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Moralische Idealisten

Unter Sadisten, Machtgierigen und Psychopathen finden wir seltener Verbrecher als
unter  moralischen Idealisten.

Eine Studie nach der anderen weist auf diesen scheinbar paradoxen Befund hin. Die
Selbstwahrnehmung, man gehöre zu den Guten, führt zu mehr Grausamkeiten, reduziert das
Empathievermögen, senkt die Denkfähigkeit. In keiner anderen Geisteshaltung blenden wir
eigene Fehler derart aus, wie wenn wir glauben, recht zu haben.

Hier der nächste Schocker: Wir alle idealisieren uns moralisch.

Denk kurz drüber nach. Du steckst täglich in deiner Haut, schlägst dich durch deine
Welt mit deinen Problemen. Und wenn du mir davon erzählst, klingt dein Leben wie die
Handlung einer Geschichte, in der du dich als Heldin auf eine Reise begibst. Falls du nicht
unter starken Depressionen leidest, ist dein moralischer Kompass verdächtig gut intakt.
Vielleicht nicht auf Mutter-Theresa-Level, aber eigentlich bist du schwer in Ordnung. Ich
kann ruhig jeden fragen. Alle werden es mir bestätigen.

Du warst nie das Problem, und genau das ist das Problem.

Wie das Gehirn den


moralischen Helden erschafft
Tun wir etwas Verwerfliches, redet unser Gehirn die Tat klein. Wenn nötig, beschreibt
die Neurowissenschaftlerin Giuliana Mazzoni, verfälscht es Erinnerungen, damit wir uns gut
fühlen. Professor Carol Travis und Elliot Aronso gehen noch weiter und behaupten, dass eine
der wichtigsten Aufgaben unseres Gehirns darin besteht „Rechtfertigungen zu finden, die
unsere Fehler und Verbrechen entschuldigen“.

Wir alle wollen moralische Helden sein.


Das hängt mit unserem sozialen Wesen zusammen. Denkt man schlecht über uns, sinkt
unser Ansehen, was mitunter lebensgefährlich werden kann. Egal, wie cool wir tun, die
Meinung anderer zählt. Nicht von jedem, aber von unserem unmittelbaren Kreis schon. Wir
lechzen nach seiner Achtung und fürchten seine Ächtung.

Ab der Geburt arbeitet unser Gehirn darauf hin, die Regel des sozialen Miteinanders zu
verinnerlichen, um sich in verschiedenen Situationen zurechtzufinden. So entwickelt sich der
Teil unseres Gehirns als letzter (der präfrontale Kortex), der für soziale Intelligenz,
vernünftige Überlegungen und moralisches Verhalten verantwortlich ist. Mit 25 Jahren!

Wir brauchen lange, bis wir verstehen, wie die Welt funktioniert. Und wenn wir sie
verstanden haben, wollen wir sie kontrollieren. So erreichen wir unsere Ziele, gehen
Bindungen ein, erwerben Ansehen.

Niemals die ganze Wahrheit


Nur einer Gruppe anzugehören, reicht uns aber nicht. Wir wollen auch einen guten Platz
darin. Kurzum: Status.

Wie Macht ist Status ein Geschenk der Gemeinschaft, die unsere Position innerhalb der
Gruppe sichert und unsere Geschichte bestätigt. Die Beschreibung des moralischen Helden ist
deshalb auch keine Kritik, sondern eine Feststellung.

Das dringende Bedürfnis, auf der richtigen Seite zu stehen, ist tief in uns verwurzelt.
Ehe wir andere davon überzeugen, haben wir uns längst selbst überzeugt. Das gilt für
Neonazis genauso wie für Linksradikale, religiöse Fanatiker, oder den sogenannten normalen
Bürger, der keine radikale Meinung zu irgendeinem Thema vertritt. Wichtig ist nicht, ob wir
den Status am Ende erhalten, sondern dass wir uns danach sehnen.

Am besten erzählt jeder unseren Heldenmythos weiter. Leider gibt es einen Haken:
Diese Geschichte ist immer fehlerhaft, selbstprophetisch und niemals die ganze Wahrheit.

Die Geburtsstunde
Baut das Gehirn ein Modell der Realität, kreiert es eine Geschichte mit uns als ihren
Helden darin. Wir glauben, die Welt zu verstehen, bald braucht uns niemand mehr etwas zu
erzählen. Von Geschichtenerschaffern wandeln wir uns zu Geschichtenverteidigern. Die
Geburtsstunde des moralischen Idealisten.

