Abstract
Die in der Präsidentialismusdebatte entstandenen Grundansät-
ze und ihre unterschiedlichen Konzeptionen von empirischer
Forschung, sozialer Kausalität und die daraus praktischen Fol-
gen für die politische Beratung werden im Rahmen der Kon-
frontation zwischen dem alten und neuen Institutionalismus
analysiert. Die neoinstitutionellen Ansätze sind im Gegensatz
zu den alten dadurch gekennzeichnet, dass sie die Bedeutung
von institutionellen Faktoren relativieren, ihnen aber zugleich
eine prägende Kraft zuweisen. Dabei wird angenommen, dass
Institutionen nicht direkt auf politische Prozesse und Ereignis-
se wirken, sondern zunächst das Akteurshandeln strukturieren.
Überdies betont die Heidelberger Schule bezüglich v.a. nicht-
konsolidierter Demokratien mit fluiden Rahmenbedingungen
die Notwendigkeit der Untersuchung von Kontextvariablen,
welche die Bedeutung institutioneller Faktoren innerhalb kom-
plexer Zusammenhänge bewertet.
Schlüsselbegriffe: Neoinstitutionalismus, Lateinamerika, Präsidentialismusdebatte
Einleitung1
Mit der Transition zahlreicher politischer Systeme zur Demokratie im Zuge
der dritten Demokratisierungswelle (Huntington) und mit der Reformdebatte
über Institutionen in vielen etablierten Demokratien stehen die klassischen
Fragen der Politikwissenschaft nach der Legitimität und Stabilität von Verfas-
sungsinstitutionen wieder auf der Tagesordnung. Und mit dem Übergang von
der Transitions- zur Konsolidierungsforschung erleben diejenigen Ansätze
einen Aufschwung, „welche neben der Rolle der politischen Akteure die ei-
genständige Bedeutung institutioneller Faktoren für die politische Entwick-
lung betonen“ (Nohlen/Thibaut 1994: 209). Denn das Hauptmerkmal des
Demokratisierungsprozesses ist die „devolution of power from a group of
people to a set of rules“ (Przeworski 1991: 14).
Die Schaffung dieser rules of the political game in Form von demokratischen
Institutionen schränkt die unübersehbare Fülle von Handlungsmöglichkeiten
ein und kann somit zur Stabilisierung der durch extreme Kontingenz gekenn-
zeichneten ersten Phase eines Systemwechsels beitragen und langfristig die
Chancen der demokratischen Konsolidierung mitbestimmen. Obwohl forma-
le Regelungen niemals das spezifische Verhalten der Akteure ganz determinie-
ren, kann doch der Umstand von entscheidender Bedeutung sein, dass kon-
krete Institutionen bestimmte Handlungsmöglichkeiten ausschließen bzw.
andere eher nahe legen. Und die Tatsache, dass (formale) politische Instituti-
onen bewusster Gestaltung zugänglich sind, erklärt die Bedeutung der poli-
tikwissenschaftlichen Diskussion über die politische Reform und die Wichtig-
keit von political consulting. Ferner beeinflussen Institutionen normativ auch das,
was die Akteure als vertretbares Handeln ansehen. Damit beinhalten Institu-
tionen auch eine pädagogische Funktion bezüglich demokratischer Werte
(vgl. Dahl 1996; Nohlen 1999, Merkel 1996: 74ff.; Lauga 1999: 97; Grotz
2000: 52f.).
Dennoch bleiben die Leistungen, welche institutionelle Ansätze zur Er-
klärung von Demokratisierungs- und Konsolidierungsprozessen erbringen
könnten, zweifelhaft. Insbesondere hat sich die Heidelberger Schule2 sehr kri-
1 Ich danke an erster Stelle Dieter Nohlen für die wertvollen Empfehlungen und Anregungen.
Mein Dank gilt auch Matthias Trefs, Matthias Basedau, Matín Lauga und José Reynoso, die das
Manuskript gelesen und kommentiert haben. Für mögliche Mängel der Darstellung trägt jedoch
der Autor die alleinige Verantwortung.
