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Author(s): H. Bobek
Source: Erdkunde , Aug., 1948, Bd. 2, H. 1/3, Sonderheft: TAGUNG DER
HOCHSCHULLEHRER DER GEOGRAPHIE, BONN - 1947, Wissenschaftliche Abhandlungen
(Aug., 1948), pp. 118-125
Published by: Erdkunde
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konkreten Bedingu
London im Zwischendeck reisen, aus dem die
derer bekanntgeben
Kabinen zwecks Schaffung von Massenquar
satzungsmächten tieren beseitigt worden sind. Ein anderes zäh
Kontrollrat besitzen. Sie müssen daher erst den Beispiel: Brasilien besitzt nur einen einzigen
Friedensvertrag und die Schaffung normaler Dampfer, der für Auswanderungszwecke in
staatsrechtlicher Verhältnisse abwarten. Nach Frage kommt!
einer Äußerung der Times kann aber trotzdem2. Der Umfang kostenlos zu'r Verfügung ste
auf Jahre hinaus von einer freien Auswanderung hender Ländereien ist gering. Die an der
für Mitteleuropäer nicht die Rede sein. Schon Einwanderung interessierten Länder müßten
die Schwierigkeiten des Transports und der Er aber solche bereitstellen können, da die deut
nährung verböten eine unkontrollierte Aus schen Einwanderer ohne Barmittel sein wer
wanderung. Wenn auch Zentraleuropa ein Si den.
cherheitsventil in Form der Auswanderung 3. Der völlige Kapitalmangel macht über die
brauche, so müßten diese Bevölkerungsbewe kostenlose Landzuweisung hinaus eine hin
gungen doch von einer internationalen Organi reichende Ausstattung der Siedler mit land
sation geleitet werden, um die nationale Wirt wirtschaftlichen Geräten und eine laufende
schaftspolitik der verschiedenen Staaten aufein finanzielle Unterstützung mindestens bis zur
ander abzustimmen.
Einbringung der ersten Ernte erforderlich.
Auch nach Öffnung der deutschen Grenzen Eine derartig umfangreiche Subventionierung
ergeben sich für eine Massenauswanderung fol
der Einwanderer ist in den meisten Ländern bis
gende Schwierigkeiten: her nicht üblich gewesen und setzt erst noch die
Schaffung entsprechender gesetzlicher Grund
i. Bereitstellung des erforderlichen Schiffsrau
mes und Bezahlung der Passagen. Vorläufiglagen voraus. Für auswandernde Handwerker
macht sich der Mangel an Transportraum bei und Facharbeiter bestehen diese Schwierigkeiten
den Alliierten selbst noch unangenehm benicht im gleichen Maße, aber auch sie laufen bei
merkbar, Englische Beamte und Militärs
völliger Mittellosigkeit Gefahr, in der prole
z. B. müssen auf der Fahrt von Südafrika nach tarischen Masse unterzugehen.
