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DIETER GUTKNECHT, Art. Verzierungen in: MGG Online, hrsg.

von Laurenz Lütteken, Kassel,

Stuttgart, New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 1998, online veröffentlicht 2016,

https://www.mgg-online.com/mgg/stable/11887 © 2016–2021 GbR MGG

I. Definition und Problematik der Ausführung

Unter der Bezeichnung Verzierungen (auch Ornamente, »wesentliche Manieren«, »willkürliche

Veränderungen«, Diminutionen; engl. graces, ornaments, embellishments; frz. apréments, ornaments,

broderies; ital. fioretti, fioriture, abellimenti) wird allgemein zweierlei verstanden: einerseits

meint der Begriff all jene Zusätze zum Notentext bzw. zum Melodieton, die durch spezielle

Zeichen, Kürzel oder kleine Noten angezeigt werden, zum anderen die Musizierpraxis, die den

gegebenen Notentext als Grundlage zu selbst erfundenen Veränderungen in Form von zumeist

kleinnotigen Improvisationen begreift. Die Ausführung von Verzierungen stellt eine

individuelle und subjektive ›Zutat‹ des Interpreten zur Komposition dar, deren exakte

Darstellung, so scheint es, zwar in zahlreichen Theoretika hinreichend beschrieben wurde, es

sich aber heute immer deutlicher herausstellt, daß die zweifelsfreie eindeutige Auflösung nur in

eingeschränktem Maße möglich ist. Erschwerend kommt hinzu, daß eine durchgängige

Notierungstradition weder vertikal durch die Epochen noch horizontal innerhalb dieser zu

beobachten ist, im Gegenteil: jeder Komponist verwendet eigene Zeichen, die z. T. zwar

standardisiert sind; einige zusätzliche jedoch werden nur individuell verwendet. Die weitere

Schwierigkeit einer Komponisten und Komposition gemäßen Ausführung heute liegt in der

Ambiguität des Einsatzes von Verzierungen als »wesentliche Manieren« und der daraus

resultierenden Mehrdeutigkeit. Eine adäquate Auflösung hängt von unterschiedlichen

Gegebenheiten ab: die Stelle, an der eine Verzierung gefordert wird, bestimmt ihren Charakter,

z. B. hängt die Ausführung eines Trillers davon ab, ob er im langsamen oder schnellen Satz

erscheint, auf- oder absteigend im laufenden Notentext ausgeführt werden soll, eine

Klangfarbenintensivierung oder Belebung längerer Töne darstellt, in der Kadenz auftritt; ferner

bestimmen all die genannten Faktoren die Schnelligkeit der zwei Tönerepetitionen, ebenfalls die

Entscheidung darüber, ob der Triller mit oder ohne Nachschlag gespielt wird. Von besonderer

Evidenz für die charakteristische Ausführung einer Verzierung ist das Auftauchen in Vokal-

oder Instrumentalmusik; bei letzterer muß sicherlich noch die Art des Instruments (Streich-,

Tasten-, Holzblas-, Blechblasinstrumente, innerhalb dieser die jeweilige Lage) beachtet werden.

Die unterschiedlichen Ausführungscharakteristika führten in der Barockzeit zur vereinfachten

Klassifizierung der Verzierungen, wobei diejenigen auf der Zeit und die einen Notenwert

ausfüllenden eindeutig zu nennen sind: Vorschlag, Schleifer, Anschlag, Mordent, Pralltriller,

Schneller; Trillo, Triller, Gruppo, Doppelschlag, Tremolo, Vibrato; diejenigen aber, die
Notengänge verbinden oder Intervalle ausfüllen, können antizipierend oder nachschlagend

interpretiert werden: Schleifer, vereinzelt (z. B. Diskussion zu Erbarme-Dich-Arie aus der

Matthäuspassion von J. S. Bach, Beginn Violine Solo) Anschlag- Nachschlag, Doppelschlag als

Nachschlag. Im Gegensatz zu diesen »wesentlichen Manieren« wie Quantz, C. Ph. E. Bach, D. G. 

