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Liebe Evi,
da du dieses Märchen als dein Lieblingsmärchen bezeichnet hast, habe ich dieses Märchengedicht
für dich geschrieben, und im Anhang einige Aspekte zur Interpretation hinzugefügt. Da du meinst,
Gedichte müssen sich reimen, muss ich um Verzeihung bitten, die Gabe der flüssigen Reimerei ist
mir mit der Zeit abhanden gekommen. Ein Schelm, wer mehr gibt, als er hat.
INTERPRETATION
Die Heldin ist nicht passive Tochter, sondern uneingeschränkte Herrscherin des Hauses, Räume und
Gegenstände tragen ihren Namen, und auch das Biest unterwirft sich ihrem Urteil. Seine Avancen
darf sie ablehnen, ohne gewaltsam zu einer Entscheidung gezwungen zu werden. Als das Biest am
Ende im Sterben liegt, besitzt in allen Fassungen allein sie die Macht, es leben oder sterben zu
lassen. Ihr Liebeseingeständnis bewirkt zudem die Verwandlung in einen Prinzen. Sehr leicht lässt
sich dieses Bild psychologisch deuten: die Heldin besitzt nun die geistige Reife (durch die Lösung
vom Elternhaus) und Vertrautheit mit dem Biest, um die unangenehme, fremde, wilde, tierische
Seite des Mannes zu akzeptieren und seine positiven Charaktereigenschaften auf sein Äußeres zu
übertragen.
II
Das Märchen Die Schöne und das Biest bleibt ein Märchen von der äußeren Schönheit. Freilich
geht es eigentlich darum, hinter die Fassade eines haarigen Biestes zu schauen. Doch das gute Ende
besteht eben immer noch darin, dass es sich in einen Prinz mit einem lieblichen, jungenhaften
Antlitz verwandelt.
Das normierte Schönheitsideal begegnet uns in Die Schöne und das Biest an jeder Ecke. Ob es nun
Schönheit ist, deren Sympathie-Bonus innerhalb ihres Dorfes alleinig in unvergleichlicher
Schönheit gesehen wird, oder die alternde Bettlerin, die sich als schöne Fee mit blondem Haar und
schlank genormtem Körper entpuppt – die Vorstellung davon was „Schönheit“ bedeutet, ist in dem
Märchen sehr begrenzt.
Ebenso fragwürdig ist wie eh und je die Entwicklung der Schönen, der Querdenkerin ihrer
Dorfgemeinschaft, der jungen Frau mit Ambitionen, die noch nicht bereit für die Familiengründung
ist, sondern erst einmal die Welt entdecken und erobern möchte, und die ihr Lebensglück dann doch
ausschließlich in den Armen eines Prinzen findet. So richtig emanzipatorisch wertvoll ist das nicht.
Aber es lohnt sich, hier hinter die Fassade des verwunschenen Prinzen zu blicken, denn dahinter
verbirgt sich ein starkes Statement gegen toxische Männlichkeit.
Toxische Männlichkeit ist ein Terminus, der noch nicht fest in unseren Diskursen verankert ist. Die
toxische, also giftige Männlichkeit bezeichnet männlich geprägte Eigenschaften wie Dominanz,
Misogynie, Narzissmus, Härte, Aggressivität. Aus dieser Aufzählung geht umgehend hervor,
weshalb sie als toxisch beschrieben wird: Sie ist, brachial gesagt, asozial. Freundlich gesagt:
Schwer mit dem Gemeinwohl vereinbar.
III
Wenn man auf der Suche nach einem Partner ist, dann sucht man in der Regel nach einem, der
mindestens so attraktiv ist wie man selbst. Das galt lange vor allem für Männer, inzwischen aber
auch verstärkt für Frauen, wie Studien zeigen konnten. Und man sucht nicht nur nach einem
ungefähr gleich attraktiven Partner, man bekommt ihn meistens auch. Denn wenn jeder versucht,
möglichst den bestaussehenden abzubekommen, dann fangen sich jene, die zu hoch zielen, einen
Korb nach dem anderen ein und werden nach und nach bescheidener in den Ansprüchen.
Schöne Menschen bekommen also einen schönen Partner, nett aussehende einen nett aussehenden,
durchschnittlich aussehende einen durchschnittlich aussehenden. Das klingt hart, ist aber
wissenschaftlich gesehen Realität. Jetzt gibt es aber auch Paare, bei denen man sich fragt, ob dieses
psychologische Gesetz bei ihnen womöglich außer Kraft gesetzt wurde. Während der eine Partner
so umwerfend daherkommt, dass er fast jeden oder jede haben könnte, ist der andere eher ein graues
Mäuschen.
IV
Der Schönheit Macht: Ein Märchentyp weiblicher Wunscherfüllung. Den Heldinnen in Märchen
dieses Typs wird generell große Macht eingeräumt, was diesen Typ zu einem Märchentyp
weiblicher Wunscherfüllung macht.
