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Literaturwissenschaft
Lehramt Deutsch/Geschichte
zum Thema:
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Betrachtung
Augsburg 1995
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Inhalt
2.1 Der moderne Mythosbegriff als Bedingung für den poetisch instrumentalisierten
Mythos in der "literarischen Moderne"? (S. 21)
3.1.1 Mythos, Rausch und Regression: Von Rönne bis zur formalen Neubildung des
Mythos (S. 27)
Krisen und die mythopoetische Bewältigung (S. 33); - Metapher oder Metonymie (S. 36); -
Mythisch-imaginäre Komplexe (S. 39); - Entgrenzung: Die mythische Metaphysik und
Transzendenz (S. 47); - Erste Ergebnisse (S. 50); - Die mystische Partizipation,
biologische Dichtung und die Ablehnung der Geschichte (S. 51); - Der Rausch als
psychogene Voraussetzung für die mythische Erfahrung: das Dionysische des Mythos und
die Flucht in den Raum (S. 58); - Der südliche Raum als Rauschmittel (S. 63); - Die
Regression (S. 67); - Exkurs: Benns "Geschichte" (S. 69); - Die Thalassale Regression
und der Nicht-Ort der Utopie (S. 71); - Exkurs: Bedeutungsbildung und Mythosbildung (S.
75); - Die Entwicklung des Mythischen in der Frühphase von den Rönne-Novellen bis zur
Ausgestaltung des Mythos als solchem (Zwischenbilanz) (S. 80); - Benn zwischen
Expressionismus und Existentialismus (S. 82); - Ausdruckssuche (S. 85)
3.1.2 Benns Mythen der zwanziger Jahre bis zur Entstehung des historischen Mythos:
Zwischen dem "mythischen Vitalismus" von Opfer, Leiden und Hinsterben, Apoll und dem
neuen gesellschaftsorientierten Denken (S. 87)
Existentielle Leere und ästhetische Machbarkeit (S. 87); - Exkurs: Benn und Nietzsche (S.
89); - Die apollinische Wende: Artistik, Form, Ausdruck, Maß und Stil (S. 93); - Exkurs: Der
Bennsche Nihilismus (S. 94); - Selbsterregung: die neuen ästhetischen Topoi der Inseln
und Blumen (S. 96); - Heterogenität und neue Mythen (S. 100); - Andere Mythen (S. 103);
- Der Einbruch des Geschichtlichen und Politischen (S. 107); - "Die Architektur des
Untergangs"1 oder die neue Politik-Form des Faschismus (S. 111)
3.1.3 Die Wende zum Faschismus: der totale Staat als Mythos (S. 117)
Politische Mythen: die Ästhetisierung der Politik (S. 118); - Benn als konservativer
Revolutionär (S. 121); - Der kollektive Mythos von Volk und Führer? (S. 125); - Der Mythos
vom totalen Staat (S. 128); - Der Mythos vom Norden (S. 134); - Politische Totalität:
künstlerische Statik und absolute Sprache? (S. 137); - Die "Antike" nach Benns Abkehr
vom Dritten Reich: Kahlschlags-Mythen und provoziertes Leben (S. 140); - Der Abschied
vom Politischen und die erneute Hermetisierung und Formalisierung des Mythos (S. 147);
1
Der Ausdruck wurde aus dem Dokumentarfilm mit dem gleichnamigen
Titel von Peter Cohen (Schweden 1979) übernommen.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
3.1.4 Von "Die Mythe log" und Benns "Nachkriegskonzeption" zum statischen Mythos (S.
156)
Die absolute Dichtung (S. 157); - Die Ursprünge der absoluten Dichtung bei Benn (S. 162);
- Zur Begriffsgenese des Absoluten bei Benn (S. 167); - Die absolute Dichtung und der
Mythos (S. 169)
4. "Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts": Zum Vergleich: Der literarische Mythos bei
Ernst Jünger, Hermann Broch und Thomas Mann (S. 176)
Ernst Jünger (S. 176); - Hermann Broch (S. 181); - Thomas Mann (S. 184)
Mythos und Raum (S. 195); - Bricolage und Autoreferenz (S. 199); - Die Aktualität des
Mythos (S. 204); - Offen und Geschlossen (S. 206); - Der Mythos ein Stiefkind? (S. 209)
2
Rudolf Arnheim, Die Flucht zu den Schachtelhalmen, in: Peter Uwe
Hohendahl (Hg.), Benn - Wirkung wider Willen, Dokumente zur
Wirkungsgeschichte Benns, Frankfurt a. M. 1971, S. 160-163.
(erstmals in: Die Weltbühne, 24 [1933], H. 2, S. 64-67) (im
folgenden zitiert als Hohendahl, Wirkungsgeschichte)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Man trifft ihn mittlerweile überall, den "Mythos". Von Andy Warhols Poster lächelt
bedeutungsverheißend und poppig Marilyn Monroe, oder Woody Allen fabuliert in einem
seiner Filme die Geschichte Humphrey Bogarts in "Casablanca" weiter, indem er nur zum
stofflichen Aufhänger nimmt, was unter seinen Händen fiktional-imaginär zu einem
eigenen, kleinen Mythos werden soll.3 Sei es Popart oder Kintopp, Werbung oder Politik,
der Mythos ist in unserer Kommunikation allgegenwärtig; ob im Zitat einer überkommenen
Mythologie, oder in Gestalt "neuer Mythen". Da gibt es den "Mythus des zwanzigsten
Jahrhunderts"4, den "Mythos Spanien" der 98er-Generation um Miguel de Unamuno oder
den "Faust"- bzw. "Don Juan-Mythos"5, letztere beiden oppositionelle Sinnbilder der
Neuzeit. Man vertieft sich in kurzlebige, künstliche fiktionale Welten literarischer Räume
und behandelt diese Bereiche zum Teil schon wie eine kultisch, seit langem gepflegte und
durch ihre Überkommenheit verbürgte Mythologie. Doch ist das wirklich Mythologie, oder
was heißt Mythos und Mythologie heutzutage am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts?
Tut man indes aber den Mythos nicht als feuilletonistische oder (post)-moderne
"Kopfgeburt" ab, so stellt sich die Frage, worauf er eigentlich letztlich beruht?
Es ist die Frage nach der ursprünglichen Gestalt des Mythos, der sich als literarisches
Phänomen allenthalben in der Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts auffinden läßt, und
zwar gerade in Abgrenzung zu dem der Mythologie. Insbesondere die Lyrik als das
ungebundene, experimentelle Sprechen schlechthin rückt hier in das Zentrum der
Betrachtung. Daß sich gerade der Mythos in der modernen Dichtung immer wieder der
größten Beliebtheit erfreut, zeigt nicht allein, wie diese Materie nach wie vor zum
besonderen Anlaß und Medium des fiktional-imaginären, entgrenzten Sprechens wird,
sondern auch, wie sehr solches Sprechen nicht zuletzt mit der Mythisierung von Dingen
zusammenhängt. Ob also wirklich mittlerweile jedes und nichts zu einem Mythos werden
kann, sobald es aufgrund seiner mangelnden Bedeutungsschärfe und Kontur aus der
genauen Bezeichenbarkeit herausfällt und zu einem verschwommenen Begriff, zu einem
Topos wird, oder ob dahinter nicht doch mehr steckt, also Mythos nicht doch eine
grundsätzliche Funktion der Sprache wie auch des gesellschaftlichen Lebens vorstellt, das
zeigt sich am ehesten in der modernen Lyrik, denn hier zeigt Sprache ihre volle
Wirkungsbreite.
Kurzum, trotz aller sozialen Bedingung, die allerdings auf einem anderen Blatt steht, so
scheinen doch diese Mythen sämtlich auf eine bestimmte Art und Weise durch "Dichtung",
d.h. durch die sprachliche und zeichenhafte Funktion verbunden, ja geradezu erst darin
genuin zu ihrem Wesen gelangt zu sein. Darum die weit verbreiteten Mythen; in einer Zeit,
in der Sprache aufgrund zunehmender Sprach- und Ausdrucksunfähigkeit immer mehr auf
Bild und Ton zurückgreift, gewinnt in dieser Zerstückung und Ausbeutung der Sprache
auch ein scheinbar altertümliches sprachliches Phänomen wieder Terrain: der Mythos.
Doch davon abgesehen, schon die fiktionalen literarischen Mythen der Neuzeit, wie zum
Beispiel die Artus-Mythologie, vor allem aber die mythopoetische Sprachauffassung der
Romantik unterscheiden sich in wesentlicher Hinsicht von der traditionellen Mythologie der
3
Play it again, Sam, Regie: Herbert Ross, 1972.
4
Alfred Rosenberg, Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts,
München 1933.
5
Vgl. Jean Rousset (Géneve), Comment parler du mythe de Don Juan?,
S. 36, in: Jean - Marie Grassin (Hg.), Mythes, Images,
Representations (Etudes de litterature etrangere et comparee,
Didier N° 79, Publication de TRAMES, Travaux et Mémoires de la
Faculté des Lettres et Sciences Humaines de Limoges, Collection
Littérature Comparee), S. 35-42.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
archaischen Jahrhunderte des Abendlandes. Mit dieser elementaren und auch für die
Entwicklung der literarischen Autonomie wichtigen Differenz - und diesem damit
verbundenen Verhältnis von Dichtung und Mythos zugleich - gilt es, sich eingehender
auseinanderzusetzen, wenn der Begriff des Mythos nicht dem Journalismus überlassen
werden soll. Insbesondere die Forschung hat dieses Problem auch noch nicht genügend
herausgearbeitet.
Gottfried Benn als der emblematische Dichter der deutschsprachigen Literatur des
zwanzigsten Jahrhunderts zeigt gerade durch seine exemplarische Problemlage nicht
zuletzt auch diesen Komplex auf; Mythos versus Mythologie, schließlich die ansatzweise
politisch-gesellschaftliche Verwendung und die mythopoetische Vereinnahmung in der
Entwicklung der autonomen, absoluten Dichtung.
1916 schreibt Benn in "Der Geburtstag" einen für seine Poetik bezeichnenden Passus:
Er trieb sich an: arabisches Za-fara, griechisches Kroké. Es stellte sich ein Korvinius,
König der Ungarn, der es verstanden hatte beim Speisen Safranflecke zu vermeiden.
Mühelos nahte sich der Färbestoff, das Gewürze, die Blütenmatte und das Alpental.
Noch hingegeben der Befriedigung, so ausgiebig zu assoziieren, stieß er auf ein
Glasschild mit der Aufschrift: Cigarette Maita, beleuchtet von einem Sonnenstrahl. Und
nun vollzog sich über Maita - Malta - Muschelfresser - Verkommenheiten - heller
klingender Ton einer leisen Zersplitterung, und Rönne schwankte in seinem Glück.6 (III, S.
52)
Beispiel der besagten Synästhesie, der Metapher oder nur der Chiffre getan sein, die
Suche nach einem neuen Terminus muß darüber hinaus gehen und andere sprachlich-
dichterische Prozesse veranschlagen.
Wer darum einen besseren poetologischen Begriff erhalten will, sei deshalb ansatzweise
auf einige Vorgänge verwiesen, die im Zentrum auch dieses "Maita"-Zitates stehen, ferner
sei dessen Aufmerksamkeit auf Benn selbst gelenkt, der einen Begriff weitaus häufiger
nennt als Metapher oder Chiffre, nämlich "Mythos". Sei es nun Mythos im mythologischen,
oder Mythos im mythopoetischen Sinn, das ist, was Benn anbelangt, jeweils eigens zu
bestimmen. Was in diesem Zusammenhang die angeführte Textstelle aber so bedeutsam
macht, ist ihre sowohl sprachliche als auch psychische Komponente. Nicht nur die innere,
imaginative Assoziation wird durch das mit Zeichen und Worten versehene Glasschild
angeregt, sondern von entscheidendem Belang ist, daß sich auch gleichermaßen alle die
dann folgenden Assoziationen unter dieses Zeichen "Glasschild" unterordnen, und zwar
als rein sprachlich-dichterischer Inhalt und Akt. Aus dem ungarischen König Matthias I.
Corvinus von Hungarn (1443-1490) und der Zigarette Maita werden zuletzt - über die
entfernte, räumlich entgrenzte Assoziation der Insel Malta - schließlich nur noch Eindrücke
und innere Gefühlslagen, ein heller klingender Ton; Sprache löst sich ganz in das Gefühl
auf bzw. Benn kehrt anhand seiner Assoziationskette den Sprachbildungsprozeß um: die
Assoziationen be-deuten wiederum das Glasschild; die alltägliche Angelegenheit einer
Werbung für die Cigarette Maita erhält einen neuen Stellenwert und wird poetisch neu
kodiert: sie erhält einen "Mythos".
Im Sommer desselben Jahres spricht Rönne andernorts dann von einer Neuen Syntax, die
den Du-Charakter des Grammatischen auszuschalten habe. Rönne versucht, über eine
veränderte sprachliche Struktur, seine fraglich gewordene Individualität durch neue
Persönlichkeits- und Sprachstrukturen abzulösen. Denn, wie es im Text heißt, die Anrede
war mythisch geworden, sie, die Sprache, mythisiert. ("Die Insel"; I, S. 65) Mythos und
Sprache kommen so in einen unmittelbaren Zusammenhang, sie stehen, wie das diese
mythische Anrede symbolisiert, im Kontext von Rönnes Psyche. Das Wort und die
sprachliche Syntax referieren dabei nicht irgendetwas, irgendeine äußere Realität oder
einen gegebenen Bezug, das Wort und seine sprachliche Struktur sind vielmehr selbst
innere "seelisch-organische" Realität.8 Dieses seelische Innere aber ist für Rönne unstet
geworden, es zerfällt ihm unter seinen Händen in nur noch diskontinuierliche
Wahrnehmungen; Rönnes Problem ist das der fraglichen Kontinuität der Persönlichkeit9,
schließlich das Problem einer neuen, anderen Sprache.
Zu diesem Rönne-Komplex, zu seiner neuen Spracherfahrung tragen jedoch mehrere
Komponenten bei, Komponenten, die wie dieser Komplex von wesentlicher Bedeutung für
den Rönneschen bzw. Bennschen mythischen Entwurf einer Poetik und einer Sprache
sind, die aber gleichfalls in ihrer teils sprachimmanenten, teils welttotalen Konzeption, also
in ihrem Hinausgreifen über die Sprache, nicht mehr allein mit rhetorischen oder
sprachwissenschaftlichen Begriffen beschrieben werden können.
Wenn der Mythos also bereits durch Benn in das Umfeld von Überlegungen zur
syntaktische Sprachstruktur und in den Zusammenhang des imaginativ psychischen
Assoziierens gestellt wird, so ist damit aber auch zugleich der maßgebliche Hinweis für
eine erste Charakterisierung dieser mythischen Sprache gegeben; der Mythos ist eng mit
der inneren, imaginativen Anverwandlung von verschiedenen Wortgehalten und
8
Der Körper ist offenbar etwas Flüchtiges, nicht der chemisch-physikalische Morast des neunzehnten Jahrhunderts
mit den Absätzen des Positivismus im Gesicht, sondern er ist nichts als ein inneres Prinzip, und wenn man daran rührt,
bewegt sich alles. Wenn der geeignete Mann daran rührt mit dem geeigneten Wort. ("Irrationalismus
und moderne Medizin"; III, S. 344)
9
So bereits Benn in "Lebensweg eines Intellektualisten" (IV, S.
164) und in "Epilog und lyrisches Ich" (IV, S. 129).
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Wortbedeutungen unter einem literarischen Topos (wie zum Beispiel dem banalen und
arbiträren des Zigarettenschilds) funktional verbunden. Und dennoch ist seine genaue
funktionale Beziehung zur Sprache, das Verhältnis von Mythos und Form noch nicht ganz
absehbar. Ob Mythos zu Sprache und Geschichte wird, oder ob Sprache sich zum Mythos
wandelt, das ist, abgesehen vom historischen Standpunkt, eine nach wie vor elementare
Frage. Letztlich ist es aber Benn selbst, der diesen Begriff in das Zentrum seiner Dichtung
stellt und ihn immer wieder zum Bezugspunkt seines Dichtens und Schreibens macht,
weshalb der Versuch, diesen sowohl im Kontext des Werkes als auch für sich selbst auf
seine poetisch-sprachlichen Eigenschaften zu untersuchen, durchaus naheliegt.
Mythos ist aber bei Benn als Arzt, wie gesagt, neben dem sprachlichen Phänomen auch
ein anthropologisches, ein seelisches und "organisch-medizinisches", so daß zu diesem
sprachlich-anthropologischen Problemkreis "Mythos" allerdings noch weitere
Grundelemente hinzugerechnet werden müssen. In dem Gedicht "Wer bist Du" spricht
Benn 1924 von der grundsätzlichen Erfahrung der Mythenvergänglichkeit. Die
zerbrechliche Künstlichkeit der Mythen und ihre Beziehung zu einem ästhetischen
Rauscherlebnis treten augenscheinlich hervor:
Wer Bist Du -
in Schattenflur, in Malen,
das sich der Form entwand -:
Ulyss, der nach den Qualen
schlafend die Heimat fand. (I, S. 104)
Damit ist insoweit auch das Ende der antiken Mythen und "Götter", der Verlust ihrer
Relevanz für die Bennsche Dichtung bezeichnet. Die Götter und ihre Mythen bleiben als
entleerte Zeichen und hohle Leichen zurück.10 Selbst der Form, dem sie tragenden
dinglichen Gefäß, entziehen sie sich.
10
Vgl. Wilhelm Wodtke, Die Antike im Werk Gottfried Benns, S.
134f., in: Orbis Litterarum, 1961, S. 129-238. (im folgenden
zitiert als Wodtke, Antike)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Das Verhältnis zur Antike und zur antiken Mythologie beschreibt so einerseits einen
weiteren Eckpfeiler des Mythos bei Benn, andererseits muß aber für eine Behandlung des
Themas auch die Erfahrung der modernen Mythen, gerade auf der Grundlage der
entleerten alten Mythen, angesprochen werden, jene neue Mythen, die dem Dichter
lediglich als Hülse seiner eigenen Bedeutungen und Inhalte dienen.
Konturen des Mythischen bei Benn verlaufen vom Frühwerk bis ins Spätwerk und sind in
irgendeiner Form stets festzustellen. Im Spätwerk tritt allerdings eine Komponente des
Mythos in den Vordergrund, für deren Entwicklung hier vorab nur die Gedichte "Quartär"
(1946) und "Der Dunkle" (1950) genannt sein sollen: der imaginäre mythische Raum.
Dabei kontrastieren bei Benn die älteren Implikate von Traum und Rausch aus der
Frühphase zu der sich daraus entwickelnden berühmten, späteren statischen Kunst.
Hierbei wird vor allem zu beachten sein, inwiefern sich der formalistische Zug von Benns
Spätwerk mit den Strukturen des mythopoetischen Sprechens des Frühwerks vereinen
läßt.
Das soll soweit als kurzer Umriß von Benns Mythos bezüglich seiner poetischen Praxis
genügen. All diesen Erkenntnissen und Aussagen zum Mythos ist ihr mehr oder weniger
impliziter Charakter gemeinsam, weshalb Benns Mythos nicht so ohne weiteres aus
eindeutigen theoretischen Äußerungen abgeleitet werden kann. Der Mythos ist zwar ein
komplexes, im Zentrum Bennschen Schreibens stehendes Phänomen, läßt sich dem
entgegen jedoch nicht eindeutig von demselben erklären. Insofern kann man auch selten
auf explizite abstrahierte Theoreme bei Benn zurückgreifen: gerade der stete Gebrauch
mythischen Sprechens hat Benn wohl mehrmals die klare Sicht darauf verstellt und die
letztgültige Durchdringung dieser dichterischen Funktion verhindert. Die Frage nach dem,
was mythisches Sprechen und Mythos im zwanzigsten Jahrhundert eigentlich sind, stellt
sich darum notgedrungen.
Nichtsdestoweniger spricht Benn immer wieder in seinem essayistischen und
prosaistischen Werk vom Mythos. Diese Zweigleisigkeit der mythischen Phänomene -
einerseits ist der "Mythos" im dichterischen Werk verwandt, andererseits explizit als Begriff
immer wieder genannt -, diese Uneinheitlichkeit gehört wohl grundlegend zu Benns
letztlich noch ungeklärtem und zwiespältigem Verhältnis zum Mythos. Es scheint, als habe
Benn schlechterdings keine exakte Vorstellung von dem gehabt, was er in der Praxis doch
so virtuos zu handhaben wußte. Bei der Untersuchung seines Werkes kann damit auch
nicht mit einer endgültigen, einheitlichen Bestimmung des Mythos gerechnet werden,
wenn man von der zeitlich letzten und darum herausgehobenen Entwicklungsstufe des
Alterswerks einmal absieht. Alle Begriffe und Bezeichnungen, ob Mythopoiesis oder
absolute Dichtung, ob apollinisches Formgebilde oder rauschhafte Einheitsperspektive, die
den Mythos bei Benn zu beschreiben versuchen, bleiben in ihrer Angemessenheit deshalb
hinter der phänomenologischen Evidenz, dem immanent für sich selbst sprechenden
Charakter der Gedichte zurück.
Dennoch, ob all der uneinheitlichen Bestimmung des Mythos, schreibt Benn in
"Lebensweg eines Intellektualisten" 1934 folgendes, was sich bereits wie eine
Beschreibung eines mythisierenden, assoziativ-bedeutungsagglomerierenden11 Dichtens
11
Nach Wilhelm Wundt (Unterschiede zwischen Mythus und Dichtung, S.
135; im folgenden zitiert als Wundt, Unterschiede, in: Karl
Kerényi [Hg.], Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch,
Darmstadt 1967, S. 134-142; im folgenden zitiert als Kerényi,
Eröffnung [erstmals in: W.W., Völkerpsychologie. Eine Untersuchung
der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, Bd. II,
Mythus und Religion, 1. Teil III, Mythus und Dichtung, Leipzig
1905, S. 590-598]) versucht der Mythos allgemein die äußeren
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
anhört. Dabei spielt das Element des Psychischen, so wie er es als Arzt sah, eine nicht
unwichtige Rolle:12
Blau. Es ist das Südwort schlechthin, der Exponent des "ligurischen Komplexes", von
enormem "Wallungswert", das Hauptmittel zur "Zusammenhangsdurchstoßung", nach der
die Selbstentzündung beginnt, das "tödliche Fanal", auf das sie zuströmen, die fernen
Reiche, um sich einzufügen in die Ordnung jener "fahlen Hyperämie". Phäaken,
Megalithen, lernäische Gebiete - allerdings Namen, allerdings zum Teil von mir sogar
gebildet, aber wenn sie sich nahen, werden sie mehr. Astarte, Geta, Heraklit - allerdings
Notizen aus meinen Büchern, aber wenn ihre Stunde naht, ist sie die Stunde der Auleten
durch die Wälder". (IV, S. 180)13
Eine genauere Analyse dieser und anderer Textpassagen im Kontext des Werkes soll
allerdings den weiteren Kapiteln dieser Arbeit vorbehalten bleiben. Zumindest einige
essayistische Belege aber zeugen hier schon dafür, daß Benn einen gewissen, wenn auch
nicht exakten Begriff von "Mythos", insbesondere von mythischem Sprechen gehabt hat.
Im großen und ganzen läßt sich doch eine nicht zu übersehende Heterogenität an
möglichen Bestimmungen des Mythischen bei Benn ausmachen. Diese gilt es jedoch auf
eine inhaltliche und formale Konsistenz hin zu überprüfen.
Von dem frühen dionysischen Mythos der Rönnezeit, über den apollinischen, den
faschistisch-politischen Mythos bis hin zum autonomen und formalen Mythos der
Spätphase, so ließe sich kurz umrissen diese Vielzahl an Erscheinungen umschreiben,
immer aber ist dem Mythos bei Benn eines gemeinsam: eine poetische Bedeutung bzw.
poetologische Struktur und eine gewisse funktionale sprachlich-psychische Mechanik. Ja,
gleich in welcher Gestalt, ob in antikisierendem Gewand oder in Form von Alltagsmythen,
ob Kunstmythen oder als die Instrumentalisierung des Mythos für den totalen Staat, stets
läßt sich, wenn man vom sprachlich funktionalen Standpunkt aus argumentiert, eine
ähnliche Struktur ausmachen. Hieran kann auch kein Zweifel bestehen, wenn der Sache
nach identische mythische Phänomene durch Benn unterschiedlich betitelt werden, wie
z.B. mystische Partizipation14, Traum und Rausch.15 Solche Aspekte müssen mit in die
Behandlung des Mythos hineingenommen werden, sie tangieren inhaltlich den Komplex
Mythos ungleich stärker, als es die begriffliche Unterscheidung andeutet. Dabei zeichnet
sich Benns Terminologie sowieso durch eine grundlegende Ungenauigkeit und begriffliche
Unschärfe aus16, bezüglich des Mythos und Benns Kenntnissen der Mythologie muß man
sogar von einer starken Unwissenschaftlichkeit ausgehen, ein Einwand, der allerdings der
dichterischen Freiheit zugute zu halten und mit Bedacht zu behandeln ist.17 Kurzum, nicht
nur der Begriff des Mythos kehrt bei Benn immer wieder, sondern der Mythos oder das
Mythische spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in Benns geistiger Entwicklung sowie
in seiner "Poetik"18, ja sogar prinzipiell für die moderne Dichtung überhaupt.19
Obwohl die Forschung es noch nicht unternommen hat, diese, wenn auch eben nicht
immer eindeutige, Bestimmung des Mythos herauszuarbeiten, so ist der Begriff des
Mythos doch in beinahe jeder Abhandlung zu Benn zumindest ansatzweise genannt,
angesprochen oder auch andiskutiert. Mit Ausnahme der Arbeit Ulrich Meisters20 bleiben
aber selbst die wenigen einschlägigeren Untersuchungen zu diesem Thema, was den
Begriff des Mythos betrifft, methodisch unbefriedigend.21 Was mittlerweile nach den
Erkenntnissen der modernen Anthropologie zum Mythischen und der historischen
Untersuchungen zur geistesgeschichtlichen Entwicklung von Benns Leben und Werk
unabdingbar erscheint, ist eine übergreifende Darstellung dieser Erträge und eine darüber
hinausgehende, dieses Material aufarbeitende, Analyse des Mythos bei Benn. Denn,
Mythos ist nicht ein Allerweltstopos, in den die Unwägbarkeiten und die dunklen
Konstanten von Benns Oeuvre verlegt werden, vielmehr ist er in einem durchaus
systematisch-funktionalen geistesgeschichtlichen und werkspezifischen Rahmen faßbar.
Sein Existenzbereich aber ergibt sich vornehmlich über die Sprache und ihre Analyse.
Um einige der Arbeiten zu Benn und dem Mythos zu nennen, Arbeiten, wie gesagt, mit
meist nur marginalen Hinweisen zum Mythos, seien zum Beispiel jene genannt, die den
Mythos hauptsächlich im Kontext der Geschichte oder der "Renaissance des Mythos im
20. Jahrhundert" betrachten22, oder auch jene, die ihn im Umkreis der Mythendiskussion
der deutschen Exilliteratur untersuchen, ähnlich der Beschäftigung Thomas Manns mit
diesem Phänomen.23 Hierbei, wie auch bei anderen und an dieser Stelle nicht einzeln
genannten Studien, ist zumindest die Erkenntnis offensichtlich, daß diese moderne
Mythenpraxis weitaus weniger mit den verschiedenen überkommenen Mythologien und
Mythen zu tun hat, denn vielmehr einen prinzipiell säkularisierten, neuen Mythos
darstellt.24 Von daher wird auch ein weiterer, von einigen (Buddeberg/Hohoff) leider nur
andiskutierter Zugang zum Mythos bei Benn verständlich, der den Bennschen Mythos als
Versuch sieht, einen eigenen, neuen Mythos, durch und in der Sprache zu verwirklichen25,
20
Ulrich Meister, Sprache und lyrisches Ich. Zur Phänomenologie des
Dichterischen bei Gottfried Benn, Berlin 1983. (im folgenden
zitiert als Meister, Sprache und lyrisches Ich)
21
So die Arbeit von Helmut Kaiser, Mythos, Rausch und Reaktion,
Berlin 1962. (im folgenden zitiert als Kaiser, Mythos)
Kaiser gelingt es kaum, einmal näher zu umreißen, was sein Titel
verkündet, nämlich was man bei Benn und Jünger unter Mythos zu
verstehen hat, sondern auch seine gesamte Quellenarbeit wird, wie
seine ideologisch geprägte Methode, dem komplexen Gegenstand nicht
gerecht.
Vgl. anders im Tenor die Rezension von Kaisers Arbeit durch
Matthias E. Korger, Mythos, Rausch und Reaktion. Der Weg Gottfried
Benns und Ernst Jüngers, in: Deutsche Volkszeitung, Nr. 47, 22.
November 1963.
22
Zu Benn als typischem Vertreter der modernen Wiederbelebung des
Mythos mit Hilfe der Wissenschaft: Lepenies, Posthistoire.
23
Thomas Koebner, "Isis, Demeter - das waren Zeiten!"
Mythenrekonstruktion und Mythenskepsis in der Literatur der
dreißiger und vierziger Jahre. Ein Versuch, in: Alexander Stephan
u. Hans Wagener (Hg.), Schreiben im Exil. Zur Ästhetik der
deutschen Exilliteratur 1933-1945, Bonn 1985, S. 71-94. (im
folgenden zitiert als Koebner, Mythenpraxis)
24
Ebd., S. 87f.
25
Else Buddeberg, Probleme um Gottfried Benn. Die Benn-Forschung
1950-1960, Stuttgart 1962, S. 16 (im folgenden zitiert als
Buddeberg, Probleme); Curt Hohoff, Hyperbeln des Ausdrucks, S. 99,
in: Geist und Ursprung. Zur modernen Literatur, München 1955, S.
87-101; C. H., Gottfried Benn, S. 259, in: Hohendahl,
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
des Mythos hin zu untersuchen: im einzelnen bezieht sich die Interpretation eines
Gedichtes vor allem auf den Zusammenhang bzw. die Funktion des jeweiligen Textes in
der geistesgeschichtlichen Entwicklung und Entfaltung des Mythos in Benns Oeuvre.
Hinsichtlich der Interpretation wird dabei nur am Rande auf die vorhandene Literatur
verwiesen.
Nicht alles, was sich so anfangs als heterogen und nicht durch ein vordergründiges
Verständnis von Mythos diesem zuordnen läßt, spricht schließlich schon gegen einen
funktionalen Kern von Benns Mythoskomplex. Benn bleibt auch hier, wenn nicht unbedingt
der enigmatische Dichter der deutschen Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts, als der er oft
dargestellt wird, so doch zumindest jener in sich widersprüchliche, teils sogar prekär
unausgewogene Schriftsteller des Mythos, ein Gestalter seiner eigenen künstlichen
Welten im mythisch-literarischen Raum.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Gerhard Schmidt-Henkel schreibt in seinem Buch zum Thema Mythos und Dichtung: "Der
Profanierungsprozeß des Mythos ist zugleich sein dichterischer Entfaltungsprozeß".37 Und
tatsächlich läßt sich der Mythos als eigenständiges Phänomen mittlerweile nur historisch-
stofflich oder funktional-sprachlich betrachten. Im Falle der modernen Mythen handelt es
sich um diesen prinzipiell funktionalen Entfaltungsprozeß. Allerdings ist der Mythos schon
immer mit der Sprache verbunden gewesen bzw. wurde durch sie getragen und
mitgeformt.38
Vor allem aber Giambattista Vico (1688-1744), der italienische Renaissancedenker, hatte
für die Neuzeit wegweisend in seiner sprachlich-rhetorischen Auffassung vom Mythos
dieses Denken kanalisiert.39 Den nächsten epochalen Schritt tat dann die Frühromantik mit
ihren mythopoetischen Überlegungen. Und wenn später aus der vergleichenden
Mythologie dieser Erkenntnis weiterer Vorschub geleistet wurde, so ist das im großen und
ganzen nur die Bestätigung dieser frühromantischen Auffassung von Mythos und Poesie,
der Mythopoesie, die hier allerdings nicht gesondert abgehandelt werden soll.40 So ist
37
Gerhard Schmidt-Henkel, Mythos und Dichtung. Zur Begriffs- und
Stilgeschichte der deutschen Literatur im neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhundert, Bad Homburg v.d.H. Berlin Zürich 1967, S.
251. (im folgenden zitiert als Schmidt-Henkel, Mythos und
Dichtung)
38
Genauer betrachtet bildet sich nicht erst in der Moderne eine
mythische Praxis heraus, die Mythos und "Geschichte" bzw. Mythos
und Erzählen für Wechselbegriffe nimmt. Bereits in der
aristotelischen Poetik begegnet man Mythos als der dichterischen
Nachahmung und damit auch als der erzählerischen Wiedergabe von
Handlung und Geschehen. Vgl. Aristoteles, Poetik, übersetzt und
eingeleitet von Olof Gogon, Stuttgart 1961, S. 32 und 35 (_ 6 und
8).
Aber auch Herodot (Historien, Deutsche Gesamtausgabe, übers.
v. A. Horneffer, neu hrsg. v. H. W. Haussig, Stuttgart 1971,
Zweites Buch, 53, S. 124) spricht in Ansätzen schon der
dichterischen Sprache mythenschaffende Kraft zu.
39
Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die
gemeinschaftliche Natur der Völker, nach der Ausgabe von 1744,
übers. u. eingel. v. Erich Auerbach, München 1924.
Vgl. sein Kapitel "Von der poetischen Weisheit" in der zweiten
Abteilung des zweiten Buches. Dort heißt es beispielsweise: "Denn
die ersten Dichter gaben den Körpern das Dasein von beseelten
Substanzen, die allerdings nur das besaßen, was sie selbst hatten,
nämlich Sinne und Leidenschaft; aus ihnen schufen sie die Mythen.
So wird jede auf diese Art entstandene Metapher zu einem kleinen
Mythus." (Ebd., S. 171)
40
Zum Komplex der romantischen Mythosauffasung sei an dieser Stelle
lediglich auf die weiterführende Arbeit Heinz Gockels (Mythos und
Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik,
Frankfurt a. M. 1981, insbes. S. 15; im folgenden zitiert als
Gockel, Mythos und Poesie) hingewiesen. Besonders Novalis hat nach
Gockel (ebd., S. 309f.) schon einen ähnlich modernen und
allumfassenden Mythosbegriff im "Heinrich von Ofterdingen".
Vgl. unten S. 166 zu Benn und Friedrich Schlegel.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
dann auch für Friedrich Max Müller, den vergleichenden Mythenforscher, "die Mythologie
(...) eine inherente Notwendigkeit der Sprache".41 Schmidt-Henkel stellt in jüngerer Zeit
also zurecht heraus, daß moderne Dichter sogar eigene Mythen produzieren.42 Und daß
gerade Dichter zur Möglichkeit greifen, den Mythos zu verwenden und eigene Mythen zu
schaffen, spricht nicht zuletzt für die fruchtbare Wechselbeziehung von Mythos und
Dichtung. Einer der ersten modernen Dichter, der dies erkannt und bewußt praktiziert hat,
war nach Hugo Friedrich Paul Valery.43 Zu Gottfried Benn ist der Weg dann nicht mehr
weit; auch er berief sich z.T. in mehreren Schriften auf die französische Tradition der
Moderne, in deren Nachfolge er sich einordnete.44
Mit Ernst Cassirer war aber ein bedeutender Versuch unternommen worden, das
Symbolische der Dichtung, den Mythos und die Philosophie zu verbinden. Doch nicht nur
für Cassirer sind Mythos und Sprache wechselseitig verschränkt, sondern auch für Bruno
Liebrucks, wobei der Mythos noch in einem eigentümlichen, über sich hinausgreifenden
Beziehungsverhältnis zur Welt steht.45 Liebrucks geht sogar soweit zu behaupten, die
Sprache sei grundsätzlich mythisch.46 Schließlich stellt auch Karl Kerényi die Verbindung
von Mythos und Sprache emblematisch fest: der Mythos ist Sprache, er "ist das Sein als
41
Friedrich Max Müller, Einleitung in die vergleichende
Religionswissenschaft. Vier Vorlesungen nebst zwei Essays, 2.,
unveränd. Aufl., Straßburg 1876, S. 316.
42
Schmidt-Henkel, Mythos und Dichtung, S. 247; Vgl. auch Wilhelm
Emrich, Symbolinterpretation und Mythenforschung, S. 60f., in:
Euphorion, 47 (1953), S. 38-67.
43
Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte
des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts,
erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1985 (1956), S. 184.
(im folgenden zitiert als Friedrich, Struktur)
Paul Valery (Petite Lettre sur les Mythes, S. 963f., in: P.
V., Oeuvres, hg. v. Jean Hytier, Gallimard Paris 1957, I, S. 961-
967) schreibt: >Mythe est le nom de tout ce qui n'existe et ne
subsiste qu'avant la parole pour cause.<
44
Vgl. "Probleme der Lyrik", S. 1061f., in: Dieter Wellershoff
(Hg.), Gottfried Benn, Gesammelte Werke in zwei Bänden, Band I,
Gedichte, Essays und Aufsätze, Reden und Vorträge, Wiesbaden
Zürich 1968, S. 1058-1096. (im folgenden zitiert als Ws. I)
Vgl. auch "Lebensweg eines Intellektualisten", IV, S. 194.
45
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, Das
mythische Denken, 2. Aufl., Darmstadt 1969, S. 53, (im folgenden
zitiert als Cassirer, Symbolische Formen, II): "Am prägnantesten
drückt sich dieses Unvermögen des mythischen Denkens, ein bloß
Bedeutungsmäßiges, ein rein Ideelles und Signifikatives zu
erfassen, in der Stellung aus, die hier der Sprache gegeben wird.
Mythos und Sprache stehen in ständiger wechselseitiger Berührung -
ihre Inhalte tragen und bedingen einander. (...) Aber die
entscheidende Voraussetzung liegt auch hier darin, daß das Wort
und der Name keine bloße Darstellungsfunktion besitzen, sondern
daß in beiden der Gegenstand selbst und seine realen Kräfte
enthalten sind."
46
Bruno Liebrucks, Sprache und Mythos, S. 275, in: Gerhard Funke
(Hg.), Konkrete Vernunft, Fs. E. Rothaker, Bonn 1958, S. 253-280.
(im folgenden zitiert als Liebrucks, Sprache und Mythos)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Wort-Gehalt"47, oder wie Claude Lévi-Strauss schreibt: "le mythe fait partie intégrante de la
langue; c'est par la parole qu'on le connaît, il relève du discours. Si nous voulons rendre
compte des caractères spécifiques de la pensée mythique, nous devrons donc établir que
le mythe est simultanément dans la langage, et au delà."48
Der Mythos ist also in und gleichzeitig jenseits der Sprache. Auch neuere Untersuchungen
zum Mythos in der Moderne gehen von der strukturellen Verbindung von Mythos und
Sprache aus und bezeugen nicht zuletzt mit der Wahl ihres Sujets die Bedeutung des
Mythos für die moderne Dichtung. Peter Kobbe hebt besonders die formal-äußerliche
Ähnlichkeit zwischen Mythos und Sprache hervor, worin beide, laut Kobbe, identisch
seien.49 Ferner, für die Unmenge an weiteren Publikationen zu diesem Thema, sei hier nur
noch stellvertretend auf Manfred Frank hingewiesen, denn Frank legt weitaus mehr
Gewicht auf die Beleuchtung des funktionalen Zusammenhangs zwischen Mythos und
Sprache als vergleichbare Studien jüngeren Datums. Der Mythos gebe dem Logos und
dem Zeichensystem der Sprache durch seine primäre symbolisch-synthetische
Zeichenvermittlung seinen Inhalt, er sei so anfänglich in der Sprache und zugleich doch
ein sozial-gesellschaftliches Phänomen.50 Frank setzt insoweit das Denken Cassirers fort,
ein symbolisches Denken nämlich, das selbst wiederum nur vor dem Hintergrund von
Vicos sprach-rhetorischer Mythensicht seinen Platz findet.
Ob all der zahlreichen Arbeiten zum Beziehungsgeflecht von Mythos und Dichtung stellt
sich aber doch für diese Untersuchung die Aufgabe, die Bedingtheit des modernen
mythischen Dichtens von der "Profanierung"51 (Schmidt-Henkel) oder vom säkularisierten
Mythos zu kennzeichnen. Denn der moderne, säkulare Mythos hat nichts mehr mit der
Mythologie im klassisch topischen Sinne zu tun, seine Existenz ist nicht starrer Natur,
47
Karl Kerényi, Wesen und Gegenwärtigkeit des Mythos, S. 241, in:
K. K., Eröffnung, S. 234-252. (erstmals als: Wesen und
Gegenwärtigkeit des Mythos, München Zürich 1965, S. 128-144, hier
Neubearbeitung des Beitrags) (im folgenden zitiert als Kerényi,
Wesen)
48
Claude Lévi-Strauss, Anthropologie Structurale, Paris 1974
(1958), S. 230. (im folgenden zitiert als Lévi-Strauss,
Anthropologie Structurale)
49
Peter Kobbe, Mythos und Modernität. Eine poetologische und
methodenkritische Studie zum Werk Hans Henny Jahnns, Stuttgart
Berlin Köln Mainz 1973, S. 20f. (= Studien zur Poetik und
Geschichte der Literatur, Bd. 32) (im folgenden zitiert als Kobbe,
Mythos und Modernität)
Kobbe bemerkt allerdings (ebd., S. 50), daß das eine nicht das
andere sein könne, ohne seine eigene Funktion zu vernachlässigen,
im Falle der Dichtung ihre Funktionalisierung.
