Unter Sadisten, Machtgierigen und Psychopathen finden wir seltener Verbrecher als
unter moralischen Idealisten.
Eine Studie nach der anderen weist auf diesen scheinbar paradoxen Befund hin. Die
Selbstwahrnehmung, man gehöre zu den Guten, führt zu mehr Grausamkeiten, reduziert das
Empathievermögen, senkt die Denkfähigkeit. In keiner anderen Geisteshaltung blenden wir
eigene Fehler derart aus, wie wenn wir glauben, recht zu haben.
Denk kurz drüber nach. Du steckst täglich in deiner Haut, schlägst dich durch deine
Welt mit deinen Problemen. Und wenn du mir davon erzählst, klingt dein Leben wie die
Handlung einer Geschichte, in der du dich als Heldin auf eine Reise begibst. Falls du nicht
unter starken Depressionen leidest, ist dein moralischer Kompass verdächtig gut intakt.
Vielleicht nicht auf Mutter-Theresa-Level, aber eigentlich bist du schwer in Ordnung. Ich
kann ruhig jeden fragen. Alle werden es mir bestätigen.
Du warst nie das Problem, und genau das ist das Problem.
Ab der Geburt arbeitet unser Gehirn darauf hin, die Regel des sozialen Miteinanders zu
verinnerlichen, um sich in verschiedenen Situationen zurechtzufinden. So entwickelt sich der
Teil unseres Gehirns als letzter (der präfrontale Kortex), der für soziale Intelligenz,
vernünftige Überlegungen und moralisches Verhalten verantwortlich ist. Mit 25 Jahren!
Wir brauchen lange, bis wir verstehen, wie die Welt funktioniert. Und wenn wir sie
verstanden haben, wollen wir sie kontrollieren. So erreichen wir unsere Ziele, gehen
Bindungen ein, erwerben Ansehen.
Wie Macht ist Status ein Geschenk der Gemeinschaft, die unsere Position innerhalb der
Gruppe sichert und unsere Geschichte bestätigt. Die Beschreibung des moralischen Helden ist
deshalb auch keine Kritik, sondern eine Feststellung.
Das dringende Bedürfnis, auf der richtigen Seite zu stehen, ist tief in uns verwurzelt.
Ehe wir andere davon überzeugen, haben wir uns längst selbst überzeugt. Das gilt für
Neonazis genauso wie für Linksradikale, religiöse Fanatiker, oder den sogenannten normalen
Bürger, der keine radikale Meinung zu irgendeinem Thema vertritt. Wichtig ist nicht, ob wir
den Status am Ende erhalten, sondern dass wir uns danach sehnen.
Am besten erzählt jeder unseren Heldenmythos weiter. Leider gibt es einen Haken:
Diese Geschichte ist immer fehlerhaft, selbstprophetisch und niemals die ganze Wahrheit.
Die Geburtsstunde
Baut das Gehirn ein Modell der Realität, kreiert es eine Geschichte mit uns als ihren
Helden darin. Wir glauben, die Welt zu verstehen, bald braucht uns niemand mehr etwas zu
erzählen. Von Geschichtenerschaffern wandeln wir uns zu Geschichtenverteidigern. Die
Geburtsstunde des moralischen Idealisten.
Du hast recht!
Die Neurowissenschaftlerin Sara Gimbel beobachtet jahrelang, was in den Gehirnen der
Menschen passiert, wenn man sie mit Beweisen konfrontiert, die ihre politische Meinung
angreifen: „… es ist, als würde man durch einen dunklen Wald spazieren und plötzlich einem
Bären begegnen.“
Die Panik überrollt uns. Heldinnen können nicht unrecht haben, niemals! Wir erheben
uns gegen die Fakten, zählen lauter Gründe auf, warum die Gegenseite falschliegt, suchen in
sozialen Medien nach Allianzen, die unsere Sichtweise bestätigen, uns empowern. Wir
errichten eine Verteidigungsmauer um unsere Geschichte, schützen sie vor Feinden, die ihren
Wahrheitsgehalt bezweifeln.
Als der Rassist D. W. Griffith 1915 den Film The Birth of a Nation präsentierte, gewann
der Ku Klux Klan Tausende neue Mitglieder. Darin erzählt er die Geschichte von bösen
Schwarzen als Vergewaltigern, die armen weißen Frauen bedrohen. Um das Böse zu
bekämpfen, begannen moralische Idealisten zu lynchen. Veit Harlans rassistischer Film Jud
Süss trieb 1940 Tausende Deutsche auf die Straßen. Aus vollem Hals brüllten sie: „Juden,
raus aus Deutschland!“
Als moralische Idealisten glaubten sie fest daran, die Welt vor den bösen Schwarzen
und bösen Juden zu retten.
Der Wunsch, zu den Guten zu gehören, findet sich also in jeder Geschichte. Sie
verbreitet Hass oder Liebe, Krieg oder Frieden. Dieses Paradox erinnert uns daran, wie
vorsichtig wir mit unseren Erzählungen sein müssen, wie schnell sie das Leben retten oder
zerstören können.
Erkennen wir an, dass unsere Geschichte von dem Wunsch getrieben ist, zu den Guten
zu gehören, lernen wir, sie aus Distanz zu betrachten.
Meine Sichtweise blendet die wirtschaftliche Seite von Migration natürlich aus. Da wir
uns global in einem Wirtschaftsspiel namens Kapitalismus befinden, konkurrieren Länder
miteinander und streben danach, zu führenden Wirtschaftsnationen zu werden. Sie züchten
Könner im eigenen Land und schotten sich vor Migration ab (Japan, Korea, China), oder sie
betreiben talent scouting und werben um die Besten aus anderen Ländern (Kanada,
Australien, USA). Willkommen, sind entweder gar keine oder kompetente Migranten. Spielen
die Länder das Spiel gut, sind sie wirtschaftlich erfolgreich und die moralischen Idealisten
fühlen sich bestätigt, das Richtige zu tun.
Gleichzeitig stempelt diese Geschichte einen Großteil der Menschheit als wertlos ab, da
sie wirtschaftlich unproduktiv ist.
Welches Spiel wollen wir also spielen? Die Antwort auf diese Frage führt zum Kern
unserer Werte. Auf dem Spielfeld bauen wir die Geschichte, in der wir zu den Guten gehören.
Egal, für welche Geschichte wir uns entscheiden, wir werden einen Preis dafür zahlen.
Es hilft aber, die Gefahr des moralischen Idealisten und das Paradox von Geschichten
vor Augen zu führen, wenn wir uns für eine Geschichte entscheiden. Es hilft, sich die Frage
zu stellen, wen ich bei meiner Geschichte übersehe, wem ich leid zufüge. Es hilft, Abstand
gegenüber der eigenen Geschichte zu gewinnen, der Möglichkeit von Fehlern Raum zu geben.
Auch hilft es, sich aus den eigenen Kreisen herauszuwagen, die eigene Geschichte
hinterfragen zu lassen. Heute singen so viele das Loblied der Diversität, rufen aber beim
kleinsten Meinungsunterschied sofort zu den Waffen. Panisch sehen sie überall Bären, statt
andere Sichtweisen. Es hilft, den moralischen Idealisten nicht zu unterschätzen. Hinter jeder
Geschichte lauert er, wartet den Moment ab, sich auf die Bühne zu stürzen, in jede Richtung
zu rufen: „So ist die Welt! Genauso wie ich sie euch zeige!“
Es hilft, nicht auf den moralischen Idealisten zu hören, sich in Demut zu üben, nie zu
vergessen, dass wir falschliegen können.