Professor Drew West konfrontiert in seinem brillanten Buch Das politische


Gehirn Anhänger der Liberalen und Konservativen mit widersprüchlichen Aussagen ihrer
Präsidentschaftskandidaten und fand etwas Erstaunliches heraus. Mitglieder beider Parteien
zeigten sich nicht nur blind für die offensichtlichen Widersprüche, sondern leugneten sie oder
redeten sie absurd klein. Fakten hin oder her.

Du hast recht!
Die Neurowissenschaftlerin Sara Gimbel beobachtet jahrelang, was in den Gehirnen der
Menschen passiert, wenn man sie mit Beweisen konfrontiert, die ihre politische Meinung
angreifen: „… es ist, als würde man durch einen dunklen Wald spazieren und plötzlich einem
Bären begegnen.“

Die Panik überrollt uns. Heldinnen können nicht unrecht haben, niemals! Wir erheben
uns gegen die Fakten, zählen lauter Gründe auf, warum die Gegenseite falschliegt, suchen in
sozialen Medien nach Allianzen, die unsere Sichtweise bestätigen, uns empowern. Wir
errichten eine Verteidigungsmauer um unsere Geschichte, schützen sie vor Feinden, die ihren
Wahrheitsgehalt bezweifeln.

In mehreren Experimenten zeigte der Psychologieprofessor Dennis Tourish, wie solche


gegenseitigen Selbstbestätigungen, Schmeicheleien und Lobpreisungen, vor allem bei sehr
intelligenten Menschen, zur Verhärtung einer falschen Sichtweise führen. Tourish nennt es
the perfumed trap. Die Falle, in die uns unsere Heldengeschichte hineintappen lässt. Durch
ständigen Zuspruch berieselt sie den moralischen Idealisten mit dem Mantra:

„Du hast recht! Du hast recht! Du hast recht!“


Der moralische Idealist will
alle retten
Die eigene Geschichte ist die Brille, durch die wir die Welt betrachten. Sie sorgt dafür,
dass wir Fakten schönreden oder relativieren. In der Psychologie spricht man von
Erwünschtheitsverzerrung: Die meisten Menschen sehen das, was sie sehen wollen. So
empfindet der moralische Idealist seine Geschichte als zutiefst wahr und solange die eigenen
Handlungen als richtig gefühlt werden, ist er bereit, über Leichen zu gehen. Die Geschichte
spielt die Musik, auf die wir tanzen und morden.

Als der Rassist D. W. Griffith 1915 den Film The Birth of a Nation präsentierte, gewann
der Ku Klux Klan Tausende neue Mitglieder. Darin erzählt er die Geschichte von bösen
Schwarzen als Vergewaltigern, die armen weißen Frauen bedrohen. Um das Böse zu
bekämpfen, begannen moralische Idealisten zu lynchen. Veit Harlans rassistischer Film Jud
Süss trieb 1940 Tausende Deutsche auf die Straßen. Aus vollem Hals brüllten sie: „Juden,
raus aus Deutschland!“

Als moralische Idealisten glaubten sie fest daran, die Welt vor den bösen Schwarzen
und bösen Juden zu retten.

Das Paradox der Geschichten


Paradoxerweise befeuern Geschichten auch die Solidarität mit Fremden, beenden
Rassismus, erschaffen Menschenrechte. Der Geschichtsprofessor Lynn Hunt argumentiert,
dass die Erfindung des Romans am meisten für die Verbreitung der Menschenrechte getan
habe. Im 18. Jahrhundert war es in Europa unüblich, dass sich Menschen aus den oberen
Schichten mit den Sorgen der Unterklasse, der Frauen oder der Sklaven beschäftigten. Bücher
wie Pamela, Uncle Toms Cabin und später Ein Tag im Leben des Ivan
Denissowitsch erweiterten die emotionale Welt ihrer Leser. Indem er Menschen in die Welt
außerhalb ihrer Schicht hineinversetzte, half der Roman, die Universalität unserer Gefühle
besser zu erkennen.
Erst wenn man nicht mehr in Klasse, Hautfarbe, Geschlecht dachte, war man ein
moralischer Held.