Kobbe setzt dabei aber gerade den sprach-funktionalen
Charakter des Mythos viel zu niederig an. Der Mythos reicht weit
in das Zentrum von Sprache und Sprachsystem hinein.
50
Manfred Frank, Die Dichtung als "Neue Mythologie", S. 19, (im
folgenden zitiert als Frank, Neue Mythologie), in: Karl Heinz
Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer
Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 1983. (im folgenden zitiert als
Bohrer, Mythos und Moderne)
51
Auch Hugo Moser (Mythos und Epos, [Rede zum Antritt des
Rektorates der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Bonn], Bonn 1965, S. 25) gebraucht diese Formulierung.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
sondern progressiv und funktional52, nicht stofflich oder kultisch geprägt, sondern von
formaler und zum Teil auch schon profaner, das heißt alltäglicher Gestalt.53 Schließlich
zeigt sich aber gerade in der Moderne (als der Zeit des aus dem geschlossenen
mittelalterlich-christlichen Weltbildes entlassenen und damit sich selbst problematisch
gewordenen Individuums) die große Variabilität des Mythos, insoweit er zunehmend im
Zusammenhang zur individuellen, durch einen Erzähler oder Dichter geformten
sprachlichen Ausgestaltung von Bedeutung wird.54 Dichtung geht aus dem Mythos hervor,
und obgleich sie nachgerade dessen Nachfolger des Imaginären55 im fiktionalen Bereich56
52
Karl Kerényi (Wesen, S. 240f.) erkennt bzw. differenziert das
funktionale Phänomen Mythos von seinen Phänotypen Mythologie,
Erzählung, Fabel, etc. Er kommt zu dem Ergebnis: "Das Urphänomen
Mythos ist eine Bearbeitung der Wirklichkeit. Keine abgeschlossene
Bearbeitung! Die Bearbeitung geschieht. Auf solche Weise ist sie
das Urphänomen Mythos. Zum Wesen des Mythos gelangen wir, wenn wir
wissen, daß der Mythos die ihm eigene, nicht abgeschlossene Bearbeitung der Wirklichkeit ist.
Abgeschlossen wäre der Mythos tot und nicht der Mythos, von dem
jetzt die Rede ist. (...) Einzelne Mythen können gemacht,
Mythologeme mit einer eigenen Technik, einer Mythopoietik,
ausgearbeitet werden."
53
Vgl. Gerhart von Graevenitz (Mythos. Zur Geschichte einer
Denkgewohnheit, Stuttgart 1987, S. 292-294, [im folgenden zitiert
als von Graevenitz, Mythos]) und Karl Kerényi (Wesen, S. 237), der
auch bezüglich der Bestimmung des modernen Mythos an der
Ableitbarkeit vom antiken Mythosverständnis zweifelt.
54
Vgl. Wundt, Unterschiede, S. 142. Auch Karl Kerényi (Wesen, S.
240) formuliert die Machbarkeit der Mythen in einer Mythopoetik.
55
Es wird hier in Übereinstimmung mit Wolfgang Iser (Akte des
Fingierens oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?, in:
Dieter Henrich u. W. I., Funktionen des Fiktiven, München 1983, S.
121-152. [= Poetik und Hermeneutik X]; im folgenden zitiert als
Iser, Akte des Fingierens) der weitgehend ungeprägte Begriff des
Imaginären anstatt dem der Imagination gebraucht. Iser schreibt:
"Da es im Blick auf den literarischen Text nicht darum gehen kann,
das Imaginäre als ein menschliches Vermögen zu bestimmen, sondern
darum, Weisen seiner Manifestation und Operation einzukreisen, ist
mit der Wahl dieser Bezeichnung eher auf ein Programm und weniger
auf eine Bestimmung hingedeutet. Es gilt, herauszufinden, wie
Imaginäres funktioniert, um über beschreibbare Wirkungen Zugänge
zum Imaginären zu eröffnen - ein Sachverhalt, der (...) durch den
Zusammenhang zwischen dem Fiktiven und dem Imaginären anvisiert
ist." (Ebd., S. 123, Anm. 4)
56
Daß das Fiktionale und das Imaginäre in einer dialektisch-
wechselseitigen Begründung stehen, hat Wolfgang Iser (Akte des
Fingierens, S. 149) in jüngerer Zeit auch wieder gezeigt: "Im
Fiktiven wäre daher das Imaginäre als ein nichtender Akt anwesend,
der deshalb eine hohe Bestimmtheit besitzt, weil er sich auf
Gegebenes beziehen muß. Daraus folgt, daß das Fiktive als
Grenzüberschreitung von dem Realen, auf das es sich bezieht, nicht
ablösbar ist, weshalb das Fiktive dem Imaginären nicht nur als
Bestimmtheit seiner Gestalt, sondern noch einmal durch den Bezug
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
der Moderne zu sein scheint57, obgleich sie also alle die erzählerischen Energien, die
einstmals die erzählerische Überlieferung der Mythen band, für sich in Anspruch zu
nehmen scheint, so kehrt sie doch stets zum Mythos zurück.
2.1 Der moderne Mythosbegriff als Bedingung für den poetisch instrumentalisierten
Mythos in der "literarischen Moderne"?
Die Abnabelung des Mythos von seinen relativ in Topik, Ritus oder Kultus festgefügten
Stoffen, Formen und Inhalten58 eröffnete ihm erst sein volles, eigenständiges und
eigengesetzliches Dasein, seine sprachliche Funktion. Mythos ist Sprache, das hat das
vorhergehende Kapitel gezeigt, aber Mythos ist durchaus noch spezifischer im
sprachlichen Wirkungsfeld zu fassen: Seine schlechterdings unermeßliche Anwendbarkeit
auf die unterschiedlichsten "kanonischen" oder "profanen" Dinge und seine ebenso
unübersehbare Variabilität und stetige gestalterische Varianz lassen ihn als das kreative
künstlerische Phänomen und Stilprinzip schlechthin erscheinen. Überspitzt formuliert heißt
das: In der Befreiung des Mythischen in der Sprache findet die moderne Dichtung zu ihrer
grundsätzlichen Autonomie, denn die relativ gestalterische Unbedingtheit und die Tendenz
des Mythos, ein eigenes sprachliches Bedeutungssystem zu formieren, machen ihn zu
dem paradigmatischen Medium der sowohl die Wirklichkeit kritisch hinterfragenden als
auch die Sprache selbst reflektierenden modernen Dichtung. Aus der modernen Krise des
Bewußtseins und der Sprache erwächst so eine andere sprachliche, und zwar immanente
Möglichkeit der Transzendierung.
Darum spricht auch Walter Jens von der Unmöglichkeit und Notwendigkeit der Rückkehr
zum Mythos in der Literatur, ein Dilemma, das unmittelbar mit der Moderne und ihrer
rationalen Durchdringung der Welt verbunden ist:
"Je weiter die Verhirnlichung fortschreitet, desto größer wird das Heimweh nach dem
einfachen So-Sein der mythischen Welt, aber es ist leider nicht sehr wahrscheinlich, daß
wir eines Tages an der gleichen Stelle ankommen werden, an der man uns vor
Jahrhunderten entließ".59
Bruno Hillebrand beschreibt in seinem Benn-Buch den Mythos und die mythische Wende
als Ausdruck einer finalen Kulturerfahrung.65 Und tatsächlich ist die verstärkte Rezeption
mythischer Themen und Strukturen im zwanzigsten Jahrhundert nur zu begreifen, wenn
man sie vor diesen epigonalen Hintergrund des Jahrhunderts stellt: der Erfahrung der
überreifen späten Kultur66 und der Kritik am einseitigen Rationalismus. Hier gedeiht nicht
nur das Untergangsszenarium des Abendlandes Oswald Spenglers67, sondern auch die
Hinwendung eines Bennschen, bedrohlich übersteigerten Bewußtseins zu kollektiveren
Formen seiner Existenz, nämlich zu Traum, Rausch, Archetypik und Mythos, wie es eben
Benn immer wieder vorgehalten wird. Doch neben der Beschäftigung der Psychoanalyse
durch Sigmund Freud und C. G. Jung68 findet sich all dieses auch in der einen oder
anderen Form in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts wieder, zu denen man auch
Benn zählen muß.
Der Dichter schafft sich seine Mythen und künstlerischen Gebilde selbst, weil der kreative
Text und die bildnerische Sprache69 noch die einzigen Möglichkeiten sind, für das sowohl
von der modernen Welt als auch von sich selbst entfremdete, vereinzelte und
problematisch gewordene Subjekt Zeit, Realität und vor allem Raum wieder zugänglich zu
machen. Schließlich, in der ästhetischen Rekonstruktion von Welt und Ich70, nimmt das
literarische Werk und das Wort erst den Platz des einstmals Heiligen, den Status des
vergangenen Mythos ein, denn es erlangt innerhalb der Gesellschaft jene Identität
stiftende Rolle (wenngleich auch diskursiv), die einst das religiöse Dogma oder die
Unabänderlichkeit des Kultes innehatten. Der Mythos wird zur Literatur und diese, indem
sie mythisches Sprechen aufnimmt, wird zum Allerweltsmythos. Hierbei gewinnt die
moderne Literatur erst den spezifischen Schein von Realitätshaftigkeit, ihren Stellenwert
als selbstlegitimierter Gegenentwurf zur gängigen Erlebniswelt, denn der Literatur kommt
die Tendenz des Mythos entgegen, in seinem sakralen und vor allem eben autonomen
Status nicht mehr die Welt direkt zu hinterfragen, das heißt, in keinem unmittelbaren
zeichenhaften Bezug mehr auf sie zu stehen. Die fiktionale Autonomie der Literatur
entspringt damit nicht zuletzt aus der mythopoetischen Wirkkraft modernen Dichtens, ja
des Mythos schlechthin. Und der Mythos basiert gerade deswegen so sehr auf der
Sprache und lebt in ihr, weil sie ihm keinen fertigen Sinn vorschreibt, da sie selbst stets
interpretierend ist.71
Für das sozial desintegrierte Individuum nimmt der neue Mythos auch eine zwiespältige
gesellschaftliche und politische Funktion wahr. Als mythisiertes Kunstwerk und als
"homogener Innenraum"72 stärkt er scheinbar das Aufrechterhalten der
69
Zur mit der Rationalisierung der Welt zunehmend mythischen und
bildlichen Sprache vgl.: Wilhelm Emrich, Archaik und Regression im
Existentialismus. Auseinandersetzung mit Ernesto Grassi, S. 73,
in: W. E., Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur.
Studien, Frankfurt a. M. 1965, S. 69-77.
70
Marcel Prousts Rekonstruktion der Vergangenheit in der
subjektiven schöpferischen Imagination in "A la recherche du temps
perdu" (Bd. I-IV, Gallimard Paris 1987) ist hier das berühmteste
Beispiel der Weltliteratur.
Vgl. Ulrich Ramer, Mythos und Kommunikation, Frankfurt a. M. 1987,
S. 112. (im folgenden zitiert als Ramer, Mythos und Kommunikation)
71
Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags (Mythologies, Paris
1957), Frankfurt 1964, S. 116f. (im folgenden zitiert als Barthes,
Alltagsmythen): "Die Sprache fügt sich dem Mythos auf eine andere
Weise. Sehr selten nur zwingt sie uns von Anfang an einen vollen,
nicht deformierbaren Sinn auf. (...) Man könnte sagen, daß die
Sprache dem Mythos einen durchbrochenen Sinn vorschlägt. Der Mythos
kann sich leicht in sie einschleichen, kann sich in ihr aufblasen,
es ist ein Diebstahl durch Kolonisierung."
72
Bei dem Stichwort des Innenraums sei auch auf Rainer Maria Rilke
und seine Konzept des "Weltinnenraums" verwiesen. Zu diesem und
Rilkes Mythos vgl.: Werner Günther, Weltinnenraum. Die Dichtung
Rainer Maria Rilkes, Berlin Bielefeld 1952; Adriana Cid, Mythos
und Religiosität im Spätwerk Rilkes, Frankfurt a. M. Berlin Bern
u.a. 1952, (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche
Sprache und Literatur, Bd. 1336); Beda Allemann, Rilke und der
Mythos, in: Ingeborg H. Solbrig u. Joachim W. Storck (Hg.), Rilke
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Insofern gilt es gerade, den spezifischen Sprach- und Zeichencharakter des Mythos
innerhalb dieses Geflechtes von Subjekt, Realität und interpretatorischer
Wirklichkeitserfassung noch näher zu bestimmen, ein Unterfangen, das allerdings im
letzten methodologischen Kapitel dieser Arbeit vervollständigt werden soll.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Das Problem von explizitem und implizitem Mythos im Werk eines Autors wurde bereits im
ersten Kapitel, zumindest was Benn betrifft, angesprochen. Peter Kobbe hat dies auch für
seine Untersuchung von Hans Henny Jahnns Werk fruchtbar gemacht. Er erklärt die
Problemlage folgendermaßen:
"Neben Mythos, Mythologem und Mythologie ist auch die explizite oder implizite
Mythentheorie des Autors der jeweiligen Dichtung dem Stoff zuzurechnen. Die Rezeption
des mythologischen Stoffs durch einen Autor erfolgt stets im Zusammenhang der
theoretischen Implikationen, die dem mythentheoretischen Vorverständnis seiner Zeit
entstammen. Das Verhältnis von Mythos und Dichtung ist stets durch das jeweils
zeitgenössische Verhältnis von Mythos und Mythostheorie mitbestimmt, jedoch darf der
explizite oder implizite Mythosbegriff eines Autors nicht mit dem in seinen Werken
dargestellten Mythosbegriff verwechselt werden. Theoretischer und dargestellter
Mythosbegriff unterscheiden sich wie die jeweilige zeitgenössische Theorie und
ästhetische Praxis."77
In Abänderung soll allerdings in dieser Arbeit impliziter Mythos bedeuten, was über den
Mythos allein in den Werken durch die Verwendung von Mythen erfaßbar wird, hingegen
der Begriff "expliziter Mythos" für alle theoretischen Aussagen zu gelten hat.
3.1 Benns explizite Mythosvorstellungen im Verlauf seines dichterischen und
essayistischen Werks
Obgleich Kobbe weitgehend auch zuzustimmen ist, stellt sich doch das Wirkungsverhältnis
von zeitgenössischer Mythostheorie und poetischer Umsetzung bei Benn als nicht so
direkt dar. Benns Mythen kontrastieren sogar stellenweise zu seinen, vor der mythischen
Praxis oft zurückstehenden, inhaltlichen Anschauungen. Speziell in der Spätphase, wo
Benn teilweise wieder verstärkt auf den archaischen, zum kollektiven Unbewußten etc.
regredierenden frühen Mythos zurückgreift (obschon er formal wie nie zuvor im absoluten
Gedicht den rein ästhetischen statischen Mythos zumindest ansatzweise verwirklicht),
zeigt sich dieser Gegensatz deutlich. Doch dazu sei im weiteren auf die einschlägigen
Kapitel (siehe unten) verwiesen.
Um jedoch die Widerspiegelung bzw. Abwandlung zeitgenössischer Mythentheorie zu
erkennen, wird es zumindest in Ansätzen anschließend von Nutzen sein, diesen für Benn
relevanten Kontext jeweils kurz in beigefügten Vergleichen zu beleuchten. Hat die
Forschung auch hier bereits großenteils hinreichende, wenn auch nicht erschöpfende
Ergebnisse vorgelegt, wonach für Benn besonders mit der Einflußnahme einer Reihe von
Autoren sowohl philosophischer wie auch dichterischer Herkunft zu rechnen ist, deren
Gedankengut er in seiner typischen Plagierungs- und Zitiergewohnheit in sein Werk
integriert hat78, so zeigt der Vergleich mit anderen Autoren und ihrer Verwendung des
Mythos Benns Stellung genauer auf. Sein Einfallsreichtum allerdings bezüglich der
explizit-theoretischen Äußerungen erscheint mitunter in eklatantem Widerspruch zu seiner
virtuosen Mythenhandhabung im Werk, und hier besonders in der Lyrik zu stehen.
3.1.1 Mythos, Rausch und Regression: Von Rönne bis zur formalen Neubildung des
Mythos
77
Kobbe, Mythos und Modernität, S. 17f.
78
Zu Benns unreflektiertem Verhältnis zur literarischen Tradition
und damit auch zur Mythologie, wodurch sich jeglicher Text für ihn
zum Ausschlachten anbot vgl.: Peter Uwe Hohendahl, Einleitung, S.
56, in: Hohendahl, Wirkungsgeschichte, S. 13-86. (im folgenden
zitiert als Hohendahl, Einleitung)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Rönne, die Figur des aus den Fugen der psychischen und gesellschaftlichen Ordnung
geratenen Arztes und alter Egos von Benn, so schreibt Hugh Ridley in seinem unlängst
erschienenen Benn-Buch, stehe schlechterdings zwischen Mythos und Logik.79 Benn
selbst hielt für Rönnes Grundproblem den Verlust der Wirklichkeit vor dem überbordenen,
sich selbst und alles unterminierenden Bewußtsein.80 In "Das letzte Ich" (1920) hieß es
demgemäß auch: Abendlanduntergänge, Kulturherbste, kommunistische Regenerationen -
es ist kein Marmor und es ist kein Meißel, es ist nur das Bewußtsein und das Nichts. (III,
S. 124) Insonderheit beklagt Benn im Rückblick in "Epilog und lyrisches Ich" (1921/27)
Rönnes Depersonalisation und die Entfremdung der Wahrnehmung sowie die mythenalte
Fremdheit zwischen Mensch und Welt. Rönnes Problem liegt gerade aber im Erleben von
mythischen Entrückungsmomenten und der gleichzeitigen Unmöglichkeit begründet, diese
mythische Existenz im Alltag verwirklichen zu können.
Ich begann, das Ich zu erkennen als ein Gebilde, das mit einer Gewalt, gegen die die
Schwerkraft der Hauch einer Schneeflocke war, zu einem Zustand strebte, in dem nichts
mehr von dem, was die moderne Kultur als Geistesgabe bezeichnete, eine Rolle spielte,
sondern in dem alles, was die Zivilisation unter Führung der Schulmedizin anrüchig
gemacht hatte, als Nervenschwäche, Ermüdbarkeit, Psychasthenie, die tiefe,
schrankenlose, mythenalte Fremdheit zugab zwischen dem Menschen und der Welt. (III,
S. 129)
Bereits 1914 waren zum ersten Mal bei Benn explizit die großen Themen der Regression81
ins Unbewußte82, des Rausches und des Traumes, die alle noch im Kontext des frühen
79
Ridley, Benn, S. 125f.
80
Es ist das irreale Zeichen Rönnes, das konstruktive Zeichen Pameelens, seine Lehre lautet: es gibt keine
Wirklichkeit, es gibt das menschliche Bewußtsein, das unaufhörlich aus seinem Schöpfungsbesitz Welten bildet,
umbildet, erarbeitet, erleidet, geistig prägt. ("Lebensweg eines Intellektualisten"; IV,
S. 197)
Hingegen kann Benns Satz, Wenn Dinge sehr lange gedacht werden, fallen sie ins Nichts
("Doppelleben"; V, S. 99) in diesem Fall auch leitmotivisch für
den gesamten Benn und sein Leiden am Bewußtsein und der
"Verhirnlichung" gelten.
Zu dem für Benn bereits beinahe in jeder Darstellung
ausgebreiteten grundlegenden Leiden am Bewußtsein sei auszugsweise
deshalb auf folgende Lesehilfen verwiesen: Reinhold Grimm
(Bewußtsein als Verhängnis. Über Gottfried Benns Weg in die Kunst,
in: R. G. u. Rolf-Dieter Marsch (Hg.), Die Kunst im Schatten
Gottes. Für und Wider Gottfried Benn, Göttingen 1962, S. 40-84; im
folgenden zitiert als Grimm, Verhängnis), der zu dem Ergebnis
kommt: "Bewußtsein als Verhängnis: das ist das Gesetz, nach dem
Gottfried Benn angetreten war, der Dämon, der ihn trieb. Und zwar
Verhängnis ebenfalls in einem zweifachen Sinn: als lastende Bürde,
aber auch als hohe Gabe; als Qual, aber auch als Lust; als Fluch
der Verdammnis, aber auch Segen der Erlösung." (Ebd., S. 68) Siehe
ferner: Wellershoff, Phänotyp, S. 9-37; Rübe, Benn, S. 133-154;
Lohner, Passion, S. 69-91; Balser, Nihilismus, S. 40-47.
81
Dieser Terminus ist mittlerweile in der Forschung für den
Komplex, der hier im weiteren auch erläutert werden soll,
gebräuchlich. Vgl. Dieter Liewerscheidt, Gottfried Benns Lyrik,
Eine kritische Einführung, München 1980, S. 26. (= Analysen zur
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Bennschen Mythos stehen, aufgetaucht.83 Mit Rönne wird zwei Jahre später diese Topik
dann zum künstlerischen und intellektuellen Höhepunkt gebracht. Die Enttäuschung und
die Abwendung von der Geschichte aufgrund ihres einseitigen Materialismus'84, wie
Hillebrand meint, scheint, wenn nicht unbedingt weichenstellend, so doch zumindest
voraussetzend gewesen zu sein.85 Noch einmal zeigen sich der Mythos und der Regreß
darauf als Folge der Krise der Moderne86, und zwar der anthropologischen und
historischen.87 In ihm, dem regressiven Rönneschen Streben nach dem Mythos,
vereinigen sich alle die genannten Phänomene von Rausch, Traum und der Bennschen
mystischen Partizipation und sogar noch einiges mehr.88
Benn erarbeitet sich mit dem Rönne-Komplex und der frühen Phase seiner Dichtung
künstlerisch für das Verständnis des modernen Mythos zumindest ansatzweise
wesentliche Strukturen. Besonders noch in dem, oberflächlich betrachtet, antikisierenden
Gedicht "Ikarus" (1915) greift er in Folge der regressiven Hilfesuche auf diesen
archaischen Ruhepunkt zurück.89 Doch der Ikarus-Mythos ist ihm nur noch ein entleertes
Gefäß für die Selbstaussprache der Sehnsucht nach vitalistischer Bewußtseinsleere und
dem vorrationalem, quasi mythischem Voraugenlicht. Benn setzt damit den Mythos als
neuen, rund und abgeschlossenen hermetischen und sinnlich erfahrenen,
antiintellektuellen Erlebnisraum. Schließlich erfährt in der mythischen Abgeschlossenheit
des Gedichts das bedrohte Ich seine neue Form.
(...)
Nur ich, mit Wächter zwischen Blut und Pranke,
ein hirnzerfressenes Aas, mit Flüchen
im Nichts zergellend, bespien mit Worten,
veräfft vom Licht -
o du Weithingewölbter,
träuf meinen Augen eine Stunde
des guten frühen Voraugenlichts -
schmilz hin den Trug der Farben, schwinge
die kotbedrängten Höhlen in das Rauschen
gebäumter Sonnen, Sturz der Sonnen-sonnen,
o aller Sonnen ewiges Gefälle -
II
III
Das Ich spricht von seiner Sehnsucht nach vegetativer, urtümlicher Existenz, nach einem
vollkommenen, runden körperlichem Erleben fern der Schläfe, des Intellekts. Doch was es
zustande bringt, ist ein Hymnus, eine Selbstbeschwörung. Und tatsächlich hat es den
Anschein, als gewährte dieses Sprechen schon einen Teil des Beschworenen, der
mythischen Existenz. Unschwer deutet sich dabei bereits an, daß der Mythos und das
Bennsche Ich Formprobleme sind, und zwar, wie das in "Karyatide" (1916)91, einem
gleichfalls antikisierenden Gedicht, anklingt, als Entformung und Entrückung:
Karyatide
90
Corona Schmiele (Die räumliche Frage in der Lyrik Gottfried
Benns, S. 370f., in: Hillebrand, Gottfried Benn, S. 367-378) hat
diese Bedeutung und Funktion des Raumes erkannt und ansatzweise
bezeichnet: "Unter allen in Benns Lyrik gestellten Fragen taucht
auffallend häufig die räumliche Frage auf." Schmiele meint weiter,
daß die räumliche Frage niemals auf einen empirischen Raum
ausgerichtet sei, der unmittelbar im Zusammenhang mit der
dichterischen "Imagination" entstehe.
91
Benn erinnert sich 1934 im "Lebensweg eines Intellektualisten"
(IV, S. 178) an die Entstehungssituation des Gedichts: Ein Septembertag,
ich war Oberarzt im Gouvernement und mit einem Auftrag zu einer anderen Behörde geschickt. Die Straße zu gehen
war kurz, doch von den Horizonten brach das Dionysische, die Stunde war zerstückt und bronzen, Verbranntes überall,
auf ihrer Kuppe hatte ein Feuer gewütet, Jahr und Leben hinüber, das Vorspiel war aus, das Ende nahte, das Opfer,
aber man mußte sich fassen -: nur einen Blick noch aus diesem Licht, einen Atem noch aus dieser Stunde - und: "Sieh
dieses Sommers letzten blauen Hauch (...).
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Benn aber erkennt hier schon die Künstlichkeit und Lügenhaftigkeit des imaginierten
südlichen und antiken Mythos. Darum verwendet er auch wiederum einen gebrochenen
antiken Mythos, der in seiner Distanz zum zitierten archaischen Sommer und dem
gleichmütigen Hochgefühl des kontrastierenden klassisch Griechischen, dieses nicht
zuletzt als erstarrt und somit abgelöst erscheinen läßt.93 Von hier aus bis zur Formulierung
explizit eigener Mythen ist es, linear gesehen und in der notwendigen Konsequenz dieser
Entwicklung, nur noch ein kleiner aber nicht zu unterschätzender Schritt.
Entwicklungsspezifisch betrachtet allerdings ist "Ikarus" von der reinen mythischen Praxis
noch durch einige Zwischenformen des Mythos getrennt.
IN der Novelle "Die Insel", die als letzte der Rönne-Novellen wahrscheinlich im
Sommer 1916 entstand, von der Benn aber einem Brief vom 27.8.1949 an F.W. Oelze
zufolge wenig hielt94, vermengt Benn den Bereich des Ästhetischen bereits mit dem des
92
Anton Reininger (Leere, S. 71) sieht hier den dionysisch-
rauschhaften Umschwung eingeleitet.
93
So sehen es auch weitgehend übereinstimmend die Interpretatoren
dieses Gedichts. Von Stilentspannung und einer quasi
säkularisierten Antikenauffassung spricht Helen Homeyer (Antike,
S. 90), ebenso wie Wilhelm Wodtke (Antike, S. 146-148), der
allerdings noch eine dionysische Entgrenzung in den Süden der
Antike darin sehen will. (Vgl. auch Reininger, Leere, S. 71) Daß
es nicht um eine Flucht in den klassischen Mythos, sondern in die
Kunst durch die Entlarvung der Künstlichkeit antiker, regressaler
Mythen handelt, meint auch Hugh Ridley. (Benn, S. 72)
94
Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder (Hg.), Gottfried Benn,
Briefe an F.W. Oelze, 1945-1949, Wiesbaden München 1978, S. 237f.,
(im folgenden zitiert als Steinhagen, Briefe II): Ich fand die "Insel" immer
eine der allermäßigsten Sachen.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Rönne stellt, wie gesagt, die neue Syntax als Ausdruck des mythisch-sinnlichen
innerlichen Erlebens der verhängnisvollen Einheitlichkeit des Denkens gegenüber:
Rönne lebte einsam seiner Entwicklung hingegeben und arbeitete viel. Seine Studien
galten der Schaffung der neuen Syntax. Die Weltanschauung, die die Arbeit des
vergangenen Jahrhunderts erschaffen hatte, sie galt es zu vollenden. Den Du-Charakter
des Grammatischen auszuschalten, schien ihm ehrlicherweise notwendig, denn die
Anrede war mythisch geworden. (III, S. 65)
Doch damit nicht genug. Die neue mythische Sprache drängt zu einer eignen
Begrifflichkeit, zu eigenen semantischen Wortbezügen, zu einer neuen Inhaltlichkeit. Sie
formt sich nach und nach in neuen Wort-Räumen, das heißt in semantischen
Bedeutungsfeldern. Diese andere Topik setzt bei Rönne unter anderem auch mit einem in
95
Hatte Cartesius noch die Zirbeldrüse für den Sitz der Seele angenommen, da ihr Äußeres dem Finger Gottes:
gelblich, langgestreckt, milde und doch drohend, gleichen mochte, so hatten die Hirnphysiologen festgestellt, wann
beim Einstich in die Hirnmasse Zucker im Harn, wann Indigo auftrat, ja wann korrelativ der Speichel floß. Die
Psychologie hatte den Begleitcharakter des Gefühls zu den Empfindungen erkannt, den ihnen zustehenden generellen
Wert der Abwehr des Schädlichen in genauen Kurven festgelegt, die Ablesbarkeit der individuellen Differenzen war
vollendet. Die Erkenntnistheorie schloß ab, mit der Erneuerung Berkeleyischer Ideen einem Panpsychismus zum
Durchbruch zu verhelfen, der dem Wirklichen den Rang kondensierter Begriffe in der Bedeutung geschlechtlich
besonders betonter Umwelt zum Zwecke bequemer Arterhaltung zuwies.
Dies alles gilt als ausgemacht, sagte sich Rönne. Dies wird seit Jahrfünften gelehrt und hingenommen. Wo aber blieb
die Auseinandersetzung innerhalb seiner selbst, wo fand sie statt? Ihr Ausdruck, das Sprachliche, wo vollzog sich das?
(III, S. 65f.)
96
Gerwin Marahrens (Geschichte und Ästhetik in Gottfried Benns
intellektualer Novelle "Der Ptolemäer", S. 188, in: Friedrich
Gaede u.a. (Hg.), Hinter dem schwarzen Vorhang. Die Katastrophe
und die epische Tradition, Fs. Anthony W. Riley, Tübingen Basel
1994, S. 177-193; im folgenden zitiert als Marahrens, Geschichte
und Ästhetik) meint, daß Benns gesamte Ästhetik in Mythos und
Biologie gründe. Hingegen hält Hans Kaufmann (Gottfried Benns
"Ithaka", S. 193, in: H. K., Krisen und Wandlungen der deutschen
Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger, 2. Aufl., Berlin Weimar
1969 [1966], S. 194-203; im folgenden zitiert als Kaufmann,
Krisen) Benns biologischen Mythos für eine Opposition zum damals
geläufigen Geschichts- und Entwicklungsgedanken.
Zu Benns persönlich physiologischer Disposition zum
Mythischen vgl.: Rübe, Benn, S. 152.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
97
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 37.
98
Zum Vergleich von Benns Suche nach einer neuen Syntax und den
Experimenten der Expressionisten um August Stramm und den "Sturm-
Kreis", die sich eher auf eine Suche nach einer agrammatischen,
sich vorwiegend auf rhythmische Werte und neue Wortbildungen
berufenden, neuen Poesie verlegte, siehe: Kurt Möser, Literatur
und die Große Abstraktion. Kunsttheorien, Poetik und abstrakte Dichtung im
"Sturm" 1910-1930, Erlangen 1983. (= Erlanger Studien, 46)
99
Ernst Nef (Hg.), Gottfried Benn, Dr. Rönne. Frühe Prosa, Zürich
1950, S. 69.
100
Jawohl, ich war vorhanden: fraglos und gesammelt. Wo bin ich hingekommen? Wo bin ich? Ein kleines Flattern,
ein Verwehn.
Er sann nach, wann es begonnen hätte, aber er wußte es nicht mehr: ich gehe durch eine Straße und sehe ein Haus und
erinnere mich eines Schlosses, das ähnlich war in Florenz, aber sie streifen sich nur mit einem Schein und sind
erloschen.
Es schwächt mich etwas von oben. Ich habe keinen Halt mehr hinter den Augen. Der Raum wogt so endlos; einst floß er
doch auf eine Stelle. Zerfallen ist die Rinde, die mich trug. (III, S. 31)
Er sei keinem Ding mehr gegenüber; er habe keine Macht mehr über den Raum, äußerte er einmal; lag fast
ununterbrochen und rührte sich kaum. (III, S. 33)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
zwar dem des Südens101, der zur Entgrenzung des Bewußtseins, zur Entschweifung der
Schläfe dient.102 Die genaue Bedeutung dieses Südens variiert aber je nach seiner
Funktion, er ist schlechthin ein funktionaler "Süden". Benn nennt, was er für die
Arrangierung dieses Mythos verwendet, Trümmer. Es sind sowohl die Trümmer der
zerstückten Wirklichkeit als auch die Überbleibsel des überkommenen antiken südlichen
Mythos, die Rönne gerade durch ihre archaisiernde Bedeutungsschwere und ihre
inhaltliche moderne Unvermittelbarkeit so sehr zu entrücken vermögen; sprachliche
Leerstellen, imaginative dichterische Potentiale.103 Darin vollzieht sich die Rönnesche
mythische Hypostase, die Überhöhung, in der sich Rönne mit seinem blauen
Anemonenschwert, dem mythisch entgrenzenden Wort-Medium in einen anderen Raum
entrückt:
Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall.
Aber nun geben Sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder - ich war so müde - auf
Flügeln geht dieser Gang - mit meinem blauen Anemonenschwert - in Mittagsturz des
Lichts - in Trümmern des Südens - in zerfallendem Gewölk - Zerstäubung der Stirne -
Entschweifung der Schläfe. (III, S. 34)
ZULETZT wird dabei aber auch die dritte Eigenschaft des frühen Mythos bei Benn
sichtbar, das dichterisch-sprachliche Äquivalent zur Entschläfung: die "Metapher", die
"Chiffre", in diesem Fall die des blauen Anemonenschwerts. Metapher ist dieser Ausdruck
aber nur, insoweit man von dem begrifflichen Arsenal der klassischen Rhetorik ausgeht104;
wer aber genauer hinschaut, der wird entdecken, daß die Metapher den Sachverhalt nur
101
Daß der Süden bei Benn mythischen Gehalt und keinen realen Bezug
hat, betont auch Bodo Heimann. (Der Süden in der Dichtung
Gottfried Benns, Diss. Freiburg 1962, S. 11, 26 u. 101f.; im
folgenden zitiert als Heimann, Süden)
102
Zum philosophischen Zusammenhang von Ich-Entgrenzung und Mythos
vgl.: Gerhard Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit.
Poetologische und historische Studien zum englischen und
amerikanischen Roman, Stuttgart 1978, S. 199. (im folgenden
zitiert als Hoffmann, Raum)
103
Zum Suggestionscharakter der antik mythisierenden Worte bei Benn
vgl.: Homeyer, Antike, S. 86f.: "Die Namen der Gestalten,
Landschaften, Dinge stehen isoliert da, ohne schmückendes Beiwort,
das ihre Aussagekraft mindern könnte; sie erwecken eine
Assoziation, und werden sofort wieder fallengelassen - Ithaka,
Marmor Milets, Panathenäen, Zug mykenischen Lichts, (...) jedes
Einzelwort, jede Wortgruppe wird herausgeschleudert, mit der ihr
eigenen unverlorenen Spannung beladen und dazu mit neuer Spannung
vom Dichter geladen. (...) Durch ihre Klangfremdheit, durch ihre
Herkunft aus der Mythentradition üben die griechischen Wörter
(...) eine größere Suggestionskraft aus."
104
"Die metaphora ist der Ersatz eines verbum prorium durch ein Wort,
dessen eigene proprie-Bedeutung mit der des ersetzten Wortes in
einem Abbild Verhältnis steht. Die Metapher wird deshalb auch als
verkürzter Vergleich definiert, in dem das Verglichene mit dem
Abbild in eins gesetzt wird." (Heinrich Lausberg, Elemente der
literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der
klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie,
Ismaning 1963, S. 78)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
unzureichend trifft. Es handelt sich hier nicht um die metaphorische Übertragung eines
Wortes aus seinem sprachlichen Paradigma in ein anderes, oder um den Vergleich ohne
Vergleichspartikel105, das blaue Anemonenschwert beabsichtigt nicht nur gegenseitige
Vergleichung und Bezeichnung, sondern dieser sprachliche Komplex, dieses einzelne
Bild, steht vor allem für eine Unzahl gleichzeitig assoziativ angelagerter psychischer
Konnotationen106, die das hier angetroffene sprachliche Verfahren mit einem ganzen Hof
an subjektiv-innerlichen Bedeutungen versehen.107 Allenfalls die Funktion der Chiffre, eher
aber die des pars pro toto, wo das pars für ein unbestimmtes Ganzes steht, kann hier den
Weg zu Benns dichterischem Verfahren öffnen helfen.108 Mit der Nennung der
ausdrucksseitigen Komponente, der "Chiffre", spricht das lyrische Subjekt
synekdochisch109 durch andere Inhalte, ein anderes, indirektes Sprechen mit seiner
eigenen entgrenzten Semantik.
105
Paul Ricoeurs (La Métaphore Vive, du Seuil Paris 1975, S. 105)
Bestimmung der Metapher mit ihrer Verschmelzung der Bedeutungen in
der Zeichenstruktur der Metapher kommt diesem Sachverhalt etwas
näher: "La métaphore maintient deux pensées de choses différentes
simultanément actives au sein d'un mot ou d'une expression simple,
dont la signification est la résultante de leur interaction."
106
Der Futurismus verwendete schon "Worte als
Konnotationspotentiale". Benn steht damit durchaus in einer
Verwandtschaft zu Marinettis "drahtloser Phantasie". Dieser
schrieb 1913 in "Drahtlose Phantasie - Befreite Worte - Die
futuristische Sensibilität": "Zusammen werden wir erfinden, was
ich drahtlose Phantasie nenne. Eines Tages werden wir zu einer
noch essentielleren Kunst gelangen, wenn wir erst die ersten
Glieder unserer Analogien zu unterdrücken wagen und nur noch die
ununterbrochene Folge der zweiten Glieder geben." (Umbro Apollonio
(Hg.), Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer
künstlerischen Revolution 1909-1918, Köln 1972, S. 80)
107
Zu Benns lyrischer Technik, aus den montierten innerlich
gesehenen Alltagsdingen einen psychischen Mythos zu machen vgl.
schon Max-Hermann-Neiße, Gottfried Benn, S. 107f., in: Hohendahl,
Wirkungsgeschichte, S. 107-110. (erstmals in: Der Kritiker, VII
[1925], S. 70-72): "Psychologisches wird zur elementaren Mythe,
nicht auf dem Schwindelwege der Verklärung, sondern durch
Heraushämmern seiner unerbittlichen Wucht: alles ist das
schroffste Gegenteil von Sentimentalität: das Fleischliche besteht
als das herrische Naturereignis, vor dem der imaginäre Behang aus
intellektuellem und empfindsamem Getue wie Plunder fällt.
Moralisches kommt als Sphäre überhaupt nicht in Betracht. Ein Café
etwa ist mit (George Grosz brüderlichem) Acheronblick gesehen, als
Stelldichein soundsovieler Leibeskosmen, das heißt aus Dreck,
Blut, Trieb gewachsener Schicksale."
108
Vgl. Lohner, Passion, S. 210; Martini, Wagnis der Sprache, S.
480.
109
Als Synekdoche gilt hier im literaturwissenschaftlich geprägten
Umfeld vorerst die Definition Lausbergs: "Die synekdoche besteht in
einer Verschiebung der Benennung der gemeinten Sache innerhalb der
Ebene des Begriffsinhalts, wobei die Grenze des Begriffsinhalts
von der tropischen Benennung überschritten oder unterschritten
werden kann: es gibt also eine Synekdoche vom Weiteren und eine
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Was jedoch dieses Sprechen dem Mythos annähert, ist sein geschlossener Charakter, ein
Merkmal, das auch die Bezeichnung Metapher unzureichend erscheinen läßt, denn diese
hat ja prinzipiell die Offenheit des Syntagmas für die Kombination ihrer Wörter aus mehr
als einem Paradigma zur Voraussetzung. Mit anderen Worten, in der Metapher kann jedes
Wort ein anderes aus einem anderen Bereich ersetzen, zum Beispiel "Fuchs" ebenso
einen schlauen wie auch einen räuberischen Menschen bezeichnen. Synekdochisches
und mythisches Sprechen aber ist geschlossen, es basiert auf einem in sich gerundeten
sprachlichen Kosmos, dessen Variabilität nicht in verschiedenen, je kombinierbaren Wort-
Feldern und sprachlichen Sektoren (Paradigmen) besteht, sondern in dem Verfahren der
rhetorischen Grenzverschiebung von Bedeutungen und Inhalten innerhalb des
"Syntagmas".110 Wechselt bei der Metapher hauptsächlich die Ausdrucksseite, das Wort,
so liegt im mythischen Wort der Wechsel innerhalb des Bedeutungsraums, der dem Wort
zugeordnet wird. Das Beispiel des blauen Anemonenschwerts zeigt diese Eigenschaft. Die
Kombination und Komposition ist zu heterogen und "absurd", als daß man noch von einer
metaphorischen Übertragung eines Wortes aus einem Paradigma in ein anderes sprechen
könnte. Vielmehr stellt dieser Ausdruck schon einen neu und individuell geschaffenen
Ausdruck, einen sprachlichen individuellen Topos dar, dessen inhaltliche Füllung ganz zur
persönlichen beliebigen Verfügung steht. Auf dieser inhaltlichen Komponente und der
Bedeutungsseite liegt der entscheidende Aspekt. Zwar ist die Ausdrucksseite sicherlich
durch Bennsche Gewohnheiten und Vorlieben mit beeinflußt, doch könnte im Grunde auch
irgendein anderes Wort herangezogen worden sein, um es wie das blaue
Anemonenschwert mit Bedeutung zu befrachten. Mythos, mythisches Sprechen entzieht
sich also weitgehend syntagmatischen und paradigmatischen Strukturen, denn während
die Charakterisierung der sprachlichen Struktur und ihres "Feldes" durch die de
Saussurschen Kategorien von Syntagma (als der linearen Anordnung und Kombination
der Zeichen auf einer horizontalen, zeitlichen Achse) und der paradigmatischen Achse (als
der Achse der Ersetzung der einzelnen Elemente des Syntagmas) nur unzureichend, weil
a posteriori herangetragen, die Dimension des Sprachraums umschreibt, ist es hilfreich,
einen Schritt davor zurückzugehen und den sprachlichen Raum als solchen zu betrachten.
