11.04.2022
- Aktualisiert: 16.04.2022, 11:15 Uhr
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Domestiziertes Geflügel
© ZB
Wildgans im Anflug
Schweinefleisch ist noch immer am beliebtesten, dicht gefolgt von Geflügel. Gut dreizehn
Kilogramm pro Person werden davon in Deutschland jährlich verspeist. Das meiste ist
Hühnerfleisch. Nach der Erhebung des Bundesministeriums für Ernährung und
Landwirtschaft zum 1. März 2020 werden hierzulande mehr als 159 Millionen Hühner und
11,6 Millionen Puten als Nutztiere gehalten. Alle anderen Geflügelarten, darunter Gänse,
rangierten unter „ferner liefen“.
Bislang galt das Haushuhn auch als derjenige Vogel, der als erster domestiziert wurde. Das
Bankivahuhn, von dem sämtliche Hühnerrassen abstammen, ist ursprünglich in Süd- und
Südostasien beheimatet. Dort bevölkert es nicht nur Wälder, auch extensive Landwirtschaft
in Form von Wanderfeldbau bietet ihm günstige Lebensbedingungen. Dass sich dieser
Hühnervogel einst in der Nähe von Menschen herumzutreiben begann, könnte seine
Domestikation erleichtert haben. Archäologische Funde bezeugen, dass gezähmte Hühner
schon vor viertausend Jahren den Speiseplan des Menschen bereicherten.
Eine Gruppe japanischer und chinesischer Archäologen hat entdeckt, dass Gänse offenbar
aber schon Jahrtausende früher als Hühner domestiziert wurden. Den entscheidenden
Hinweis auf frühe Pioniere der Gänsezucht lieferten Gänseknochen aus der
jungsteinzeitlichen Fundstätte Tianluoshan im unteren Yangtze-Tal in China. Mit der
Radiokarbon-Methode datierten die Wissenschaftler um Masaki Edaa von der Universität
Hokkaido die Knochen auf ein Alter zwischen 7200 und 6700 Jahren. Damals existierte in
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2022/4/16 下午10:41 Wann wurde die Wildgans zur Hausgans?
Tianluoshan eine Siedlung der Hemudu-Kultur, deren Bauern auf gefluteten Feldern Reis
anbauten und womöglich auch Schweine hielten. Wie der Inhalt ihrer Abfallgruben verrät,
fischten und jagten sie außerdem eifrig.
© dpa
Eine Graugans mit ihren Küken auf einer Wiese im Englischen
Garten.
Dennoch kamen aus den jungsteinzeitlichen Abfallgruben auch einige Knochen von
jugendlichen Gänsen zum Vorschein. Einer stammt von einem Vogel, der höchstens acht
Wochen alt war. Also definitiv noch zu jung, um die Flugreise vom Brutgebiet ins
Winterquartier absolvieren zu können. Gehörte dieses junge Gänschen womöglich zu einer
Population, die in der Obhut der Reisbauern gelebt hat? Dann müssten sich auch Knochen
von erwachsenen Gänsen finden, die ihr gesamtes Leben vor Ort verbracht haben. Und
tatsächlich haben Masaki Edaa und seine Kollegen solche Gänseknochen aufspürt.
Als aufschlussreich erwies sich die Methode, den Gehalt von Sauerstoff der Massenzahl 18
(18O) im Kalziumphosphat der Knochen von Gänsen und weniger mobilen Säugetieren zu
vergleichen. Denn je nach klimatischen Rahmenbedingungen variiert der Anteil dieses
seltenen nicht radioaktiven Sauerstoffisotops in der Natur. Im unteren Yangtze-Tal zum
Beispiel enthält das Regenwasser – also das Wasser, das auch Gänse trinken – mehr 18O als
in den viel weiter nördlich gelegenen Brutgebieten. Deshalb bauen die Vögel hier
entsprechend mehr davon in ihren Körper ein. Dabei entpuppten sich vier von 25
untersuchten Gänseknochen aus Tianluoshan als Überreste von sesshaften Individuen.
Offenbar hatten diese Gänse die Gegend, die üblicherweise nur als Winterquartier dient, nie
verlassen, schreiben die Archäologen um Edaa in den „Proceedings“ der nationalen
Amerikanischen Akademie der Wissenschaften.
