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Entwicklungsländer • Städtische Räume – Probleme und Ansätze nachhaltiger Stadtentwicklung

Städtische Räume – Probleme und Ansätze nachhaltiger Stadtentwicklung


Migration und Verstädterung Der nebenstehende Text [1] ist inzwischen zwar
mehr als zehn Jahre alt, er hat an Brisanz und
„In Dörfern Afrikas, Asiens und Lateinameri- Aktualität aber bis heute nichts verloren. Der
kas gilt die Parole aus dem Europa des Mittelal- Anteil der städtischen Bevölkerung in den Ent-
ters: ‚Stadtluft macht frei!‘ Tag für Tag verlassen wicklungsländern ist zwischen 1980 und 2006
170 000 Menschen in der Dritten Welt ihre Fel- von 29 % auf 45 % angewachsen – und es ist da-
der und ziehen in wuchernde Metropolen. von auszugehen, dass sich die Wachstumsra-
Doch statt der erträumten Befreiung von Armut ten in den nächsten Jahrzehnten weiterhin zwi-
Verstädterung und sozialen Fesseln bringt die Verstädterung schen 4 und 7 % bewegen werden. So könnte
oft nur neues Elend. Gerade im Zeitalter der z. B. die Agglomeration Mumbai (Bombay) bei
Globalisierung finden viele Zuwanderer keine gleichbleibendem Wachstum im Jahre 2015 die
Slum Arbeit und enden mit ihren Familien in Slums 26-Millionen-Grenze überschreiten.
ohne Strom und Kanalisation. Es gibt keine
Schulen, niemand transportiert den Müll ab. Ursachen des Städtewachstums
Migration Die verschmutzte Umwelt macht die Menschen Migration und natürliche demographische Pro-
krank. Verbittert schauen die Bewohner der zesse sind zu jeweils etwa gleichen Teilen für
Elendsviertel auf überall entstehende Ghettos das rapide Städtewachstum in den Entwick-
der Reichen, die von privaten Sicherheitsdiens- lungsländern verantwortlich. Besonders junge
ten bewacht werden müssen. Denn die Kluft Bevölkerungsgruppen verlassen den ländlichen
zwischen Wohlhabenden und Habenichtsen er- Raum, da sie hier auf absehbare Zeit keine Le-
zeugt Gewaltkriminalität, gegen die kommunale bensperspektive sehen. Der ländliche Raum
Behörden nicht ankommen. Polizisten wagen verliert so die wirtschaftlich aktivste Bevölke-
sich nicht mehr in von Banden beherrschte ‚No rungsgruppe, während die Aufnahmekapazität
go areas‘. Angesichts der Polarisierung in vie- der Städte infolge der starken Zuwanderungen
len Megacitys warnen Experten vor der sozialen überfordert ist.
‚Zeitbombe Megastadt‘.“ [1]

Land-Stadt-Wande- M 1 Motive der Land-Stadt-Wanderung


rung
Push-Faktoren Nachteilige Strukturmerkmale des länd- Persönliche Motive und Attraktive Strukturmerkmale des
lichen Raums (Push-Faktoren) Kommunikationsmedien städtischen Raums (Pull-Faktoren)
Pull-Faktoren
– niedriger Lebensstandard – Glaube an eine Verbesserung der – Arbeitsmöglichkeiten
– unzureichende Ernährungslage infolge Situation („schlechter kann es – höherer Verdienst
Landknappheit nicht werden“) – Aufstiegschancen
– Arbeitslosigkeit – außengeleitetes Verhalten/Mode – größere persönliche Freiheit
– Unterdrückung durch Grundbesitzer („wie der Freund/Bruder“) – größere Auswahl an öffentlichen
– Ausbeutung durch Zwischenhändler – Radio/Fernsehen/Presse Infrastruktureinrichtungen
– mangelnde Versorgung mit öffentli- – Berichte von Besuchern aus der (Schule, Krankenhaus etc.)
chen Dienstleistungen (Schule, Kran- Stadt – größere Teilnahmemöglichkeit an
kenhaus etc.) – Saisonarbeit in der Stadt, z. B. auf Gütern und Dienstleistungen des
– geringe Teilnahmemöglichkeit an Gü- Baustellen Staates
tern und Dienstleistungen des Staates – abwechslungsreicherer Lebens-
– erstarrte Sozialstrukturen alltag
– mangelnde Innovationsbereitschaft
– Ernterisiko durch Witterungseinflüsse/
Bodenzerstörung

[1] DER SPIEGEL 52/1999, S. 130 f.

M 2 Deutsche Stiftung Weltbe-


völkerung (Hrsg.): Datenreport
2004. Hannover 2004, S. 6 – 15

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M 2 Verstädterungsgrad und BSP/Kopf auf der Erde Anfang des 21. Jh.s

nördl.
reis
Polark
EUROPA 74% ASIEN 38%

NORDAMERIKA 78%
Japan
U S A Beijing Tokyo
New York
Los Angeles C h i n a Osaka
Kairo Karachi Delhi Shanghai nördl.
Mexiko Ägypten Dhaka Wendekreis
Mexiko Mumbai Kalkutta
Manila
Nigeria Indien
LATEINAMERIKA/ Lagos Äquator
KARIBIK 76% I n d o n e s i e n
AFRIKA 38%
B ra silie n Jakarta

0 4 000 km São Paulo Rio de Bruttosozialprodukt AUSTRALIEN/ südl.


Janeiro
pro Kopf in PPP 2002 OZEANIEN 74% Wendekreis
Städte mit mehr als Buenos
Aires Verstädterungsgrad (%) unter bis 1000 US-$
10 Mio. Einwohnern seit:
5 bis 30 60 bis 75 1000 bis 2 500 US-$
1950
1975 30 bis 45 75 bis 100 2500 bis 7500 US-$ über 15000 US-$
2000 45 bis 60 keine Angaben 7500 bis 15000 US-$ keine Angaben

Regionale Trends der Verstädterung Metropolisierung und Megapolisierung


Der Verstädterungsgrad, d. h. der Anteil der Be- Besorgniserregend ist in den Entwicklungslän- Verstädterungsgrad
völkerung eines Landes, der in Städten lebt, dern vor allem das explosionsartige Wachstum
weist starke regionale Unterschiede auf. Wäh- der Metropolen und der Megastädte. Unter Me- Metropolisierung
rend Lateinamerika mit durchschnittlich 76 % tropolen verstehen wir die Hauptstädte und die
den Verstädterungsgrad Europas und Nord- Millionenstädte eines Landes, unter Megastäd- Megapolisierung
amerikas nahezu erreicht hat, sind die Ent- ten – nach einer Definition der Vereinten Natio-
wicklungsländer in Asien und Afrika noch stark nen – Städte mit mehr als 5 Mio. Einwohnern.
ländlich geprägt. Besonders in Subsahara-Af- Der Konzentrationsprozess der Bevölkerung
rika gibt es „reine“ Agrarländer wie z. B. Burundi in den Millionenstädten zeigt sich in fast allen
oder Uganda mit einem Verstädterungsgrad Entwicklungsländern. Oft umfassen die Haupt-
von lediglich 10 bzw. 13 %. Im weltweiten Ver- städte über ein Viertel der Gesamtbevölkerung
gleich wachsen die Städte Afrikas jedoch beson- eines Landes. Dieses bevölkerungsmäßige Über-
ders stark, im Durchschnitt um etwa 5 % jähr- gewicht einer Metropole wird als demographi- demographische
lich. Die Probleme, die sich aus dieser schnell sche Primacy bezeichnet. Ihr Indikator ist der Primacy
voranschreitenden Verstädterung ergeben, wer- prozentuale Anteil der Metropolbevölkerung an
den durch die seit zwei Jahrzehnten anhaltende der Gesamtbevölkerung eines Landes. Für die
wirtschaftliche Stagnation noch verstärkt. Agglomeration Mexiko-Stadt z. B. betrug er 2006
Die Durchschnittswerte für den Verstädterungs- 18,8 % und für Lima 28,7 % (Berlin 4,1 %).
grad und das Städtewachstum verschleiern das Mit der demographischen Primacy allein lässt
Ausmaß des Prozesses. Dieser wird erst deutlich, sich das Problem der Metropolisierung jedoch
wenn die absoluten Zahlen betrachtet werden. nicht erfassen. Aussagekräftiger ist im Hinblick
Ein städtisches Wachstum von z. B. 5 % besagt, auf die Entwicklungsperspektiven eines Lan-
dass sich die Einwohnerzahl dieser Stadt in nur des die funktionale Primacy. Darunter versteht funktionale Primacy
14 Jahren verdoppeln wird. Kinshasa z. B. hätte man die starke Konzentration von politischen,
dann statt heute 7,3 Mio. Einwohner in 14 Jah- wirtschaftlichen und kulturellen Funktionen
ren 14,6 Mio. und Lagos statt 10,1 Mio. 20,2 Mio. in der jeweiligen Metropole. Infolge ihrer über-
Die wenigen Beispiele lassen erahnen, was für proportionalen Ausstattung mit Einrichtungen
ein Konfliktpotenzial dieses Städtewachstum in der Infrastruktur und mit Arbeitsplätzen im Se-
sich birgt und welche gewaltigen Probleme auf kundären und Tertiären Sektor wachsen die re-
die Städte zukommen. gionalen Disparitäten im Land.

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• Städtische Räume – Probleme und Ansätze nachhaltiger Stadtentwicklung

M 3 Anteil der Bevölkerung in Elendssiedlungen ausgewählter Städte 2005 Der häufig benutzte Begriff Slum für die rand-
städtischen Elendssiedlungen ist eigentlich nicht
zutreffend. Ursprünglich beschrieb Slum die
armseligen Unterkünfte der Arbeiter nahe der
Fabriken sowie Innenstadtviertel der Mittel- und
Oberschichten, die von ihren früheren Bewoh-
nern verlassen wurden. Kennzeichen der Slums
sind die heruntergekommene Bausubstanz, eine
hohe Wohndichte, geringe Einkommen der Be-
wohner, ein hohes Maß an sozialem Verfall, z. B.
Kriminalität, Drogenkonsum, Prostitution sowie
die gesellschaftliche Ausgrenzung der Bewohner.
Typischer für die metropolitanen Stadtstruktu-
ren in Entwicklungsländern sind die randstäd-
tischen Marginalsiedlungen der zugewanderten
Landbevölkerung. Viele Kriterien für Slums tref-
fen auch auf die Marginalsiedlungen zu, so die
Slums und Marginalsiedlungen mangelhafte Bausubstanz, die hohe Wohndichte
und der hohe Anteil an Erwerbspersonen mit
Bevölkerungs- Das rapide Bevölkerungswachstum stellt die niedrigem bzw. unregelmäßigem Einkommen.
wachstum städtischen Behörden vor Probleme, denen Im Gegensatz zu den innerstädtischen Slums
sie kaum gewachsen sind. Die meisten Neuan- besitzen sie jedoch in der Regel eine unzurei-
kömmlinge finden weder Arbeit noch eine an- chende öffentliche Infrastruktur. In den Margi-
gemessene Unterkunft. Oft lassen sie sich in nalsiedlungen herrscht eine große Dynamik, die
Marginalsiedlung den Marginalsiedlungen nieder. Marginal sind als Ausdruck des Bestrebens der Bewohner nach
diese Siedlungen zum einen wegen ihrer Lage wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg zu wer-
am Rand der Großstädte, zum anderen aber ten ist. Die Familienstrukturen und die sozia-
auch hinsichtlich der sozialen Stellung ihrer Be- len Interaktionssysteme unter den Bewohnern
wohner, die buchstäblich an den Rand der Ge- der Marginalsiedlungen sind – zumindest in den
sellschaft abgedrängt werden. asiatischen Ländern – zumeist intakt. So haben
sich auch viele der ehemaligen Hüttensiedlun-
Begriffsbestimmungen gen inzwischen zu respektablen Vororten entwi-
Squattersiedlung Zu unterscheiden sind in den Entwicklungslän- ckelt.
dern die innerstädtischen Elendssiedlungen, Als Squattersiedlungen werden Hüttensiedlun-
Slum die Slums, von den randstädtischen Elendssied- gen bezeichnet, die ohne rechtliche Erlaubnis
lungen, den Marginalsiedlungen. Für beide Ty- der Behörden oder des Landeigentümers auf
pen wird im Folgenden zusammenfassend der fremdem Boden errichtet worden sind.
Elendssiedlung Begriff Elendssiedlungen gebraucht. Sie haben
in vielen Städten einen so raumbestimmenden A 1 Beschreiben Sie wesentliche Erscheinungsfor-
Einfluss, dass sie vielerorts eigene Bezeichnun- men des Verstädterungsprozesses in den Entwick-
gen erhalten haben, z. B. bazaars (Indien), com- lungsländern.
pounds (Mittlerer Osten), tugurios (Peru, Bo- A 2 Erarbeiten Sie eine Definition der Begriffe „de-
livien) für die innerstädtischen und bustees mographische Primacy“ und „funktionale Primacy“.
(Indien), bidonvilles (ehemalige französische A 3 Erläutern Sie Folgeprobleme der Metropolisie-
Kolonien), barriadas (Peru), favelas (Brasilien) rung und Megapolisierung in den Entwicklungs-
für die randstädtischen Elendssiedlungen. ländern.

M 3 nach UN-HABITAT 2003, M 4, 5, 7 – 10 nach Johannes Wam- M 6 nach Dirk Bronger: ebenda,
S. 200 – 228, und Fischer Welt- ser: Bombay/Mumbai – Indiens S. 15
almanach 2008. Frankfurt am Wirtschaftshauptstadt zwischen
Main: Fischer Taschenbuch- Aufschwung und Armut. In: Dirk * Rs Abkürzung im Plural für
Verlag 2007 Bronger (Hrsg.): Marginalsied- Indische Rupie (INR); 1 Indische
lungen in Megastädten Asiens. Rupie entspricht 0,02338 US $
Berlin: LIT Verlag 2007, S. 225, 228, (26. 06. 08).
236 – 237, 240

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Fallbeispiel: Mumbai (Bombay)

M 4 Funktionale Primacy Mumbais M 8 Anzahl der Marginalsiedlungen in


Mumbai
Mumbai Indien Index **
Einwohner in Mio. 2001 11,9 1 027,0 (a) 1,1 % Jahr Anzahl Zunahme
Pro-Kopf-Einkommen 2002 – 2003 (Indische Rupien = Rs*) 45 471 14 712 (b) 309 1971 442 –
Haushalte mit Einkommen von > 86 000 Rs* pro Jahr 1999 47 % 3,4 % (b) 1382 1981 619 40 %

Telefonanschlüsse pro 100 Ew. 1999 14,0 2,7 (b) 519 1991 1 068 72 %

Krankenhausbetten pro 1 000 Ew. 1998 4,2 0,7 (b) 600 2001 1 719 61 %

Marginalbevölkerung 2001 für U. A.*** Zunahme 1 277 289 %


– Anteil an urbaner Bevölkerung, offizielle Angaben 34,3 % 21,3 % (b) 161 1971 – 2002