Sprache ist nicht nur ein Lebensraum, der der geistigen Existenz, sondern sie lebt wie alle
Dinge in einem räumlichen Spektrum111, ihre Zeichen belegen ein räumlich-semantisches
Feld, wie auch die Zeichen selbst wiederum einen semantischen Raum darstellen. De
Saussures Ansatz kennt allerdings mit Hilfe der Achse des Paradigmas nur eine
ansatzweise Verräumlichung, denn in der Austauschbarkeit der mehr oder weniger
synonymen Wörter innerhalb des Paradigmas eröffnet dieses zugleich auch eine
Tiefendimension über die Dimension des Syntagmas hinaus, es eröffnet den Einstieg in
die Räumlichkeit der Sprache. Insoweit sich die einzelnen Elemente eines Paradigmas
aber in ihrer Semantik unterscheiden, und sei es auch noch so minimal, so muß man
dennoch davon ausgehen, daß diese Räumlichkeit nicht nur formal, also in der
mechanischen Austauschbarkeit der Elemente besteht, sondern auch eine inhaltliche
Komponente aufweist. Dadurch wird aus der rein formalen Erweiterung eines Syntagmas
an einer Stelle, also der Erweiterung durch die Varianz des Paradigmas, auch zugleich
dessen existentielle, psychische und imaginäre, kurzum dessen semantische
Raumstruktur. Dabei wird aber auch der A-priori-Raum der Bedeutung und Sprache
mitberührt, und zwar als ein Einblick in die urtümliche, sprich mythische Bedingung der
Sprache vor aller grammatisch-strukturellen Determination, der normativen
Verdinglichung, vor der Festlegung einer Sprache im allgemeinen Gebrauch.
Benns "Metaphern", seine Topoi, eröffnen - damit ganz identisch - an einer Stelle eines
Gedichtes ein konnotatives imaginäres Spektrum, den Raum der innerlichen, psychischen
Vorstellung. Die Gestalt und das Zustandekommen solcher poetisch-mythischen Topoi
läßt sich hingegen lediglich aus dieser räumlichen Grundbedingung der Sprache, das
heißt aus dem sprachlichen Bedeutungsraum heraus ableiten, wohingegen die jeweilige
semantische Füllung allerdings dem Kontext der Dichtung, zum Teil auch der sprachlichen
Konnotation des Interpreten überlassen bleibt. Theo Meyer umschreibt dieses Phänomen
bei Benn wie folgt:
"Das Wort ist Träger einer geistigen Bedeutsamkeit, aber es erlangt aufgrund der ihm
eigenen, in Klangkombination gründenden assoziativen Schwingungsmöglichkeiten eine
über die Nachricht und den Inhalt hinausgreifende evokative Strahlkraft. (...) Es ist dabei
im Prinzip unerheblich, ob sich für jeden Leser diese variablen Assoziationskomplexe
automatisch einstellen. Es kommt in erster Linie darauf an, das Wort überhaupt mit einer
Vielheit möglicher Bedeutungsrichtungen aufzuladen. Das chiffrenhafte Ausdruckswort soll
nicht in dem Sinne vieldeutig sein, daß es einen bestimmten diskursiv definierbaren,
allgemein nachvollziehbaren, präzise eingrenzbaren Komplex von Bedeutungen
signalisiert, sondern seine Vielsinnigkeit besagt, daß die sprachlichen Interferenzen, die
assoziativen Bedeutungsüberlagerungen eine undefinierbare, diskursiv nicht zu
erschöpfende Bedeutungsaura erzeugen."112
Benn nennt dieses dabei angewandte Verfahren auch Vermittlung. Dieter Wellershoff hat
zwar diese Tatsache erkannt, findet allerdings noch keinen Begriff für dieses Verfahren. Er
notiert:
"In der Formel >Süden, Hirt und Meer< bedeuten aber die einzelnen Worte nicht jeweils
etwas anderes. Wer Benn so additiv zu lesen versucht, mißversteht ihn, setzt wieder den
unangemessenen Maßstab der Begriffssprache voraus. Hier gehen die Worte, die sich
gegenseitig rufen, ineinander über, überdecken sich, fließen zusammen zu einem
Bedeutungsfeld. Man muß solche Worthäufungen auffassen als eine einzige
Beschwörungsformel, die einen unmittelbaren Erlebniskomplex zu bannen versucht."116
Max Rychner hat trotz aller Schwierigkeit einmal den Versuch unternommen einige dieser
Komplexe aufzuschlüsseln. Dem Südkomplex ordnet er folgende Chiffren zu: "Ithaka,
Blau, (...) Südsee, Rose, Möwe, Traum, Nacht (...), Meer, Blut, Wein, Feuer, Welten,
Worte u. a."117 Einem, wenn man so will, Rausch-Komplex werden davon nicht ganz
eindeutig zu trennende Begriffe wie "strömen (...), fließen (...), Meer, Flut, Hades, Lethe,
Wasser, Opferwein, Träne" zugeordnet, aber auch "Ewigkeit, Nacht, Blut, Schlaf, Traum,
Rausch, Grenzenlos (als Substantiv), Schauer, Tiefe, Glück, toxische Sphären" gehören
hierher.118 So sehr die hier getroffene Einteilung in Frage zu stellen ist, insbesondere vor
dem Hintergrund der nicht berücksichtigten und bei Benn übergreifenden Opfer-, Blut- und
Bodenmetaphorik, die wesentlich zu einem eigenen mythischen Topos gehören, geht es
doch im wesentlichen um eine eigenartige Wortfeldbildung, die besser unter dem Begriff
des mythischen Bedeutungsfeldes zu fassen ist, weil der Begriff des sprachlichen
Bedeutungsfeldes bereits zu sehr von rein sprachwissenschaftlichen Strukturen belegt ist.
In der Novelle "Die Reise"119, die bis Mitte April 1916 in Brüssel entstand, wo Benn als Arzt
am Prostituiertenkrankenhaus in St. Gilles tätig war, wird das Referenzproblem der
mythischen Sprache dann zwar genannt, allerdings nicht sonderlich erweitert: Nur um
Vermittlung handelte es sich, in Unberührtheit blieben die Einzeldinge; wer wäre er
gewesen, an sich zu nehmen oder zu übersehen oder, sich auflehnend, zu erschaffen?
(III, S. 46) Und doch führt Rönnes Weg immer wieder in eine andere Wirklichkeit, in die
des Mythos. Wenig später heißt es: Er war eingetreten in den Film, in die scheidende
Geste, in die mythische Wucht. (III, S. 49)120 Das Ich tritt mit einer solch vermittelnden, die
117
Max Rychner, Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt
(II), VII, S. 880, in: Merkur, III, 8 (1949), S. 873-890.
118
Ebd., S. 873.
119
Auch die Anemonenchiffre wird hier erweitert; Rönne nimmt die
Blume nur als Mittel, sich selbst mit Hilfe der Kunstsprache
unabhängig von jeglichem dinglich-bezeichnenden Bezug zu
konstruieren: (...) und erschuf sich an den hellen Anemonen des Rasens entlang und lehnte an eine Herme,
verstorben weiß, ewig marmorn, hierher zerfallen aus den Brüchen, vor denen nie verging das südliche Meer.
(III, S. 49)
Es zeigt sich bereits der Ansatz der neuen semantischen
Kodierung; die zwei Chiffren resp. Mythen Blau und das südliche Meer
tauchen in diesem Umfeld immer wieder, ins weite Geflecht ihrer
psychischen Konnotationen verweisend, auf (III, S. 48f.): Da, durch die
helle dünne Luft, in die die Knospen ragten, und unter dem ersten Stern, kam eine Frau vorbei und roch blau und langte
Rönne nach dem Schädel und legte ihn tief in den Nacken, bettend, und über der Stirn stand die frühe Nacht. (...)
Zwischen die Straßen rinnt Nacht, über die weißen Steine blaut es, es verdichtet sich die Entrückung; die Sträucher
schmelzen, welches Vergehn! (III, S. 48)
Rönne, ein Gebilde, ein heller Zusammentritt, zerfallend, von blauen Buchten benagt, über den Lidern kichernd das
Licht. (III, S. 49)
120
Daß Benn ein leidenschaftlicher Kinogänger war, ist allgemein
bekannt. Auch äußert er sich dahingehend oft in den Briefen seiner
Hannoveraner Zeit. So zum Beispiel in den Briefen an F. W. Oelze
vom 30.5.37 (Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder (Hg.), Gottfried
Benn, Briefe an F.W. Oelze, 1932-1945, Wiesbaden München 1977, S.
171; im folgenden zitiert als Steinhagen, Briefe I) und Tilly
Wedekind, datiert vom 19.6.35, 20.7.35, 30.7.35 und 27.10.35.
(Marguerite Valerie Schlüter (Hg.), Gottfried Benn, Briefe an
Tilly Wedekind, 1930-1955, Stuttgart 1986, S. 68, 74, 80 u. 115.
(= Gottfried Benn, Briefe, Bd. 4) (im folgenden zitiert als
Schlüter, Briefe an T. Wedekind)
Hingegen ist diese Vorliebe nicht rein zufällig. In jüngster
Zeit hat zuletzt und deutlich Jean Baudrillard (Kool Killer oder
Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 49) im Rahmen seiner
Betrachtungen zum Mythos auf die exponierte Rolle des Raumes,
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Dinge neu verkettenden Sprache in einen psychischen Kontext ein, der mit Hilfe der
mythischen Bedeutungsbildung die Auflösung der bisherigen Raum-Zeit-Vorstellungen
und Ich-Begrenzungen einleitet. So interpretiert und konstruiert dieses Ich damit seine
innere und äußere Realität in eigener Sprache, auf neue Art und Weise.121
Daß die Sprache bei Rönnes Entwicklung zum Mythos im Mittelpunkt steht und daß die
allgemein gebräuchlichen Worte die neue Wirklichkeit, die Rönne wahrnimmt, nicht mehr
fassen können, weil Innen- und Außenexistenz auseinandertreten, das findet sich auch
wieder in der Novelle "Querschnitt", die 1918 während Benns Zeit als Operationsarzt an
der dermatologischen Abteilung an der Berliner Charité, wo er seit Oktober 1917 arbeitete,
entstand. Die ursprünglich als "Phimose" betitelte Novelle erschien jedoch 1921 um
wesentliche Partien gekürzt in Max Krells Anthologie "Die Entfaltung. Novellen an die Zeit"
(Berlin 1921):
Wie aber müßte ich es beschreiben als i.., ich meine als der Arzt, der operiert hat, über
den sich doch nicht viel aussagen läßt, ja eigentlich sozusagen gar nichts, es fehlt ihm, um
mich so auszudrücken, jedes Spezifische, denn was ist es, das mit ihm geboren ist?
Kaum erwähnenswert ist, daß Worte Gemeingut sind. Der Hafenarbeiter verfügt über
hundertachtzig, Shakespeare besaß fünftausend; das ist nachgeprüft. Verbreitet ist das
Wandbrett mit dem Lexikon. Selbst das Grimmsche Wörterbuch ist erreichbar gegen
Leihgebühr. (...)
Zum Beispiel das Rhododendronbeet, an das eben die Flut der Blüte pocht, oder das
Haus, um das die Trauben der Glyzinie klingen - wo wäre etwas, das sich nicht zersplittern
ließe in Regenbogen und Fontänen und in den Rausch der Zusammenhangsentfernung?
Weil alles stirbt, weil alles kürzer ist als das Wort und die Lippe, die es will sagen, weil
alles über seinen Rand zerbricht, zu tief geschwellt von der Vermischung. Weil ich kein Ich
mehr bin, sind meine Arme schwer geworden. ("Querschnitt"; III, S. 87f.)
Dadurch wird der Mythos also, mit seiner durch seine sprachliche Technik, traumartig die
Zusammenhänge zwischen den Dingen und ihren Bezeichnungen zu lösen und nahezu
halluzinatorisch zu entrücken, zum Fluchtpunkt inmitten einer äußerlich beschränkten
Situation. Während zum Beispiel Rönne eine Operation durchführt, entführen ihn seine
Imaginationen:122
Blau: Sie: In ihrer Wiege aus Moos, zwischen den Ästen einer Palme, blau: ich: auf
meinem Lagunenriff und weidend die Koralle, blau, wir: gekeltert aus fernen Festen, und
blau die Hand, die Sie jetzt schneidet: aus eines tieferen Auges Traum? --
So etwa, mit dürren Worten, begann die Operation. Organisches und Anorganisches
vereinigte sich zu einem Vorgang, der schließlich anschwoll in den Donner der Aktion, was
aber - fragte sich der Arzt, die Hände in Sublimat tauchend - soll aus mir werden, wenn
jede meiner Handlungen so schwer wird von allem Überwundenen. ("Querschnitt"; III, S.
87)
Reinhold Grimm umschreibt diesen Vorgang von der sprachlichen Seite her
folgendermaßen:
"Will man den schöpferischen Prozeß, wie ihn Benn schildert, noch einmal kurz
zusammenfassen, so kann man formelhaft sagen: Worte rufen endogene Traumbilder
hervor, die wiederum durch Worte geformt und realisiert werden. (...) Das Wort hat also
nun jene Funktion übernommen, die in den Rönne-Erzählungen Gerüche und Klänge
innehatten. (...) Da nun die Traumwelt, die Benn erlebt, dem Süden im weitesten Sinne
angehört und außerdem fast immer auf Inseln oder an Küsten lokalisiert ist, sind blauer
Himmel und blaues Meer ihre Leitvorstellungen. Das heißt aber: die Farbe Blau hat die
allgemeinste Beziehung zum Traum (sei es nun schöpferisch oder nicht), in dessen
Mittelpunkt der Ligurische Komplex steht."123
Rönne erschafft sich seinen eigenen Süden. Nicht mehr ist der Süden schlechthin oder
der Existenzraum der Antike gemeint, sondern es handelt sich um ein individuell
eingesetztes und belegtes Zeichen, um den semantischen Süd-Komplex schlechthin, der
für Rönne mit einer bestimmten psychischen Funktion zugleich behaftet ist, der
Überhöhung des Ichs.124 Der Süden ist eine Mythenbildung, wie man sie reiner bei Benn
122
Über die neuzeitliche Entwicklung des Begriffs der Imagination
bzw. der Einbildungskraft gibt Mary Warnock (Imagination, London
1976) Auskunft.
123
Grimm, Chiffre, S. 44 u. 49.
124
Wo war sein Süden hin? Der Efeufelsen? Der Eukalyptos, wo am Meer? Ponente, Küste des Niedergangs,
silberblaue die Woge her!
Er hetzte in eine Kaschemme; er schlug sich mit Getränken, heißen, braunen. Er legte sich auf die Bank, damit der Kopf
nach unten hinge wegen der Schwerkraft und des Blutes. Hilfe, schrie er! Überhöhung! ("Der
Geburtstag"; III, S. 58)
Rönne setzte sich. Ich habe etwas freie Zeit, sagte er sich, jetzt will ich etwas denken. Also, eine Insel und etwas
südliches Meer. Es sind nicht da, aber es könnten da sein: Zimtwälder. Jetzt ist Juni, und es begönne die Entborkung.
("Die Insel"; III, S. 63)
Und wenn er auf die Insel aus dem Gefühl einer Aufgabe heraus gekommen war, an Gegenständen, die er möglichst
isoliert unter wenig veränderlichen Bedingungen beobachten konnte, den Begriff nachzuprüfen, so spürte er jetzt schon
etwas wie Erfüllung: die Begriffe, schien ihm, sanken herab. Wie hatte zum Beispiel Meer auf ihm gelegen, ein
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
beinahe nicht mehr verfolgen kann, denn letztlich handelt es sich bei dem, was Benn als
"südlich" bezeichnet, nicht mehr um konventionelle Wörter und ihre konventionalisierten
Bedeutungen, sondern um einen eigenständigen Aktionsraum von Bedeutungen, der Insel
nicht unähnlich. Rund und geschlossen, im nicht durch das semantische Dreieck
gegebenen Interaktionsraum, fern des Bereichs des sprachlichen Beziehungssystems
zwischen Zeichen und dem zu bezeichnenden Objekt oder Zusammenhang ist der Süden
ein Komplex von nur aus im selbst heraus verständlichen subjektiven Bedeutungen ohne
den eigentlich bezeichnenden Charakter.
Benns Bedeutungen im Süd-Komplex sprechen also ihre eigene Sprache jenseits der
Fakta, und letztlich ist so gerade das Fiktionale dieses Raumes, das in den Dienst des
Mythos tritt und dabei den landläufigen Bereich des literarisch Fiktionalen verläßt, der - auf
das jeweilige Kunstwerk beschränkt - nur hier und im Gegenzug zur faktischen Wirklichkeit
einen innerhalb seiner fiktionalen literarischen Koordinaten begrenzten Raum aufstellt. Der
Raum des Wortes Süden ist aber mehr. Ein einzelnes Wort ist dabei gar nicht in der Lage,
ähnlich einer fiktionalen Erzählung, einen fiktionalen Raum durch die Elemente seiner
Handlung und den Gang der Geschichte abzustecken. Weder die mehr oder weniger
erfundene Fabel noch erfundene Personen und Gegenstände gründen prinzipiell einen
generellen Raum der Fiktionalität, in dem sich so ein fiktionaler Text, anderen gleich,
anlagern könnte. Und dennoch ist der Inhalt und die Bedeutungssphäre des Bennschen
Topos doch fiktional, imaginär, denn das kleine Wort evoziert ungezählte und im einzelnen
nicht genau bestimmbare Konnotationen. Mithin gerade aufgrund dieser referentiellen
Ungenauigkeit, der Assoziativität, ist es einem solchen einzelnen Wort möglich, einen
unbegrenzten fiktionalen Sprach-Raum zur Verfügung zu stellen. Schlechterdings weil
dieser Topos in seiner Fiktionalität nicht mehr versucht, real und wirklich zu erscheinen,
gelingt ihm die Erschließung des mythisch-imaginären Raumes vor jeglicher konkret
fiktionalen Ausfüllung mit Hnadlung, Dingen und Inhalt. Darin, wenngleich weniger
stringent kodiert, kommt ihm, wie gesagt, ausdrucksseitig die Funktion einer "Chiffre" zu,
weil er den generellen Schlüssel, die Chiffre zur sprachlich-seelischen Entgrenzung bietet.
Darüber hinaus aber, und zwar in dem Bereich der evozierten Bedeutungen, eröffnet ein
solches Wort einen fiktionalen, weil arbiträr angefüllten Raum, in dessen ganz für sich
existierenden Grenzen, in dessen Geschlossenheit die Bedeutungen sich kontinuierlich
wieder be-deuten und entgrenzen. Das ist die synekdochische Umkodierung. Blau wird so
zu Meer, zu Ferne, zu Befreiung, Meer hingegen zu Raum und zum Gegenteil der
kontinentalen Umgebung, in der Rönne lebt und gefangen ist, zu Lethe, Rausch etc.
Blumenmotive wie Anemone und Rose meinen sinnliche Entrückung, zerlassen die
reguläre Lebensordnung und durchbrechen sowohl den Zusammenhang der Dinge unter
sich, die gewohnten sprachlich-logischen Ordnungen, als auch den Zusammenhang, die
Bindung der Worte an diese Dingwelt; in diesen mythischen "Chiffren" wird zugleich
Sprache zerstört und neu errichtet. Benn nennt das die Zusammenhangsdurchstoßung.
Rönne findet so zu einer neuen "Form" und Existenzweise125, der mythischen, die aber
noch wesentlich psychisch motiviert ist, Rönne findet aber auch nach seiner Krise der ihn
sprachlicher Bestand, abgeschnürt von allen hellen Wässern, beweglich, aber doch höchstens als Systemwiesel, das
Ergebnis eines Denkprozesses, ein allgemeinster Ausdruck. Jetzt aber, schien es ihm, wanderte er dahin zurück, wo es
unabsehbare Wässer gab im Süden und im Norden brackige Flut. ("Die Insel"; III, S. 64f.)
Vgl. Jürgen Matoni, Logik der Interpretation. Interpretation ohne
Logik. Der Fall Gottfried Benn, Frankfurt a. M. Bern New York
1986, S. 79 u. 90. (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1,
Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 932).
125
Der Formtrieb spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende
Rolle. Vgl.: "Das moderne Ich": Wenn wir aber lehrten den Reigen sehen und das Leben
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Dieser Drang zum ästhetisch-sprachlichen Mythos als teilweise aus der äußerlichen
Beengung und der entleerten und ohne Bedeutungen empfundenen Welt126 zeigt sich
wieder in "Epilog und Lyrisches Ich", ein Text, der in zwei Teilen entstand. Der erste bis
Mitte August 1921, der zweite als Fortführung anläßlich eines Vortrags, den Benn 1927
zum Thema "Aufklang: Ein Essay: >Das lyrische Ich<, halb medizinisches Kolleg, halb
mystischer Dithyrambus" hielt.
Ein Ich, mythen-monoman, religiös faszinär: Gott ein ungünstiges Stilprinzip, aber Götter
im zweiten Vers etwas anderes wie Götter im letzten Vers - ein neues ICH, das die Götter
erlebt: substantivisch suggestiv. (...)
Man lebt vor sich hin sein Leben, das Leben der Banalitäten und Ermüdbarkeiten, in
einem Land reich an kühlen und schattenvollen Stunden, chronologisch in einer
Denkepoche, die ihr flaches mythenentleertes Milieu induktiv peripheriert, in einem Beruf
kapitalistisch-opportunistischen Kalibers, man lebt zwischen Antennen, Chloriden,
Dieselmotoren, man lebt in Berlin. (III, S. 131)
Der Mythos als "fundamentale neue Sprache", der "Weg von der Poetik zum Mythos"
enthebt Benn also aus seiner frühen Sprach- und Existenzkrise in eine stabilisierte Form
des totalen und dabei sprachlichen Ersatzerlebnisses.127 Das nihilistische, haltlose Ich
erfährt sich wie zuletzt in dem Gedicht "Schädelstätten" (1922) als eigene Welt, indem es
sich selbst konstruiert. Schließlich führt dieser Weg notwendig auch zur Entleerung von
Glaube, Glück und jeglichem Verbindlichkeitscharakter der tradierten Erkenntnis- und
Referenzsysteme (der Systeme, die dem Menschen die Welt zugänglich machen, das
heißt, sie ihm referieren) von Wissenschaft, Sprache und nicht zuletzt auch von
Mythologie, in diesem Falle dem biblischen Mythos (Taube Noahs). Es ist nicht zuletzt
auch der sprachliche Weg in den Nihilismus. Nur im Ausdruck gelingt es Rönne, subjektiv-
formal seine Welt zu gestalten, außerhalb der Geschichte, im Rahmen des Mythos, in der
Suche nach einer neuen Sprache. Hier gelangt er auch zur Überwindung des Ichs, das
sich das aus der subjektiven Krise durch die Bildung einer neuen mythischen Subjektivität
zu retten weiß. Sowohl der verfremdete traditionelle Mythos als auch der evokative Kunst-
Mythos treten insofern in den Kontext der sich in der nach neuen Ausdrucksformen
formend überwinden, würde da der Tod nicht sein der Schatten, blau, in dem die Glücke stehen? (III, S.
101)
126
Vgl. Hillebrand, Benn, S. 108-110 u. 147f.
127
Vgl. Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 39-41.
Vgl. zum Mythos bei Benn als explizitem Mittel zur lyrischen
Sprache auch: Erich Huber-Thoma, Die Triadische Struktur in der
Lyrik Gottfried Benns, Würzburg 1983, S. 130. (= Epistemata, Reihe
Literaturwissenschaft, Bd. 16) (im folgenden zitiert als Huber-
Thoma, Triadische Struktur)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
suchenden Sprache des vom Zerfall bedrohten Ichs, ein Gebilde, ein heller Zusammentritt,
zerfallend, von blauen Buchten benagt, über den Lidern kichernd das Licht. (III, S. 49)
Schädelstätten
(...)
Punisch in Jochen,
Heredität,
kranke Knochen
von Philoktet,
Fratze der Glaube,
Fratze das Glück,
leer kommt die Taube
Noahs zurück.
Schädelstätten,
Begriffsmanie,
kein Zeitwort zu retten
noch Historie -
allem Vergessen,
allem Verschmähn,
dem Unermessen
Panathenaen -
(...) (I, S. 74f.)128
In "Die Reise" (1916) hört man Rönne dementsprechend auch sagen: Ich will Formen
suchen und mich hinterlassen; Wirklichkeiten eine Hügelkette, o von den Dingen ein
Gelände. (III, S. 46) Der Versuch, die angegriffene psychische Kontinuität in der
abgezirkelten Topik überlieferter Mythen wiederzuerlangen, scheitert aber bereits in den
Ansätzen: schon frühzeitig beginnt Benn deshalb den Mythos in seinem eigenen Sinn zu
verwenden.
NOCH einmal beklagt Benn dann in der Novelle "Das moderne Ich", die er seit
Herbst 1918 in Arbeit hatte, die ursprünglich aber als fiktive Doppelrede geplant war,
ähnlich wie in "Schädelstätten", den Austritt des Menschen aus dem Mythos, denn
besonders der einstmalige Mythos versus der Geschichte stille die metaphysischen
Bedürfnisse:129
128
Zur Gedichtinterpretation vgl.: Johannes Oestboe,
Expressionismus und Montage. Über Gottfried Benns Gedichtstil bis
1932, Oslo 1981, S. 287-293. (im folgenden zitiert als Oestboe,
Expressionismus und Montage)
129
Von Benns Bekenntnis zu Nietzsches Bestimmung der Kunst als
letzter metaphysischer Tätigkeit kann in dieser Arbeit nicht mehr
die Rede sein. Vgl. dazu Hillebrand, Benn, S. 234f., Hillebrand,
Nietzsche, S. 423-429, und allgemein die Rezeption von diesem
Nietzscheschen Topos in der Literatur der Jahrhundertwende bei
Manfred Engel. (Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien" und die
moderne deutsche Lyrik. Zwischen Jahrhundertwende und Avantgarde,
Stuttgart 1986, S. 77-86; im folgenden zitiert als Engel, Rilke)
Für Benn ist in diesem Kontext vor allem seine "Rede auf Heinrich
Mann" von Bedeutung, wo er unter dem Thema der Artistik an
Nietzsches Artistenevanglium aus der Vorrede zur "Geburt der
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Wohin mit der Gebetsmaterie, den Aufstiegsenergien, die, seitdem die Geschichte der
Menschheit aus der Mythe auf die Schreibtäfelchen aus gebranntem Ton zwischen
Memphis und Theben trat, durch Vererbung und Neuerwerb diese ungeheure paraboloide
Spannung des menschlichen Gefühls in die schlechthinnige Abhängigkeit gespeist hatte?
(III, S. 102)
Man kann Metaphysik in diesem Zusammenhang auch als die zweite Realität und insoweit
auch als die verdeckte, im Kantischen Sinn des Wortes transzendentale Wirklichkeit
verstehen, für Rönne die Wirklichkeit des Mythos. Diese Klage über den Verlust des
mythischen Du, die Suche nach dem ewigen Bewußtsein (ebd., III, S. 105), ist jedoch
nichts anderes, als was das Streben nach der mythischen Syntax ebenfalls beabsichtigte.
Rönnes Mythos ist zwar vornehmlich die Aufhebung des Bewußtseins im Unbewußten und
Kollektiven130, doch bezeichnenderweise bemerkt Benn dabei noch nicht den Unterschied
zwischen der überkommenen Mythologie und dem Mythos, und das, obgleich er bereits in
Ansätzen zumindest diese Trennung in seinem Werk (vgl. "Ikarus") umgesetzt hatte.
Nichtsdestoweniger führen alle diese Wege immer wieder in die Sprache zurück. Nach
Theo Meyer nimmt sich das so aus:
"Es ist nicht nur für die generelle Situation der spezifisch modernen Lyriker, sondern auch
für die besondere Entwicklung Benns kennzeichnend, daß das Verhältnis von Wirklichkeit
und Bewußtsein sich ganz in das Verhältnis von Sprache und Bewußtsein verwandelt hat.
(...) Aufgrund des apriorischen (= primären) Vermögens des ästhetischen Bewußtseins zur
artifiziellen Handhabung der Sprache erfolgt das Hinübersteigen (= Transzendieren) des
Bewußtseins in die Worte. (...) Das Transzendieren meint in diesem spezifischen Kontext
Tragödie" anknüpft. Das Artistenevangelium: "die Kunst als die eigentliche Aufgabe
des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit", (...) der Einbruch der Artistik, die neue Kunst! Vom Westen
den Geist: Fanatismus des Ausdrucks, analytischen Instinkt, hormonbewandert und röntgentief; vom Norden die
Eruptivität großen Stoffs, die dunklen tragischen Träume. (III, S. 317)
Bei Friedrich Nietzsche (Die Geburt der Tragödie oder:
Griechenthum und Pessimismus, S. 20, in: Giorgio Colli u. Mazzino
Montinari (Hg.), Nietzsche, Werke, Dritte Abteilung, Erster Band,
Berlin New York 1972, S. 1-154; im folgenden zitiert als
Nietzsche, Geburt der Tragödie) hieß es: "Daß ich von der Kunst
als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen
Tätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt bin."
Bruno Steidle (Erfahrung, S. 158f.) zeigt den
Entwicklungsgang der Bestimmung des Kunstwerks als letzter
Metaphysik allgemein aus der Erfahrung des Nihilismus auf: "Das
Wesen des Nihilismus zu denken heißt das Wesen der Metaphysik
denken; denn die Metaphysik - als die Grundlage und spezifische
Wirklichkeit des Abendlandes - ist selbst die eigentliche Gestalt
des Nihilismus. Die Erfahrung von Nihilismus ist die innere
Notwendigkeit der Geschichte abendländischen Denkens." Die
"Verwindung des Wesens der Metaphysik" (ebd., S. 162) als
Nihilismus ermögliche aber nur ein "neues Denken" (ebd.), das nur
in der Kunst, als der Metaphysik und ihrem, der Begrifflichkeit
entzogenen Konzept, möglich ist. "Das Kunstwerk gestaltet sich
unmittelbar aus dem offenstehenden Hineinhören in die neue: ab-
gründige Wirklichkeit." (Ebd., S. 172)
130
Zu Benns Rezeption von Carl Gustav Jung und seinem kollektiven
Unbewußten: Vgl. "Zur Problematik des Dichterischen"; III, S. 243;
Wellershoff, Phänotyp, S. 92.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Was Benn/Rönne hier versucht, ist letzten Endes eine mythopoetische Sprach-
Wirklichkeit. So erscheint die Mythopoesie als die entsubjektivierte neue Sprache einer
eigenen, das heißt mythisch-archaischen Objektivität, was allerdings - in dem
eigentümlichen universellen Zug - bereits voraus auf die Entwicklung der absoluten
Dichtung bei Benn weist.132 Wenn der Mythos eben als ein wesentlich eigener sprachlicher
Bedeutungskosmos mit reduzierter, wenn nicht sogar gekappter Referenz erfaßt wird133, so
liegen die Wurzeln der späteren absoluten Prosa Benns schon hier in der zunehmend
mythisierenden Sprache. Ulrich Meister folgert hier weitgehend treffend:
"Es scheint sinnvoll, in diesem Zusammenhang von Mythopoiesie zu sprechen und nicht
von Mythus. Denn es geht weder um die Nacherzählung bestehender Mythen noch um die
Schaffung neuer, sondern um ein ästhetisches Verfahren, das die Bestände des Mythus
als Reservoir für dichterische Themen verwendet, als Erlebnisäquivalente und
Evokationen nutzen kann."
Schließlich kommt mit der Entgrenzung der innerlichen und äußerlichen Welt Rönnes auch
ein typisch Bennsches und bereits genanntes Phänomen zum Vorschein, die
Zusammenhangsdurchstoßung. Mit letzten Wallungen (III, S. 58) und wenn du zerbrochen
bist (III, S. 60) hat das Ich auf seiner Suche nach dem Mythos begonnen, die
Zusammenhänge zu durchbrechen, die sprachlichen, logischen und die
erkenntnistphilosophischen Ordnungen aufzuheben. Diese Zusammenhangsdurchstoßung
bleibt für Benns Dichten symptomatisch, er erschafft sich ebenso wie Rönne weitere
eigene, in seiner assoziativ mythischen Entgrenzungssemantik134 verankerte sprachliche
Bedeutungsräume (Topoi), wie zum Beispiel den mythischen Ort Afrika.
Den Überschwang galt es zu erschaffen gegen das Nichts. (...) Er konnte in diesem Land
nicht bleiben -: Südlichkeiten! Überhöhung! ("Der Geburtstag"; III, S. 54)
Der Winter kommt, und die Felder grünen; einige Blätter des Granatsstrauchs fallen, aber
das Korn schießt auf vor deinen Augen. Was willst du haben: Narzissen oder Veilchen das
Jahr hindurch in dein Bad geschüttet morgens, wenn du dich spät erhebst; willst du nachts
durch kleine Nildörfer streichen, wenn auf die krummen Straßen die großen klaren
Schatten fallen durch den hellen südlichen Mond? Ibiskäfige oder Reiherhäuser
Orangengärten, gelbflammend und Saft und Dunst über die Stadt wölkend in der
Mittagsstunde; von Ptolemäertempeln einen geschnittenen Fries?
Er hielt inne. War das Ägypten? War das Afrika um einen Frauenleib, Golf und Liane um
der Schulter Flut? Er suchte hin und her. War etwas zurückgeblieben? War Hinzufügbares
vorhanden? Hatte er es erschaffen: Glut, Wehmut und Traum? ("Der Geburtstag"; III, S.
55)
131
Meyer, Kunstproblematik, S. 158.
132
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 43.
133
Von der Schwierigkeit, bei Benn den Gegenstand von dem Zeichen
(Chiffre) zu unterscheiden spricht auch Paul Requadt, Gottfried
Benn und das "südliche Wort" (1962), S. 162, in: Hillebrand,
Gottfried Benn, S. 153-176. (im folgenden zitiert als Requadt,
Südliches Wort)
134
Zur Parallele von Assoziieren und der Zusammenhangsdurchstoßung
vgl.: Heimann, Süden, S. 90.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Indem er diesen Topos oder Mythos, angeregt durch die situative und individuelle
Begrenzung als erotisches Verlangen aus sich heraus bildet, nimmt diese innere
psychische Semantik sprachliche Gestalt an und wird in ihrem individuellen Überschuß an
Bedeutung zu einem Mythos. Afrika wird gerade wegen seiner topographischen Ferne und
Unerreichbarkeit zu einem transzendenten imaginären Raum, in den das Ich seine
Sehnsüchte legt. Allein Afrika meint nur einen Teil dieses imaginären Raums, denn der
Süden wird für Benn schlechthin zum mythischen Raum.
DER Mythos des Südens bei Benn ist - obschon als Gesamtes in sich geschlossen -
nicht auf den einzelnen Text beschränkt, sein Raum umfaßt mehrere Texte, viele Zeichen
und psychische Bereiche. Er verläßt damit sogar den Bereich jener Fiktionalität, die sich
weitgehend nur durch die Opposition zur Faktizität auszeichnet. Ein solcher Raum ist
darum mehr als nur fiktional und erfunden; er ist mehr als nur ein fiktionaler Raum, denn
dieser geht über die Grenzen seiner Fiktion, also dessen was er darstellt, nicht hinaus.
Ganz anders hingegen der "mythische Raum" des Südens und der der Imagination hier.
Er ist weitaus mehr, er ist überhaupt die sprachliche Bedingung für jegliche Fiktion. In
seiner absoluten Gestalt stellt er keine Reaktion auf die Faktizität des Seins und das So-
Sein der Existenz dar, wie es weitgehend die Fiktionalität versucht, sondern er meint den
gesamten transzendenten oder inneren Raum der sprachlichen Existenz.
Rönnes Problem dabei aber war die Suche nach einer individuellen Form, einer Form
seiner Existenz im Angesicht dieses anderen Raumes, der allenthalben in den faktischen
seiner äußeren Existenz hineinragte. Was immer er auch an formalen Entgrenzungen
seiner Psyche und der Dinge unternahm oder wahrnahm, stets hat ihn sein Unternehmen
zur Sprache geführt. In ihr, der neubestimmten Form, fand Rönne reichliche Möglichkeit
zur persönlichen Gestalt und zum individuellen Ausdruck. ("Diesterweg"; III, S. 74)
Im Gegensatz allerdings zum völlig assoziativ entgrenzten Vorstellungsstrom schien der
antike Mythos in seinem strukturellen Formdasein diesem Bedürfnis Rönnes nach
Geformten (ebd.) entgegenzukommen. Doch schon bald zeichneten sich die typisch
modernen Verfremdungen und Neubestimmungen dieser archaischen Mythentopoi ab;
Benn fand handwerklich zumindest implizit, in Ansätzen sogar auch explizit zu den
Grundzügen des modernen säkularen Mythos.
Trotzdem blieben aber noch einzelne Komponenten des frühen Mythos, die außerhalb der
Sprache lagen, bestehen, wie das teilweise schon angeklungen war. Eine der
bedeutendsten ist die mystische Partizipation.
die Zuckungen, das Zusammenströmen und den Aufwuchs, und plötzlich stand vor ihm die
Schwangere: breites, schweres Fleisch, triefend von Säften aus Brust und Leib; ein
magerer, verarmter Schädel über feuchtem Blattwerk, über einer Landschaft aus Blut,
über Schwellungen aus tierischen Geweben. (...)
Er, der Einsame; blauer Himmel, schweigendes Licht. Über ihm die weiße Wolke: die
sanftgekappten Rande, das schweifende Vergehen. (III, S. 40f.)
Doch nicht genug der Südlichkeiten, in denen Rönne imaginativ und mythisch die Bürde
des Ichs abzuschütteln versucht, diese sprachliche Mythenbildung koinzidiert dabei mit
einer Entgrenzung in den Sexus, das Vegetative des menschlichen Körpers. Benn benützt
dafür den Begriff der mystischen Partizipation. Ob Sexus oder Rasse135, wie Benn später
sich ausdrückt, ob Blut oder Kollektiv, stets muß man, wenn Benn wie hier von Mythos und
mythischem Erleben spricht, auch diesen Gedanken miteinbeziehen.
Neben der sprachlichen Seite des Mythischen zeigt sich hier also einer der wichtigsten
Aspekte im Umkreis des Bennschen Mythosverständnisses136, wobei Benn den Begriff
eigentlich nur von Lucien Lévy-Bruhl übernommen hatte. Dessen synkretistische
Mythenvorstellung, daß innerhalb des Mythos keinerlei Dissoziation der Einzelmomente
mehr herrsche, da der Mythos als synthetisiertes, eigenständiges Gebilde begriffen
werden müsse137, mußte Benns impliziten Erfahrungen zusagen, ebenso die darin
enthaltene psychisch-kollektive Komponente.138 In den bedeutenden Essays der Jahre
1929 und 1930 "Zur Problematik des Dichterischen" und "Aufbau der Persönlichkeit"
entfaltet Benn zum ersten Mal ausgiebig Gedanken, die in diesen Problemkreis gehören.
Wenn man hinzurechnet, daß der gedankliche Reifungsprozeß einige Zeit benötigte, so
lassen sich aber durchaus die Ursprünge dieser Essays bis in die Erfahrungen
zurückverfolgen, die aus der Rönnezeit stammen, was die zahlreichen inhaltlichen
Ähnlichkeiten dieser Essays mit dem Rönne-Komplex erklärt.
135
Der Grundstock der Psyche filtriert Identitäten durch alle Rassen und durch alle Zeiten. (...)
Das Ich ist eine späte Stimmung der Natur. ("Zur Problematik des Dichterischen";
III, S. 243)
136
Hillebrand, Benn, S. 254.
137
Lévy-Bruhl, Geistige Welt, S. 30.
138
Vgl. Wodtke, Antike, S. 176; Cassirer, Symbolische Formen, II,
S. 60.
Die Bedeutung Lévy-Bruhls für Benn ist nicht zu
unterschätzen. Vor allem vier Thesen haben Benn nach Huber-Thoma
(Triadische Struktur, S. 124f.) beeinflußt: 1. Das Bewußtsein der
Primitiven ist durch das kollektive Bewußtsein bestimmt. 2.
Kennzeichen dieser prälogisch-mystischen Geistesart ist das
"Gesetz der mystischen Partizipation". 3. Beim Schwinden der
ursprünglichen mystischen Mentalität ist im Zusammenhang mit einem
zunehmenden Individualisierungsprozeß die Zunahme einer
Intellektualisierung und Verobjektivierung der Welt feststellbar.
4. Auch bei fortschreitender Intellektualisierung und Logisierung
können die mystischen und prälogischen Elemente nicht ganz
eliminiert werden.