Türk u. a. die durch Zeichen oder kleine Noten gekennzeichneten Verzierungen nennen, werden

die Ausführung der »willkürlichen Veränderungen« ohne Markierung im Notentext versehen und

als freie Improvisation in bestimmtem Kontext erwartet. Solche Veränderungen werden bei

Wiederholungen plaziert, seien es kürzere Motive oder aber im Umfang der Wiederholung des

A-Teils in der Da capo-Arie. Individuelle improvisatorische Ausgestaltung verlangt ebenfalls das

arpeggio, wobei wiederum Unterschiede durch den Instrumententyp gegeben sind. Eine

besondere Ausführungsart des arpeggio verlangt die acciac­catura, die als Akkordbrechung auch

fremde chromatische oder diatonische Töne enthält.

Zu den nicht notierten Veränderungen, aber durchaus zu den Verzierungen gehörig, zählen die

1. »Inégalité«, 2. die lombardische Ausführung zweier gleicher Achtel, 3. das nicht immer durch

Zeichen geforderte Vibrato, sei es im Gesang, bei Streich- oder Blasinstrumenten oder beim

Clavichord. Im strengen Wortsinn müssen zu den Verzierungen bzw. Auszierungen ferner

Überleitungen, Einführungen oder aber auch die Kadenzen im Solokonzert gezählt werden.

Überleitungen und Einführungen werden wie die Kadenzen zumeist durch Fermaten im

Notentext angezeigt, finden sich häufig an Übergängen, z. B. im instrumentalen Rondo, aber

auch in Arien (Haydn, Schöpfung, z. B. Baß-Arie »Rollend in schäumende Wellen« und Sopran-Arie

»Auf starkem Fittige«). Solo-Kadenzen werden gewöhnlich nach ausgehaltenem Quartsext-

Akkorden plaziert. Als Verzierungen wären sie zu den Improvisationen zu rechnen, da sie freie,

häufig virtuose, auf der Grundlage des thematischen oder stimmungsmäßigen Zusammenhangs

des Kompositionsabschnitts beruhende Passagen sind.

In der vokalen und instrumentalen Aufführungspraxis der jüngeren Zeit ist der häufige

Gebrauch des nicht notierten Crescendo und Decrescendo (esclamazione, messa di voce) üblich

geworden. Die Verwendung dieser Verzierungsart wird zwar bei einigen Theoretikern

beschrieben (Caccini 1601 / 02, Quantz 1752, XIV. Hauptstück, 10.§, S. 140; Tartini u. a.), ihr

ständiger Einsatz ist jedoch fraglich. Quantz beschreibt die messa di voce im Zusammenhang

seiner Erläuterung, ein Adagio zu gestalten, Tartini verlangt die messa di voce ohne Vibrato zu

spielen, bei einem langen Triller empfiehlt er jedoch eine messa di voce semplice dal piano, al

forte, also nur ein Crescendo.

II. Aufführungspraxis
Den hauptsächlichen Sinn haben die Verzierungen einerseits darin, einzelne Melodietöne

hervorzuheben, sei es durch Umspielung oder Betonung, andererseits durch ihre ausgewählte

Anwendung, die zumeist Dissonanzen auf betonter Zeit entstehen läßt, den harmonikalen

Ablauf abwechslungsreicher zu gestalten. Zwar suggerieren die Erklärungs- und

Auflösungstabellen in den Theoretica eine vermeintlich exakte Darstellung des

Verzierungskürzels, aber die Praxis weist nach, daß eine genaue rhythmische und dynamische

Auflösung vom Empfinden des Spielers oder Sängers abhängt, der die Lösung aus dem Kontext

der Komposition, aber auch des Auffführungsrahmens (wie Raum bzw. Aufführungsort und

momentane Gestimmtheit) herleiten muß. Somit entziehen sich sämtliche Verzierungen in

besonderem Maße einer stets genauen Darstellung, weil ihre Gestaltung wie kein anderer

musikalischer Zusammenhang der improvisatorisch-subjektiven Ausführung des Interpreten

unterliegt. Aus diesem Grunde können sämtliche Tabellen mit Darstellungen und Auflösungen

von Verzierungen lediglich ein Muster von möglichen Ausführungen zur Verfügung stellen,

wobei die einzelnen wichtigen Parameter der künstlerischen Entscheidung dem Sänger, Spieler

oder Dirigenten anheim gestellt bleiben. So kann man zwar bei C. Ph. E. Bach lesen, daß z. B. die