Top Indische Unternehmen 2001


– Top 100 43 100 (a) 43,0 % M 9 Marginalsiedlung Dharavi in Mumbai
Hauptsitze von indischen Banken (2001) 48 95 (a) 50,5 %
Dharavi Nr. 561 „G“, 1981 2001/05
** (a) = Anteil Mumbai an Indien (%), (b) = Indien = 100
*** Bei diesen Angaben handelt es sich um die offiziellen Angaben der Stadtverwaltung für die urbane Ag- Kernstadt
glomeration (U. A.). Einwohner 40 520 43 918
Anmerkung: Die Zahlen beziehen sich, falls nicht anders angegeben, auf das Kerngebiet M. C. Municipal
Anzahl Toiletten 0 276
Corporation (Greater Mumbai)
Ew./Toilette k. A. 159
M 5 Mumbai – Indiens Wirtschaftshaupt- M 7 Lebensbedingungen in Squattersied- Anzahl Wasser- 130 211
anschlüsse
stadt lungen
Ew. /Wasser- 312 208
anschluss
„Vor knapp 350 Jahren noch ein ‚Braut- „Die Flächen zwischen und vor den Hüt-
Anzahl Elektrizitäts- 0 755
geschenk‘ der Portugiesen an das briti- ten sind oftmals mit Müll übersät … Die
anschlüsse
sche Königshaus ist Mumbai heute In- Bewohner haben keinerlei Besitzrechte
Ew./Elektrizitäts- k. A. 586
diens größte und wirtschaftlich aktivste an dem Land. Daher müssen sie mit der anschluss
Stadt. Gerade in den letzten Jahren, in de- ständigen Angst leben, dass ihre Hütten
Ew. pro Behausung k. A. 5
nen Indiens Bedeutung als internationaler aus öffentlichem Interesse kurzfristig ge-
Wirtschaftsstandort enorm gestiegen ist, räumt werden. Sie verfügen zumeist nicht
konnte auch Mumbai an dem Aufschwung über einen eigenen Stromanschluss (auch M 10 Maßnahmen der Stadt
partizipieren. Keine Straßenecke mehr, in nicht illegal) und es sind keine befestig-
der nicht der Einfluss ausländischer Unter- ten Wege vorhanden. Oftmals fehlen öf- „Die Gegenmaßnahmen der Stadtverwal-
nehmen oder auch die wachsende Kauf- fentliche Infrastruktureinrichtungen völ- tung reichen von der Legalisierung illegal
kraft der Menschen zu spüren wäre.“ lig. So ist es keine Seltenheit, dass sich besetzter Flächen über mehrere ‚Slumauf-
in einer Marginalsiedlung in Mumbai der wertungsprogramme‘ bis hin zu Zwangs-
Straßenverlauf von heute auf morgen än- räumungen … Bis zu 80 000 illegale Hüt-
M 6 Mumbai, Stadt der Gegensätze dert, weil irgendeine Hütte zusammen- ten werden jährlich zwangsgeräumt oder
fiel und/oder über Nacht neue Hütten auf demoliert, nur um dann an anderer oder
„In keiner Metropole Indiens ist die Dis- dem (Trampel-)Pfad errichtet wurden … auch an der gleichen Stelle einige Tage
krepanz zwischen Reichtum und unvor- Zwar wurden in manchen Marginalsied- später wieder neu aufgebaut zu werden.
stellbarer Armut so ausgeprägt, so maß- lungen durch Eigenleistung der Bewoh- Es ist keine Seltenheit, dass Hüttenbe-
los wie in der reichsten Stadt des Sub- ner eigene Produktionsstätten geschaf- wohner innerhalb weniger Jahre ihre Be-
kontinentalstaates. Den schätzungsweise fen. Allerdings befinden sich die meisten hausung sieben- oder achtmal wieder auf-
12 000 Dollarmillionären … stehen – nach Marginalsiedlungen in den Händen so ge- bauen müssen.“
amtlichen Angaben – knapp 6,5 Millio- nannter ‚Slum Lords‘, die … Schutzgelder
nen Marginalbewohner … gegenüber: bei den Bewohnern erpressen, unrecht-
das sind 54,1 % der Bevölkerung! … In mäßige ‚Mieten‘ eintreiben (obwohl ihnen
Mumbai [lebt] die Mehrzahl der Margi- die Flächen gar nicht gehören, sondern
nalbewohner noch immer in Squatter- das Hüttenviertel illegalen Charakter hat),
siedlungen … Das bedeutet nicht allein Wasser aus Tanks zu überhöhten Preisen
ein Wohnen in überwiegend einräumigen an die Einwohner verkaufen und den Ge-
fensterlosen Hütten … , sondern, wichti- winn der dortigen Produktionsstätten in
ger, das weitgehende Fehlen [der Befrie- die eigene Tasche stecken.“
digung] von Grundbedürfnissen.“

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Entwicklungsländer • Städtische Räume – Probleme und Ansätze nachhaltiger Stadtentwicklung

M 11 Im informellen urbanen Sektor Beschäftigte in ausgewählten Ländern

Jahr Anteil informeller Tätigkeit an Frauen Männer


der Gesamtbeschäftigung (%) (%) (%)
Lateinamerika
Mexiko 1999 29,7 28,0 30,8
Peru 1999 71,5 66,7 77,5
Brasilien 1997 27,3 27,1 27,4
Argentinien 2000 40,6 43,9 35,5
Subsahara-Afrika
Ghana 1997 78,5 – –
Kenia 1999 36,4 29,5 43,9
Südafrika 2001 31,0 38,2 25,7
Asien
Indien 2000 51,3 49,3 53,7
Thailand 2000 47,1 46,9 47,4
Indonesien 1999 39,4 44,4 36,5 M 12 Chilenische Schuhputzer

Der informelle Sektor als Über- Häufig wird die Bezeichnung „informell“ auch
lebensstrategie mit „illegal“ gleichgesetzt. Dies ist jedoch eine
Diskriminierung für jeden „Informellen“, der
Trotz ihres beherrschenden Übergewichts kön- in dieser Tätigkeit die einzige Möglichkeit sieht,
nen die Metropolen und Großstädte der Entwick- sich und seine Familie zu ernähren.
lungsländer die Hoffnungen der Neuankömm-
linge oft nicht erfüllen. Die Aufnahmefähigkeit Merkmale des informellen Sektors
der lokalen Industrie und des öffentlichen Terti- Einige Merkmale des informellen Sektors zeigen,
ären Sektors reicht nicht aus, um der Masse der warum er auch zukünftig in den Entwicklungs-
Zuwanderer Arbeit zu bieten. Die meisten su- ländern bedeutsam sein wird. Dazu zählen:
chen deshalb ein Auskommen im so genannten – geringe Eintrittsschranken,
informeller informellen Sektor. Man spricht deshalb auch – Verwendung lokaler Ressourcen,
Sektor (G) vom informellen Sektor als einer „Ökonomie der – kleine Betriebsgrößen,
Mehrheit“ in den Entwicklungsländern. – Vorherrschen von Familienunternehmen,
– Einsatz arbeitsintensiver, angepasster Techni-
Als informell bezeichnet man jene wirtschaft- ken,
lichen Tätigkeiten, die keinem geregelten Ar- – Möglichkeit zum Erwerb der benötigten Fer-
beitsverhältnis unterliegen, von der Steuer nicht tigkeiten außerhalb des formellen Schulsys-
erfasst werden und auch keinen sozial- und ar- tems.
beitsrechtlichen Schutz genießen. Bei uns würde
man von „Schattenwirtschaft“ oder „Schwarzar- A 6 Beschreiben Sie in einem kurzen Aufsatz den
beit“ sprechen. Beide Begriffe treffen aber nicht möglichen Alltag eines gleichaltrigen Mädchens
die Verhältnisse in den Entwicklungsländern. bzw. Jungen in einem Slum von Mumbai.
Während bei uns die Einkünfte aus der Schatten- A 7 Erläutern Sie, warum der informelle Sektor für
wirtschaft meist Neben- oder Zuerwerb sind, gilt eine immer größer werdende „Schicht der Unge-
der informelle Sektor in den Entwicklungslän- sicherten“ die einzige Möglichkeit der Existenz-
dern als Überlebensökonomie. Zum informel- sicherung darstellt.
len Sektor zählen z. B. Straßenhändler, Rikscha- A 8 Nach Auffassung von Experten könnte der in-
fahrer, Müllsammler, ambulante Handwerker, formelle Sektor entwicklungsfördernd genutzt wer-
Schuhputzer oder fliegende Händler in Zügen. den. Erörtern Sie mögliche Wege dazu.
M 11 Eberhard Rothfuß/Veronika Geographieunterrichts, Bd. 8/I: [1] nach Martin Coy/Frauke
Deffner: Informeller urbaner Entwicklungsländer I. Köln: Aulis Kraas: Probleme der Urbanisie-
Sektor – ungesicherte Ökonomie 2007, S. 213 rung in den Entwicklungsländern.
der Mehrheit in Lateinamerika, In: Petermanns Geographische
Afrika und Asien. Mitteilungen, 147 Jg., H. 1. Gotha:
In: Dieter Böhn/Eberhard Perthes 2003, S. 36 – 37
Rothfuß (Hrsg.): Handbuch des

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Innerstädtische Fragmentierung

Wie bereits angesprochen, erfasst die


Abwanderung aus dem ländlichen Raum nicht
alle Bevölkerungsgruppen im gleichen Maß. Es
kommt vielmehr zu einer selektiven Wanderung,
d. h. die wirtschaftlich aktiven Jahrgänge zieht
es in die Stadt, wodurch sie somit für die Um-
setzung von Entwicklungsprojekten im ländli-
chen Raum fehlen. Dies trägt entscheidend zu
einer Verschärfung der räumlichen Disparitä-
ten in den Ländern bei. Aber auch in den Städ-
ten selbst kommt es zu einer sozialen und räum-
lichen Segregation.

Soziale Fragmentierung M 13 Zweigeteilte Gesellschaft


Besonders in den Megastädten der Entwick-
lungsländer ist die Polarisierung der Gesell- Räumliche Fragmentierung
schaft in Arm und Reich am weitesten fortge- In jüngerer Zeit entstehen in den Metropolen der
schritten. Wie unter einem Vergrößerungsglas Entwicklungsländer neue Stadtstrukturen, die Disparitäten
werden hier die Gegensätze in räumlich unmit- als Wohlstandsenklaven zur Vertiefung der städ- Segregation
telbarer Konzentration besonders deutlich. Ih- tischen Fragmentierung beitragen: Gated Com- Fragmentierung
ren sichtbaren Ausdruck findet die soziale Po- munities, Bürostädte und Shoppingcenter.
larisierung in den imposanten Hochhäusern Gated Communities sind exklusive, für die Öffent- Gated Communities
mit ihren glitzernden Fassaden und den Vorort- lichkeit nicht zugängliche Wohnanlagen oberer
villen der Reichen mit Swimmingpools, Spring- Einkommensgruppen. Sozialräumlich deutlich
brunnen und Marmorstatuen in den künst- von anderen Stadtgebieten abgegrenzt, liegen sie
lich bewässerten Vorgärten einerseits sowie den sowohl im innerstädtischen als auch im suburba-
Elendssiedlungen aus Pappe und Wellblech der nen Raum. Sie entstehen aus Angst vor Krimina-
Marginalbevölkerung in unmittelbarer Nach- lität und verdeutlichen, wie privatkapitalistische
barschaft andererseits. Am untersten Ende der Tendenzen inzwischen in die Entwicklungslän-
sozialen Skala stehen die so genannten „pave- der-Metroplen Einzug halten.
ment dwellers“, Obdachlose, die ohne ein Dach Bürostädte und Shoppingcenter. Gleiches gilt für
über dem Kopf an Straßenrändern und auf Bür- die nach US-amerikanischem Vorbild in allen
gersteigen hausen. Einige von ihnen besitzen Metropolen der Entwicklungsländer sich breit
vielleicht noch eine Plane, die sie nachts auf- machenden Bürostädte und Shoppingcenter.
spannen können, andere hingegen breiten ein- „Mit allen modernen Infrastrukturen ausge-
fach Pappkartons auf den Gehsteigen aus und stattete Büroflächen, räumliche Nähe der sich
schlafen darauf. ansiedelnden Firmen zueinander sowie im Ver-
Im Zuge der Globalisierung vergrößern sich die gleich zu den traditionellen Innenstadtstand-
sozialen Disparitäten weiter. Eine Ursache ist orten verbesserte Sicherheitsstandards sind die Globalisierung
die Konzentration national und international wichtigsten Anreizfaktoren für die … segregier-
bedeutender Unternehmen in den Metropolen. ten Bürostädte. Hier konzentrieren sich die be-
Sie lassen spezialisierte und überdurchschnitt- sonders dynamischen Wirtschaftsbereiche der
lich gut bezahlte Berufsgruppen entstehen. Auf produktionsorientierten Dienstleistungen, des
der Strecke bleibt die Masse der Armen, die al- Finanzsektors und der strategischen Abteilun-
lenfalls im informellen Sektor ein bescheidenes gen internationaler Unternehmen. Die neuen
Einkommen findet. Diese verschärfte soziale Bürostädte repräsentieren die Vorposten der
Polarisierung birgt die Gefahr in sich, dass die Globalisierung in den Metropolen der Entwick-
Metropolen wirtschaftlich, sozial und politisch lungsländer.“ [1]
unkontrollierbar werden – sind doch politische
Umstürze und Revolutionen erfahrungsgemäß A 9 Erläutern Sie den Begriff „fragmentierte Stadt“.
oft ein Ausdruck massiver Unzufriedenheit und A 10 Erläutern Sie, warum besonders die Fragmen-
sozialer Ungerechtigkeit. tierung ein urbanes Problem darstellt.

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Entwicklungsländer • Städtische Räume – Probleme und Ansätze nachhaltiger Stadtentwicklung

Lösungsansätze einer nachhaltigen Unverzichtbar ist, dass bei allen Fragen der städ-
Stadtentwicklung tischen Entwicklung die „drei Dimensionen der
Nachhaltigkeit“ das planerische Leit-
Zusätzlich zu den auf den Vorseiten geschilder- prinzip abzugeben haben: die soziale, ökonomi-
ten wirtschaftlichen und sozialen Problemen sche und ökologische Dimension. Entsprechend
kommen gravierende ökologische, wie sie in der komplex und schwierig sind die Planungs- und
Übersicht M 14 aufgelistet sind. Solche komple- Steuerungskonzepte. Mit einfachen Sanierungs-
xen Probleme stellen spezifische Anforderun- programmen allein lässt sich jedenfalls den städ-
gen an die städtischen Verwaltungen. Die bei tischen Problemen nicht beikommen. Zu be-
uns erprobten Lösungsstrategien können dabei achten ist auch, dass eine Steuerung „von oben“
jedoch nicht ohne Weiteres übernommen wer- zunehmend durch eine Steuerung „von unten“
den, da in den Entwicklungsländern in der Re- ergänzt wird. Die Bürger und Bürgerinnen müs-
gel ganz andere sozioökonomische und politi- sen sowohl bei den Entscheidungen (Prinzip der
sche Rahmenbedingungen vorliegen. Partizipation) als auch bei der Kontrolle (Prinzip
Allgemeiner Konsens besteht jedoch hinsicht- des Monitoring) einbezogen werden, denn nur
nachhaltige Stadt- lich der Forderung nach einer nachhaltigen so lässt sich eine Akzeptanz und eine aktive Be-
entwicklung (G) Stadtentwicklung, wie sie u. a. auf der Konferenz teiligung der unmittelbar Betroffenen erreichen,
für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro und ohne eine wirksame politische Partizipation
1992, der lokalen Agenda 21 und der Charta sind die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit
von Aalborg 1994 gefordert wird. Besonders die gefährdet. In die Prozesse müssen schließlich
Überlegungen der Charta von Aalborg sind in- auch weitere Akteure einbezogen werden, wie
zwischen zum Orientierungsraster einer öko- z. B. lokale Förderinstitutionen (z. B. Selbsthilfe-
Stadtplanung logisch und sozial verträglichen Stadtplanung gruppen) oder Träger der Entwicklungszusam-
in den Entwicklungsländern (und den Indust- menarbeit aus dem Norden (z. B. GTZ, NGOs),
rieländern) geworden. die ohnehin in den Städten der Entwicklungs-
länder bereits eine namhafte Rolle spielen.

M 14 Städtische Probleme in Entwicklungsländern


Globalisierung

Wachstum, Expansion, Umbau Sozioökonomische Probleme


• Flächenexpansion • soziale Verdrängungsprozesse
• Bevölkerungswachstum: nationale und internatio- • fehlende Arbeitsplätze im formellen Sektor
nale Arbeitsmigration, natürliches Wachstum • Ausweitung des informellen Sektors
• funktionaler Umbau • inner- und transurbane Interessenkonflikte
• Expansion der informellen Bebauung • Zunahme von sozioökonomischen Disparitäten
• Verfall der Innenstädte • sozialräumliche Fragmentierung: Expansion von
• Entstehung diffuser Zentralität Marginalvierteln, Bildung von Gated Communities
• Transformationsprozesse und Strukturwandel • Zunahme von Armut
• zunehmendes Landnutzungsmosaik • soziale Desorganisation, Unruhen, Kriminalität

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Politikversagen

Überlastungs- und Umweltprobleme Anforderungen an die Stadtpolitik


• Flächen„verbrauch“ und -inhomogenität • Notwendigkeit holistischer* Ansätze
• Bodenversiegelung • Wohnraumversorgung
• Grundwasserabsenkung • soziale Infrastruktur: Energie, Wasser, Gesundheit,
• Belastung durch Müll und Abwasser Bildung, Verkehr (ÖPNV), Sicherheit
• Luftverschmutzung (Industrie, Verkehr) • stadthygienische Infrastruktur: Müll, Abwasser
• verstärkte Anfälligkeit für Umweltkatastrophen • Umwelt- und Ressourcenschutz
• zunehmende Landsenkung und • Krisenprävention, Verwundbarkeitsreduzierung
Überschwemmungen • Regierbarkeit – Governance – Partizipation (vgl. S. 336)
• Stärkung der Zivilgesellschaft

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Quelle: 978-3-623-29260-1 FUNDAMENTE Geographie, Geographisches Grundbuch, Schülerbuch, Oberstufe, S. 324 - 331

M 15 Szenarien der Stadtentwicklung in den Entwicklungsländern

formelle
Stadtbereiche

A 11 Ermitteln Sie wesentliche Leitgedanken der A 12 a) Erläutern Sie die drei Modelle.
Charta von Aalborg (z. B. Internet, s. u.). A 12 b) Erörtern Sie, welches Szenario Ihrer Mei-
A 12 Die drei Szenarien von M 15 fassen die aktuel- nung nach das wahrscheinlichste ist.
len Entwicklungstendenzen und Zukunftsperspek-
tiven der Metropolen in den Entwicklungsländern
zusammen.
M 14 nach ebenda, S. 34 * holistisch = ganzheitlich M 15 ebenda, S. 40 Charta von Aalborg
www.aalborgplus10.dk/media/
charter_german.pdf

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Quelle: 978-3-623-29700-2 TERRA Entwicklungsländer im Wandel, Themenband Leben in der "Einen Welt", Oberstufe, S. 56 - 63