2 Im Jahre 1958 wurde das Heidelberger Institut für Politische Wissenschaft von Carl Joachim
Friedrich und Dolf Sternberger gegründet. Die an diesem Institut betriebene wissenschaftliche
Arbeit wird generell durch die folgenden Aspekte charakterisiert: (1) die vergleichende Methode
wird systematisch angewandt; (2) historisch ausgerichteten Studien wird der Vorzug gegeben; (3)
ein „aufgeklärter Neo-Institutionalismus“ wird in den Vordergrund gestellt, und (4) wird konse-
quenterweise eine bewusste Distanzierung von auf rational choice-Annahmen beruhenden Ansätzen
vorgenommen (vgl. Beyme 2000b). Zu dieser Tradition gehören u.a. die Studien von Klaus von
Beyme (vgl. u.a. 1967, 1999, 2000, 2000a) und seiner Schüler. Zu der Heidelberger Schule zählen
Institutionelle Ansätze und die Präsidentialismusdebatte in Lateinamerika 91
auch die Arbeiten von Dieter Nohlen (vgl. u.a. 1978, 1991, 1992, 1994, 1995, 1998, 1999, 2000,
2003) und seiner Schülern (vgl. u.a. Nohlen/Fernández 1991, 1998; Krennerich 1996; Bendel
1996, Thibaut 1996; Hartmann 1999; Sottoli 1999; Lauga 1999; Grotz 2000; Basedau 2003;
Krohn 2003; Nwankwo 2003). Im Folgenden wird sich diese Arbeit bei der Darstellung der Hei-
delberger Schule auf die Arbeiten von Nohlen und seinen Schülern konzentrieren, denn sie haben
explizit versucht, den Heidelberger Ansatz zu systematisieren und weiter zu entwickeln. Darüber
hinaus nahmen sie an der Präsidentialismusdebatte in Lateinamerika aktiv teil.
3 Auch Beyme äußert seine Bedenken über das Gewicht institutioneller Aspekte: „Es kann Situati-
onen wenig verfestigter politischer Prozesse geben, in denen selten etwas mit den Institutionen
erklärt werden kann, und wenn, dann ist ein Ereignis nur subsidiär davon mit bedingt worden“
(2000: 103). Sogar Wolfgang Merkel, der in der Regel eher deduktiv argumentiert, fordert gele-
92 Richard Ortiz Ortiz
6 Die Akteure können in ihrer Freiheit „gute“ Institutionen verzerren und instrumentalisieren.
Anders ist nicht zu erklären, dass es mit derselben institutionellen Ordnung effiziente und ineffi-
ziente Regierungen gibt.
Institutionelle Ansätze und die Präsidentialismusdebatte in Lateinamerika 95
(e) Die Frage des institutionellen Wandels ist ein zentrales Thema. Dabei
wird eine Prozessperspektive eingenommen, um Genese, Entwicklung und
Persistenz von institutionellen Faktoren unter expliziter Berücksichtigung von
historischen und strukturellen Variablen zu beschreiben und zu erklären.
Institutioneller Wandel verfolgt außerdem eine Pfadabhängigkeit und ist von
Machtkonstellationen und -kämpfen determiniert (Thelen/Steinmo 1992;
Thelen 1999; Hall/Taylor 1996; Nohlen 2000; Nohlen/Kasapovic 1996).
Der New Institutionalism versucht mithin, die zeitgenössischen Theorien
mit einer institutionellen Perspektive zu verbinden und die relative Bedeutung
von institutionellen Faktoren zu betonen, die nur ein Faktor unter mehreren
sind, die den politischen Prozess und Politikergebnisse beeinflussen.