Dauer der Vorschläge »in ihrer Geltung verschieden, oder sie werden allzeit kurz abgefertiget« (1753,

Zweyte Abteilung. Von den Vorschlägen, § 4) seien, was im nächsten Paragraphen präzisiert wird,

in seiner Zeit habe man begonnen, »diese Vorschläge nach ihrer wahren Gestaltung auszuführen […]

Damahls waren die Vorschläge von so verschiedener Geltung noch nicht eingeführet«. C. Ph. E. Bach

verweist auf eine allgemeine Präzisierung der Vorschlagsdauern, die in dieser Form in der

Musik vor seiner Zeit offensichtlich unbekannt war. Aber diese Angaben geben lediglich eine

Notierungs-, jedoch keine Ausführungsdauer an, denn die dürfte in vielen Fällen zwischen den

»anschlagenden« und »durchgehenden« Zeiten schweben. Diese Unwägbarkeiten dürften bei

vielen Verzierungen den Reiz ausmachen, bzw. steigern, den eine Komposition durch die

Ausschmückung und Hinzunahme derjenigen Ausdruckselemente gewinnt, die in vielen Fällen

primär nicht vom Komponisten intendiert wurden, sondern als Zutat des interpretierenden

Künstlers aufzufassen sind. Die Unschärfen, die dem Wesen der Verzierungen – hier sind

natürlich nur die »wesentlichen Manieren«, also die durch Kürzel ausgedrückten bzw.

angezeigten Formen gemeint – von Natur aus zu eigen sind, haben in der heutigen

Aufführungspraxis der Alten Musik einerseits zu einer gewissen Normierung in der

Ausführungsgestaltung, andererseits vor allem in der Literatur, die sich um Lösung

aufführungspraktischer Probleme bemüht, zu einer Fülle von möglichen Vorschlägen geführt.

Wenn die Verzierungslehren eine Konstante aufweisen, dann ist es die Vielfalt der Möglichkeit

aufgrund eines Modells, das wirklich nur als Ausgangspunkt und Grundmuster der jeweiligen

Verzierung gelten kann, da zu viele Kriterien die letztendliche Gestaltung festlegen. Eine

permanente Ausführung des Trillers mit schwerbetontem Vorhalt von oben, gar noch in der

Manier C. Ph. E. Bachs mit z. B. einer Zweidrittel-Lösung bei punktierten Noten für den Vorhalt
und Eindrittel für die Hauptnote widerspricht zutiefst dem historischen Verständnis eines

Akzidens, das sich durch Vielfalt und kontextbezogene Individualität einerseits und subjektiv

gestalterische Interpretation andererseits auszeichnet. Die ganze Problematik der

Verzierungsdarstellung heute zeigt sich an einem so exponierten Beispiel wie am Beginn der

Violin-Solo-Stimme der Erbarme-Dich-Arie aus J. S. Bachs Matthäuspassion. Kurz nach Erscheinen

des Bandes in der Alten Bachausgabe finden sich die ersten Lösungsvorschläge, deren

vermeintliche Korrekturen oder alternative Lösungsvorschläge kontinuierlich bis in die

Gegenwart zu verfolgen sind (vgl. Notenbeispiel 1; vgl. P. Schleuning 1979; D. Gutknecht 1980).
Notenbeispiel 1: aus: E. D. Wagner 1869; E. Dannreuther 1893 und 1895; H. Goldschmidt 1907;

A. Beyschlag 1908, NA Walluf 1978; A. Heuß, Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion, Lpz.

1909; C. Sachs, Zu den Vorschlägen in der Matthäuspassion, in: AMZ 39, 1912, S. 1301; H. J. 

Moser, Zur Frage der Ausführung der Ornamente bei Bach, Zählzeit oder Notenwert, in: BJ

1916, S. 8, NA: Musik in Zeit und Raum, Bln. 1960, S. 159–172; A. Schering, »Vorhalte« und

»Vorschläge« in Bachs Passionen und im Weihnachtsoratorium, in: BJ 1923, S. 13; Chr.