Wie Huber-Thoma feststellt (ebd., S. 127), findet sich schon Benns
mythische Worttechnik in ähnlicher ähnlicher Form bereits bei
Lévy-Bruhl beschrieben.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Einer dieser Gedanken ist die Ansicht von der Dichtung als biologischem Vorgang.139,
Nicht zuletzt wird dieser Aspekt aber zu einem der wichtigsten Grundpfeiler von Benns
entstehender Dichtungstheorie in dieser Phase.140 Wie er in "Zur Problematik des
Dichterischen" feststellt, ist Dichten das Rückfallfieber, die Sturzgeburt nach Innen. Benn
bezieht sich hierbei wiederum ausdrücklich auf den Begriff der mystischen Partizipation
von Lévy-Bruhl. ("Zur Problematik des Dichterischen"; III, S. 241 u. 245) Gleichwohl setzt
er dabei auch die Suche nach einer totalen Denkweise fort.
Benn schrieb diesen Essay wohl von Juli bis Dezember 1929, so daß er für die April-
Ausgabe der "Neuen Rundschau" 1930 (41. Jg., Heft 4) fertig war. Zu den Quellen zählt
neben Lévy-Bruhl, den Benn eben wiederholt explizit zitiert, implizit, was die Ausführungen
über Rausch und Trance anbelangt, wohl auch Kurt Behringers Buch "Der
Meskalinrausch. Seine Geschichte und Erscheinungsweise" (Berlin 1927; Monographien
aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie, Heft 49).141 Hinsichtlich der
Abstammungslehre bezieht sich Benn als Leser der Berliner Wochenzeitschrift "Die
Medizinische Welt" unter Umständen, wie das Thomas Ehrsam behauptet142, auf einen
Artikel von Max Westenhöfer, "Die Abstammuungsfrage des Menschen" (Jg. 2, Nr. 17 vom
28.4.1928, S. 663-667). Benn jedenfalls nennt eindeutig nur Lévy-Bruhl und schließt daran
an:
>Die Seele trachtet nach Tieferem als der Erkenntnis, nach etwas Tieferem, das ihr
Ganzheit und Vollendung gibt< - also bis in jene Sphäre, wo in der Totalität uralt die
Sphinxe stehn, wo das Denken nicht mehr als Stundenbuch ewig für die Platoniker und
Physiker, die Transzendentalen und Realisten vom Himmel gefallen ist, auch nicht als
Konditionalsatz für die Biologen oder als Imperfekt für die Romanschriftsteller, sondern in
den dunklen Kreis organischer Belange tritt, der Herkunftseinäugigkeiten, der
Schöpfungspolyphemien. Wo es eine Existenz hat als Regelung der Triebe und Spannung
des Vegetativen, promiskuitiv in seinem Wirken mit Inzest und Polyandrie und Lauten der
Vermischung. (III, S. 242)
Totalität, Absolutheit und Geschlossenheit sucht und gewinnt das Ich insoweit
hauptsächlich aus der Teilhabe am archaisch-prälogisch mythischen Denken, das in
Opposition zum logisch-wissenschaftlichen Denken tritt.143 Der Begriff des Mythos ist aber
139
Die vorliegende Arbeit wendet sich von vornherein nicht Wertschätzungen zwischen den einzelnen Kunstformen zu,
beschreibt auch nicht den Dichter in seiner gesellschaftlichen Erscheinung und historischen Entfaltung, sondern
unternimmt den Versuch, das Dichterische als Begriff und Sein mit einer neuen Hypothese zu erfassen und als
Phänomen von primärem Charakter innerhalb des biologischen Prozesses zu lokalisieren. ("Zur
Problematik des Dichterischen"; III, S. 233)
140
Zu den folgenden Ausführungen vgl. bezüglich der Bedeutung der
psychologisch-organischen Belange für die Dichtung: Gerlinde F.
Müller, Die Bedeutung des Entwicklungsbegriffs für Menschenbild
und Dichtungstheorie bei Gottfried Benn, New York Bern Frankfurt
a. M. Paris 1990, S. 103-119. (= New York University Ottendorfer
Series, Bd. 29)
141
Vgl. Gerhard Schusters Erläuterung: III, S. 513.
142
Thomas Ehrsam, Spiel ohne Spieler. Gottfried Benns Essay "Zur
Problematik des Dichterischen". Kommentar und Interpretation,
Zürich München 1986, S. 35-39.
143
Benns "mystische Partizipation" stellt insoweit auch eine
Antwort auf die Naturwissenschaften, und zwar in Nachfolge der
frühromantischen "mystischen Physik", dar, wie sie zum Beispiel
Novalis im "Allgemeinen Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik
1798/99" (in: Richard Samuel, Hans Joachim Mähl u. Gerhard Schulz
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
insofern noch teilweise als Gegenstück und Überwindung des Logos und der
Wissenschaft zu verstehen.144 Benn zitiert Lévy-Bruhl und folgert weiter:
"Das logische Denken, welches sich in reinen Begriffen und durch die vernunftgemäße
Organisation dieser Begriffe zu verwirklichen strebt, hat nicht denselben Umfang wie die
Geistesart, die in früheren Vorstellungsweisen ihren Ausdruck fand" (III, S. 241f.)
"Aber verglichen mit der Partizipation, welche die prälogische Geistesart realisiert, ist
dieser Besitz immer nur unvollkommen, unzureichend und gewissermaßen äußerlich",
denn: "dies ist tiefer und kommt von weiter her." (III, S. 242)
Indem sich Benn aber gerade gegen den Begriff der Geschichte absetzt, gewinnt der
Mythos für ihn an spezifischen Konturen, er wird zur eigentlichen Geschichte des
Menschen.147 Wo der historische Prozeß unmotiviert und sinnlos ist, ein Schulfall des
Fragmentarischen: ein Motiv Orient, eine Mythe Mittelmeer. (III, S. 239), da ist es eben vor
allem der Mythos mit seiner eigenen Raum-Zeit-Struktur, der all das bietet, was die
fragmentarische und ungeordnete Geschichte nicht kann: Geschlossenheit und einen
Sinn, wenngleich dieser auch sehr subjektiv bleibt.
An die Stelle der geschichtlichen Entwicklung trat darum ein Mythos, zum Beispiel der
Mythos des Mittelmeers148, und das zeigt sehr gut, wie vielseitig der Begriff Mythos bei
Benn - trotz aller Gestaltung - noch gebraucht wird. So nimmt es auch nicht weiter wunder,
wenn Benn auf diesem "organisch-mystischen Untergrund" eine Theorie des
Dichterischen erstellt, in deren Umfeld all die verschiedenen poetologischen Phänomene,
wie sie mittlerweile entwickelt wurden, ihren Platz finden, angefangen bei der Regression
in das Archetypische und das Mystische, bis hin zur Entgrenzung des Ichs in Ekstase und
in den immanenten Traum. Benn nennt diesen Komplex schließlich die hyperämische
Theorie des Dichterischen.149
Am Ende tendiert diese Theorie des "Schwellungscharakters des Blutes" dazu, die
Thematik der mystischen Partizipation abzulösen: Es ist vorbei mit der mystischen
Partizipation, notiert Benn. Diese bildete zwar die dichterische Grundlage einer alten und
frühen Tiefe, gleichwohl war in ihr alles Vergängliche nur ein Gleichnis eines unbekannten
Urerlebnisses. Dagegen gibt [es, wie schon gesagt,] nur den Einsamen und seine Bilder,
seit kein Manitu mehr zum Clan erlöst (III, S. 246f.), das Ende der Götter zeigt auch die
Zweifel an einer mythisch-kollektiven Transzendenz auf; nur noch die eigene
monadenhafte Existenz mit ihren autosuggestiven Bildern scheint einen ästhetischen und
existentiellen Halt zu vermitteln. So kommt schließlich das lyrische Ich zu seinem Stoff:
durch die Erkenntnis von der von allen Ideen entleerten Realität wird diese variabel, und
der eigene Körper mit seiner innerseelischen Welt rückt ins Zentrum.150 Dieser Gedanke -
der Entleerung der Mythen verwandt - stellt so gleichsam auch die Voraussetzung für die
immer wieder notwendige dichterische und mythische Beladung der Zeichen dar.
Im großen und ganzen liegen die Bennschen Vorstellungen des Mythos allerdings noch
nach wie vor in diesen "blut- und ich-immanenten Problemen" begründet. Erst in "Aufbau
der Persönlichkeit", einer Rede, gehalten in der Berliner (Rund-)Funkstunde am
3.10.1939, tritt der Gedanke des Mythos stärker hervor. Die Thematik der formalistischen
147
Dieser Charakter des Mythos entspricht darüber hinaus sogar der
aristotelischen Auffassung desselben in der Poetik. Vgl. oben S.
18 zu Aristoteles.
148
Auch die Mythe Mittelmeer hat assoziativ entrückende Funktion. Vgl.
Heimann, Süden, S. 30.
149
Benn umschreibt den organisch-biologischen Charakter dieser
Theorie wie folgt: Der Körper ist der letzte Zwang und die Tiefe der Notwendigkeit, er trägt die Ahnung,
er träumt den Traum. Der Schwellungscharakter der Schöpfung ganz evident: in ihm erschuf sie ihre Korrelate und
fordert in den Räuschen nach Gestalt. Alles gestaltet sich aus seiner Hieroglyphe: Stil und Erkenntnis, alles gibt er:
Tod und Lust. Er konzentriert das Individuum und weist es auf die Stellen seiner Lockerungen, die Germination und die
Ekstase, für jedes der beiden Reiche einen Rausch und eine Flucht. Es gibt - und damit endet diese hyperämische
Theorie des Dichterischen - nur eine Ananke: den Körper, nur einen Durchbruchsversuch: die Schwellungen, die
phallischen und die zentralen, nur eine Transzendenz: die Transzendenz der sphingoiden Lust. ("Zur
Problematik des Dichterischen"; III, S. 246)
150
Was bleibt als Transzendenz nichtmetaphorischen Geschlechts, als Realität mit Wahnsymbolen, Kanon des
Natürlichen und Hieroglyphe aus Phantasmen, die Materie ohne Idee und doch das Medium, aus ihm das Magische zu
trinken -: der Körper ist es mit seinem der Willkür entzogenen Terrain, auf dem wir doppelzüngig wohnen, seinem nur
zu Zweidrittel geborenen, zu einem Drittel ungeborenen Sein. ("Zur Problematik des
Dichterischen"; III, S. 246)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Kunst nimmt an Bedeutung für Benn und seine Entwicklung zum neuen Mythos zu, und
selbst der unhandliche Begriff der Mystik nähert sich, indem er in den Kontext der
dichterischen Sprachauffassung tritt, dem des Mythos.151
Hat bisher also die explizite Verquickung der organischen Belange und der dazugehörigen
hyperämischen Theorie des Dichterischen mit dem Mythos gefehlt, so stellt der Essay
"Aufbau der Persönlichkeit" dieses Bindeglied her. In einem weiteren großen Versuch, faßt
Benn seine Ansichten über die Verbindung von Leben und Kunst zusammen, wobei er
Gedanken aus Wilhelm Lange Eichbaums "Genie Irrsinn und Ruhm" (München 1927),
Edgar Daqués "Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie"
(München Berlin 1924), sowie Daqués "Leben als Symbol. Metaphysik einer
Entwicklungslehre" (München Berlin 1928) mit Überlegungen aus Erich Ungers "Das
Problem der mythischen Realität. Eine Einleitung in die Goldbergsche Schrift: >Die
Wirklichkeit der Hebräer<" (Berlin 1926), Eugen Georgs "Verschollene Kulturen. Das
Menschheitserlebnis. Ablauf und Deutungsversuch" (Leipzig 1927) und Heinz Hartmanns
Darstellung der Psychoanalyse "Die Grundlagen der Psychoanalyse" (Leipzig 1927)
vermengt.152 Erneut verwendet er dabei den Begriff der mystischen Partizipation, der
unfreiwillig rauschhaften Teilhabe am urtümlichen Kollektiven, verborgen in den
entwicklungsspezifisch älteren Teilen des Gehirns, im Stammhirn.
Nun wenden wir uns zu psychologischen Tatbeständen. "Nacht ist es: nun reden lauter
alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen" - der Vers
aus Zarathustra. "In das Nachtleben scheint verbannt" - dies sind die berühmten Worte
aus Freuds Traumdeutung - "in das Nachtleben scheint verbannt, was einst am Tage
herrschte"- dieser Satz enthält die gesamte moderne Psychologie. Ihr großer Gedanke ist
der Schichtungscharakter des Psychischen, das geologische Prinzip. Die Seele ist in
Schichten entstanden und gebaut, und, was wir vorhin im Organischen gelegentlich der
Bildung des Großhirns entwicklungsanatomisch aus verschollenen Äonen vernahmen,
offenbart der Traum, offenbart das Kind, offenbart die Psychose als noch vorhandene
seelische Realität.
Wir tragen die frühen Völker in unserer Seele, und wenn die späte Ratio sich lockert, in
Traum und Rausch, steigen sie empor mit ihren Riten, ihrer prälogischen Geistesart und
vergeben eine Stunde der mystischen Partizipation. (III, S. 270f.)
Bezüglich Geisteskrankheit und Anomalie spricht Benn dann jedoch von dem darin
enthaltenen künstlerisch virulenten Aufeinanderprall mythischer Mächte [und zwar] in den
blühenden schöpferischen Perioden, die die Krankheit manchmal mit sich bringt (...) Hier
erhebt er sich [der pathologisch aus den Mythen schöpferische Künstler; Anm. d.
Verfassers] zum zauberhaften Meister mit alten Kräften aus einer anderen biologischen
Welt, aus archaischen Tiefenschichten steigt es empor, ein rauschhaft starkes
dionysisches Weltgefühl, eine grandiose Phantasiewelt entsteht, er wächst ins Kosmische,
wird zum Mythos, er kämpft mit den Dämonen seines Schiksals, in der mystischen
Ekstase der indischen Introversion schwillt er bis zum Erschauen letzten Sinnes. (III, S.
273f.)
Es finden sich hier nahezu alle bisher entwickelten Aspekte des Mythos, und zwar diesmal
weitaus stringenter auf diesen hin bezogen: zum einen das Zauberhafte, das natürlich
151
In der Moderne steht Benn mit dieser unsauberen Vermengung von
Mythos und Mystik nicht allein. Vgl. Werner Betz, Vom "Götterwort"
zum "Massentraumbild". Zur Wortgeschichte von "Mythos", S. 18, in:
Helmut Koopmann (Hg.), Mythos und Mythologie in der Literatur des
19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1979, S. 11-25. (= Studien zur
Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts; Bd. 36)
152
Im einzelnen vgl.: Wellershoff, Phänotyp, S. 125-160.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
weniger für tatsächliche Magie als vielmehr für die neue mythisch-immanente dichterische
Ordnung steht, in deren Syntax die Dinge im Vergleich zu ihrer bisherigen
Kombinierbarkeit durchaus als wunderlich vermengt sind. Zum andern fällt das Augenmerk
auf die Rolle der kreativen Phantasiewelt. Sie verwirklicht die freie Bearbeitung des
Mythos zu Kunstprodukten. Schließlich aber der Aspekt des Mystisch-Archaischen.
Mittlerweile als seelische Komponente in Benns Theorie des Hyperämischen integriert,
ermöglicht gerade es die Totalität und den allumfassenden, geschlossenen Charakter des
Mythos mit ein, da es sich in der mystischen Partizipation um die Rückführung des
Bewußtseins in ein Absolutes handelt. Letztlich setzt sich - rechnet man alle diese
Elemente zusammen - von nun an mit dieser Grundstruktur des Mythos als psychisch-
organischem, atavistisch-archaischem, aber nichtsdestoweniger künstlerisch gestaltbarem
ästhetischen Produkt (trotz mancher Gebundenheit an das Biologische und Stoffliche)
doch der Gedanke und nicht zuletzt auch die Eigenart eines modernen mythischen
Verfahrens durch. Der Mythos wird zunehmend auf die Grundlage der Sprache und der
Kunst gestellt, wohingegen das, was bei Benn die mystische Partizipation bezeichnete,
zwar für seine Auffassung von Dichtung voraussetzend bleibt, jedoch in Benns
Dichtungstheorie als conditio sine qua non weiter fortbesteht und damit im Mythos aufgeht.
In dem Gedicht "Orphische Zellen" (1927) kommen diese verschiedenen Aspekte
schließlich auch weitgehend zur Geltung.
Orphische Zellen
Um Feuerstein, um Herde
hat sich der Sieg gerankt,
Er aber haßt das Werde,
das sich dem Sieg verdankt,
Er drängt nach anderen Brüsten
nach anderen Meeren ein,
schon nähern sich die Küsten,
die Brandungsvögel schrein.
DIE Orphik als der Topos des Künstlerischen erscheint hier als orphische Zellen,
wobei diese Formulierung weniger meint, daß es sich um den archaischen Mythos von
Orpheus und Eurydike handelt, sondern der Ausdruck reflektiert exakt Benns Ansicht der
hyperämischen Theorie des Dichterischen: In den entwicklungsgeschichtlich älteren
Schichten des Gehirns ruht die Kunst als mythischer Ritus, als kultische Opferhandlung,
als Haschisch, Met und Rausch, Eros und Vermischungsgelüste, aber auch als Folge des
Drangs nach psychischer Entgrenzung durch den Sexus. Diese mythische
Kunstauffassung stellt damit zugleich eine Absage an den Evolutionsgedanken des Werde
zugunsten der Regression dar, und all das ist ja bereits bei Benn bekannt. Nur tauchen
diese Aspekte des Mythos und Benns Kunstauffassung in "Orphische Zellen" konzentriert
auf. Schließlich setzt Benn allerdings noch einen entscheidenden Aspekt hinzu: Mit Hilfe
seiner assoziativ-mythenbildenden Sprachtechnik, des assoziativ entgrenzten Ichs und der
geweiteten Perspektive kombiniert er in einer neuen syntaktisch-semantischen
Verknüpfung entfernte, heterogene Dinge zu einem zusammengebastelten Stückwerk,
einer Bricolage: Sansibar, die Insel voll Nelkenwaren, vor der tansanianischen Ostküste
Afrikas gelegen, und die Blüte der Bougainvillea, diese Begriffe haben wahrscheinlich
153
Zur Gedichtinterpretation vgl.: Wodtke, Antike, S. 73ff.; Meyer,
Kunstproblematik, S. 118; Huber-Thoma, Triadische Struktur, S. 103
u. 122.
Benns Montagetechnik zeigt hier auch wieder die
eklektizistische Mythenkenntnis und -praxis Benns. Huber Thoma
(Triadische Struktur, S. 107-113) hat beispielhaft gezeigt, wie
Benn sich auf Erwin Rohdes Buch (Psyche. Seelencult und
Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Bd. 1 u. 2, 7. u. 8. Aufl.
Tübingen 1921 (1894); im folgenden zitiert als Rohde I u II), auf
dessen 9. - 10. Auflage 1925, erschienen also nur kurz vor der
Veröffentlichung des Gedichts, kopistisch stützte, indem er
reichlich daraus Textstellen in diesem Gedicht montierte. Dabei
bezieht er sich so vor allem auf das Kapitel über "Die Mysterien
von Eleusis" (S. 288-300) des I. Buches, ferner aber auch
besonders auf die ersten beiden Aufsätze des II. Bandes:
"Ursprünge des Unsterblichkeitsglaubens. Der thrakische
Dionysoskult" und "Dionysische Religion in Griechenland. Ihre
Einigung mit apollinischer Religion. Ekstatische Mantik. Kathartik
und Geisterzwang. Askese." (insbes. S. 9 u. 16f.)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Traum, Trance und mystische Partizipation, was Benn hier an subjektiven Gefühlslagen,
an halbwissenschaftlichen, übernommenen Begriffen und dennoch für seine Dichtung
fruchtbar gemachten Motiven verbindet, das ist - wie bereits erwähnt - weitgehend
Resultat einer Subjekt- und Sprachkrise gewesen155, einer Krise, wie sie darüber hinaus
auch typisch ist für das moderne literarische Ich. Georg Lukács hatte diese Erfahrung
darum sogar zum Grundstock seiner Poetik des Romans gemacht.156 Was immer aber von
Benn in diesem Zusammenhang angeführt wird, ob Traum oder Rausch, stets hat es sich
in der Rönne-Phase um die Evozierung eines Urerlebnisses gehandelt, in dem das um
jegliche Selbstverständlichkeit reduzierte und kranke, zum Teil schon krankhafte Ich eine
Art von metaphysischem Sein157 erfuhr, das es seiner subjektiven Aporie enthob, der
Aporie, rational zu sein, es jedoch nicht zu wollen, gleichzeitig sich aber auch nicht mehr
endgültig auf einen naiven Zustand zurückführen zu können. Das Gedicht "Kokain" (1917)
154
Benn schildert an anderer Stelle diese Trancebilder und -mythen
als bewußt evozierte rauschhafte Bilder, die den
instrumentalisierten artifiziellen Charakter nicht verleugnen
können: Im Triumph und im Verfall verließ mich die Trance nie, daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe. Eine Art
innerer Konzentration setzte ich in Gang, ein Anregen geheimer Sphären, und das Individuelle versank, und eine
Urschicht stieg herauf, berauscht, an Bildern reich und panisch. ("Lebensweg eines
Intellektualisten"; IV, S. 163)
Rönne, der Arzt, der Flagellant der Einzeldinge, das nackte Vakuum der Sachverhalte, der keine Wirklichkeit ertragen
konnte, aber auch keine mehr erfassen, (...) der, vor das Erlebnis von der tiefen, schrankenlosen mythenalten Fremdheit
zwischen dem Menschen und der Welt gestellt, unbedingt der Mythe und ihren Bildern glaubte. (Ebd., S.
164)
155
Zum Wirkungszusammenhang von Bewußtseinskrise und Rausch vgl.:
Hillebrand, Benn, S. 40f., 107 u. 127.
156
Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein
geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik,
Frankfurt a. M. 1991 (1920), S. 70. (im folgenden zitiert als
Lukács, Theorie): "Der Prozeß, als welcher die innere Form des
Romans begriffen wurde, ist die Wanderung des problematischen
Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit in
der einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum
sinnlosen Wirklichkeit zur klaren Selbsterkenntnis."
157
So schon Albrecht Soergel, S. 112, in: Hohendahl,
Wirkungsgeschichte, S. 110-113. (erstmals in: A. S., Dichtung und
Dichter der Zeit, Neue Folge, Im Bann des Expressionismus, Leipzig
1925, S. 820-827)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
zeigt eindeutig, wie diese Entgrenzung mit Rausch, und hierbei nicht nur dem ästhetischen
Formenrausch, verbunden ist.
Kokain
Der Wunsch des sich Berauschenden ist der Ich-Zerfall, das zersprengte Ich, denn hinter
dem Ich taucht das Ur auf, die andere Persönlichkeit, entformt, ungebunden, und dennoch
bildet es die Grundlage des Seins. Aus diesem Gedicht spricht so die starke
formabgewandte dionysische Tendenz, die allerdings zu keinem Kollektiverlebnis führt,
wie es Nietzsche noch vor allem im antiken dionysischen Chor dargestellt sah.158 Bei Benn
bleibt das entgrenzte, berauschte Ich allein, und damit gelingt es ihm nicht, sich letztlich
aufzuheben. Nur für Hauche, Momente glückt eine Ahnung des Verborgenen.
Aus diesem existentiellen dionysischen Dilemma führt Rönne nur die mythische Kunst,
denn sie ist es, die die Möglichkeit bietet, beliebig durch ihre chiffrenhafte Evokation, mit
Hilfe der mythisch-imaginativen, assoziativen und völlig subjektiven Bedeutungen in das
künstliche Terrain eines in sich abgeschlossenen, immanenten Sprach-Raumes zu
entfliehen. Der Rausch, den Benn in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnt, faßt
158
Zu Friedrich Nietzsches Konzeption des dionysischen Chors vgl.:
"Der Satyr als der dionysische Choreut lebt in einer religiös
zugestandenen Wirklichkeit unter der Sanction des Mythus und des
Cultus." (Geburt der Tragödie, S. 51); "Nach dieser Einsicht
dürfen wir den Chor, auf seiner primitivsten Stufe in der
Urtragödie, eine Selbstbespiegelung des dionysischen Menschen
nennen. (...) Der Satyrchor ist zu allererst eine Vision der
dionysischen Masse, wie wiederum die Welt der Bühne eine Vision
des Satyrchors ist." (Ebd, S. 55f.); "Der dithyrambische Chor ist
ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche
Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig vegessen ist: sie sind
die zeitlosen, ausserhalb aller Gesellschaftssphären lebenden
Diener ihres Gottes geworden." (Ebd., S. 57)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Von seiner Südlichkeit abgesehen, zeichnet sich der mythische Raum, angezeigt durch
die zahlreichen Anführung mythischer Namen und Versatzstücke161, noch genauer ab. Ob
all seiner Heterogenität besitzt er gleichwohl eine einheitliche Struktur. Die verschiedenen
Bausteine dieses Textes formen ein sprachliches Gebilde, eine durch diese Versatzstücke
gegenseitig schlüssige neue Bedeutungssphäre. Es geht realiter gar nicht mehr um
Babylon oder die zum exotischen Begriff gewordene alttestamentarische Geschichte der
159
Ulrich Meister (Sprache und lyrisches Ich, S. 70f.) meint sogar,
daß Benns gesamte Gestaltung seiner Mythopoesie und ihrer
ästhetisch absoluten Realität zwischen Rausch und Intellekt
oszilliere.
160
Wie man von Sigmund Freud (Die Traumdeutung. Über den Traum, S.
53f. u. 545-555, in: Anna Freud u.a. (hg.), S. F., Gesammelte
Werke, II/III, Frankfurt a. M. 1942) weiß, zeigt auch der Traum
ein ähnliches Denken. Ohne auf die realen Verhältnisse der Dinge
zu achten, bringt er das scheinbar Heterogene zusammen. Freud
charakterisiert das mit der endopsychischen Assoziationsarbeit,
die sich im Traum regressiv, d. h. den Wahrnehmungprozeß
umdrehend, vollzieht.
Auch Hermann Broch umschreibt den Rausch als eine
"Zusammenschau der Dinge". (Die Schlafwandler, Frankfurt a. M.
1978 [Zürich 1931], S. 447; im folgenden zitiert als Broch,
Schlafwandler). (= Paul Michael Lützeler [Hg.], H.B., Kommentierte
Werkausgabe, Bd. 1)
161
Zum Versatzstück- und Zitatcharakter von Benns Mythenvokabular
vgl.: Hillebrand, Benn, S. 247 u. 252; Ursula Wirtz, Die
Sprachstruktur Gottfried Benns. Ein Vergleich mit Nietzsche,
Göttingen 1971, S. 85-87. (im folgenden zitiert als Wirtz,
Sprachstruktur)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Überflutung zu Siloah (Jesaja 8,6) bzw. die Bußpredigt Christi nach Lukas 13, 1-9, 22-25,
sondern um einen Ausdruck und seinen neuen Sinn. Die dabei sich zeigende
Heterogenität wird zu dem neuen Sinn und zur neuen Bedeutung verschmolzen, und zwar
zugleich evokativ, was die Erschließung neuer Assoziationshorizonte anbelangt, wie auch
expressiv162, insoweit ein Bild des innerlich psychischen Rauschzustandes ge-formt wird.163
Dieser Sinn hat aber wiederum weniger konkrete Gestalt, vielmehr zeigen diese
mythischen Namen nur den entgrenzten Status und Bereich an, in dem sich das Ich
bewegt. In dieser durch solche topographischen Eckpunkte irreal abgesteckten
Räumlichkeit erfährt das Ich die Überwindung der Subjekt-Objekt Trennung164, hier gewinnt
es seine eigene Transzendenz, die selbstgeschaffene sprachliche Transzendenz. Benns
Metasprache wird zur dichterischen "Metaphysik".165
In diese andere Sprache bringt Benns regressiver Traum- und Rauschtopos (Südkomplex;
stygischer Traum) seine eigene Zeit mit ein, die des poetischen Innenraums: die Zeit der
realen Zeitenthobenheit, eine Zeitstruktur, die der mythischen sehr nahe kommt166, wenn
nicht sogar diese wesentlich mitbedingt. Ulrich Meister umschreibt das mit dem Begriff der
"Raumwörter":
"Die Regressionstendenz will vielmehr die Ursache des unglücklichen Bewußtseins, die
Zeitlichkeit, aufheben. Darauf deuten die seelischen Metamorphosen in Rausch, Trance
und Ekstase hin. Als seelische Erregungen heben sie das Ich wohl aus der Zeit heraus,
bleiben aber in sich leer und unerfüllt. Benn macht sie real, indem er ihnen
Raumvorstellungen zuordnet: die Räumlichkeit ersetzt so die Zeitlichkeit des lyrischen Ich.
Die Imagination ist strukturiert durch örtliche Vorstellungen, durch Raumwörter, die durch
ihre statische Dominanz Zeitvorstellungen weitgehend ausklammern."167
Benns Bestreben, eine andere Zeit- und Raumstruktur in der sprachlichen Synthese zu
erzielen, ist im künstlichen Mythos zu suchen, der, aus Rausch, Traum und Trance
geboren, zur Form wird.
162
Vgl. Ernst Ulrich Große, Mythische und poetische Zeichen bei
Gottfried Benn. Eine "lecture plurielle" des religionshistorischen
Gedichts "Wo keine Träne hinfällt" (1933) (Teil II), S. 53 u. 59,
in: Linguistica Biblica, Nr. 56 (1985), S. 53-75. (im folgenden
zitiert als Große, Mythische und poetische Zeichen II)
163
Vgl. Ernst Ulrich Große, Mythische und poetische Zeichen bei
Gottfried Benn. Eine "lecture plurielle" des religionshistorischen
Gedichts "Wo keine Träne hinfällt" (1933) (Teil I), in:
Linguistica Biblica, Nr. 58 (1986), S. 80-86. (im folgenden
zitiert als Große, Mythische und poetische Zeichen I)
164
Bendix, Rauschformen, S. 44, 54, 118.
165
Ulrich Meister (Sprache und lyrisches Ich, S. 71) umschreibt
Benns Transzendenzbegriff solchermaßen: "Dabei verschweigt Benn,
daß es sich bei diesem Überschreiten unseres aktuellen
Bewußtseinzustandes durch Sprache ausschließlich um eine verbale
Transzendenz handelt. Seine Gedichte, die solche verbale Transzendenz
betreiben, bewirken nie realiter ein Auslöschen des Bewußtseins,
vielmehr eine Erweiterung desselben auf anderer Ebene."
Zur Fragwürdigkeit des Begriffs einer Metasprache im Zusammenhang
des Mythos vgl. die Ausführungen unten S. 206 zu Roland Barthes.
166
Siehe dazu die Ausführungen im 6. Kapitel.
167
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 85.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Göttern Maskenchöre.
Da ein Gott tritt vor:
"Ich schweige, daß ich dich höre",
im Korallenohr,
irdische Gestaltung
tragisch Sukzession,
ach, schon schließt die Spaltung
stürmische Vision.
168
Albrecht Schöne, Überdauernde Temporalstruktur. Gottfried Benn,
S. 250, in: A. S., Säkularisation als sprachbildende Kraft,
Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, Göttingen 1958, S.
225-267. (im folgenden zitiert als Schöne, Temporalstruktur)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Obwohl hier die real erfahrene Zeit und der Raum als Fluch und Bedrängnis empfunden
werden, gestaltet sich doch das lyrische Ich in der sammelnden räumlichen Vision. In der
Bricolage und ihrem Synthese-Verfahren des selbst geschaffenen und geschlossenen
Sprach-Raums erschafft es sich den Südsee-Raum als Zufluchtsort. Die bisherigen
Zeichen und Worte scheinen dazu wohl nicht so viel beitragen zu können wie erhofft, sie
sind erschöpft, und so greift Benn auf ein Vokabular von Jagd und Kanufahrten zurück,
das zwar einen archaischen Mythos suggeriert, hingegen weit darüber hinaus reicht, denn
dieser Mythos übernimmt die Funktion von Rausch und Betel, insofern er nämlich wie ein
Rauschmittel, ein sprachliches Opiat, das in einer begrenzten Semantik befangene Ich
entgrenzt. Der Mythos fungiert für Benn wenn nicht ausschließlich, so großenteils doch als
unpräzis bestimmte sprachliche Funktion zur körperlich-geistigen visionären
Übersteigerung des isolierten Ich-Bewußtseins. Er ist eine aus der Sprache und ihrer
scheinbaren Referenz, ihrer Verfügbarmachung der Wirklichkeit abgeleitete
Grenzverschiebung der subjektiven Existenzräume.
Als ein solch mythisches, weil den Eintritt in den mythischen Vorstellungsraum
evozierendes Bild hat mit an erster Stelle der ligurische Komplex fungiert. In diesem
Komplex, der den bereits angeführten Mythos des Südens vertritt und abgelöst hat, waren
nahezu alle Aspekte der Bennschen Antikenauffassung koinzidiert. Dennoch kommt der
Antike, wie erörtert, nur noch reduzierter Stellenwert zu, sie interessiert nicht mehr als
solche, sondern allein in ihrer Entrückungsfunktion für das Ich: Gegen das gegenwärtige
Sein, überreif, faulig, giraffig, unbeschneidbar, ohne Glauben und ohne Lehre, ohne
Wissenschaft und ohne Mythe, nur Bewußtsein ewig sinnlos, ewig qualbestürmt ("Das
moderne Ich"; III, S. 105), wurde vor allem der Süden der Antike, eigentlich der Süden
schlechthin ins Feld geführt:
Erwachend: witternd: nach südlichem Wort; in die Runde: nach: ligurischem Komplexe -
tödlicher, nördlicher, nebliger Fluch, abendländisches Funèbre.
Hellstes Griechenland, die Taineschen Hellenen170, wie kräftig der Hals und wie hoch die
Brust. Arme, sparsame, junge Rasse. (...)
Hellstes Griechenland, die Taineschen Hellenen, arme sparsame junge Rasse und
plötzlich: aus Thrazien: Dionysos.
Aus den phrygischen Bergen, von Kybeles Seite, unter dem Brand von Fackeln um
Mitternacht, beim Schmettern eherner Becken, einklingend ihm tieftönende Flöte von der
Lippe taumelnder Auleten, umschwärmt von Mänaden in Fuchspelz und gehörnt, tritt er in
die Ebene, die sich ergibt.
Kein Zaudern, keine Frage: (...) Ihm nach nun, und nun das Haupt geschwungen, und nun
den Hanf gedünstet, und nun den ungemischten Trank (...) nun ist die Stunde der großen
Nacht, des Rausches und der entwichenen Formen. ("Das moderne Ich"; III, S. 106f.)171
169
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Reininger, Leere, S.
120f.
170
Montiert aus Passagen von: Hippolyte Taine, Philosophie der
Kunst, aus dem Französischen übertragen von Ernst Hardt, Bd. 2,
Leipzig 1903, (Vierter Teil: Die Bildhauerkunst in Griechenland).
171
Hier, ebenso wie in "Orphische Zellen" schon, bezieht sich Benn
auf bzw. "plagiert" besonders Rohdes "Psyche" Band II und vor
allem dabei die beiden ersten Kapitel darin über den Kybele-Kult
und den Zusammenhang des delphischen Apollo-Kults mit dem Kybele-
und Dionysos-Kult.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Als Beispiel vgl.: "Die Feier ging auf Berghöhen vor sich in
dunkler Nacht, beim unsteten Licht der Fackelbrände. Lärmende
Musik erscholl, der schmetternde Schall eherner Becken, der dumpfe
Donner grosser Handpauken und dazwischen hinein zum Wahnsinn lockender
Einklang der tieftönenden Flöten, deren Seele erst phrygische Auleten
erweckt hatten. (...) Meist waren es Weiber, die bis zur
Erschöpfung in diesen Wirbeltänzen sich umschwangen; seltsam
verkleidet: sie trugen Bassaren, lang wallende Gewänder, wie es
scheint, aus Fuchspelzen genäht; sonst über dem Gewande Rehfelle,
auch wohl Hörner auf dem Haupte. (...) Berauschende Getränke,
deren Genusse die Thraker sehr ergeben waren, mochten die Erregung
erhöhen, vielleicht auch der Rauch gewisser Samenkörner, durch den
sie, wie die Skythen und Massageten, sich zu berauschen wußten.
Man weiß ja, wie noch jetzt im Orient der Haschischrausch
Visionäre macht und religiöse Verzückungen erregt." (Ebd., S.
16f.)
172
Bruno Hillebrand, Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche, S.
429, in: Hillebrand, Gottfried Benn, S. 409-434. (im folgenden
zitiert als Hillebrand, Nietzsche)
173
Zur Identität von Benns Südmythos und seinem Begriff "Ligurische
Komlex" vgl.: Requadt, Südliches Wort, S. 154 u. 159.
174
Sowohl schon Peter Hamecher (Der Dichter des Irrationalen. Zum
Werke Gottfried Benns, in: Der Ring, 8. November 1932; hier
zitiert aus Hohendahl, Wirkungsgeschichte, S. 154-159; im
folgenden zitiert als Hamecher, Dichter des Irrationalen) als auch
in jüngster Zeit Bruno Hillebrand (Nietzsche, S. 429) bezeichnen
Benns mythisch-rauschhafte Wortkunst insoweit als regressiv.
Während sie das aber bei Benn sei, habe sie bei Nietzsche noch
eindeutig progressive Tendenzen gehabt, bei beiden aber verbinde
sich Erleben und Gehalt mit Form und Gestalt in einem die Kunst
als metaphysischen Raum schaffenden notwendigen Schaffensprozeß.
Vgl. ferner Witschel, Rausch, S. 83; Bendix, Rauschformen, S.
65f., 72f., 76, 79f. u. 98; Wodtke, Antike, 165f.
175
Requadt, Südliches Wort, S. 169-171; Lohner, Passion, S. 56 u.
72f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
zum neuen Mythos176, in dessen Strukturen sich Rönne/Benn nun zunehmend bewegt: Ich
bin immer auf den Triften, im Wachtelland bei meinen Netzen. (Ebd., III, S. 107)
Trotz alledem schafft der Rausch auch nur vorübergehend dem von der Leere und dem
Nichts bedrohten Ich Erleichterung. Ulrich Meister notiert dazu:
"Und solange der geträumte Raum das Zeitbewußtsein explizit ausschließt, schließt er
auch die ihn dichtende Subjektivität aus, die sich dann weiterhin als mit ihm nicht identisch
fühlen muß. Der ligurische Komplex ist zwar als irreales Sprachgebilde ein konsequenter
Schritt zur ästhetischen Autonomie, er kann jedoch dem eigenen absoluten Anspruch nicht
genügen. Das lyrische Ich gelangt durch ihn zur ästhetischen Freiheit, aber zugleich in
existentiellen Widerspruch."177
Das Dionysische178 kann vorläufig aber in seiner Passivität keine endgültige Lösung für
das schöpferische Ich gewährleisten, zu oft kehrt das Bewußtsein wieder aus den
Regressionen in die Tiefen des Rausches an die Oberfläche zurück, mit der es sich
176
Vgl. Wodtke, Antike, S. 155f.
177
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 86.
178
Zu Heinrich Manns Einfluß auf Benns Dionysosvorstellungen vgl.:
Wodtke, Antike, S. 138f.
Zu Benns lediglich schlagworthaftem Gebrauch des
Nietzscheschen Begriffspaars des Dionysischen und Apollinischen
vgl.: Ridley, Benn, S. 175.
Nietzsche (Geburt der Tragödie, S. 22-26) selbst verwendete
den Begriff des Apollinischen als Inbegriff der "bildnerischen
Kräfte", als den "schönen Schein der inneren Phantasiewelt", die
"in Schlaf und Traum heilende und helfende Natur ist" und "durch
die das Leben möglich und lebenswert" erst gemacht wird. Apoll ist
für Nietzsche das vergottete "principium individuationis", die
"maßvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen" des
Dionysischen, ohne dessen Gegenpart es nicht gedacht werden kann.
Dieses ist dagegen die Aufhebung des Maßvollen und der
Vereinzelung im Rausch in "völliger Selbstvergessenheit". "Unter
dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund
zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete
oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem
verlorenen Sohne". Apoll und Dionysos, das ist "die Bilderwelt des
Traumes" und die "rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum den
Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten
und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht.
Apollinisch denken und apollinische Kunst heißt, den "Traum als
den Schein des Scheines" des Lebens in der Kunst zu
depontenzieren, zu transfigurieren. Die Scheinwelt ist aber nur
die Umsetzung "des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus
diesem Schein steigt nun (...) eine visionsgleiche neue Scheinwelt
empor, (...) ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und
schmerzlosem, aus weiten Augen strahlendem Anschauen. Das
Dionysische setzt dagegen notwendig den "ekstatischen Ton", das
"Übermaß der Natur in Lust, Leid und Erkenntnis bis zum
durchdringenden Schrei (...) in der Selbstvergessenheit." Das
"Übermaß enthüllte sich als Wahrheit", so daß, "überall dort, wo das
Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und
vernichtet" ist.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
ÄHNLICH wie beim verwandten Begriff des Traumes und Rausches muß man auch
für die Thematik der Regression von einer zentralen Stellung bei Benns Konzeption des
Mythos und seinem Kunstschaffen ausgehen.180 Das Gedankengut und die Begriffe dazu
entlehnt Benn wieder Sekundärquellen, vor allem Edgar Daqués "Das verlorene
Paradies".181 Es braucht nicht nochmal erörtert werden, wie Rönne aus seiner Krise
179
Wie Wilhelm Wodtke (Antike, S. 134f.) meint, muß bei dieser
Wende der Einfluß Rohdes, Bachofens und Spenglers nicht
unbedeutend gewesen sein.