Verletzbar und hilflos sind die Tier-Bräutigame nur in Gegenwart der Heldin, und unterwerfen sich
meist ihren Wünschen In den japanischen Fassungen Der Affenbräutigam und Der
Schlangenbräutigam wird durch die kluge jüngste Tochter kurzer Prozess mit einem Biest gemacht,
das seinen Anspruch nur aus einem Handelsgeschäft mit dem Vater bezieht. In Die Singende Rose
schlägt die Heldin den Kopf des Greises ab und nimmt Besitz von seinem Reichtum. Bei diesen
ganz auf weibliche Bedürfnisse angepassten Märchen denkt man eher an Blaubart als an ein Motiv
aus der Schönen und dem Biest.
Signalisiert die Heldin ihre Bereitschaft zur Ehe durch einen solchen Wunsch, wird ihr in den
weiblich geprägten Fassungen, eindeutig Märchen weiblicher Wunscherfüllung, sehr große Macht
eingeräumt. In einem Grenzfall lässt die Heldin in Das verwunschene Schloss die in Monster
verwandelte Schwiegerfamilie auf die Bitte des Helden töten. Nicht mehr diesem Typ zuordenbar
ist die Schöne und das Biest, wo einzig verbliebenes Element dieses Typs der Rosenwunsch ist.
Hier erkennt die Heldin die bösen Absichten des Blaubart-ähnlichen Riesen, tötet ihn und rettet ihre
Schwestern.
Im Gegensatz dazu ziehen sich andere Biester gehorsam zurück, wenn die mehr oder weniger
eindeutig erotischen Avancen von der Schönen abgeschmettert werden. Das Tier gibt der Schönen
Macht. Die Schöne zähmt das Tier, indem sie sich seinen eindeutig erotischen Avancen (die Frage,
ob sie mit ihm schlafen wolle) widersetzt. Erst als sie sich vollkommen bereit fühlt, seine tierische
Seite zu akzeptieren, stimmt sie der Frage zu, unter der Bedingung der ehrenvollen Heirat. Die
Schöne in einer anderen Version nimmt die – weit weniger eindeutig erotische – Brautwerbung des
Biestes erst dann an, als sie sich durch das gewachsene Vertrauen „in vollem Bewusstsein“ zu seiner
animalischen Seite bekennen kann.
Die Heldin ist nicht mehr passive Tochter, sondern uneingeschränkte Herrscherin des Hauses.
Räume und Gegenstände tragen ihren Namen, und auch das Biest unterwirft sich ihrem Urteil.
Seine Avancen darf sie ablehnen, ohne gewaltsam zu einer Entscheidung gezwungen zu werden. Als
das Biest am Ende im Sterben liegt, besitzt in allen Fassungen allein sie die Macht, es leben oder
sterben zu lassen. Ihr Liebeseingeständnis bewirkt zudem die Verwandlung in einen Prinzen. Sehr
leicht lässt sich dieses Bild psychologisch deuten: die Heldin besitzt nun die geistige Reife (durch
die Lösung vom Elternhaus) und Vertrautheit mit dem Biest, um die unangenehme, fremde, wilde,
tierische Seite des Mannes zu akzeptieren und seine positiven Charaktereigenschaften auf sein
Äußeres zu übertragen.
Das Schicksal der Heldin: Permanentes Thema der Initiation (Einweihung). Fast alle Märchen
dieses Typs besitzen einen sozialen Hintergrund, der ebenso unveränderlich wie überzeitlich ist: die
Sozialisierung einer Tochter in ihre neue Rolle der Ehefrau. Man lässt keinen Zweifel an der
Ausrichtung auf ein jugendliches Publikum und die didaktischen Funktion, die man der Geschichte
zuspricht, denn das Märchen erscheint mit einigen anderen Märchen zur Auflockerung der
didaktisch gehaltenen Dialoge über schulische Sachthemen im zweibändigen Magazin der Kinder.
Doch sind die Konflikte einer Tochter, die gleichzeitig die neue Rolle einer Ehefrau übernehmen
muss, von einer Überzeitlichkeit, die nicht auf einen schlichten didaktischen Nenner wie Bändigung
des Emotionalen durch Vernunft und Sittlichkeit zu reduzieren sind. Die Heldin gerät in Konflikt
mit ihren sozialen Rollen, besonders da sie als jüngste Tochter die Pflicht hätte, ihren Vater im Alter
zu pflegen. Wenngleich sich der Vater betrübte, seine Tochter nicht als Stütze in seinem Alter zu
haben, versuchte er doch nicht, sie von einer Pflicht abzuwenden, welche er als unerlässlich
anerkannte. Von dieser Tochterrolle muss sie sich nun lösen. Doch gerade ihr Vatergehorsam ist es,
der ihr letztendlich ihren Bräutigam zuführt: sie opfert sich für den Vater. Dass sie für ihren
Vatergehorsam später mit einem reichen und gütigen Ehemann belohnt wird ist ein Beweis für ihr
bis dahin richtiges Verhalten. Doch diesen Gehorsam muss sie zu Gunsten der Zugehörigkeit zum
Partner aufgeben lernen. Der Besuch bei der Familie stellt die Prüfung dar, die die Heldin bestehen
muss, um ihre neue soziale Rolle als Ehefrau bewusst leben zu können. Zwar lässt sie sich
aufhalten, erkennt jedoch rechtzeitig, wem ihre Treue zu gelten habe und kehrt zum Tierbräutigam
zurück. In Amor und Psyche, einem ähnlichen Märchen, hat die Tochter diesen Grad der familiären
Entwöhnung noch nicht erreicht, und muss, unter erschwerten Bedingungen, ihre neue
Zugehörigkeit zum Gatten unter Beweis stellen.
