten rismus gerechtfertigt ist. > M1/M2
übergehen muss. 4 Erarbeiten Sie eine Mindmap zum Begriff des
(3) Wahrung langfristiger Gesamtinteressen: Würde „humanen Utilitarismus“ von Bernward Ge-
man der Forderung der Gegner der Homosexualität sang. > M3
nachgeben, dann würde man vielleicht auch allen 5 Diskutieren Sie, ob das Konzept des „huma-
60 gleichartigen antiliberalen Forderungen auf ande- nen Utilitarismus“ die Gerechtigkeitslücke des
klassischen Utilitarismus schließen kann.
ren Gebieten nachgeben müssen – ein Dammbruch
> M1-M3
droht. […] Wir würden dann eventuell in einem
6 Untersuchen Sie, welche weiteren gesellschaft-
Maße zu einer antiliberalen Gesellschaft werden, lichen Probleme der gerechten Verteilung von
dass dies für die überwiegende Mehrheit einen Gütern, Rechten und Pflichten Schwierigkeiten
65 eklatant unerwünschten Wandel bedeuten würde. für den Utilitarismus aufwerfen. > M1-M3
148 MORALPHILOSOPHIE

Interessen abwägen
zu M2, Singer, S. 148-151

M1 Spendenaufruf werden auf die Präferenzen anderer.


Nun stelle man sich vor, dass ich zu einer Gruppe von
Menschen gehöre, die in einem Wald lebt und sich
von den dortigen Früchten ernährt. Auf mich allein 15

gestellt entdecke ich einen Baum, der besonders rei-


che Früchte trägt, und bin mit der Wahl konfrontiert,
ob ich alle Früchte selber esse oder sie mit andern tei-
le. Zudem stelle man sich vor, dass ich in einem völ-
ligen ethischen Vakuum entscheide, dass ich nichts 20

weiß von moralischen Erwägungen – ich bin sozusa-


gen in einem vormoralischen Stadium des Denkens.
Wie würde ich mich entscheiden? Etwas – in diesem
vormoralischen Stadium vielleicht das Einzige –, das
immer noch relevant bliebe, wäre die Frage, in wel- 25

cher Weise die Wahl, die ich treffen werde, meine


Präferenzen beträfe.
Angenommen, ich beginne dann, so weit moralisch
zu denken, dass ich mich in die Lage der anderen
versetze, die von meiner Entscheidung betroffen 30

sind. Um zu wissen, wie es ist, sich in ihrer Lage zu


befinden, muss ich den Standpunkt ihrer Präferenzen
einnehmen – ich muss mir vorstellen, wie hungrig sie
sind, wie sehr sie die Früchte genießen würden usw.
Nachdem ich das getan habe, muss ich, wenn ich in 35

ethischen Maßstäben denke, erkennen, dass ich nicht


M2 Peter Singer: Der Präferenzutilitarismus meinen eigenen Präferenzen größeres Gewicht als
Der australische Philosoph Peter Singer denen anderer beimessen kann, nur weil es meine ei-
(*1946) vertritt eine Variante des Utilita- genen sind. Also muss ich nun anstelle meiner eige-
rismus, den sog. Präferenzutilitarismus.
nen Präferenzen die all der anderen berücksichtigen, 40

Indem ich akzeptiere, dass morali- die von meiner Entscheidung betroffen sind. Wenn
sche Urteile von einem universalen es nicht irgendwelche weiteren ethisch relevanten
Standpunkt aus getroffen werden Gesichtspunkte gibt, wird mich das dazu bringen,
müssen, akzeptiere ich, dass meine eigenen Bedürf- sämtliche vorhandenen Präferenzen abzuwägen und
5 nisse, Wünsche und Interessen nicht einfach deshalb, jenen Handlungsverlauf zu wählen, von dem es am 45

weil sie meine Präferenzen* sind, mehr zählen als die wahrscheinlichsten ist, dass er die Präferenzen der
Interessen von irgendjemand anderem. Daher muss Betroffenen weitestgehend befriedigt. […]
dann, wenn ich moralisch denke, mein ganz natür- Die hier skizzierte Denkweise ist eine Form von Utili-
liches Bestreben, dass für meine Bedürfnisse, Wün- tarismus, aber nicht die von klassischen Utilitaristen
10 sche und Interessen – ich werde sie von nun an als wie Jeremy Bentham, John Stuart Mill […] vertretene. 50

„Präferenzen“ bezeichnen – gesorgt wird, ausgedehnt Diese behaupteten, dass wir immer das tun sollten,
UTILITARISMUS 149

was Lust oder Glück vermehrt und Schmerz oder Un- ich ihr nach der ersten auch noch die zweite Spritze
glück verringert. […] Im Gegensatz dazu ist die be- geben würde, brächte ihr das größere Erleichterung,
reits erwähnte Auffassung unter dem Namen „Präfe- als eine Spritze für die Person mit den geringeren
55 renz-Utilitarismus“ bekannt, weil sie behauptet, dass Schmerzen bedeuten würde.
wir das tun sollten, was per saldo die Präferenzen der Daher führt gleiche Interessenabwägung in dieser Si- 100

Betroffenen fördert. […] tuation zu etwas, das manche als ein nichtegalitäres
Das Wesentliche am Prinzip der gleichen Interessen- Ergebnis betrachten mögen: zwei Morphiumspritzen
abwägung besteht darin, dass wir in unseren mora- für die eine Person, für die andere keine. […]
60 lischen Überlegungen den ähnlichen Interessen all Dadurch, dass wir der ernsthafter verletzten Person
derer, die von unseren Handlungen betroffen sind, eine doppelte Dosis geben, schaffen wir eine Situ- 105

gleiches Gewicht geben. Dies bedeutet: Gesetzt den ation, in der eine im Grad des Leidens beider Op-
Fall, dass X und Y von einer möglichen Handlung fer geringere Differenz besteht, als wenn wir beiden
betroffen wären und X dabei mehr zu verlieren als Y eine Dosis geben würden. Statt dass es dazu kommt,
65 zu gewinnen hätte, ist es besser, die Handlung nicht dass eine Person beträchtliche Schmerzen hat und
auszuführen. Worauf das Prinzip in Wirklichkeit hin- die andere keine, sorgen wir dafür, dass beide Perso- 110

ausläuft, ist folgendes: Interesse ist Interesse, wessen nen leichte Schmerzen haben. Dies liegt ganz auf der
Interesse es auch immer sein mag. Linie des Prinzips des sinkenden Grenznutzens, […]
Wir können das konkretisieren, indem wir ein beson- welches besagt, dass, je mehr ein Individuum von ei-
70 deres Interesse bedenken, zum Beispiel unser Interes- ner Sache besitzt, es desto weniger von einer zusätz-
se an der Linderung von Schmerz. Dann besagt das lichen Menge dieser Sache profitieren wird. Wenn ich 115

Prinzip: Der letzte moralische Grund für Schmerzlin- mit 200 Gramm Reis am Tag ums Überleben kämpfe
derung ist einfach das Unerwünschtsein von Schmerz und man mir 50 Gramm pro Tag mehr gibt, so ver-
als solchem und nicht das Unerwünschtsein von X’s bessert man meine Lage bedeutend; habe ich aber
75 Schmerz, das verschieden sein mag von dem Uner- bereits ein Kilo Reis am Tag, würden mich die zusätz-
wünschtsein von Y’s Schmerz. […] Das Prinzip der lichen 50 Gramm wenig interessieren. 120

gleichen Interessenabwägung funktioniert wie eine Praktische Ethik (1979; 3. Auflage 2013)
Waagschale: Interessen werden unparteiisch abge-
wogen. Echte Waagen begünstigen die Seite, auf der
Präferenzutilitarismus
80 das Interesse stärker ist oder verschiedene Interessen
Der Präferenzutilitarismus (von lat. praeferre: vor-
sich zu einem Übergewicht über eine kleinere Anzahl
ziehen) macht im Unterschied zum klassischen Utili-
ähnlicher Interessen verbinden; aber sie nehmen keine tarismus nicht die Maximierung von Glück, sondern
Rücksicht darauf, wessen Interessen sie abwägen. […] die Beachtung der Interessen der Betroffenen zum
Gleiche Interessenabwägung […] [diktiert jedoch] Maßstab der Bewertung einer Handlung.
85 nicht Gleichbehandlung. […] Man stelle sich vor, ich
treffe nach einem Erdbeben auf zwei Opfer, das eine
mit zerquetschtem Bein, im Sterben begriffen, das
1  Erklären Sie, mit welchem Argument Brot für
A
andere mit einem verletzten Oberschenkel und leich-
die Welt für Spenden wirbt. > M1
ten Schmerzen. Ich habe nur zwei Morphiumspritzen
2 Erarbeiten Sie Singers ethische Position. > M2
90 übrig. Gleiche Behandlung würde bedeuten, dass ich
3 Vergleichen Sie den Präferenzutilitarismus mit
jeder der beiden verletzten Personen eine Injektion
den Formen des Utilitarismus, die Sie bisher
gebe, aber die eine Injektion würde nicht viel zur kennengelernt haben. > M2
Schmerzlinderung bei der Person mit dem zerquet1sch- 4  Erläutern Sie Singers Prinzip des sinkenden
ten Bein beitragen. Sie würde immer noch mehr Grenznutzens und wenden Sie es auf das Pla-
95 Schmerzen leiden als das andere Opfer, und erst wenn kat von Brot für die Welt an. > M2/M1
150 MORALPHILOSOPHIE

Die Präferenz zu leben

M1 Lebensrecht für die großen Menschenaffen? Spezies ist, lässt sich wissenschaftlich bestimmen
durch die Untersuchung der Beschaffenheit der Chro-
mosomen in den Zellen lebender Organismen. […] 25

[Einen anderen] Bedeutungsumfang des Begriffs ha-


ben wir vor Augen, wenn wir von jemandem sagen,
er sei ein „wirklich menschliches Wesen“ oder zeige
„wahrhaft menschliche Eigenschaften“. […] [Für] die
zweite Bedeutung [werde ich] den Begriff „Person“ 30

[verwenden]. […] John Locke definiert eine Person


als „ein denkendes intelligentes Wesen, das Vernunft
und Reflexion besitzt und sich als sich selbst denken
kann, als dasselbe denkende Etwas in verschiedenen
Jährlich fallen rund 2000 der großen Menschenaffen Wilderern Zeiten und an verschiedenen Orten“. […] 35
zum Opfer. Das von Peter Singer unterstützte Great Ape Projekt Dass es unrecht ist, einem Wesen Schmerz zuzufü-
setzt sich dafür ein, Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans in die
gen, kann nicht von seiner Gattungszugehörigkeit
Gemeinschaft derer einzuschließen, die ein Recht auf Leben haben.
abhängen; ebenso wenig, dass es unrecht ist, es zu
M2 Peter Singer: töten. Die biologischen Fakten, an die unsere Spezies
Personenstatus und Tötungsverbot gebunden ist, haben keine moralische Bedeutung. 40

Man behauptet oft, Leben sei heilig. Man meint Dem Leben eines Wesens bloß deshalb den Vorzug zu
fast nie ernst, was man sagt. Man meint nicht – im geben, weil das Lebewesen unserer Spezies angehört,
strengen Wortsinn –, Leben an sich sei heilig. Würde würde uns in eine unangenehme Position bringen.
man das nämlich meinen, so müsste man es eben- Sie gleicht jener der Rassisten, die denen den Vorzug
5 so entsetzlich finden, ein Schwein zu töten oder ei- geben, die zu ihrer Rasse gehören. […] 45

nen Kohlkopf auszureißen, wie einen Menschen zu Gibt es etwas an dem Leben eines rationalen und
ermorden. Wird behauptet, das Leben sei heilig, so selbstbewussten Wesens – im Unterschied zu einem
meint man menschliches Leben. […] bloß empfindungsfähigen Wesen –, das es sehr viel
Heute sind sich die meisten Menschen, wenn nicht schwerwiegender macht, das Leben des ersteren als
10 in der Praxis, so doch in der Theorie, darüber einig, das des letzteren zu nehmen? 50

dass es, abgesehen von besonderen Situationen wie […] Ein selbstbewusstes Wesen ist sich seiner selbst
Notwehr, Krieg, möglicherweise Todesstrafe und ei- als einer distinkten Entität* bewusst, mit einer Ver-
nigen weiteren Zweifelsfällen, falsch ist, menschliche gangenheit und Zukunft. (Dies stellte, wie wir sahen,
Wesen zu töten, und zwar ungeachtet ihrer Rasse, Lockes Kriterium für die Person dar.) Ein Wesen, das
15 Religion, Klasse oder Nationalität. […] in dieser Weise seiner selbst bewusst ist, ist fähig, 55

Hier ist die Frage angebracht, was wir mit Begriffen Wünsche hinsichtlich seiner eigenen Zukunft zu
wie „menschliches Leben“ und „menschliches Wesen“ haben. So mag zum Beispiel eine Studentin ihr Ab-
meinen. […] schlussexamen ins Auge fassen; ein Kind mag den
Der Ausdruck „menschliches Wesen“ kann eine ge- Wunsch haben, an einer Geburtstagsfeier teilzuneh-
20 naue Bedeutung haben und zum Beispiel als Äquiva- men; ein Philosophieprofessor mag hoffen, ein Buch 60

lent zu „Mitglied der Spezies Homo sapiens“ verwen- zu schreiben, das sich kritisch mit weithin akzeptier-
det werden. Ob ein Wesen Mitglied einer bestimmten ten moralischen Haltungen auseinandersetzt. Nimmt
UTILITARISMUS 151

man einem dieser Menschen ohne seine Zustimmung dann hat ihr Leben denselben Schutzanspruch. […] 15

das Leben, so durchkreuzt man damit seine Wünsche Daher sollten wir die Lehre, dass die Tötung von An-
65 für die Zukunft. Für die meisten erwachsenen Men- gehörigen unserer Gattung immer größere Bedeut-
schen sind diese in die Zukunft gerichteten Wünsche samkeit hat als die Tötung von Angehörigen anderer
von zentraler Bedeutung für ihr Leben; also würde Gattungen, ablehnen. Manche Angehörigen anderer
die Tötung der betreffenden Person gegen ihren Wil- Gattungen sind Personen; manche Angehörigen un- 20

len ihren wichtigsten Wünschen zuwiderlaufen. Tö- serer eigenen Spezies sind es nicht. Keine objektive
70 tet man eine Schnecke, so vereitelt man keine Wün- Beurteilung kann den Standpunkt unterstützen, dass
sche dieser Art, weil Schnecken unfähig sind, solche es immer schlimmer ist, Mitglieder unserer eigenen
Wünsche zu haben. […] Spezies, die keine Personen sind, zu töten als Mitglie-
Nach dem Präferenz-Utilitarismus ist eine Handlung, der anderer Spezies, die es sind. Im Gegenteil gibt es, 25

die der Präferenz irgendeines Wesens entgegensteht, wie wir sahen, starke Gründe dafür, der Überzeugung
75 ohne dass diese Präferenz durch entgegengesetzte Prä- zu sein, dass es an sich schwerwiegender ist, Per-
ferenzen ausgeglichen wird, moralisch falsch. Eine sonen das Leben zu nehmen als Nichtpersonen. So
Person zu töten, die es vorzieht, weiterzuleben, ist scheint es, dass etwa die Tötung eines Schimpansen
daher, gleiche Umstände vorausgesetzt, unrecht. […] – alle übrigen Umstände als gleich vorausgesetzt – 30