2 Neue institutionelle Ansätze in der
Politikwissenschaft
Der Neoinstitutionalismus ist kein einheitlicher Ansatz: „Es gibt nicht ‚einen’
Neoinstitutionalismus, sondern die Bezeichnung beherbergt vielfältige Mixtu-
ren von theoretischen Elementen und Methoden“ (Beyme 2000: 106).
Grundsätzlich werden drei neoinstitutionelle Varianten unterschieden: (1) der
soziologische Ansatz, (2) der rational choice-Ansatz, und (3) der historische
Ansatz (vgl. Peters 1999; Hall/Taylor 1996: 939f.; Schulze 1997).7
7 Es ist auch von dem ökonomisch-historischen Institutionalismus (North 1992) und von dem
akteurzentrierten Institutionalismus (Mayntz/Scharpf 1995; Scharpf 2000) die Rede (vgl.
Hall/Taylor 1996; Schulze 1997; Peters 1999). Diese werden hier jedoch nicht behandelt, da die
in dieser Arbeit dargestellten, neo-institutionalistischen Ansätze als paradigmatisch gelten.
96 Richard Ortiz Ortiz
8 Die zentralen Ansätze der Neuen Institutionellen Ökonomie sind die Theorie der Verfügungsrechte,
die Agenturtheorie und der Transaktionskostenansatz (vgl. Schulze 1997: 8-14).
9 Jede Kombination von Strategien der Spieler, die gegenseitig die beste Lösung ergibt, verwirklicht
ein Nash-Gleichgewicht. Solche Gleichgewichte sind tendenziell stabil, da kein Spieler den Anreiz
hat, von dieser Lösung abzuweichen. Dies entspricht auch der Annahme, dass „Verträge automa-
98 Richard Ortiz Ortiz
vgl. dazu Thibaut 1996: 36f.). Ein Modell institutioneller Stabilität sollte daher
zwei Voraussetzungen erfüllen: (1) Das Modell sollte erlauben, dass Instituti-
onen von den Akteuren reformiert werden können und (2) auch zeigen, wa-
rum den Akteuren gegebenenfalls Anreize dazu fehlen.
Der rational choice-Ansatz bietet eine klare modellhafte Analyse der Bezie-
hungen zwischen Akteuren und Institutionen, denn Institutionen besitzen die
Fähigkeit, die Strategien der Individuen zu formen und die vorhandenen
Anreize zu verändern. Aber er problematisiert nicht die Faktoren, die zur
Verzerrungen der Einzelentscheidungen führen. So ist es mit diesem Ansatz
schwierig, das hohe Maß an Standardisierung der Ziele und Präferenzen der
Akteure zu erklären. Auch die Bereitschaft als Agenten für andere Individuen
solidarisch aufzutreten und dadurch kollektive Handlungsfähigkeit zu generie-
ren, ist nicht ohne Schwierigkeiten zu erfassen. Die historische Dimension
wird von diesem Ansatz auch systematisch vernachlässigt, denn er ist bereit,
Spezifitäten für Generalisierungen, und Einzelheiten für Logik zu opfern
(Thelen 1999: 372; Peters 1999: 60f.).
tisch erfüllt [werden], wenn es für die Vertragspartner lohnend ist, ihren Verpflichtungen nachzu-
kommen“ (North 1992: 66).
Institutionelle Ansätze und die Präsidentialismusdebatte in Lateinamerika 99
10 Path dependency deutet auf eigenständiges Verständnis sozialer Kausalität hin: „it rejects the traditi-
onal postulate that the same operative forces will generate the same results everywhere in favor of
the view that the effect of such forces will be mediated by the contextual features of a given situa-
tion often inherited from the past” (Hall/Taylor 1996: 941).
