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Interview ǀ „Der freie Wille ist eine Ideologie“ — der Freitag https://www.freitag.

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„Der freie Wille ist eine Ideologie“ 
Interview Der Soziologe Stephan Moebius erklärt, warum sich eine ungerechte Welt
für viele „in Ordnung“ anfühlt
Velten Schäfer (https://www.freitag.de
/autoren/der‐freitag) | Ausgabe 14/2021 (https://digital.freitag.de/1421) 221

Foto: Jeremy Lishner/Unsplash

Herrschaft stellt man sich martialisch vor, mit bellendem Befehlston und
handfestem Zwang. Vielleicht scheint es deshalb vielen so, als lebten wir heute
nach eigenem Willen in einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Dass es sich nicht so
verhält, dass effektive Herrschaft leise ist und die Welt „in Ordnung“ erscheinen
lässt, ist ein großes Thema des Soziologen Pierre Bourdieu – den Stephan Moebius
nicht nur, aber auch hinsichtlich der jüngeren „Klassismus- Debatte“ empfiehlt.

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Bildungsarmut ist ein Mangel an „legitimer Kultur“? Wie drückt sich das aus?
In den entsprechenden Debatten ist neben den Inhalten bestimmter Bücher,
Filme und so weiter der Erwerb von Lern- und Sprachkompetenzen sowie
Bildungsabschlüssen zentral. Es geht hier um das inzwischen
umgangssprachliche „kulturelle Kapital“. Bourdieu kennt da drei Formen:

1. „institutionalisiert“ ist es auf Abschlusszeugnissen,


2. „objektiviert“ in einem imponierenden Bücherregal. Bildungsarmut aber
beginnt meist beim
3. „inkorporierten“ Kulturkapital, das man von klein auf in sich aufsaugt.
Das reicht von Spracherwerb über bestimmte Weisen des Denkens,
Wahrnehmens und Urteilens – den „Geschmack“ – bis hin zu Gesten, Mimik oder
der Lautstärke der Stimme. All das verrät die Schichtenherkunft. „Bildungsarm“
ist, salopp gesagt, wer zu Hause nicht die richtige „Chemie“ abbekommt, um in
der „legitimen Kultur“ mitzureden.

Diese „Chemie“ sorgt ja auch dafür, dass schichtenübergreifende


Lebenspartnerschaften kaum häufiger sind als ethnisch „gemischte“. Aber
wie wirkt sie bei der sozialen Vererbung?
Sie entsteht im Herkunftsmilieu, dessen soziale Position durch den Zugriff auf
ökonomische, kulturelle, soziale und symbolische Ressourcen bestimmt ist.
Wichtig sind aber auch Identifikationsprozesse mit diesem Milieu und seinem
Habitus. Bildungsarmut entsteht nicht nur, wenn die Eltern zu wenig kulturelles
Kapital „vererben“, sondern auch in dem, was sie stattdessen weitergeben.
Nämlich bestimmte
„Komplexe“, etwa eine starke Unsicherheit gegenüber Bildung. Man fühlt sich
minderwertig, traut sich nichts zu und versucht es dann kaum. Selbst bei
manchen Studierenden sehe ich das, obwohl die es ja alle immerhin an die
Universität geschafft haben. Wer etwa Dialekt spricht, was ja zumeist nicht als
„legitime Kultur“ gilt, traut sich oft nicht, im Seminar etwas zu sagen.

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An diesem Punkt würden nun viele mit Hintergrund in der


„legitimen Kultur“ einwenden: Na ja, versuchen müssen sie es schon selbst.
Lehrjahre sind keine Herrenjahre!
Wer das so sagt, muss seine Herkunft komplett vergessen haben. Aber
tatsächlich treten „ererbte“ Unsicherheiten auch offensiv auf, als Trotz, als
scheinbare Selbstsicherheit. Etwa in der Abwertung von „Studierten“, die
„keinen Nagel einschlagen“ können. Aus der Not wird eine Tugend, man tröstet
sich im Vorhinein über versagte Chancen: „So ein Schreibtischjob wäre wirklich
nichts für mich.“ Das wirkt wie sich selbst erfüllende Prophetie, wie ein
Teufelskreis, dem schwer zu entkommen ist. Schon Kinder entsprechen oft
unwillkürlich den schlechten Meinungen, die Lehrkräfte von ihnen haben, was
diese Zuschreibungen wiederum bestärkt.

