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Der älteste Tintling der Welt: Warum hatte


Ötzi so viele Tätowierungen?
Unser legendärer Vorfahre hatte 61 Tattoos auf seinem Körper. Die
Hinweise verdichten sich, dass die Tattoos kein Körperschmuck
waren sondern den Gletschermann gesünder machten.

Von Martin Angler

29 Januar 2016, 10:49am

DIE LEICHE VON ÖTZI. AUF DER WEBSITE ICEMANPHOTOSCAN.EU LASSEN SICH AUCH EINZELNE TATTOOS ANKLICKEN UND IN
HOCHAUFLÖSENDEN BILDERN AUS DER NÄHE BETRACHTEN. BILD: SOUTH TYROL MUSEUM OF ARCHAEOLOGY/EURAC/MARCO
SAMADELLI/GREGOR STASCHITZ. VERWENDET MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG.

Die verdrehte Leiche liegt mit dem Gesicht nach unten im Dreck. Von hinten
erschossen und dann verblutet. Der Körper des etwas 45-jährigen Mannes
ist mit 61 Tattoos übersät. Ein Gang-Mitglied? Nein. Der Tote liegt schon
eine ganze Weile da, als er gefunden wird—etwa 5.300 Jahre. Es ist der
älteste Tätowierte der Welt, Ötzi.

Das war nicht immer so: Bis vor kurzem glaubten Mumien-Forscher noch,
das älteste Tattoo gehöre einer Trocken-Mumie der Chinchorro-Kultur,
einem Fischervolk aus Chile. Der Chinchorro-Mann trug eine gepunktete
Linie als Schnurrbart—gestochen mit Kohlepulver. Zwei Jahrzehnte lang
glaubte die Fachwelt, er wäre 500 Jahre älter als Ötzi. Tatsächlich ist den
Wissenschaftlern beim Aufschreiben das Datums ein Tippfehler
unterlaufen, den lange Zeit niemand bemerkte. In Wahrheit ist Ötzi 1.500
Jahre älter als „Mr. Mustache" und damit ab Februar 2016 wieder Guinness-
Rekordhalter.

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Dann erscheint im Fachblatt Journal of Archaeological Science: Reports
eine Studie, die den Fehler belegt. Darin stellen die Autoren die Frage:
Wieso trug Ötzi überhaupt so viele Tattoos? Die Frage gibt der Wissenschaft
noch immer Rätsel auf. Einer der Experten, der sich ausführlich mit dem
Thema beschäftigt, ist der Archäologe und Tattoo-Forscher Lars Krutak. Er
ist nicht nur selbst tätowiert sondern beschäftigt sich auch seit 20 Jahren
mit Naturvölkern und deren Tattoos. Seine These: Ötzi habe mit seinen
Tattoos gezielt Krankheiten behandelt. Krutak hat auf Reisen zu
Naturvölkern überall auf der Welt ebenfalls Hinweise gefunden, die seine
Vermutung stützen.

Ötzis Körperbilder wurden übrigens nicht gestochen, sondern mit scharfen


Steinklingen in die Haut geritzt. Anschließend rieb der Tätowierer
dunkelblaues Kohlepulver in die Wunden, welches wahrscheinlich aus
Feuerstellen stammte. Darauf deuten auch winzige, mineralische Farb-
Sprenkel hin, die sich im Ruß be nden.

So entstanden 61 Tattoos, die der Tätowierer im Laufe der Zeit immer


wieder nachstach. Fast alle Ötzi-Tattoos sind parallele Linien, bis auf zwei
Kreuzchen an Knie und Knöchel und zwei gestochene Armbändchen am
Handgelenk. Der Gletschermann könnte alle selbst gestochen haben—mit
Ausnahme von zwei Tattoos am Rücken, die sich etwas höher als heutige
Arschgeweihe be nden.

EINIGE DER TATTOOS AUF ÖZIS RÜCKEN IM UV-LICHT. BILD: SOUTH TYROL MUSEUM OF ARCHAEOLOGY/EURAC/MARCO
SAMADELLI/GREGOR STASCHITZ (VERWENDET MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG)

Ötzis Körperzeichnungen waren jedoch vermutlich kein Körperschmuck,


sondern dienten wohl eher als medizinische Tattoos zur Schmerzlinderung:
„80 Prozent der Ötzi-Tattoos liegen an Körperstellen, die die traditionelle
chinesische Akupunktur zum Behandeln von Rheuma nutzt", führt Krutak in
einer E-Mail an Motherboard aus.
Mit Ötzi könnte der Ursprung der Akupunktur
plötzlich nicht mehr in China, sondern in Europa
liegen.