Nairobi: Slum „Kibera“ am Stadtrand und moderne Hochhäuser im Zentrum der Stadt

Verstädterung: Erscheinungsformen,
Ursachen, Probleme
Arm und Reich in Nairobi Runda ist ein exklusives Wohnviertel für schät-
„Es ist Samstag gegen 21 Uhr, und in Kibera zungsweise 4 000 Menschen. Eine Schranke blo-
schwirrt die Luft vor Geschäftigkeit … Man ist ckiert die einzige Zufahrtsstraße..., die Patrouil-
im besseren Teil von Kibera, dem alten Wohn- lenfahrzeuge privater Sicherheitsfirmen stehen
quartier am Rande des riesigen gleichnamigen parat. Straßenlampen, gepflegte Straßen mit
Slums (mit seinen 700 000 Menschen). Hier Gehwegen und hohen Hecken, hinter denen
gibt es ein paar Asphaltstraßen und herunter- parkähnliche Gärten mit Villen liegen … Wohl-
gekommene Steinhäuser aus den [19-]siebzi- habende Kenianer, ein paar Minister und viele
ger Jahren. Wer hier wohnt, … der gehört zur Europäer wohnen hier … ‚Man hat hier ein leich-
unteren Mittelschicht. Er muss einen Job ha- tes, angenehmes Leben und … wird verschont
ben, sonst kann er die Miete nicht bezahlen … von der alltäglichen Kriminalität‘, meint ein
Entwicklung der Einwohner- Kenneth Opuko … arbeitet in einer Werkstatt. westlicher Diplomat, der hier für 1 500 Euro im
zahl Nairobis (Mio. Ew.) Der 28-jährige Single wohnt mit seiner Schwes- Monat ein Haus mit Garten gemietet hat …
ter in einer vier Quadratmeter großen Einzim-
Nairobi – Weg zu einer merwohnung im guten Stadtteil von Kibera. Am Wege zum Githagoro-Slum steht der Wach-
schwarzafrikanischen Gerade hat er noch eine Kusine vom Lande auf- mann Fred Barraza an einem Bach und wäscht
Metropole: genommen, die erst ein paar Monate in Nai- seine Uniform: Das sei billiger. Wasser müsse
– gegründet Ende der robi arbeitet und die im Kibera-Slum wohnte, er im Slum kaufen. Seine Frau hat er in der
1890er Jahre als briti- es dort aber nicht aushielt. Verschlammte, Provinz gelassen, mit ihr in Nairobi zu wohnen
sches Lager für Eisen- rutschige Wege, die ständige Angst vor Über- wäre zu teuer. Nach 22 Uhr, sagt Barraza, könne
bahnarbeiter fällen, die Ratten in den Hütten, die offenen, man den Weg von Runda nach Githagoro nicht
– ab 1905 Hauptstadt des stinkenden Abwasserkanäle … Es gibt keinen benutzen, Räuber lauerten am Wege … Aber
britischen Protektorats Strom, keine Straßenlampen. seinen Umzug nach Nairobi bereut er nicht:
Ostafrika bzw. der Kolo- Er zahlt für sein Zimmer umgerechnet 20 Eu- ,Zu Hause wäre ich Bauer. Ich hätte höchstens
nie Kenia ro – ein Fünftel seines Monatseinkommens. 15 Säcke Mais im Jahr als Ernte.‘ Nun ist er froh,
– seit 1963 Hauptstadt Der Raum ist in einem Atriumhaus, in dem er den Job als Wachmann ergattert zu haben.“
des unabhängigen Staa- sich mit sechs anderen Mietparteien Klo, Du- Christoph Link: Arm und Reich nebeneinander in Kenias Haupt-
stadt. In: Stuttgarter Zeitung vom 09. 02. 2005. Stuttgart: 2005
tes Kenia sche und Küche teilt …

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Quelle: 978-3-623-29700-2 TERRA Entwicklungsländer im Wandel, Themenband Leben in der "Einen Welt", Oberstufe, S. 56 - 63

Das Tempo der !Verstädterung nimmt welt- Verstädterung in Entwicklungsländern Überforderung:


weit immer mehr zu. Gegenwärtig wächst die „Die Gleichzeitigkeit des Wachstums der städ- „Auch für europäische
Weltbevölkerung um rund 80 Mio. pro Jahr, wobei tischen und ländlichen Bevölkerung in den Metropolen würde ein
über 75 % dieses Zuwachses auf die Städte entfal- ärmsten Staaten muss zu einer Überforderung Wachstum in dieser
len – ein Betrag, welcher der Gesamtbevölkerung der vorhandenen Infrastruktur ... führen … Größenordnung [der
Frankreichs entspricht. Es verwundert daher auch nicht, dass die Metropolen in den Ent-
Aber dieses Wachstum der städtischen Bevölke- Stadtverwaltungen in den Staaten [der Drit- wicklungsländern] eine
rung weist starke regionale Unterschiede auf. In ten Welt] es erst gar nicht probieren, das städ- fast nicht lösbare Aufgabe
den entwickelten Ländern schwächt sich der Ver- tische Wachstum planerisch und infrastruktu- darstellen. Berlin müsste
städterungsprozess deutlich ab. Hier leben bereits rell zu bewältigen. Auch wenn sie es wollten, in einem solchen Fall
heute über drei Viertel der Bevölkerung in urbanen so hätten sie keine Chance, denn es fehlt ih- jährlich mehr als 150 000
Strukturen. Ganz anders in den Entwicklungslän- nen an entsprechenden Ressourcen. Der Not Einwohner zusätzlich un-
dern, hier wird sich die Stadtbevölkerung in den folgend, bleibt ihnen keine andere Möglich- terbringen und versorgen,
nächsten 30 Jahren voraussichtlich verdoppeln, keit, als den Prozess weitgehend ungesteuert Hamburg oder Wien mehr
von jetzt zwei auf vier Mrd. Menschen. laufen zu lassen und auf eine Form der Selbst- als 80 000 … Keine dieser
Aber auch bei diesem „Wachstum des Städ- regulierung zu hoffen. Squattersiedlungen … , Städte würde das schaf-
tewachstums“ muss differenziert werden. In illegal und im „self help“ errichtet, stellen oft fen …“
Lateinamerika – !Verstädterungsgrad zurzeit die einzigen realen Unterbringungsmöglich- Ebenda, S. 8

75 % – ist eine weitere Zunahme der städtischen keiten der neu Hinzugekommenen dar …“
Bevölkerung zulasten der ländlichen Herkunftsge- Heinz Fassmann: Landflucht – Dritte Welt. In: Praxis Geogra-
phie, 34. Jg, H. 7 – 8. Braunschweig: Westermann 2004, S. 7 – 8
biete nicht sehr wahrscheinlich. Anders in Afrika
und Asien, wo erst rund ein Drittel der Bevölkerung
in Städten lebt. Da hier die rurale Bevölkerung in Arbeiten Sie aus den Materialien dieser Doppel-
den meisten Ländern nach wie vor mit großer Dy- seite wesentliche Erscheinungsformen des Ver-
namik wächst (um 2 – 4 % pro Jahr), ist für einen städterungsprozesses in den Entwicklungslän-
entsprechenden „Nachschub“ bei der !Land- dern heraus.
flucht gesorgt, sodass in den nächsten Jahrzehn- Charakterisieren Sie Unterschiede zwischen den
ten mit jährlichen Wachstumsraten von 4 – 6 % bei aktuellen Verstädterungsprozessen in Latein-
der städtischen Bevölkerung zu rechnen ist. amerika, Afrika und Asien.

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Quelle: 978-3-623-29700-2 TERRA Entwicklungsländer im Wandel, Themenband Leben in der "Einen Welt", Oberstufe, S. 56 - 63

Afrika – Ursachen der Landflucht


„Vereinfacht dargestellt resultiert Landflucht
in Afrika aus einem anhaltend hohen Bevöl-
kerungswachstum und folglich einer ausge-
sprochen jungen Bevölkerung, … dem Flä-
chendruck auf dem Land, der relativen und
absoluten Armut, dem Fehlen nichtlandwirt-
schaftlicher Arbeitsplätze sowie der Tatsache,
dass das monetäre Einkommen der Familien
aus der Landwirtschaft bzw. begrenzt verfüg-
baren Lohnarbeit auf dem Land unzureichend
ist …
Es wandern ein oder mehrere Familienmit-
glied(er) ab, die auf Grund ihrer Fähigkeit oder
Ausbildung die besten Chancen auf einen Ar-
Pull-Faktor: Hoffnung auf einen Arbeitsplatz in der beitsplatz haben, und diese werden anfäng-
Stadt lich von ihren Familien monetär oder durch
das Herstellen von Kontakten unterstützt.
Ursachen der Verstädterung Die Wichtigkeit von (ethnischen) Netzwerken
ist hoch und gerade für Migranten spielen
Geburtenüberschuss und Zuwanderung Verbindungen zu Verwandten oder Bekann-
„An erster Stelle steht das ‚natürliche‘ Eigen- ten oft eine entscheidende Rolle bei Woh-
wachstum der Stadtbevölkerung aufgrund nungs- und Arbeitssuche im formellen, aber
des Überschusses der Geburten über die auch informellen Sektor. Als Gegenleistung
Sterbefälle. Hinzu kommen die städtischen retournieren die Migranten einen Teil ihres
Nettogewinne der Migrationsbewegungen Einkommens …
zwischen Stadt und Land … Das Gewicht der Landflucht ist nicht ausschließlich eine Flucht
einzelnen Faktoren ist je nach Region unter- vor Armut und Arbeitslosigkeit, sondern zu-
schiedlich. In Entwicklungsländern – ohne nehmend auch vor Lebensstilen und Sozial-
China – ist jedoch nach wie vor das „natür- strukturen, die als beengend empfunden wer-
liche“ Wachstum der Stadtbevölkerung der den. Einen wesentlichen Beitrag leisten hierzu
Hauptfaktor … die Medien durch die Verbreitung westlicher
Die Attraktivität der Städte beruht wesent- Lebensstile und die Steigerung von Konsum-
lich auf realen und potenziellen Vorteilen wünschen …
und wird durch die Ausbreitung moderner Ein relativ neu aufgetretenes Problem, das
Massenkommunikation noch verstärkt. Die jedoch ständig an Brisanz gewinnt, ist die
Einkommensmöglichkeiten in den Städten Degradierung der ländlichen Umwelt in
der Entwicklungsländer sind oft besser, mit Afrika und die damit verbundene Umwelt-
allerdings großen Unterschieden für die ver- flucht … Die zwingenden und oft nicht rever-
schiedenen Schichten. Hinzu kommen ein in siblen Fluchtgründe sind Bodenerosion, der
der Regel besserer Zugang zu medizinischen Wegfall landwirtschaftlicher Nutzflächen
Diensten und Ausbildungsmöglichkeiten. und Wasserknappheit …“
Dadurch werden so genannte Pull-Effekte er- Ingrid Pranger: Afrika – vergebliche Suche nach ländlicher Idylle.
In: Praxis Geograpie, a. a. O., S. 26 – 27
zeugt. Hinzu kommt der Push-Effekt defizitä-
rer ländlicher Entwicklung …“
Ingomar Hauchler u.a. (Hrsg.): Globale Trends 2002. Frankfurt
am Main: Fischer Taschenbuchverlag 2001, S. 103

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Quelle: 978-3-623-29700-2 TERRA Entwicklungsländer im Wandel, Themenband Leben in der "Einen Welt", Oberstufe, S. 56 - 63

Modell des demographischen Übergangs Modell der Mobilitätstransformation Nach ebenda

Landflucht als Teil der Mobilitätstransforma-


tion
„Gesellschaften durchlaufen in ihrer histori- gungen der Binnenkolonisation, Land-Stadt-
schen Entwicklung unterschiedliche Phasen. Wanderungen, internationale Migrationen;
Diese Erkenntnis hat zu verschiedenen Stufen- im weiteren Verlauf nehmen zirkuläre Wande-
theorien der gesellschaftlichen Entwicklung rungen (Saisonarbeiter, Pendler) und Umzüge
von der vorindustriellen Agrargesellschaft zur zwischen Städten oder innerhalb der Städte zu,
modernen Freizeit- und Dienstleistungsge- während sich andere Mobilitätsströme schon
sellschaft geführt. Jüngere Modelle versuchen wieder abschwächen.
auch, den Verlauf des Bevölkerungswachstums Dies gilt (auch) für die Landflucht, die ein wichti-
oder die Mobilität der Bevölkerung mit solchen ger Motor der Mobilitätstransformation ist. Sie
Entwicklungsstadien in Verbindung zu bringen. wird in ihrer Spätphase aber bedeutungslos. Im
Alle Länder, so setzen sie voraus, würden – über Gegensatz dazu ist Stadtflucht ein Phänomen,
kurz oder lang – einen regelhaften Prozess der das erst in sehr entwickelten Gesellschaften
Transformation durchmachen. auftritt und hierbei häufig von zirkulären Be-
In vorindustriellen Agrargesellschaften ist die wegungen (Pendler) begleitet wird.“
Mobilität noch gering, dann entstehen Bewe- Axel Borsdorf: Landflucht als Teil der Mobilitätstransformation.
In: ebenda, S. 12

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Quelle: 978-3-623-29700-2 TERRA Entwicklungsländer im Wandel, Themenband Leben in der "Einen Welt", Oberstufe, S. 56 - 63

Moskau
Toronto London Rhein- Shenyang
Peking
Ruhr ºstanbul (Beijing) Tokyo
Los Angeles Paris Kabul
New York Teheran Seoul
Lahore
Chicago Tianjin Osaka
Bagdad Delhi
Dhaka
Mexiko Wuhan
Kairo Ahmedabad Kalkutta Shanghai
City Riad Surat Chittagong Hongkong (Xianggang)
Hyderabad Yangon Hanoi

i
ch
Guatemala City Lagos

ra
Jiddah Pune Manila

Ka
Bombay
Stadtbevölkerung (Mumbai) Bangkok Ho Chi Minh

er
(Mio. Ew.) Abidjan

lo
Bogotá Madras

ga
30

n
25

Ba
20 Kinshasa
15 Bandung
10 Luanda
5 Belo Horizonte Jakarta
Lima
Rio de
5 – < 8 Mio. Ew. São Janeiro
Paulo
8 – < 10 Mio. Ew. Santiago

> 10 Mio. Ew.


Buenos Aires
0 4 000 km

Megastädte mit 5, 8 und 10 Mio. Ew. im Jahre 2015


Nach UN 2002, in Frauke Kraas: Megacities as Global Risk Areas. In: Petermanns Geographische Mitteilungen, 147. Jg., H. 4. Gotha: Perthes
2003, S. 8 (Kartographie: Regine Spohner, leicht verändert)

Megastädte und Metropolen


„Metropole“ (griech.): Als Ergebnis des Verstädterungsprozesses sind Mit der Bevölkerungszahl allein und ihrem Zu-
Haupt-, Weltstadt weltweit riesige Bevölkerungsballungen ent- wachs lässt sich das Problem der !Metropo-
Megastadt/Megalopolis: standen, die heute mit Begriffen wie Megastadt lisierung jedoch nur unzureichend erfassen. Viel
Formalstatistische oder !Megalopolis bezeichnet werden. Be- aussagekräftiger ist im Hinblick auf die Entwick-
Abgrenzung von Bevöl- sonders in Entwicklungsländern ist dabei der lungsperspektiven eines Landes die funktio-
kerungsballungen mit Konzentrationsprozess so weit fortgeschritten, nale Primacy. Darunter versteht man die hohe
einer zugrunde gelegten dass oft über 25 % der Gesamtbevölkerung in Konzentration von politisch-administrativen,
„5-Millionen-Untergrenze der Hauptstadt leben. wirtschaftlichen, sozialen sowie kulturell-wis-
bei einer Mindestdichte von Das bevölkerungsmäßige Übergewicht dieser senschaftlichen Funktionen und insbesondere
2 000 Ew./km² sowie einer !Metropole oder Primate City wird als de- auch von Macht- bzw. Entscheidungsträgern in
monozentrischen Struktur“ mographische Primacy bezeichnet. Ihr Indikator der jeweiligen Metropole. Durch deren über-
Dirk Bronger: Megastädte. ist der prozentuale Anteil der Metropole an der proportionale Ausstattung mit Einrichtungen
In: Geographische Rundschau,
48. Jg., H. 2, Braunschweig: gesamten Landesbevölkerung. Ein weiterer ge- der !Infrastruktur (z. B. Ausbildungsplätzen,
Westermann 1996, S. 74 – 75
bräuchlicher Indikator ist der Index of Primacy, Krankenhausbetten, Kommunikationssystemen
der als Quotient zwischen der größten und usw.) und Arbeitsplätzen im !Sekundären so-
zweitgrößten Stadt eines Landes definiert ist. wie !Tertiären Sektor nimmt in einem Prozess
der Selbstverstärkung das Wohlstandsgefälle zu
den übrigen Regionen des Landes ständig zu.