Für Präferenz-Utilitaristen ist die Tötung einer Person schlimmer ist als die Tötung eines menschlichen We-
80 in der Regel schlimmer als die Tötung eines anderen sens, welches aufgrund einer schweren geistigen Be-
Wesens, weil Personen in ihren Präferenzen sehr zu- hinderung keine Person ist und nie sein kann. (Häufig
kunftsorientiert sind. Eine Person zu töten bedeutet sind allerdings die übrigen Umstände nicht gleich: so
darum normalerweise nicht nur eine, sondern eine spielen beispielsweise die Meinungen der Eltern von 35

Vielzahl der zentralsten und bedeutendsten Präferen- schwer geistig behinderten menschlichen Wesen eine
85 zen, die ein Wesen haben kann, zu verletzen. […] Im wesentliche Rolle.) Praktische Ethik (1979; 3. Auflage 2013)
Gegensatz dazu kann ein Wesen, das sich nicht selbst
als eine Entität mit einer eigenen Zukunft sehen kann,
keine Präferenz hinsichtlich seiner eigenen zukünfti- 1 D iskutieren Sie, ob es ein Lebensrecht für die
A
gen Existenz haben. Praktische Ethik (1979; 3. Auflage 2013) großen Menschenaffen geben sollte. Wie könn-
te ein solches Recht begründet werden? > M1
M3 Peter Singer: 2 Erklären Sie die unterschiedlichen Bedeutun-
Die Tötung nichtmenschlicher Personen gen des Begriffs „menschliches Leben“ nach
Singer. > M2
Einige nichtmenschliche Tiere scheinen sich selbst
3 Untersuchen Sie, wodurch das Lebensrecht
als distinkte Wesen mit einer Vergangenheit und Zu-
präferenzutilitaristisch begründet wird. > M2
kunft zu begreifen. […] Bei den großen Menschenaf-
4 Erörtern Sie die Konsequenzen, die sich aus der
fen handelt es sich vermutlich am eindeutigsten um speziesistische und aus der präferenzutilitaris-
5 Personen, aber […] auch bei einigen anderen Spezies tischen Begründung des Tötungsverbotes für
[gibt es] Anzeichen für das Vorhandensein von in die Menschen und Tiere ergeben. > M2/M3
Zukunft gerichteten Bewusstseinsvorgängen. […] 5 Nehmen Sie Stellung zu Singers Begründung
Ich legte dar, dass dann, wenn den meisten mensch- des Tötungsverbotes. > M2/M3
lichen Wesen ein Leben von besonderer Bedeutsam-
10 keit eignet oder sie einen besonderen Anspruch auf Hinweis:
Schutz ihres Lebens haben, dies mit der Tatsache in
Singers Präferenzutilitarismus wird im Kapitel Medi-
Zusammenhang gesehen werden muss, dass die meis- zinethik wieder aufgegriffen und kann dort weiter
ten menschlichen Wesen Personen sind. Falls aber ei- bearbeitet werden (s. S. 268ff.).
nige nichtmenschliche Tiere ebenfalls Personen sind,
152 MORALPHILOSOPHIE

Utilitarismus auf dem Prüfstand


MET HO D ENKO M P E TE N Z : Mit Gedanken experimentieren
Um Lösungen von Problemen zu finden, Neues zu entdecken oder Positionen zu überprüfen, experimentie-
ren Philosophen oft mit Gedanken. Ein Gedankenexperiment weist Parallelen zu einem naturwissenschaft-
lichen Experiment auf. Es lässt sich in folgende Phasen einteilen:
1. Problemstellung: Anlass für ein Gedankenexperiment ist in der Regel ein sich aufdrängendes
philosophisches Problem. – „ …?“
2. Annahme: Sie bildet die „Versuchsanordnung“ und ist in der Regel kontrafaktisch, d. h. sie
steht im Widerspruch zu realen Gegebenheiten. – „Angenommen …“
3. Frage: Aus der Annahme ergibt sich die Frage, die das Experiment einleitet. – „Was wäre dann?“
4. Experimentierphase: Hier werden Überlegungen angestellt, die zur Beantwortung der Frage führen.
Oft müssen verschiedene Antwortmöglichkeiten durchgespielt werden, um die plausibelste Antwort
zu finden. – „Dann wäre …“
5. Folgerung: Aus dem Gedankenexperiment werden Folgerungen für die übergreifende Problem-
stellung gezogen. – „Also …“

M1 Die Bergbahn
Die britische Philosophin Philippa Foot beschrieb 1967 das Trolley-Problem, ein Gedankenexperiment,
Problemstellung
das dazu dienen kann, die Tragfähigkeit des Nutzenmaximierungsprinzips der utilitaristischen Ethik zu
überprüfen:

„Stellen Sie sich eine Straßenbahn vor, die einen Berg hinabrollt. Plötzlich sieht der
Annahme
Fahrer, dass fünf Menschen auf den Schienen stehen. Er versucht zu bremsen – doch
die Bremsen versagen. Er hat nun die Wahl, eine Weiche vor der Bahn umzustellen und
so in Kauf zu nehmen, einen Menschen auf dem Nachbargleis zu überfahren – oder die
5 fünf anderen Menschen zu überrollen. Was soll er tun?“ Frage
Intuitiv neige ich zu der Handlungsoption, die Weiche umzustellen. Dem entspricht
auch folgende Überlegung: Wenn der Fahrer die Weiche nicht umstellt, werden fünf
Menschen den Tod finden, einer dagegen kann gerettet werden. Stellt er die Weiche Experimentierphase:
um, so führt das dazu, dass nur eine Person stirbt, aber fünf ihr Leben behalten. Im Überlegungen
10 ersten Fall müssen vier sterben, im zweiten Fall nur eine Person. Das ist für mich das Antwort
geringere Übel. Deshalb halte ich es für moralisch geboten, dass der Fahrer die Weiche
umstellt.
Meine Auffassung steht auch in Übereinstimmung mit dem utilitaristischen Prinzip
Folgerung
der Nützlichkeit. Demnach ist es eine Handlung oder Handlungsregel dann gut, wenn
15 sie das größtmögliche Übergewicht von Freude gegenüber Leid herbeiführt bzw. die
Präferenzen der Betroffenen am weitestgehenden befriedigt. Die Nutzensumme beträgt
bei der ersten Handlungsoption 1, die Summe des Schadens dagegen 5. Bei der zweiten
Option ist das Nutzenverhältnis 5:1. Das Gedankenexperiment bestätigt also die Trag-
fähigkeit des utilitaristischen Maßstabs für gutes Handeln.

Medienhinweis:
Eine filmische Darstellung des Trolley-Problems findet sich im Internet unter
https://www.youtube.com/watch?v=Fs0E69krO_Q (0:00-0:40).
UTILITARISMUS 153

A M2 Der dicke Mann


Die amerikanische Philosophin Judith J. Thomson entwarf eine Variante des Trolley-Problems, um die Tragfähigkeit Problemstellung
N der utilitaristischen Ethik zu prüfen:
Nehmen wir an, eine Bergbahn rollt einen Berg hinunter und der Führer des Zuges sieht plötz-
Annahme
W lich fünf Arbeiter auf den Schienen stehen. Er weiß sofort, dass er keine Chance hat, die Bahn
in irgendeiner Weise an- oder gar aufzuhalten. Allerdings muss die Bahn unter einer Brücke
E herfahren, auf der ein sehr dicker Mann steht. Wenn dieser Mann von der Brücke auf die Schie-
5 nen spränge, würde er zwar sein Leben verlieren, gleichzeitig aber die Bergbahn zum Stillstand
N bringen und auf diese Weise fünf Menschenleben retten.
Der sehr dicke Mann nimmt die gerade geschilderte Situation als solche nicht wahr. Sie sind
D ebenfalls auf der Brücke, aber selbst zu schlank, um durch Ihren Märtyrer-Tod die Bahn auf-

U 10
zuhalten. Sie haben aber die Möglichkeit, den dicken Mann von der Brücke zu stoßen, und
könnten durch Ihre Tat dazu beitragen, fünf Leben zu retten.
N
G

....................................................................................................................................................... Frage
.......................................................................................................................................................
Experimentierphase:
.......................................................................................................................................................
Überlegungen Antwort
.......................................................................................................................................................

....................................................................................................................................................... Folgerung

Medienhinweis:
Eine filmische Darstellung des Fat-Man-Problems findet sich im Internet unter
https://www.youtube.com/watch?v=Fs0E69krO_Q (1:08-1:38).

1 Vollziehen Sie nach, wie das Gedankenexperiment durchgeführt wird. > M1


A
2 Beurteilen Sie die Plausibilität des Gedankenexperiments. > M1
3 Führen Sie das Gedankenexperiment „Der dicke Mann“ nach dem Muster von M1 durch.
> M2/Anleitung
4 Vergleichen Sie die Ergebnisse der beiden Gedankenexperimente bezüglich der Tragfähig-
keit des Prinzips der Nützlichkeit. > M1/M2
154 MORALPHILOSOPHIE

Grenzen der Nutzenmaximierung

M1 Rechnung verbreitete Angst davor, heimlich getötet werden zu


dürfen), dürfte einen Schwachpunkt aufweisen.
Wenn die Präferenz eines Nazis, einen Juden zu
töten, sehr stark ist, während der Jude nach vielen
Demütigungen den Tod herbeiwünscht, ist das Tö- 25

ten des Juden erlaubt. Öffentliche Hinrichtungen zur


Volksbelustigung sind im reinen Utilitarismus nicht
prinzipiell ausgeschlossen. Wenn 95 % der Bevölke-
rung 5 % versklaven und die wenigen Sklaven mit
ihrem Schicksal halbwegs zufrieden sind, ist dies 30

zulässig. Wenn jemand, der eine sehr starke Präfe-


renz verspürt, eine komatöse Frau zu vergewaltigen
(fraglich ist, ob der Utilitarist dieses Wort akzeptieren
würde), dies heimlich tun kann und die Frau selbst
„nichts mitbekommt“ (also nicht geschädigt wird), 35

so spricht nichts gegen die Ausführung dieser Hand-


M2 Konrad Ott: lung. Gemäß Kalkül 1 wäre diese Handlung zulässig,
Nutzenmaximierung und Tötungsverbot gemäß Kalkül 2 wäre die gleiche Handlung womög-
Konrad Ott (*1959), Professor für Ethik an der Universität Kiel, lich falsch, da viele Personen sexuelle Kontakte mit
hat sich kritisch mit dem Utilitarismus auseinandergesetzt. komatösen Frauen abscheulich finden dürften. 40

Die Anwendung des uneingeschränkten Utilitaris- Wie ist der Fall zu bewerten, wenn in römischen
mus führt zu merkwürdigen Konsequenzen in vielen Zirkusspielen zum großen Ergötzen vieler Zuschau-
Praxisfeldern. […] Robin-Hood-Strategien, Reiche zu er gelegentlich einige Christen den Tieren zum Fraß
bestehlen, um den Armen zu helfen, sind für Utilita- vorgeworfen werden, die womöglich stolz darauf
5 risten akzeptabel. Dies muss man nicht als stark kon- sind, Märtyrer zu werden? „Nach dem reinen Sum- 45

traintuitiv empfinden. Den alten, einsamen Wucherer menprinzip müsste mit wachsender Anzahl der Zu-
schmerzlos zu töten, um mit dem Geld viel Nutzen zu schauer irgendwann der Punkt kommen, an dem der
stiften, ist allerdings auch erlaubt oder sogar gebo- Utilitarist gegen derartige Sitten nichts mehr einzu-
ten. Hier würden viele zögern. Es gibt im klassischen wenden hat.“ […]
10 Utilitarismus keine direkten Gründe gegen das Tö- Jeder, auch der schlimmste Nutzenverlust müsste sich 50

ten. Das Tötungsverbot ist nur eine Konsequenz der durch viele kleine, marginale Nutzenzuwächse aus-
empirisch normalerweise vorliegenden Präferenzin- gleichen lassen. Wenn sich sehr viele Leute nur ein
tensität, am Leben bleiben zu wollen. Jede noch bisschen besser fühlen, wären Gräuel gerechtfertigt.
so intensive Präferenz kann in einer Aufaddierung Ab einer bestimmten Anzahl Glücklicher wäre es le-
15 überboten werden. Das heimliche und schmerzlose gitim, wenigen Menschen Höllenqualen zu bereiten, 55

Töten zum Zweck der Nutzenmaximierung ist da- wenn die Glücklichen davon marginal profitieren
her zulässig. Gerade das Tötungsverbot ist nun aber würden. Intuitiv würden wir darauf verzichten, die
intuitiv stark in der Moral verankert. Eine Ethik, in Nutzenmenge zu maximieren, wenn der Preis hierfür
deren Konzeption von Moralität das Tötungsverbot eine derartige krass ungleiche Verteilung wäre.
20 nur indirekt begründet werden kann (etwa über die Moralbegründungen zur Einführung (2001)
UTILITARISMUS 155

M3 Robert Spaemann: Mittel zum Zweck fe, wo der Erpresser verbrecherische Handlungen ver-
Auch Robert Spaemann (*1927), bis zu seiner Emeritierung 1992 langt, zum Beispiel die Tötung eines Unschuldigen
Professor für Philosophie in München, zählt zu den Kritikern des oder die Auslieferung eines Gastfreundes, und dies
Utilitarismus.
unter Androhung weit größerer Übel. Der Utilitarist
[Es ist] gar keine Frage, dass der größte Teil unserer müsste hier unter Umständen nachgeben mit der Be- 45