180
Peter Schünemann, Gottfried Benn, München 1977, S. 64.
181
Heimann, Süden, S. 103.
Benns erste Erwähnung Edgar Daqués (Das verlorene Paradies. Zur
Seelengeschichte des Menschen, 3. Aufl. Tübingen 1952 [1938])
datiert hingegen erst in einem Brief an Oelze vom 9.3.41: In diesem
Zusammenhang ein Wort über Daqué. Ich kenne das Buch nicht, das man ihnen zu Weihnachten schenkte. Aber ich las
in letzter Zeit einige neue Aufsätze von ihm. Er vertritt darin rein die neue deutsche Naturwissenschaft, beteiligt sich
also massgeblich am vorliegenden abendländischen Zusammenbruch made in Germany. Trotzdem bleibt sein Gedanke
von den Erdzeitaltern, die jedes eine bestimmte biologische Besonderheit mit sich brachte, den zoologischen Wesen
einprägte, sich nach ihr umbildete, und deren Motive wir an den körperlichen Rudimenten finden, ein interessanter
Gedanke. (Steinhagen, Briefe, S. 264)
Daqué beeinflußte Benns Gedanken zum Mythos, das steht fest. Wie
sehr, ist aber trotz der Beteuerungen der Sekundärliteratur noch
fraglich, da Benns Rezeption von Daqué, wie das Zitat zeigt, erst
sehr spät und nur teilweise einsetzt. Ferner behauptet Daqué
entgegen Benn auch, "Mythus ist nicht Dichtung, sondern Mythus in
seinem Ursinn ist gerade das, was ihn von jeder Dichtung im
späteren Sinn unterscheidet, in die er später wohl oftmals
gegossen wurde. Mythus ist das große seelenhafte Einheitserleben
im Geschehen, jenseits aller persönlich bewußten Dichtung." (Ebd.,
S. 51) Eine Textprobe soll jedoch auch eine gewisse Ähnlichkeit
demonstrieren: "Wie eine große rauschende Symphonie zieht es mit
ahnender Erinnerung in uns vorüber, wenn so im Gewand von Mythen
und mythischen Sagen da und dort noch verborgene Strahlen jener
Urzeit unser Herz und Denken treffen. Es ist wie eine große
Sehnsucht nach verschütteten Gärten, aber auch erschreckender
Schauer, der aus der Natur und dem Menschenleben da zu uns dringt,
wenn wir abgerissene, unbestimmt verhallende Klänge jenes großen
Liedes noch aus urgründiger Ferne vernehmen und doch irgendwie
wissen, daß es da um eine über alles Äußere hinausgehende
Wirklichkeit sich handeln muß, die wir nicht mehr begreifen, zu
der wir nicht mehr vordringen vermögen. Die verborgene Glut des im
Menschen wohnenden und wallenden Eros mythischen Lebens, der uns
durchzieht, wie er die Natur und das All durchzieht: ist es nicht
auch die Inbrunst und Ekstase des Mystikers, der alles auf Gott
wendet, sich hinwirft, sich wegwirft und verliert in dem
unendlichen Gott, um doch nur wieder sich selbst in höchster
Seligkeit und Verklärung und Befreiung zu finden. Jener Raum des
innersten Daseins, wo auch der Tod, das Sterben selbst das höchste
Leben will und wird?" (Ebd., S. 39f.)
Zum Vergleich eine Textstelle Benns aus "Provoziertes Leben"
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
schließlich zur Sprache, zum Mythos und zur Form gelangt.182 Wichtig ist insofern nur, daß
gerade die regressive Struktur als der erste Schritt in Richtung einer mythischen
Kunstauffassung die Möglichkeit bietet, ein neues Bewußtsein, und zwar ein mythisches
zu finden183, sei es nun als ein Rekurs auf antike Mythologien oder als Regreß auf ein nicht
rational versubjektiviertes archaisches Ich184, Teil eines ursprünglichen Kollektivs, der
hyperämischen Metaphysik. ("Der Garten von Arles"; III, S. 111)
In dem Aufsatz "Urgesicht", der im März 1928, Benns Anmerkungen im Typoskript zufolge,
entstanden sein dürfte, aber erst im Märzheft des nächsten Jahres in "Die Neue
Rundschau" (40. Jg., Heft 3) erschien, weist Benn noch einmal auf diese regressive
Tendenz und ihre Stellung zum Rausch und zum Mythos hin. Mit dem so rückwärts
verschleierten Gedächtnis (III, S. 210), verloren das Individuum, das Ich hinab (III, S. 211),
schreibt Benn:
Masse in Trieben. Hirnblasen in die Ausgüsse, Keimblätter ins Blumenbeet, Dottersäcke
im Stoß von Fernen. Erbe in Übersteigerung und Räuschen, astral der Brand, meerüber
das Verfallen. Krisen, Mischungen, drittes Jahrhundert: Baal mit Blitz und Geißel des
römischen Gotts, phrygische Kappen am Tiber, Aphrodite auf dem Libanon -
Wirklichkeiten im Ausgleich, Fluten im Verwandeln.
Uralte Dränge altersloser Masse im Klang der Meere und im Sturz des Lichts. (III, S. 210f.)
Ich witterte in Masken, ich röchelte in Runen, ich drängte in Dämonen, schlafsüchtig und
roh, mit Instinkten der Mythe, in anteverbaler Triebdrohung prähistorischer Neurone; ich
begann zu begreifen, ich erhielt das Gesicht: Monismus in Rhythmen, Masse in Räuschen,
Zwang und Verdrängung, Ananke des Ich. (III, S. 211)
Benn schließt diese Bilderfahrt ins Mystische und Archaische mit den Worten: Und über
allem Ohnmacht und Traum. (III, S. 212) Ganz hingegen ist jedoch diese sich darin
aussprechende Regression bewußt etwas künstlich Provoziertes, ein Erbe in
Übersteigerung und Räuschen (III, S. 210f.), der Mythos aber bleibt im Rahmen dieser
Regression nur ein Instinkt der Mythe; er scheint beinahe im Zusammenhang mit der
rauschhaften und traumartigen Entsubjektivierung ein dubioses Synonym des Archaischen
vorzustellen, ein Appendix der Prähistorie, weshalb man immer noch nicht vom Mythos als
einem festgeformten Gebilde bei Benn sprechen kann. Vielmehr ist er als eine
Komponente von vielen im Komplex der Rönneschen Seelenlage zwar auszumachen,
taucht mitunter sogar aus diesem gegenseitig einflußnehmenden Agieren von Traum,
Rausch, Ekstase und Regression auf, verliert sich sodann aber wieder in dieser noch
unbestimmten Melange. Erst mit der fortgesetzten Herausbildung der eigenen
Kunsttheorie wird auch der Mythos seine besondere Rolle in Benns Schaffen und in seiner
Poetik finden.
(1943): Die einstige Eingeschlechtigkeit des primitiven Lebewesens, das Samenbildung, Vermischung und Frucht
in sich selber vollzog, spricht aber auch eine noch jedem zugängliche innere Welt, heiter, sanft und reigenverschlungen,
die einen Zusammenhalt noch kennt, einen der sich in steter Erneuerung um einen geistigen Wesenskern bildet. Aus ihm
steigt er auf, der Große Nacht- oder Taggesang, der große Sockelgesang prälogischer, aber noch erfüllungsfähiger
Welten. (IV, S. 314)
Es handelt sich um das mythische Kollektiv als Lebensgrund, als unreflektiertes Existenzgefühl, seine in uns noch
verbliebenen Reste und die sie realisierenden Prozesse. (IV, S. 316)
Vgl. ferner: Wellershoff, Phänotyp, S. 85ff.
182
Vgl. Ridley, Benn, S. 98; Balser, Nihilismus, S. 62; Hillebrand,
Benn, S. 245f.
183
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 44f.
184
Vgl. Hamecher, Dichter des Irrationalen, S. 156.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
SEIT 1918 kennt man hingegen bei Benn die generelle Ablehnung der "Geschichte",
was immer er auch darunter verstanden haben mag. In "Das moderne Ich" zum Beispiel
schrieb er:
Wer gähnt noch nicht, wer ist noch nicht entflohn? Wer sieht noch nicht das Kasuistische
der Schlachten, die Rhythmik der Katastrophen und der Kriegshistorie zirkuläres manisch-
depressives Irresein?
Fades Da capo! Die Idee der Geschichte! (III, S. 98)
Was Benn so gegen die Geschichte aufbringt, ist vor allem ihr "Festhalten an den
konventionellen Kategorien der Zeit und der Kausalität".185 Erst durch Nietzsches
artistischen Perspektivismus186 und dessen Kategorien des Apollinischen und
Dionysischen hatte sich Benn von den entwicklungsgeschichtlichen Denkmustern lösen
können. Gegenüber der historistischen Geschichtsschreibung des 19. und frühen
zwanzigsten Jahrhunderts favorisiert Benn so eine kulturgeschichtliche
Betrachtungsweise. In der Zeit der Weimarer Republik schließlich polemisiert Benn nicht
nur gegen den Linksliberalismus und die klassenkämpferische Geschichtsbetrachtung,
sondern auch gegen die völlig kulturpessimistische Tendenz Oswald Spenglers.187 Die
lang und breit in der Forschung ausgebreitete Auseinandersetzung um den
Geschichtsbegriff bei Benn soll hier aber nur insoweit von Interesse sein, als dieser
Begriff, gekennzeichnet durch die Ablehnung der Kategorien der Geschichtsschreibung
von Raum und Zeit, eine Annäherung an die mythische Aufhebung dieser Raster im
homogenen Zeit-Raum bietet.188
Bereits mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war dieses Denken bei Benn entstanden, es
zieht sich aber bis ins Spätwerk hin. In "Zum Thema: Geschichte", das angeblich im
Februar 1943 niedergeschrieben wurde, aber erstmals als Vorabdruck in der "Frankfurter
Allgemeine Zeitung" (Nr. 157, vom 11.7.1959) erschien, erörtert Benn diesen Problemkreis
noch einmal eingehender.
DER INHALT DER GESCHICHTE: Um mich zu belehren, schlage ich ein altes Schulbuch
auf, den sogenannten kleinen Plötz: (...) Ich schlage eine beliebige Seite auf, es ist die
Seite 337, sie handelt vom Jahre 1805. Da findet sich: 1X Seesieg, 2X Waffenstillstand,
3X Bündnis, 2X Koalition, einer marschiert, einer verbündet sich, einer vereinigt seine
Truppen, einer verstärkt etwas, einer rückt heran, einer nimmt ein, einer zieht sich zurück,
einer erobert ein Lager, einer tritt ab, einer erhält etwas, (...) -, alles dies auf einer einzigen
Seite, das Ganze ist zweifellos die Krankengeschichte von Irren. (IV, S. 298f.)
Doch Benns Geschichtsauffassung unterscheidet sich wesentlich von dem, was man
gemeinhin als Geschichte versteht, sie tendiert, wie das an diesem Beispiel auch deutlich
wird, eher zu einer Synopse. Durch die in Assoziation verschiedener heterogener, zum
Teil auch mythisch-symbolischer fragmentarischer Einzelereignisse gebildete
Zusammenschau wird Benn der Flut an Einzeleindrücken und -ereignissen der dislozierten
Welt, der im Raum durch die moderne mediale Betrachterperspektive relativ und
heterogen gewordenen Geschichte, erst Herr. Mythische Städte repräsentieren mit ihrer
historischen Patina den anderen geschichtlichen Raum, die zusammengefügte mythische
185
Allemann, Problem der Geschichte, S. 23.
186
Zur Bedeutung des "Perspektivismus" vgl.: Andreas Wolf,
Ausdruckswelt. Eine Studie über Nihilismus und Kunst bei Benn und
Nietzsche, Hildesheim Zürich New York 1988. (= Philosophische
Texte und Studien, Bd. 17)
187
Allemann, Problem der Geschichte, S. 22.
188
Zur Zeitstruktur des Mythos siehe für weiteres unten das 6.
Kapitel.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Einheit, wie zum Beispiel der Ninive-Babylon-Stadt-Mythos. Dort erhält Geschichte ihre
eigentlich völlig unhistorische individuelle Bedeutung, als namenloser Raum der
Imagination.
In die anderen Räume fiel die Röte der Stadt. Da ich Ninive nicht sah mit seinem Grund
aus Jaspis und Rubin, da ich Rom nicht sah im Arm der Antonine, betrachtet ich diese, sie
trug die Mythe, die in Babylon begann. ("Urgesicht"; III, S. 204)
Die geschichtliche Entwicklung bei Benn ist mithin gerade als eine "innere
Phänomenologie", ja schlechterdings nur in Form der innerlichen Schau erfaßbar189, die
selbst schon zu einem nicht geringen Teil durch das mythisch-verkettende und
synthetisierende Verfahren geprägt ist. Benn ersetzt damit das historische Denken durch
den Mythos, und im Mythos wird ihm die Vielzahl und scheinbare Wirrnis der Geschichte
strukturierbar, das heißt er setzt mythische Topoi, die großenteils aus der
urgeschichtlichen, mythologischen Zeit stammen, zu einem, der inneren Gefühlslage
entsprechenden, Konglomerat an Chiffren und Zeichen zusammen, aus dem zuletzt
weniger irgend ein fester oder geschichtlicher Sinn spricht, als vielmehr das Imaginäre.
In dem Maße aber, wie Benn sich an der mythisch beschwerten neuen Topologie und der
neuen Sprache orientiert, verliert sich das Ich in einen neuen Raum. So entsteht (vgl.
"Urgesicht") schließlich in der stringenten Fortsetzung der Auflösung der klassischen
Systeme (III, S. 208) und damit der weiteren historischen und mythologischen
Verbindlichkeit der überlieferten Topoi auch eine neue Mythe, in diesem Fall die
Großstadtmythe, die Mythe aus Philadelphia, [mit] dem Mann, dem mit einem Stück
Bleirohr der Schädel eingeschlagen wurde, weil er am 14. Mai einen Strohhut trug. (III, S.
209) Und ebenso unmotiviert wie dieser Totschlag ist auch der neue Mythos, das heißt,
ein beliebiges Ereignis wird Anlaß, es zu einem wie hier im Text über sich
hinausweisenden Zeichen zu gestalten.190
ES ist in diesem Kontext vereinzelt behauptet worden, daß es sich bei Benns
Regression in das Archaische um eine Utopie handele191, doch verkennt eine solche
Interpretation den völlig unspektakulären Charakter des U-topos, des Nicht-Ortes bei
Benn. Obwohl das Ich sich sehr wohl in einen imaginären Raum, den Mythos, flüchtet, ist
dieser als solcher durch keine bestimmte Topograhie, die von einem realitätsbezogenen
Erfassen und ihrer Räumlichkeit ausginge, lokalisierbar. Ulrich Meister erklärt den anderen
Raum in Benns Lyrik so:
"Der Raum, den das Ich durch seine Sprache bezeichnet und umgrenzt, wird zum Raum
seiner Identität. Poetisierung heißt, einen Raum schaffen, der wohl freie Imagination, weil
nicht der Realität entsprechend, aber durch die Identität zwischen ihm und dem lyrischen
Ich sinnhaft ist."
"Für Benn verwirklicht sich im mythischen Raum, sprachlich in den mythischen
189
So traten in der Erdgeschichte gleichzeitig mit den Blütenpflanzen die Schmetterlinge und honigsaugenden Formen
auf (...). Ohne Bezug auf elementare Ereignisse, ohne ersichtlichen Zusammenhang mit Milieuveränderungen, keiner
Erklärung zugängig, nur als Phänomen von innen her zu deuten. ("Urgesicht"; IV, S. 206)
190
Hugo Friedrich (Struktur, S. 150) erklärt die Struktur der
modernen Lyrik teilweise ähnlich: "Die Reste der objektiven
Normalwelt, die es [das moderne Gedicht; Anm. d. Verf.] aufnimmt,
haben nur die Funktion, die verwandelnde Phantasie in Gang zu
bringen."
191
Wellershoff, Phänotyp, S. 69 u. Theo Meyer, Gottfried Benn und
der Expressionismus. Unter besonderer Berücksichtigung der Lyrik,
S. 399, in: Hillebrand, Gottfried Benn, S. 379-408. (im folgenden
zitiert als Meyer, Benn und der Expressionismus)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Entlehnungen die Befreiung vom diskursiven Zwang. Die ästhetische Freiheit wird erst hier
möglich, der nur subjektive Stil (...) kann sie nicht garantieren."192
Dieser Raum ist insofern weitaus eher fiktionalen Charakters und bleibt damit vorerst
lediglich ein Bereich außerhalb der faktischen Räumlichkeit, fern ihrer Struktur, er gehört
aber auch gerade nicht dem "realistischen" Sprechen an, als dem Sprechen mit einem
bewußten Bezug zur "Wirklichkeit". Realistisches Sprechen heißt, zumindest eine
prinzipielle Anbindung an die gegebene Zeit- und Raumstruktur stets aufrechtzuerhalten.
In der Loslösung von dieser Bindung wird der literarische Raum bei Benn nicht nur
fiktional, sondern auch mythisch; er übersteigt sogar die antithetische Bindung der
Fiktionalität an Wirklichkeit.193 Diese, wie bereits erörtert, versucht im Grunde, nur das
Gegenteil des "Realen" zu verwirklichen, nämlich eine scheinbare aber weitgehend doch
mögliche Wirklichkeit anzustreben. Diese gewinnt dagegen zumeist nur von den aus ihr
abstrahierten Parametern, also unter der Akzeptierung der grundsätzlich fiktionalen
Rahmenbedingung, Wirklichkeit. Also für den Leser, der sich bereits auf diesen Text
eingelassen hat und aus diesem heraus seine Sichtweise auf diesen eingestellt hat, wirkt
er "real". Diese fiktionale Illusion der Tatsächlichkeit und Wirklichkeit bleibt darum nur eine
platte Reaktion und Antithese zur Wirklichkeit. Der Mythos und der mythische Sprach-
Raum lagen dagegen seit Menschengedenken außerhalb des "Fetischismus des Realen",
fern des Überprüfbaren und solchermaßen Wirklichen.
Versteht man allerdings Utopie als den U-topos, den Nichtort im eigentlichen Wortsinn, so
läßt sich durchaus eine strukturelle Gemeinsamkeit von Benns Mythos und dem Anliegen
der Utopie herstellen; beide haben sich von der allgemein gebräuchlichen geschichtlichen,
sprachlichen und mythologischen Topologie gelöst und schweben gleichermaßen in ihrem
eigenen Raum. Benns Regressionen sind keine unreflektierten, sentimentalen
Beschwörungen einer vergangenen geschichtlichen Epoche, die in einer epigonal
romantischen Nachfolge darin zur Utopie in der Zukunft ausgeweitet werden194, sondern
sie sind wesentlich imaginär-psychische Abstiege ins Unbewußte durch den Mythos195,
bildlich-seelische Regressionen. Wie dem aber auch sei, das Thema der Regression ist
nicht angemessen zu begreifen ohne seine Einbindung in den Wirkungszusammenhang
des Mythos und seiner weiteren Komponenten bei Benn.196 Das Gedicht "Gesänge" (1913)
gibt über manche dieser Elemente Auskunft:
Gesänge
II
Scheinbar ist mit der Herauskristallisierung des (Meer-)Mythos ein Ausweg aus der
Sehnsucht nach Vitalität und aus jenem Zustand, der dies durch die Befrachtung mit
Bewußtsein verhindert, eröffnet. Der Rückgriff auf einen seltsamen locus amoenus, den
locus amoenus der Urform des Lebens, des rein vegetativen und ohne Bewußtsein sich
vollziehenden Lebens, er wird zu Benns Utopie. Gerade die Geschichtslosigkeit eines
solchen Ortes fern jeglicher Zeitrechnung und -empfindung, die rein promiskuitive
Generation des Lebens in einem zwar entwicklungsgeschichtlich bestimmten Raum, nicht
aber als Teil der Kultur- und Zivilisationsgeschichte des Menschen läßt diesen Ort
schließlich so attraktiv erscheinen. Die Regression wird zur Regression in den vegetativen
Existenzraum des Meeres, zur thalassalen Regression. (griech. thalassa = Meer)
Allein zehn Jahre später in "Regressiv" klingt das Thema der Regression ins Urtümliche
schon nicht mehr so hymnisch und verheißungsvoll, ein leiser aber trotzdem
vorherrschend resignativer Ton hat sich eingeschlichen. Doch an die Stelle der
thalassalen Regression ist aber noch nicht explizit das darin mitbetroffene Thema der
mythischen Existenz getreten, der Mythos als eigenes Entrückungspotential steht
poetologisch hinter dem der synästhetischen Entrückung, in Rausch und Mohn zurück:
Regressiv
Offensichtlich ist hier auch nicht mehr die Rede von einer Regression, die noch viel
Erlösung versprechen könnte (Nur manchmal dämmert's). Das Gegenteil beinahe ist der
Fall: die thalassale Regression nimmt den Anschein einer nur noch kurzzeitig
auftauchenden Entgrenzung an, vom latenten Klageton einmal ganz abgesehen. Weder
im Ausdruck, im Wort, noch in der Mythologie der Götter ist die dunkle Existenz
aufgehoben und von ihrer Bewußtseins-Tragik erlöst. Nur dem exponierten Begriffspaar
der thalassalen Regression scheint eine solche Bedeutung noch zuzukommen. Doch
Benn exemplifiziert nicht mehr, was eine solche Regression, insbesondere die thalassale
Regression zu bedeuten hat; der Begriff steht sich selbst deutend da. Tatsächlich aber
werden mit der Setzung dieses Topos am Ende des Gedichts alle Bedeutungsregister
dieses Komplexes zugleich gezogen.199 So spricht Benn in diesem Gedicht nur noch in
Topoi, weshalb das Thema der Regression auch nicht weiter in den ersten drei Strophen
entwickelt ist, - dort ging es allein um verschiedene Bestandsaufnahmen, nicht aber um
die final plazierte "Regression".
Dieses Schlagwort aber (ebenso wie andere auch) wird mittlerweile in Benns Sprache
soweit mit Bedeutungen beladen, daß es ausreicht, auch eine solche abstrakte,
theoretische Chiffre nur anzuführen, um das Gedicht an dieser Stelle um ein vielfach
Imaginäres, in diesem Fall um anthropologische Gedanken und Assoziationen wie die
Rückkehr zum Leben im Wasser, die Bewußtlosigkeit, aber auch um solche zur der
Erweiterung des Lebensraums im Meer zu erweitern. Diese Technik, Topoi und Begriffe
mit einem unbestimmten Bedeutungsfeld, einem Mythos, zu verwenden, umschreibt auch
Theo Meyer (siehe oben). Er spricht von der "Bedeutungsmultivalenz des dichterischen
Wortes" und von der evokativen "Erzeugung einer Wortaura".200 Egal ob Blau, Süden, oder
Meer gemeint sind, zum Teil gilt das eben auch schon für die theoretischeren Begriffe wie
Traum, Rausch, Regression, stets sind es nur Schlagwörter, Chiffren und Topoi, individuell
geformte literarische Allgemeinplätze. Im Falle der ersteren, der literarischen Topoi,
werden eher sinnliche Eindrücke und Bereiche assoziiert, im Falle der letzteren, also der
theoretischen Schlagwörter, typisierte und normierte Verhaltensmuster und Funktionen;
das genannte Beispiel der "Regression" löst mit seiner chiffrenhaften Verwendung die
Entgrenzung des Ichs, die Sehnsucht nach mystischer Partizipation, nach urtümlichem
vegetativen Leben etc. aus. Trotzdem handelt es sich bei der thalassalen Regression
eigentlich um keinen eigenen, vor allem keinen poetischen Mythos, vielmehr ist dieses
abstrakte Begriffspaar nur Teil des eigentlichen Mythos des Südens, des ligurischen
198
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Hans Jürgen Schmitt, Über
das dichterische Verfahren in der Lyrik Gottfried Benns, Diss.
Würzburg, Frankfurt a. M. 1970, S. 156-159.
199
Ridley, Benn, S. 76.
200
Meyer, Kunstproblematik, S. 152f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Komplexes, und selbst dieser erhält wiederum nur in der Gesamtentwicklung des
Kunstauffassung und des Mythischen bei Benn seine einsichtige Funktion.
INSOWEIT also Mythos Sprache ist, stellt sich die Frage, welche sprachlichen
Funktionen er übernimmt oder sogar in die Sprache als mögliches Subsystem einbringt.
Sprache ist das erstrangige menschliche Erkenntnismittel zur Erschließung der Welt. Daß
diese Zugänglichmachung immer nur annähernd und symbolisch geschieht201, ist
grundlegend; die Entschlüsselung der Welt bleibt stets auf der Ebene der Darstellung und
Bedeutung. Insoweit nämlich die verschiedenen Phänomene der Welt in einem
Lebenszusammenhang, in einer menschlichen bzw. subjektiven Ordnung stehen oder dort
hineingestellt werden, werden sie neben ihrem So-Sein, das letztlich für den Menschen als
ein von seiner Perspektive beeinflußter Betrachter unentschlüsselbar bleibt202, zu Trägern
von Bedeutung. Bedeutungsbildung und Bedeutungsgebung zählen also zu den
fundamentalsten Eigenschaften von Sprache. Zieht man allerdings in Betracht, daß der
Begriff "Sprache" selbst wiederum nicht mehr naiv und unvoreingenommen betrachtet
werden kann, da sich ganze Wissenschaftszweige wie Linguistik und Semiotik bereits mit
ihm befaßt und ihm eine weitreichende Klassifizierung zukommen haben lassen, so muß
schlechterdings angezweifelt werden, ob die Bedeutungsfunktion noch zur (linguistisch
definierten) Sprache gehört. Gemeint ist die Sprache als darstellendes, ausdrückendes
und interpretierendes Medium, kurzum als bezeichnender, als auf die sprachlich zu
erfassende Welt hauptsächlich bezogener Prozeß. Es ist mithin fraglich, ob also
Bedeutung (das nicht bezeichnende, sondern lediglich symbolisierende, behauptende,
oder einfacher gesagt, bedeutende Verfahren) überhaupt eine Funktion dieser so
definierten Sprache ist? Das heißt mit anderen Worten, umfaßt das, was die
Sprachwissenschaft als Sprache ausgibt, auch alle ihre Funktionen, oder ist darin nicht ein
grundlegender Teil ausgespart, der mangels Verifizierbarkeit, weil sein Bereich
vordergründig eine Domäne der Anthropologie, der Kulturgeschichte und letztlich der
Literatur zu sein scheint, übergangen wird? Es ist hier die Rede vom Mythos, in dessen
sprachlicher Gestalt geradewegs jene Merkmale auftauchen, die die "Sprache", wie sie
heute verstanden wird, auf ihrem Weg zur analytisch-denotierenden Erschließung der
Welt, das heißt bei ihrer Festlegung der Welt auf Parameter und Namen, eigentlich zur
Voraussetzung hat: die synthetisch, das heißt zusammenstellend sich vollziehende
Bedeutungsgebung.
Wenn also schlechterdings die Struktur der Mythosbildung auch als die Bildung eines
semantischen Bedeutungshofes, eines "Bedeutungsfeldes"203 oder -raumes bezeichnet
201
Ernst Cassirer (Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der
Geisteswissenschaften, S. 175, in: E. C., Wesen und Wirkung des
Symbolbegriffs, Sonderausgabe, Darmstadt 1956, S. 171-230) zeigt
in seiner "Philosophie der symbolischen Formen" diese Bedingung
auf: "Unter einer symbolischen Form soll jede Energie des Geistes
verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an
ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen
innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache,
tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine
besondere symbolische Form entgegen."
202
Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine
Geschichte, Frankfurt a. M. 1977 (im Original: Segno, 1973), S.
108. (im folgenden zitiert als Eco, Zeichen)
203
Der Begriff rührt her von: Gunter Ipsen "Der alte Orient und die
Indogermanen", in: Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft, Fs.
Wilhelm Streitberg, Heidelberg 1924, S. 200-237.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
werden kann, der durch seine immanente Selbstverständlichkeit von keinem externen
Sinn- bzw. Referenzträger (wie es eine denotierende und referentielle, also auf die
faktische Welt bezügliche Sprache bezweckt) ableitbar ist, so läßt sich, rein theoretisch
betrachtet, dieses Verfahren nicht nur für die autonome Bedeutungsbildung literarischer
resp. poetischer Topoi, sondern auch für die Begriffsbildung, das heißt die semantische
Füllung von abstrakten Begriffen und darüber hinaus sogar für jede Bedeutungsgebung
veranschlagen. Mythologie entsteht daraus allerdings erst, wenn die Bedeutungen in ein
System gebracht werden. Meist geschieht das erzählerisch, also in einer Geschichte. Eine
Mythologie bezeichnet sodann die in eine Erzählung bzw. in eine Geschichte gebrachten
Mythen. Ob nun diese Fabel zugleich zur Geschichte im Sinne der res gestae, der
berichteten Ereignisse, wird, hängt hingegen von dem Entwicklungsstand einer Kultur
resp. der Sprache ab. Denn, hat das Wort noch seine magische, quasi "universalistische"
Position behalten, so wird die mythische Fabel als Legende schließlich auch zur
Geschichte des Menschen. Mythos als Bedeutung, als die interpretierte Welt ersetzt dann
durch die sprachliche Vernetzung der Bedeutungen in einem erzählerisch geschaffenen
Zusammenhang die nicht weitgehend nur berichtete Welt der Historiographie, wobei sich
auch diese letzten Endes der Wertung und Bedeutung, also des mythischen Verfahrens,
nicht entziehen kann. Das geschichtliche Ereignis selbst ist nämlich schon grundsätzlich
durch das Kriterium von Bedeutung in einen historisch erzählenden Diskurs eingefügt.
Ohne Bedeutung kommt darum auch keine Geschichte zustande. Hayden White bringt
dies Problem auf den Punkt:
"Der Historiker ordnet die Ereignisse der Chronik, indem er ihnen als Bestandteilen der
Fabel jeweils unterschiedliche Funktionen beimißt, in einer Hierarchie der Bedeutsamkeit
an und bringt so den formalen Zusammenhang eines Ensembles von Ereignissen als
verständlichen Prozeß mit erkennbarem Anfang, Mitte und Schluß ans Licht."204
Erst in der Erzählung wird das Ereignis aus seiner Unbedeutsamkeit zur Bedeutsamkeit
geführt. Darum hat auch Goethe die Kanonade von Valmy zur welthistorischen
Epochenscheide hochstilisiert, um hinterher behaupten zu können, er sei dabei
gewesen.205
204
Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im
19. Jahrhundert in Europa, aus dem Amerikanischen übersetzt von
Peter Kohlhaas, Frankfurt a. M. 1991 (im Original: Metahistory.
The historical Imagination in nineteenth-Century Europe, 1973), S.
20f.
Auch Paul Ricoeur (Zufall und Vernunft in der Geschichte, aus
dem Französischen von Helga Marcelli, Tübingen 1986, [im Original:
Contingence et rationalité dans le récit], S. 12f.) legt den
Zusammenhang von Bedeutung, Erzählung und Geschichte solchermaßen
fest: "Wie gewinnt nun die Erzählung aus einer Mannigfaltigkeit
von Ereignissen eine Geschichte? (...) in einer Synthese des
Heterogenen. Diese vermittelnde Operation zwischen einer einzigen
Geschichte und mannigfaltigen Ereignissen hat Aristoteles in
seiner Politik mit dem Namen mythos bezeichnet, den ich mit >Einfädeln einer
Intrige< (mise en intrigue; englisch: plot) übersetze, um ihren zutiefst
dynamischen Charakter zu unterstreichen. (...) Genau diese
Transformation macht den Gegenstand einer intelligiblen Erzählung
aus."
205
Arno Borst, Das historische Ereignis, S. 536, in: Reinhart
Kosseleck und Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Geschichte, Ereignis und
Erzählung, München 1973, S. 536-540. (= Poetik und Hermeneutik, V)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Ganz anders aber verläuft die Systematisierung des bzw. der Mythen a priori. Denn, noch
bevor Geschichte oder Geschichten erzählt werden, bildet die Sprache als
teilsystematisierter Bedeutungsrahmen und dessen Struktur die grundsätzliche komplexe
Form der Mythen. Langt eine Sprache hingegen nicht über den Zustand der reinen
Bedeutungsgebung, also in den des reinen, in einen systematischen Zusammenhang
gebundenen Mythos hinaus, so bleibt sie stets im bildlichen Bereich; anstatt einer
analytischen Funktion verweilt sie vornehmlich im Synthetischen, in der Zusammenschau
und Bedeutungsgebung der Welt. Übersteigt sie diesen Status aber, wird sie notwendig
komplexer und systematischer, so faßt sie ihre Bedeutungen zu gesetzlich strukturierten
Verweisrastern zusammen. Schließlich überschreitet sie damit den Bereich der beliebigen
a priorischen Setzung: die Sprache beginnt anhand der zu einem Inhalt formalisierten
Bedeutungen dieselben und die Welt wieder zu hinterfragen, zu verifizieren, kurzum zu
analysieren.
Geht die moderne Linguistik lediglich davon aus, daß Bedeutung sich in dem Verweis
eines Zeichens auf seinen Inhalt konstituiert, ferner die Summe aller möglichen referierten
Inhalte ist, so fehlt doch der Sprachwissenschaft nicht nur ein adäquater Begriff für diese
Bedeutungssumme, sondern auch die Einsicht in das Zustandekommen von Bedeutung
innerhalb des menschlichen Blicks, Fragens und Deutens der Welt. Während aber die
Komponentenanalyse dieses "semantischen Spektrums"206 lediglich versucht, analytisch
und deskriptiv durch grammatisch-semantische Marker und Distinktoren den gesamten
Bedeutungsumfang eines Wortes en détail zu erfassen, so könnte eine synthetische
Perspektive viel weiter reichen. Erst wenn erkannt wird, daß Bedeutung nicht a priori bzw.
durch die soziale Konvention, sondern immer zuerst durch die individuelle Konnotation
bestimmt wird, kann man schließlich zu dem gelangen, was Komponentenanalyse
beabsichtigt: die Beschreibung der denotativen Bedeutung.
In der Tat scheint Bedeutung grundsätzlich ein Ergebnis der konnotativen
Erweiterungsfunktion einer einmalig semiologischen Grundreferenz zu sein, und zwar eine
Erweiterung in das Imaginäre. Das heißt, von einer anfänglich beliebig einem Zeichen
zugeordneten Bedeutung erweitert sich dasselbe zu weiteren unterzuordnenden
Vorstellungen, deren Endprodukt schließlich so etwas wie Inhalt, im Sinne von
verifizierbarem Inhalt, also Inhalt mit einer gewissen Konstanz ist: Bedeutung ist zuerst der
gesamte assoziative psychische Bedeutungs- und Interferenz-Raum, bevor sie konkret
und kommunikativ zu einem Inhalt des Wortes wird. So wie bei Benn der Süden anfänglich
als der Süden der Klassik und Antike auftaucht, aber nach und nach durch eigene,
beliebige Bedeutungen und Konnotationen erweitert und angereichert wird, so entsteht
zuletzt ein Spektrum von solchen Bedeutungen, das für den Linguisten a posteriori
analytisch als Inhalt erscheint. Im Grunde gelangt dieser Komplex, bei Benn der ligurische
Komplex, niemals über die individuelle Bedeutungsebene hinaus, nie versucht er als
akzeptierter Inhalt kommunikativ und verifizierbar zu werden; er bleibt in den Grenzen
seines eigenen sprachlichen Raumes, er bleibt selbstbezüglich. Umberto Eco erkennt dies
Problem der Sprache, er fragt, "ob es überhaupt nicht-konnotative also rein denotative
Zeichen gibt", denn "die konnotative Verwendung des Zeichens ist fundamental."207
Dementsprechend erhält ein abstrakter Begriff wie auch jedwedes Wort nicht minder seine
grammatikalisch funktionale semantische Notation als Semiosphäre oder Wort-Raum208,
206
Jerrold J. Katz und Jerry A. Fodor, The structure of a semantic
theory, in: Language, 39 (1963), S. 170-210.
207
Eco, Zeichen, S. 101.
208
Theodor Lewandowski (Lingustisches Wörterbuch 2, 5. überarb.
Aufl., Heidelberg Wiesbaden 1990 [1975], S. 169) schreibt über die
Begriffsbildung, daß gerade die Summe der emotional geladenen
Erlebnisse als eine Art summativer Abstraktion der wichtigsten
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
und Teil eines Wortfeldes, als es bei einem poetischen Wort der Fall ist, das innerhalb der
poetischen Syntax bzw. poetischen Grammatik kodiert wird. Die Regeln dieser poetischen
Sprache sind, im Unterschied zur "normativen Grammatik" einer Sprechergemeinschaft,
durch den Autor selbst in seinem autonomen dichterischen Bereich nach den poetischen
Verbindungen, Regeln und Rezeptionsvorgängen festgelegt. In beiden Fällen werden aber
von einer Grundbedeutung durch eine uminterpretierende Grenzverschiebung
semantische Felder dazu-erschlossen.
Mythosbildung ist also Bedeutungsbildung, subjektive Bedeutungszuordnung. Bedeutung
entsteht darum nicht durch den Verweis des Zeichens auf einen Inhalt, das setzte ja
beides, Zeichen und seine gezielte Zuordnung zu einem Referenten resp. Inhalt schon
voraus, vielmehr geht die individuelle Bedeutungsbildung, die assoziative
Bedeutungsfüllung des semantischen Hofes (= Mythos) diesem Referenzakt und der
Inhaltsbildung voran. Jeder Sprecher hat von Worten, wie es beispielsweise Kinder mit
unbekannten Begriffen auch tun, eine eigene Vorstellung, noch bevor er den "richtigen"
Inhalt des Begriffs je erfährt. Darin ist der Bedeutungsraum eben arbiträr, beliebig. Erst im
gesellschaftlich-kommunikativen Vergleich und Gebrauch erhält dieses Bedeutungsfeld,
das wegen seiner individuellen Beliebigkeit mit der modernen, arbiträren Mythenbildung209
nicht von ungefähr identisch ist, seine Bindung an ein Zeichen und einen
auszudrückenden Inhalt, seine Verifikation und seine konventionalisierte außerindividuelle,
nämlich nicht rein bedeutende (konnotierende), sondern bezeichnende (denotierende)
Referenz. Ein Beispiel aus der Literatur des 18. Jahrhunderts sei an dieser Stelle
eingeschoben; Anton Reiser ergeht es in seiner Einfalt mit den unbekannten Wörtern
ähnlich, wobei er sich unter diesen die wunderlichsten Dinge vorstellt:
Überhaupt pflegte Anton in seiner Kindheit durch den Klang der eignen Namen von
Personen oder Städten zu sonderbaren Bildern und Vorstellungen von den dadurch
bezeichneten Gegenständen veranlaßt zu werden. Die Höhe oder Tiefe der Vokale in
einem solchen Namen trug zur Bestimmung des Bildes das meiste bei. (...) Es ist dies
auch sehr natürlich: denn von einem Dinge, wovon man nichts wie den Namen weiß,
arbeitet die Seele, sich, auch vermittelst der entferntesten Ähnlichkeiten, ein Bild zu
entwerfen, und in Ermangelung aller andern Vergleichungen, muß sie zu dem willkürlichen
Namen des Dinges ihre Zuflucht nehmen, wo sie auf die hart oder weich, voll oder
schwach, hoch oder tief, dunkel oder hell klingenden Töne merkt, und zwischen denselben
und dem sichtbaren Gegenstande eine Art von Vergleichung anstellt, die manchmal
zufälliger Weise eintrifft.210
und aus dem rein sprachlich sachlichen Verweis zu ersehenden - Bedeutung, den Rest an
Mythos, an Konnotation. Unentwegt wird dieser aber durch persönlich assoziative
Neukodierung angereichert, wodurch Sprache erst transzendierend, das heißt
entgrenzend (synekdochisch) wird. Mythos bleibt reine Bedeutung, Sprache geht letzten
Endes darüber empirisch als ein sich selbst an der Wirklichkeit und im denotativen Bezug
darauf sich verifizierender Interpretant hinaus.