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Quelle: 978-3-623-29700-2 TERRA Entwicklungsländer im Wandel, Themenband Leben in der "Einen Welt", Oberstufe, S. 56 - 63

Einwohnerzahlen ägyptischer
Raumbeispiel Ägypten M 30i t t e l m 32 e e r Großstädte (in Mio.)
„Im abgebildeten Ranking [der Großstädte Alexandria Port Said 1917
l d
Ägyptens – Grafik 13] wird der extreme Grö- N i e 1976
l

Suez-K
Al-Mansurah t 1996
ßenabstand deutlich, obwohl die Metropol-
2006 (Schätzung)

a
region keine administrative Einheit bildet. Sie Tanta

anal
besteht primär aus drei zusammengewachse- 0 50 100 150 km
Mio. Einw. Shubra al-Khaima
nen Städten, die zu verschiedenen Gouverno- Kairo Suez
8 30
raten gehören, nämlich Kairo (8 Mio. Ew.), Giza Gise

Go
(2,5 Mio.) und Shubra Al-Kheima (1 Mio.) …

lf
Das quantitativ-statistische Merkmal der Be- 7

vo
völkerungskonzentration korrespondiert bei

n
L

Su
den meisten Megastädten in Entwicklungs-

b
l
6

Ni
i

ez
ländern mit deren funktionaler „Primacy“ im

i
b
zentralörtlichen System des Landes. Für Kairo

s
y
5

c
trifft dies uneingeschränkt zu, weil die staat-
s 28

h
lichen Strukturen und das Städtesystem des c
4

e
Landes hochgradig zentralisiert sind. Selbst
h

in der ägyptischen Umgangssprache findet

W
e

diese Bedeutung darin Ausdruck, dass die 3


Asyut

ü
Hauptstadt mit demselben Namen bezeich-
W

s
net wird wie das ganze Land, als Masr. 2

t
ü

Ihre herausragende Bedeutung für nationale

e
s

Entwicklungen gewinnen Megastädte viel-


t

1 26
fach nicht nur aus der Konzentration von zen- Deutschland: ausgewählte
e

tralörtlichen Funktionen, sondern auch durch demographische Daten


0 Luxor
die oftmals prekäre Nachbarschaft von natio- Ende 2005
Alexandria

Al-Manurah
Kairo

Gise
Shubra
al-Khaima
Port Said
Suez
Luxor
Asyut

Tanta

nalem Machtzentrum und politisch sensiblen Ni


l
Gesamtbevölkerung:
Krisen- und Problemgebieten in den Margi- 82,438 Mio. Ew.
nalvierteln. Diese räumliche Nähe trägt dazu Verstädterungsgrad: 87 %
bei, dass Ereignisse in der Hauptstadt viel un- Ägyptische Großstädte und ihre Bevölkerungsent- Die zehn größten Städte:
mittelbarer die politische Stabilität gefährden wicklung Berlin 3 395 189
können als Vorkommnisse an der Peripherie. Nach Populastat 2003 und World Gazetteer 2006; in ebenda, S. 13 Hamburg 1 743 627
So wurden die informellen Wohnsiedlungen München 1 259 677
in Kairo in den letzten Jahren wiederholt zu Köln 983 347
Schauplätzen gewaltsamer Auseinander- Frankfurt a. Main 651 899
setzungen zwischen militanten Islamisten Stuttgart 592 569
und dem staatlichen Sicherheitsapparat. Bis Dortmund 588 168
heute bilden Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Essen 585 430
Massenarmut und schlechte Versorgungslage Düsseldorf 574 514
den Hintergrund für latente Unruheherde in Bremen 546 852
der Hauptstadt.“ Nach © Statistisches Bundesamt
Deutschland, Wiesbaden 2007,
Detlef Müller-Mahn/Montasser Abdelghani: Urbanisierung in auf: http://www.destatis.de/cgi-
Ägypten. In: Geographische Rundschau 58, 2006, H. 11. S. 13 bin/gv2000

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Quelle: 978-3-623-29700-2 TERRA Entwicklungsländer im Wandel, Themenband Leben in der "Einen Welt", Oberstufe, S. 56 - 63

Westeuropa

Nordamerika Osteuropa und GUS

Ost-
asien
West-
Südasien
Nordafrika asien

Südost-
übriges asien
Lateinamerika Afrika
und Karibik

Australien
und Ozeanien

Stadtbevölkerung
(Mio. Ew.)
500

200
100 Stadtbevölkerung
0 4 000 km
Slumbevölkerung

Verslumung weltweit Randstädtische Hüttensiedlung in Kuala Lumpur


Nach Le Monde diplomatique/taz Verlags- und Vertriebs GmbH: Atlas der Globalisierung. Berlin 2006, S. 35

Marginalisierung
marginal (lat.): am Rand Erschreckender Habitat-Bericht Nahezu jeder sechste Mensch muss dort täg-
liegend, stehend „In Vancouver geht am Freitag die HABITAT- lich um sein Überleben kämpfen.
Konferenz zu Ende, die dritte Sitzung des Welt- Beispiel Bombay: Die 18-Millionen-Metro-
städteforums (World Urban Forum). Vertreter pole ist vor allem für ihre Filmindustrie und
von Regierungen und unabhängigen Organisa- ihr pulsierendes Wirtschaftsleben bekannt.
tionen trafen sich, um über die Probleme der Doch fast jeder dritte Bewohner der indischen
zunehmenden Verstädterung auf dem Plane- Stadt lebt in einem Elendsquartier. 42 Prozent
ten zu beraten. der Familien teilen sich je zehn Quadratmeter
Bereits am Montag wurde der UN-Habitat-Be- Wohnraum. 95 Prozent haben keinen Wasser-
richt veröffentlicht. Und der zeichnet ein düste- anschluss und benutzen öffentliche Toiletten.
res Bild vom Wachstum der Städte: Kinder sterben an Durchfall, Lungenentzün-
Ab dem Jahr 2007 werden erstmals mehr Men- dung und Malaria …
schen in Städten als auf dem Land leben – ein Nicht anders geht es vielen Stadtbewohnern in
Großteil von ihnen unter menschenunwürdi- Lateinamerika, Asien oder Afrika. Dabei steht
gen Bedingungen. Eine Milliarde Menschen dieser Trend zur Verelendung der Stadtbevöl-
leben bereits heute in Slums. Sie sind schlecht kerung erst am Anfang …
ausgebildet, haben weniger Chancen auf einen Schon heute stellen besonders in afrikanischen
Arbeitsplatz, leiden oft an Hunger und sterben Ländern Slumbewohner 70 Prozent der Stadt-
früher. einwohner. Dort wächst die Slumbevölkerung
Für 27 Millionen Menschen pro Jahr endet der jährlich zwischen vier und fünf Prozent …“
Traum vom besseren Leben in einem Slum. Philipp Mattheis: Slums sind weder unvermeidbar noch akzepta-
bel. In: Süddeutsche Zeitung vom 23. 06. 2006. Stuttgart: 2006
http://www.sueddeutsche.de/,wl2/wissen/artikel/951/78873/
Marginalisiert leben

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Quelle: 978-3-623-29700-2 TERRA Entwicklungsländer im Wandel, Themenband Leben in der "Einen Welt", Oberstufe, S. 56 - 63

Der in dem Habitat-Bericht verwendete Ausdruck Erlaubnis durch die Behörden oder den Land- Ökologischer Fußabdruck:
!„Slum“ steht umgangssprachlich für städti- eigentümer – illegale Behausungen. Diese rand- „Um das Ausmaß der
sche Elendssiedlungen. Sie zeigen – häufig in be- städtischen Hütten- bzw. Squattersiedlungen und Auswirkungen bestimmter
drückender Weise –, dass und wie bestimmte Be- die innerstädtischen Slums werden in dem Ober- menschlicher Lebensweisen
völkerungsgruppen in einer räumlichen, aber auch begriff Marginalsiedlungen zusammengefasst. feststellen zu können, hat
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Randexis- Zwar bietet die Abwanderung in die Städte für eine Arbeitsgruppe der Uni-
tenz leben. In Entwicklungsländern sind hiervon einzelne Migranten durchaus die Chance, die versity of British Columbia/
in erster Linie die Zuwanderer aus dem ländlichen eigene Lebenssituation zu verbessern. Wenn es Kanada die Methode des
Raum betroffen, für die sich die Hoffnungen auf ei- aber nicht gelingt, durch entsprechende Maß- ökologischen Fußabdrucks
nen existenzsichernden Arbeitsplatz nicht erfüllt nahmen die Attraktivität der ländlichen Räume entwickelt. Dieser soll
haben. Der !„Informelle Sektor“ zu verbessern und damit die !Landflucht zu den Ressourcenbedarf des
ist für sie häufig die einzige Chance, sich Zugang vermindern, ergeben sich für die betroffenen Län- Menschen bildlich in Form
zu lebenswichtigen Gütern und Einrichtungen der weitreichende Probleme. Der Zustrom in die des Flächenverbrauchs dar-
zu verschaffen. Ihre Suche nach einer Unterkunft urbanen Ballungsräume führt zur weiteren Über- stellen.“
richtet sich zum einen auf heruntergekommene lastung und verschärft die sozialen Gegensätze. Matthias Scholliers: Nachhaltige
Stadtentwicklung. In: Norbert
Viertel in den Innenstädten, die vormals von öko- Die wachsende Kluft zwischen Wohlhabenden von der Ruhren/Arno Kreus (Hrsg.):
Fundamente Kursthemen. Städ-
nomisch besser gestellten Bevölkerungsgruppen und marginalisierten Habenichtsen erzeugt Ge- tische Räume im Wandel. Gotha
bewohnt waren, von diesen aber verlassen wur- walt, die von den Behörden kaum noch wirksam und Stuttgart: Klett-Perthes
2005,. S. 94
den. Da aber nur ein Bruchteil der Zuwanderer bekämpft werden kann. Von Banden beherrschte
in diesen – im engeren Sinne als innerstädtische „No go areas“ entstehen, in die sich Polizisten
Slums bezeichneten – Elendsquartieren ein Un- nicht mehr hineinwagen. Besonders in den Groß-
terkommen findet, bauen sich viele der Migranten städten und Metropolen werden ganze Stadtteile
im randstädtischen Bereich – meist in gemeinsa- unregierbar. Experten warnen vor der „sozialen
men spontanen Aktionen und ohne rechtliche Zeitbombe Megastadt“.

Weitere Folgen der Marginalisierung Erläutern Sie den Begriff „Marginalisierung“.


„– Vernachlässigung der Jugend mit ‚Begleiter- Stellen Sie anhand konkreter Beispiele dar, was
scheinungen‘ wie z. B. drastische Steigerung dieser Begriff für den Alltag von Betroffenen be-
der Kriminalität, Brutalisierung der nach- deutet.
wachsenden Generation und wachsende Erklären Sie, warum Experten vor der „sozialen
Anfälligkeit für politischen Extremismus; Zeitbombe Megastadt“ warnen.
– wachsende Konkurrenz um Einkommens-
möglichkeiten; sinkende Bezahlung und
Abschaffung von Sozial- und Umweltstan-
dards;
– Zunahme von Prostitution, von Drogen-
konsum und -handel sowie Stärkung der
Stellung von diktatorischen ‚slum lords‘;
– wachsende Abschottung der mittleren
und höheren Schichten und Vertiefung der
sozialen Fragmentierung;
– gravierende Übernutzung der natürlichen
Ressourcen im urbanen Raum und seiner
Umgebung … mit Erhöhung des ‚ökologi-
schen Fußabdrucks‘ pro Kopf …
Die Liste ließe sich fortsetzen.“
Ingomar Hauchler u. a. (Hrsg.): a. a. O., S. 106

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Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Verstädterung in Entwicklungsländern

Historische
    Innenstadt von Mexiko-Stadt

„Monstruopolis“ Mexiko-Stadt des Abfalls – Glas, Metall, Papier, Pappe und


Plastik – werden von einer straff ­organisierten

Moloch  mit gewaltigen Umwelt- Mafia, sog. Pepenadores, aussortiert und einer
problemen Wiederverwendung zugeführt.
Der Rest wird verbuddelt. Die Erde zum
„Die genaue Zahl der Einwohner scheint keiner ­Zuschütten des Mülls wird unterdessen knapp
zu wissen. 18 Millionen sagt der eine, 22 der und muss aus immer größeren Entfernungen
nächste, ein anderer spricht von 25 Millionen herbeigeschafft werden. Eine Müllverbrennung
Menschen. Die Stadt, in der rund ein Viertel der oder systematische Kompostierung von Müll,
mexikanischen Bevölkerung lebt, gilt als die am der immerhin zur Hälfte aus organischen Stoffen
schnellsten wachsende Agglomeration der Er­ besteht, gibt es bisher nicht. Offizielle Begrün­
de. Im Jahr 2025 werden hier, so eine Prognose, dung: zu teuer.
32 Millionen Menschen leben. Oder mehr. Eine Zeitbombe ist der Giftmüll, der nur zu einem
Nacht für Nacht rollen aus allen Himmelsrichtun­ Viertel in der einzigen, 700 Kilometer entfernten
gen des Landes Tausende von Lastwagen heran Sondermülldeponie von Monterrey entsorgt wird.
und laden an der Central de Abasto, dem mit Der Rest wird unter den Hausmüll gemischt.
einer Fläche von knapp 330 ha weitläufigsten Auch die Luft ist angereichert mit Schadstoffen.
Großmarkt der Welt, mehr als 30 000 Tonnen Zwar fallen in den letzten Jahrzehnten keine
Lebensmittel ab. Der größte Teil davon wird von kadmiumverseuchten Vögel mehr vom Himmel
85 000 Händlern, Boten und Fuhrleuten in der wie Ende der [19-]achtziger Jahre. Aber immer
Stadt verteilt. Mit dem, was übrig bleibt, wird der noch werden von den 4,2 Millionen Autos und
Rest des Landes versorgt. den 30 000 Industriebetrieben jeden Tag um die
Jeden Tag scheidet Mexiko-Stadt 20 000 Tonnen 20 000 Tonnen Dreck in die Atmosphäre gebla­
Müll aus, die abgeholt und auf immer größeren sen.“
Halden abgeladen werden. Nur etwa 15 Prozent Leben in der Stadt. Lust oder Frust. Spiegel Special, Nr. 12 / 1998.
Hamburg: Spiegel-Verlag 1998, 102 f.
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Mexiko-Stadt, erbaut „im See“ Die


  städtischen
  Anfänge

Landschaftslage
    und Klima „Als die Azteken um 1300 aus dem trockenen
Norden in die Mesa central vorstießen, fanden
„Zu den grundlegenden Faktoren gehört die La­ sie zwischen den Vulkanriesen und dichten Nadel­
ge in einem abflusslosen Hochbecken, 2 250 m wäldern mehrere abflusslose Seen inmitten einer
über dem Meer, das im Osten, Süden und Wes­ blühenden Kulturlandschaft in der Hand ver­
ten von über 3 000 m hohen Bergketten umge­ schiedener Stadtstaaten. So konnten sie nur auf
ben ist. Sie werden ihrerseits von hohen Vulka­ den flachen Inseln im salzhaltigen Texcoco-See
nen überragt … Dazu kommen viele kleinere ihre Hauptstadt Tenochtitlán gründen (ca. 1345),
Vulkankegel im Becken selbst, das mit See-Ab­ die sie in anderthalb Jahrhunderten zu ­einer
lagerungen, vulkanischen Aschen und verstei­ glänzenden Metropole ausbauten … .Mit über
nerten Lavaströmen bedeckt ist … Wir befinden 60 000 Einwohnern [war sie] … im ­Vergleich zu
uns in einem tektonisch ausgesprochen labilen den meisten Städten Europas schon eine ‚Me­
Gebiet, was auch in zahlreichen Erdbeben zum gastadt‘ …
Ausdruck kommt. 1521 verwüsteten die Spanier die Stadt. Doch
Mit 19° nördl. Breite gehört Mexiko-Stadt zu das sensible Ökosystem legte die Übernahme
den Randtropen, die gekennzeichnet sind durch der aztekischen Grundstrukturen mit ihrem regel­
­einen klaren Gegensatz zwischen einer Regen­ mäßigen Netz aus Kanälen und Straßen nahe,
zeit von Mai bis Oktober und einer Trockenzeit zumal die geometrische Anlage den europäi­
im Winterhalbjahr. Die Jahresniederschläge be­ schen Vorstellungen einer Idealstadt der Renais­
tragen nur etwa 700 mm, die normalerweise als sance entgegenkam. Der nur wenige Meter tiefe
Starkregen am Nachmittag fallen … See schwoll während der Regenzeit oft so stark
Die stabile Hochdruckwetterlage im ­Winter führt an, dass große Teile der Stadt überflutet wurden.
in dem allseits geschlossenen Becken in et­ Daher wurde schon um 1440 ein etwa 16 km
wa 200 Tagen zu einer dauerhaften Inversions­ langer Deich gebaut, der den westlichen Teil des
schicht, die nur gelegentlich durch polare Luft­ Sees mit Tenochtitlán vom stärker salzhaltigen
massen unterbrochen wird.“ Ostteil trennte.“
Erdmann Gormsen: Die Stadt Mexiko – Megalopolis ohne Gren- Erdmann Gormsen: México-Stadt, faszinierende „Monstruopo-
zen? In: Erdmann Gormsen /A   ndreas Thimm (Hrsg.): Megastädte lis“. In: Geographie und Schule, 19. Jg., H. 110 (12 / 1997). Köln:
in der Dritten Welt. Mainz: Universität 1994; S. 74 – 76 Aulis 1997, S. 20