Das ergibt durchaus Sinn, denn Ötzi litt unter Gelenkverschleiß, Arthrose,
Peitschenwürmern im Darm und an Gallensteinen—seine Tattoos liegen
über den richtigen Akupunktur-Leiterbahnen, um diese Schmerzen zu
lindern. Das bestätigten Akupunkteure, die die Ötzi-Forscher zuvor
konsultiert hatten, schon 1998.

Die Akupunktur-Theorie zu beweisen wird schwierig, wäre aber eine


Sensation: „Der Ursprung der Akupunktur würde damit um 2.000 Jahre
vorverlegt und läge nicht mehr in China, sondern in Europa. Das würde die
Geschichte umschreiben", sagt Mumienforscher Albert Zink vom EURAC-
Institut für Mumien und den Iceman. Er und sein Team hatten die Tattoos
entdeckt und beschrieben—das 61. und letzte erst Anfang 2015, mit Hilfe
einer UV-fähigen Kamera.

Indes bleibt Ötzi eine Quell wichtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse: Erst


vor kurzem haben die EURAC-Forscher herausgefunden, dass Ötzi das
Bakterium Helicobacter pylori im Magen hatte, das Geschwüre und sogar
Krebs verursachen kann. Bald kommt eine neue Studie zum Mageninhalt des
Eismannes heraus, in der steht, „was Ötzi aß, wie viel Fett und Eiweiß drin
war und welche anderen Bakterien", verrät Albert Zink schon mal vorab,
welche speziellen Aspekte aus dem Leben des Urzeitmenschen aktuell von
ihm erforscht werden.

Ob er in Zukunft noch weiter an den Ötzi-Tattoos forscht? Nach der


Entdeckung überlässt Zink das erst einmal anderen Forschergruppen. Aber
eins interessiert ihn noch brennend: „Wir wollen die Ausprägung von Ötzis
Krankheiten noch einmal untersuchen und in Relation zu den
Tätowierungen setzen—und damit Fragen beantworten wie: Steigt mit der
Stärke der Beschwerden die Anzahl therapeutischer Tattoos?"
Therapeutischen Akupunktur-Tattoos ist Krutak auf seinen Reisen schon
häu ger begegnet. Zum Beispiel auf der Sankt-Lorenz-Insel bei Alaska, wo
ein Eskimo-Volk, die Yupik, sich Tattoos an denselben Stellen wie Ötzi
stechen. Auch sie setzen die Tätowierung bewusst gegen Rheuma-
Schmerzen ein. Die Yupik mischen die Holzkohle mit Urin und Robbenöl.
Das Gemisch halten sie für entzündungshemmend. Japanische
Ureinwohner, die Ainu, stachen sich immer schon Strich-Tattoos mit
Holzkohlepulver auf Rücken und Schultern, ebenfalls gegen Rheuma und
Verstauchungen. Die Heil-Tattoos der Ainu sehen jenen von Ötzi übrigens
zum Verwechseln ähnlich.

MEDIZINISCHE TATTOOS, DIE IM KAYAN-STAMM DABEI HELFEN SOLLEN, VERRENKUNGEN UND VERSTAUCHUNGEN ZU HEILEN.
BILD: LARS KRUTAK/WWW.LARSKRUTAK.COM

EINE SKIZZE VOR DEM STECHEN SOGENANNTER „ACUPOINT-TATTOOS" AUF DEM KÖRPER DES DEUTSCHEN TATTOO-ARTIST KAI
UWE FAUST. BILD: COLIN DALE/WWW.SKINANDBONE.DK
DIE „ACUPOINT-TATTOOS" AUF DEM KÖRPER DES DEUTSCHEN TATTOO-ARTIST KAI UWE FAUST. BILD: KAI UWE
FAUST/WWW.TATTOO.DK
DAVID SCHÜTZE ZEIGT SEIN HANDGELENKTATTOO, DASS DEN TATTOOS VON NATURVÖLKERN NACHEMPFUNDEN IST. BILD:
COLIN DALE/WWW.SKINANDBONE.DK.

Dass bei medizinischen Tattoos weltweit Holzkohlepulver zum Einsatz


kommt, ist kein Zufall: Holzkohle absorbiert Geruchs- aber auch Giftstoffe;
ihre Heilwirkung ist lange schon bekannt. Auch in Ötzis Magen und Darm
fanden sich Kohlereste—ein weiteres Zeichen dafür, dass der von Parasiten
geplagte Gletschermann P anzenkohle als Arznei verwendete.