Der Transport der Schönen zur Wohnstatt des Biestes gestaltet sich wie eine Brautübergabe: die
Heldin wird vom Vater begleitet, der meist noch eine Weile bleibt, oder sie wird vom Biest
höchstpersönlich abgeholt. Nur in einem einzigen Fall wird die Tochter gewaltsam geraubt, selten
begibt sich das Mädchen allein auf die Reise. Unsere passive Heldin wird vom väterlichen Haushalt
in den Haushalt des Bräutigams überführt und übernimmt ihre neue Rolle der Gefährtin und
Ehefrau.
Es ist ein psychologisches Klischee, dass wir lernen müssen, uns selbst zu lieben, selbst jene Teile
von uns, die wir objektiv für anstößig halten. Es ist so ein Klischee, dass es fast unmöglich ist, es
aufzunehmen, wenn es uns gesagt wird.
Die meisten von uns kennen diese Geschichte, die in verschiedenen Variationen erzählt wird. Es
gibt eine schöne junge Frau, die freiwillig mit einem schrecklichen Tier eingesperrt wird, um ihren
Vater zu retten. Das Biest sieht entsetzlich aus, und Schönheit meidet ihn, fürchtet ihn und sehnt
sich danach, ihm zu entkommen. Jede Nacht bittet das Tier sie, ihn zu heiraten; jede Nacht lehnt sie
ab.
Zuerst gibt es nur einen Schimmer von etwas anderem, etwas in den Augen oder das Verhalten in
der Bestie, das sie in eine dämmernde Erkenntnis bringt, dass dieses Tier nicht so schrecklich ist.
Sie muss lernen, dieses Tier zu lieben.
Irgendwann verliebt sie sich in das Biest und küsst ihn. In dem Moment, in dem sie es tut,
verwandelt er sich in einen schönen Prinzen. In meiner Lieblingsversion der Geschichte ist sie so in
die Bestie verliebt, dass sie, sobald er sich verwandelt hat, bestürzt weint: Wo ist mein Biest? Ich
will mein Biest zurück...
Nun denke an einen Teil von dir oder an dein Leben, den du nicht magst, den du nicht akzeptieren
kannst. Irgendein Aspekt von dir oder deinen Umständen, in dem du dich gefangen fühlst, den du
hasst, dass du weggehen oder entkommen willst. Nach dieser Geschichte musst du lernen, genau
das zu lieben, was du gerade hasst. Nicht, um am Ende einen ansehnlichen Prinzen zu bekommen –
diese Art von Kunstfertigkeit würde für Schönheit nicht funktionieren und es wird nicht für dich
funktionieren -, sondern weil hinter jeder Maske der Hässlichkeit etwas von Wert liegt, etwas, das
du schätzen und lieben lernen musst. Bis du das tust, bist du in dieser Gefängniszelle gefangen, dich
oder dein Leben nicht so zu akzeptieren, wie es ist. Nur durch diese Art von Selbstakzeptanz
erkennen wir unsere Probleme und Herausforderungen als die Geschenke, die sie sind. Dann
können wir uns mit diesem bisher inakzeptablen Merkmal unseres Lebens vereinigen und glücklich
leben. Dann verwandelt sich das, was wir verachten, in etwas Schönes.
VI
Es wird von einer wachsenden Liebe berichtet, die sich nicht von Äußerlichkeiten abhalten lässt,
sondern das Innere sieht und in den Kern vordringt.
Es sagt weiterhin aus, was ein Versprechen bedeutet: es zu halten bedeutet, der eigenen Ehre und
Persönlichkeit gerecht zu werden und seine eigenen Werte in positiver Hinsicht auszuleben.
Die wahren Schätze des Menschen ruhen in seinem Innern, und sind oft nur zugeschüttet, von den
Dingen mit denen das Leben ihn gezeichnet hat.
Es ist nicht immer alles so, wie es auf den ersten Augenblick scheint.
Wer mit Ehrlichkeit, Vertrauen und Einfühlungsvermögen bis ins Innere eines Menschen vordringen
kann, der findet nicht selten das Gold seiner Seele.
Es wird die Entwicklung einer Liebe beschrieben, die eigentlich jeder Mensch sich wünscht, geliebt
zu werden, wie er ist, doch an die viele nicht mehr glauben können. Wer aber die Fähigkeit verliert,
an sie zu glauben, der verliert auch das Ziel, sie finden zu können, selbst wenn er den Weg dahin
manchmal verloren hat.
Letztlich passt dazu auch die Aussage von Antoine de St. Exupéry: Nur mit dem Herzen sieht man
gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Oder wie die Bibel sagt: Der Mensch sieht nur,
was vor Augen ist, aber Gott sieht ins Herz.