# 29440 Fundamente Stadtgographie, S.59


Flächenentwicklung
    von Mexiko-Stadt und Schrumpfen der Seenflächen
2400 Tequixquiac-
ca. 1500 1900 Tunnel 1990
Lago Lago
2400 San Juan Zumpango Lago Zumpango
Teotihuacán San Cristóbal
Pico Pico Pico
Tres Padres 2400 Tres Padres Tres Padres
3 000 Lago 3 000 Gran Canal 3000
2400
240 del Desagüe
Texcoco
Chiquihuite Chiquihuite Chiquihuite
2 730 2 730 2730
Atzacoalco Lago
Chapul- Mexico-Stadt Texcoco
tepec Tenochtitlán Mexico-Stadt
Lago
Chapultepec Chapultepec Chapultepec Texcoco
Iztapalapa Lago
2280 2 280 2280
C. de la Estrella 2400 C. de la Estrella Chalco C. de la Estrella
Coyoacán 2 450 Vulkan Vulkan 2 450 Vulkan Vulkan 2450 Vulkan Vulkan
Guadalupe Lago Guadalupe
Teuhtli Xochimilco Teuhtli Teuhtli Guadalupe
Xochimilco 2 710 2 820 2400 2 710 2820 2710 2820
2400
Berggipfel, Berggipfel,
Vulkan 0 10 20 km Vulkan 0 10 20 km 0 10 20 km
Dammweg Versalzung

H237_1_MEX_City_1500_1990.fh11 (Breite 135 mm, Höhe 65,92 mm, 14.4.2005)


Nach Hans-Jörg Sander: Mexiko-Stadt. Köln: Aulis 1983/ Peter M. Ward: Mexico City. The production and reproduction of an
urban environment. Boston: Hull 1990
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Ökologische
    Folgen der Entwässerung Bevölkerungsentwicklung
  der Metropo-
litanzone von Mexiko-Stadt
„Die Umgestaltung der Natur- und Lebensbedin­
Ew. (Mio.)
gungen im Hochtal von Mexiko seit der azteki­ 20
schen Zeit war radikal und umfassend. Die Tro­
ckenlegung des Sees von Texcoco … hat sich in

Metropolitane Agglomeration
15
mehrfacher Hinsicht als ein später Fluch Monte­
zumas erwiesen. Heute ist der Wasserhaushalt
im Hochtal so nachhaltig gestört, dass man zur 10
Trinkwasser-Versorgung der 20-Millionen-Stadt

Kerngebiet
längst auf die Nachbarräume bis hin zum mee­
5
resnahen Tiefland angewiesen ist. Selbst das
kurzfristige Ziel, die Überschwemmungsgefahr
Kernstadt
... zu bannen, wurde nicht erreicht. Im Gegenteil: 0
1900 10 20 30 40 1950 60 70 80 90 2000
Die fortschreitende Austrocknung des Hochtals
führte dazu, dass der ehemals sehr wasserrei­ Kernstadt: das engere Stadtgebiet von Mexiko-Stadt (Ciudad de
che Untergrund zusammenschrumpfte und, vor Mexico, 145 km² groß)
Kerngebiet: der Hauptstadtdistrikt (ca. 1 500 km²), er umfasst die
allem im Stadtgebiet, bis zu 10 m absackte.“ Kernstadt und die angrenzenden 15 „Bezirke“ und ist weitgehend
Hans-Jörg Sander: Umweltprobleme im Hochtal von Mexiko. In: identisch mit dem „Distrito Federal“
Geographische Rundschau, 42. Jg., H. 6,. Braunschweig: Wester- Metropolitane Agglomeration: die gesamte verstädterte Zone
mann 1990, S. 328 rund um Mexiko-Stadt (ca. 7 000 km²)
Nach Dirk Bronger: Metropolen, Megastädte, Global Cities.
Megapolisierung und Hyperurbanisierung Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S. 68

Metropolisierung
  und Zentralismus Magnet
    Mexiko-Stadt

„Wie in anderen Ländern Lateinamerikas ist der „In Mexiko bilden die Großstädte und insbe­
Urbanisierungsprozess seit den 1930er Jahren sondere die Hauptstadt die Zentren und Brenn­
durch ein starkes Wachstum der Großstädte punkte der Entwicklung: Dort ballen sich die Ar­
(Metropolisierung) bei einer gleichzeitigen Kon­ beitsplätze in Industrie, Handel und ­modernen
zentration auf wenige Zentren gekennzeichnet. Dienstleistungen. Hier konzentrieren sich die
In besonderer Weise haben sich Wirtschaftsak­ Bildungseinrichtungen, und das Qualifikations­
tivitäten und Bevölkerung in der Hauptstadt ver­ niveau der Bevölkerung liegt weit über dem der
dichtet, sodass das nationale ­Städtesystem eine ländlichen Regionen. Die Infrastruktur und die
ausgesprochen zentralistische Struktur (Primat­ bauliche Situation sind deutlich besser als auf
struktur) aufweist. Dort, wo sich die politische dem Land. Dieses konzentrierte Angebot mo­
Macht konzentriert ..., sind auch die wichtigsten derner Entwicklungsmöglichkeiten macht die
Wirtschaftsfunktionen sowie die bedeutendsten mexikanischen Großstädte zu begehrten Zielen
Einrichtungen von Kultur und Wissenschaft an­ für Migranten.
gesiedelt. Dies gilt in besonderer Weise für wirt­ Unter dem großen demographischen Druck
schaftliche Schlüsselbereiche … können die mexikanischen Städte ihre Entwick­
Wie massiv sich die Ballung in der Hauptstadt lungs- und Integrationsfunktion nur bedingt
erhöht hat, wird bereits durch deren Bevölke­ erfüllen. Seit den 1950er Jahren nimmt die Be­
rungsentwicklung deutlich: Entfielen zu Beginn völkerung in der Metropolitanregion von Mexi­
des 20. Jh.s auf Mexiko-Stadt gerade einmal 3 % ko-Stadt täglich um 800 Menschen zu, wobei
der Einwohner des Landes, waren es 1930 6 %, sich die Wachstumsdynamik inzwischen an die
1960 15 % und 1990 20 %. Bei diesen Werten Stadtränder verlagert.“
ist das weitere Einzugsgebiet von Mexiko-Stadt Gerhard Sommerhoff / Christian Weber: a. a. O., S. 195 – 196
nicht berücksichtigt.“
Gerhard Sommerhoff/Christian Weber: Mexiko. Darmstadt:
­Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 186
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Städtische Überlebensökonomie Informelle Siedlungsentwicklung

  regulierte
Das   Chaos Marginalsiedlungen
   

„Angesichts der vielen negativen Rekorde mag „Die Marginalisierung breiter Bevölkerungs­
es überraschen, dass die mexikanischen Städ­ schichten dokumentiert sich in den peripheren
te noch immer ´funktionieren´. Nach europäi­ Hüttenvierteln, die in den letzten 40 Jahren an
schen Maßstäben wären die Agglomerationen den Rändern der Großstädte wie Pilze aus dem
Mexikos wohl schon längst unter der Last ihrer Boden gewachsen sind. Mindestens ein Drittel
massiven Probleme zusammengebrochen. Trotz der Bevölkerung in den meisten mexikanischen
aller Krisenszenarien und Untergangsprognosen Großstädten stehen mit Blick auf ihre Wohn- und
entwickeln die mexikanischen Großstädte, selbst Einkommensverhältnisse am Rande der Gesell­
Mexiko-Stadt, in einigen Fällen sogar eine be­ schaft. Bevölkerungsexplosion und Migra­tion ha­
achtenswerte Dynamik. Umweltverschmutzung, ben zu einer massiven Ausweitung der randstäd­
Armut und Kriminalität sind nur eine Seite des ur­ tischen Elendsquartiere geführt, die von einem
banen Mexiko. Daneben halten eine große Soli­ städtischen Standard hinsichtlich eines Wasser-
darität, eine beeindruckende Kultur der Selbsthil­ und Kanalanschlusses weit entfernt sind.
fe und ein beachtliches Improvisationsvermögen Im Osten von Mexiko-Stadt erstrecken sich die
das Leben in den Städten aufrecht. Trotz düsterer größten Elendsquartiere der Welt: Mit einer Ein­
Perspektiven begegnet man immer wieder Spu­ wohnerzahl … je nach Quelle zwischen 1 und
ren eines positiven Lebensgefühls. … 3 Mio. Einwohnern … (der Zensus von 1990
Die Einstellung der Menschen und die äußeren nennt 1 256 115 Menschen), galt Nezahualcoyotl
Lebensumstände bilden für manchen außen ste­ lange Zeit als ‚verlorene Stadt‘ ­(Ciudad perdida):
henden Betrachter so einen scheinbaren Wider­ Von der offiziellen Stadtplanung ignoriert, gab es
spruch. Vor diesem Hintergrund relativiert sich keine öffentliche Infrastruktur, weder Schulen noch
auch die Diagnose einer chaotischen Stadtent­ einen Anschluss an die öffentlichen Versorgungs-
wicklung.“ und Entsorgungsnetze. Neza zählt inzwischen zu
Gerhard Sommerhoff / Christian Weber: a. a. O., S. 200 den konsolidierten Marginalsiedlungen, die zu­
nehmend in den Stadtkörper integriert werden.“
Gerhard Sommerhoff und Christian Weber: a. a. O., S. 197 – 198

    Marginalsiedlung in Mexiko-Stadt
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77
# 29440 Fundamente Stadtgeographie, S.62

Kernstadt

En
Guadalupe-

tw
Atlatongo Kerngebiet
stausee

äss
Metropolitane Agglomeration

eru
Sierra de

ng
Innenstadt
Guadelupe Ecatepec

ska
Tecoloapan 3027 de Morelos Wohnviertel der Oberschicht

n
und der oberen Mittelschicht

al
Caracol (Soda-
Atizapán konzentrations- Wohnviertel der Mittelschicht
de Zaragoza schnecke)
Tlalnepantla C. Chiquihuite
2730 Wohnviertel der Unterschicht
Lago
Gustavo Texcoco
Texcoco
sozialer Wohnungsbau
A. Madero Lindavista
Colonias Proletarias
Nueva (Randstädtische Elendsviertel)
Atzacoalco Ciudadesperidas (Inner-
Naucalpán Azcapotzalco städtische Elendsviertel)
2240 Chimalhuacán
Industriegebiete
Alte Siedlungskerne
Flughafen
Nezahualcóyotl Hauptstraßen
Ixtacalco
Eisenbahnlinien
Obregón
C. De La Estrella Entwässerungskanäle
Ixta- 2450
palapa heutigeSeefläche des Lago
2734 Texcoco (nur während der
Coyoacán 2450 Santa Catarina sommerlichen Regenzeit
Vulkan Xaltepec mit Wasser gefüllt)
Tlalpán
Höhenschichten
3940 Tláhuac über 3000 m
Xochimilco 2500 bis 3000 m
unter 2500 m
Vulkan Teuhtli
2730 0 2 4 6 8 10 km
Vulkan Ajusco
3930 Milpa Alta

1900 1930 1970 2000 Stadtgebiet


Kartenausschnitt
Kernstadt
Kerngebiet
Metropolitane
Agglomeration

0 10 20 30 km

    Sozialräumliche Gliederung von Mexiko-Stadt


H238_1_MEX_City_Sozialraum.fh11 (Breite 135 mm, Höhe 135,96 mm, 14.4.2005)
   
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Megapolisierung der Bevölkerung


    in den Megastädten 2000
­Entwicklungs­länder und 2015

Das Fallbeispiel Mexiko-Stadt gibt nur einen Größe der Einwohner insgesamt (Mio.)
­ersten Einblick in den Verstädterungsprozess in Megastädte 2000 2015 Wachstum
(Mio. Ew.) (2000 = 100 %)
den Entwicklungsländern. Dieser ist im Folgen-
den in den weltweiten Zusammenhang einzuord- 5 – < 8 95,1 156,5 164,6
nen und anhand weiterer Beispiele genauer zu 8 – < 10 74,1 107,7 144,9
untersuchen. > 10 225,0 340,5 151,3
gesamt 394,1 604,4 153,4
Mit dem Begriff „Verstädterung“ wird die Dy- Anzahl 39 58 148,7
namik der Stadtentwicklung in den Ländern der Megastädte
Dritten Welt nur unzulänglich beschrieben. Tref- Nach UN (Hrsg.): World Urbanization Prospects. The 2001
fender wäre es, von Metropolisierung und Mega- ­Revision. New York: United Nations 2002
polisierung zu sprechen.
Einige Zahlen verdeutlichen das Ausmaß die-
ses Prozesses. Während die Erdbevölkerung seit Metropole:  Stadt mit einer Mindestgröße von
1950 von 3,8 Mrd. auf 6,1 Mrd. Ew., also um 1 Mio. Ew. sowie herausragenden politischen, wirt-
schaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen
das 1,6fache wuchs, erhöhte sich die Zahl der
Funktionen
in ­Millionenstädten lebenden Menschen um das Metropolisierung:  Konzentrationsprozess von Be-
Achtfache. Entwicklungspolitisch brisant ist vor völkerung und Funktionen (s. o.) in einer einzigen,
allem das Wachstum der Megastädte. bei größeren Flächenstaaten u. U. auch mehreren
Metropolen
Metropolisierungsquote:  Anteil der in der (den)
Setzt man als Schwellen-
Metropole(n) lebenden Bevölkerung an der Gesamt-
wert für Megastädte eine Einwohnerzahl von bevölkerung eines Raumes (Land, Erdteil, Erde)
5 Mio. an, so weist die Statistik aus, dass es im Megastadt:  Metropole mit mehr als 5 Mio. Ew.
Jahre 1950 erst sechs an der Zahl gab, vier in (nach anderen Autoren über 8 oder 10 Mio. Ew.),
den ­Industrieländern (New York, London, ­Tokyo, einer hohen Bevölkerungsdichte (über 2 000 Ew./
km²) sowie einer monozentrischen Struktur (im Un-
­Paris) und zwei in den Entwicklungsländern
terschied zu polyzentrischen Agglomerationen wie
(Shanghai, Buenos Aires). In nur 50 Jahren hat z. B. dem Ruhrgebiet)
sich dieses Verhältnis grundlegend umgekehrt: Megapolisierung:  Konzentration von Bevölkerung
Im Jahre 2000 standen zehn Megastädten in den und Funktionen in Megastädten
Industrieländern bereits 39 in den Entwicklungs- Global City:  Großstadt mit internationalen Funk­
tio­nen, z. B. internationalem Finanzzentrum, Sitz in-
ländern gegenüber. Mit anderen Worten: Metro­
ternationaler Institutionen und Unternehmen (Glo-
polen und Megastädte bzw. megaurbane Regio­ bal Players); als Global Citys gelten vor allem die
nen werden in Zukunft die Lebensräume der Städte New York, Tokyo, London und Paris
Bevölkerung der Entwicklungsländer schlecht- Primatstadt:  Großstadt, die hinsichtlich ihrer Ein-
hin sein. Bereits heute sind sie die Brennpunkte wohnerzahl und Bedeutung alle anderen Städte eines
Landes deutlich überragt
des wirtschaftlichen, aber auch sozialen Lebens
Demografische Primacy:  hoher Anteil der Bevöl-
dieser Länder. kerung eines Landes in einer (oder wenigen) Metro-
polen / Megastädten
Funktionale Primacy:  zusätzlich zur Bevölke-
rungskonzentration die Dominanz einer Metropole /
Megastadt in sämtlichen Wirtschafts- und Lebens-
bereichen eines Landes
Index of Primacy:  Quotient zwischen der größten
und zweitgrößten Stadt eines Landes (gemessen an
der Bevölkerungszahl); Werte von 5,2 für Mexiko-
    Einige Fachbegriffe zum Thema Stadt oder von 7,8 für Lagos unterstreichen die Do-
minanz dieser Megastädte (Berlin: 1,9)
Metro­polisierung und Megapolisierung
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

#29440 Fundamente Stadtgeographie, S.64

Moskau
London Rhein- Beijing Tokyo
Los Angeles Ruhr ºstanbul Seoul
New York Paris Teheran
Chicago Lahore Delhi
Tianjin Osaka
Dhaka
Wuhan Shanghai
Kairo
Karachi Kalkutta Hongkong
Mexiko Hyderabad
City
Bombay
Bangkok Manila
Bangalore
Bogotá Madras
Lagos

Kinshasa
Lima Jakarta
Rio de
São Janeiro
Paulo
Santiago Stadtbevölkerung (Mio. Ew.)
5 – < 8 Mio. Ew. 30
25
20
Buenos Aires 8 – < 10 Mio. Ew. 15
10
0 4 000 km 5
> 10 Mio. Ew.

#29440 Fundamente Stadtgeographie, S.64


    H239_1_Erd_Megastaedte2000.fh11
Megastädte mit 5, 8 und 10 Mio. Ew. im(Breite 135 mm, Höhe 90,64 mm, 14.4.2005)
Jahre 2000

Moskau
Toronto London Rhein- Beijing Shenyang
Ruhr ºstanbul Tokyo
Los Angeles Paris Kabul
New York Teheran Seoul
Lahore
Chicago Tianjin Osaka
Bagdad Delhi
Dhaka
Mexiko Wuhan
Kairo Ahmedabad Kalkutta Shanghai
City Riad Surat Chittagong Hongkong
Guatemala City Hyderabad Yangon Hanoi
Lagos
i

Manila
ch

Jiddah Pune
ra
Ka

Bombay
Bangalore Bangkok Ho Chi Minh
Bogotá Abidjan Madras
Kinshasa
Bandung
Luanda
Belo Horizonte Jakarta
Lima
Rio de
São Janeiro
Paulo
Santiago
Stadtbevölkerung (Mio. Ew.)
5 – < 8 Mio. Ew. 30
25
20
Buenos Aires 8 – < 10 Mio. Ew. 15
10
0 4 000 km 5
> 10 Mio. Ew.