H. Bobek
Der Kanon der als geographisch belangreich bunden erscheinen, ohne daß ein Bewußtsein, ein
betrachteten menschlichen Funktionenbejahendes (Sozial Wissen davon besteht. Solche Grup
funktionen) liegt seit alters durch Empirie penziem
(Merkmalsgruppen, statistische Gruppen)
lich fest. Es handelt sich um kennen auch kein gemeinsames, kein Kollektiv
1. biosoziale Funktionen (Fortpflanzung und handeln. Gleichwohl aber kann, und dies ist geo
Aufzucht zwecks „Erhaltung der Art"), graphisch wichtig, ihr Individualhandeln gleich
2. oikosoziale Funktionen (Wirtschaft-Bedarfs artig sein, ausgelöst durch gleichartige umwelt
deckung und Reichtumsbildung), liche oder biologische Bedingungen. Beispiele sind
3. politische Funktionen (Behauptung und etwa die Bergbauern, die Talbauern eines be
Durchsetzung der eigenen Geltung), stimmten Gebiets. Ihnen gegenüber stehen die
4. toposoziale Funktionen (Siedlungs-Ordnung jenigen Gruppen von Menschen, Sombart nennt
des bewohnten und genutzten Landes), sie „Verbände", die ihrer Gemeinsamkeiten und
j. migrosoziale Funktionen ("Wanderung, Stand Zusammenhänge bejahend bewußt sind. Je nach
ortsänderungen), dem, ob sie sich daran genügen lassen oder ob sie
6. Kulturfunktionen (soweit Landschafts- oder zur Organisierung gemeinsamen Handelns vor
länderkundlich belangreich). dringen zwecks Erreichung eines bestimmten
Diese Funktionen bilden das „anthropogene" Ziels oder aber aus einer allgemeinen, im Trans
(Busch-Zantner) oder „soziale Kräftefeld" und zendenten verankerten Idee heraus, werden in
sind den verschiedenen physischen und beologi tentionale, finale und ideale Verbände unter
schen Kräften unmittelbar zu vergleichen, die schieden. Bei den Intentionalverbänden ist zwar
die physischen und biologischen Kräftefelder zu alles Handeln noch Individualhandeln, aber es
sammensetzen. ist bereits vom Wissen um die Gemeinsamkeit
der Umstände und der Interessen ausgerichtet,
Sie haben seit jeher das volle geographische
vereinheitlicht.
Interesse gefunden. Nicht das gleiche kann manSo etwa, wenn die Großbauern
einer
von den menschlichen Gruppen Gemeinde nach der Aufteilung der All
behaupten,
die als Träger dieser Funktionen/ mende streben, während die Kleinbauern hart
erschienen.
Mit was für Gruppen haben wir näckig es in am derAllmendnutzen
Geo festhalten Hierher
graphie zu tun? Kein Zweifel, daß gehören
wir vor allem die Klassen und alle haupt
es mit
denselben konkreten Gruppierungen sächlich
zuwirtschaftlich
tun ha bedingten Bevölkerungs
schichten.
ben, mit denen sich auch die Geschichte Aus Intentionalverbänden gehen mit
(soweit
Leichtigkeit durch
sie Sozialgeschichte ist), die Wirtschaftslehre, die Organisierung finale oder
Zweckverbände
Völkerkunde usw. beschäftigen: jenen, die wirk hervor. Deren Kollektivhandeln
ist rational, sind.
lich handelnd auftreten oder aufgetreten zweckbedingt. Es beschränkt sich
Von sich aus hat die Geographie dementsprechend
(seit Vidal deauf wenige bestimmte Funk
tionen,
la Blache 13)) nur eine bestimmte Art vonwährend
mensch die übrigen unbeeinflußt blei
licher Gruppierung aufgestellt undben. Es gibt eine
ihren Beungeheure Fülle zweckbegrenz
ter Organisationen,
trachtungen zugrunde gelegt, nämlich die Grup und ihr Kennzeichen ist, daß
sie nur eine bestimmte
pierung nach der einheitlichen Lebensform, die Seite der Individuen er
fassensehen,
Lebensformgruppe. Wollen wir aber (Gewerkschaften,
in Berufsverbände, die
welcher Weise diese verschiedenen konkreten, meisten Vereine schlechthin). Im Gegensatz hier
„historischen" Gruppen „funktionieren", welche zu erstreckt sich das Kollektivhandeln der Ideal
Typen sich dabei unterscheiden lassen, so müssen verbände — mindestens latent — über fast alle
wir uns an die reine oder theoretische Soziologie Funktionsfelder. Gespeist aus irrationalen Wur
um Auskunft wenden. zeln, durchdringt ihr Geist das ganze Wesen
der Menschen und beeinflußt ihr individuelles
Unglücklicherweise besteht gerade in Bezug auf
die Klassifikation und Terminologie der GrupHandeln aufs stärkste. Sombart nennt als ideale
Verbände Familie, Staat bzw. Nation und Reli
pen noch wenig Einhelligkeit in der Soziologie.