Döbereiner, Zur Renaissance alter Musik, Bln. / Wunsiedel 1950, Tutzing 21960; W. Emery 1953;

B. Aulich, Alte Musik, Mn. 1957; Fr. Neumann 1978

Die Sammlung macht deutlich, daß eine auch nur ungefähre schriftliche Fixierung einer

Verzierungslösung gegen den Geist dieses nur dem Interpreten überlassenen Gebietes der

Interpretation handelt. Wenn Verzierungen im Notentext ausgeschrieben werden – gerade die

Erbarme-Dich-Arie liefert vermeintliche Beispiele für den »notierten« Schleifer –, so werden sie

Bestand der musikalischen Struktur, des vom Komponisten determinierten Verlaufs eines

methodischen Zusammenhangs.

Die Musik jeder Epoche hat die ihr eigenen Verzierungen und zwar in der Art, wie sie aus ihr

entstehen. Für die Aufführungspraxis heute besteht eine Hauptaufgabe darin, zwar einerseits
das zeitgenössische Quellenmaterial aus der Zeit heraus zu interpretieren, aber andererseits

darauf zu verweisen, daß eine angemessen authentische Musizierweise dies nur zum

Ausgangspunkt und als Grundlage ansehen kann, da eine stimmige Lösung aus der Kombination

von Wissen und Praxis entstehen muß. Verzierungspraktiken sind sicherlich immer schon

Bestandteil des Musizierens gewesen, aber erst seit der vom Komponisten überwachten

Schriftlichkeit zum Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen Komponist und

Ausführenden geworden. Von einer solchen bestehenden Praxis scheint z. B. G. de Machaut zu

berichten, wenn man seinen Hinweis richtig interpretiert, Peronelle d’Armentière möge die

Ballade »Nes qu’on porroit les etoilles mombrer«, »in langsamen Tempo und ohne eigene Zugaben

oder Kürzungen« singen (nach: NHdb, Bd. 2, S. 341). Eigene Zugaben können sich im 14. Jh. auf

Diminutionen und vielleicht schon Verzierungen des Einzeltons beziehen. Die mittelalterlichen

Theoretiker geben z. T. detailliert Auskunft über vokale und instrumentale Praktiken.

Aber schon in diesen Anweisungen liegt ein Problem der Verzierungsdeutung schlechthin:

haben die beschriebenen Verzierungen in ihrer Zeit Allgemeinanspruch oder sind sie nur auf

Werke des Verfassers, wenn er Komponist ist, anwendbar? Für wie lange Zeit können sie, wenn

sie denn so etwas wie Bestand haben, in Gebrauch bleiben? Es ist bekannt, daß es personen-,

landes- und zeittypische Verzierungsnuancen gibt. Beispiele wie C. Ph. E. Bach und Quantz

zeigen, daß jeder in nicht wenigen Details eigene Ansichten vertritt, obwohl sie fast zeitgleich

ihre beiden theoretischen Schriften herausbrachten, zwar für verschiedene Instrumente, aber

in ihren allgemeinen Teilen doch die Musik allgemein betreffend und daß sie darüber hinaus

noch Mitglieder desselben Musizierkreises der Berliner Hofkapelle waren. Es ist zu prüfen,

inwieweit die Unschärfe in der Auslegung gehen kann, denn einen horizontalen Grundkonsens

muß es wohl geben, sonst könnte keine stiltypische, epochenmäßige Verzierungskonvention

entstehen. Es scheint, daß die »willkürlichen Veränderungen« weniger dem Stil einer Epoche

zugehören. Hier kommt es womöglich auf das Ausmaß der Anwendung noch mehr an als schon

bei Verzierungen allgemein. Diminutionen in Form von ›Laufwerk‹ sind im solistischen Spiel

durchgängig vom 16. Jh. bis zur Gegenwart präsent.

Vor zu häufigem Einsatz sowohl der »wesentlichen Manieren« als auch der »willkürlichen

Veränderungen« wird seit der literarischen Darstellung des Verzierungswesens einhellig und

durchgängig gewarnt. Als Katalysator einer stimmigen Auswahl wird stets das rechte

Empfinden bzw. der gute Geschmack des Ausübenden angemahnt. In der heutigen

Aufführungspraxis ist das Bemühen erkennbar, dem stiltypischen Gleichgewicht Rechnung zu

tragen.
DIETER GUTKNECHT, Art. Verzierungen in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel,

Stuttgart, New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 1998, online veröffentlicht 2016,

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