  Megastädte mit 5, 8 und 10 Mio. Ew. im Jahre 2015


H240_1_Erd_Megastaedte2015.fh11
Quelle für M 2.66 (Breite as
und M 2.67: nach UN 2002 in Frauke Kraas: Megacities 135 mm,Risk
Global Höhe
Areas.90,64 mm, 14.4.2005)
In: Petermanns Geographische Mittei-
lungen, 147. Jg., H. 4. Gotha: Perthes 2003, S. 8 (Kartographie: Regine Spohner, leicht verändert)
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Unterschiede: „Erste Welt“ – „Dritte Welt“  


Verstädterung ohne Industrialisierung

Metropolisierung und Megapolisierung sind „Die Verstädterung in den heutigen Entwick-


heute zwar ein weltweites Phänomen, die Me- lungsländern setzte in den 1920er Jahren in
gastädte in den Entwicklungsländern weisen Lateinamerika ein und hat seit dem Zweiten
dabei allerdings eine Vielzahl andersartiger Weltkrieg auf alle Länder übergegriffen. Jedoch
Strukturen, Prozesse und Probleme als in den In- weist sie gegenüber dem Verstädterungspro­
dustrieländern auf. Unterschiedlich sind vor al- zess der Industrieländer grundlegende Unter­
lem die Dynamik und das Ausmaß der Prozesse, schiede auf:  
aber auch die Ursachen und Folgewirkungen. In den Entwicklungsländern geht die Verstäd­
terung in der Regel der Industriealisierung weit
voraus und erfolgt meist unkontrolliert. Die in
    Entwicklungen
Ungleiche den [19-]50er- und 60er-Jahren in das Städte­
wachstum gesetzte Hoffnung, Motor der Ent­
„Als das eigentliche Jahrhundert der Mega­ wicklung zu sein, hat sich kaum erfüllt …
polisierung ist erst das 20. Jh. zu bezeichnen. In den Industrieländern wuchsen die Städte im
… Verursacht wurde dieses in der Geschichte 19. Jahrhundert hauptsächlich durch Zuwan­
bislang nicht zu beobachtende ­phänomenale derung, weniger durch natürliches Bevölke­
Größenwachstum durch die industrielle und de­ rungswachstum.
mographische Revolution. Diese Aussage gilt Die Industrialisierung erfolgte in den Indus­
uneingeschränkt jedoch nur für die Industrie­ trieländern durchweg durch nationale Eigen­
länder, wobei die Phasen des, relativ gesehen, anstrengungen und unter enger Verknüpfung
intensivsten Großstadtwachstums bereits im der verschiedenen industriellen Branchen
19. Jh. lagen. Der Prozess des weltweit über­ miteinander und mit den übrigen Wirtschafts­
proportionalen Wachstums der Megastädte war sektoren. Mit Ausnahme weniger NIC fehlen in
in der Mehrzahl der Industrieländer Europas und den Entwicklungsländern diese Verknüpfun­
Nordamerikas bis zur Mitte des 20. Jh.s jedoch gen. ­Darüber hi­naus erfolgt die Industrialisie­
abgeschlossen. rung hier ­vorwiegend durch arbeitssparende,
Seitdem sind die Einwohnerzahlen fast aller zum größten Teil importierte Technologien.
Megastädte Europas sowie Nordamerikas stag­ Deshalb ist das Arbeits­platzangebot äußerst
nierend, oft sogar rückläufig … Als große Aus­ gering.“
nahme unter den Industrieländern bleibt allein Karl Engelhard: Welt im Wandel. Köln: OMNIA 2000, S. 68
Tokyo, das seine Einwohnerzahl in diesem Jahr­
hundert verzehnfacht hat … Heute wird das in Die
  zehn
  größten Städte der Welt 1950
der Geschichte der Erde bislang nicht gekannte 2000 und 2015 (jeweils Agglomerationsräume,
Megastadtwachstum in aller erster Linie von den in Mio. Ew.)
Ländern der ‚Dritten Welt‘ getragen. Dabei setzte
Rang 1950 2000 2015
diese, als die eigentliche Bevölkerungs‚explosion‘
 1 Tokyo (13,0) Tokyo (33,4) Tokyo (28,7)
zu bezeichnende Entwicklung erst zu Beginn der
 2 New Yoek (12,7) Seoul (20,4) Mumbai (27,4)
zweiten Hälfte des 20. Jh.s ein … Diese Wachs­
 3 London (8,2) Mumbai (18,6) Lagos (24,4)
tumsverlagerung sei an London und Wien de­
 4 Shanghai (6,8) Mexiko-C. (17,7) Shanghai (23,4)
monstriert. London, bis 1960 noch auf Rang
 5 Paris (6,7) São Paulo (17,3) Jakarta (21,2)
drei unter den größten Städten, ist auf Rang 24
 6 Moskau (5,1) Jakarta (16,9) São Paulo (20,8)
zurückgefallen; Wien (1914 mit 2,214 Mio. Ein­
 7 Osaka / Kobe (5,0) New York (15,9) Karachi (20,6)
wohnern noch die siebtgrößte Stadt der Erde) ist
heute nicht mehr unter den 150 größten Städten  8 Buenos Aires (4,7) Kairo (14,8) Beijing (19,4)
der Erde zu finden.“  9 Chicago (4,7) Manila (13,9) Dhaka (19,0)
Nach Dirk Bronger: Megastädte. In: Geographische Rundschau, 10 Kalkutta (4,5) Kalkutta (13,8) Mexiko-C. (18,8)
48. Jg., H. 2. Braunschweig: Westermann 1996, S. 75 – 76 (ge- 1950 und 2000 nach Dirk Bronger: Metropolen ..., a.a.O., S 172 und 174;
ringfügig geändert) 2015 nach http://www.g-o.de
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Motive
    der Land-Stadt-Wanderung in den Entwicklungsländern
Nachteilige Strukturmerkmale Persönliche Motive und Attraktive Strukturmerk-
des ländlichen Raums (Push-Faktoren) Kommunikationsmedien male des städtischen Raums
(Pull-Faktoren)
•  niedriger Lebensstandard •  Glaube an eine Ver-
•  unzureichende Ernährungslage infolge besserung der Situation •  Arbeitsmöglichkeiten
Landknappheit („schlechter kann es •  höherer Verdienst
•  Arbeitslosigkeit nicht werden“) •  Aufstiegschancen
•  Unterdrückung durch Grundbesitzer •  außengeleitetes Verhal- •  größere persönliche Freiheit
•  Ausbeutung durch Zwischenhändler ten / Mode •  größere Auswahl an öffent-
•  mangelnde Versorgung mit ­öffentlichen („wie der Freund /  lichen Infrastruktureinrich-
Dienstleistungen (Schule, Krankenhaus etc.) Bruder“) tungen (Schule, Kranken-
•  geringe Teilnahmemöglichkeit an Gütern •  Radio/Fernsehen / Presse haus etc.)
und Dienstleistungen des Staates •  Berichte von Besuchern •  größere Teilnahmemöglich-
•  erstarrte Sozialstrukturen aus der Stadt keit an Gütern und Dienst-
•  mangelnde Innovationsbereitschaft •  Saisonarbeit in der Stadt, leistungen des Staates
•  Ernterisiko durch Witterungseinflüsse /  z. B. auf Baustellen •  abwechslungsreicherer
Bodenzerstörung ­Lebensalltag

Unterschiede in der Funktionalen Primacy. Megastädte der Dritten Welt jedenfalls von kei-
So alarmierend das Wachstum der Megastädte ner Megastadt der Industrieländer erreicht.
in den Entwicklungsländern auch ist, hinsicht- Die Bedeutung der Megastädte und ihre Rolle
lich ihrer Entwicklungsperspektiven besorg- im Entwicklungsprozess der Länder werden sehr
niserregender ist die im Vergleich zum über- kontrovers beurteilt. Unbestritten ist, dass sie sich
proportional wachsenden Bevölkerungsanteil mehr und mehr zu Brennpunkten sozialer, infra-
(Demografische Primacy) noch stärkere Kon- struktureller und ökologischer Probleme entwi-
zentration der wirtschaftlichen, kulturellen und ckeln. Viele Fragen sind offen: Ist das Wachstum
gesellschaftlichen Funktionen (Funktionale Pri- der Megastädte unaufhaltsam? Werden sie in Zu-
macy) in den Megastädten. Hier liegt auch ein kunft national und international eine eigenstän-
weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den dige Rolle spielen? Nähern sie sich im Weltmaß-
Megastädten der „Ersten“ und der „Dritten stab einander an und verlieren sie unter Umständen
Welt“. Das regionale Entwicklungsgefälle ist in ihre spezifische Identität? Führt ihre Demogra-
den Ländern der „Dritten Welt“ deutlich ausge- fische und Funktionale Primacy dazu, dass die
prägter als in den Industrieländern. Bezogen auf kulturelle und gesellschaftliche Distanz zum üb-
den Entwicklungsstand des betreffenden Landes rigen Land immer größer wird? Welche Rolle wer-
wird die Dominanz der Funktionalen Primacy der den die Megastädte im Entwicklungsprozess der
Länder der Dritten Welt künftig spielen? Sind sie
86,3 Universitäts-
studenten Motor der Landesentwicklung oder Schmarotzer,
53,0 Telefonanschlüsse die den ländlichen Raum aussaugen?
58,8 PKW

38,7 Kraftfahrzeuge

39,1 Wertschöpfung der Industrie

41,5 Industriebeschäftigte

36,7 BIP   Die Metropolen in Entwicklungsländern


Nach Dirk Bronger: Metropolen,
10,3 Bevölkerung Megastädte …, a. a. O., S. 182 werden oft charakterisiert als „cities that came
too soon“. Erklären Sie den Ausdruck.
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 %   Erläutern Sie mögliche Folgen der De-
Anteil am gesamten Land in % mografischen und Funktionalen Primacy der
Primacy
    von Bangkok ­Megastädte für den Entwicklungsprozess der
(Daten Ende 1990er-Jahre) Länder der „Dritten Welt“.
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Entwicklungspolitische Probleme
der Verstädterung und
Megapolisierung
„Stadtluft
    macht frei“

„In den Dörfern Afrikas, Asiens und Lateinameri­


kas gilt die Parole aus dem Europa des Mittelal­
ters: ‚Stadtluft macht frei.‘ Tag für Tag verlassen
170 000 Menschen in der Dritten Welt ihre Felder
und ziehen in wuchernde Metropolen.
Doch statt der erträumten Befreiung von Armut
und sozialen Fesseln bringt die Verstädterung oft
neues Elend. Gerade im Zeitalter der Globalisie­
rung finden viele Zuwanderer keine Arbeit und
enden mit ihren Familien in Slums ohne Strom
und Kanalisation. Es gibt keine ­Schulen, niemand     Die fragmentierte Stadt (La Paz, Bolivien)
transportiert den Müll ab. Die ver­schmutzte Um­
welt macht die Menschen krank. Verbittert schau­ Soziale Segregation
en die Bewohner der Elendsviertel auf überall Soziale Disparitäten sind ein typisches Merkmal
entstehende Ghettos der Reichen, die von pri­ aller Megastädte in den Entwicklungsländern.
vaten Sicherheitsdiensten bewacht werden müs­ Hier findet die wirtschaftliche und ­soziale Po-
sen. Denn die Kluft zwischen Wohlhabenden und larisierung zwischen Arm und Reich wohl ihre
Habenichtsen erzeugt Gewaltkriminalität, gegen weltweit extremste Form. Wie unter einem Ver-
die kommunale Behörden nicht ankommen. größerungsglas werden hier die Gegensätze in
Polizisten wagen sich nicht mehr in von Ban­ räumlich unmittelbarer Konzentration beson-
den beherrschten ‚No go areas‘. Angesichts der ders deutlich. Nach Berechnungen der Vereinten
Polarisierung in vielen Mega-Cities warnen Ex­ Natio­nen muss ein Drittel bis die Hälfte der städ-
perten vor der sozialen ‚Zeitbombe Megastadt‘.“ tischen Bevölkerung in den Entwicklungsländern
Der Spiegel, H. 52 / 1999, Hamburg: Spiegel-Verlag 1999, S. 130 f. mit weniger als 2 US-$ pro Tag auskommen.
Im Zuge der weltweiten wirtschaftlichen Globa-
Aus der Perspektive der Entwicklungspolitik lisierung scheinen sich die sozialen Disparitäten
sind vor allem vier Folgen der Verstädterung und noch weiter zu vergrößern. Ursache der Verschär-
Megapolisierung von Bedeutung: fung in jüngerer Zeit ist vor allem die Konzen-
1.  eine zunehmende soziale Segregation, d. h. tration national und international bedeutender
eine immer größer werdende Kluft zwischen Unternehmen des Produzierenden Gewerbes und
den Armen und Reichen in den Städten, unternehmensbezogener Dienstleistungen beson-
2.  eine ausgeprägte räumliche Segregation, d. h. ders in den Metropolen und Megastädten. Diese
krasse Gegensätze zwischen Slums und rand- ließen hier spezialisierte und überdurchschnitt-
städtischen Elendsvierteln einerseits sowie mo- lich gut bezahlte Berufsgruppen entstehen. Auf
dernen, weltstädtischen Geschäftszentren und der Strecke bleibt die Masse der Armen, die ent-
abgeschotteten Villenvierteln andererseits, weder arbeitslos ist oder im informellen Sektor
3.  eine zunehmende wirtschaftliche Polarisie- ein meist bescheidenes Einkom-
rung zwischen modernen Dienstleistungen men findet. Es ist gerade diese verschärfte soziale
und vielfältigen Formen von Überlebensstra- Polarisierung, die die Gefahr in sich birgt, dass
tegien der Armen, die Megastädte wirtschaftlich, sozial und poli-
4.  eine starke Umweltgefährdung durch die Bal- tisch unkontrollierbar werden – sind doch politi-
lung von Bevölkerung und Industrie sowie das sche Umstürze und Revolutionen erfahrungsge-
unkontrollierte flächenhafte Städtewachstum. mäß oft ein Ausdruck massiver Unzufriedenheit.
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Soziale Ungleichheit in den Städten Marginalsiedlungen:


   
Begriffsdefini­tionen
„Nicht nur von der Mehrheit der Reichen, son­
dern auch von der des aufstrebenden Mittel­ Slums sind Viertel in den Innenstädten, die vor-
standes vieler dieser Länder werden die Armen mals von ökonomisch besser gestellten Bevölke-
rungsgruppen bewohnt waren, welche wegen des
eher verachtet. Der Anblick der Hütten, der
verschlechterten Wohnumfeldes im Zentrum spä-
ganze Schmutz und Gestank der Slums passen ter in andere, landschaftlich und ökologisch attrak-
nicht in ihr westlich geprägtes Bild z. B. eines tivere Viertel umgezogen sind. Slums sind gekenn-
modernen Indien: Täglich strömen Hunderte zeichnet durch heruntergekommene Bausubstanz,
von Landflüchtlingen in die Städte und bauen Verwahrlosung, hohe Wohndichten und häufig ein
Shanty Towns ohne Wasser und sanitäre Anla­ hohes Maß an sozialem Verfall (Kriminalität, Pros-
titution, Drogenkonsum).
gen. Ihr Zustrom bringt Elend und Krankheiten Nur ein Bruchteil der Zuwanderer kommt in die-
in die Städte, Hässlichkeit, Schmutz und wider­ sen Slums unter. Den meisten bleibt nur der Aus-
lichen Gestank … Die Verlierer dieser Explosion weg, sich außerhalb des Zentrums eine Unterkunft
der Slums sind die städtischen Eliten. Sie mer­ zu bauen. Vielfach geschieht dies spontan und ohne
ken tagtäglich, dass die Straßen verstopft sind rechtliche Erlaubnis der Behörden oder des Land-
eigentümers auf fremdem Boden. Diese als Squat-
und sie nicht schnell fahren können. Öffentliche
tersiedlungen bezeichneten Viertel befinden sich
Parks und Gehwege werden in Shanty Towns zumeist am Rande, vielfach jedoch auch in zen-
verwandelt. ‚Die Luft ist voll von dem Gestank trumsnahen Bereichen (Nähe zu einem möglichen
der Exkre­mente‘, schreibt der Inder Aiyar …, ein Arbeitsplatz), in der Regel jedoch in peripheren Ge-
Brahmane. Das Indien dieser Schichten ist die bieten, z. B. entlang von Bahndämmen, Flussufern,
an Hängen oder in versumpften Gebieten.
wirtschaftlich und technologisch aufstrebende
südasiatische Supermacht, die ­Atomkraftwerke
und Mittelstreckenraketen baut und deren ­Söhne
und Töchter in England oder den USA studie­ Zumeist verbindet man mit den Worten „Mar-
ren. Die Armen sind dabei nichts anderes als ein ginalviertel“ und „Squattersiedlung“ Elend und
Schandfleck in ihrem ästhetischen Empfinden.“ Hoffnungslosigkeit. Das ist – in dieser pauscha-
Anmerkung: len Aussage – falsch. Bei aller Kritik an den
Shanty Towns = indische Bezeichnung für Elendssiedlungen
Brahmane: Mitglied der obersten Kaste der Hindus
Marginalsiedlungen darf man nicht übersehen,
Dirk Bronger: Megastädte, a. a. O., S. 80 dass in ihnen oft eine außerordentliche Dynamik
herrscht, die als ein Ausdruck des Bestrebens
Räumliche Segregation der Bewohner nach wirtschaftlichem und sozia-
Marginalsiedlungen. Die krassen innerstädti- lem Aufstieg zu werten ist. So haben sich viele
schen sozialen Disparitäten finden ihren sicht- der ehemaligen randstädtischen Hüttensiedlun-
baren Ausdruck in der großen Zahl von Margi- gen inzwischen zu respektablen Vororten ent-
nalsiedlungen. Diese durchsetzen das gesamte wickelt. Sie entlasten zum
Stadtgebiet und können bis zu 60 % der Bevöl- Teil die finanzschwachen städtischen Behörden
kerung der Metropolen und Megastädte beher- von der kaum zu bewältigenden Aufgabe, aus-
bergen. reichend Wohnungen und soziale Infrastruktur-
Da aufgrund des starken Bevölkerungswachs- einrichtungen für die Masse der Zuwanderer zu
tums und der knappen (kommunalen und priva- schaffen; sie wirken der Isolierung und Entwur-
ten) Finanzmittel der Bedarf an Wohnraum für zelung vieler Zuwanderer entgegen, indem sie
die vielen Zuwanderer auf formalem Wege zu- durch kooperative Arbeit, kommunale Institu-
meist nicht befriedigt werden kann, wachsen die tionen und Vereinigungen psycho-soziale Hilfe
Marginalsiedlungen gleichsam ins Uferlose. bieten. Durch Selbsthilfeeinrichtungen und die
Bei den Marginalsiedlungen müssen zwei For- Gründung kleiner Unternehmen in Form von
men unterschieden werden: die innerstädtischen z. B. Handwerksbetrieben, Geschäften usw. leis-
Slums und die randstädtischen Hüttensiedlun- ten sie schließlich einen Beitrag zur Minderung
gen. der Arbeitslosenmisere.
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

#29440 Fundamente Stadtgeographie, S.69


Beispiel eines innerstädtischen Slumgebietes: El  Cartucho

El Cartucho, Bogotá.