Für unsere Zwecke scheint mir die folgende Ungionsverband. Sie haben ihr ursprüngliches
terscheidung von Typen wichtig, die wir in AnFunktionsgebiet meist weit überschritten. Ohne
lehnung an W. Sombart14) treffen können. Zweifel
Es gibt es aber noch weitere idealeVerbände,
gibt zunächst Gruppen von Menschen, die durchmindestens noch die Siedlungsgemeinschaft (Dorf
irgendwelche gemeinsamen Merkmale (der Rasse,und Stadtverband), und auf tieferer Ebene noch
Sprache, Lebensweise) oder Zusammenhänge tat Stand und Kaste.
sächlicher Art (Blutsverwandtschaft z. B.) ver Wir sehen also, daß nicht nur Umfang und
Intensität des Gruppenhandelns bei den verschie
13) P. Vidal de la Blache, Les genres de vie dans la
denen Typen sehr stark schwanken, von Null
geographie humaine. Anin. de Geogr. 20, 1911.
14) W. Sombart, Grundformen des menschlichen Zu zu großen Werten, sondern daß auch die
bis
prägende Kraft (gegenüber den Individuen) bei
sammenlebens. Hd.-Wörterbuch d. Soziol. Stuttgart 1931,
S. 2ix—239. den verschiedenen Gruppentypen sehr ungleich
ist. Am bedeutendst
Fürs erste tritt hierdurch dem konkreten und
Ganze im Auge
der Beobachtung ha
zugänglichen, nach physikali
ringsten schen bei den
und biologischen fina
Gesetzen geordneten na
mag es sichturräumlichen freilich
Komplex die ebenfalls konkrete, n
praktischen Wirkun
der Beobachtung zugängliche und analysierbare
schaftliche und soziale Umwelt verhalten. Dem menschliche Gesellschaft gegenüber, in der die
entsprechend wechselt auch das geographische Inbisher ungeordneten, unkoordinierten anthropo
teresse an den konkreten Gruppen verschiedenengenen Kräfte ihre systematische Einbindung und
Typs je nach der Betrachtungsweise. Ordnung finden. Es wird hierdurch erstmals und
Durch die geographische Gruppierung nachallein hierdurch möglich, den verschiedenen
Lebensformen können demnach Gruppen aller„Kräftelehren" der physischen Geographie eine
Typen erfaßt werden. Handelte es sich um reine „L e h r e d e r an.thropogenen Kräfte"
Merkmalsgruppen — was selten der Fall sein gegenüberzustellen und damit die bisher wenig
wird, — so müßte die Prägung der Lebensform befriedigende Stoffanhäufung der „Geographie
des Menschen" auf eine höhere Stufe der Wissen
ausschließlich durch außersoziale Kräfte erfolgt
sein, in erster Linie wohl durch solche der Land schaftlichkeit zu heben 15).
wirtschaft. In allen anderen Fällen treten zu Diese .Ordnung ist freilich eine autonome,
den außersozialen die sozialen Prägekräfte,soziologische
die Ordnung. Sie wird vom
auch bei weitem das Ubergewicht erlangenautonomen
kön menschlichen Geist bestimmt und kennt
nen (z. B. in Großstädten). dementsprechend keine Kausalitäten, sondern nur
Motivationen16). In ihr gelten jene Regeln, Grund
Ganz überwiegend stellen also die Lebensfor
men Gruppierungen dar, die sowohl von sätze landund Gesetzmäßigkeiten, die die Soziologie für
schaftlichen als auch von sozialen Kräften die Betätigung und das Wirksamwerden von Urteils
kraft und Willen .innerhalb von Einzelpersönlich
gleichzeitig geprägt erscheinen und die ihrerseits
durch ihr „Funktionieren" sowohl in den keiten,
natür Gruppen und Massen herausgearbeitet hat.
lichen (Landschaft) wie in den sozialen RaumDie Geographie des Menschen muß, wenn sie sich
(Gesellschaft) hinein wirken. Beispiele zur sind:Wissenschaftlichkeit erheben will, von diesen
Hirt, Fischer, Bergmann, Bauer. Aber Grundprinzipien
nicht Kenntnis nehmen und sie in das
Bauer schlechthin, sondern Fellach, Kolone, Kräftespiel
Frei der Landschaft einführen.