DAMIT ist nun der Umkreis des Mythos in der Frühphase Benns weitgehend
abgesteckt und erläutert. Hugh Ridley spricht in dieser Phase von einer zugleich kritischen
als auch irrational unkritischen Hingabe an den Mythos.211 Sicher ist auf jeden Fall, daß
Benn sowohl regressive als auch progressive Strukturen in der Zeit von 1913 bis zum
Ende der 20er Jahre aufweist, die beide, als Teile des Bennschen Mythos begriffen, noch
ungeschieden sind: die anfängliche und versuchsweise Regression in das Urtümliche,
Archaische, Unbewußte und darin zum Teil in die antike Mythologie, andererseits aber
auch die Übernahme und Weiterentwicklung des in dieser Regression gewonnenen
mythischen Verfahrens und seiner Raum-Zeit-Struktur. Diese Entwicklung verläuft
allerdings weitgehend implizit, nur an wenigen Stellen weist Benn Erscheinungen als
bewußt mythisch im säkularen Sinne212 aus, obgleich er dennoch hie und da neue Mythen
kreiert. So zieht sich die Entwicklung in den Rönne-Novellen von der Steigerung des Ichs
in Rausch, Trance und mystischer Partizipation, also dem Erheben des Ichs aus seiner
Bewußtheit, bis zum Eintritt dieses Ichs in das neu erfahrene Mythische hin.213 Schließlich
gelinge es Benn damit sogar, so Wilhelm Krull, im Gegensatz zu anderen Expressionisten
wie Carl Einstein oder René Schickele mit der Rönnefigur den Durchbruch zum
schöpferischen, eignen Mythos zu vollziehen. Jene nämlich verweigerten ihren Helden in
vergleichbaren Situationen eine Annäherung an die mythischen Figuren, während Benn es
wage, indem er Rönne in einen Zustand der völligen Entgrenzung setze, den mythisch-
halluzinatorischen Schöpfungsakt mit einer eigenen Realität zu versehen:
"Während z.B. Carl Einstein die Darstellung des vergeblichen Bemühens Bebuquins um
eine creatio ex nihilo dazu nutzt, den Abstand des modernen Subjekts vom Mythos zu
unterstreichen, und auch René Schickele in >Benkal der Frauentröster< (Berlin 1914) dem
Bildhauer die Belebung seiner Statue verweigert, gelingt Benns Held der Sprung in eine
neue, produktive Form der Weltaneignung. (...) Nachdem der Durchbruch einmal gelungen
ist, läßt sich fortan die phantastische Überformung der grauen Alltagswirklichkeit durch
südliche Landschafts- und Stadtbilder beliebig variieren und wiederholen."214
211
Ridley, Benn, S. 70.
212
Vgl. Joseph Strelka (Rilke, Benn, Schönwiese und die Entwicklung
der modernen Lyrik, Wien Hannover 1960, S. 84), der als Grundlage
der Säkularisation bei Benn die bei ihm besonders markant
vollzogene Spaltung des Subjekts vom Objektiven ansetzt, wodurch
auch die Trennung vom "objektiven" Mythengehalt, der Mythologie
einsichtig wird.
213
Vgl. Wilhelm Wodtke, Gottfried Benn, Stuttgart 1962, S. 17, (im
folgenden zitiert als Wodtke, Gottfried Benn); Witschel, Rausch,
S. 75.
214
Wilhelm Krull, Die Welt hinter den Augen des Künstlers? Eine
Skizze zu Gottfried Benns "Gehirne", S. 68, in: Text + Kritik, Bd.
44, S. 63-74. (im folgenden zitiert als Krull, Die Welt)
Vgl. ferner allgemein hierzu: Kurt Mautz, Georg Heym. Mythologie
und Gesellschaft im Expressionismus, Frankfurt a. M. 1972, (im
folgenden zitiert als Mautz, Georg Heym); Rainer Rumold, Gottfried
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
INSOFERN Benns Mythos also, zumindest was die allgemeine Wende zum
Mythischen betrifft, teilweise auch im Zusammenhang des Expressionismus zu sehen
ist215, bleibt seine Annäherung an den Mythos natürlich weniger exzeptionell. Benn und der
Expressionismus zeigen auch hier wenn nicht eine vollkommen ähnliche Verwendung, so
doch gewisse Parallelen. Auch im Expressionismus schafft sich in der Zuwendung zum
Mythos vor allem eine subjektiv erfahrene Krisensituation Ausdruck216, und zwar als
Inbegriff der "Äußerungsformen gesellschaftlicher Außenseiter", als "Reaktionen auf die
spezifischen Lebensbedingungen des isolierten, seiner gesellschaftlichen Bindung
beraubten Subjekts".217 Das ist zugleich der Fall bei Rönne, auch er fristet ein vereinzeltes
und verinnerlichtes Dasein am Rande, besser ein vereinzeltes Leben inmitten seiner
Umgebung. Diese Figuren sind aus dem Lot gefallen, sie ringen um eine andere
Sicherheit und Existenzweise. Hier wird der Mythos bedeutsam. Seine wesentliche
Intention im Expressionismus liegt nämlich gerade in der "Gewinnung eines dynamischen
Gleichgewichtszustandes zwischen Ich und Welt."218 Bereits der Gesamtkontext des
Mythos im Expressionismus läßt hierin manche Bedingungen verstehen, die auch für
Rönne und Benn typisch sind: die imaginative219, ekstatisch-rauschhafte220
Transzendierung und Entgrenzung des vereinzelten Ichs, bedrängt von Bewußtsein, sich
sehnend nach Vitalität, dem Animalischen und dem urtümlich Vegetativen. Dabei zielt
diese mythische Entgrenzung zuletzt immer wieder "auf die Steigerung subjektiver
Lebensintensität und dient zugleich der imaginativen Beschwörung eines repressions- und
konfliktfreien Raumes, der die Möglichkeit individueller der Entfaltung gewährleistet."221
Im allgemeinen wird dabei die Loslösung von der überkommenen Mythologie ebenso
durch die Expressionisten als auch von Benn geleistet. Mythos wird verstärkt als Kunst
und ästhetisches Produkt angesehen, so daß im Expressionismus der Mythos zuerst zur
O Nacht
Tastkörperchen, Rotzellensaum,
ein Hin und Her und mit Gerüchen,
zerfetzt von Worte-Wolkenbrüchen -:
zu tief im Hirn, zu schmal im Traum.
(...)
NOCH einmal gelingt dem Ich, dem vom Ich Belasteten, hier durch die Änderung der
Raumstruktur (Raumverdrang) nicht nur die Entgrenzung des Bewußtseins, sondern auch
die der Semantik. Mit Tastkörperchen soll der neue Ausdruck, zerfetzt von Worte-
Wolkenbrüchen, aus dem ersehnten Rausch herbeigetastet werden, doch die
"traumwandlerische Basis"231 dafür, das Beheimatetsein im Traum gegenüber der
Bewußtheit, ist noch zu schmal. Bereits bekannt ist schon Benns früher Drang zur Form,
zur neuen Syntax und zur Sprache. In ihr fand das problematische Ich zumindest
230
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Schöne, Temporalstruktur,
S. 255; Oestboe, Expressionismus und Montage, S. 89f.;
Liewerscheidt, Lyrik, S. 30-32.
231
Hermann Brochs "Schlafwandeln" als dem unbeteiligten neben-sich-
Stehen Joachim Pasenows und August Eschs, das sich bei Hanna
Wendling in "1918 - Hugenau oder die Sachlichkeit" schließlich zum
"Traumwandeln" wandelt, ähnelt in gewisser Weise der
Traumlandschaft Benns. Der Traum erscheint angesichts der Leere,
des Verlusts der Werte und aller Normen, sowohl der
wissenschaftlichen wie auch der moralisch-sozialen als in keiner
Weise weniger real und berechtigt denn die Wirklichkeit. Sowohl
Hanna Wendling als auch Benns lyrisches Ich wandeln
orientierungslos in diesem Fluchtraum.
Vgl. Broch, Schlafwandler, S. 419: "Aufgelöst jedwede Form, ein
Dämmerlicht stumpfer Unsicherheit über der gespenstischen Welt,
tastet der Mensch, einem irren Kinde gleich, am Faden irgendeiner
kurzatmigen Logik durch eine Traumlandschaft, die er Wirklichkeit
nennt und die ihm doch Alpdruck ist."
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
vorübergehend einen Ruhepunkt. Aus dem Thema des neuen Ausdrucks aber entsteht
nun im weiteren Verlauf der Frühphase dann der formalistisch-ästhetische Mythos Benns.
Erst jetzt, da alles Bisherige, was Benn gegen seine Ich-Dissoziation ins Feld geführt hat,
alle anthropologischen und mythisch-antiken Konzepte verbraucht und entleert sind, ist die
Voraussetzung für einen neuen formalen, funktionalen Ansatz geschaffen. Nicht der
Süden und südliche Inhalte sucht Benn, sondern das, was sich dahinter verbirgt: das
Südmotiv. Benn erreicht damit zugleich den entscheidenden Wendepunkt in seiner
Kunstauffassung: Stand bisher sein Dichten eher unter dem Vorzeichen des Unbewußten,
Dunklen und Rauschaften, so ringt er sich nun zu einem bewußten Verhältnis zur
Ausdruckssuche durch.
Erst wenn
Erst das Südmotiv - und nicht die einzelnen Südlichkeiten - bietet dem Ich die
Bewußtseinsentgrenzung, und zwar indem es als synekdochischer Verweis über sich und
alle Südlichkeiten hinausweist, wie Heimann gezeigt hat. Es läßt die alltäglichen
Strukturen von Zeit und Raum hinter sich.233 Anhand der im Südmotiv, oder ligurischen
Komplex, verketteten und ineinander verschmolzenen Südlichkeiten von Meer, Wein und
Olivenlandschaft (es fehlt allerdings die Chiffre Blau, als das Südwort schlechthin), eröffnet
sich Benn, wobei er diese Elemente als pars pro toto verwendet, schöpferisch den neuen,
232
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Wodtke, Antike, S. 33f;
Hans Otto Horch, Gottfried Benn, Worte Texte Sinn. Das Problem
deskriptiver Textanalyse am Beispiel seiner Lyrik, Darmstadt 1975,
S. 99f.
233
Vgl. Heimann, Süden, S. 93f. u. 102.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
von Eigenem hauptsächlich befrachteten Süden. Daß dieser Süden nichts mit dem
objektiven Süden zu tun hat234, zeigt sich hier noch einmal ganz deutlich: die weißen
Städte des Südens sind leer, und leer und überholt ist auch eine Dichtungstheorie, die sich
rein auf das Dionysische (Weinzisterne) zu stützen sucht. Dennoch bleibt all das, was
diese Zeichen für das Ich bedeutet haben; es bleiben die Bedeutungen, die im Südmythos,
oberflächlich bestehend aus diesen Südlichkeiten, zu einem formalen synthetischen
Gebilde neu zusammengefaßt werden, zum Ausdruck von Traum und Verströmung.
In diesem Gedicht treten aber auch die Elemente des Schöpferischen und des
Künstlerischen verstärkt hervor, und das gerade durch die Kontrastierung des Südmythos'
mit dem sich abzeichnenden Mythos des Nordens235 (Hof polarer Reste). Nach dem
Verbrauch aller bisherigen poetologische Bestimmungen, die Benn bisher ventiliert hat,
dem dionysisch Rauschhaften, dem mystisch Archaischen und dem ansatzweise
mythologisch Regressiven, bleibt beinahe nur noch die Form, die Suche nach Ausdruck
und dabei auch das mythische Sprechen übrig. Gleichwohl entwickelt sich so aus der
Erfahrung der Vergänglichkeit der alten Mythen, eingebettet in die Dialektik von Süden
und Norden, der mythisch-geschichtliche Entwicklungsgedanke weiter. Trotzdem sind es
aber der Zeichencharakter des Mythos und der formale Aspekt der Dichtung, die allein
dem Ich noch eine erweiterte Existenz spenden, und so folgt dem Dionysischen nicht
allein das Apollinische, sondern auch ein neuer geschichtlicher Ansatz, eine Hinwendung
zu einem für Benn neuen Geschichtsbild.236
3.1.2 Benns Mythen der zwanziger Jahre bis zur Entstehung des historischen Mythos:
Zwischen dem "mythischen Vitalismus" von Opfer, Leiden und Hinsterben, Apoll und dem
neuen gesellschaftsorientierten Denken
Nach der, der Einfachheit halber hier dionysisch genannten, Phase Rönnes, die trotz ihres
merklichen Zurücktretens im weiteren Verlauf der Entwicklung des Mythos dennoch stets
latent und von Bedeutung für Benns Gedanken und sein Kunstschaffen bleibt, traten
verstärkt künstliche und zum Teil auch sehr unterschiedliche profane Mythen in Benns
Werk hervor. Topoi, die noch zum Teil von den rauschhaften Vorstellungen eines
organisch-vitalen Seins und eines solchermaßen geprägten Mythos herrührten, nahmen
jedoch zunehmend autonome Gestalt und neue Bedeutungen im Gefüge Bennscher
Gedanken an; im mythisch-imaginären Raum erlangten sie eine hervorgehobene Stellung,
denn sie gewährleisteten - durch die Aufwertung des Mythos und ihrer eigenen Stellung
darin - einen Aufenthaltsort für das Ich, das nach wie vor die Realität zu verneinen
trachtete. Zumindest ein Refugium im Ästhetischen entstand so, und schließlich trat damit
nun der formal-künstlerische Aspekt der Sprache in den Vordergrund: die Wende zum
Apollinischen.
234
Vgl. Jens, Literaturgeschichte, S. 248 u. 251f.
235
Der Mythos des Nordens rührt von der romantischen
Geschichtsphilosophie her. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Der Mythos vom
Norden. Studien zur romantischen Geschichtsphilosophie, Heidelberg
1962.
Vgl. auch: Jürgen Schröder, Gottfried Benn. Poesie und
Sozialisation, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1978, S. 131f. (im
folgenden zitiert als Schröder, Gottfried Benn)
Zum Nord-Süd-Gegensatz bei Benn vgl. auch: Joachim Vahland,
Gottfried Benn. Der unversöhnte Widerspruch, Heidelberg 1979, S.
78-82.
236
Ridley, Benn, S. 76; vgl. Wodtke, Antike, S. 179.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
237
Huber-Thoma, Triadische Struktur, S. 99f.
238
Vgl. Lohner, Passion, S. 103, 105 u. 108.
239
Lohner, Passion, S. 111 u. 115.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Schamloses Schaumgeboren,
Akropolen und Gral,
Tempel, dämmernde Foren
katadyomenal;
fiebernde Galoppade,
Spuk, alle Skalen tief
schluchzend Hypermalade,
letztes Pronom jactif.
Wie in "Trunkene Flut" (1927) (I, S. 56f.), wo zur Trance die Thematik der künstlerischen
Schöpfung und der Schöpfergestalt tritt, so ist hier - allerdings noch nicht eingehender -
der Problemkreis des Apollinischen angeschnitten, wie ihn Benn von seiner Nietzsche-
Rezeption übernommen hatte.
BENN war bereits als Zwanzigjähriger zum ersten Mal mit Nietzsche in Berührung
gekommen240, in seiner Bibliothek jedoch findet sich hauptsächlich Literatur über
Nietzsche, wie zum Beispiel Paul Deussens "Erinnerungen an Friedrich Nietzsche"
(Leipzig 1901), Elisabeth Förster-Nietzsches "Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer
Freundschaft" (München 1915) und Otto Ernst mit seiner Anti-Schrift "Nietzsche, der
falsche Prophet"241 (1910).242 Bruno Hillebrand hat hierzu dargelegt, daß Benn sich wohl
vor allem an den frühen Nietzsche der "Geburt der Tragödie" und den "Zarathustra"
gehalten hat.243 Benns Rezeption Nietzsches ist dabei sehr mangelhaft und voller Lücken
geblieben, wobei die Themen der Artistik, der Perspektivik, des Fanatismus des
240
Walter Lennig, Benn, Reinbeck bei Hamburg 1992 (1962), S. 37.
(im folgenden zitiert als Lennig, Benn)
241
Otto Ernst, Nietzsche, der falsche Prophet, in: O. E. Gesammelte
Werke, Abhandlungen und Aufsätze, Lepizig 1910, S. 233-379.
242
Rübe, Benn, S. 215.
243
Ebd., S. 215.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Ausdrucks, des Olymp des Scheins und der Gedanken der Kunst als der eigentlichen
Lebensaufgabe dominieren.244 Benn selbst äußerte sich einmal eingehender dazu in einem
Aufsatz von 1950, "Nietzsche - nach 50 Jahren". In dem Aufsatz wird nur die "Geburt der
Tragödie" als einziges Werk von Nietzsche genannt, und Benn schien ebenso hier wie
auch über andere Philosophen weitgehend durch Sekundärliteratur unterrichtet gewesen
zu sein.
An erster Stelle allerdings rangiert dabei Ernst Bertrams Buch über Nietzsche von 1918
(IV, S. 199), "Nietzsche, Versuch einer Mythologie".245 In der Tat war der so von Bertram
vermittelte Nietzsche mit seiner grundlegend neuen Sicht auf die Antike als dem
Widerstreit des Apollinischen und Dionysischen auch eine ergiebige Quelle für Benns
mythologisches Wissen.246 Was immer Benn von Nietzsche eingehender gekannt haben
sollte, im Grunde läuft Benns Nietzsche-Rezeption im wesentlichen auf Nietzsches
dionysisch-apollinische Lebensbetrachtung, die Kunstmetaphysik der schöpferischen
Lebensbejahung und die monologische Einstellung zur Welt hinaus. Theo Meyer umreißt
das folgendermaßen:
"Was Benn an Nietzsche fasziniert, ist vor allem dessen Kunstauffassung, die
metaphysische Begründung und Rechtfertigung der Kunst. Nietzsches Idee der Kunst als
der höchsten Form des schöpferischen Lebens und sein Postulat zur Überwindung des
Nihilismus durch die Kunst werden für Benn zum ästhetischen Credo. Aber nicht nur die
ästhetischen Maximen Nietzsches, sondern auch seine existentielle Befindlichkeit, die
Grundsituation der absoluten Einsamkeit, sind für Benn von zentraler Bedeutung. In
Nietzsche sieht er die eigene Existenz- und Bewußtseinslage, wie überhaupt die Situation
des modernen isolierten, entfremdeten Subjekts vorweggenommen. Zugleich aber ist
Nietzsches Prinzip der perspektivischen Interpretation und Formung der Welt für Benn
Rechtfertigung des eigenen künstlerischen Verfahrens, nämlich des freien Spiels mit dem
Weltstoff durch das kreative Subjekt. Im Zeichen der Idee des Schöpferischen werden
Kunst, Monolog und Perspektivismus zu den Eckpfeilern der Bennschen Weltsicht."247
Hatte der nachexpressionistische Benn vor allem dann in den zwanziger Jahren von
Nietzsche die Idee des "elementaren Lebens und die Problematik der monologischen
Existenz" begonnen zu verwerten, so ist es mit Beginn der dreißiger Jahre und der
apollinischen Wende in seinem Werk248 der Ästhetizismus, die Artistik, die Benn von
Nietzsche rezipiert.249 Eine Tendenz, die Benn in seinem Essay "Dorische Welt" (1934)
schließlich als dem Kondensat seiner Entwicklung in dieser mittleren Schaffensphase bis
zum Nationalsozialismus abschließt.
Dagegen steht der Biologist Nietzsche in den zwanziger Jahren im Vordergrund, und er ist
es auch, der Benns Auffassung vom schöpferischen Prozeß mitbestimmt. Nicht Geist,
sondern elementares Leben, Rausch und Ekstase geben die Richtung vor.250 Doch lagen
zwischen Nietzsches und Benns Biologiebegriff Welten; Nietzsche vetrat einen anderen
mythischen Lebensbegriff, sein Augenmerk galt dem starken Leben, oft mißverstanden als
rüder Darwinismus, Benns Lebensbegriff war von anfang an stark biologisch und
244
Hillebrand, Nietzsche, S. 416.
245
Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918.
246
Ridley, Benn, S. 67.
Vgl. zur fundamentalen Wirkung von Nietzsches neuem Antikebild auf
Benn: Wodtke, Antike, S. 132f. u. 135.
247
Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen Basel 1993, S.
376f. (im folgenden zitiert als Meyer, Nietzsche und die Kunst)
248
Ebd., S. 385.
249
Ebd., S. 383.
250
Ebd.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
medizinisch geprägt gewesen, und ebenso war der Mythos als grundlegender
Bezugspunkt von diesen Vorstellungen geprägt, später dann von formal-ästhetischen
Überlegungen. Leben war für Benn kein Mythos, er hatte andere; Leben und seine
physiologischen Grundlagen waren ihm feste medizinische und doch zugleich auch
künstlerische Erfahrungsgrößen, und wenn man an die organische Grundlage seiner
Dichtungstheorie, zumindest in der frühen und mittleren Phase denkt, so wird das auch
einsichtig.
Von Beginn der dreißiger Jahre an, im Kontext des Bennschen Antagonismus von Geist
und Leben, Apoll und Dionysos, Form und Rausch zeichnet sich jedoch immer mehr der
grundlegende Unterschied zwischen Benns und Nietzsches Verständnis des
Schöpferischen ab; Benn wendet dem Vitalismus Nietzsches den Rücken zu, sein Begriff
vom Schöpferischen erhält zunehmend formale Gesichtspunkte.251 In dem Brief an Oelze
vom 24.11.1934 widerspricht er so auch dem Nietzscheanischen Lebensbegriff. Lapidar
heißt es da: Die neue Formel ist ja eben: nur Geist. Alles nur Geist! Das "Leben"? Du
lieber Gott, das ist ja schon bei Nietzsche ein Krampf.252 Benn glaubte schließlich nicht
mehr an die Verwirklichung des Geistes im Leben, wie Nietzsche es noch gesehen hatte.
Und wieder an Oelze schreibt er am 16.9.1935: Einen Schritt sind wir weiter als er
[Nietzsche; Anm. d. Verf.], nach meiner Meinung einen sehr weitreichenden in die Zukunft
dieser Finallage (...): er hatte noch nicht die Geschichte u die Natur vom Geist getrennt, er
glaubte noch an ihren Ausgleich, jedenfalls an ihre Beziehung, während wir das doch
garnicht mehr tun.253 Benns Lebensbegriff hatte sich gewandelt; Leben, Geist und Kunst
waren für Benn anthropologische, organische Belange, Auswirkungen des hyperämischen
Charakters der menschlich-geistigen Existenzform. Wobei dieser Begriff aber in seiner
letzten Phase, im Rahmen von Statik und absoluter Dichtung, im Kontext von Benns
reinstem Formenglauben, in der monologischen Literaturform im "Roman des Phänotyp"
und in "Der Ptolemäer", schließlich von Nietzsches Züchtungsgedanken, der Entwicklung
eines neuen Menschen, abrückt und sich auf die starre Statuierung des selbstgezogenen
existentiellen Rahmens verlegt.254 Kunst war für Benn keine Funktion des Lebens, sondern
ein autonomes Phänomen geworden.
Benn setzt also Nietzsches mythologisch-artistisches Denken fort255, beide erkennen für
das moderne Ich die Problemlage der Dialektik der Aufklärung und des Logos als eine
Krise bzw. einen Verlust von Sinn und Bedeutung der Dinge.256 Bruno Hillebrand kommt zu
dem Ergebnis, daß die Rolle der Kunst bei Benn im Gegensatz zu Nietzsche schon wieder
so etwas wie eine urtümliche Funktion des Mythos, eine quasi religiöse Aura erhalte: im
"Formrausch" verabsolutiere Benn Nietzsches Artistenevangelium, das er um den Aspekt
der Macht, wie ihn Nietzsche besonders im Zarathustra und in "Der Wille zur Macht"
ausgearbeitet hatte257, zugunsten des rein Formalen reduziere.258
251
Ebd., S. 386.
252
Steinhagen, Briefe I, S. 41.
253
Ebd., S. 71f.
254
Vgl. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 387f.
255
Martini, Wagnis der Sprache, S. 469.
256
Lange, Komplex Mythos bei Nietzsche, S. 120; vgl.
Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 11, und Walter
Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen
Reproduzierbarkeit, Erste Fassung, S. 439-442, in: Rolf Tiedemann
u. Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Walter Benjamin, Gesammelte
Schriften, Bd. I, 2, S. 431-470. (im folgenden zitiert als
Benjamin, Kunstwerk)
257
Theo Meyer (Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff,
Tübingen 1991, S. 257f.) definiert bei Nietzsche den Topos des
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Der Weg zur apollinischen Wende und zur Ablösung der bisherigen künstlerisch-
poetologischen Voraussetzungen ist damit zwar endgültig mit der Dichtung als kreativer
Artistik, Ausdruckskunst und Formenrausch eingeleitet, doch durchläuft Benn bis dahin
noch einige Entwicklungsschritte, die diese Ästhetisierung vorbereiten und ausführen
helfen. Benns Nihilismus, auch und nicht zuletzt in Nachfolge Nietzsches, war bereits in
der Frühphase entscheidend gewesen, weshalb an dieser Stelle noch ein kurzer Ausblick
auf diesen Aspekt gerechtfertigt ist. Der "existentielle" Nihilismus und seine "artistische"
Ausnützung und Überwindung liegen bei Benn eng beieinander.
DIE Bedeutung von Benns Nihilismus ist, obgleich in seinem gesamten Werk
unbestreitbar260, so doch im Zusammenhang von schöpferischem Formschaffen und
geistigen Leer-Räume entstanden, in denen sich das darin verlorene Ich imaginierend und
neu formend konstruiert, schließlich kreativ neu verdinglicht. Erst so tritt für Benn der
konstruktive Geist als betontes und bewußtes Prinzip, und zwar mythenbildend sich
entfaltend, ewig metaphorisch überglänzt, den Raum erfüllend hervor, und bildet einen
geschlossenen geistigen Raum, gemeint ist hier die kulturgeschichtliche Epoche und
Lebenssphäre. ("Nach dem Nihilismus"; III, S. 394f.)264 Benn schreibt allerdings die
Auflösung der Lebensgrundlage und der geistigen Substanz, wie sie seit Rönnes
Aufbegehren gegen die Vernunft und den Verstand geläufig ist, dem Rationalismus und
der Wissenschaft zu:
Der Mensch ist gut, sein Wesen rational, und alle seine Leiden sind hygienisch und sozial
bekämpfbar, dies einerseits und andererseits die Schöpfung sei der Wissenschaft
zugänglich, aus diesen beiden Ideen kam die Auflösung aller alten Bindungen, die
Zerstörung der Substanz, die Nivellierung aller Werte, aus ihnen die innere Lage, die jene
Atmosphäre schuf, in der wir alle lebten, von der wir alle bis zur Bitterkeit und bis zur
Neige tranken: Nihilismus. (III, S. 398)
Trotzdem bleibt Benns Situation und sein Verhältnis zum Nihilismus in der Frühphase bis
1930 noch von dem Impetus der resignativ-regressiven Flucht in Traum und Rausch
geprägt, so daß Mythen insoweit auch noch keine aktive Überwindung dieser Krise leisten
können.265
Die Nivellierung aller Werte also, aus ihnen die innere Lage: Nihilismus. Und in der
artistischen Ausnutzung des Nihilismus (ebd., S. 401) gründet schließlich auch dessen
Überwindung; Kunst und Leere, Mythos und Nihilismus sind zwei komplementäre Phasen
der Moderne bei Benn. Der menschliche Geist, verkörpert vornehmlich im bionegativen
Übermenschen, im anomalen Einzelgänger und im denaturierten Genie, wird somit als die
formale Antwort und die künstliche Existenzweise dem Leben übergeordnet, ja er ist sogar
dem Nihilismus konstruktiv überlegen, als formendes und formales Prinzip: Steigerung und
Verdichtung. (Ebd.)266 Letztlich wandelt sich der menschlich ordnende rationale Geist
264
Zum Mythos als Überwindung von Benns Nihilismus vgl.: Helmut
Uhlig, Gottfried Benn, in: H. Friedmann/O. Mann, Expressionismus.
Gestalten einer literarischen Bewegung, Heidelberg 1956, S. 168-
181.
265
Hans-Dieter Balser (Nihilismus, S. 74f.) faßt Benns frühen
Nihilismus folgendermaßen in Worte: "Der frühe Benn erlebt sich
und seine Umwelt primär mit dem Gehirn, einem hoch sensiblen,
übersteigerten Bewußtsein. Diese Bewußtseinswelt aber bietet ihm
keinerlei Halt, sie ist völlig sinn- und wertlos. In ihr herrscht
Nihilismus der Werte. Das Ergebnis solcher wiederholt gemachter
Erfahrungen ist die Ausbildung eines umfassenden psychologischen
Nihilismus als Grundgefühl innerer Leere und Bindungslosigkeit.
Das menschliche Denken, darauf angelegt, die Welt nach Sinn und
Zweck zu befragen, zu begreifen und zu ordnen, ist in eine
unüberwindliche Krise geraten. Die Helden der frühen Prosa, allen
voran Rönne, suchen und fragen unaufhörlich weiter, aber "es fehlt
die Antwort auf das Wozu" (Nietzsche). Die Welt erscheint
demzufolge als Chaos, als Absurdität. Nicht nur Religion,
Philosophie und Wissenschaft haben versagt, sogar das Ich droht
sich in seinem traditionellen Wertcharakter als >Person< aufzulösen."
266
Balser, Nihilismus, S. 67.
Aufgrund der guten Forschungslage sei hier im weiteren für
die Grundlegung des Nihilismus bei Benn verwiesen auf: ebd., S.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
damit zur künstlerisch apollinisch Entität und löst den wissenschaftlichen Geist, das mit
Hirn und Bewußtsein geschlagene Ich, als neue Synthese von schöpferischem
Unbewußtem und klarem Formwillen ab.
Tierhafte Alphabete
für Sonne, Mond und Stier
mit einer Haifischgräte
- Baustrophedonmanier -:
ein Zeichen für zwölf Laute,
ein Ruf für das, was schlief
und sich im Innern baute
aus wahrem Konstruktiv.
268
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Schmitt, Das dichterische
Verfahren, S. 65-69; Edgar Lohner, Kommentar zu Gottfried Benns
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Von dem stark mythisierenden Pathos269 einmal abgesehen, so wird doch im Topos der
Insel wieder ein geschlossener mythisch-anthropologischer, bewußt-kreativer Gegenraum
erschaffen, und das im Unterschied zu dem geographisch geprägten Insel-Raum ("Das
letzte Ich").270 Der neue Stilwille des Form bildenden Geistes, der Drang nach perfekter
Form, nach apollinisch-nietzscheanischer "Oberflächenkunst" ist insofern auch im
Zusammenhang mit dem Mythos und seiner Formalisierung zu suchen. Benn vertrat
diesen Gestus der Form sogar noch in "Nach dem Nihilismus", als er, wie gesehen, vom
menschlichen Geist als explizit mythenbildend sprach.
Einen solchen bewußt ästhetisch abgezirkelten Raum, der in seiner fortgesetzten
Verwendung dann mythische Bedeutung bekommen kann, indem er zu einem Raum der
Bedeutungen wird, bilden auch die zahlreich auftretenden Blumentopoi in dieser Zeit.271
Selbst in "Heinrich Mann. Zu seinem 60. Geburtstage" verwendet Benn 1931 noch,
diesem Ansatz verwandt, Blumentopoi in einem ähnlichen Kontext und in ähnlicher
Funktion: Schimmer schöpferischen Glanzes: auf diesen Lidern [der Helena; Anm. d.
Verf.] Anemonen und Hyazinthen, Dolden der Mythe aus Asche und Blut, zu diesem Fest
im Monat der Adoniden. (III, S. 314) Dagegen scheint sich aber wie in "Selbsterreger"
(1925) dieses mythische Raumempfinden durch die Abschließung des Ichs und durch die
Wendung zur inneren Wirklichkeit zu wandeln, denn in diesem künstlich-ästhetischen
Mythos wird somit keine Entgrenzung und Erweiterung mehr in irgendein Kollektiv, in
Unbewußtes oder in ein sonst irgendwie anthropologisch-organisch geartetes Bewußtsein
angestrebt. Vielmehr bescheidet sich Benn wieder mit sich und seinem Eigenraum. Indem
er, hermetisch abgeschlossen, durch die ästhetische Funktion der Sprache, eigene Topoi
und Mythen in einer immanenten Selbstentzündung provoziert und erzeugt, entwickelt er
gleichzeitig ein psychisch-ästhetisch dichterisches Verfahren, das von nun an immer
wiederkehren wird.272
Selbsterreger
Dämmerungen - keine
Allgemeintendenz,
manchmal rührt ihn eine
leise Immanenz,
ihn, den Selbsterreger,
Stern und Sternentraum,
den Bewußtseinsträger
stumm im Eigenraum.
Die so erfahrene Selbstentzündung und die Bescheidung auf die ästhetische Immanenz
werden damit auch zu weiteren Voraussetzungen des gestalteten Mythos274, denn in der
expliziten Abkapselung des Ichs wird so ein wesentliches Merkmal des Mythos umgesetzt.
Auch der Mythos als Bedeutungsraum ist in sich hermetisch, das heißt, er steht für sich
und nicht für etwas anderes. Wie die Verkehrung des Dionysisch-Mythischen, des
rauschhaft Entgrenzenden zum schöpferisch Geistigen eine stetige Erweiterung des
Mythosbegriffs zum poetischen Zeichen durchgesetzt haben, so löst die Immanenz der
Form nun die Transzendenz der mystischen Partizipation weitgehend ab; Benn übersteigt
sich nicht mehr, die Gedichte kreisen um den eigenen inner-seelischen Bezugspunkt.
Damit ist die Wende vom dionysischen Traum zum ästhetischen Schein und zum
Oberflächlichen der Kunst im Kontext des Mythos nicht als ein Wechsel, sondern als eine
Weiterentwicklung zu verstehen. Und dennoch erweist sich diese apollinische Scheinwelt
als nicht ganz so oberflächlich, wie es den Anschein haben könnte275, denn noch nach wie
vor gilt Benns typische mythisch-anthropologische Voraussetzung der Kunst als
Hyperämie, als eine an das "Blut", an die menschlich-körperlich Bedingtheit gebundene
Kunst, wenngleich auch davon nun keine existentiell weitläufigen Aussagen mehr
getroffen werden. Diese Aufgabe übernimmt das "formschaffende Gesetz des Geistes",
des geschlossenen ästhetischen Gebildes. In ihm und um dieses drehen sich Benns
weitere Gedanken, selbst noch im Zenit seines pseudo-geschichtlichen Denkens.
W O aber das Ich seine eigenen, verfremdeten alten Mythen im ästhetischen Traum
bildet, im Traum als formalem Medium, als dem nichtregressiven und nicht rauschhaft-
dionysisch, sondern künstlerisch kreativen Bereich276, da ist Benns Wendung zum
273
Zur Gedichtinterpretation vgl.: Schmitt, Das dichterische
Verfahren, S. 52.
274
Die "provozierende Selbsterregung" ist nach Hugo Friedrich
(Struktur, S. 33) auch typisch für die moderne Lyrik im Rahmen des
Grotesken.
275
So die Einschätzung Bruno Hillebrands. (Nietzsche, S. 418)
276
Vgl. Max Rychner, Gottfried Benn. "Nach dem Nihilismus", S. 207,
in: Hohendahl, Wirkungsgeschichte, S. 204-208. (erstmals in: M.
R., Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen, Zürich
1943, S. 217-223)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Orphischen auch die Wendung zum sprachlichen Kern des Mythos. Die alten Mythen
werden zwar dionysisch, das heißt ekstatisch noch beschworen, gemeint ist aber schon
ein Geistig-Apollinisches, eine neue Verankerung im abstrakten Raum der Sprache.277
Abstrakt ist dieser Raum wegen seiner Losgelöstheit von den üblichen Bindungen der
Sprache, der Bindungen an eine referierte Wirklichkeit und an die kommunikative Funktion
der Sprache. Das lyrische Kunstwerk gibt darin, wie Hermann Broch es einmal bezeichnet
hat, die "Totalität eines Augenblicks" wieder278; es grenzt sich als ein - auf seine Art und
Weise, in einer anderen Sprache - von der Welt abstrahierter subjektiver Bedeutungsraum
ab.
Von nun an tauchen auch immer wieder Strophen in den verschiedensten Gedichten
Benns auf, die sich durch eine auffällige künstlerische Verquickung der heterogensten
Begriffe zugunsten einer künstlerischen Aussage auszeichnen. Nicht zuletzt die entleerte,
als vergänglich erfahrene antike mythologische Topik sowie die strenge Tendenz zur
ästhetisch-gestalterischen Immanenz haben daran ihren Anteil279; Begriffshülsen,
sozusagen von den konventionellen Bedeutungen befreite Worte, erhalten im
dichterischen Verfahren Benns ihre völlig neue Bedeutung.
Ein frühes Beispiel ist die vierte Strophe von "Qui Sait" (1927): (...) Aber der Mensch wird
trauern -/ Masse, muskelstark,/ Cowboy und Zentauern,/ Nurmi als Jeanne d'Arc (I, S. 76),
oder das bereits in anderem Zusammenhang erwähnte Beispiel von Sansibar und der
Blüte Bougainville aus "Orphische Zellen" (1927). Nur ein drittes Beispiel sei wegen seiner
krassen ästhetischen Komposition heterogenster mythischer Elemente für diesen Zeitraum
genannt, "Banane" von 1925.
Banane
277
Wodtke, Antike, S. 176f.
278
Broch, Mythische Erbschaft, S. 204.
279
Vgl. Ridley, Benn, S. 76.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Meist handelt es sich bei diesen Kompositionen so wie in diesem Beispiel um synoptische,
in der künstlich mythischen Zusammenschau dargebreitete Bestandsaufnahmen
verschiedener kulturgeschichtlicher Stadien der Menschheit, die sodann von einer
dichterischen Aussage fortgeführt werden. In solch räumlich bricolageartiger
Zusammenschau entsteht aber ein mythischer Raum, aus dem (trotz aller vorhandener
Heterogenität der Elemente, die eigentlich nicht dazu angetan wären, kombiniert zu
werden) schließlich für das lyrische Ich ein einsichtiger Kontext und Zusammenhang im
imaginären Bezugsfeld hervortritt: die Dinge werden in ihrer Kombination dem lyrischen
Ich schlüssig, weil sie nicht mehr in ihren ursprünglichen Bedeutungen verwendet werden,
sondern stellvertretend andere, und zwar innerlich-seelische Bedeutungen tragen. Man
kommt solchen Gebilden nie über ihre Einzelbestandteile wie Banane, Sargassosee oder
den Nil nahe, sondern erst in ihrer Kombination erhalten sie ihre eigene, neue Bedeutung,
erst im strukturierten mythischen Komplex, im außergeographisch-mathematischen Raum
sind sie durch ihre eines auf das andere, oder eines auf das Ganze verweisende Struktur
lesbar.280
Mit dieser letzten Konsequenz ist Benn bei seinem "artistischen Schöpfungsmythos"
(Hillebrand)281 angelangt. Es handelt sich nicht nur, wie Ridley dazu richtig meint, um eine
Vermischung zwischen Regression, Mythos, Montage und Weltlichkeit282, sondern um
mehr: Benns Poetik der schöpferischen Dekonstruktion zerlegt so nach und nach die
bisherige Sprache und ihre Topik283 und gelangt doch zu neuen, eigenen spezifischen
Funktionen, i.e. der imaginativ die Persönlichkeits- und Bedeutungsgrenzen sprengenden
autoreferentiellen Ausdruckskunst. Darum fördert der sich im Grunde seit 1920
abzeichnende Übergang zum Apollinischen (vgl. die geänderte Antikensicht)284 nicht
zuletzt die Wiederauferstehung des Mythos im Gewande der Kunst und der neu auf die
Sprache konzentrierten Gestaltung.285 Man verfällt allerdings leicht dem Drang, diesen
Übergang zum Apollinischen ausschließlich mit der Entwicklung des Kunstcharakters in
Benns Lyrik zu erklären286, in Wirklichkeit ist es aber der Übergang vom rauschhaften zum
künstlerischen Mythos.
In dem Text, den Benn zu Paul Hindemiths Oratorium unter dem Titel "Das Unaufhörliche"
(1931) verfaßt hat, finden sich all diese in diesem Abschnitt besprochenen
Entwicklungsphasen. Mythos ist hier gleichzeitig gebraucht für Schöpfungsmythos, im
übertragenen Sinn also auch für die Einheit von Mythos und Schöpferischem hinsichtlich
des Dichterischen, als auch für den regressiven Mythos, eben jenen der ewigen
Wiederkehr des Unaufhörlichen. Auch löst der neue künstliche, in diesem Fall der implizite
Blumenmythos den alten antiken ab: Säulen, die ruhn, Delphine,/ verlassne Scharen,/ die
280
Ähnlich wie diese austauschbaren bzw. höchst verschränkten
Aussageinhalte hält auch Hugo Friedrich (Struktur, S. 87, 91 u.
149) das moderne Gedicht nur noch in seiner Struktur und seinem
Entwicklungsgang, nicht aber über seine einzelnen Teile und Topoi
für verständlich.
281
Hillebrand, Benn, S. 128.
282
Ridley, Benn, S. 98.
283
Martini, Wagnis der Sprache, S. 473.
284
Wodtke, Antike, S. 171f.
285
Ebd., S. 173f.
286
Ridley, Benn, S. 75; Hillebrand, Nietzsche, S. 412 u. 419.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Hyakinthos trugen, den Knaben,/ früh verwandelt/ zu Asche und Blumengeruch. (Ebd.)
Sodann, in dem im "Oratorium" enthaltenen Lied, verabschiedet sich Benn noch einmal
von Traum, Rausch und mystischer Partizipation: lebe wohl, aus großen Städten/ ohne
Traum und ohne Grab. (Ebd.). Die beiden bekannten mythischen Konzeptionen: der
explizite, althergebrachte, stoffgebundene Mythos des Unaufhörlichen mit seinem
demgemäß konturlosen, ewigen Zeit-Raum, wie ihn zum Beispiel der Chor darstellt, und
der ansatzweise vorhandene neue Kunstmythos, beides trifft hier zusammen. Noch immer
aber sind die einstmaligen mythischen Strukturen residuär vorhanden, und Benn wird noch
bis in seine Altersphase stets von neuem, trotz aller Entwicklung zu reiner Form und
absoluter Sprache, auf diese zum Teil außersprachlichen kulturphilosophischen und
anthropogenen Aspekte zurückkommen.