Handlungen auf einer Abwägung der Folgen bzw. ei- gründung, dass der Tod eines Menschen besser ist als
ner Abwägung der Güter beruht, die von den Folgen der Tod von hundert Menschen. Wer jedoch auf dem
unserer Handlungen positiv oder negativ betroffen Standpunkt steht, dass die Tötung eines unschuldi-
5 sind. Wir wägen Gewinn und Verlust gegeneinander gen Menschen in jedem Fall ein Verbrechen ist, der
ab. Der Arzt amputiert unter Umständen ein Bein wird sich dieser Logik nicht unterwerfen. Wenn man 50

oder entfernt eine Niere, um den übrigen Menschen weiß, dass er auf diesem Standpunkt steht, dann wird
zu retten, oder er verbietet dem Patienten den Genuss man die Erpressung gar nicht erst versuchen, so dass
von Wein, um ihn vor größeren Unannehmlichkeiten auch hier der Utilitarismus unter Umständen wieder
10 zu bewahren, als es dieser Verzicht ist. Hier rechtfer- kontraproduktiv wirkt, das heißt, Folgen zeitigt, die
tigt zweifellos der Zweck das Mittel […]. er gerade vermeiden möchte.[…] 55

Aber wie steht es, wenn wir diese Denkweise belie- [Der Utilitarismus] fordert ein Optimierungsprogramm
big fortsetzen? Nehmen wir an, der Arzt hat über die für möglichst viele, aber [er] sagt nicht, ob es viel-
Gesundheit eines bösartigen Menschen zu wachen, leicht Menschenrechte jedes Einzelnen gibt, die einem
15 der sich und seinen Mitmenschen auf die Nerven solchen Programm in gar keinem Fall geopfert werden
fällt, oder gar eines Verbrechers. Sollte der Arzt aus dürfen. Sollten wir z. B. die Folter einführen, um den 60

Verantwortung für die Gesamtheit der Folgen seiner Terrorismus auszurotten? Sollten wir Geisteskranke
Handlung dem Patienten zu einer Therapie raten, die und alte hilflose Menschen töten, um allen ande-
ihn möglichst bald unter den Rasen bringt? In diesem ren Menschen Aufwendungen und Opfer zu erspa-
20 Sinne handeln offenbar die sowjetischen Psychiater ren? Sollten wir kleine Minderheiten ausrotten, um
verantwortungsethisch, wenn sie Dissidenten*, die sie Konflikte so aus der Welt zu schaffen? […] Wo Tö- 65

für schädliche Menschen halten, in Kliniken einsper- tung schmerzlos geschieht, wird ohnehin niemandes
ren und mit Drogen behandeln, um den Willen die- Wohlbefinden beeinträchtigt. Und wo der Kläger be-
ser Menschen zu brechen. Unserem Verständnis von seitigt ist, gibt es, wie es scheint, auch keinen Richter.
25 ärztlicher Verantwortung widerspricht diese Auffas- Wir können aber leicht sehen, dass die Gründung der
sung radikal. Denn nach unserem Verständnis endet Ethik auf ein solches Optimierungsprogramm ohne 70

die Verantwortung des Arztes genau an dem Endziel, feste Normen unmittelbar das Gegenteil dessen er-
das Beste für die Gesundheit seines Patienten zu tun. reicht, was sie intendiert. Moralische Grundbegriffe (1982)
Diese Fürsorge einer weiterreichenden Verantwor-
30 tung für irgendwelche Folgen unterzuordnen, wäre
mit ärztlichem Ethos unvereinbar. […]
Der Utilitarist ist […] auch durch Verbrecher leichter 1 E rläutern Sie die Aussage der Karikatur vor
A
erpressbar und erhöht damit die Gefahr der Erpres- dem Hintergrund der utilitaristischen Ethik. > M1
sungen. Natürlich ist es in vielen Fällen auch aus 2 Diskutieren Sie die Fallbeispiele, die Konrad Ott
und Robert Spaemann in ihren Texten anfüh-
35 utilitaristischen Erwägungen richtig, Erpressungen
ren. > M2/M3
zu widerstehen, um nämlich das Erpressungswesen
3  Erklären Sie, welche Probleme des Utilitaris-
selbst zum Erliegen zu bringen. Dennoch ist es jedes mus an diesen Beispielen offenbar werden.
Mal eine Sache der Abwägung der auf dem Spiel ste- > M2/M3
henden Übel, ob man nachgeben soll oder nicht. 4 Beurteilen Sie die Tragfähigkeit der utilitaristi-
40 Das sittliche Problem stellt sich […] da in voller Schär- schen Ethik.
156 MORALPHILOSOPHIE

Wissen kompakt

Mensch:
strebt von seiner Natur her
nach Freude/Glück (happiness)
und Vermeidung von Leid/Unglück

Utilitaristische Ethik:
Handeln nach dem Prinzip der Nützlichkeit:
Vermehrung von Freude/Glück und
Verminderung von Leid/Unglück

Jeremy Bentham:
Quantitativer Utilitarismus
Hedonistisches Kalkül:
quantitative Abwägung der Folgen einer Handlung
für alle Betroffenen
Moralisch richtig ist eine Handlung, die ein Übergewicht
von Freude/Glück gegenüber Leid/Unglück herbeiführt.

problematisch:
quantitative Gleichsetzung von Freuden/Leiden
verschiedener Art

John Stuart Mill:


Qualitativer Utilitarismus
Berücksichtigung der Qualität einer Handlung:
Anerkennung der Tatsache, dass einige Freuden
wünschenswerter sind als andere
Moralisch richtig Ist eine Handlung, die sowohl hinsichtlich Quantität
als auch der Qualität das größte Glück der größten Zahl herbeiführt.

problematisch:
Fehlen eines eindeutigen Maßstabes für die Abwägung
von Quantität und Qualität
UTILITARISMUS 157

Handlungsutilitarismus Regelutilitarimus
Beurteilung meiner Ausführung dieser Beurteilung der allgemeinen
Handlung in dieser Situation Ausführung derartiger Handlungen
in derartigen Situationen
problematisch:
Handlungen, die in einem konkreten Fall problematisch:
dem größten allgemeinen Wohl dienen, Regeln, die die Summe des Wohls
aber gegen allgemein anerkannte Prinzipien maximal vermehren, aber zu einer
verstoßen, z. B. gegen das Wahrheitsgebot. ungerechten Verteilung führen

Peter Singer:
Präferenzutilitarismus
Beurteilung einer Handlung vom universalen Standpunkt,
aber nicht bezüglich der Herbeiführung von Freude/Glück
sondern bezogen auf die Förderung der Präferenzen (Interessen)
der betroffenen Personen
erfordert gelegentlich Ungleichverteilung
zur Herstellung von Gerechtigkeit,
(z. B. mehr Nahrung für Hungrige als für Gesättigte)

problematisch:
• Ausdehnung des Person-Begriffs auf nicht-menschliche Lebewesen,
die Präferenzen hinsichtlich ihrer zukünftigen Existenz haben,
z. B. Menschenaffen
• Tötungsverbot für Menschenaffen, dagegen Erlaubnis der Tötung
von Angehörigen der menschlichen Spezies, denen kein
Personenstatus zugestanden wird

Generelle Probleme des Utilitarismus:


• Fehlen unbedingter Werte (z. B. Recht jedes Menschen auf Leben)
• Jeder Nutzen / jede Präferenz eines/r Einzelnen kann durch
Verrechnung mit der Summe des Gesamtnutzens / mit den
Präferenzen anderer überboten werden
• Gefahr, dass der Mensch bloß als Mittel zum Zweck dient
(Verstoß gegen das Prinzip der Menschenwürde)
VERANTWORTUNGSETHIK

VERANTWORTUNG UND
ANGEWANDTE ETHIK

VERANTWORTUNGSETHIK

TECHNIK- UND WISSENSCHAFTSETHIK

NATURETHIK

MEDIZINETHIK

1 Erläutern Sie anhand der Abbildungen, wofür Menschen alles Verantwortung tragen.
A
2 Setzen Sie sich dabei u. a. mit folgenden Fragen und Problemen auseinander:
- Was heißt es, verantwortlich zu handeln?
- Inwiefern sind wir verantwortlich für die Natur?
- Dürfen wir alles tun, was technisch möglich ist?
- Wer trägt am Lebensende eines Menschen für was die Verantwortung?
- Inwiefern sind Wissenschaftler verantwortlich für die Ergebnisse ihrer Forschung?
VERANTWORTUNGSETHIK

Verantwortlich entscheiden

M1 Bluttransfusion – medizinische Indikation antwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit


vs. religiöse Gesinnung Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natür-
Ein fünfjähriges Mädchen liegt im englischen Leeds lich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegen- 10

in einer Klinik. Es leidet an schwerer Sichelzellan- satz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxi-
ämie – einer erblichen Krankheit, bei der es zu ge- me handelt – religiös geredet –: „der Christ tut recht
fährlicher Blutarmut kommt. […] Mit einer Bluttrans- und stellt den Erfolg Gott anheim“, oder unter der
5 fusion können […] die gefährlichsten Auswirkungen verantwortungsethischen: dass man für die (voraus-
[…] verhindert werden. Im Fall des Kindes in Leeds sehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat. 15

fürchteten die Ärzte eine „lebensgefährliche Krise“, Sie mögen einem überzeugten gesinnungsethischen
ohne Transfusion drohe das Mädchen zu sterben oder Syndikalisten* noch so überzeugend darlegen: dass
einen Schlaganfall zu erleiden. die Folgen seines Tuns […] [schädlich sind], es wird
10 Das Problem: Die Familie des Mädchens gehört zu auf ihn gar keinen Eindruck machen. […]. Wenn die
den Zeugen Jehovas. In dieser Religionsgemeinschaft Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Hand- 20

ist das Verabreichen von Blutkonserven ausdrücklich lung üble sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, son-
verboten. „Sowohl im Alten als auch im Neuen Tes- dern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit
tament wird klar geboten, sich von Blut zu enthalten. der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes,
15 Außerdem: Bei Gott steht Blut für Leben. Wir haben der sie so schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen
also zwei Gründe dafür, dass wir Blut ablehnen: Ge- rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten 25

horsam gegenüber Gott und Respekt vor ihm als Le- der Menschen, – er hat […] gar kein Recht, ihre Güte
bengeber“, erklären es die Zeugen Jehovas auf ihrer und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich
Website. Sie weisen darauf hin, dass es zunehmend nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit
20 alternative medizinische Behandlungsmöglichkeiten er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen.
ohne Bluttransfusionen gebe. […] Im Falle des klei- Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun 30

nen Mädchens aus Leeds ist eine Transfusion [jedoch] zugerechnet. „Verantwortlich“ fühlt sich der Gesin-
die einzige Möglichkeit, um rechtzeitig ihr Leben zu nungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen
retten. Deshalb riefen die Ärzte des Krankenhauses Gesinnung, die Flamme z. B. des Protestes gegen die
25 das zuständige Familiengericht an, eine Entschei- Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt.
dung zu fällen. Der Stern (2019) Sie stets neu anzufachen, ist der Zweck seiner, vom 35

möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen Ta-


M2 Max Weber: Gesinnung und Verantwortung ten, die nur exemplarischen Wert haben können und
Max Weber (1864-1920) gilt als Klas- sollen. Politik als Beruf (1919)
siker der Sozial- und Kulturwissen-
schaften.

Wir müssen uns klar machen, Verantwortung


dass alles ethisch orientierte Der Begriff stammt aus der Rechtssprache und weist
Handeln unter zwei voneinander darauf hin, dass man vor Gericht für sein Tun Rede
und Antwort stehen muss. Im ethischen Kontext be-
grundverschiedenen, unaustrag-
deutet Verantwortung, dass jemandem die Folgen
5 bar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann seines Handelns zugerechnet werden und er dafür
„gesinnungsethisch“ oder „veranwortungsethisch“ einstehen muss.
orientiert sein. Nicht dass Gesinnungsethik mit Ver-
VERANTWORTUNGSETHIK 201

M3 Günter Ropohl: die es anzustreben, zu befürworten oder vorzuziehen


Dimensionen der Verantwortung gilt. Letzte Maxime der Verantwortung ist schließlich
Günter Ropohl (1939-2017) war Ingenieur und Technikphilosoph. das gute Leben aller; diese Maxime setzt sich aus den
Er lehrte an den Universitäten Karlsruhe und Frankfurt. Prinzipien der Nützlichkeit, des Wohlwollens und der
Schaut man genauer hin, erweist sich „Verantwor- Gerechtigkeit zusammen. 45

tung“ als ein mehrstelliger Relationsbegriff […]. Der Schon in der ursprünglich juristischen Wortbedeu-
Kern der Verantwortungsrelation besteht darin, dass tung ist es konstitutiv für den Begriff, WOVOR je-
jemand etwas verantwortet. mand eine Handlung verantwortet: nämlich vor
5 WER ist das Subjekt der Verantwortung? In der tra- einem Gericht, das Antwort verlangt. Neben der ju-
ditionellen Verantwortungsethik kommt als Akteur ristischen Instanz sind weitere formelle Instanzen in 50

nur die individuelle Person in Betracht; formal ist es Betracht zu ziehen, beispielsweise Standesorganisati-
jedoch nicht ausgeschlossen, inhaltlich gar in vielen onen, Arbeitgeber oder Dienstherren. Aber auch vor
Fällen zwingend notwendig, auch kollektive oder in- informellen Instanzen kann man sich verantwortlich
10 stitutionelle Akteure als Subjekt der Verantwortung fühlen, so vor der öffentlichen Meinung, vor dem Ur-
zu betrachten. […] teil bestimmter anderer wie Kollegen, Verwandte und 55

WAS ist nun zu verantworten? Das Objekt der Ver- Freunde oder vor dem eigenen Gewissen. Freilich ist
antwortung ist zunächst eine bestimmte Handlung, es umstritten, ob das individuelle Gewissen eine Art
die der Akteur ausführt. Eine Handlung soll im wei- letzter Verantwortungsinstanz darstellt oder lediglich
15 testen Sinne als zweckbestimmte Transformation ei- das zu erwartende Urteil externer Instanzen interna-
ner Anfangssituation in eine Endsituation begriffen lisiert und antizipiert. 60

werden: dazu gehören als Grenzfälle auch Unterlas- Damit ist schließlich auch die Frage bereits angedeu-
sungen und reine Sprechakte. […] tet, WANN Verantwortung eintritt: erst nach getaner
Nun ergibt sich aber der besondere Charakter der Tat, wenn sich die Folgen wirklich eingestellt haben,
20 Verantwortung nicht schon aus der Handlung selbst, oder auch schon bei der Handlungsplanung, soweit
sondern daraus, WOFÜR man verantwortlich ist: für sich die möglichen Handlungsfolgen im Voraus abse- 65

die beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen der hen und beurteilen lassen. Herrschte früher ein retro-
Handlung. Zunächst geht es um konkrete primäre spektiver Verantwortungsbegriff vor, der die Folgen
Handlungsfolgen, die andere Personen oder auch der bereits vollzogenen Handlung ihrem Verursacher
25 Sachen betreffen. Wird ein Schaden verursacht, der zurechnet, wir heute zunehmend für einen prospek-
bei richtigem Handeln hätte vermieden werden kön- tiven Verantwortungsbegriff plädiert, der dem Ak- 70

nen, und ist ein solcher Schaden in der einen oder teur die vorausschauende Kalkulation der möglichen
anderen Weise wiedergutzumachen, kann sich Ver- Handlungsfolgen auferlegt und ihn auf eine „präven-
antwortung als Haftung konkretisieren. So kann ein tive" „Ethik der Zukunftsverantwortung“ verpflichtet.
30 Statiker, der eine Baukonstruktion grob fahrlässig so Technik und Ethik (1987)
falsch berechnet hat, dass diese einstürzt, dafür haft-
bar gemacht werden, indem er für den materiellen
Schaden aus eigenen Mitteln aufkommen muss. […]
1 B
 egründen Sie, wie Sie an Stelle der Richter
A
Überhaupt kann Verantwortung nur dann sinnvoll
entscheiden würden. > M1
35 wahrgenommen werden, wenn man weiß, WESWE-
2 Erläutern Sie Max Webers Unterscheidung und
GEN man mit einer Handlung bestimmte Folgen her-
wenden Sie sie auf den Fall des Mädchens aus
beiführen und andere vermeiden soll. Das kann letzt- Leeds (M1) an. > M2
lich nur im Rückgriff auf Werte begründet werden, die 3 Erstellen Sie ein Plakat zu den Dimensionen
als normative Orientierungskonzepte gewisse Klassen der Verantwortung und erläutern Sie sie an-
40 von Handlungen und Handlungsfolgen auszeichnen, hand des Fallbeispiels M1. > M3
202 VERANTWORTUNG UND ANGEWANDTE ETHIK