100 Richard Ortiz Ortiz
11 Die Heidelberger Schule baut ihre epistemologischen, methodologischen und theoretischen Grund-
lagen u.a. auf Popper (1981) (Falsifizierbarkeit von wissenschaftlichen Annahmen und empirische
Offenheit); Weber (1972, 1992; vgl. dazu Kalberg 2001) (historischer Vergleich, angemessene
Entfernung von Begriffen zur Realität und komplexe Multikausalität); Sartori (1984) (sorgfältige
Konstruktion von Begriffen, Definitionen und Klassifikationen), und auf Dahl (1971, 1996)
(Demokratietheorie und Sensibilität für kontextuelle Unterschiede) auf (s. Fußnote 2). Es soll
auch an dieser Stelle, an den wichtigen Beitrag zur Systematisierung und Weiterentwicklung des
historisch-empirischen Ansatzes erinnert werden, den Martín Lauga (1999: 123-126, 245-248) und
Florian Grotz (2000: 76-84) geleistet haben.
Institutionelle Ansätze und die Präsidentialismusdebatte in Lateinamerika 101
14 Die aus forschungspraktischen Überlegungen getroffene Fixierung auf eine bestimmte Richtung
der Relation zwischen Variablen ist nicht als statisch zu betrachten, denn es kann sein, dass im
Laufe der Untersuchung die ergänzende Gegenwirkung der abhängigen Variable berücksichtigt
werden muss. Dementsprechend ist „die Sowohl-als-auch-Annahme sicherlich wissenschaftlich
angemessener und fruchtbarer“ (Nohlen 2000: 55), als der eindimensionale Kausalzusammenhang
der Entweder-oder-Denkweise.
Institutionelle Ansätze und die Präsidentialismusdebatte in Lateinamerika 103
Auf der operativen Ebene geht der Heidelberger Ansatz sowohl von der
Begrenztheit der potenziellen Alternativen zur institutionellen Reform aus als
auch von der Knappheit des Spielraums für ihre Durchsetzbarkeit und lässt
sich demnach vom Gedanken der inkrementalistisch funktionalen Anpassung
vorhandener Institutionen leiten (Nohlen 2003: 21). Der historisch-
empirische Ansatz ist somit vorsichtiger im political consulting. Für diese Hal-
tung spricht die Tatsache, dass
„our knowledge about the different effects of deliberative insti-
tutional change is simply too limited and the risk for mistakes
leading to unexpected, contradictory and even perverse results
too great” (Rothstein 1996: 155).
Das Ergebnis dieser theoretischen, methodologischen und forschungsprakti-
schen Überlegungen ist ein integrativer Ansatz mit einer institutionellen Perspektive,
der komplex genug ist, um die Funktionsweise der Institutionen in konkreten
Kontexten zu untersuchen.15
15 In seinem Buch Wahlrecht und Parteiensystem verwendet Nohlen (2000, jüngste Auflage 2004) diese
Betrachtungsweise in der Analyse der Beziehungen zwischen Wahlsystem und Parteiensystem, bei
der andere politische und gesellschaftliche Faktoren berücksichtigt werden: „Wahlsysteme wirken
in einem komplexen Zusammenhang verschiedener Faktoren, der nach Ländern und Zeiten un-
terschiedlich sein kann. Diese weiteren Faktoren können Wirkungsrichtungen und -intensität von
Wahlsystemen entscheidend bestimmen. Wahlsysteme sind nicht nur unabhängige, sondern ab-
hängige Variablen“ (2000: 59).
104 Richard Ortiz Ortiz
16 Die Problematik der so genannten „informalen Institutionen“ (vgl. dazu North 1992: 43ff.;
Merkel/Croissant 2000) wird von den Heidelberger Forschern eher der Kulturforschung zuge-
rechnet. Denn es erscheint sinnvoller und ergiebiger, den Institutionenbegriff nur auf die zentra-
len Strukturen des politischen Systems zu konzentrieren, um seine analytische Schärfe und
Brauchbarkeit zu erhalten. So kann man gezielter fragen, wie bestimmte Elemente der politischen
Kultur die Funktionsweise von Institutionen beeinflussen (vgl. Thibaut 1996: 23).
