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„Der freie Wille ist eine Ideologie“
Interview Der Soziologe Stephan Moebius erklärt, warum sich eine ungerechte Welt
für viele „in Ordnung“ anfühlt
Velten Schäfer (https://www.freitag.de
/autoren/der‐freitag) | Ausgabe 14/2021 (https://digital.freitag.de/1421) 221
Herrschaft stellt man sich martialisch vor, mit bellendem Befehlston und
handfestem Zwang. Vielleicht scheint es deshalb vielen so, als lebten wir heute
nach eigenem Willen in einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Dass es sich nicht so
verhält, dass effektive Herrschaft leise ist und die Welt „in Ordnung“ erscheinen
lässt, ist ein großes Thema des Soziologen Pierre Bourdieu – den Stephan Moebius
nicht nur, aber auch hinsichtlich der jüngeren „Klassismus- Debatte“ empfiehlt.
Bildungsarmut ist ein Mangel an „legitimer Kultur“? Wie drückt sich das aus?
In den entsprechenden Debatten ist neben den Inhalten bestimmter Bücher,
Filme und so weiter der Erwerb von Lern- und Sprachkompetenzen sowie
Bildungsabschlüssen zentral. Es geht hier um das inzwischen
umgangssprachliche „kulturelle Kapital“. Bourdieu kennt da drei Formen:
Zur Person
Stephan Moebius ist Professor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte
an der Karl-Franzens-Universität Graz. 2011 gab er zum Thema Symbolische
Gewalt mit Angelika Wetterer ein Schwerpunktheft der Österreichischen
Zeitschrift für Soziologie heraus
Wenn sich diese Kinder und Jugendlichen auf diese Weise auch selbst
eliminieren, dann hatten sie aber doch eine Chance?
Man kann einfach nicht über die Verteilung von Chancen auf einer so
individuellen Ebene diskutieren, denn das ist ein gesellschaftlicher Prozess mit
einer Struktur. Empirisch ist Chancengleichheit eine Illusion. So heißt übrigens
schon die bildungssoziologische Studie Bourdieus aus den 1970ern. Bis heute
sind für „akademische“ Kinder die Chancen zigfach höher, an eine Uni zu
kommen und dort Erfolg zu haben. Es sind nicht alle „ihres Glückes Schmied“.
Das ist Ideologie, denn wir leben nicht in einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in
der es egal wäre, woher man kommt.
Aber wenn das alles so tief sitzt, wie kann uns das überhaupt bewusst
werden?
Manchmal lüftet sich der Schleier ein wenig. Das kann zum Beispiel passieren,
wenn ein Chef ganz offenbar willkürlich seine Macht ausnutzt oder, was das
Geschlechterverhältnis angeht, etwa durch offene Akte von Sexismus.
Also wenn dieses geteilte Gefühl der „geordneten Welt“ gröblich verletzt wird
...
... Soziologisch muss man hier Herrschaft, Macht und Gewalt unterscheiden.
Bourdieu hat das nicht systematisch getan, aber mein Bremer Kollege und
Freund Lothar Peter. Er sagt: Herrschaft ist ein „gesellschaftlich
institutionalisiertes Über- und Unterordnungsverhältnis“, das auf ungleichem
Ressourcenzugang beruht. Macht ist das Vermögen, Ressourcen für sich
einzusetzen, und Gewalt ist der Modus,
„durch den und in dem sich Macht konkret realisiert“. Während Herrschaft
immer mit Macht verbunden ist, kann Macht auch gegen Herrschaft eingesetzt
werden. Der sexistische Akt ist also symbolische Gewalt, offener Ausdruck von
symbolischer Herrschaft. Wenn nun ein solcher Fall in der Gesellschaft
tatsächlich als eben sexistisch erkannt wird – und nicht etwa nur als Ausfluss
eines
„kranken Hirns“ –, dann wird klar, dass es Sexismus gibt, als ein
gesellschaftliches Verhältnis und nicht als individuelle Pathologie. Das wäre
dann schon ein Aufklärungsschritt.
Wird ein solcher Akt hingegen nicht als sexistisch erkannt, dann „trägt“ hier die
symbolische Herrschaft.
Vielleicht stehen die Schulen dabei deshalb immer so sehr im Fokus, weil sich
an ihnen das kollektive Klassenschicksal in den individuellen Biografien
realisiert. Auch die Debatte über „Klassismus“, die jüngst aufkam,
Was meinen Sie, womit hätte Bourdieu hier ein Problem? Ich sehe eine
individualisierende und identitätspolitische Tendenz, in der persönliche
Einstellungen und Kämpfe um Anerkennung im Vordergrund stehen, in der
Positionen festgeschrieben werden, ohne dass die gesellschaftlichen Strukturen
als wirkliche Bedingung zur Sprache kommen. Wenn aber Politik zu stark zur
„Arbeit an sich selbst“ wird, läuft man quasi Gefahr, den herrschenden Zwang
zur Selbstoptimierung auf einer Ebene von Politik und Moral fortzuschreiben.
Man kann sich und andere auf diese Art schnell erschöpfen. Sich individuell
nicht rassistisch oder sexistisch verhalten zu wollen oder einen klimaneutralen
Lebensstil anzustreben, das ist natürlich richtig.
Aber das „Anfangen bei sich selbst“ darf nicht den Blick auf die
dahinterliegenden strukturellen Bedingungen von Herrschaft verdecken. Die
Individualisierung gesellschaftlicher Herrschaft grenzt auch an den Diskurs der
„Selbstverantwortung“, der seinerseits Ausdruck symbolischer Herrschaft ist.
Und diese ist ja ein kollektiver Prozess. Analytisch ist man hiermit schon wieder
bei Bourdieu.
06:00
27.04.2021
#interview (https://www.freitag.de/@@search?Subject:list=interview)