Zur Person 
Stephan Moebius ist Professor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte
an der Karl-Franzens-Universität Graz. 2011 gab er zum Thema Symbolische
Gewalt mit Angelika Wetterer ein Schwerpunktheft der Österreichischen 
Zeitschrift für Soziologie heraus

Wenn sich diese Kinder und Jugendlichen auf diese Weise auch selbst
eliminieren, dann hatten sie aber doch eine Chance?
Man kann einfach nicht über die Verteilung von Chancen auf einer so
individuellen Ebene diskutieren, denn das ist ein gesellschaftlicher Prozess mit
einer Struktur. Empirisch ist Chancengleichheit eine Illusion. So heißt übrigens
schon die bildungssoziologische Studie Bourdieus aus den 1970ern. Bis heute
sind für „akademische“ Kinder die Chancen zigfach höher, an eine Uni zu
kommen und dort Erfolg zu haben. Es sind nicht alle „ihres Glückes Schmied“.
Das ist Ideologie, denn wir leben nicht in einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in
der es egal wäre, woher man kommt.

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Diese unwillkürliche Mitwirkung an der eigenen Unterordnung, die sich auch


gegen das eigene „Interesse“ richten kann, das ist doch frappierend. Die
Menschen wollen dann sozusagen, was sie sollen. Wo kommt das her?
Bourdieu nennt den Effekt, der bewirkt, dass die Beherrschten an ihrer
Beherrschung mitwirken,
„symbolische Herrschaft“ oder „Amor Fati“, also „Liebe zum
Schicksal“. Wir wachsen so selbstverständlich mit bestimmten
Sinnzusammenhängen sowie Denk- und Wahrnehmungsweisen auf, dass wir
mit den uns darin zugewiesenen Rollen und Identitäten oft leidenschaftlich
verhaftet sind. Und gar nicht mehr merken, welche sozialen Hierarchien da
mitschwingen. Die Begabungsideologie ist eine solche Naturalisierung, oder
auch das vorherrschende Geschlechterverhältnis. Symbolische Herrschaft
beruht darauf, dass Herrschende und Beherrschte sich selbst, ihre Umwelt und
so weiter nach den gleichen Kriterien wahrnehmen und beurteilen. Wie eben bei
den erwähnten Jugendlichen und ihren Vorbehalten gegen „Schreibtischjobs“.
Und solange es da keine Reibungen gibt, fühlt sich die Welt „in Ordnung“ an. So
wird Herrschaft fast unbemerkbar und lässt sich kaum anzweifeln.

Aber wenn das alles so tief sitzt, wie kann uns das überhaupt bewusst
werden?
Manchmal lüftet sich der Schleier ein wenig. Das kann zum Beispiel passieren,
wenn ein Chef ganz offenbar willkürlich seine Macht ausnutzt oder, was das
Geschlechterverhältnis angeht, etwa durch offene Akte von Sexismus.

Also wenn dieses geteilte Gefühl der „geordneten Welt“ gröblich verletzt wird
...
... Soziologisch muss man hier Herrschaft, Macht und Gewalt unterscheiden.
Bourdieu hat das nicht systematisch getan, aber mein Bremer Kollege und
Freund Lothar Peter. Er sagt: Herrschaft ist ein „gesellschaftlich
institutionalisiertes Über- und Unterordnungsverhältnis“, das auf ungleichem
Ressourcenzugang beruht. Macht ist das Vermögen, Ressourcen für sich
einzusetzen, und Gewalt ist der Modus,

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„durch den und in dem sich Macht konkret realisiert“. Während Herrschaft
immer mit Macht verbunden ist, kann Macht auch gegen Herrschaft eingesetzt
werden. Der sexistische Akt ist also symbolische Gewalt, offener Ausdruck von
symbolischer Herrschaft. Wenn nun ein solcher Fall in der Gesellschaft
tatsächlich als eben sexistisch erkannt wird – und nicht etwa nur als Ausfluss
eines
„kranken Hirns“ –, dann wird klar, dass es Sexismus gibt, als ein
gesellschaftliches Verhältnis und nicht als individuelle Pathologie. Das wäre
dann schon ein Aufklärungsschritt.
Wird ein solcher Akt hingegen nicht als sexistisch erkannt, dann „trägt“ hier die
symbolische Herrschaft.