Institutionelle Ansätze und die Präsidentialismusdebatte in Lateinamerika 105
17 Bezüglich der Grenzen der Gestaltung von intelligenten Institutionen stellt Rothstein seinerseits fest:
„[the] history is also abundant with example of mistakes, where agents miscalculate what type of
institutions they should establish to further their interest” (Rothstein 1996: 154).
18 Nohlen vertritt ergo ein „entendimiento más evolucionista de la génesis y del desarrollo institucio-
nal, influenciados ambos procesos por un sinnúmero de factores [...] que imponen resistencias y
limitaciones a la implementación de diseños científicos por más excelentes y recomendables [teó-
ricamente] que éstos sean” (Nohlen 2003: 24). Er fügt hinzu: „La propuesta de reforma tiene que
respetar tradiciones políticas, culturas políticas y estructuras políticas, características propias de
cada caso nacional” (ebd.: 57).
106 Richard Ortiz Ortiz
ten und Unterschieden der untersuchten Fälle als die vereinfachte Darstellung
der Realität zur Entwicklung eleganter Theorien.
Anhand einer konkreten Fragestellung über Auswirkungen präsidentiel-
ler Regierungssysteme auf die Demokratieentwicklung, die vor allem in La-
teinamerika heftig diskutiert wurde, werden die aus unterschiedlichen institu-
tionellen Annahmen ergebenden Positionen anschließend konfrontiert. Die
praktischen Folgen, die diese Positionen bezüglich der Vorgehensweise, der
Annäherung an den Gegenstand, der Berücksichtigung anderer Faktoren, der
Konzeption sozialer Kausalität und der politischen Beratung entfalten kön-
nen, werden dabei deutlich gemacht.
4 Präsidentialismusdebatte:
deduktiv-normativer Institutionalismus versus
kontextbezogener Institutionalismus
Die Analyse der institutionellen Struktur der Regierungssysteme19 und deren
Beziehung zu den Konsolidierungsproblemen der jungen Demokratien wur-
den durch die Arbeiten von Juan Linz angeregt (Linz 1990, 1994;
Linz/Valenzuela 1994). In der politikwissenschaftlichen Behandlung der
„Präsidentialismusfrage“ entwickelten sich allerdings bald zwei entgegengesetzte
Grundansätze: der von Linz vertretene normativ-deduktive Ansatz und der von
der Heidelberger Schule und Dieter Nohlen (1991, 1991a, 1992) kritisch formu-
lierte empirisch-historische Ansatz.20 Die von Nohlen (1998: 24f.) beschrie-
benen „Antagonismen“ in zentralen Aspekten dieser Positionen lassen sich
jeweils folgendermaßen zusammenfassen:
(a) Erkenntnisinteresse: Normative Ablehnung des Präsidentialismus, ande-
rerseits historische Bewertung der Erfolge, Ressourcen, Beschränkungen und
Schwächen des Präsidentialismus unter der bewussten Berücksichtigung der
Zeit- und Raumdimension der jeweiligen Länder.
(b) Methode: deduktive und spekulative Analyse der institutionellen Struk-
tur präsidentieller Systeme und ihrer „theoretischen Gefahren“ (Linz 1990),
andererseits bewusste Anwendung der induktiv geleiteten, systematisch-
vergleichenden Methode (Nohlen 1994, 1998; Thibaut 1996).
21 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Thesen von Linz siehe Nohlen (1991, 1991a,
1992, 1998), Nohlen/Fernández (1991, 1998) und Thibaut (1996).
108 Richard Ortiz Ortiz
dingungen an, innerhalb derer die politischen Akteure in Regierung und Par-
lament höchstwahrscheinlich kooperationsfeindliche Handlungsstrategien
verfolgen würden. Daraus resultierende Tendenzen zu „Blockaden” des poli-
tischen Entscheidungsprozesses könnten zu militärischen Interventionen
anregen und die Demokratie begraben (Linz 1990, 1994; vgl. dazu Thibaut
1996: 55-61; Lauga 1999: 244f.; Schultz 2000: 61-124).