Arten von Verantwortung

M1 Die Chemiekatastrophe von Bhopal


Arbeiter eine Wasser- mit einer Stick-
stoffleitung verwechselten, Ventile leck
waren oder jemand absichtlich Wasser
einleitete. Ein Kontrolleur hatte den er- 30

höhten Druck zwar bemerkt, doch die


Gefahr nicht erkannt und keinen Alarm
ausgelöst. Auch als sich zwei Stun-
den später ein beißender Geruch über
das ganze Firmengeländer ausbreitete, 35

wurden die Alarmanlagen noch nicht


betätigt, um die Bevölkerung nicht zu
beunruhigen.
Für die Sicherheitsmängel in Bhopal
In der Nacht zum 3. Dezember 1984 kam es in der und die daraus resultierenden Folgen wurde bis 2010 40

indischen Stadt Bhopal zum schlimmsten Chemieun- niemand persönlich vor der Justiz zur Verantwor-
fall in der Geschichte. Aus der mitten im Armenvier- tung gezogen. Der damalige Vorstandsvorsitzende
tel der Stadt gelegen Pestizidfabrik des US-Konzerns von Union Carbide, Warren Anderson, der nach der
5 Union Carbide strömten fast 40 Tonnen eines hoch- Giftgaskatastrophe aus den USA nach Indien geflo-
giftigen Gases aus, durch das mehrere Zehntausend gen und unmittelbar nach seiner Ankunft verhaftet 45

Menschen ums Leben kamen. Noch heute leiden Hun- worden war, kam gegen eine Kaution von 2.000 Dol-
derttausende an den Spätfolgen – sie haben Hirn- lar frei und entzog sich einer möglichen Bestrafung
schäden, Lähmungen, sind blind oder unfruchtbar. durch Flucht in die USA. Autorenbeitrag
10 Die Fabrikanlage hätte in einem so dicht besiedelten
Gebiet eigentlich nie errichtet werden dürfen, doch M2 Hans Lenk: Verantwortung ist nicht
korrupte Politiker hatten den Bauantrag von Union gleich Verantwortung
Carbide genehmigt, das in dem Wohngebiet der Ar- Hans Lenk (*1935) war Professor für Philosophie an der Uni-
men einen Pool von billigen Arbeitskräften sah. versität Karlsruhe.
15 Kaum war die Fabrik in Betrieb, schraubte das indi- Wir müssen […] unterschiedli-
sche Management des Unternehmens aus Kosten- che Typen von Verantwortlich-
gründen die ohnehin geringen Sicherheitsstandards keiten und dementsprechend
noch weiter herunter. Die Wartungsintervalle wurden verschiedene Verantwortungs-
verlängert, die Sicherheitsausbildung der Arbeiter begriffe auseinanderhalten. […] 5

20 von sechs Monaten auf zwei Wochen reduziert, das Der nächstliegende und allge-
Kühlsystem und die Entlüftungsanlage abgeschaltet. meinste Typ von Verantwort-
Ausgelöst wurde die Katastrophe durch Wasser, das lichkeit ist die Verantwortung für die Folgen und
bei Reinigungsarbeiten in einen Tank für Chemika- das Ergebnis des eigenen Handelns. Wir können
lien eindrang und dort eine heftige Kettenreaktion hier von Kausalhandlungsverantwortung sprechen: 10

25 auslöste, so dass der Druck anstieg und die Über- Man ist für die durch das eigene Handeln verur-
druckventile sich öffneten. Bis heute ist ungeklärt, ob sachten Ergebnisse und Folgen […] verantwortlich
VERANTWORTUNGSETHIK 203

oder mitverantwortlich […]. Der Ingenieur, der einen Verantwortung solche Aufgabenverantwortlichkei-
Damm plant, ist für das Ergebnis seines Entwurfs ten, die moralisch relevant sind, von denen andere
15 und seiner Berechnungen verantwortlich. Verant- Menschen oder Lebewesen in Hinsicht auf mögliche
wortung wird oft nicht durch den Regelfall der po- Schädigung bzw. Förderung oder Erhaltung betroffen 60

sitiven Kausalhandlungs(ergebnis)verantwortung, sind. […]


sondern durch negative Fälle brisant und bekannt: Die Kontrolltechniker bei der Chemiekatastrophe von
Ein Dammbruch kann auf falsche oder schludrige Bhopal haben nicht nur in Bezug auf ihre Rollen-
20 Berechnungen zurückzuführen sein. Deshalb gibt es pflicht versagt, sondern auch moralisch gegenüber
eine negative Kausalhandlungsverantwortung: Die den Opfern der Gasausbreitung, weil sie zunächst 65

Sorgfalt der Handlungsausführung umfasst die Ver- mehrere Stunden lang nicht Alarm schlugen, nach-
meidung von Unterlassungen. […] dem das Gasleck bereits entdeckt war.
[Darüber hinaus] gibt es auch eine aktive Verhin- Neben der direkten gibt es auch die indirekte mo-
25 derungsverantwortung (Präventionsverantwortung): ralische Verantwortung für ein Handlungsergebnis.
Der Kontrollingenieur muss aktiv und systematisch In Bhopal waren keine computergesteuerten Mess- 70

nach Schwachstellen suchen. Dies gehört zu seiner sensoren, Alarmanlagen usw. eingebaut: ein mora-
besonderen positiven wie negativen Kausalhand- lisches Versäumnis der Firmenleitung, nicht einmal
lungs- und Aufgabenverantwortung. Sie dient der ein rechtliches (denn entsprechende Rechtsauflagen
30 Abwendung von Unfällen oder Störungen sowie der bestanden in Indien nicht, was unter anderem die
Vorsorge für das Wohlergehen der vom reibungs- Firma dazu veranlasst hatte, die Produktionsstätte 75

losen Ablauf des betreffenden Systems abhängigen gerade dort zu errichten).


Menschen (oder auch Tiere). […] Dieses Beispiel gibt Anlass zu der Feststellung, dass
Handlungs- oder Unterlassungsverantwortung kann die Unterarten sowohl der Handlungsergebnisverant-
35 auch stellvertretend übernommen werden: Der Mi- wortung als auch der Aufgaben- und Rollenverant-
nister hat die Handlungsweisen seiner Untergebenen wortung auch rechtlich zu deuten sind: Neben der 80

politisch zu verantworten — auch für solche Hand- moralischen Interpretation, die uns in diesem Ban-
lungen, die nicht er selbst durchgeführt oder direkt de ausschließlich beschäftigt, ist auch die rechtliche
veranlasst hat. Ähnliches gilt für die Führungs-, Ver- nicht zu vernachlässigen, da strafrechtlich, zivil-
40 anlassungs- oder Befehlsverantwortung in vielfälti- rechtlich und verwaltungsrechtlich unterschiedliche
gen Organisationen mit hierarchischer Struktur. […] Verantwortlichkeiten und Haftbarkeiten bestehen 85

Handlungsverantwortung kann je nach Instanz und dürften. Technik und Ethik (1987)
Bereich auf spezifische Aufgaben und Rollen bezo-
gen oder allgemein moralisch wahrzunehmen sein.
45 […] Mit jeder beruflichen Rolle und ihrem Aufga-
benspektrum ist eine entsprechende Aufgaben- und 1 D iskutieren Sie die Schuldfrage im Fall der
A
Rollenverantwortung verbunden. Jeder Techniker ist Chemiekatastrophe von Bhopal. Erläutern Sie,
seinem Vorgesetzten, der Firmenleitung oder dem welche Personen und Instanzen Sie für verant-
Vorstand der betreffenden (privaten oder öffentli- wortlich halten. > M1
50 chen) Organisation (auch etwa seiner Standesorga- 2 Fertigen Sie eine Mindmap zu den verschie-
nisation) im Sinne der Rollenerwartung, Stellenbe- denen Formen der Verantwortung an, die Lenk
unterscheidet, und erläutern Sie sie. > M2 H
schreibung usw. für Handlungen, Unterlassungen und
3 Wenden Sie die von Lenk getroffenen Unter-
vorsorgende Aufmerksamkeit verantwortlich. […]
scheidungen auf die Katastrophe von Bhopal
Während spezifische Aufgabenverantwortlichkeiten an. Welcher Form von Verantwortung hätten
55 bei rollengebundenen Handlungen moralisch neu- die Beteiligten gerecht werden müssen, um
tral sein können, überlagert (universal)moralische den Unfall zu vermeiden? > M2
204 VERANTWORTUNG UND ANGEWANDTE ETHIK

Die Notwendigkeit einer neuen Ethik


zu M1, Jonas, S. 204-210

M1 Hans Jonas: Neue Dimensionen ten, wie sie zwischen Menschen sich einstellen, mit
der Verantwortung den wiederkehrenden, typischen Situationen des pri-
Der deutsche Philosoph Hans vaten und öffentlichen Lebens. Der gute Mensch war 30

Jonas (1903-1993) floh ein solcher, der diesen Gelegenheiten mit Tugend und
1933 vor den Nationalsozia- Weisheit begegnete, der die Fähigkeit dazu in sich
listen und lebte von 1955
selbst kultivierte und im Übrigen sich mit dem Unbe-
bis zu seinem Tod in New
York. Seine 1979 erschiene- kannten abfand.
ne Schrift Das Prinzip Ver- Alle Gebote und Maximen überlieferter Ethik, inhalt- 35
antwortung ist das meistge- lich verschieden wie sie immer sein mögen, zeigen
lesene moralphilosophische
Werk der Nachkriegszeit. Auf diese Beschränkung auf den unmittelbaren Umkreis
den folgenden Seiten wer- der Handlung. „Liebe deinen Nächsten wie dich
den die Grundgedanken die- selbst“; „Tue Anderen, wie du wünschest, dass sie
ses Buches vorgestellt.
dir tun“; „Unterweise dein Kind im Wege der Wahr- 40

Aller Umgang mit der außermenschlichen Welt, das heit“; „Strebe nach Vorzüglichkeit durch Entwick-
heißt der ganze Bereich der techne (Kunstfertigkeit) lung und Verwirklichung der besten Möglichkeiten
war – mit Ausnahme der Medizin – ethisch neutral – deines Seins qua Mensch“; „Ordne dein persönliches
im Hinblick auf das Objekt […], weil die Kunst die Wohl dem Gemeinwohl unter“; „Behandle deinen
5 selbsterhaltende Natur der Dinge nur unerheblich in Mitmenschen niemals bloß als Mittel, sondern immer 45

Mitleidenschaft zog und somit keine Frage dauern- auch als einen Zweck in sich selbst“; und so fort.
den Schadens an der Integrität ihres Objektes, der na- Man beachte, dass in all diesen Maximen der Han-
türlichen Ordnung im Ganzen, aufwarf. […] Wirkung delnde und der „Andere“ seines Handelns Teilhaber
auf nichtmenschliche Objekte bildete keinen Bereich einer gemeinsamen Gegenwart sind. Es sind die jetzt
10 ethischer Bedeutsamkeit. Lebenden und in irgendwelchem Verkehr mit mir 50

Ethische Bedeutung gehörte zum direkten Umgang Stehenden, die einen Anspruch auf mein Verhalten
von Mensch mit Mensch, einschließlich des Umgangs haben, insofern es sie durch Tun oder Unterlassen
mit sich selbst; alle traditionelle Ethik ist anthropo- affiziert. Das sittliche Universum besteht aus Zeit-
zentrisch*. […] genossen und sein Zukunftshorizont ist beschränkt
15 Das Wohl oder Übel, worum das Handeln sich zu auf deren voraussichtliche Lebensspanne. Ähnlich 55

kümmern hatte, lag nahe bei der Handlung, entweder verhält es sich mit dem räumlichen Horizont des Or-
in der Praxis selbst oder in ihrer unmittelbaren Reich- tes, worin der Handelnde und der Andere sich treffen
weite und war keine Sache entfernter Planung. Diese als Nachbar, Freund oder Feind, als Vorgesetzter und
Nähe der Ziele galt für Zeit sowohl als Raum. Die Untergebener, als Stärkerer und Schwächerer, und in
20 wirksame Reichweite der Aktion war klein, die Zeit- all den anderen Rollen, in denen Menschen mitein- 60

spanne für Voraussicht, Zielsetzung und Zurechen- ander zu tun haben. Alle Sittlichkeit war auf diesen
barkeit kurz, die Kontrolle über Umstände begrenzt. Nahkreis des Handelns eingestellt. […]
Rechtes Verhalten hatte seine unmittelbaren Kriterien Der kurze Arm menschlicher Macht verlangte keinen
und seine fast unmittelbare Vollendung. Der lange langen Arm vorhersagenden Wissens; die Kürze des
25 Lauf der Folgen war dem Zufall, dem Schicksal oder einen war so wenig schuldhaft wie die des andern. […] 65

der Vorsehung anheimgestellt. Ethik hatte es demge- All dies hat sich entscheidend geändert. Die moderne
mäß mit dem Hier und Jetzt zu tun, mit Gelegenhei- Technik hat Handlungen von so neuer Größenord-
VERANTWORTUNGSETHIK 205

nung, mit so neuartigen Objekten und so neuartigen nis dessen, was schon getan ward. Alle herkömmliche
Folgen eingeführt, dass der Rahmen früherer Ethik Ethik rechnete nur mit nicht-kumulativem Verhalten.
70 sie nicht mehr fassen kann. […] […] Die kumulative Selbstfortpflanzung technologi-
Gewiss, die alten Vorschriften der „Nächsten“-Ethik – scher Veränderung der Welt überholt fortwährend 115

die Vorschriften der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, die Bedingungen jedes ihrer beitragenden Akte und
Ehrlichkeit, usw. – gelten immer noch, in ihrer inti- verläuft durch lauter präzedenzlose Situationen, für
men Unmittelbarkeit, für die nächste, tägliche Sphäre die die Lehren der Erfahrung ohnmächtig sind. Ja,
75 menschlicher Wechselwirkung. Aber diese Sphäre ist die Kumulation als solche, nicht genug damit, ihren
überschattet von einem wachsenden Bereich kollekti- Anfang bis zur Unkenntlichkeit zu verändern, mag 120

ven Tuns, in dem Täter, Tat und Wirkung nicht mehr die Grundbedingung der ganzen Reihe, die Voraus-
dieselben sind wie in der Nahsphäre, und der durch setzung ihrer selbst, verzehren. All dieses müsste im
die Enormität seiner Kräfte der Ethik eine neue, nie Willen der Einzeltat mitgewollt sein, wenn diese sitt-
80 zuvor erträumte Dimension der Verantwortung auf- lich verantwortlich sein soll. […]
zwingt. [In früheren Zeiten] war die Technik ein zugemesse- 125