Dieser autonome Komplex der Gesellschaft
bauer,Erbzinsbauer, Pächter, überdies Vollerbe,
Kötter, Büdner usw. Auch nicht Arbeiter schlecht
findet zum zweiten seine Verankerung in der
hin sondern Fabrikarbeiter, Heimarbeiter, Landschaft über die Lebensformen. Deren Dop
Handwerksgeselle usw. in allen Abstufungen, pelrolle, einerseits als Anpassungsformen an die
die die Lebensführung wesentlich bestimmen. Gegebenheiten der Landschaft, andererseits als
Solche sozial - und landschaftlich handelnde Glieder der Gesellschaft, wurde oben
geprägten Lebensformgruppen betont. Hierdurch wird es aber möglich, die öko
setzten die Gesellschaften zusam logische Betrachtungsweise, die für die Auffas
men. Sie stellen die Elemente der Gesellschaf sung der pflanzen- und tierbelebten Natur- und
ten im geographischen Sinne dar. Die Gesell
Kulturlandschaft („Wirtschaftslandschaft") so
schaften in diese zu zerlegen, ist Aufgabe sozialungemein fruchtbar geworden ist, auch auf die
geographischer Analyse. menschlichen Gesellschaften auszudehnen und
Die besondere Bedeutung dieser sozial gepräg von einer „S o z i a 1 ö k o 1 o g i e" zu sprechen,
ten Lebensformen liegt in folgendem: Auf der die am der allgemeinen Landschaftsökologie teil
einen Seite erscheinen sie als handelnde Glieder
15) Dies hat meines Wissens in Deutschland zum
des Sozialkörpers, auf der anderen, soweit sie ersten Male R. Busch-Zantner klar ausgesprochen in
sich der Landnutzung im weitesten Sinne seinem Aufsatz: Zur Ordnung der anthropogenen Fak
widmen, als Anpassungsformen der Gesell toren. Peterm. Mitteil. 1937. S. 138—141. Erweitert in
schaft an die Gegebenheiten des Naturraumes der Einleitung zu seiner „Agrarverfassung und Siedlung
in Südosteuropa unter besonderer Berücksichtigung der
und gleichzeitig als Agenten von dessen Um Türkenzeit". Diss. Erlangen. Leipzig. 1938. Unabhängig
gestaltung. Indem sie so gleichzeitig in der hiervon gelangte ich seit etwa 1936 auf dem Wege über
Natur verankert und in der Gesellschaft be diö funktionale Betrachtungsweise zu gleichen An
schauungen, die ich in Berlin in Kollegs und Übungen
heimatet sind, bilden sie das wichtigste Ver
mehrfach ausführte.
bindungsglied zwischen diesen beiden Bereichen, 16) Vgl. die scharfe Ablehnung des Determinismus
damit zwischen Natur und Geist. in der Anthropogeographie und die darauf aufgebaute
Forderung nach einer Sozialgeographie bei van Vuuren,
III.
Warum Sozialgeographie? Zeitschr. d. Gesellsdi. f. Erdk.
Es erhebt sich nun die Frage, welchez. Bln. 1941. S. 269 ff. Die Erkenntnis von der Eigen
Vor
gesetzlichkeit menschlicher Betätigung im Raum steht
teile diese Betrachtungsweise, nämlich die Herein
auch im Hintergrund der „Dynamischen Länderkunde"
ziehung der Gesellschaft, der Geographie bringt.
R. Spethmann's.