Im Jahre 1994 gab Juan Linz mit Arturo Valenzuela den Sammelband
The Failure of Presidential Democracy heraus, aber mehrere, im Buch enthaltene
Beiträge unterstützen nicht die normativ-deduktiv gewonnene Kritik am Prä-
sidentialismus. So erkennt Jonathan Hartlyn (s. Linz/Valenzuela 1994, vol. 2:
220-253) in seiner Analyse des Zusammenhangs zwischen Regierungssystem
und Regierbarkeit in Kolumbien, die Schwierigkeit „[…] to point to presiden-
tialism as the insurmountable obstacle” (ebd.: 243). Catherine M. Conaghan (s.
ebd.: 254-285) deutet in ihrem Beitrag über Ecuador an, dass im Falle einer
Reform die Handhabung des Parlamentarismus den politischen Akteuren
erhebliche Schwierigkeiten bereiten und bestehende Probleme verschärfen
könnte (ebd.: 277f.). Schließlich weist Cynthia McClintock (s. ebd.: 286-321)
in ihrem Beitrag über Peru u.a. darauf hin, dass der Parlamentarismus „[…]
spoils-oriented activities among elites” fördern würde (ebd.: 315).
Angesichts der Tatsache, dass präsidentielle Regierungssysteme v.a. in
Lateinamerika nicht im Sinne der Präsidentialismuskritik ersetzt wurden und
dass die Funktionsweise des Präsidentialismus Anpassungsfähigkeiten auf-
weist (vgl. die Beiträge bei Mainwaring/Shugart 1997; Nohlen/Fernández
1998; Lanzaro 2001), hat sich Linz über das Thema nicht mehr geäußert, nur
in einem Aufsatz von 1997 versucht er seine ursprüngliche Position leicht zu
relativieren.
22 Die Logik und die Philosophie der Sprache differenzieren unterschiedliche Ebenen der Sprache
(Alltagssprache, technische Sprachen, Metasprache, Meta-Metasprache, usw.) und jede hat ihre
Eigenschaften, Funktionen und ihre eigene Logik. Der Übergang von einer Ebene zur anderen
muss jedoch bestimmten Regeln folgen, denn die unreflektierte Mischung der Ebenen führt zu
Widersinnigkeiten! Nohlen entdeckt gerade diese Inkonsistenz in der Argumentationsweise von
Linz: „La fuerza sugestiva del pensamiento de Juan Linz radica en el supuesto de que sería posible
pasar sin más del análisis sistemático propio del gobierno comparado al análisis causal del desa-
rrollo político. Se trata pues de la mezcla de dos lógicas distintas, algo que difícilmente puede ser
percibido por quienes descuidan cuestiones metodológicas o solo recientemente se incorporan al
debate” (Nohlen 2003: 46).
23 So klingt beispielsweise der Vergleich zwischen Margaret Thatcher und Alán García (Linz 1994:
15, 28f.) oder zwischen Raúl Alfonsín und Alán García einerseits, und Adolfo Suárez, Konrad
Adenauer und Charles de Gaulle andererseits (ebd.: 29f.), sehr befremdend.
110 Richard Ortiz Ortiz
24 Die Tendenz zu allgemeinen Reformempfehlungen findet man auch u.a. bei Sartori (1997) mit
seinem Semipräsidentialismus und bei Jones (1995). Jones kam zu dem Ergebnis dass eine institu-
tionelle „Optimierung” des Präsidentialismus generell durch die Einführung folgender institutio-
neller Komponenten erreicht werden könne: „[…] (1) the plurality electoral formula to select the
president, (2) presidential and legislative elections held concurrently, (3) proportional representa-
tion with (4) multi-member districts with a moderate effective magnitude to elect legislators, and
(5) a unicameral legislature” (Jones 1995: 161). Schultz (2000: 120ff.) macht sich auch auf die Su-
che nach einem „idealen Präsidentialismus“.