Sogar moderne Chirurgen setzen Kohle-Tattoos ein: Nach dem Entfernen


von Schilddrüsen-Tumoren wächst das Krebsgewebe in manchen Fällen
nach. Um die Patienten nicht am Hals zu verletzen, tätowieren Chirurgen
daher vorab das nachgewachsene Krebsgewebe mit einer Kohlelösung.
Danach erst schneiden sie die schwarz markierten Geschwülste per Skalpell
aus dem Hals. Die Ärztin Linda Chami hat die Prozedur bereits mit Erfolg an
über 100 Patienten im Pitié-Salpêtrière-Krankenhaus in Paris getestet.

Tattoo-Akkupunktur als Selbstversuch. Und der


Proband fühlt sich besser.

Etwas weniger wissenschaftlich ging es bei einem anderen Feldversuch zu:


Zum 20. Jahrestag des Ötzi-Fundes wollte der dänische Tätowierer Colin
Dale überprüfen, was an der Akupunktur-Theorie dran ist. Er konnte den
Schmied David Schütze, der über Rücken- und Gelenksschmerzen, Asthma
und übermäßiges Schnarchen klagte, als Probanden gewinnen. Ein
Physiotherapeut und Akupunkteur zeigte Dale die richtigen Akupunktur-
Meridiane. Dann stach dieser mit einer Knochennadel 55 Tattoos, allesamt
Linienpaare in bester Ötzi-Manier.

Drei Monate später haben sich Schützes Beschwerden subjektiv gebessert.


Das Rheuma sei fast verschwunden, das Asthma zwar wieder da, aber nur
noch schwach, erklärte er Irg Bernhardt, dem beratenden Akupunkteur. Der
meint, therapeutische Tätowierungen ersetzen zehn bis fünfzehn
Akupunktur-Sessions. Wissenschaftlich gesichert ist das alles aber freilich
nicht.

Genauso schwierig ist es, wissenschaftlich zu beweisen, dass Ötzis Tattoos


therapeutisch waren. Trotzdem glaubt keiner der Wissenschaftler, dass sie
nur als Körperschmuck dienten. Dafür sind sie viel zu versteckt platziert.
Ötzi-Forscher Zink sagt: „Eine kosmetische Anwendung kann man sicher
ausschließen. Falls Ötzis Tattoos rituell waren, erschließt sich mir ihre
Symbolik nicht, es sind ja keine Tier-Darstellungen. Es spricht schon sehr
viel dafür, dass Ötzis Tattoos zumindest der Versuch einer Therapie waren."
TATTOOS AN ÖTZIS BEIN. BILD: SOUTH TYROL MUSEUM OF ARCHAEOLOGY/EURAC/MARCO SAMADELLI/GREGOR STASCHITZ.
VERWENDET MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG.

Über die ältesten Tattoos, ihren Zweck und ihren Träger wird schon bald
erneut im großen Rahmen diskutiert: Zum 25. Fundjubiläum im September
ruft Zink bei einer Tagung in Bozen alle ehemaligen und aktuellen Ötzi-
Forscher zusammen, um über die Genetik, Mumien-Tattoos und die letzten
noch verbliebenen Geheimnisse des Gletschermannes zu reden.

Dazu gehört auch, dass noch lange nicht klar ist, wer den ältesten
Tätowierten gemeuchelt hat und warum. „Wir arbeiten jetzt mit Pro lern
aus München, die Experten für Tatort-Rekonstruktionen sind", sagt Albert
Zink. „Die schauen sich nur die harten Fakten an – Interpretationen und
Theorien wollen die nicht hören. Vielleicht erfahren wir dadurch ja mehr
über das Motiv. War es ein Mord aus Rache? Oder gar ein Raubmord?"

So oder so: Dass es Mord war, ist schon mal klar: Denn Ötzi war trotz
zahlreicher Krankheiten und Beschwerden in körperlicher Topform. Gut
möglich, dass auch seine medizinischen Tattoos seine Gesundheit gestählt
haben.

Martin Angler arbeitet aktuell als fester Informatiker an der EURAC.

TAGGED: TECH, MOTHERBOARD, TATTOO, MEDIZIN, AKUPUNKTUR, MOTHERBOARD SHOW, GLETSCHER, ENTDECKUNGEN,
BOZEN, ARCHÄOLOGIE, VORFAHREN, ÖTZI, URAHN

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