Man nehme zum Beispiel […] die kritische Verletz- ner Zoll an die Notwendigkeit, nicht die Straße zum
lichkeit der Natur durch die technische Intervention erwählten Ziel der Menschheit – ein Mittel mit einem
des Menschen – eine Verletzlichkeit, die nicht ver- endlichen Grad der Angemessenheit an wohldefi-
85 mutet war, bevor sie sich in schon angerichtetem nierte naheliegende Zwecke. Heute, in der Form der
Schaden zu erkennen gab. Diese Entdeckung, deren modernen Technik, hat sich techne in einen unend- 130

Schock zu dem Begriff und der beginnenden Wis- lichen Vorwärtsdrang der Gattung verwandelt, in ihr
senschaft der Umweltforschung (Ökologie) führte, bedeutsamstes Unternehmen, in dessen fortwährend
verändert die ganze Vorstellung unserer selbst als ei- sich selbst überbietendem Fortschreiten zu immer
90 nes kausalen Faktors im weiteren System der Dinge. größeren Dingen man den Beruf des Menschen zu se-
Sie bringt durch die Wirkungen an den Tag, dass die hen versucht ist, und dessen Erfolg maximaler Herr- 135

Natur menschlichen Handelns sich de facto geändert schaft über die Dinge und über den Menschen selbst
hat, und dass ein Gegenstand von gänzlich neuer als die Erfüllung seiner Bestimmung erscheint. […]
Ordnung, nicht weniger als die gesamte Biosphäre Nicht ihr oder ich: es ist der kollektive Täter und die
95 des Planeten, dem hinzugefügt worden ist, wofür wir kollektive Tat, nicht der individuelle Täter und die
verantwortlich sein müssen, weil wir Macht darüber individuelle Tat, die hier eine Rolle spielen; und es 140

haben. […] Die Natur als eine menschliche Verant- ist die unbestimmte Zukunft viel mehr als der zeit-
wortlichkeit ist sicher ein Novum, über das ethische genössische Raum der Handlung, die den relevanten
Theorie nachsinnen muss. […] Horizont der Verantwortung abgibt. Dies erfordert
100 Die Einhegung der Nähe und Gleichzeitigkeit ist da- Imperative neuer Art. Das Prinzip Verantwortung (1979)
hin, fortgeschwemmt von der räumlichen Ausbrei-
tung und Zeitlänge der Kausalreihen, welche die
technische Praxis, auch wenn für Nahzwecke unter-
1  Erklären Sie, wodurch nach Jonas die bisherige
A
nommen, in Gang setzt. Ihre Unumkehrbarkeit, im
Ethik gekennzeichnet ist. > M1
105 Verein mit ihrer zusammengefassten Größenordnung,
2  Begründen Sie, warum die bisherige Ethik im
führt einen weiteren neuartigen Faktor in die morali-
Zeitalter der modernen Technik nicht hinrei-
sche Gleichung ein. Dazu ihr kumulativer Charakter: chend ist > M1
ihre Wirkungen addieren sich, so dass die Lage für 3 Nehmen Sie Stellung zu Jonas’ Forderung einer
späteres Handeln und Sein nicht mehr dieselbe ist neuen Ethik. > M1
110 wie für den anfänglich Handelnden, sondern zuneh- 4  Formulieren Sie „Imperative neuer Art“ (Z. 144).
mend davon verschieden und immer mehr ein Ergeb- > M21
206 VERANTWORTUNG UND ANGEWANDTE ETHIK

Ein neuer ethischer Imperativ

M1 Hans Jonas: Alte und neue Imperative wird. Das Opfer der Zukunft für die Gegenwart ist lo-
Jonas entwickelt einen neuen, ökologischen Imperativ in Aus- gisch nicht angreifbarer als das Opfer der Gegenwart
einandersetzung mit dem kategorischen Imperativ Kants. für die Zukunft. Der Unterschied ist nur, dass im ei- 40

Die Anwesenheit des Menschen in der Welt war ein nen Fall die Reihe weitergeht, im andern nicht. Aber
erstes und fraglos Gegebenes gewesen, von dem jede dass sie weitergehen soll, ungeachtet der Verteilung
Idee der Verpflichtung im menschlichen Verhalten ih- von Glück und Unglück, ja selbst mit Übergewicht
ren Ausgang nahm: jetzt ist sie selber ein Gegenstand des Unglücks über das Glück, und sogar der Unmo-
5 der Verpflichtung geworden – der Verpflichtung ral über die Moral, lässt sich nicht aus der Regel der 45

nämlich, die erste Prämisse aller Verpflichtung, das Selbsteinstimmigkeit innerhalb der Reihe, so lange
heißt eben das Vorhandensein bloßer Kandidaten für oder kurz sie eben dauert, ableiten: es ist ein außer
ein moralisches Universum in der physischen Welt, ihr und ihr vorausliegendes Gebot ganz anderer Art
für die Zukunft zu sichern; und das heißt unter an- und letztlich nur metaphysisch zu begründen.
10 derem, diese physische Welt so zu erhalten, dass die 2. Ein Imperativ, der auf den neuen Typ mensch- 50

Bedingungen für ein solches Vorhandensein intakt lichen Handelns passt und an den neuen Typ von
bleiben; und das heißt, ihre Verletzlichkeit vor einer Handlungssubjekt gerichtet ist, würde etwa so lauten:
Gefährdung dieser Bedingungen zu schützen. Ich will „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung
den Unterschied, den dies für die Ethik macht, an verträglich sind mit der Permanenz echten mensch-
15 einem Beispiel illustrieren. […] lichen Lebens auf Erden“; oder negativ ausgedrückt: 55

1. Kants kategorischer Imperativ sagte: „Handle so, „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung
dass du auch wollen kannst, dass deine Maxime all- nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit
gemeines Gesetz werde.“ Das hier angerufene „kann“ solchen Lebens“, oder einfach: „Gefährde nicht den
ist das der Vernunft und ihrer Einstimmung mit sich indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden
20 selbst: Die Existenz einer Gesellschaft menschlicher […]. 60

Akteure (handelnder Vernunftwesen) vorausgesetzt, 3. Es ist ohne weiteres ersichtlich, dass kein rationa-
muss die Handlung so sein, dass sie sich ohne Selbst- ler Widerspruch in der Verletzung dieser Art von Im-
widerspruch als allgemeine Übung dieser Gemein- perativ involviert ist. Ich kann das gegenwärtige Gut
schaft vorstellen lässt. Man beachte, dass hier die unter Aufopferung des zukünftigen Guts wollen. Ich
25 Grundüberlegung der Moral nicht selber moralisch, kann, so wie mein eigenes Ende, auch das Ende der 65

sondern logisch ist: das „wollen können“ oder „nicht Menschheit wollen. Ich kann, ohne in Widerspruch
können“ drückt logische Selbstverträglichkeit oder mit mir selbst zu geraten, wie für mich so auch
-unverträglichkeit […] aus. Es liegt aber kein Selbst- für die Menschheit ein kurzes Feuerwerk äußerster
widerspruch in der Vorstellung, dass die Menschheit Selbsterfüllung der Langeweile endloser Fortsetzung
30 einmal aufhöre zu existieren, und somit auch kein im Mittelmaß vorziehen. 70

Selbstwiderspruch in der Vorstellung, dass das Glück Aber der neue Imperativ sagt eben, dass wir zwar un-
gegenwärtiger und nächstfolgender Generationen ser eigenes Leben, aber nicht das der Menschheit wa-
mit dem Unglück oder gar der Nichtexistenz späterer gen dürfen; und dass Achill zwar das Recht hatte, für
Generationen erkauft wird – so wenig, wie schließ- sich selbst ein kurzes Leben ruhmreicher Taten vor
35 lich im Umgekehrten, dass die Existenz und das einem langen Leben ruhmloser Sicherheit zu wählen 75

Glück späterer Generationen mit dem Unglück und (unter der stillschweigenden Voraussetzung nämlich,
teilweise sogar der Vertilgung gegenwärtiger erkauft dass eine Nachwelt da sein wird, die von seinen Taten
VERANTWORTUNGSETHIK 207

zu erzählen weiß); dass wir aber nicht das Recht ha- tiv unterworfenen Handlungen, nämlich Handlungen
ben, das Nichtsein künftiger Generationen wegen des des kollektiven Ganzen, haben den universalen Be-
80 Seins der jetzigen zu wählen oder auch nur zu wa- zug in dem tatsächlichen Ausmaß ihrer Wirksamkeit
gen. Warum wir dieses Recht nicht haben, warum wir […]. Dies nun fügt dem moralischen Kalkül den Zeit- 125

im Gegenteil eine Verpflichtung gegenüber dem ha- horizont hinzu, der in der logischen Augenblicks-
ben, was noch gar nicht ist und „an sich“ auch nicht operation des kantischen Imperativs gänzlich fehlt:
zu sein braucht, jedenfalls als nicht existent keinen extrapoliert der letztere in eine immer-gegenwärtige
85 Anspruch auf Existenz hat, ist theoretisch gar nicht Ordnung abstrakter Kompatibilität, so extrapoliert
leicht und vielleicht ohne Religion überhaupt nicht unser Imperativ in eine berechenbare wirkliche Zu- 130

zu begründen. Unser Imperativ nimmt es zunächst kunft als die unabgeschlossene Dimension unserer
ohne Begründung als Axiom. […] Verantwortlichkeit. Das Prinzip Verantwortung (1979)
4. Es ist ferner offensichtlich, dass der neue Imperativ
90 sich viel mehr an öffentliche Politik als an privates M2 Mietsache
Verhalten richtet, welches letztere nicht die
kausale Dimension ist, auf die er anwend-
bar ist. Kants kategorischer Imperativ war
an das Individuum gerichtet und sein
95 Kriterium war augenblicklich. Er forderte
jeden von uns auf, zu erwägen, was ge-
schehen würde, wenn die Maxime meiner
jetzigen Handlung zum Prinzip einer all-
gemeinen Gesetzgebung gemacht würde
100 oder es in diesem Augenblick schon wäre:
die Selbsteinstimmigkeit oder Nichtein-
stimmigkeit einer solchen hypothetischen
Verallgemeinerung wird zur Probe meiner
privaten Wahl gemacht. Aber es war kein
105 Teil dieser Vernunftüberlegung, es bestehe
irgendeine Wahrscheinlichkeit dafür, dass
meine private Wahl tatsächlich allgemeines Gesetz „Ich jedenfalls verleihe nie wieder etwas!“
werde oder zu einem solchen Allgemeinwerden auch Horst Haitzinger

nur beitrage. In der Tat, reale Folgen sind überhaupt


110 nicht ins Auge gefasst und das Prinzip ist nicht das-
jenige objektiver Verantwortung, sondern das der 1 E rläutern Sie den neuen Imperativ (Z. 53-58).
A
subjektiven Beschaffenheit meiner Selbstbestim- Was verstehen Sie in diesem Zusammenhang
mung. Der neue Imperativ ruft eine andere Ein- unter „echtem menschlichen Leben“? > M1
stimmigkeit an: nicht die des Aktes mit sich selbst, 2 Untersuchen Sie, was Jonas zur Rechtfertigung
des neuen ethischen Imperativs anführt. > M1
115 sondern die seiner schließlichen Wirkungen mit dem
3 Stellen Sie dar, worin sich der neue ethische
Fortbestand menschlicher Aktivität in der Zukunft.
Imperativ von Kants kategorischem Imperativ
Und die „Universalisierung“, die er ins Auge fasst, ist unterscheidet. > M1
keineswegs hypothetisch – das heißt die bloß logische 4  Nehmen Sie Stellung zu der Frage, ob die Kritik
Übertragung vom individuellen „Ich“ auf ein ima- von Jonas an Kant berechtigt ist. > M1
120 ginäres, kausal damit unverbundenes „Alle“ („wenn 5 Wenden Sie den neuen Imperativ auf die Kari-
jeder so täte“): im Gegenteil, die dem neuen Impera- katur an. > M2
208 VERANTWORTUNG UND ANGEWANDTE ETHIK

Die Anwendung des neuen Imperativs

M1 Hans Jonas: Der Vorrang te reflektieren, das in allem menschlichen Handeln


der schlechten vor der guten Prognose hinsichtlich des Ausgangs wie der Nebenwirkungen
Zur Anwendung der Verantwortungsethik bedarf es nach Jonas enthalten ist, und uns fragen, um welchen Einsatz
der Herausbildung eines empirischen Wissens, auf das der neue man, ethisch gesprochen, wetten darf.
ethische Imperativ zu beziehen ist.
Darf ich die Interessen Anderer in meiner Wette ein- 40