287
Ridley, Benn, S. 75.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Noch einmal wird hier das Problem der Raumstruktur unterstrichen. Raum und Zeit,
Räume und Stunden sind konnotiert mit dem mittlerweile sinnentleerten Topos vom Traum
und sie sind auch nur noch Relikt einer vorangegangenen Phase in Benns Entwicklung.
Der Traum ist nur noch ein Bild und ein Schatten des eigentlich schöpferischen Nichts.
Demgegenüber steht allerdings der Opfermythos, von Benn sehr bewußt als Rausch und
Opfer-Topologie verwendet, positiv gesetzt auch für das neue tragische staatsmythische
Lebensgefühl des Nationalsozialismus, das dabei im Hintergrund steht. Denn hier, in der
Hoffnung auf den neuen Staat, schienen sich viele Probleme für Benn zu lösen.288 Doch
sei dazu für weiteres auf das Kapitel über Benns faschistischen Mythos (siehe unten)
288
Eine militante Transzendenz, ein Richtertum aus hohen wehrenden Gesetzen, Züchtung von Rausch und Opfer für
das Sein verwandlunsloser Tiefe, Härte aus tragischem Gefühl, Form aus Schatten! ("Züchtung"; IV, S.
39)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
verwiesen. Daß aber das Leiden eine Voraussetzung für die Flucht in den Traum ist, zeigt
sich auch in "Theogonien" (1925):
(...)
Wie mußten sie alle leiden,
um so zum Traum zu fliehn,
und sein des Kummers Weiden
wie hier die Algonkin!
(...) (I, S. 64)289
Benns "Akademie-Rede" gibt über die gesamte Situation dieses Leidens indirekt
Aufschluß. Entstanden zur Wahl Benns in die Preußische Akademie der Künste am
29.1.1932, gehalten am 5.4.1932, sodann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom
14.5.1932 veröffentlicht, sollte diese Rede eigentlich Benns Kunstschaffen resümieren.
Sätze wie, die psychologische Kontinuität des Einzel-Ich ist unterbrochen (III, S. 387), oder
das psychologische Interieur eines zum Erlebnis strebenden und dann dies Erlebnis im
Entwicklungssinne verarbeitenden Ich tritt in den Schatten, und hervor tritt ein Erkenntnis
forderndes, Begriffe bildendes, Worte schaffendes Ich einer antihistorischen Tendenz (III,
S. 387), solche Sätze weisen nicht nur auf Rönne zurück, sondern reflektieren noch
einmal die apollinische Wende. Benn spricht aber auch vom Realitätszerfall, von der
gesellschaftlichen Dynamisierung, den nur noch imaginär erfaßbaren Größen und
schließlich von der progressiven Zerebration290, die die apollinische Monotonie begleite. Er
bringt damit nicht zuletzt Gedanken zur Zeitgeschichte mit bereits bekannten
anthropologischen Überlegungen zusammen, wobei er unter Rückgriff auf vorapollinisches
Denken bei sich wiederum eine Transzendenz, und zwar im Organischen, sucht. Ebenso
spricht er erneut von Rausch und mystischer Partizipation, - neu aber ist an dem Essay,
daß Benn seine Rolle als dem zum Formzwang drängenden Sprachkünstler entscheidend
aus der formfordernden Gewalt des Nichts, und damit aus dem Nihilismus herleitet und
bekräftigt:
Und die Antwort kann nicht anders lauten, sie erblickt auch hier am Grunde nur
Strömendes hin und her, eine Ambivalenz zwischen Bilden und Entformen, Stundengötter,
die auflösen und gestalten, sie erblickt etwas Blindes, die Natur, erblickt das Nichts. Dies
Nichts, das wir hinter allen Gestalten sehen, allen Wendungen der Geschichte. (III, S. 392)
Und doch darf diese Geisteshaltung nicht darüber hinweg täuschen, daß Benn sich
zwischenzeitlich mit der Geschichte anfreunden konnte: Mit den Schlußworten des Essays
zieht Benn den Bogen von seiner nihilistischen Grunderfahrung nicht nur zum
Kunstschaffen als Antwort auf diese, sondern er verbindet damit auch die Gedanken, die
289
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Reinhold Grimm, Fragments
of a dirge, On Georg Büchner, Gottfried Benn and others, S. 143-
146, in: Martha Woodmansee u. Walther F.W. Lohnes (Hg.), Erkennen
und Deuten, Essays zur Literatur und Literaturtheorie, Edgar
Lohner in memoriam, Düsseldorf 1983, S. 143-171; Wilhelm Wodtke,
Selected Poems, Oxford 1970, S. 135f. (im folgenden zitiert als
Wodtke, Anthologie)
290
Die progressive Zerebration - phylogenetisch gesehen, ganz exakt historisch gedacht: immer zwanghafter die
Distanz zwischen Instinkt und Rinde, zwischen Anschauung und Begriff, zwischen Farbe und Zahl, immer gefährlicher
die Spannung, immer zerstörerischer der Funken: Geruch von Vernichtung und verbranntem Fleisch durch das
Jahrhundert: Nietzsche -, hier am Anfang noch einmal: "Das ungeheure Reich simplifiziert sich mir in der Seele", noch
einmal: "Beschaun mit Denken." ("Goethe und die Naturwissenschaften"; III, S.
382)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
W ÄHREND aber in der Gesellschaft der zwanziger Jahre ein regelrechter "Hunger
nach dem Mythos" zu bestehen schien291, treten bei Benn neben außersprachlichen
Aspekten somit ab der Mitte der zwanziger Jahre bis hin zu seinem Essay "Dorische Welt"
von 1934 die gewonnenen ästhetisierenden und formalistischen Momente im Kontext des
Mythos wieder zurück und werden relativiert. Es taucht überhaupt eine verstärkte
Bezugnahme auf geschichtliche und gesellschaftliche Phänomene auf. Die Phase von
Benns großen Essays hat begonnen. In wenigen Jahren entstehen "Zur Problematik des
Dichterischen" (1929/30), "Der Aufbau der Persönlichkeit" (1930), "Das Genieproblem"
(1930), "Irrationalismus und moderne Medizin" (1931), "Goethe und die
Naturwissenschaften" (1932), "Nach dem Nihilismus" (1932) und noch viele mehr, deren
letzte drei zusammen mit "Das moderne Ich" (1919) in dem Sammelband "Der neue Staat
und die Intellektuellen" 1933 erschienen.
Sowohl in "Das Genieproblem" als auch in der Rundfunkarbeit "Genie und Gesundheit",
die er beide bis spätestens Oktober 1930 verfaßte, liegen hier wie dort im wesentlichen
Gedanken aus Wilhelm Lange-Eichbaum "Genie - Irrsinn und Ruhm" (München 1927) und
aus Ernst Kretschmer "Geniale Menschen" (Berlin 1929) zugrunde.292 Benn spricht in
diesem Zeitraum, wenn er vom Mythos handelt, durchaus von gesellschaftlichen
Belangen, so daß sich der Mythos nicht mehr nur allein vom Organischen oder
Künstlerischen herleiten läßt. Benn plädiert dafür, daß die kulturelle Gemeinschaft eine
moderne Mythologie aus Rausch und Untergang bilde, die er allerdings, und hier schlägt
in Ansätzen wieder sein künstlerisch-anthropologisches Denken durch, im Genie ansiedelt
und nicht im Bereich der Gesellschaft und ihren "Riten".
Der Begriff des BIONEGATIVEN (Lange-Eichbaum) entsteht vor uns, wir sehen ihn nicht
nur personell an der naturalistischen Figur des Trägers des Genialen, wir sehen, und dies
ist viel merkwürdiger, ihn verehrt, gefordert und umworben von der sozialen Gruppe, von
der kulturellen Gemeinschaft, sie sucht gegenüber dem Harveyschen Kreislauf diesen
Kreislauf aus Psychopathie und Minusvariante, sie bildet neben der Gesundheit und auf
ihre Kosten die moderne Mythologie aus Rausch und Untergang und nennt es Genie. (III,
S. 290)
291
Theodore Ziolkowski, Der Hunger nach dem Mythos. Zur seelischen
Gastronomie der Deutschen in den Zwanziger Jahren, in: Reinhold
Grimm u. Jost Hermand (Hg.), Die sogenannten Zwanziger Jahre, Bad
Homburg Berlin Zürich 1970, S. 168-201.
292
Vgl. Gerhard Schusters Erläuterungen: III, S. 533.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Aber auch in "Nach dem Nihilismus", wahrscheinlich im Sommer 1932 als Titelaufsatz des
Sammelbandes "Nach dem Nihilismus"293 angefertigt, wo Benn die Überwindung des
Nihilismus artistisch und dialektisch beschrieb294, bezieht er in diesem Zusammenhang
zivilisationsgeschichtliche Überlegungen mit ein; die Zivilisation kehre inhaltlich zur Mythe
zurück:
Es gibt nur den höheren, d. h. den tragisch kämpfenden Menschen, nur von ihm handelt
die Geschichte, nur er ist anthropologisch vollsinnig, die reinen Triebkomplexe sind es ja
nicht. (III, S. 401)
Manches, wie der Expressionismus, der Sürrealismus, die Psychoanalyse, deutet ja in der
Richtung, daß wir biologisch einer Wiedererweckung der Mythe entgegengehn und kortikal
einem Aufbau durch Entladungsmechanismen und reine Expression. (III, S. 402)
Doch trotz aller Bemühungen um ein historisches Verständnis, bleibt ein "objektives
Geschichtsverständnis" für Benn weit ab vom Zentrum seiner Gedanken, obschon man
den Einbruch der Geschichte und den einstweiligen Abschied vom überkommenen Mythos
als Bedeutungssystem an dem Gedicht "Die Dänin I-II" weiterverfolgen kann. "Die Dänin"
ist zudem ein Gedicht, das die Absurdität und die Einsamkeit des Menschen in der
Geschichte reflektiert und das gegen die sich daraus ergebende Ungebundenheit und
Beliebigkeit der menschlichen Existenz schließlich die Ganzheit des intimen, subjektiven
Mythos setzt, der sich über diese Austauschbarkeit der Dinge legt; alles wird in "Die
Dänin" zum Mythos. (Lohner)295
Die Dänin
II
Ebenso wie in dem bereits zitierten Gedicht "Schädelstätten" läßt Benn hier vorerst sein
Experiment mit dem ästhetischen Mythos und seiner Zeitlosigkeit dahingestellt sein; schon
in "Schädelstätten" zeigte sich der Mythos als hilflos gegenüber der sinnlosen
Geschichte.297 Sinnlosigkeit und Substanzlosigkeit (die Wasser heben und senken/ das
Ewig-Sinnlose her), auch die der außerindividuellen Bezugssysteme, der Geschichte zum
Beispiel, lassen so nicht zuletzt ein gewisses Endzeitbewußtsein entstehen (Zerfall, in
wieviel Tagen/ sind Gärten und Meere leer (...) Notturn final), wie es schon seit 1918
teilweise durch den Einfluß Spenglers zu erklären ist.298 Diese "Spätzeit" (Lohner) zählt mit
zu den Grunderfahrungen Bennscher Dichtung, und sie übt auch auf den Mythos und
seine Neubestimmung ihren Einfluß aus. Lohner beschreibt den Zustand des späten Ichs
wie folgt:
"Das moderne Ich sieht sich angesichts der Vergänglichkeit der Dinge und der
Unfaßbarkeit des Geschehens in einen Bereich bedrängter Einsamkeit hineingerückt, von
296
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Lohner, Passion, S. 148-
167; Annemarie Christiansen, Benn - Einführung in das Werk,
Stuttgart 1976, S. 79-111.
297
Reininger, Leere, S. 170, 172 u. 178f.
298
Vgl. Wodtke, Antike, S. 168-170.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
dem aus es in der Unsicherheit der eigenen Existenz und der Extremität seiner Lage die
Erscheinungen der Welt nur noch passiv überblicken kann."299
Vor diesem Hintergrund der Abwendung vom Formalen und eingedenk des Bewußtseins,
einer Endzeit anzugehören, trotz der relativ politischen Abstinenz, ist es nicht weiter
verwunderlich, daß bei Benn mit dem Entstehen der faschistischen Bewegungen in Italien
und Deutschland, deren ästhetischen und mythischen Charakter er wohl erkannte, neue
Hoffnungen und neue Neigungen zu einem solchen, anders verstandenen geschichtlichen
Prozeß zum Vorschein kamen. Hatte Benn sich mittlerweile bereits von der dionysischen
Rönnephase weitgehend gelöst, hatte er in einer ästhetisch virtuoseren,
experimentierenden Phase sodann sich dem künstlichen Mythos genähert, so wendet er
sich nun nach und nach, über eine verstärkte Zivilisationskritik300 und der Thematisierung
des Geschichtlichen, schließlich der Apostrophierung des Faschismus zu. Einige
historische Bemerkungen sollen die Wirkung des Phänomens Faschismus
veranschaulichen.
299
Lohner, Passion, S. 92.
300
Schünemann, Gottfried Benn, S. 61f.
301
Vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action
francaise, Italienischer Faschismus, Nationalsozialismus,
München Zürich 1986 (1963), S. 240-243; Anthony Rhodes, The
Poet as a Superman - A Life of Gabriele D'Annunzio, London
1959, S. 196.
302
Vgl. Benoît Vermander, L'Imaginaire Politique, S. 27, in:
Charles-Olivier Carbonell, Mythes et Politique, Presses de
l'institut d'études politiques de Toulouse 1990, S. 19-31: "Mais
le processus mythologique à proprement parler exige l'intervention
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Mit "Fazit der Perspektiven" (1930), dem, neben Benns spezifisch kompilierten Gedanken,
als Füll- und Betrachtungsmaterial auch Eugen Georgs Buch "Verschollene Kulturen. Das
Menschheitserlebnis. Ablauf und Deutungsversuch" (Leipzig 1930) zugrunde lag306,
verbindet Benn allerdings seine anthropologischen Gedanken des Umbaus des Ich mit
historisierenden Perspektiven. (III, S. 300f.) Benn erkennt die Bedeutung des Mythos und
der Mythologie für die moderne Massengesellschaft und ihre Politik307, und antizipiert damit
308
Vgl. Hillebrand, Benn, S. 189f.
309
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie
der Geschichte, S. 22, in: Werke, 12, Frankfurt a. M. 1970: "Es
hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst
ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der
vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen, des Geistes,
dessen Natur zwar immer eine und diesselbe ist, der aber in dem
Weltdasein diese seine eigene Natur expliziert."
310
Vgl. Spengler, Untergang, S. 7: "Idee einer Morphologie der
Weltgeschichte, der Geschichte der Welt, die im Gegensatz zur
Morphologie der Natur (...) alle Gestalten und Bewegungen der Welt
in ihrer tiefsten und letzten Bedeutung noch einmal, aber in einer
ganz anderen Ordnung, nicht zum Gesamtbilde alles Erkannten,
sondern zu einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen, sondern
des Werdens zusammenfaßt."
Jürgen Schröder (Gottfried Benn, S. 148; die Seitenangaben
beziehen sich auf die Werkausgabe von Dieter Wellershoff [Hg.],
Gottfried Benn, Gesammelte Werke in vier Bänden, Wiesbaden 1958-
1961, Bd. 1: Essays - Reden - Vorträge [I]; Bd. 2: Prosa und
Szenen [II]; Bd. 3: Gedichte [III]; Bd. 4: Autobiographische und
vermischte Schriften [IV]) zeigt, was Benn letztlich trotz aller
Differenzen mit Spengler verband: "Was Benn mit ihm teilte und von
ihm übernahm, sind das heroische Untergangsbewußtsein der weißen
Rasse (I, 220), das Denken in großen Kulturkreisen (IV, 154), die
Idee des imperialen Machtstaates, die Erwartung eines
cäsaristischen Zeitalters und großer Führergestalten für Europa,
die Abwertung des >Lebens< (I, 278f.), ein geistiges, vom
Preußentum geprägtes Rasseethos und Elitebewußtsein, die Spielart
eines preußischen Sozialismus, ein heroisches Schicksals- und
Kampfbewußtsein, schließlich die beherrschende Nietzsche-
Verehrung."
311
Ridley, Benn, S. 73.
312
Mit einem Wort: wie ist es mit dem historischen Prozeß, kann er, kann jemand für ihn fordern, daß ihm die Kunst
oder die Erkenntnis dient? Enthält er irgendwelche außerempirischen Begriffe, Vorgänge von anderem als
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
weitgehend nichts mit dem Historischen zu tun. Der Mythos und die historische
Wirklichkeit treten auseinander.
Aber auch neue Gedanken sind zu finden; neben der bekannten Sturzgeburt nach innen,
dem Rückfallfieber in die mystisch-mythische Partizipation klingt so etwas wie ein Führer-
Mythos an: es schwenkt der Führer das Tuch, in dem der Pilzsaft sich befindet (III, S.
244), jenem Saft, der den Rausch bringt. Führertum, der Mythos vom Volk und seinem
Führer, diese neuen banalen Mythen zeigen vor allem den Wandel von Benns
Mythenträgern. Es sind keine Blumen oder südlichen Gestade mehr, keine beschwörende
Sprachgebilde zur innerlich-ästhetischen Entgrenzung und auch keine Kunst-Sprache
völlig eigener Bedeutungsgebung, sondern beinahe nahtlos ersetzen andere, aber ähnlich
klingende Topoi die bisherigen mythischen Grundlagen. Anstatt dem intellektualistischen,
künstlerischen Genie, der rüde Führer, und was früher Hyperämie hieß, wird nun zu einer
abgewandelten Blutideologie, deren Fundamente nicht mehr in medizinisch-
psychologischen Überlegungen ruhen, sondern im Bereich des sozialen Verbandes, des
nationalsozialistisch gedachten paramiltärischen Volkskollektivs.
Von daher betrachtet, geht also Benns Annäherung an das Kollektive und den
Führermythos des Faschismus in gewisser Weise auch aus seiner Suche nach dem
Mythos hervor. Der Drang zur darin bedingten Totalisation313 ebenso wie die Abkehr von
der "Isolationshaft des Ichs", der inneren Geschlossenheit, die Sehnsucht nach Aufhebung
des Individuellen und nach dem Ende der Einsamkeit im Bewußtsein, die Unaufhebbarkeit
dieser zur Kunst notwendigen Bedingung, all diese bei Benn im Umkreis des Mythos
angesprochenen Elemente seines bisherigen Denkens helfen den Mythos vom totalen
oder absoluten Staat vorzubereiten. Und dennoch bemerkt man ein dezentes Bestreben,
sich vorerst von solchen antiindividualistischen Tendenzen und von der Massenkunst
fernzuhalten. Aber all diese Bestrebungen nehmen letztlich doch nur den Ästhetizismus
und den kollektiven Absolutheitsanspruch des Faschismus vorweg.
Immerhin, für Benn behalten diese Elemente einen Rest von subjektiver Einfärbung,
weshalb er auch bei weitem noch nicht realisiert, in welche Gefahr er sich so nach und
nach begibt. Am Ende befördert er damit weniger ein realgeschichtliches, als vielmehr ein
ideelles Phänomen; die Verschmelzung von Traum und Realität. Im Mythos des
Nationalsozialismus unternimmt er einen letzten großen Versuch, seine Dichtung auf
einen "realen" Bezug zu stellen. Und so verwundert es auch nicht, daß die Schere
zwischen innerem entrücktem Sein und äußerem begrenzten Dasein sich kurzfristig zu
schließen scheint. Das geht sogar soweit, daß der von Benn stets favorisierte
Individualismus zugunsten eines neuen Menschgefühls zurückgenommen wird, wie "Die
neue literarische Saison", ein weiterer Rundfunkvortrag, gehalten am 28.8.1931, zeigt, der
in seinem Kern eine Polemik zu Segej Tretjakows Berliner Vortrag vom 21.1.1931 "Der
Schriftsteller und das sozialistische Dorf"314 darstellt.315 Der Text ist zusammen mit "Saison"
(1930) durch seine zeitgeschichtliche Thematik in diesem Entwicklungsgang von
weiterführender Bedeutung.
kasuistischem Charakter, Ausdrücke von anderer als summativer Wirkung, irgendeine Mythe, irgendeine
Transzendenz? (III, S. 238)
313
Es gibt nur den Einsamen und seine Bilder, seit kein Manitu mehr zum Clan erlöst. Vorbei die mystische
Partizipation, durch die saughaft und getränkeartig die Wirklichkeit genommen und in Träumen und Ekstasen
abgegeben wurde, aber ewig die Erinnerung an ihre Totalisation. Es gibt nur ihn: in Wiederholungszwängen unter dem
individuell verhängten Gesetz des Werdens im Spiele der Notwendigkeit dient er diesem immanenten Traum. (III,
S. 247)
314
In: Georg Schwarz, Der Sendbote. Der Sowjet-Dramatiker Tretjakow
in Berlin, in: Die Literatur, Berlin, Jg. 33 (1930/31), S. 303.
315
Vgl. Gerhard Schusters Erläuterungen: III, S. 547f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Alle Anläufe Benns bisher, sich dem Thema der Geschichte zu nähern, waren also dessen
realgeschichtlichem Charakter kaum nahegekommen. Stets blieben sie im Umkreis
kulturgeschichtlicher Überlegungen, bei Gedanken zum Problemkreis des Individuums und
der Gesellschaft, stehen. Benns Beschäftigung mit den zeitgeschichtlichen bzw.
gesellschaftlichen Ereignissen konzentrierte sich in kulturspezifischer Gesellschaftskritik,
die meist in eine Beziehung zur Kunstproduktion gebracht wurde. Sieht man sich die Art
und Weise der Betrachtung genauer an, so wird man unweigerlich die Ähnlichkeit zu den
den Raum in der synoptischen Zusammenschau mythisch konstituierenden Gedichten wie
z.B. "Banane" oder "Osterinsel" erkennen. Einige Äußerungen helfen hier weiter:
Auf den alten Schlössern der Großmogule klatschen die Antennen: Vernichtung des
Raums: an den Hängen des Himalaya, am Rand Tibets, im Anblick des Mount Everest
steht der Achtröhrenapparat und hier diktiert Grimsby und die Königswusterhausen. Erst
Piraten, dann die Militärs, jetzt die Wissenschaftler. Magie der Technik: Der Atlantik wird in
die Kalahari geschleust, neue Himmel, neue Niederschläge, neue Klimen, und vom Sudan
bis zum Njassaland pflanzen die Baumwolltrusts von Lancashire ihre eigenen Malvaceen.
Fahrräder nach Uganda! Im Pendschab wiederum umfaßt sein Blick die Wälder, das
jungfräuliche Schweigen. Das sind die Blicke, das sind tiefe Blicke, das sind geradezu
Transpirationsblicke -: da schwitzen die Palmen Margarine aus und die Akazien Rubber, -
von den 2800 verschiedenen Bäumen der indischen Forsten sind 500 im Welthandel,
davon 60 stark gefragt, dieser Blick ruht auf Blattdachamortisationen,
Bambuspfandbriefen, Kindern Floras, träumerisch aus dem Erdreich wachsen Pfunde und
Guineen. (III, S. 302f.)
Vernichtung des Raums. Trotz der teilweisen Bezogenheit auf das Thema der Technik und
des modernen internationalen Handels liegt das eigentliche Problem, worum es hier geht,
in der zeitgeschichtlichen Raumstruktur. Der sogenannte transpiratorische, oder mythisch-
raumhafte Blick trägt diesem Rechnung. Die moderne Gesellschaft stellt sich für Benn als
das Problem der gleichzeitigen Heterogenität und der Unüberschaubarkeit des
Geschehens dar316, und, obgleich Technik und Kapitalismus die Welt zusammenrücken
316
Bereits Arno Holz (Hans W. Fischer [Hg.], A. H., Das Werk, Erste
Ausgabe, Bd. X, Berlin 1925, S. 651) und der Naturalismus als der
ersten wirklich modernen Bewegung in der deutschen Literatur
reflektierten dieses Problem. Holz' Zyklus "Phantasus" muß darum
auch als einer der ersten bricolageartigen literarischen Werke
angesehen werden, in der die moderne, in ihre Einzelbestandteile
zerfallene Welt im totalen Weltgedicht wieder zusammengesetzt
wird. Holz schreibt: "Ein Weltbild heute noch in den Rahmen irgend
einer Fabel oder Handlung spannen zu wollen, hätte mir kindliches
Vermessen geschienen! Was zu einem Weltbilde heute gehört, ist in
seinen einzelnen Bestandteilen zu weit auseinanderliegend, in
seinen Elementen zu buntwimmelnd kaleidoskopisch, als daß auch die
komplizierteste, raffinierteste Legende imstande wäre, für einen
solchen Inhalt den dazu nötigen Untergrund zu schaffen!"
Hier werden zuletzt Benns Wurzeln im Naturalismus deutlich.
Bereits Benns stark vom Materialismus Ernst Haeckels geprägtes
z.T. aber auch teilweise streng naturwissenschaftlich geprägtes
Weltbild bietet weitere Hinweise für eine fruchtbare Rezeption des
Naturalismus bei Benn, ebenso die bei Holz bereits einsetzende
Ästhetik des Häßlichen in "Das Buch der Zeit". Erste Ansätze nur
zu diesem, in der Forschung noch nicht bearbeiteten Aspekt - und
hier auch allein den naturwissenschaftlichen Hintergrund
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
lassen, ist sie dem Einzelnen nicht so ohne weiteres eins. Er behilft sich mit der
Homogenität des Mythos und seiner räumlichen Synopse, wodurch er dabei die zeitlichen
und räumlichen Brücken überwindet, ein Standpunkt, der später bei Benn im
ptolemäischen Weltbild fortgesetzt wird.317 Der Vernichtung des Raumes entspricht die
sprachliche Darstellungsart. Doch auch in dieser Zusammenschau stellt Benn auf neue Art
und Weise seine zeitgeschichtliche Kritik an den verschiedenen sozialen Ereignissen unter
Beweis. Auch gegen die unsichere und oberflächliche Selbstverständlichkeit des
gesellschaftlichen Lebens der zwanziger Jahre in der Weimarer Republik318 konstruiert er
sich in solchen Bricolagen eine durch die mythische Perspektive bedingte eigene Form,
einen anderen Raum. Für einen kurzen Augenblick scheinen Kunst und Politik in diesem
Modus zu koinzidieren.
3.1.3 Die Wende zum Faschismus: der totale Staat als Mythos
Gemeinhin sagt man, Benn sei ein politisch und geschichtlich weitgehend
desinteressierter bzw. unbedarfter Zeitgenosse der Ereignisse um ihn her gewesen.319 Die
Geschichte war ihm zu abstrus, Politik berührte seine doch weitgehend auf sich selbst und
seine inneren Probleme abgestimmte Kunst- und Mythenwelt wenig, allein mit den
faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland war eine geschichtlich-politische
Bewegung auf den Plan getreten, die Benn zu verstärkter, und nicht nur zu ästhetischer
Parteinahme veranlassen sollte; der Faschismus mit seinem elitären Rassedenken,
seinem stark ästhetischen und nicht zuletzt mythischen Gewand mußte Benn in seiner
politischen Unbeholfenheit entgegenkommen.320
Ein ähnlicher Fall der Verstrickung und Blendung durch den Faschismus war der Fall
Martin Heidegger321, ganz anders aber liegt die Sache bei Ernst Jünger. Dieser hatte sich
im Gegensatz zu Benn in seiner Frühphase weitaus mehr mit Krieg und Politik beschäftigt
als Benn, wenn auch hauptsächlich auf künstlerischem Gebiet.322 Für Benn jedoch war das
Eintreten für den neuen Staat ein neues ästhetisches Experiment, das aber bald durch die
künstlerische Grobheit und die unterschiedlichen Ansichten Benns und des
Nationalsozialismus zur Kunst scheiterte.
In der "Rede auf Marinetti", die er anläßlich eines Besuchs Marinettis im Festsaal des
Hauses der Deutschen Presse am 29. März 1934 auf die Initiative der "Union Nationaler
Schriftsteller" (mit Benn als Vizepräsidenten) hielt323, faßt er diesen ästhetisch-politischen
Entwicklungsprozeß indirekt zusammen und schafft ihm mustergültigen Ausdruck. Von
Form und Zucht und imperativem Weltbild sowie von der für diesen Gedankengang
entscheidenden Einheit von Staat und Kunst ist da die Rede: Benns Staatsvorstellung sind
stark von der ästhetischen Entwicklung geprägt. Daß es aber der Futurist Marinetti324
gerade ist, auf den Benn hin seine Gedanken so kompiliert, spricht für sich; war Benns
Entwicklung bzw. Annäherung an das ästhetische Phänomen Faschismus und seine stark
politisch-mythische Gestalt zweifelsohne durch den Mythos in den zwanziger Jahren und
davor ermöglicht worden, insofern nämlich die zunehmende Erkenntnis Benns von der
ästhetischen Manipulierbarkeit des Mythos und seiner nahezu unbegrenzten rhetorisch-
zeichenhaften Anwendbarkeit ihn für die mythosähnlichen Parteitagsaufmärsche, den
Führermythos, den Staatsmythos und vieles dergleichen mehr sensibilisieren mußte, so
nimmt, ist nämlich einmal das Ende des "alten Mythos" erklärt, unwillkürlich der Künstler,
wie Nietzsche das bereits gesehen hat325, die Rolle des Gestalters des Staates ein. Nur er
kann einen neuen Mythos, den Staatsmythos selbst erschaffen, nur der Künstler, nur die
Ästhetik kann eine letzte Legitimationsgrundlage für einen solchen Mythos liefern.
AUCH Walter Benjamin hat, als einer der ersten sogar, das Phänomen des
Faschismus unter dem ästhetischen Aspekt untersucht und solchermaßen eingeordnet:
"Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus.
Der Vergewaltigung der Massen, die er im Kult des Führers zu Boden zwingt, entspricht
die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kulturwerten dienstbar
macht. (...) Hier ist, besonders mit Rücksicht auf die Wochenschau, deren
propagandistische Bedeutung kaum überschätzt werden kann, ein technischer Umstand
von Wichtigkeit. Der massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen
besonders entgegen. In den großen Festaufzügen, den Monstreversammlungen, in den
Die "Ästhetisierung der Politik" zeigt sich nicht zuletzt in der spezifischen Propaganda und
Selbstdarstellung des Hitler-Regimes, die ihrerseits schon wieder archaische Züge wie
solche des römischen Kaiserkultes aufweist. Der Selbstdarstellung der obersten Macht
kam im Römischen Reich eine entscheidende Rolle zu. Historisch ist diese ästhetische
Inszenierung in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zwar auf den
Hellenismus zurückzuführen, doch muß die generelle Frage erlaubt sein, ob nicht eine
gewisse Selbstmythisierung prinzipiell zur Ausbildung eines künstlichen Staatsgebildes
gehört? Die Rolle der Kunst und des Künstlers rücken hierbei in das Zentrum des
Geschehens, denn nunmehr ist jedes ästhetische Experiment recht, insofern es nur den
Einheitsgedanken des Staates stärkt. Stets aber ist die epigonale und säkularisierte
Verwendung überkommener Praktiken, in diesem Fall antiker Mythen, wiederum
Voraussetzung, durch sie erlangt der politisch in die Pflicht genommene Mythos die Patina
des Verbürgten. Auch Benn erkannte am Ende dann doch noch die Verlogenheit einer
solchen imperialen Führermythologie.
Vor allem aber George Sorel hat mit seinem Verständnis politischer Mythen den Weg in
den modernen politisch-sozialen Mythos vorbereitet. Sorel beschreibt mit seinem Begriff
des "sozialen Mythos" den Mythos als auf die Gegenwart bezogenes politisches
Agitationsmittel, als politisches Potential. In dem Bild, das er schaffe, erreiche der Mythos
als eine Vorwegnahme der gesellschaftlichen Utopie schon bindende und gestalterische
Kraft, ganz gleich, ob er auch einlöse, was er verspreche.327 Benn ist hier, gleich vielen
anderen, in diese Tradition der politischen Mythen von Sorel bis Marinetti einzuordnen.328
Und auch zum Beispiel bei Thomas Mann, der sich ebenfalls eingehender mit dieser
Problematik auseinandergesetzt hat, findet sich Sorels Einfluß. Sowohl aus dem
Briefwechsel mit Karl Kerényi als auch im "Doktor Faustus" gibt es Hinweise auf Sorel:
"Niemand wird sich wundern, daß bei den Unterhaltungen dieser kulturkritischen
Avantgarde ein sieben Jahre vor dem Krieg erschienenes Buch, die >Reflexions sur la
violance< von Sorel, eine bedeutende Rolle spielte. (...)
Was noch mehr dazu berechtigte, war seine Einsicht und Verkündigung, daß im Zeitalter
der Massen die parlamentarische Diskussion sich zum Mittel politischer Willensbildung als
gänzlich ungeeignet erweisen müsse; daß an ihre Stelle in Zukunft die Versorgung der
Massen mit mythischen Fiktionen zu treten habe, die als primitive Schlachtrufe die
politischen Energien zu entfesseln, zu aktivieren bestimmt seien. Dies war in der Tat die
326
Benjamin, Kunstwerk, S. 506.
327
Georges Sorel, Über die Gewalt (Réflexions sur la violence,
Paris 1907), deutsch von Ludwig Oppenheimer, Innsbruck 1928, S.
140-144.
328
Hohendahl, Einleitung, S. 56.
Im Gegensatz dazu hält Alexander von Borman (Widerruf der
Moderne. Das Beispiel Gottfried Benn, S. 42 u. 44, in: H. A.
Glaser [Hg.], Gottfried Benn 1886 bis 1956, Referate des Essener
Colloquiums, Frankfurt a. M. u.a. 1989, S. 31-50, [= Akten
Internationaler Kongresse auf den Gebieten der Ästhetik und der
Literaturwissenschaft, Bd. 7]; im folgenden zitiert als Borman,
Widerruf der Moderne) Benns Mythos für in der politischen Stimmung
der 30er Jahre verwurzelt und für keine ästhetische Entwicklung,
sondern für einen eindeutigen Beleg von Benns Faschismus.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
krasse und erregende Prophetie des Buches, daß populäre oder vielmehr
massengerechte Mythen fortan das Vehikel der politischen Bewegung sein würden:
Fabeln, Wahnbilder, Hirngespinste, die mit Wahrheit, Vernunft, Wissenschaft überhaupt
nichts zu tun haben brauchten, um dennoch schöpferisch zu sein, Leben und Geschichte
zu bestimmen und sich damit als dynamische Realitäten zu erweisen."329
Sprechen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in diesem Zusammenhang von der
"Entmythologisierung der Sprache", die wieder "in Magie" zurückschlage330, so weist auch
Claude Lévi-Strauss auf die Funktion von politischen Ideologien als Ersatzmythen hin. Ihre
Wirkung beziehen sie nach ihm daraus, daß sie dem Bewußtsein ihren
Entstehungsprozeß verheimlichen.331 Manfred Frank hat in letzter Zeit politische Mythen
als poetologisch-artifizielle Metareflexionen der bürgerlichen Ideologien bezeichnet, die
diese dabei auf sublime Art und Weise legitimieren.332 Und auch Peter Kobbe meint, daß
die Schaffung von neuen Mythen in der Moderne immer gleichzeitig ein ideologischer
Vorgang sei333, der, um mit Roland Barthes zu sprechen, die ideale Möglichkeit darstellt,
eine selbstlegitimierende Pseudo-Natur an die Stelle der "entleerten Geschichte" zu
setzen.334 Das Problem der Geschichtslosigkeit bzw. der Ablehnung der Geschichte stellt
also einen wesentlichen Beitrag auf dem Weg in den Faschismus dar335, da durch diese
politische Leere auch gerade Mythen in diesen Bereich Einzug halten können.
Über die persönlich Bennsche existentielle Ausgangslage dieser Zeit, in der das Ich isoliert
erscheint, getrennt von jeglicher Einordnung in einen historischen Kontext, getrennt aber
auch von der Objektwelt, gefangen im Ich, das dazu noch grundlegend in Frage gestellt
wird, berichtet Benn auch in einem Brief vom 24. Februar 1929 an Gertrude Zenzes, wo er
über den Freitod seiner Freundin Lili Breda spricht. Dabei zeigt sich seine zunehmende
Isolierung und innerliche Erkaltung. Die psychische Entwicklung scheint auf einen
Wendepunkt zuzulaufen336, so daß der Faschismus auch hier, also vom Biographischen
betrachtet, ein fruchtbares Feld vorfindet.337
Wenn ich dies alles überwinde, wird irgendein neuer Mensch aus mir, ich fühle es, ich
weiß noch nicht welcher Art. Aber wohl ein kalter, armer Mensch mit einer Vakuumschicht
um sich herum, es war so viel, was ich in den letzten Jahren erlebte u. auch litt.338
329
Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, S. 486, in: Peter de
Mendelssohn (Hg.), Th. M., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden,
Bd. VI, 2. durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1974 (1960).
330
Adorno/Horkheimer, Dialektik, S. 173.
331
Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, S. 230.
332
Frank, Neue Mythologie, S. 26.
333
Kobbe, Mythos und Modernität, S. 50 u. 223f.
334
Barthes, Mythen des Alltags, S. 130-132.
335
Hillebrand, Benn, S. 38.
336
Vgl. Oskar Sahlberg, Die psychologische Wirkung des Faschismus
am Beispiel von Gottfried Benn, S. 74, in: Kürbiskern 1977, 1, S.
72-88. (im folgenden zitiert als Sahlberg, Psychologische Wirkung)
337
Judith Ryan, Ezra Pound und Gottfried Benn. Avantgarde,
Faschismus und ästhetische Autonomie, in: Reinhold Grimm u.
Hermann Jost (Hg.), Faschismus und Avantgarde, Königstein/Ts.
1980, S. 25f.
338
Max Rychner (Hg.), Gottfried Benn. Ausgewählte Briefe, Wiesbaden
1957, S. 32. (im folgenden zitiert als Rychner, Briefe)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
EINES aber hat die Forschung bei alledem gezeigt; wenngleich Benn auch -
äußerlich betrachtet - etliche Gemeinplätze mit der faschistischen Ideologie teilt
(Rassedenken, Elitentum, Führerkult, Blutsymbolik, Opferritus, etc.), so ist er auf jeden
Fall anfangs der 30er Jahre noch im Kontext der konservativen Revolution zu sehen. Die
voreilige Einordnung zum Nationalsozialismus und die undifferenzierte Zuordnung des
Bennschen Gedankengutes in dieser Zeit zur Blut- und Bodenideologie erschwert nur
unnötig ein Verständnis von dem, was Benn zu diesem Schritt veranlaßt haben könnte.339
Daß zwischen der konservativen Revolution und dem Faschismus Ähnlichkeiten
bestanden, ist unbenommen. Doch liegt gerade in der Radikalität und Absolutheit der
faschistischen Herrschafts- und Staatskonzeption der Unterschied zu den revolutionären
Konservativen; ihr Bestreben im Kampf gegen die Demokratie folgte einer Erneuerung der
Werte und der Gesellschaft, der Kampf der Nationalsozialisten ging hingegen von einer
totalen Wertleere, dem Verlust aller Werte aus, und zielte dementsprechend auf eine neue
Totalität des Lebens, fern der überkommenen gesellschaftlichen Normen und Formen.
Die Konservative Revolution trat durch und im Gefolge der "gescheiterten" zuerst
demokratischen, dann sozialen und zuletzt politisierten, unter Einschränkungen
sozialistischen Revolution von 1918-20 als ein bisher unbekannter konservativer Antipode
zum Ancien Regime und als vermeintlicher "Ausweg" aus einer geistigen und
geschichtlichen Krise340 auf.341 Wie sie Armin Mohler in seinem gleichnamigen Buch
beschreibt, ist die konservative Revolution hauptsächlich durch ihre abegrifflichen und
mythisch geprägten, radikal darwinistischen mentalen Strukturen gekennzeichnet342, doch
übersteigt ihre Radikalität nicht die Ebene der schriftlichen Äußerung. Erst die
faschistischen Bewegungen langten darüber als totalitäre Bewegungen hinaus. Dennoch
war auch Benn kein genuiner Anhänger der konservativen Revolution, denn was ihn, je
nach Perspektive, zu dieser politischen Strömung, teilweise aber auch dem Faschismus
nahebringt, hat im Grunde seine Ursachen in seiner Kunstauffassung: Erst aus der
politischen Hilflosigkeit heraus findet Benn schließlich zu den neuen politischen Akteuren
und ordnet sich dort ein.343 Mit dem Rückzug aus dem Leben auf Form und Ausdruck ist
ein vorläufiger Endpunkt und gleichzeitig auch eine Krise bezeichnet, die sowohl
existentielle als auch künstlerische Ursachen hat. Die Hinwendung zur Geschichte und zur
Erneuerung des Staates durch einen Führer schien zumindest auf anderer Ebene Abhilfe
zu schaffen.
Inwieweit Benns Ansichten sich dann doch an die offizielle Ideologie anlehnten, ist im
einzelnen jeweils zu entscheiden. Zumindest Herkunft und Ziel der Bennschen Gedanken
liegen außerhalb der Ideologie des Dritten Reiches. Gleichwohl findet sich trotz mancher
eigentümlichen Verwendung des faschistischen Gedankengutes, auch ein gemeinsamer
Nenner. Die Ablehnung der Aufklärung, der Vernunft und die Favorisierung des
Irrationalen sind solche strukturellen Gemeinsamkeiten, wobei Benn selbst seine Wende
zu diesem neuen geschichtlichen Sinn im Nationalsozialismus gerade dem Gegenteil, der
339
Schröder, Gottfried Benn, S. 143.