25 Bezüglich der Mittelberechnung (cálculo de los medios) auf der operativen Ebene stellt Sartori klar:
„[...] la ciencia política es un saber operativo en cuanto asegura que los medios son adecuados y
que se adaptan a los fines propuestos. [...] No basta decir: quiero este fin. Habrá que determinar
también si el fin puede obtenerse; y por lo tanto, la elección de los fines queda condicionada por
la disponibilidad de los medios” (Sartori 1984: 136). Er teilt die cálculo de los medios in vier Phasen:
„1) asegurarse que los medios son suficientes; 2) asegurarse que los medios son idóneos; 3) determi-
nar el efecto sobre otros fines; 4) determinar si los medios sobrepasan la finalidad” (ebd.: 136f.).
Institutionelle Ansätze und die Präsidentialismusdebatte in Lateinamerika 111
men und wie sich diese Funktionsmuster auf die politische Entwicklung aus-
wirken.
(e) Ausdifferenzierung von institutionellen Arrangements innerhalb der jeweiligen
Grundformen von Regierungssystemen: Die Heidelberger Schule insistiert darauf, die
auffällige Vielfalt institutioneller Gestaltung innerhalb des Präsidentialismus
zu berücksichtigen, denn spezifische institutionelle Komponenten und ihre
Kombination innerhalb bestimmter historischer und politischer Konstellatio-
nen können von entscheidender Bedeutung sein.
(f) Relativierung des institutionellen Faktors in fluiden Kontexten: Dem histo-
risch-empirischen Ansatz zufolge können weder Demokratisierung noch
demokratische Stabilität, Regierbarkeit und Konsolidierung ausschließlich
oder auch nur hinreichend durch die Analyse der politischen Institutionen
erklärt werden. Der kontextbezogene Institutionalismus betont, dass
„Institutionen immer eine relative Bedeutung haben, insofern
Funktion, Auswirkungen und Angemessenheit institutioneller
Arrangements stets nur kontextuell, d.h. im Zusammenhang mit
den entsprechenden historischen Bedingungen, politischen
Traditionen, soziostrukturellen und -kulturellen Faktoren be-
stimmt werden können; und [...] dass die Bedeutung von Insti-
tutionen kontingent ist, denn die konkrete Konfiguration der
gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedin-
gungen politischer Institutionen kann sich immer ändern“
(Lauga 1999: 124f.).
Dies gilt insbesondere für nicht konsolidierte Demokratien. Denn in diesen
Gesellschaften können Institutionen ihre volle Strukturierungskraft nicht
entfalten. Ebenso erschwert die nicht leicht zu erfassende Dynamik die Stabi-
lisierung von Handlungsregelmäßigkeiten. Unter diesen Umständen gewinnen
nicht-institutionelle Faktoren an Erklärungskraft.
(g) Reformvorschläge nach Maß: Hinsichtlich des Reformspielraums geht der
kontextbezogene Institutionalismus
„von der Komplexität und Begrenztheit der Reformmöglichkei-
ten aus und lässt sich vom Gedanken der inkrementalistischen
funktionalen Anpassung historisch oder international vorhan-
dener Institutionen leiten“ (Lauga 1999: 126).26
26 Auch Beyme hütet sich vor radikalen und pauschalen Reformvorschlägen. Seine Studie über Das
präsidentielle Regierungssystem der Vereinigten Staaten in der Lehre der Herrschaftsformen endet mit dem Ur-
teil: „Die ideologischen und praktischen Anpassungsschwierigkeiten auf die das präsidentielle Sys-
tem in Europa stößt, lässt seine Einführung in den meisten europäischen Staaten – trotz mancher
Vorteile, die der Präsidentialismus bietet – nicht ratsam erscheinen“ (1967: 78).