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Das Kollagen der Knochen gibt Auskunft über Ernährungsgewohnheiten. Je nachdem, was
sich ein Tier als Nahrung einverleibt hat, enthält dieses Eiweiß mehr oder weniger vom
Stickstoff-Isotop der Massenzahl 15 (15N). In allen vier Knochen, die domestizierten Gänsen
zugeschrieben wurden, fand sich relativ viel davon. Das spricht dafür, dass die Vögel mit Reis
gefüttert wurden. Denn die Bakterien, die im Boden gefluteter Reisfelder Nitrat abbauen,
reichern dabei 15N an.
© ddp
Die Pommerngans gehört hierzulande zu den beliebtesten
Hausgänsen Ausgewachsen bringt sie es auf ein Gewicht von bis zu
acht Kilogramm.
Zu welcher Art von Gänsen die mutmaßlich domestizierten gehören, bleibt ungeklärt. Da die
Knochen relativ groß sind, muss es jedoch eine der größeren Spezies gewesen sein. Etwa die
Graugans, deren Brutgebiet von Europa bis in den Nordosten von China reicht, oder die
Schwanengans, die in der Mongolei, im nordöstlichen China und im angrenzenden Sibirien
brütet. Dass die von den Forschern anhand der Knochen berechnete Körpergröße bei den
vermutlich domestizierten Gänsen auffallend wenig variierte, lässt auf eine recht kleine
Population schließen, die seit Generationen isoliert gelebt hat. Auch das deutet auf ein frühes
Stadium der Domestikation hin.
Wie archäobotanische Studien zeigen, gingen den steinzeitlichen Reisbauern vor und
während der Ernte viele Reiskörner verloren. Deshalb dürften abgeerntete Felder den
hungrigen Wildgänsen einen reich gedeckten Tisch geboten haben. Dass sich die Gänse
bevorzugt in Siedlungsnähe tummelten, mag ein erster Anreiz zur Domestikation gewesen
sein. Um die Vögel über den Winter hinaus vor Ort zu halten, mussten sie von den Pionieren
der Gänsezucht jedoch am Davonfliegen gehindert werden, etwa durch Einsperren.
Die Siedler von Tianluoshan machten auch Jagd auf wild lebende Vögel. Wie Masaki Edaa
und seine Kollegen schreiben, lieferten Gänse den jungsteinzeitlichen Reisbauern nicht nur
Fleisch und Fett. Bestimmte Knochen wurden auch gern genutzt, um daraus Nadeln, Ahlen
und andere Gerätschaften herzustellen. Vielleicht diente die Gänsezucht dazu, den Mangel an
Wildvögeln außerhalb der Wintermonate zumindest teilweise zu kompensieren. Denkbar
wäre, dass domestizierte Gänse für religiöse Zeremonien etwa als Opfertiere bereitgehalten
wurden.
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Gut möglich, dass der Erfahrungsschatz der frühen Gänsezüchter später wieder verloren
gegangen ist, weil sich die kulturellen Praktiken veränderten. Sicher scheint jedenfalls, dass
Gänse zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten gehalten wurden. So stammen die in
Europa verbreiteten Hausgänse von der Graugans (Anser anser) ab. Den frühesten Nachweis
domestizierter Graugänse liefern ägyptische Grabgemälde aus der 18. Dynastie (Mitte des
zweiten Jahrtausends vor Christus), die junge und erwachsene Gänse mit ganz
unterschiedlich gefärbtem Gefieder zeigen. Höckergänse wurden dagegen in China aus der
Schwanengans (Anser cygnoides) gezüchtet. Seit dem neunzehnten Jahrhundert sind sie
bisweilen auch bei europäischen Geflügelhaltern anzutreffen, wo sie gelegentlich Nachwuchs
mit Hausgänsen zeugen.
Der weltweit größte Produzent von Gänsefleisch ist derzeit China. In Deutschland hat das
Bundeslandwirtschaftsministerium in den vergangenen Jahren jeweils nur gut 300.000
Gänse gezählt. Dieser Bestand liefert allerdings kein vollständiges Bild der hiesigen
Konsumgewohnheiten: Rund achtzig Prozent der hierzulande verkauften Gänse werden
importiert, vor allem als Saisonware in Form von Martins- und Weihnachtsgänsen. Von
manchen Rassen sind zwar auch die Eier gefragt. Mit bis zu 60 Stück pro Saison sind Gänse
aber weit weniger produktiv als spezielle Züchtungen des Haushuhns, die in einem Jahr bis
zu 300 Eier legen können.
Quelle: F.A.Z
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