Ein
  ‚Urban-underclass‘-Viertel
  B B

Caracas
Sena
„ … urban underclass [ist] nicht mit Unterschicht Calle 13 B
z
gleichzusetzen, sondern hiermit sind die unters­ Avenida Jimene
ten sozialen Gruppen gemeint, die sich – fatalis­ Plaza

Avenida
tisch – mit ihrem Schicksal abgefunden haben. A. Nariño
… Derartige Phänomene hat es punktuell im In­
SAN VICTORINO
nenstadtbereich lateinamerikanischer Metropo­
len schon in den 1970er, z. T. auch in den 1960er

Avenida 10
Jahren gegeben: … In größerem Umfang treten
Calle 10

Carrera 9
sie erst in den 1990er Jahren auf, eine Folge der

Carrera 15
neoliberalen dualistischen Entwicklung, z. B. in M

der Innenstadt von Bogotá, nur 3 – 4 Wohnblö­ Calle 9


cke von der Plaza Bolivar entfernt …
Beim Cartucho-Viertel handelt es sich um ein STA. INES
traditionelles Unterschichtviertel mit einem hohen

Carrera 11
Anteil an kleinen Werkstätten und Geschäften,
wobei es allerdings schon länger als Ort der billi­ Avenida Caracas Calle 7
gen Prostitution bekannt war. Anfang der 1980er
Jahre, verstärkt dann ca. 10 Jahre später, begann Policía
die Entwicklung zum Urban-underclass-Viertel,
wesentlich bestimmt durch zwei Faktoren: den zu­ Calle 6
nehmenden Verfall der Bausubstanz und die un­
mittelbare Nähe zum Zentrum, was Raub, Überfall Hospital SAN
und Drogenhandel begünstigte. Dabei kam es zu Neuro-Psiquiatríco BERNARDO N
Calle 4
einem entsprechenden Bevölkerungsaustausch,
einer Sukzession ‚nach unten‘, was den Cartucho
auch zum Ort billigen Drogenkonsums machte
und weitere Personen anlockte, die meistens auf Ursprüngliche Konzentration von:
Cartucho-Grenze Drogenhandel und
der Straße lebten, was insgesamt noch mehr zur -konsum
Heutige Cartucho-Grenze
Unsicherheit in diesem Bereich beitrug. Die An­ Prostitution
Calle (Straße) El Cartucho
gaben über die wichtigsten Krankheiten und To­ Lagerhallen u. -plätze
Park „Tercer Milenio“ für recyclebare Abfäl-
desursachen belegen eindeutig die Situation im (in Durchführung) le (Papier, Glas etc.)
Cartucho, das von seinen Bewohnern überwie­ Teilweise abgerissenes Schnellbuslinie
Gebiet „Transmilenio“
gend – wie die Hyper-Ghettos der US-Metropo­ (Sonderspur)
Vollständig abgerissenes
len – als „Endstation“ angesehen wurde … Gebiet, März 2002
mit Haltestelle
M Markt, zum Teil
Die desolate bauliche, ­gesundheitlich-hygieni­­ Vollständig abgerissenes überdacht
Gebiet, März 2003
sche und Sicherheitssituation war – vor dem B Bank
Fertig gestellte Krankenhaus
Hintergrund der unmittelbaren Nähe zum Capi­ Parkbereiche, März 2002 (aufgegeben)
tol, Präsidentenpalast, einigen Ministerien etc. Fertig gestellte Kirche
Parkbereiche, März 2003
– letztlich entscheidend, dass sich die Stadt 0 50 100 150 200 250 m
Grünflächen
Bogotá zu einem großen Sanierungsprojekt
entschloss: Im Rahmen der umfassenderen nach:
      
„Operación Centro“ sollte das Cartucho-Viertel Günter Mertins: H241_1_Bogota_El_Cartucho.fh11
Jüngere sozalräumlich-strukturelle Transforma-
(Breite 65 mm, Höhe 177,16 mm, 14.4.2005)
tionen in den Metropolen und Megastädten Lateinamerikas.
vollständig abgerissen und Teil des 20-ha-Parks In: Petermanns Geographische Mitteilungen, Jg. 147, H. 4.
‚Tercer Milenio‘ werden.“ Gotha: Perthes 2003, S. 52
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Pavement dwellers. Slums stellen aber keines- Gated communities. Ein Ausdruck der zuneh-
wegs die unterste Stufe der Verelendung dar. menden sozialen Segregation in den Metropolen
Diese bilden die so genannten Pavement dwellers, und Megastädten der Entwicklungsländer sind
Obdachlose, die auf den Bürgersteigen hausen. auch die Gated Communities. Darunter versteht
man exklusive und geschlossene, d. h. für die
Leben  auf der Straße Öffentlichkeit nicht zugängliche Wohnanlagen,
die von privaten Immobilienfirmen geplant, er-
„Es gibt kaum eine Stelle, wo diese Menschen baut und verwaltet werden. Gemeinsame Merk-
nicht ins Blickfeld kommen, sei es in Hausein­ male sind die Abgeschlossenheit, oft durch eine
gängen, Bahnhöfen, auf Gehsteigen, in den Mauer mit Sicherheitsanlagen, und die ständige
rostenden Rohren der ewig im Bau befindlichen Bewachung durch private „Securities“. Abhängig
zweiten Wasserleitung, unter den Arkaden der Ci­ von der Größe und Exklusivität verfügen sie über
tystraßen, unter Brücken, am Strand, auf privaten Sportanlagen, Schwimmbäder, Supermärkte,
Gärten oder öffentlichen Parks, in Friedhöfen, in Arztpraxen, Kindergärten oder Privatschulen.
Warenschuppen oder im Brunnen Flora Fountain, Die meisten finden sich auf ausgewählten city-
dem Wahrzeichen der Stadt. Unter ihnen befinden nahen Arealen, aber auch am Stadtrand in ver-
sich tausende Familien, welche im Freien kochen, kehrsgünstiger Lage (Nähe von Autobahnen oder
waschen, essen, schlafen, lieben – und sterben. Schnellbahnen). Vereinzelt werden auch bereits
Da wird eine Decke zwischen einer Feuermauer bestehende Wohnviertel von ihren Bewohnern
und zwei Bambusrohren gespannt und damit der nachträglich durch entsprechende Sicherheitsein-
‚Einflussbereich‘ einer Familie abgegrenzt. Da bil­ richtungen in Gated Communities umgewandelt.
den ein paar im Dreieck aufgeschichtete Ziegel Die Gründe für die Bevorzugung dieser „neuen
die Herdstelle, von der aus auch häufig andere Enklaven des gehobenen Lebensstils“ sind der
Obdachlose gespeist werden, quasi ein Restau­ Schutz vor Kriminalität, ein sicheres Umfeld für
rant auf niedrigster Stufe. Die Reaktion der Be­ die Kinder sowie der Wunsch nach einem Leben
hörden schwankt zwischen sinnlosen Razzien, in homogener (meist exklusiver) Nachbarschaft.
völliger Apathie oder stillschweigender Duldung
(meist mit Schweige­geld), letzteres besonders Gated
  Communities
  in Buenos Aires
in der Regenzeit, die für die Ärmsten eine Art
Schonzeit bedeutet. Keine Rücksicht kennen die „Gerade bei Groß-Buenos-Aires fällt die enor­
Ratten, deren Zahl zumindest auf das Zehnfache me Zahl der urbanizaciones privadas auf, die
der Obdachlosen geschätzt wird.“ seit Anfang der 1990er Jahre stark zunahmen
Heinz Nissel: Bombay. Berliner Geographische Studien, Bd. 1. Ber-
lin: Institut für Geographie der Technischen Universität 1977, S. 135
und nach 1995 dann zum Massenphänomen
wurden. Dabei ist eine eindeutige Konzentration
Pavement
    dwellers in Mumbai (Bombay) im Norden … zu beobachten, vor allem in den
Gemeinden Pilar, El Tigre und Escobar, die ­Ende
des 20. Jh. mit 104, 43 bzw. 33 die meisten
gated communities aufwiesen …
Zum Ende des 20. Jh.s dürften die urbani­
zaciones privadas in Groß-Buenos-Aires ca.
300 km² eingenommen haben …, eine Fläche,
die um ein Drittel größer ist als die der Gemein­
de Bue­nos-Aires. Die aktuelle Einwohnerzahl
wird mit 400 000 – 500 000 angegeben … Die
gated communities haben sich so in den 1990er
zu einem gewichtigen Faktor im Suburbanisie­
rungs- und gleichzeitig im sozialräumlichen Frag­
mentierungsprozess herausgebildet …“
Günter Mertins: a. a. O., S. 51 – 52
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

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Funktionsräumliche
    Gliederung der Gated Community Condomínio Nova Ipanema
(Rio de Janeiro) Aus Dirk Bronger: Metropolen, Megastädte …, a. a. O., S. 160

Wirtschaftliche Polarisierung größeren bis zu 400 Geschäfte umfassen kön­


Shopping Center. Oft direkt verbunden mit den nen; in Bangkok addierte sich die Einzelhandels­
Gated Communities sind moderne Geschäftszent- fläche 1997 auf mehr als 3,5 Mio. m² … Dabei
ren, die an US-amerikanischen Vorbildern orientiert differenziert sich in vielen Metropolen die Struk­
sind und in praktisch allen Megastädten der Ent- tur der Shopping Center inzwischen insofern,
wicklungsländer wie Pilze aus dem Boden schießen. als neben den exklusiven Einrichtungen auch
immer mehr Zentren entstehen, die sich vorran­
„Polarisierte
  urbane Ökonomien“ gig an der Nachfrage einer Mittelschicht-Klien­
tel orientieren. In sozialräumlicher Sicht bilden
„Am oberen Ende der sozialen Skala entstehen die Shopping Center neue aktionsräumliche
in den letzten Jahren neuartige Stadtstrukturen, ­Knotenpunkte in der fragmentierten Stadt und
die als Wohlstandsenklaven bezeichnet ­werden übernehmen dabei zunehmend Funktionen, die
können. Als sozial exklusive, abgeschottete Räu­ früher der öffentliche Raum in den Stadtzentren
me tragen sie zur Vertiefung städtischer Frag­ erfüllte. Unter dem Glanz einer global austausch­
mentierung bei. Hierzu gehören z. B. die Shop­ baren Warenwelt erhalten die Shopping Center
ping Center … Das Kapital für ihren Bau und als künstliche und von den Alltagskonflikten ab­
Betrieb stammt oftmals aus dem Ausland. Eben­ geschottete Räume einen exterritorialen Charak­
so entdecken internationale Hypermarktketten ter im Sinne einer ‚Stadt in der Stadt‘.“
die Drittwelt-Metropolen vermehrt als attraktive Martin Coy / Frauke Kraas: Probleme der Urbanisierung in den
Entwicklungsländern. In: Petermanns Geographische Mitteilun-
Investitionsorte. Allein in São Paulo gab es im gen, 147. Jg., H. 1. Gotha: Perthes 2003, S. 37
Jahre 2000 ca. 50 Shopping Center, wobei die
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Überleben im informellen Wirtschaftssektor. ein günstig gelegener Standort gegen Konkur­


Da die Städte in der Regel nicht in der Lage sind, renz gesichert. Während sich diese territoriale
für die Masse der Zugewanderten Arbeit zu bie- Strategie gegen den von außen kommenden
ten, sucht ein Großteil eine Beschäftigung im so Konkurrenzdruck anderer Schuhputzer (-grup­
genannten informellen Sektor. Als „informell“ pen) richtet, wird die Konkurrenz innerhalb der
bezeichnet man jenen Bereich der Wirtschaft, der Gruppe durch das Suki-System begrenzt und
weder staatliche Lizenzen besitzt noch Steuern reguliert. Jeder Schuhputzer ist bemüht, ­einen
bezahlt. Bei uns würde man von „Schwarz­arbeit“ Kreis von Stammkunden an sich zu binden:
oder „Schattenwirtschaft“ sprechen. Beide Aus- Dies geschieht z. B. durch besondere Sorgfalt,
drücke treffen aber nicht genau die Verhältnisse mit der die Dienstleistung ausgeübt wird, durch
in den Entwicklungsländern. Nach offiziellen Extras wie kleinere Schuhreparaturen, die nicht
Schätzungen sind ca. 50 % der Erwerbsbevölke- gesondert vergütet werden müssen, oder durch
rung in den Städten der Entwicklungsländer im die Verwendung qualitativ besserer Pflegemit­
informellen Sektor tätig, unter den Bewohnern tel. Diese persönlichen Suki‑­Kunden, zu denen
der Marginalviertel sogar bis zu 75 %. sich im Laufe der Zeit ein Bekanntschafts- und
Vertrauensverhältnis entwickelt hat, werden
von den übrigen Gruppenmitgliedern aner­
    des informellen Sektors
Merkmale kannt: Nur mit ausdrücklicher Erlaubnis dürfen
sie von anderen Schuhputzern bedient werden.
•  arbeitsintensive Produktion Für die Nutzung dieses Sozial­kapitals der Su­
•  geringer Technologieeinsatz ki-Beziehungen durch andere kann ein Schuh­
•  minimaler Kapitalbedarf putzer ein Entgelt oder eine andere Gefälligkeit
•  geringe berufliche Qualifikation der Arbeitskräfte
verlangen.“
(diese erlangen die notwendigen Kenntnisse und
Helmut Schneider: Soziale Strategien der Risikominimierung im
Fertigkeiten zumeist bei der Arbeit) informellen Sektor. In: Geographische Rundschau, 51. Jg., H. 12.
•  schlechte Bezahlung Braunschweig: Westermann 1999, S. 665 – 666
•  keine Alters- und Krankenversicherung
•  geringe oder fehlende gewerkschaftliche Organi-
sation
•  Schwerpunkte der Tätigkeiten: Dienstleistungen, Netzwerke
  im informellen Sektor
Einzelhandel, Transport, Reparatur, Bauwesen
„Informalität ist zunehmend auch ein ökonomi­
Schuhputzer
  in Baguio City   sches Phänomen, das sich mit formellen Stadt­
(Philippinen) strukturen verzahnt. Auch die Organisations­
strukturen und Machtverhältnisse sind vielfach
„Im Burnham Park in Baguio City’s Innenstadt in informellen Stadtbereichen von Informalität
arbeitet der 14-jährige Alex in einer Gruppe (beziehungsweise Illegalität) gekennzeichnet.
ungefähr gleichaltriger Jugendlicher als Schuh­ So sind informelle Netzwerke in der Regel für
putzer. Pro Tag kann er damit ca. 100 – 140 Pe­ die interne Organisation in den Marginalvier­
so verdienen (1998: 100 Peso = 2,30 Euro). teln weit wichtiger als öffentliche Institutionen.
Zusam­men mit der als Gemüsehändlerin täti­ Dies kann wie im Falle Rio de Janeiros so weit
gen Mutter bestreitet er damit den Lebensun­ gehen, dass es mafiaähnlichen Drogenbanden
terhalt der fünfköpfigen Familie. Zugang zu der inzwischen ­gelungen ist, in den Marginalvierteln
Gruppe findet nur, wer als befreundet akzep­ auf der Grundlage von Schutzzusagen, Arbeits­
tiert oder von Gruppenmitgliedern empfohlen vermittlung und Strategien sozialer Absicherung
wird. Gegen konkurrierende Gruppen wird der eine informelle Parallelmacht aufzubauen, die
von Passanten stark frequentierte Arbeitsplatz, sich allzu oft als weit dauerhafter und durchset­
eine Reihe von Parkbänken, wenn nötig auch zungsfähiger erweist als die formelle Stadtver­
mit körperlicher Gewalt verteidigt. Mit dem waltung.“
„Sozialkapital“ der Gruppensolidarität wird so Martin Coy / Frauke Kraas: a. a. O., S. 37
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