Institutionelle Ansätze und die Präsidentialismusdebatte in Lateinamerika 113
27 Als Beleg reicht es, die Arbeiten von Nohlen (1991, 1991a, 1992) und Nohlen/Fernández (1991)
mit dem Aufsatz von Mainwaring/Shugart (1997) zu vergleichen.
114 Richard Ortiz Ortiz
Die Frage, welche Regierungsform auf der Ebene der abstrakten Kon-
frontation von strukturellen Vor- und Nachteilen „ideal“ wäre, kann am
Schreibtisch und mit der deduktiven Logik sicherlich beantwortet werden.
Die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Präsidentialismus und poli-
tischer Entwicklung gibt, ist jedoch eine empirische Frage und kann nur mit
der Anwendung der Methoden der empirischen Sozialforschung beantwortet
werden, unter Berücksichtigung der anderen Faktoren, die für die Stabilität
demokratischer Systeme von Bedeutung sind. Die Frage, welches System das
beste für ein bestimmtes Land ist, kann nur nach genauer Untersuchung und
Evaluierung der historischen Vorbedingungen, der bestehenden sozioöko-
nomischen Strukturen, der prägenden Machtkonstellationen und der spezifi-
schen Präferenzen und Verhaltensmuster der politischen Akteure beantwortet
werden.
Der Heidelberger Ansatz hat sich in der politologischen Diskussion und
Forschung von Regierungssystemen in nicht-konsolidierten Demokratien
bewährt und mit seinem Plädoyer für die Untersuchung der institutionellen
Auswirkungen in konkreten historischen Situationen und für eine parlamenta-
rismusartige Reform des Präsidentialismus durchgesetzt.28 Denn es ist klar
geworden, dass
„über die Vorzüge und Nachteile von Regierungssystemen und
Verfassungsreformen nicht abstrakt diskutiert werden kann,
sondern die konkreten historischen Rahmenbedingungen in Po-
litik und Gesellschaft in die Analyse einbezogen werden müs-
sen“ (Nolte 2000: 2).
Literaturverzeichnis
Basedau, Matthias (2003): Erfolgsbedingungen von Demokratie im subsaharischen
Afrika. Opladen: Leske + Budrich.
Bendel, Petra (1996): Parteiensysteme in Zentralamerika. Opladen: Leske + Budrich.
Beyme, Klaus von (1967): Das präsidentielle Regierungssystem der Vereinigten Staa-
ten in der Lehre der Herrschaftsformen. Karlsruhe: Müller.
--- (31999) [1970]: Die parlamentarische Demokratie. Opladen/Wiesbaden: Westdeut-
scher Verlag.
--- (82000): Die politischen Theorien der Gegenwart. Wiesbaden: Westdeutscher
Verlag.
--- (2000a): Parteien im Wandel. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
--- (2000b): „Innovativ – aus Tradition. Das Heidelberger Institut für Politische Wis-
senschaft – Aktuelle Tendenzen“, in: Vogt, Herbert (Hg.): Wissenschaft 2000.
Zukunftsperspektiven Heidelberger Forscher vor dem dritten Millennium.
Heidelberg: Winter, S. 45-49.
Burbano de Lara, Felipe/Rowland, Michel (1999): „Pugna de poderes“, in: Pachano,
Fernando (Hg.): La ruta de la gobernabilidad. Quito: CORDES/CIPIE.
Carpizo, Jorge (1999): „México: ¿sistema presidencial o parlamentario?”, in: Cuestio-
nes Constitucionales, 1/1999, S. 49-84.
Consejo para la consolidación de la democracia (1988): Presidencialismo vs. Parla-
mentarismo. Buenos Aires: EUDEBA.
Comisión Andina de Juristas (1993): Formas de Gobierno: relaciones Ejecutivo-
Parlamento. Lima.
--- (1993a): Reformas del presidencialismo en América Latina: Presidencialismo vs.
Parlamentarismo. Caracas.
116 Richard Ortiz Ortiz