Es muss eine Wissenschaft hypothetischer Vorher- setzen? Da ergibt sich als erste Antwort, dass man,
sagen, eine „vergleichende Futurologie“, ausgebildet streng genommen, um nichts wetten darf, was einem
werden. […] nicht gehört (wobei offen bleibt, ob man um alles
Solange die Gefahr unbekannt ist, weiß man nicht, wetten darf, was einem gehört). Aber mit dieser Ant-
5 was es zu schützen gibt und warum: das Wissen da- wort ließe sich nicht leben, da bei der unlöslichen 45

rum kommt, aller Logik und Methode zuwider, aus Verflechtung menschlicher Angelegenheiten wie al-
dem Wovor. […] Wir wissen erst, was auf dem Spie- ler Dinge es sich gar nicht vermeiden lässt, dass mein
le steht, wenn wir wissen, dass es auf dem Spiele Handeln das Schicksal Anderer in Mitleidenschaft
steht. […] Darum muss die Moralphilosophie unser zieht […]. [Allerdings sind] Mutwille und Leichtfer-
10 Fürchten vor unserm Wünschen konsultieren, um zu tigkeit zu verwerfen, im Einsatz des Fremden wie des 50

ermitteln, was wir wirklich schätzen; und obwohl […] Eigenen […]; und mutwillig wäre z. B. der Einsatz des
die Heuristik* der Furcht gewiss nicht das letzte Wort Bedeutenden um nichtiger Ziele willen. […]
in der Suche nach dem Guten ist, so […] sollte [sie] [Darüber hinaus darf] der Einsatz nie das Ganze der
zum Vollen ihrer Leistung genutzt werden […]. Interessen der betroffenen Anderen sein […], vor al-
15 Allerdings wird die Unsicherheit der Zukunftsprojek- lem nicht ihr Leben. […] Aber gilt [das] auch in der 55

tionen […] zur empfindlichen Schwäche dort, wo sie Verfolgung selbstloser Ziele? Speziell solcher, die im
die Rolle von Prognosen übernehmen müssen, näm- Interesse der vom Wagnis Betroffenen selbst verfolgt
lich in der praktisch-politischen Anwendung […]. werden? Man wird dem Staatsmann nicht das Recht
Denn dort soll doch der vorgestellte Endeffekt zur bestreiten wollen, die Existenz der Nation für die Zu-
20 Entscheidung darüber führen, was jetzt zu tun und zu kunft aufs Spiel zu setzen, wenn wirklich Äußerstes 60

lassen ist, und man verlangt schon beträchtliche Si- auf dem Spiele steht. So kommen die furchtbaren,
cherheit der Vorhersage, um einen erwünschten und aber moralisch vertretbaren Entscheidungen über
sicheren Naheffekt wegen eines ohnehin uns nicht Krieg und Frieden zustande, wo um der Zukunft wil-
mehr treffenden Ferneffekts aufzugeben. […] Eben len der Einsatz die Zukunft selbst wird. Nur muss
25 diese Ungewissheit nun aber, welche die ethische man hinzufügen, dass dies nicht wegen der Lockung 65

Einsicht für die hier gemeinte Zukunftsverantwor- einer herrlichen sondern nur unter der Drohung einer
tung unwirksam zu machen droht […], muss selber fürchterlichen Zukunft geschehen darf: nicht um ein
in die ethische Theorie einbezogen und in ihr zum höchstes Gut zu gewinnen […], sondern nur, um ein
Anlass eines neuen Grundsatzes genommen werden, höchstes Übel abzuwenden. Die letztere Erwägung
30 der nun seinerseits als praktische Vorschrift wirksam hat […] allein die Entschuldigung der Notwendigkeit. 70

werden kann. Es ist die Vorschrift, primitiv gesagt, Denn man kann ohne das höchste Gut, aber nicht mit
dass der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben dem höchsten Übel leben. […]
ist als der Heilsprophezeiung. […] Dieser Vorbehalt aber schließt die großen Wagnisse
[Das Prinzip dieser Vorschrift] erfahren wir, wenn der Technologie von seiner Erlaubnis aus. Denn diese
35 wir auf das Element des Glücksspiels oder der Wet- werden nicht zur Rettung des Bestehenden oder Be- 75
VERANTWORTUNGSETHIK 209

hebung des Unerträglichen unternommen, sondern Einsatz man überhaupt wetten darf. Ein Spieler kann
zur stetigen Verbesserung des je Erreichten, das heißt um das wetten, was ihm gehört, aber nicht um das,
für den Fortschritt […]. Er und seine Werke stehen was anderen gehört. Ich darf in einer Wette nicht die
daher eher im Zeichen des Übermuts als der Notwen- Interessen anderer aufs Spiel setzen. 25

80 digkeit, und Verzichte in seinen Unternehmbarkeiten Kolleg Ethik: Aber es lässt sich doch gar nicht ver-
treffen den Überschuss über das Notwendige, wäh- meiden, dass durch mein Handeln auch immer die
rend ihre Durchführung das Unbedingte selber tref- Interessen anderer berührt werden.
fen kann. Also gewinnt hier […] der Satz, dass mein Experte: Das bestreitet Jonas auch nicht. Aber es
Handeln nicht „das ganze“ Interesse der mitbetrof- muss eine Mindestforderung sein, dass niemand die 30

85 fenen Anderen (die hier die Zukünftigen sind) aufs Interessen anderer mutwillig und leichtfertig aufs
Spiel setzen darf, wieder Kraft. […] Spiel setzt. Es wäre nicht vertretbar, wenn jemand
Hiermit haben wir endlich ein Prinzip gefunden, das langfristige Beeinträchtigungen zukünftiger Genera-
gewisse „Experimente“, deren die Technologie fähig tionen herbeiführt, um sich selbst einen kurzfristi-
ist, verbietet, und dessen pragmatischer Ausdruck gen Vorteil zu verschaffen. Außerdem hat niemand 35

90 eben die vorher diskutierte Vorschrift ist, für die Ent- das Recht, um das „Ganze der Interessen“ anderer
scheidung Unheilsprognosen vor Heilsprognosen den zu wetten. Also darf die Existenz anderer Menschen
Ausschlag geben zu lassen. Der ethische Grundsatz, oder gar die Existenz der Menschheit niemals aufs
von dem die Vorschrift ihre Gültigkeit bezieht, lautet Spiel gesetzt werden.
also: Niemals darf Existenz oder Wesen des Menschen Kolleg Ethik: Wie würde Jonas dann das Handeln 40

95 im Ganzen zum Einsatz in den Wetten des Handelns eines Staatsmannes beurteilen, der im Krieg um der
gemacht werden. Das Prinzip Verantwortung (1979) Zukunft seines Volkes willen dessen Existenz aufs
Spiel setzt?
H M2 Verantwortungsethik in der Praxis Experte: Ich denke, dass niemand ihn moralisch ver-
Kolleg Ethik: Die Forderung von Jonas, in unserem urteilen könnte, denn hier geht es um die Abwen- 45

Handeln die Interessen zukünftiger Generationen zu dung von Schaden. Um äußerstes Übel abzuwehren,
berücksichtigen, ist einleuchtend. Aber was muss ge- kann es erlaubt sein, das Ganze aufs Spiel zu setzen.
tan werden, um diese Forderung in der Praxis um- Aber so kann man in Bezug auf die Technik nicht ar-
5 zusetzen? gumentieren. Seit Francis Bacon ist das erklärte Ziel
Experte: Zunächst einmal ist es wichtig, eine „Wis- aller technischen Bemühungen der Fortschritt, die 50

senschaft der Fernwirkungen“ unseres Handelns aus- Vermehrung des Glücks der Menschheit. Aber für
zubilden. Dabei gilt es vor allem herauszufinden, dieses Ziel darf man das Ganze nicht riskieren: „Denn
was die Fortexistenz der Menschheit bedroht. Jonas man kann ohne das höchste Gut, aber nicht mit dem
10 spricht hier von einer „Heuristik der Furcht“: Erst höchsten Übel leben“, wie Jonas sagt. Autorenbeitrag
wenn wir wissen, was wir fürchten müssen, können
wir entsprechend handeln. Allerdings ist davon aus-
zugehen, dass die meisten Wirkungen menschlichen 1 A nalysieren Sie – ausgehend von den Schlüs-
A
Handelns nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden selbegriffen des Textes – wie der neue Impera-
15 können. Deshalb stellt Jonas den praktischen Grund- tiv in der Praxis anzuwenden ist. > M1
satz auf, dass der Unheilsprognose ein Vorrang vor 2 Erklären Sie die Bedeutung der Heuristik der
Furcht und des Prinzip des Vorrangs der
der Heilsprognose einzuräumen ist.
schlechten vor der guten Prognose in der Ver-
Kolleg Ethik: Wie ist das zu verstehen? antwortungsethik. > M2
Experte: Unter Ungewissheit gleicht unser Handeln 3 Erläutern Sie den praktischen Grundsatz der
20 einer Wette. Auch bei einer Wette ist der Ausgang ja Verantwortungsethik am Beispiel der Wette.
ungewiss. Und da muss man sich fragen, um welchen > M2
210 VERANTWORTUNG UND ANGEWANDTE ETHIK

Verantwortung für das Ganze

M1 Hans Jonas: Das Kind – M2 Vom Sein zum Sollen H


Urgegenstand der Verantwortung Kolleg Ethik: Es leuchtet ein, dass Eltern eine Ver-
antwortung für ihr Kind tragen. Aber was will Jonas
damit eigentlich sagen?
Experte: Das Beispiel des Kindes ist wichtig im Zusam-
menhang der Begründung der Verantwortungsethik. 5

Der neue kategorische Imperativ steht unter der Prä-


misse, dass Menschheit überhaupt sein soll. Wenn
das mehr sein soll als eine intuitive Gewissheit – oder
Gefühlsevidenz, wie Jonas das nennt –, dann muss
es begründet werden. Jonas muss plausibel machen, 10

dass aus der Tatsache, dass eine Menschheit exis-


tiert, abgeleitet werden kann, dass sie auch existieren
soll, d. h. dass aus dem Sein der Menschheit auf ihr
[Das] zeitlose [...] Urbild aller Verantwortung [ist die] Sein-Sollen geschlossen werden kann. Die Begrün-
elterliche […] [Verantwortung] für das Kind. […] Das dung stößt aber auf eine Schwierigkeit: Seit Hume 15

Neugeborene [richtet] unwidersprechlich ein Soll an gilt nämlich in der Ethik der Grundsatz, dass man
die Umwelt […], nämlich: sich seiner anzunehmen. nicht vom Sein auf das Sollen schließen kann. Das
5 Sieh hin und du weißt. Ich sage „unwidersprech- ist in vielen Fällen auch richtig. Beispielsweise folgt
lich“, nicht „unwiderstehlich“: denn natürlich lässt aus der Tatsache, dass in zahlreichen afrikanischen
sich der Kraft dieses wie jedes Soll widerstehen, sein Ländern Mädchen beschnitten werden, nicht, dass 20

Ruf kann auf Taubheit stoßen […] oder durch andere die weibliche Beschneidung auch moralisch richtig
„Rufe“ wie etwa vorgeschriebene Kindesaussetzung, ist und dass Mädchen beschnitten werden sollen. Der
10 Erstgeburtsopfer und dergleichen, ja schon durch den Hume’sche Grundsatz gilt allerdings nicht uneinge-
nackten Selbsterhaltungstrieb übertönt werden — an schränkt. Genau das will Jonas mit dem Beispiel des
der Unwidersprechlichkeit des Anspruchs als solchen Kindes zeigen. Wie Sie selbst sagen, leuchtet es ein, 25

und seiner unmittelbaren Evidenz ändert dies nichts. dass Eltern für ein Neugeborenes verantwortlich sind
Ich sage auch nicht: eine „Bitte“ an die Umwelt – einfach weil es da ist.
15 („nehmt euch meiner an“), denn der Säugling kann Kolleg Ethik: Der Grund der Verantwortung ist also in
noch nicht bitten; und vor allem, eine Bitte, auch die der Existenz des Kindes zu suchen?
beweglichste, verpflichtet noch nicht. So ist auch von Experte: Genau. An diesem Beispiel lässt sich die 30

Mitgefühl, Erbarmen, oder welche Gefühle unserseits Struktur der Verantwortung darstellen: Verantwortung
ins Spiel kommen mögen, sogar von der Liebe hier geht aus vom Objekt. Etwas ist und soll sein, und aus
20 nicht die Rede. Ich meine wirklich strikt, dass hier seinem Sein-Sollen folgt, dass wir dafür verantwort-
das Sein eines einfach ontisch* Daseienden ein Sol- lich sind und entsprechend handeln sollen. Durch das
len für Andere immanent und ersichtlich beinhaltet, Beispiel des Kindes zeigt Jonas die Möglichkeit auf, 35

und es auch dann täte, wenn nicht die Natur durch zu begründen, warum wir für zukünftige Generatio-
mächtige Instinkte und Gefühle diesem Sollen zuhilfe nen verantwortlich sind. Unsere Verantwortung ist
25 käme, ja meist das Geschäft ganz abnähme. jedoch nicht auf Menschen beschränkt, sondern sie
Das Prinzip Verantwortung (1979) erstreckt sich auf alles Leben in der Natur. Autorenbeitrag
VERANTWORTUNGSETHIK 211

M3 Franz Josef Wetz: Die Ableitung Vorstellung eines auch im abgeschwächten Sinne
von Werten aus Zwecken der Natur zielstrebig ablaufenden Naturprozesses. In der Natur
Jonas sucht eine Antwort auf die Frage, weshalb wir ist eine „Zielorientierung“ vorhanden, eine Richtungs- 45

achten und bewahren sollen, was wir missachten und tendenz, welche in der Evolution die mannigfaltigen
heute zerstören könnten: unseren Planeten und alles Gelegenheiten zu Höherentwicklung ergriff. Jonas
Leben darauf. Rein biologisch gesehen besteht nicht sagt nicht, dass der Naturprozess von einem höchsten
5 der geringste Grund, warum nicht Arten aussterben Ziel und letzten Zweck, auf die er hinläuft, gesteuert
und die Spezies homo sapiens untergehen sollte – und gelenkt wird, sondern nur, dass in der Natur ein 50

Dinosauriern und vielen anderen Lebensformen ge- unbewusstes Wollen wirkt, das, sobald sich ihm die
schah es ja auch, und sie sind sicher nicht die letzten Gelegenheit zu Höherentwicklung bietet, diese auch
in der Entwicklungsgeschichte, welche dieses Schick- nutzt. Für ihn steht zwar fest, „dass mit der Hervor-
10 sal ereilen wird. Weshalb also sollten wir Menschen bringung des Lebens die Natur wenigstens einen be-
uns anders verhalten als die übrige Natur? Jonas stimmten Zweck kundgibt, eben das Leben selbst“. 55

antwortet hierauf mit dem alten, metaphysischen Man erkennt, dass Wert und Würde von Mensch und
Grundsatz, dass Sein höher steht als Nichts, Leben Natur nach Jonas in deren Selbstbejahung liegen, aus
dem Nichtleben gegenüber Vorrang hat. Er begründet der sich ein Anspruch auf Unversehrtheit ergibt, dem
15 diese Annahme mit der sich in allen Organismen und wir Rechnung tragen sollen. Die Natur verlangt von
im Evolutionsprozess selbst darstellenden Bejahung uns die Bereitschaft, sich ihrer anzunehmen, sie zu 60

der Natur; ein Wert, der Anspruch auf Anerkennung schützen, zu schonen; so ist sie selbst letzter Ver-
und Achtung besitzt. Leben ist wertvoll, weil die Na- pflichtungsgrund zu verantwortlichem Umgang mit
tur es will und sich darin selbst bejaht; deshalb sol- ihr. Jonas wendet sich aber nachdrücklich gegen
20 len wir Menschen allen Lebewesen mit Achtung oder jeden „rücksichtslosen Anthropozentrismus“, gegen
Ehrfurcht begegnen. die menschliche Vermessenheit, sich als Herr und Ei- 65