Konservative – auch Frauen – würden nun einwenden: Unser traditionelles


Familienleben steht weder auf demselben Blatt wie sexistische Übergriffe,
noch hat es etwas mit Beherrschung zu tun. Wir haben uns dafür entschieden,
respektiert das bitte! Sprechen Sie solchen Leuten nicht ihre Entscheidungen
ab? Wo bleibt der freie Wille?
Einen völlig freien Willen gibt es nicht. Das ist die Analyse Bourdieus, die ich
auch teile. Es gibt gewisse Spielräume in der habituellen Disposition und durch
den nie endenden Sozialisationsprozess. Das festzustellen heißt nicht,
jemandem Entscheidungen abzusprechen. Aber es gibt keine Entscheidungen in
einem völlig luftleeren Raum – und nur dann wären sie ja absolut frei. Der freie
Wille ist eine Ideologie.

Sprechen wir noch einmal über Klassen, Bildung und


„Vererbung“: Die einen erben sehr oft den Komplex, sich diese nicht
zuzutrauen, die anderen eine spielerische Vertrautheit mit „legitimer Kultur“
und deren Inhalten. Was aber soll man dagegen tun? Goethe und Schiller aus
dem Lehrplan streichen?
Das will ich damit nicht sagen. Es lassen sich weiter gute und schlechte
Kulturgüter unterscheiden. Die Schulen müssten sich aber soziologisch bilden
und die Lehrkörper für Macht- und Herrschaftseffekte sensibler werden. Pierre
Bourdieu nannte das eine mit soziologischem Wissen fundierte
„rationale Pädagogik“.

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Aber überfordert diese Erwartung, für sozialen Ausgleich zu sorgen, die


Bildungseinrichtungen nicht? Der Erziehungswissenschaftler Heinz‐Elmar
Tenorth sagte erst jüngst in einem Interview mit der „Zeit“, man solle
diesbezüglich bloß „die Schulen in Ruhe“ lassen.
Ich gebe Herrn Tenorth da auch vollkommen recht. Die Schule kann nicht
auffangen, was gesamtgesellschaftlich schiefläuft. Die Lehrkräfte sind jetzt
schon am Limit.
Rationale Pädagogik ist nur ein Mosaikstein in einem größeren
gesellschaftlichen Ganzen. Wie Tenorth sagt, löst Bildung allein kein
gesellschaftliches Problem, auch und gerade nicht „den Umbau der
Sozialstruktur“. Dafür müssten sich, wie er ganz richtig feststellt, „Macht- und
Vermögensverhältnisse ändern“.

Vielleicht stehen die Schulen dabei deshalb immer so sehr im Fokus, weil sich
an ihnen das kollektive Klassenschicksal in den individuellen Biografien
realisiert. Auch die Debatte über „Klassismus“, die jüngst aufkam,

macht sich stark an Benachteiligungen in Bildungsinstitutionen fest. Steigt in


Zusammenhang mit diesen Debatten eigentlich die Theorie‐Nachfrage nach
Bourdieu?
In den Feuilleton-Debatten, die ich verfolge, spielt er kaum eine Rolle. Leider.
Denn Bourdieu wäre ein wichtiger Stichwortgeber. Er macht ja sehr detailliert
klar, wie sehr unsere Art und Weise, uns in der Welt zu orientieren,
Klassencharakter hat und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Strukturen zu
sehen ist. Gerade deswegen wäre er aber skeptisch gegenüber einer Richtung,
die dieser Diskurs nimmt oder nehmen kann.

Was meinen Sie, womit hätte Bourdieu hier ein Problem? Ich sehe eine
individualisierende und identitätspolitische Tendenz, in der persönliche
Einstellungen und Kämpfe um Anerkennung im Vordergrund stehen, in der
Positionen festgeschrieben werden, ohne dass die gesellschaftlichen Strukturen
als wirkliche Bedingung zur Sprache kommen. Wenn aber Politik zu stark zur
„Arbeit an sich selbst“ wird, läuft man quasi Gefahr, den herrschenden Zwang
zur Selbstoptimierung auf einer Ebene von Politik und Moral fortzuschreiben.
Man kann sich und andere auf diese Art schnell erschöpfen. Sich individuell
nicht rassistisch oder sexistisch verhalten zu wollen oder einen klimaneutralen
Lebensstil anzustreben, das ist natürlich richtig.

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Aber das „Anfangen bei sich selbst“ darf nicht den Blick auf die
dahinterliegenden strukturellen Bedingungen von Herrschaft verdecken. Die
Individualisierung gesellschaftlicher Herrschaft grenzt auch an den Diskurs der
„Selbstverantwortung“, der seinerseits Ausdruck symbolischer Herrschaft ist.
Und diese ist ja ein kollektiver Prozess. Analytisch ist man hiermit schon wieder
bei Bourdieu.

06:00
27.04.2021

#interview (https://www.freitag.de/@@search?Subject:list=interview)

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