Der Wunsch, zu den Guten zu gehören, findet sich also in jeder Geschichte. Sie
verbreitet Hass oder Liebe, Krieg oder Frieden. Dieses Paradox erinnert uns daran, wie
vorsichtig wir mit unseren Erzählungen sein müssen, wie schnell sie das Leben retten oder
zerstören können.

So meint sie es aber


Während ich diesen Essay schreibe, erklärt Russland der Ukraine den Krieg. Inzwischen
rollt die russische Armee in Kiew ein und der nächste moralische Idealist, erzählt seine
selbstlose Heldengeschichte. Putin will die ukrainische Regierung entnazifizieren, die
russische Minderheit befreien, die Ukrainer retten. Hierzulande tagt am Wochenende das
Parlament, um 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr zu pumpen. Der Bundesfinanzminister
Christian Lindner verkauft uns diese Geschichte als eine „Investition in unsere Freiheit.“

Wo man hinschaut, der moralische Idealist schaut zurück.

Erkennen wir an, dass unsere Geschichte von dem Wunsch getrieben ist, zu den Guten
zu gehören, lernen wir, sie aus Distanz zu betrachten.

Ich tendiere beispielsweise zu einem linksfreiheitlichen Denken. In Diskussionen um


Migration würde ich am liebsten alle Grenzen einreißen, weil nicht der Zufall darüber
entscheiden sollte, ob Menschen auf eine Zukunft hoffen dürfen.

Meine Sichtweise blendet die wirtschaftliche Seite von Migration natürlich aus. Da wir
uns global in einem Wirtschaftsspiel namens Kapitalismus befinden, konkurrieren Länder
miteinander und streben danach, zu führenden Wirtschaftsnationen zu werden. Sie züchten
Könner im eigenen Land und schotten sich vor Migration ab (Japan, Korea, China), oder sie
betreiben talent scouting und werben um die Besten aus anderen Ländern (Kanada,
Australien, USA). Willkommen, sind entweder gar keine oder kompetente Migranten. Spielen
die Länder das Spiel gut, sind sie wirtschaftlich erfolgreich und die moralischen Idealisten
fühlen sich bestätigt, das Richtige zu tun.
Gleichzeitig stempelt diese Geschichte einen Großteil der Menschheit als wertlos ab, da
sie wirtschaftlich unproduktiv ist.

So sagt sie es natürlich nie, so meint sie es aber.

Wer hat also recht?


Vermutlich beide. Wirtschaftlicher Erfolg führt in einem kapitalistischen Spiel
nachweislich zu Wohlstand. Ihn nur zu verteufeln, ist naiv und auch keine echte Kritik. Denkt
man jedoch die wirtschaftliche Geschichte in ihrer Radikalität zu Ende, führt sie genauso
nachweislich zur humanitären Katastrophe. Warum Flüchtlingen helfen, wenn sie nicht
kompetent genug sind?

In der schönen neuen Welt räumt der Rassismus seinen Platz für


den Kompetenzismus ein. Machen wir uns nichts vor, darin leben wir schon.

Welches Spiel wollen wir also spielen? Die Antwort auf diese Frage führt zum Kern
unserer Werte. Auf dem Spielfeld bauen wir die Geschichte, in der wir zu den Guten gehören.
Egal, für welche Geschichte wir uns entscheiden, wir werden einen Preis dafür zahlen.

Es hilft aber, die Gefahr des moralischen Idealisten und das Paradox von Geschichten
vor Augen zu führen, wenn wir uns für eine Geschichte entscheiden. Es hilft, sich die Frage
zu stellen, wen ich bei meiner Geschichte übersehe, wem ich leid zufüge. Es hilft, Abstand
gegenüber der eigenen Geschichte zu gewinnen, der Möglichkeit von Fehlern Raum zu geben.
Auch hilft es, sich aus den eigenen Kreisen herauszuwagen, die eigene Geschichte
hinterfragen zu lassen. Heute singen so viele das Loblied der Diversität, rufen aber beim
kleinsten Meinungsunterschied sofort zu den Waffen. Panisch sehen sie überall Bären, statt
andere Sichtweisen. Es hilft, den moralischen Idealisten nicht zu unterschätzen. Hinter jeder
Geschichte lauert er, wartet den Moment ab, sich auf die Bühne zu stürzen, in jede Richtung
zu rufen: „So ist die Welt! Genauso wie ich sie euch zeige!“

Es hilft, nicht auf den moralischen Idealisten zu hören, sich in Demut zu üben, nie zu
vergessen, dass wir falschliegen können.

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