In allen belebten Naturwesen ist eine innewohnende gentümer und damit als uneingeschränkter Nutznie-
Zweckhaftigkeit zu beobachten. Jonas geht davon ßer der Natur zu fühlen. Oberstes Gebot sei und blei-
aus, dass jeder Organismus „sein eigener Zweck“ sei, be, die in Jahrmillionen entstandenen Lebensformen
25 alle am Leben hängen und ihre Kräfte auf dessen Er- als unverfügbaren Wert zu schützen und zu achten.
haltung richten. nach: Hans Jonas zur Einführung (1994), gekürzt
In der als Zweck gekennzeichneten Selbstsorge aller
Naturwesen glaubt er deren völlige Selbstbejahung
1 B eschreiben Sie das Bild und stellen Sie dar,
A
erblicken zu können. Sicherlich sei das Selbsterhal-
wofür die Eltern im Einzelnen dem Kind gegen-
30 tungsstreben aller Organismen kein zweifelsfreier über verantwortlich sind. > M1
Beweis, aber doch ein untrüglicher Indikator dafür. 2 Untersuchen Sie, wie Jonas die elterliche Ver-
Leben enthält ein „Ja des Lebens“ zu sich selbst. Alles antwortung gegenüber dem Kind begründet.
Leben strebt nach Selbsterhaltung und ist als solches > M1
„das aktive Nein zum Nichtsein“; atmend und Nah- 3 Stellen Sie dar, welche Funktion das Beispiel
35 rung aufnehmend entscheidet sich jeder Organismus des Kindes bei Jonas hat. > M2
„für sich selbst und gegen das Nichts“, was anzeigt, 4 Erarbeiten Sie Jonas’ Begründung der Verant-
„dass das Sein nicht indifferent gegen sich selbst ist“. wortung des Menschen für die Natur. > M3
Die sich im Selbsterhaltungsstreben aller Lebewesen 5 Beruht die Verantwortung des Menschen für
künftige Generationen und für die gesamte
äußernde Selbstbejahung ist nach Jonas der „Grund-
belebte Natur auf mehr als nur auf gefühls-
40 wert aller Werte“, ein „Gut-an-sich“, das ausdrückt, mäßiger Evidenz? Nehmen Sie Stellung zu
dass Sein mehr wert ist als Nichtsein. Jonas’ Begründung der Verantwortungsethik.
Zu dieser metaphysischen Naturdeutung passt die > M1-M3
212 VERANTWORTUNG UND ANGEWANDTE ETHIK

Praxisnormen für die Zukunftsbewertung

M1 Dieter Birnbacher: M2 Dieter Birnbacher:


Plädoyer für einen intergenerationellen Ein Katalog von Praxisnormen
Nutzensummenutilitarismus Praxisnormen sollen auch in Fällen von begrenztem
Dieter Birnbacher (*1946) war bis Wissen, begrenzter Intelligenz und begrenztem guten
zu seiner Emeritierung 2012 Pro- Willen eine Orientierung ermöglichen und dadurch
fessor für Philosophie an der Uni- ein Optimum von Normerfüllung sicherstellen. An-
versität Düsseldorf. Er rechtfertigt
spruch und Realisierbarkeit, normativer Gehalt und 5
die Zukunftsverantwortung durch
zwei Plausibilitätsargumente. Befolgungschancen sollen so ins Gleichgewicht ge-
bracht sein, dass ihre faktische Geltung so weit wie
1. Die Tatsache, dass eine möglich dem Inhalt der idealen Norm zur Realisie-
von je zwei verwirklich- rung verhilft. […]
baren Zukünften […] bes- 1. Keine Gefährdung der Gattungsexistenz des Menschen 10

ser ist als eine andere, istzwar kein schlechthin zwin- und der höheren Tiere: kollektive Selbsterhaltung
5 gender Grund, die bessere zu verwirklichen, ist aber Dass wir die Gattungsexistenz des Menschen nicht
dennoch der bestmögliche Grund, den man dafür gefährden dürfen, ist nicht nur unter Zukunftsethi-
haben kann, die bessere statt der schlechteren zu kern unumstritten. Für Nicht-Philosophen steht es
verwirklichen, wenn man überhaupt zu der Verwirk- zumeist geradezu axiomatisch fest, dass wir nichts 15

lichung einer bestimmten Zukunft beitragen will. tun sollten, was das Fortbestehen der Gattung aufs
10 2. 
Wenn wir überhaupt zu etwas verpflichtet sind, Spiel setzen könnte. Fraglich ist jedoch, ob man es
dann sind wir dazu verpflichtet, von je zwei ver- hierbei mit einer letztlich nur psychologisch – oder
wirklichbaren Zukünften die aufs Ganze gesehene sogar biologisch – zu erklärenden Manifestation des
bessere zu verwirklichen bzw. nach Kräften zu ih- Selbsterhaltungstriebs zu tun hat, oder ob sich die 20

rer Verwirklichung beizutragen. Forderung nach dem Weiterexistieren der Gattung ir-
15 Ich halte beide Plausibilitätsargumente für hinrei- gendwie rational begründen lässt. Die Tatsache, dass
chend beweiskräftig, um […] [den rationalen Utili- die meisten Nietzsches Satz: „Es sind schon viele
taristen] davon zu überzeugen, dass seine Zukunfts- Tierarten verschwunden; gesetzt, dass auch der
norm keine andere sein kann als die der Maximierung Mensch verschwände, so würde nichts in der Welt 25

des in der gesamten zukünftigen Welt verwirklichten fehlen“ gefühlsmäßig ablehnen würden, sagt nichts
20 Guten, wobei dieses Gut nicht als zu einer bestimm- darüber aus, ob sich auch ethische Argumente da-
ten zeitlichen Schicht der Welt gehörig, sondern als gegen angeben lassen, die Lebensdauer der Gattung
generationenübergreifende, intertemporale Größe ge- vorsätzlich oder fahrlässig zu verkürzen. […]
dacht werden muss. Auf dem Hintergrund der hedo- Auf der Ebene der Praxisnormen – d. h. unter Be- 30

nistischen Werttheorie, der R. U. den Vorzug gibt, dingung eingeschränkter Rationalität – erscheint es
25 fällt die ideale Norm demnach zusammen mit der allerdings kaum sinnvoll, eine solche Abwägung von
Grundnorm des intergenerationellen Nutzensummen- Risiko und Chancen zuzulassen. Um einem Allzu-
utilitarismus: das zu tun, was im Hinblick auf die Ge- leicht-Nehmen entsprechender Risiken zuvorzukom-
samtheit aller zukünftigen Generationen gesehen die men, sollten vielmehr Gefährdungen der Gattungs- 35

größtmögliche Differenz von Glück (Lust) und Leiden existenz als ganzer bzw. der Existenz bewusstseins-
30 (Unlust) verwirklicht. begabten Lebens überhaupt grundsätzlich nicht zum
Verantwortung für zukünftige Generationen (1988) Gegenstand von Risikoabwägungen gemacht werden
VERANTWORTUNGSETHIK 213

dürfen. Nicht nur die direkte Auslöschung des be- praxi doch weitgehend so verhalten, als würde sie
40 wussten Lebens, sondern bereits das – wie immer sich an einer solchen Strategie orientieren. Ein Grund
hypothetische – Risiko dieser Auslöschung muss dafür ist, dass Risiken, die anderen vererbt werden, 85

schlechthin verboten sein. […] dadurch in unfreiwillige Risiken transformiert wer-


2. Keine Gefährdung einer zukünftigen menschen- den und damit eine neue Qualität erhalten. Ein wei-
würdigen Existenz: Nil nocere terer Grund ist, dass sich nicht nur die Präferenzen*
45 Betont die erste Praxisnorm die quantitative Seite der hinsichtlich bestimmter Güter im Laufe der folgenden
Existenz zukünftiger Generationen, geht es bei die- Generationen ändern können, sondern auch die Ri- 90

ser zweiten Praxisnorm um die Qualität dieser Exis- sikopräferenzen. Man kann z. B. nicht ohne weiteres
tenz. Auch diese Praxisnorm dürfte sich beinahe von davon ausgehen, dass die Generation unserer Enkel
selbst verstehen. Sie verbietet, die natürliche und so- weiterhin bereit sein wird, soziale Risiken im Umfang
50 ziale Umwelt des Menschen in einer solchen Weise zu der gegenwärtigen Risiken des Straßenverkehrs oder
schädigen – bzw. eine spontane Verschlechterung der private Risiken im Umfang der gegenwärtigen Risi- 95

natürlichen und sozialen Umwelt zuzulassen –, dass ken des Rauchens zu akzeptieren. […]
es den Spätergeborenen unmöglich werden könnte, Der dem Gebot der Vermeidung irreversibler Schäden
ein lebenswertes Leben zu führen. Sie verbietet, dass und Risiken entsprechende Wert ist der der Wach-
55 wir vorsätzlich oder fahrlässig etwas tun, von dem wir samkeit. Zur Wachsamkeit berufen sind alle, die von
befürchten müssen, dass es Spätere Not leiden lässt, ihrer Kompetenz her am ehesten fähig sind, irrever- 100

sie anthropogenen oder natürlichen Übeln (Krank- sible Risiken vorauszusehen, bevor sie in der Welt
heiten, Epidemien, Verseuchungen, Verwüstungen) sind, insbesondere die an der Risikoentstehung direkt
ausliefert, sie in Zwangslagen bringt, die ihnen keine oder indirekt beteiligten Wissenschaftler. „Techno-
60 Chance lassen, ihre Lebensweise autonom zu bestim- logy assessment“ und „science assessment“ sollten
men, oder angesichts von sozialen oder ökologischen ebenso selbstverständlich zu den Pflichten des Wis- 105

Krisen zu Verzweiflungstaten zwingen, die den Ein- senschaftlers gehören wie die Wahrhaftigkeit in der
satz unmenschlicher Mittel begünstigen […]. Verbreitung seiner Forschungsergebnisse. Die Privi-
Eine weitere naheliegende Konsequenz aus der Pra- legien des Wissens schaffen eine besondere Verant-
65 xisregel der Verhinderung künftigen Elends ist die wortung, wie sonst nur die Privilegien der Macht.
Erhaltung des Weltfriedens. Kein zukünftiger Welt- Der Wert der Wachsamkeit verlangt aber vor allem 110

krieg ist denkbar, der nicht auch dann gigantische auch, die Öffentlichkeit rechtzeitig vor potentiell ir-
Gefährdungen für die sozialen und natürlichen Le- reversiblen Risiken zu warnen. Nur wenn die Wissen-
bensgrundlagen implizieren würde, wenn er auf allen schaft selbst als „Frühwarnsystem“ fungiert, kann sie
70 Seiten mit konventionellen Mitteln und ohne atoma- es vermeiden, sich in den Augen einer zunehmend
res Eskalationsrisiko geführt würde und somit bereits um die individuelle und überindividuelle Zukunft 115

unter die erste Praxisnorm fiele. Friedenserhaltung besorgten Öffentlichkeit ins Unrecht zu setzen. Die
und Friedenssicherung sind auch unter langfristigen Zeichen sind unübersehbar, dass die Wissenschaftler
zukunftsethischen Gesichtspunkten oberstes Gebot selbst zunehmend bereit sind, die gesellschaftliche
75 politischer Verantwortung. […] Zumutung einer solchen Rolle zu akzeptieren.
3. Keine zusätzlichen irreversiblen Risiken: Wachsamkeit Verantwortung für zukünftige Generationen (1988)
Es ist bereits vermerkt worden, dass eine Generation
bei der Weitergabe von Risiken an die nachfolgen-
1  Erarbeiten Sie Birnbachers Begründung der
A
den Generationen besondere Vorsicht walten lassen Verantwortung für zukünftige Generationen.
80 muss. Auch wenn es für sie auf idealethischer Ebene > M1
keinen Anlass gibt, einer ausgeprägt risikoscheuen 2 Analysieren Sie arbeitsteilig die angeführten
Entscheidungsstrategie zu folgen, muss sie sich in Praxisnormen der Zukunftsethik. > M2
214 VERANTWORTUNG UND ANGEWANDTE ETHIK

Eine strahlende Zukunft?

M1 Die Nuklearkatastrophe von Fukushima M2 Das Endlagerungsproblem


Die Katastrophe von Fukushima schärft den Blick für ein Prob-
lem, das nicht nur Japan hat: das der Endlagerung atomarer
Abfälle.