    Mumbai (Bombay): Milchproduktion in der City

Landwirtschaft in der Stadt     Städtische Landwirtschaft

  Büffelställe mitten in der Stadt „… in den 1990er Jahren [waren] ca. 800 Mio.
Menschen weltweit in der städtischen Landwirt­
„Wenn die Abendsonne hinter dem Hochhaus schaft tätig, der Großteil davon in asiatischen
abtaucht, kommt Bewegung in den Büffelstall. Städten … Landwirtschaftliche Aktivitäten in den
Die ‚Landarbeiter‘ in der indischen Megastadt Städten differieren erheblich: Das Spektrum reicht
Mumbai klettern aus ihren Schlafkojen unter von reiner Selbstversorgung über Überschuss­
dem Stalldach, direkt über dem Rücken von 200 vermarktung … bis hin zu ausschließlicher Markt­
Büffeln. Die tägliche Arbeit beginnt. produktion, von (oftmals geschlechtsspezifisch
Hier brummt und saugt keine Melkmaschine. differenzierter) Teilzeitaktivität zu Vollerwerbstätig­
Handarbeit ist angesagt. Während die fette keit. Im Vordergrund stehen die Herstellung von
Milch in die Zinkeimer spritzt, tobt draußen vor Nahrungsmitteln sowie Non-food-Produkten oder
der Stadtmauer die Rushhour … Nach andert­ Spezialisierungen auf die Produktion leicht ver­
halb Stunden haben die zwölf Melker ihre Arbeit derblicher pflanzlicher Erzeugnisse (v. a. Gemüse)
verrichtet. Die Milch fließt vom Zinkeimer gefiltert bzw. Tierhaltung …
in Milchkannen. Verkauft wird an einer kleinen Städtische Landwirtschaft leistet einen Beitrag
Theke am Straßentor … 25 Rupies, umgerech­ zur Verbesserung der Ernährungssicherung und
net 50 Eurocents, kostet ein Liter Büffelmilch mit zur zusätzlichen Einkommensgenerierung ... der
rund sieben Prozent Fett. armen Haushalte … Ebenso kann sie im Zusam­
Der Büffelstall ‚Sadar Dairy‘ ist ein Beispiel für menhang mit einem kontrollierten Abwasser- und
‚Land‘-Wirtschaft in der Stadt. Diese Form der Abfallrecycling stadtökologisch sinnvoll eingesetzt
urbanen Agrikultur ist in Mumbai keine Ausnah­ werden. Allerdings birgt sie auch Risiken: sowohl
me. Ganz im Gegenteil. ‚Es gibt derzeit rund ökologisch durch den unkontrollierten Einsatz
80 000 Büffel in der Stadt‘, sagt Dr. Patil, Chef von Agrochemikalien, die Verwendung ungeklär­
der staatlichen Molkereibehörde. ‚Sie verteilen ter Abwässer und die Nutzung nicht adäquater
sich auf Hunderte von Ställen, die sich zwischen Flächen (Erosionsgefährdung, Schadstoffeintrag
Hochhäuserschluchten, Gewerbebetrieben und etc.) als auch sozio­ökonomisch durch die viel­
Straßen drängen.‘“ fach beobachtbare Ausbeutung der Produzenten
Dierk Jensen: Zwischen Mumbais Hochhäusern fließt die Milch. durch Zwischenhändler oder die Verdrängung der
In: Welternährung 03 / 2002. Bonn: Deutsche Welthungerhilfe
2002, S. 3 Kleinproduzenten durch professionelle Anbieter.“
Martin Coy / Frauke Kraas: a. a. O., S. 38 – 39
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

Umweltprobleme
Da das Bevölkerungswachstum und die Expansion
der Städte mit außerordentlicher Geschwindigkeit
und extensiver Flächeninanspruchnahme ablau-
fen, sind gravierende Überlastungs- und Umwelt-
probleme eine fast unausweichliche Folge. Zu den
größten ökologischen Problemen gehören hohe
Luft- und Wasserverschmutzung, fast ungeregelte
Abfall- und Abwasserentsorgung sowie Degradie-
rung und Kontamination der städtischen Böden.
Da die Hauptwachstumsphase der Megastädte ins
„Automobilzeitalter“ fiel bzw. fällt, wird die Luft-
verschmutzung zum besonderen Belastungsfak-
tor. Beim Kohlenstoffmonoxid-, Schwefeldioxid-
und Bleigehalt überschreitet die Belastung die
Spitzenwerte in den Großstädten der entwickelten
Länder in aller Regel um ein Mehrfaches.
Ein nicht minder großes Problem ist die Abfall­
entsorgung. Das Beispiel Kairo zeigt, wie dieses     Hochgiftige metallhaltige Abwässer vom
Umweltproblem gleichzeitig eine wichtige Er- ‚Silberberg‘ fließen mit den Haushaltsabwässern
werbsquelle für die ärmere Bevölkerung darstellt. ungeklärt durch Potosi, Bolivien

„Abfallwirtschaft“
    in Kairo   Definieren Sie den Begriff „soziale Segre-
gation“ und erläutern Sie anhand konkreter Bei-
„Allein in diesem beispielhaft organisierten Wirt­ spiele, wie dieser Prozess im Alltag der Stadtbe-
schaftsbereich sind in Kairo mehr als 100 000 völkerung in Entwicklungsländern sichtbar wird.
Menschen tätig.   Erläutern und bewerten Sie die Folgen
An erster Stelle sind dabei die mehr als 20 000 der sozialen Segregation für das „Gesellschafts­
Angehörigen von Müllsammlerfamilien zu nen­ system Stadt“.
nen, die täglich mit ihren Eselskarren, neuerdings Werten Sie die Materialien zu El Cartucho
auch mit japanischen Pick-ups, die Abfälle aus aus und erläutern Sie daran Entstehung
den Haushalten der Kairener Mittel- und Ober­ und Wandel von „urban-underclass“-Vierteln.
schicht abholen. Die Abfälle werden dann in sechs   Diskutieren Sie die in der Karte von El
große ‚Müllsiedlungen‘ am Stadtrand von Kairo Cartucho eingezeichneten Planungen.
gebracht, wo die Müllsammler mit ­ihren Famili­   Im Gegensatz zu den innerstädtischen
en leben. Nahezu die gesamten Haushaltsabfälle Slumgebieten, den „slums of despair“, werden die
werden dort einer neuen Nutzung zugeführt. randstädtischen Marginalsiedlungen vielfach als
Als Einkommensquelle sind dabei die organi­ „slums of hope“ bezeichnet. Erklären Sie die Be-
schen Abfälle für die überwiegend koptischen griffe. Ist diese Unterscheidung Ihrer Meinung nach
Müllsammlerfamilien besonders wichtig, weil sie gerechtfertigt?
damit jährlich rund 50 000 Schweine aufziehen
und an Schweinemetzgereien verkaufen kön­
nen. Außerdem werden Altpapier- und -pappe,
Textil-, Kunststoff- und Aluminiumabfälle sowie
Altglas, Batterien, Blechdosen, Knochen u. a.
aussortiert und an Zwischenhändler oder gleich
an weiterverarbeitende Betriebe verkauft.“
Günter Meyer: Kairo. Entwicklungsprobleme einer o­ rientalischen
Megastadt. In: Erdmann Gormsen /A
  ndreas Thimm: a. a. O., S. 182
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77

#29440 Fundamente Stadtgeographie, S.75


Ausblick

Szenario I: Die fragmentierte Stadt formelle


Stadtbereiche
– zunehmende Desintegration
– Expansion informeller Siedlungen und informelle
Wirtschaft Stadtbereiche
– Abschottung der Privilegierten Umland
– Zunahme sozioökonomischen und
ökologischen Konfliktpotenzials Gated
– steigende Verwundbarkeit Communities
– Verlust der Regierbarkeit
innerstädtische
– Verstärkte Stadt-Land-Gegensätze und
Konflikte
sozioökonomische Disparitäten
– Zunahme von Desorganisation, Stadt-Umland-
Destabilisierung Konflikte

best practices

Stadtwachstum
Szenario II: Die korrigierende Stadt
– verlangsamtes Stadtwachstum Interessen-
– Persistenz sozioökonomischer und ausgleich
ökologischer Konflikte
– Schaffung von Identifikation und
Problembewusstsein
– Integrationsversuche der Informalität
– größere Spielräume für
Bewältigungsstrategien der verwundbaren
Gruppen
– Suche nach lokal angepassten Lösungen
– Orientierung an best practices
(Einzelprojekte der Stadterneuerung)

Szenario III: Die (re-)integrierende Stadt


– Kontrolle von Stadtwachstum und
Flächennutzung
– Abbau der Barrieren zwischen formeller
und informeller Stadt (z.B. Regulierung)
– Partizipation durch Strategien des
enablement und empowerment
– Good urban governance, Integration der
Privatwirtschaft
– soziale Integration und Disparitäten-
ausgleich
– Reduktion sozioökonomischer und
ökologischer Konfliktpotenziale
– Stadt-Land-Ausgleich, Dekonzentration
und echte Dezentralisierung

Szenarien
    der Stadtentwicklung in den Entwicklungsländern
Martin Coy / Frauke Kraas: a. a. O., S. 40
    
Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77
Wirkungsgeflecht zu den …

Vernetzendes Denken in Systemen Problematisch und irreführend ist auch der so


Geographische Systeme sind komplexe und dy- genannte Teufelskreis (circulus vitiosus). Er geht
METHODE

namische Systeme. In ihnen laufen Entwicklun- ebenfalls von der Annahme aus, dass Beziehun-
gen ab, die sich gegenseitig beeinflussen und so gen zwischen verschiedenen Faktoren nach der
zu vielfältigen Verbindungen und Zusammen- Art einer Kausalkette bestehen, wobei die einzel-
hängen führen. Dabei ergeben sich Ursache- nen Faktoren zugleich Ursache und Wirkung für
Folge-Wirkungen, Rückkoppelungen und mehr- und von anderen Faktoren sind (zirkuläre Verur-
schichtige Verflechtungen. sachung). Der Teufelskreis dient – im Gegensatz
Es ist Aufgabe des Erdkundeunterrichts, diese zu der einfachen linearen Kausalkette – in erster
einzelnen Erscheinungen, ihre Elemente, Ent- Linie zu Erklärung von sich negativ verstärken-
wicklungen und Wechselwirkungen aufzude- den Prozessen, im nachfolgenden Beispiel: Ver-
cken, um so die Struktur geographischer Systeme schärfung der Ausgangssituation (Armut) im cir-
in ihrer Komplexität und Dynamik zu erfassen. culus vitiosus.
Auf diesem Wege lässt sich gleichzeitig das für
das Fach Erdkunde wichtige vernetzende Denken
in Systemen schulen. „Teufelskreis
  der Armut“
Dieses Denken eignet sich in besonderer Weise
dazu, Sachverhalte sowohl in ihrer Ordnung als
auch in ihrer funktionalen Dimension zu vermit- Armut
teln. Es ist eine optimale Erkenntnismethode,
weil sie dem Menschen hilft, das ihm eigene,
eher linear-monokausale Denken zu überwin-
den – zugunsten eines mehrperspektivischen,
multi­kausalen Verflechtungsdenkens. niedrige
Unterernährung
Arbeitsleistung
Aus diesem Grund sind Darstellungen, die aus
einer einfachen linearen Kette von Ursachen und
Folgen bestehen, wie z. B. die nachstehende Ab-
bildung, höchstenfalls Hilfsmittel. Sie werden in hohe
aller Regel den mehrschichtigen / multikausalen Krankheits­
realen geographischen Sachverhalten nicht ge- anfälligkeit
recht.

  
Beispiel   einer linear / monokausalen Die Problematik dieser Darstellung liegt in der
Kette Vereinfachung der – in aller Regel – äußerst
­kom­plexen und mehrschichtigen Sachverhalte
schlechte Lebensverhältnisse auf dem Land sowie dem Irrglauben, dass zur Lösung der dar-
gestellten Probleme man nur an einer Stelle an-
setzen muss, um den gesamten „Teufelskreis“
aufzubrechen.
Landflucht

fehlende fehlender
Arbeitsplätze Wohnraum

informeller Sektor Marginalsiedlungen


Quelle: 978-3-623-29440-7 FUNDAMENTE Kursthemen Städtische Räume im Wandel, Schülerbuch, Oberstufe, S. 58 - 77
… Folgen der Verstädterung und Megapolisierung in Entwicklungsländern

Wirkungsgeflecht Schlüsselbegriffe
     zum genannten Bei­
In einem Wirkungsgeflecht, auch Wirkschema spiel in Auswahl (geordnet nach „Inhaltsebenen“)

METHODE
oder Strukturskizze genannt, lassen sich hinge-
1. Städtisches Wachstum
gen Gedankengänge, Ursache-Folge-Wirkungen, •  M igration
funktionale Beziehungen und komplexe Zusam- •  Bevölkerungswachstum
menhänge in eine logische und visuell leicht er- •  Flächenexpansion
fassbare Abfolge bringen. Dazu werden wichtige •  Entstehung von Marginalsiedlungen
•  Bildung von gated communities
Begriffe stichwortartig aufgelistet, nach Themen­
•  Verfall der Innenstädte
bereichen geordnet und durch Wirkungspfeile mit-
einander verbunden. Die Pfeile sollen dabei zum 2. Sozioökonomische Probleme
Ausdruck bringen, dass die einzelnen Faktoren in •  Interessenskonflikte
einer Wechselbeziehung zwischen verursachenden •  Soziale Verdrängungsprozesse
•  Soziale Fragmentierung
Faktoren, Prozessverläufen und Folgen stehen. •  Zunahme von Armut
•  Zunahme sozialer Disparitäten
Arbeitsschritte bei der Erstellung eines Wir- •  Obdachlosigkeit
kungsgeflechtes •  Unruhen und Kriminalität
•  Fehlende Arbeitsplätze
Beispiel: Folgen der Verstädterung und Megapo- •  Ausweitung des informellen Sektors
lisierung in Entwicklungsländern
3. Überlastungs- und Umweltprobleme
1.  Werten Sie die Texte und Materialien des Ka- •  Belastungen durch Müll und Abwasser
•  Flächenverbrauch
pitels „Verstädterung in den Entwicklungslän-
•  L uftverschmutzung durch Industrie und Verkehr
dern“ aus; ziehen Sie zur ergänzenden Informa- •  Bodenerosion und Bodendegradation
tion ggf. weitere Quellen heran. •  Grundwasserabsenkung
2.  Benennen Sie Schlüsselbegriffe zum Thema •  Landsenkungen und Überschwemmungen
und notieren Sie diese auf schmalen Papierstrei-
fen. (Optimal sind Haftnotizzettel.)
3.  Ordnen Sie die Schlüsselbegriffe nach Sach-
und / oder Problemfeldern.
4.  Ermitteln Sie die zentralen Schlüsselbegriffe
und platzieren Sie diese auf einem größeren Blatt
Papier / Karton an exponierter Stelle.
5.  Ordnen Sie, gegliedert nach den unter 3. ge-
nannten Gesichtspunkten, die anderen Begriffe den
zentralen Schlüsselbegriffen zu und kennzeichnen
Sie die entscheidenden Faktoren farblich.
6.  Stellen Sie durch Pfeile Beziehungen dar.
Was wirkt auf was? Wo bestehen Verflechtungen,
Rückkoppelungen etc.? (Dazu ggf. Doppelpfeile
verwenden.) Welcher Faktor wirkt besonders stark
auf den/die anderen? (Pfeile mit unterschiedli-
cher Strichstärke verwenden.) Kennzeichnen Sie
vermutete, nicht erwiesene Zusammenhänge als
solche, z. B. durch gestrichelte Linien / Pfeile.

  Erstellen Sie – ausgehend von Ihren in diesem Kapitel erarbeiteten Ergebnissen – ein Wirkungs-


geflecht zum Thema „Folgen und Probleme der Verstädterung und Megapolisierung in den Entwicklungs-
ländern“. Erweitern Sie sodann Ihr Wirkungsgeflecht um ein weiteres mit der Thematik verbundenes
Problemfeld (z.B. „Auswirkungen der Verstädterung auf den ländlichen Raum“ oder „Folgen der Mega-
polisierung für die Gesamtentwicklung eines Landes“.

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