Die Aufräumarbeiten am AKW in Fukushima stellen


Japan vor allem deshalb vor gewaltige Probleme, weil
Tausende von Brennstäben aus dem AKW entsorgt
werden müssen, die ihre tödliche Strahlung noch auf
Millionen Jahre hinaus behalten, d. h. für ca. 30.000 5

Generationen gefährlich sind. Aber wohin mit dem


atomaren Müll? In Japan selbst, wo vier Erdplatten
aufeinandertreffen, kann man vor allem aufgrund
der Geologie kein atomares Endlager errichten.
Aber auch außerhalb Japans existiert kein einziges 10

Endlager, in dem der wachsende Berg strahlenden


Abfalls sicher unterzubringen wäre. Über ein halbes
Am 11. März 2011 kam es in Fukushima, Japan, zu Jahrhundert nach dem Bau der ersten kommerziellen
einer Atomkatastrophe nie gekannten Ausmaßes. Atomkraftwerke ist die Endlagerfrage weltweit un-
Durch eine 15 m hohe Flutwelle infolge eines Erd- gelöst. Allein in den USA, wo mehr als 100 Meiler 15

bebens wurden große Teile des Atomkraftwerkes zer- in Betrieb sind, haben sich nach Angaben von Asso-
5 stört. Ein Ausfall der Kühlsysteme führte in drei Re- ciated Press 71.862 Tonnen Atommüll angesammelt
aktorblöcken zur Kernschmelze. Dabei fanden 1600 – und derzeit kommen alljährlich rund 2200 Tonnen
Menschen den Tod. Durch die Explosionen wurden dazu. Bislang werden die verbrauchten Brennele-
große Mengen radioaktiven Materials freigesetzt mente lediglich zwischengelagert. In den Zwischen- 20

und Luft, Böden, Wasser und Nahrungsmittel in der lagern sind sie jedoch anfällig für Naturkatastrophen
10 land- und meerseitigen Umgebung kontaminiert. Im und Terroranschläge.
Umkreis von 30 km wurde eine Sperrzone errichtet, Inzwischen zweifeln viele Experten an der Realisier-
ca. 100.000 Einwohner mussten das Gebiet dauerhaft barkeit sicherer Endlager. Sie fordern einen grund-
verlassen. Die Entsorgungsarbeiten werden voraus- sätzlichen Verzicht auf Kernenergie und setzen auf 25

sichtlich 30 bis 40 Jahre dauern. Die Kosten der Ka- erneuerbare Energien (Solarenergie, Windkraft usw.).
15 tastrophe werden auf über 150 Milliarden Euro ge- Andere argumentieren, die Endlager-Debatte blende
schätzt. den wissenschaftlichen Fortschritt aus. Erste Labor-
Nach der Katastrophe wurden alle japanischen Kern- versuche im Forschungszentrum des KIT (Karlsruher
kraftwerke heruntergefahren. Weltweit stieg die Institut für Technologie) haben gezeigt, dass hoch 30

Skepsis gegenüber der zivilen Nutzung der Kern- radioaktiver Abfall grundsätzlich entschärft werden
20 energie. Mehrere Länder – u. a. Deutschland – gaben kann. Jedoch gibt es diesbezüglich noch gehörigen
ihre Kernenergieprogramme auf. Die japanische Re- Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Die Fachleute
gierung selbst beschloss Mitte September 2012 den am KIT gehen davon aus, dass die Probleme inner-
schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie bis spä- halb von zwei Jahrzehnten gelöst sein könnten. 35

testens 2040. Autorenbeitrag Autorenbeitrag


VERANTWORTUNGSETHIK 215

M3 Fukushima war gestern? Atomkraft das erreichen, wovon Leute wie Tanaka
Drei Jahre nach dem Abschalten aller japanischen träumen – ganz ohne Energieimporte zu wirtschaf- 45

Atomkraftkraftwerke in Folge der Katastrophe von ten. Bis 2050 wäre sogar ein Energiemix möglich, der
Fukushima werden in Japan Stimmen laut, die eine sich ausschließlich aus erneuerbaren Energien speist.
Rückkehr zur Kernenergie fordern. Im Frühjahr 2014 Zu ähnlichen Befunden sind auch andere Organisati-
5 lagen der japanischen Atomregulierungsbehörde 22 onen gekommen, darunter WWF Japan, Greenpeace
Anträge von Kraftwerksbetreibern vor, wieder Atom- Japan, der Klimaschutzverein Kiko Network und die 50

strom zu produzieren. Sie befand, dass zwei Atom- amerikanische Stanford University.
reaktoren in Sendai den verschärften Sicherheitsbe- Heute liegt der regenerative Anteil am japanischen
stimmungen genügen. Energiemix bei nur zehn Prozent. Matsubaras Institut
10 Unterstützung erhält die und der WWF schätzen, dass für einen ausschließlich
Behörde von Nobua Tanaka, aus erneuerbaren Energien bestehenden Energiemix 55

Professor an der Universität bis 2050 jährliche Investitionen von zehn Billionen
Tokio. Er vertritt die Auf- Yen nötig wären (rund 73 Milliarden Euro). Aber sie
fassung, dass die japanische würden sich wohl lohnen: Neue Wachstumsbranchen
15 Wirtschaft nicht ohne Atom- und eine sauberere, sicherere Energieversorgung wä-
strom auskommen könne. Bis ren möglich. Allein Offshore-Windanlagen wird ein 60

2011 hatten Kernkraftwerke Potenzial zugetraut, das fünfmal so hoch ist wie die
rund 30 % des Energiever- Kapazität aller japanischen Atomreaktoren zusam-
brauchs in Japan gedeckt. Derzeit importiert Japan men. Im von Matsubara ausgearbeiteten Energiemix
20 90 % seiner Energie und ist damit der größte Gas- würden auch Solarenergie und verschiedene Formen
und drittgrößte Ölimporteur der Welt. Öl und Gas aus der Wasserkraft eine zentrale Rolle spielen. Und dann 65

dem mittleren Osten werde jedoch immer teurer. Da- wäre da noch die Erdwärme: Laut der in Bochum an-
mit die japanische Wirtschaft auch in Zukunft wett- sässigen International Geothermal Association ver-
bewerbsfähig bleibe, brauche sie bezahlbare Energie. fügt Japan über die weltweit drittgrößten Reserven.
25 Die Gefahren der Kernenergie schätzt Tanaka nicht Autorenbeitrag
allzu hoch ein. Die jüngste Generation von Kernre-
aktoren sei in hohem Maß automatisiert und daher
praktisch unfallsicher.
1 
Diskutieren Sie die Ursachen und Folgen der
A
Hironao Matsubara, Vertre-
ter des regierungsunabhän- Nuklearkatastrophe von Fukushima. > M1
gigen Instituts für Nachhal- 2 
Simulieren Sie die Endlagerdebatte als Streit-
gespräch zwischen Gegnern und Befürwortern
tige Energiepolitik (Isep)
der Kernenergie. > M2
traut der Sicherheitseinstu-
3 
Führen Sie Recherchen zur aktuellen Situation
fung der Atomregulierungs- in der Frage der Rückkehr Japans zur Kernkraft
behörde nicht. Die Kraft- durch. Stellen Sie Argumente und Gegenargu-
werksanlage Sendai liege mente zusammen. > M3
rund 1000 Kilometer südlich
von Tokio auf der Insel Ky-
ushu. Der aktive Vulkan Sakuraijma ist nur 50 km
Medienhinweis:
40 davon entfernt. Im März sorgte sein Institut für einen
Ranga Yogeshwar in Fukushima (Dokumentarfilm,
kleinen nationalen Aufschrei, als es in seinem Jah- ARD, Sendung am 3.11.2014; siehe auch:
resbericht befand: Wenn Japan heute die richtigen www.fukushima.wdr.de)
Entscheidungen träfe, könne es in Zukunft auch ohne
216 VERANTWORTUNG UND ANGEWANDTE ETHIK

Gefährdung zukünftigen Lebens?


MET HO D ENKO M P E TE N Z : Eine ethische Position an Beispielen /
in Anwendungskontexten erläutern
Ethische Theorien werden in ihrer Bedeutung besser verständlich, wenn man sie in Anwendungs-
kontexten, an Beispielen erläutert. Dazu empfiehlt es sich, folgendermaßen vorzugehen:
• Rekonstruieren Sie die zu erläuternde Position in Grundzügen.
• Stellen Sie das Beispiel bzw. den Anwendungskontext dar. Berücksichtigen Sie dabei alle
relevanten Fakten.
• Wenden Sie die zu Anfang dargestellten ethischen Grundsätze auf das Beispiel an.
Erläutern Sie, was es damit in diesem Anwendungskontext auf sich hat.

M1 Risiko Kernenergie
Aufgabenstellung: Erläutern Sie Jonas’ Verantwortungsethik am Beispiel der Diskussion
um die Rückkehr zur Atomkraft in Japan.

Stichworte zur Position von Hans Jonas:


• Forderung, die Interessen künftiger Generationen zu berücksichtigen Rekonstruktion der
• Ausbildung eines Wissens von den Fernwirkungen der technischen Mittel ethischen Position
(von Jonas)
• Vorrang der schlechten Prognose vor der guten Prognose
• Keine Gefährdung der grundlegenden Interessen künftiger Generationen wegen unbe-
deutender Vorteile in der Gegenwart

Stichworte zur Diskussion um die Atomkraft in Japan:


• Forderungen der Rückkehr zur Atomkraft in Japan drei Jahre nach der Nuklearkata- Darstellung
strophe von Fukushima des Beispiels
(Atomkraft)
• Argumente dafür: Unabhängigkeit von Öl- und Gasimporten, die derzeit 90% des
Energiebedarfs decken; höherer Sicherheitsstandard neuer Kernkraftwerke
• Argumente dagegen: Möglichkeit, den Energiebedarf durch erneuerbare Energien zu
decken; Gefährdung der Kernkraftwerke durch mögliche Erdbeben und aktive Vulkane

Nach Jonas müssten in der Frage der Rückkehr zur Atomenergie in Japan die Fern- Anwendung
wirkungen dieser Technologie geprüft werden. Nun bedarf es keiner besonderen Wis- der ethischen
Position auf
senschaft, um die damit verbundenen Gefahren einzuschätzen. Die Reaktorkatastrophe das Beispiel
von Fukushima hat in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, was zu fürchten ist. In
5 einem Land, das von aktiven Vulkanen umgeben ist und in dem man aufgrund sei-
ner geotektonischen Lage jederzeit mit Erdbeben rechnen muss, kann es keine sicheren
Atomkraftwerke geben. Der Unheilsprognose, dass sich eine Katastrophe wie die von
Fukushima wiederholen kann, ist der Vorrang zu geben vor der Heilsprognose, dass die
Kernkraftwerke nach den neuen Sicherheitskriterien praktisch sicher sind. Dieses Prinzip
10 muss auch auf die Endlagerfrage angewendet werden. Es ist leichtsinnig, dass man eine
Technik nutzt, die radioaktiven Abfall produziert, der für ca. eine Million Jahre – also
etwa 30.000 Generationen – gefährlich bleibt, wenn man nicht weiß, wie man diesen Ab-
VERANTWORTUNGSETHIK 217

fall sicher lagern kann. Diesem Argument ist Vorrang einzuräumen gegenüber der Prophezeiung, dass in zwei
Jahrzehnten Verfahren entwickelt sein könnten, radioaktiven Abfall zu entschärfen. Zudem ist, wie Gutachten
von unabhängigen Instituten zeigen, die Deckung des japanischen Energiebedarfs durch alternative Energien 15

möglich. Die Unabhängigkeit der japanischen Wirtschaft von Öl- und Gasimporten kann durch Solarenergie,
Wind- und Wasserkraft sowie Erdwärme gesichert werden. Wenn die japanische Regierung dennoch zum
Atomstrom zurückkehrte, dann würde sie die Sonderinteressen einer gesellschaftlichen Gruppe, der Atomener-
giewirtschaft, in der Gegenwart höher bewerten als die Interessen künftiger Generationen. Sie würde deren
Existenz aus nicht zwingenden Gründen aufs Spiel setzen. Diese Gefährdung der Natur und künftigen Lebens 20

wäre nach Jonas nicht zu verantworten.

M2 Erdgasförderung durch Fracking


Aufgabenstellung: Erläutern Sie Birnbachers Zukunftsethik am Beispiel der Diskussion
um die Zulassung des Frackings in Deutschland.

Hintergrundinformation:
Fracking ist eine Methode der Erdgasgewinnung, Art der Erdgasgewinnung bereits angewandt, in an-
bei der das Gestein in großer Tiefe mit hohem hy- deren Bundesländern haben sich internationale Ener-
draulischem Druck aufgebrochen und ein flüssiges gieunternehmen zahlreiche Claims (Erlaubnisfelder)
Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien in den gesichert, u. a. zwei in Baden-Württemberg in der
5 Boden gepresst wird. Durch die entstehenden Risse Nähe des Bodensees. Die Technologie ist jedoch sehr 15

kann im Gestein eingelagertes Gas an die Oberfläche umstritten, ihre Auswirkungen auf die Umwelt sind
gelangen. Gemäß einem Bundesgesetz von 2016, das kaum erforscht. Kritiker befürchten vor allem eine
2021 noch einmal geprüft werden soll, ist Fracking in Verunreinigung des Bodens und des Grundwassers
Deutschland unter bestimmten Bedingungen erlaubt. durch die verwendeten Chemikalien, die in hohem
10 In Schleswig-Holstein und Niedersachsen wird diese Maße giftig sind. 20

A
Zulassung für Fracking?
N
........................................................................... Rekonstruktion der ethischen W
Position (von Birnbacher)
........................................................................... E
........................................................................... N
........................................................................... Darstellung des Beispiels (Fracking) D
........................................................................... U
.................................................................... Anwendung der ethischen N
Position auf das Beispiel
G

1 
Vollziehen Sie nach, wie die Position von Jonas 3  Erläutern Sie – nach dem Muster von M1 – die
A
im Anwendungskontext erläutert wird. > M1 ethische Position Birnbachers (s. S. 212f.) im
2 
Informieren Sie sich über das Gesetz zum Kontext der Diskussion um das Fracking. > M2
Fracking und recherchieren Sie die Chancen 4 Nehmen Sie dazu Stellung, welche Position Ih-
und Gefahren dieser Technologie. > M2 nen als verantwortungsethisches Beurteilungs-
konzept überzeugender erscheint. > M1/M2
218 VERANTWORTUNG UND ANGEWANDTE ETHIK

Wissen kompakt

Verantwortung

Wer
(Subjekt)
verantwortet

was? wofür? weswegen? Wovor? Wann?


(Objekt) (Folgen) (Werte) (Instanz) (Zeit)

• für das Ergebnis von Handlungen/Unterlassungen


• präventiv
• in einer beruflichen Rolle
• stellvertretend/repräsentativ
• rechtlich
• moralisch

Verantwortungsethik
(Hans Jonas)

Auswirkungen des menschlichen Handelns

bisher: im Zeitalter der modernen Technik:


begrenzt die gesamte Biosphäre betreffend,
Gefährdung der Fortexistenz
der Menschheit

Verantwortung Verantwortung
für die Menschen für die Natur als Ganzes und
im Hier und Jetzt für künftige Generationen

Neuer ethischer Imperativ:


„Handle so, dass die Wirkung deiner Handlungen verträglich sind
mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
VERANTWORTUNGSETHIK 219

Unterschied zu Kants kategorischem Imperativ:


• tatsächliche (nicht bloß hypothetische) Universalisierung
• Berücksichtigung der Folgen für die Fortexistenz der Menschheit

Anwendung:
• Ausbildung einer Wissenschaft der Fernwirkungen
• Heuristik der Furcht
• Vorrang der schlechten vor der guten Prognose

Begründung:
Zweckhaftigkeit der Natur
(z. B. zielgerichtete Prozesse in einem Organismus,
Leben als Selbstzweck des Organismus)

Streben nach Selbsterhaltung:


aktives Nein zum Nichtsein,
Grundwert: Sein

Aus dem Sein der Natur / der Menschheit folgt,


dass sie sein soll.

Intergenerationeller Nutzensummenutilitarismus
(Dieter Birnbacher)

Gebot:
Maximierung des in der gesamten zukünftigen Welt
zu verwirklichenden Guten

Begründung:
• Gut ist, was die größtmögliche Summe an Nutzen hervorbringt.
• Es ist besser, von zwei möglichen Zukünften, die verwirklicht werden können,
die bessere zu verwirklichen als die schlechtere.

Praxisnomen:
• keine Gefährdung der Gattungsexistenz von Mensch und höheren Tieren
• keine Gefährdung einer zukünftigen menschenwürdigen Existenz
• keine irreversiblen zusätzlichen Risiken
T22050
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