340
Zur Krisenhaftigkeit der politischen Mythen vgl.: Pierre Lantz,
Crise politique et crise symbolique, S. 45, in: Charles-Olivier
Carbonell (Hg.), Mythes et Politique, Presses de l'institut
d'études politiques de Toulouse 1990, S. 35-51. (im folgenden
zitiert als Lantz, Crise)
341
Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918-
1932, Ein Handbuch, zweite, völlig neu bearb. u. erweit. Fassung,
Darmstadt 1972, S. 26. (im folgenden zitiert als Mohler,
Konservative Revolution)
342
Vgl. Mohler, Konservative Revolution, S. 12 und S. 114-117.
343
Schröder, Gottfried Benn, S. 137.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Gegenbewegung zum rauschhaften Sein und zum Irrationalen, zuspricht. Das Phänomen
läßt sich erklären. Bezieht man nämlich den Kontext von Form und Zucht mit ein, so
erweisen sich diese Maßstäbe und, lediglich formaliter, antidionysischen Strukturen als
durchaus mit der in politischem Gewand wieder aufgetauchten dionyischen Kritik an der
strengen Kategorialität der apollinisch-maßvollen Kunstauffassung vereinbar, denn das
neue Form- und Zucht-Denken Benns geht weiter als die rein apollinisch verspielte
oberflächliche Kunst, als Blumen- und abgeschiedene Inselkunst. Im neuen
Staatskollektiv, als einem zu schmiedenden Kunstwerk, kommen nämlich Form und
Trance schließlich zusammen; äußerlich durch die künstlerische Form
zusammengehalten, glaubt Benn an die urtümlich mythisch und rauschhafte, tiefe innere
Kraft des neuen Staates. Kunstwerk und Politikform werden gleichgesetzt. Benn erläutert
dieses Geschehen in seinem Aufsatz "Expressionismus" von 1933, in dem er noch einmal
versucht, die rauschhafte Bewegung des Expressionismus als mit der neuen
Kunstauffassung des Dritten Reiches, also mit Zucht und kollektiver, politisch-ästhetischer
Form vereinbar zu zeigen.
Eigentlich dürfte doch wohl keiner, auch der nicht, der im Expressionismus gar nichts
ästhetisch Positives sehen will, ihm die Identität mit seiner Zeit bestreiten, auch mit deren
unangefochtenen Leistungen, ihrem nicht als volksfremd empfundenen Stil: er war die
komplette Entsprechung im Ästhetischen der modernen Physik und ihrer abstrakten
Interpretation der Welten, die expressive Parallele der nichteuklidischen Mathematik, die
die klassische Raumwelt der letzten 2000 Jahre verließ zugunsten irrealer Räume. (...) Ich
bin aber sicher, (...) daß alle die echten Expressionisten, die jetzt also etwa meines Alters
sind, dasselbe erlebt haben wie ich: daß gerade sie aus ihrer chaotischen Anlage und
Vergangenheit heraus einer nicht jeder Generation erlebbaren Entwicklung von stärkstem
inneren Zwang erlegen sind zu einer neuen Bindung und zu einem neuen geschichtlichen
Sinn. Form und Zucht steigt als Forderung von ganz besonderer Wucht aus jenem
triebhaften, gewalttätigen und rauschhaften Sein. (IV, S. 85f.)
So wie der politische Impetus der Züchtung, des strengen Maßes und Stilwillens bei Benn
auch aus seiner geistesgeschichtlich Entwicklung hin zum Formalismus resultiert, so gerät
er ob aller Versuche, damit zumindest teilweise der Kulturpolitik im Dritten Reich zu
widersprechen, dennoch in das Fahrwasser der nationalsozialistischen Sprache. Insoweit
vollführt Benn eine Quadratur des Kreises, denn während er nämlich meint, seine
künstlerische Identität bewahren und den Expressionismus verteidigen zu müssen, wird er
auf seiten des Politischen zu ideologischen Zugeständnissen getrieben, selbst wenn für
ihn alles Politische nur eine nebengeordnete, im Rahmen des Künstlerischen
lokalisierbare Rolle besaß. Auch darin liegt nicht zuletzt Benns Annäherung an Geschichte
und Gesellschaft. Trotz allem aber enthielt er sich jeder parteipolitischen Agitation, war
weder Mitglied der NSDAP noch von den Nationalsozialisten gern gesehen. Doch davon
soll hier nicht die Rede sein; was für die Thematik des Mythos von Bedeutung ist, liegt in
der künstlerischen Verflechtungen dieses Abschnitts in Benns Leben: nicht nur
biografische Ursachen und Auswirkungen hat diese Annäherung an das Dritte Reich
gehabt, sondern auch ästhetische und künstlerische.
Hinsichtlich seiner Distanz aber zum Rationalen ist Benn kein Einzelfall, wie der Vergleich
mit Jünger (siehe unten), dem Thomas Mann der "Betrachtungen eines Unpolitischen"
(siehe unten)344 und allgemein den avantgardistischen Strömungen in Europa wie
344
Auch Thomas Mann stellt in den "Betrachtungen eines
Unpolitischen" gegen die aufklärerischen abstrakten Ideale das
Organische und das Ganze des Ästhetizismus, ebenso wie er auch
Position gegen die politisch instrumentelle Vernunft bezieht, so
Hermann Kurzke (Thomas Mann, Epoche - Werk - Wirkung, München
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
IN dem bereits zitierten Essay "Irrationalismus und moderne Medizin" (1931) spricht
Benn vom ewig mythischen Rest der weißen Rasse. (III, S. 349) Der Essay zeichnet sich
ohnehin durch Gedanken zu Irrationalismen wie z.B. zu mysteriösen Heilkräften aus,
insbesondere der Warzenbesprechung. Benn hat ihr persönlich beigewohnt348, und das hat
ihn schließlich wohl auch dazu veranlaßt, die mystische Kraft des Wortes dabei
darzustellen. Benn setzt sich hier, in dieser im Herbst 1931 entstandenen zweiten Arbeit
zum Problem der Medizin (vgl. "Medizinische Krise" 1926), mit der Monographie des
Danziger Mediziners Erwin Liek "Das Wunder in der Heilkunde" (München 1930)
auseinander, der der Text teilweise folgt.349 Mystisches und Mythisches zeigen nach Benn
selbst in der Medizin ihre nicht leugbare Existenz, das Wort wird Träger der magischen
Beschwörung. Hat darum der Mythos für Rönne in der Sackgasse des Intellekts, der
modernen Wissenschaft und Medizin noch den einzigen Ausweg dargestellt, so war Benns
Faschismus weitgehend doch auch eine Fortsetzung dieser Hoffnung, und zwar die
Fortsetzung des subjektiven Irrationalismus in einer allgemeingültigen Form.350 Benn
erhoffte sich auf diese Weise vom Nationalsozialismus nicht nur die Liquidierung des
Intellektualismus, den Wandel zu einem neuen vitalistischen Menschen- und
Gesellschaftstypus, sondern er erwartete sich gleichermaßen die mythische Ausweitung
des begrenzten Einzeldaseins.351 Sowohl Nihilismus als auch die stille Sehnsucht nach
sozialer Integration des Einsamen im gesellschaftlich neu gefaßten Individuum scheinen
sich folglich erst im faschistischen Mythos aufzuheben.352 Ernst Bloch hat
dementsprechend einmal behauptet, daß in Zeiten des innergesellschaftlichen
Widerspruchs gerade der Mythos als die anthropologische Lösung unter dem Banner von
Schlagworten wie "Blut", "Wildheit", "Rausch", "Ekstasen" und dem "Wunsch nach einem
Führer" auftauche. Insoweit - trotz aller persönlichen Schattierungen - bildet der Fall Benn
auch hier keine Ausnahme.353 Aus welchen Gründen auch immer Benn sich aber dem
348
Vgl. Gerhard Schusters Erläuterungen: III, S. 554-556.
349
Ebd., S. 554.
350
Vgl. Balser, Nihilismus, S. 115.
351
Jürgen Heck, Die Dinge mystisch bannen, in: Die Kommenden, 14
(25.4.64), S. 12.
352
Balser, Nihilismus, S. 122 u. 124f; Ridley, Benn, S. 184.
353
Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt 1962, S. 114f. (=
Gesamtausgabe, Bd. 4): "Die Wirtschaftskrise, welche den Spuk
freisetzt, vollzieht sich in einem Land mit besonders
vorkapitalistischem Material. (...) Eben dies relative Chaos nun
wälzte dem Nationalsozialismus Unzeitgemäßes, Ungleichzeitiges auch aus
noch tieferer Zurückgebliebenheit, nämlich aus der Barbarei zu; und es
hätte in Deutschland keines Nietzsche bedurft, um die Antithesen
Blut gegen Geist, Wildheit gegen Moral, Rausch gegen Vernunft zu
einer Verschwörung gegen die Zivilisation werden zu lassen. Durch
den Relativismus der allgemeinen Müdigkeit brechen folglich
Bedürfnisse und Bestände der Vorzeit wie Magma durch eine dünne
Kruste; ja der Nihilismus des bürgerlichen Lebens, dieses Zur-
Ware-Werden, Entäußert-Werden der ganzen Welt zeigt hier erhaltene
Ungleichzeitigkeiten doppelt naturhaft und erhaltene Natur doppelt
magisch. So brennen dann Lagerfeuer und Opferrauch im völkischen
Saal. Posaunenstöße kündigen stärker als nur wilhelminisch den
Führer an, die dünnen Gärtchen Ideologie, welche den Mythos
falsifizieren, verschwülen real und gehen - in einer rasenden
Mittelmasse - als Dschungel auf."
Vgl. auch: Sahlberg, Phantasiewelt, S. 116.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Was bei Rönne als der Verlust der eindeutig erfahrbaren Welt begann, ein für den -
obwohl Skeptiker - naturwissenschaftlich geprägten Arzt-Dichter Benn grundlegender
Bezug, diese Entwicklung, die sich ferner in den zwanziger Jahren durch die zunehmende
Ästhetisierung der Lebensbereiche fortsetzte und anstatt einer realen Referenzgrundlage
weiterhin nur einen zunehmend auf sich selbst bezogenen Mythos favorisierte, sie kommt
gleichermaßen mit der Ausweitung des mythischen Sprechaktes auf ein scheinbar
Erfahrbares, auf eine als Schein wahrnehmbare soziale Wirklichkeit, auf das mythisch
Geschichtliche, nämlich den faschistisch-mythischen Staat, zum Stillstand und gleichzeitig
auch zu ihrem Höhepunkt.358 In der faschistischen Ästhetik glaubte Benn eine sowohl
rauschhafte als auch zugleich ästhetisch streng geformte Realität wiedergefunden zu
haben. Und nicht nur unter künstlerischen Aspekten schien der Faschismus Benn eine
neue Heimat bieten zu können, selbst noch in seiner zweifachen Prophezeiung und
Emphase, der des kollektiven und des neuen Einzelmenschen, mußte er Benns
354
Vgl. Sahlberg, Psychologische Wirkung, S. 83; Ridley, Benn, S.
183.
355
Bis zu Oskar Sahlbergs psychoanalytisch orientierten Studien
(z.B. Phantasiewelt) teilt sich die Forschung vor allem in das
Lager derer, die Benns grundsätzliches moralisches Ungenügen und
Versagen vorwerfen (Wellershof, Phänotyp; Walter Muschg, Der
Ptolemäer. Abschied von Gottfried Benn, in: Hohendahl,
Wirkungsgeschichte, S. 316-328, erstmals in: Die Zerstörung der
deutschen Literatur, 3. Aufl., Bern 1958 (1956); Peter de
Mendelssohn, Der Geist in der Despotie, Berlin 1953, S, 236ff.)
und jene, die hinsichtlich seines Engagements für den
Nationalsozialismus von Irrtum sprechen. (Reinhold Grimm,
Ergriffensein sein und dennoch unbeteiligt. Über Gottfried Benns
Verhältnis zur Geschichte, in: Hohendahl, Wirkungsgeschichte, S.
364-371, erstmals in: Welt und Wort XVI, 1961; Else Buddeberg,
Probleme);
356
Vgl. Hohendahl, Einleitung, S. 45.
357
Bernhard Ziegler (Alfred Kurella), "Nun ist dies Erbe zuende
...", S. 49, in: Fritz J. Raddatz (Hg.), Marxismus und Literatur.
Eine Dokumentation in drei Bänden, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg
1969, S. 43-50.
358
Peter Uwe Hohendahl (Einleitung, S. 40) hält hingegen in den
zwanziger Jahren eher Benns Auseinandersetzung mit der
linksliberalen Presse für den entscheidenden Anlaß, auf die
nationalsozialistische Erneuerung einzuschwenken.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
verdeckten Neigungen entgegenkommen. Doch Benn war kein originärer Faschist und er
ließ sich auch nicht nur aus Opportunismus vor den Wagen der Nationalsozialisten
spannen, wie Klaus Mann das auch noch in "Mephisto. Roman einer Karriere"
(Amsterdam 1936) sah, wo er Benn als anpassungsfähigen Literaten namens Pelz
karikiert, sondern Benn war weitgehend als politisch Unbedarfter von der Woge des
Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts erfaßt worden, ein Geschehen, das - äußerlich
betrachtet - zwar auf dem Nationalsozialismus ähnlichen Grundlagen und Wurzeln
aufbaute, jedoch letzten Endes wegen Benns poetologischen und persönlichen Strukturen
mit den Vorstellungen der Nationalsozialisten kollidieren mußte.359
Erstaunlicherweise kontrastieren aber der moderne, dynamische Mythosbegriff des
Faschismus und seine Verwendung unter den Vorzeichen einer politisch reaktionären
Struktur und deren regressiven Inhalten. Ein ähnlicher Widerspruch fällt auch auf der Seite
der Kritiker des Dritten Reichs auf, die sich weitgehend alle im Exil befanden. Sowohl
Thomas Manns mythische Behandlung der Moses-Gestalt in "Joseph und seine Brüder"360
als auch die Projektion der gesellschaftlichen Untersuchungen Theodor W. Adornos und
Max Horkheimers anhand der Odysseus-Gestalt in der "Dialektik der Aufklärung" stehen
weit hinter der Bennschen Praxis einer modernen Mythologie zurück361, denn sie
reaktivieren weitgehend doch wesentlich altertümliche Mythen: Aufklärerische Aussage
und Form stehen somit in einem krassen Mißverhältnis zueinander.
Aber auch Benn mit seiner moderneren, säkularen Mythologie geht vorerst nicht bis zum
letzten. Vielmehr bleibt er in den doch relativ reglementierten und wenig dynamischen
Mythen der faschistischen Politik verhaftet, entwickelt in dieser Zeit keine eigenen
artistischen Mythen mehr und verliert somit den Mythos als ästhetisches Potential. Der
Mythos wird zum Spielball der Ideologie. Einige inhaltliche Auszüge aus der Mythologie
dieser Zeit können das verdeutlichen.
1933 SCHREIBT Benn den Aufsatz "Züchtung", nach Oskar Sahlberg den wichtigsten
zu dieser, für Benns Weg in den Nationalsozialismus, elementaren Thematik.362 Benn
beschäftigt sich hier eingehend mit dem totalen Staat363 als der Einheit von Macht und
359
Ähnliche Schicksale und Konfliktlagen findet man auch bei Egon
Vietta, Erwin Goelz alias Frank Maraun und Peter Hamecher, die den
politischen Umsturz und den politischen Neuanfang, als eine neue
Lebensform verkennend, begrüßten. (Vgl. Hohendahl, Einleitung, S.
45)
360
Die Geschichten Jaakobs, Berlin 1933; Der junge Joseph, Berlin
1934; Joseph in Ägypten, Wien 1936; Joseph, der Ernährer,
Stockholm 1943; Joseph und seine Brüder, Stockholm u. Amsterdam
1948.
361
Vgl. Koebner, Mythenrekonstruktion, S. 74.
362
Sahlberg, Psychologische Wirkung, S. 80.
363
Der Begriff vom "totalen Staat" stammt ursprünglich aus der
Staatsrechtsdiskussion im Gefolge der Kritik an der Weimarar
Republik und ihrem Verwaltungsstaat. Vor allem Carl Schmitt (Der
Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei
Corollarien, Berlin 1963) und Heinz O. Ziegler (Autoritärer oder
totaler Staat, Tübingen 1932) prägen den Begriff im politischen
Sinn durch eine eindeutige Präferenz für das autoritäre Modell.
Ziegler (ebd., S. 6) beispielsweise meint: Die "Formel vom totalen
Staat" bezeichnet "eine immer totalere Mobilmachung der
Gesellschaft für den Staat." Staat und Gesellschaft würden
gleichgesetzt; diese Gleichsetzung führe "notwendig zu einer immer
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Geist, Individualität und Kollektivität, Freiheit und Notwendigkeit. Benn meint weiter, er [der
totale Staat; Anm. d. Verf.] ist monistisch, antidialektisch, überdauernd und autoritär. (IV,
S. 33) Damit aber verlagert Benn indirekt künstlerische Themen in den Bereich des
Politischen, seine Forderung nach apollinisch-strenger Form oder dionysisch-mythischer
Partizipation des Ichs kommen im neuen Staat zu neuer und anderer Geltung. Der
politische Nationalmythos wurde so durch die künstlerische Bemäntelung von seiten
Benns erst recht zum propagandistischen neuen Mythos hochstilisiert und schließlich vor
aller Weltöffentlichkeit hoffähig gemacht, ein Vorwurf, der zurecht auch von Klaus Mann in
seinem Brief vom 9.5.1933 an Benn anklingt, gegen den sich Benn aber eindringlich
verwehrt hat.364 Nicht aber "aus Antipathie gegen diese [linksliberalen und marxistischen
Anfeindungen; Anm. d. Verf.] aufgeblasenen Flachköpfe"365 verfiel Benn der Magie des
neuen Staates, sondern durch die Befolgung seiner biographischen und künstlerischen
Vorgaben; anstatt der abgeschlossenen, ungeschichtlichen Welt der Kunst wandte er sich
so notgedrungen und doch hoffnungsvoll dem politischen Mythos und dessen Ritual, einer
neuen Topik, zu.366 Kunst [wird] eine Staatsangelegenheit, so stellte es sich Benn 1933 in
"Expressionismus" vor, und er schließt daran an:
Der enorme biologische Instinkt für das rassenhafte Vervollkommnen, der über der ganzen
Bewegung schwebt, läßt sie in all dem Wirbel von außen- und innerpolitischen, sozialen
und pädagogischen Problemen, die sie umdrängen, nie diesen einen Gedanken aus den
Augen verlieren: hier ist, fühlt dieser Instinkt, der Schwer- und Hebepunkt der ganzen
geschichtlichen Bewegung. (IV, S. 76)
Aus diesen Worten spricht die letzte Sehnsucht des Künstlers und unfreiwilligen
Einzelgängers nach einer doch möglichen Verankerung in einem tragfähigen, völlig
anderen Lebensentwurf; der emphatische Ton kann nicht den Charakter eines
dilettantischen Konglomerats, einer spätzeitlichen Bricolage aus sozialdarwinistischen,
mythischen und Nietzscheanischen Gedanken, wie sie Benn verinnerlicht hatte,
verschweigen. Gerade aus seiner latenten Geschichtslosigkeit mußte sich der
faschistische Staatsmythos als Ausweg anbieten.367 Und darum auch spricht Benn in
seiner heftig umstrittenen Rundfunkrede "Der neue Staat und die Intellektuellen" (1933)
von der Wendung vom ökonomischen zum mythischen Kollektiv. (IV, S. 12)
Hingegen stellt sich der totale Staat in dem Essay "Züchtung" schon einheitlicher und
genauer, als die Einheit von Macht und Geist, Individualität und Kollektivität, Freiheit und
Notwendigkeit dar. (IV, S. 33) Benn verfaßte diesen Essay im Juni 1933 im
Zusammenhang mit der intensiven Propaganda der NSDAP für das am 14.7.1933
erlassene "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", wie Gerhard Schuster
meint.368 Das Prosastück "Züchtung II" von 1940 muß hingegen als Gegendarstellung
gesehen werden. Hier jedoch überwiegen die künstlerischen Themen die politischen, von
einer expliziten Parteinahme für ein solches Gesetz ist dabei nichts spüren. Hingegen
verschmilzt Benns Forderung nach apollinisch-strenger Form und Zucht mit dem Anliegen
einer dionysisch-mythischen Partizipation des Ichs im Begriff des neuen Staates und im
Politischen auf neue Weise:
Die unabsehbare geschichtliche Verwandlung formiert sich politisch zunächst unter dem
zentralen Begriff: der totale Staat. Der totale Staat, im Gegensatz zum pluralistischen der
vergangenen Epoche, dem Durchkreuzungsstaat, tritt auf mit der Behauptung völliger
Identität von Macht und Geist, Individualität und Kollektivität, Freiheit und Notwendigkeit,
er ist monistisch, antidialektisch, überdauernd und autoritär. (IV, S. 33)
Dieser Staat manifestiert sich vor allem im Führer als der Synthese des apollinisch
Schöpferischen und dem dionysisch Irrationalen.369 Das Geschichtliche in diesem Staat
wird damit zwar noch von einer gewissen anthropologisch-biologischen Perspektive
betrachtet, erhält aber vor allem als mythische und rassische Kontinuität seine eigene
Gestalt. (IV, S. 34) Wo Benn in "Aufbau der Persönlichkeit" noch von einer regressiven
368
Vgl. Gerhard Schusters Erläuterungen: IV, S. 516f.
369
Das Neue, Aufrührerische, aber gleichzeitig auch Synthetische der Verwandlung zeigt sich in dem spezifischen
Führerbegriff. Führer ist nicht der Inbegriff der Macht, ist überhaupt nicht als Terrorprinzip gedacht, sondern als
höchstes geistiges Prinzip gesehen. Führer: das ist das Schöpferische, in ihm sammeln sich die Verantwortung, die
Gefahr und die Entscheidung, auch das ganze Irrationale des ja erst durch ihn sichtbar werdenden geschichtlichen
Willens, ferner die ungeheuere Bedrohung, ohne die er nicht zu denken ist, denn er kommt ja nicht als Muster, sondern
als Ausnahme. (IV, S. 33)
Zu Benns Führermythos vgl.: Kaiser, Mythos, Rausch und Reaktion,
S. 174f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Einbindung in das archaisch Kollektive sprach, von der mystischen Partizipation, da wird
das hier zur politisch-mythischen umgewandelt.370
Nicht zuletzt zeigt sich auch der schon genannte Einfluß des Formalismus und des
Ästhetizismus explizit: Benns Staatsvorstellung ist stark ästhetisch und von seiner
Kunstauffassung geprägt. Das Herausbilden der Form weicht allerdings der Bildung eines
neugeformten Menschen. Die ästhetische Transzendenz weicht der militanten:
Gehirne muß man züchten, große Gehirne, die Deutschland verteidigen, Gehirne mit
Eckzähnen, Gebiß aus Donnerkeil. Verbrecherisch, wer den neuen Menschen träumerisch
sieht, ihn in die Zukunft schwärmt, statt ihn zu hämmern; kämpfen muß er können, das
lernt er nicht aus Märchen, Spukgeschichten, Minnesang, das lernt er unter Pfeilen, unter
Feinden, aus Gedanken. (...) Eine militante Transzendenz, ein Richtertum aus hohen
wehrenden Gesetzen, Züchtung von Rausch und Opfer für das Sein verwandlungsloser
Tiefe, Härte aus tragischem Gefühl, Form aus Schatten! (IV, S. 38f.)
Diese übertragene Funktionalisierung, die Strenge der Form und die ausdrücklich
gedanklich-intellektuelle Ausrichtung, alles Kennzeichen, die bereits in der
Kunstkonzeption und der Behandlung der Mythen bei Benn aufgetaucht waren, werden
gleichfalls zum Maßstab der, wenn schon nicht ausdrücklich artistischen (ebd.) neuen
staatlichen, dann doch stark durch die apollinische Strenge geprägten Welt. Auch wird die
bisherige Rausch- und Opfer-Topologie positiv auf das neue tragische staatsmythische
Lebensgefühl übertragen.371 Im neuen Staat lösen sich die Widersprüche zwischen
Rationalität und Irrationalität auf; durch seine strenge äußere Form werden die inneren
Unwägbarkeiten des Menschen gebunden. Apoll und Dionysos greifen ineinander.
In der Sehnsucht nach Worten, die wieder Sinn haben sollten (IV, S. 40), schließt sich
letztlich der Kreis hin zur Ausdruckswelt, zur Sprache: Benns staatspolitisches und
geschichtliches Experiment mit dem Nationalsozialismus resultierte aus der Entleerung
der Worte, der Säkularisierung der Mythen, die so in dieser realgeschichtlichen Art und
Weise wieder eine konkrete Referenz und einen realen Inhalt zu bekommen schienen,
ganz im Gegensatz zur formalistischen, apollinischen Wende zu Beginn der dreißiger
Jahre, die sich ja auf eine wort- und strukturimmanente Semantik beschränkt hatte. Ein
Blick zurück auf den Aufsatz "Expressionismus" zeigt hier, wie so der Opfertopos einer
Kunst (die sich unter diesem Begriff auch stellenweise gegen die nationalsozialistische
Kunstauffassung zur Wehr zu setzen versuchte) durch die Beschäftigung mit dem
Nationalsozialismus an sein vorläufiges Ende angelangt ist; der neue Staat verlangt keine
artistischen Opfer mehr, er ist selbst ein Kunstwerk geworden. Dennoch, wie schon
erwähnt, glaubte Benn zumindest einige Vertreter des Expressionismus vor diesem
Opfergang retten zu können:
Einige Werke und einige Männer [werden bleiben; Ergänz. d. d. Verf.], die mit dieser
expressiven Methode sich, ihren Geist, die aufgelöste, qualvolle, zerrüttete Existenz ihrer
Jahrzehnte bis in jene Sphären der Form erhoben. (...) Sehr viele Freunde der
nationalsozialistischen Bewegung betrachten die Züchtungs- und Rassenfragen skeptisch,
das ist zu naturalistisch gesehen, sagen sie, zu materialistisch. (...)
Propaganda berührt die Keimzellen, das Wort streift die Geschlechtsdrüsen, es ist gar kein
Zweifel, es ist die härteste Tatsache der Natur, daß das Gehirnleben auf die
370
Einst war seine Geschichtsdeutung der Fortschritt im zivilisatorischen Sinne, heute die Bindung rückwärts als
mythische und rassische Kontinuität. (IV, S. 34)
371
Züchtung gegen sein zerstörendes Gesicht: Vergehen der Welten. (...) Noch einmal die weiße Rasse, ihr tiefster
Traum: Entformung und Gestalt, noch einmal, im Norden: der Sieg des Griechen. Dann Asien, der neue Dschingis-
Khan. Das ist die Perspektive. Militante Transzendenz -: der neue deutsche Mensch, nie rein irdisch, nie rein formal
(...), nicht intellektualistisch, aber extrem ins Denkerische gespannt, in eine Eigengesetzlichkeit des Geistig-
Konstruktiven. Nicht artistisch, aber immer und zur Verteidigung gegen jede Macht bereit. (IV, S. 39)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Beschaffenheit des Keimplasmas Einwirkung hat, daß der Geist ein dynamisches und
gestaltendes Element ist im entwicklungsgeschichtlichen Werden, hier ist Einheit: was
politisch geprägt wird, wird organisch erzeugt.
Was politisch geprägt werden wird, wird nicht die Kunst sein, sondern ein artneues (...)
Geschlecht. (IV, S. 88f.)
Ein Blick auf "Lebensweg eines Intellektualisten" (1934) zeigt, wie Benn diesem
Ästhetizismus der Macht (Nietzsche) schließlich die ästhetische Politik als Utopie anfügt:
Die neue Jugend, die unter Hitlers Stern angetreten ist, (...) gehört der Macht - möge sie in
ihre Bestimmung gehen. Möge der Strom der Rasse sie durch ihre Jahre tragen, durch
ihre Häuser, ihre Äcker, ihre Thingplätze, ihre Gräber, bis die eine Gestalt kommt, die zu
den alten unauslöschlichen deutschen Gestalten hinzutritt und die das Neue sein wird, das
heute erst in uns dämmert und erst verwirrt aus unseren inneren Forderungen spricht. In
deren Werk wird von Angesicht zu Angesicht davon sein, was wir heute nur in einem
dunklen Wort erblicken, in dem Nietzsche-Wort von der Rechtfertigung der Welt allein als
ästhetisches Phänomen. (IV, S. 194f.)
Zu der Welt als ästhetischem Phänomen, der Kunst als letzter transzendenter Tätigkeit
und dem Drang zum formalen Ausdruck, zu diesen apollinischen Elementen einer
Wunschvorstellung des klaren Geistes trat also mit der Wende zum Faschismus die
vollkommen unintellektuelle und dunkle nordisch-mythisch Seite der Tat hinzu,
repräsentiert in der neuen geschichtlichen Schicksalsgemeinschaft und dem totalem Staat:
Geist und Tat, transzendenter Realismus oder heroischer Nihilismus, die Male der
individualistisch tragischen Ära sind nicht ganz zu löschen, doch als Ganzes mehr in Glück
gebettet als wir, das Individuum geschlossen, weniger faustisch als allgemein.
Zusammengeschmolzen die Architektur des Südens und die Lyrik des Nebellandes. (IV, S.
90)
Wie wichtig der Topos des Geistes für die Mythenbildung geworden ist, sei es die
künstlerische oder sei es auch die politische, das mag eine Passage aus "Nach dem
Nihilismus" (1932) verdeutlichen; der Mythos zeigt sich zuletzt auch hier als eine be-
deutende schöpferische Funktion:
Haben wir noch die Kraft, so fragt der Verfasser, dem wissenschaftlich determinierenden
Weltbild gegenüber ein Ich schöpferischer Freiheit zu behaupten, haben wir noch die
Kraft, nicht aus ökonomischen Chiliasmen und politischen Mythologemen, sondern aus
der Macht des alten abendländischen Denkens heraus die materialistisch-mechanische
Formwelt zu durchstoßen und aus einer sich selbst setzenden Idealität und in einem sich
selbst zügelnden Maß die Bilder tieferer Welten zu entwerfen? Also konstruktiver Geist als
betontes und bewußtes Prinzip weitgehender Befreiung von jedem Materialismus,
psychologischer, deszendenztheoretischer, physikalischer, ganz zu schweigen
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
soziologischer Art -, konstruktiver Geist als der eigentliche anthropologische Stil, als die
eigentliche Hominidensubstanz, die mythenbildend sich entfaltend, ewig metaphorisch
überglänzt, den Menschheitsweg vollendete in der Irrealität des Lichts, in dem
Phantomcharakter aller Dinge, in einer Art von weither betriebenem Spiel. (III, S. 394)
Was also einerseits, wie hier beschrieben, der Mythos leistete, nämlich die Aufhebung der
Individuation im ästhetischen, spielerischen Konstrukt, diese Aufgabe bzw. Hoffnung
überträgt Benn dem neuen mythischen Staat. Sinnbildlich wird das in der Synthese des
Mythos vom Süden mit dem des Nordens. Auf jeden Fall aber ist dieser Staat sowohl von
Benns Stil- und Formstreben als auch von der ihm und dem Nationalsozialismus
gemeinsamen irrationalen Komponente geprägt. Mythisierung und Ästhetisierung der
Politik und des Staates gehören somit ebenso zusammen wie die Mythisierung und
Formalisierung von Benns Kunst.
Wenn also die poetische Imagination auf jene Bereiche der Politik übergreift, dann
entsteht eine "Mythisierung der Politik", eine "Politisierung des Mythos", die
"Ästhetisierung der Politik".372 "Die politische Ordnung wird zum Kunstwerk stilisiert, die
poetische Kraft des Mythos so mißverstanden. (...) Der Staat wird zum
Gesamtkunstwerk."373 Die Ähnlichkeit dieser hier kurz ausgebreiteten Politikform mit einem
künstlerisch in Szene gesetzten Kunstwerk ist unstrittig. 1946 hat Ernst Cassirer diese
Verbindung von Artefakt und Ritus zur Politik bezüglich des Dritten Reiches auch als die
zentralen Kennzeichen eines neuen politischen Mythos bezeichnet:
"The new political myths do not grow up freely; they are not wild fruits of an exuberant
imagination. They are artifical things fabricated by very skilful and cunning artisans. It has
been reserved for the twentieth century, our own great technical age, to develop an new
technique of myth. (...) The first step that had to be taken was a change in the function of
language. (...) The magic word takes precedence of the semantic word. (...) But the skilful
use of the magic word is not all. If the word is to have its full effect it has to be
supplemented by the introduction of new rites."374
Sowohl die veränderte Funktion der Sprache als auch der Ritus fungieren als die
Schrittmacher des Mythos eines neuen magischen Führerstaates, dessen magisch rituelle
Sprache allerdings durch allerlei mythische und kultische Anleihen durchsetzt ist, bei Benn
auch durch die verstärkte Verwendung einer Topik des Nordens in Abänderung der des
Südens.
Kaum, daß hier von einem Topos des Nordens gesprochen werden kann. Vielmehr führt
Benn nur nordisch-mythologische Fermente in seiner mythologisierenden
Selbstaussprache (vgl. "Ikarus") an. Bald aber, nachdem der Mythos Meer entleert ist, wird
auch der bisher südlich geprägte Mythos Meer neu konnotiert und dem Nord-Mythos
zugeordnet (Fjorde). In "Die Dänin" heißt es:
(...)
Es ist kaum zu denken:
du in dem Garten am Meer,
die Wasser heben und senken
das Ewig-Sinnlose her,
vermischte - Didos Karthagen
und vom Saharaportal -
vermischte Wasser tragen
dahin Notturn final.
Nicht mehr als uneingeschränkt existentiell und das Ich entgrenzend wird hier der Mythos
vom Meer und Süden gebraucht, das Sinnlose hat ihn teilweise ereilt. Beiläufig vermengen
sich im Topos des Meeres Norden und Süden, die eigentlich als antipodisch gedachten
Topoi.
In "Das moderne Ich" (1918/19) war der Norden hingegen noch lediglich das Gegenteil
des Südens, das sich deshalb nach dessen Klarheit sehnte376, wohingegen er in "Rede auf
Heinrich Mann" (1931) dann eigene Kontur erhielt: der Norden ist die Eruptivität des
dunklen Stoffs, die dunklen tragischen Träume. (III, S. 317) Er ist ein Gegenzug der
375
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Klaus Weissenberger,
Elegien in freien Rhythmen: Benn, "Palau", in: K. W., Formen der
Elegie von Goethe bis Celan, Bern 1969, S. 108-111; Schmitt, Das
dichterische Verfahren, S. 69-76; Liewerscheidt, Lyrik, S. 32-34;
Oestboe, Expressionismus und Montage, S. 287-292; Dietrich
Krusche, Palau - Verführung der Fremde, Zu dem Motivkomplex
"Außer-Europa" in der Lyrik Gottfried Benns, in: Jahrbuch für
Deutsch als Fremdsprache, 10 (1984/85), S. 33-44; Brian Holbeche,
Gottfried Benns "Palau", in: Seminar, 22 (1986), S. 312-323.
376
Erwachend witternd: nach südlichem Wort; in die Runde: nach: ligurischem Komplexe - tödlicher, nördlicher,
nebliger Fluch, abendländisches Funèbre. (III, S. 106)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Ordnung, der räumlich-geistigen Ordnung, der erarbeiteten Formen, der Gestalt, der
Diesseitigkeit, der Latinität? (III, S. 319) Dagegen wurde die artistische, die dionysische
Kunst, (...), die neue Kunst, die Artistik, die nachnietzscheanische Epoche, wo immer sie
groß wurde, (...) aus der Antithese aus Rausch und Zucht erkämpft. Auf der einen Seite
der tiefe Nihilismus der Werte, aber über ihm die Transzendenz der schöpferischen Lust.
(III, S. 320) Der mythische Topos des Nordens erhält so erst in und durch sein zugleich
antithetisches und synthetisches Verhältnis zum Süd-Mythos seinen eigentlichen Gehalt.
Gemeinhin gilt Julius Evola, den Benn - seinen eigenen Aussagen zufolge377 - sehr
geschätzt hat, als Vorbereiter für Benns Mythos des Nordens378, doch nach Schröder kann
Benns Nordmythos vom Geist ebenso auf Joseph Görres, Ernst M. Arndt und Theodor
Däubler zurückgeführt werden.379 Damit zeigt sich aber, daß diese Topik nicht ein
Zugeständnis an bzw. eine Übernahme aus dem Kulturfond des Nationalsozialismus war,
sondern eine eigene Genese besaß, die jedoch den ideologischen Rastern der
Nationalsozialisten angepaßt wurde. Schließlich betrachteten sowohl Benn als auch Evola
auf der Suche nach einer lebensnahen, lebensverwandelnden funktionalen politischen
Kraft den Faschismus als die Verwirklichung des Mythos, des nordischen Mythos und der
"nordischen Traditionsgemeinschaft".380 Allein 1934 bezeichnet Benn dann in dem ersten
Teil seiner Autobiographie "Lebensweg eines Intellektualisten" das Deutschtum noch als
die spannungsreichste Welt und als geniereichstes Element des Nordens, der einzigen
dämonisch-metapysischen Ergänzung der Mittelmeerwelt. (IV, S. 156)
Doch schon 1933 mit "Am Saum des nordischen Meers" hatte sich Benn weitgehend von
dem Mythos des Nordens und damit auch zum Teil vom faschistischen Spuk
verabschiedet.381
(...)
Geschmuggelt, gebrannt, geschunden
in Jurten und Bambuszelt,
die Peitsche durch Niggerwunden,
die Dollars durchs Opiumfeld -:
die hohe Rasse aus Norden,
die abendländische Pracht
im Raum ist still geworden -
aus die Mythe der Macht!
(...) (I, S. 159f.)
377
So Benn zu Julius Evolas Buch "Erhebung wider die moderne Welt" [ital. >Rivolta contro
il mondo moderno<, Milano 1934; Anm. d. Verf.]: Es ist ein Buch, dessen Idee samt
ihrer Begründung die Horizonte nahezu aller europäischen Probleme in etwas bisher Unbekanntes und Unsichtbares
weiterrückt; wer das Buch gelesen hat, wird Europa anders sehen. (IV, S. 202)
378
Schröder, Gottfried Benn, S. 165.
379
Ebd., S. 133f. u. 136.
380
Ebd., S. 167f.
381
Balser, Nihilismus, S. 134.
Zu Benns markanter Abwendung vom Nationalsozialismus vgl. auch
Jürgen Schröders jüngstes Urteil zu diesem Abschnitt in Benns
Leben (Gottfried Benn - ein Emigrant nach innen, S. 36, in:
Exilforschung, d. 12 [1994], Aspekte der künstlerischen inneren
Emigration 1933-1945, S. 31-52): "Unter den in Deutschland
gebliebenen Schriftstellern gibt es neben Gottfried Benn wohl
keinen zweiten, der in seinen Briefen, in Lyrik, Prosa und Essay
so unverhüllt, so rücksichtslos und so brutal mit dem NS-Regime und
seinem Deutschland ins Gericht gegangen ist und der in dieser
Hinsicht mehr riskiert hat als er."
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Was bleibt, anstatt des dunklen, tragischen Mythos' vom nordischen Menschen, der die
klare Latinität des Südkomplexes vom Bewußtsein befreit, das ist der Norden als das
Tiefe, der Geist, dem der oberflächliche Scheincharakter südlich klassischer Schönheit (im
Sinne Benns) mangele. Mittlerweile war auch dieser Süden - weder poetisch-psychisch
noch organisch in einem "imaginativen Schwellungsakt" (vgl. die hyperämische Theorie
der Dichtung) - als dichterisches Stimulans mehr von entscheidender Bedeutung; bereits
mit den zwanziger Jahren war die "reine Südlichkeitsverehrung" gebrochen worden.
Gerade darum hatte ja auch der Mythos vom Norden, im nationalsozialistischen Kontext
mitgeprägt, unbeschwert einen neuen Impetus abgeben können. Fern von dieser so
befrachteten mythisierten Topik wird aber letztlich im Topos des menschlich formal
gestaltenden Geistes (als das dynamisch gestaltende Element im
entwicklungsgeschichtlichen Werden [IV, S. 89]) dann insbesondere nach dem Ende des
Dritten Reiches mit den "Statischen Gedichten" ein Neuanfang versucht.382 Weder der
archaische Rausch- und Dionysoskult der Griechen noch der des Nordens, der von
Führertum und genialer Rasse, weder die formenfreudige Geistigkeit der südlichen Antike,
noch die geistige Militanz und völkische Strenge des Dritten Reiches, das für Benn
sozusagen der Inbegriff von Süden und Norden, von Rausch und Form war, kurzum als
die Synthese von Dionysos und Apoll, all diese Versuche konnten letztlich für das Problem
der halt- und bezugslosen Sprache, der Sprache im Angesicht einer verlorengegangen
Wirklichkeit, keine tragfähige Basis mehr abgegeben. Mit dem "Scheitern" des Dritten
Reiches mußte aber auch zuletzt jeder Versuch, diese Fragen mit biologischen oder
kulturanthropolgischen Inhalten zu beantworten, zweifelhaft werden. Die totale Synthese
von Kunst und Leben, die der faschistische Staat als dem Gesamtkunstwerk schlechthin
darstellte, wurde notgedrungen in Frage gestellt.
DER Nationalsozialismus jedoch hatte für Benn vorerst neue Realitäten, (...) neue
Verdichtungen, neue Einlagerungen von Substanz, geschaffen, wie es in
"Expressionismus" heißt. (IV, S. 84) Die Hoffnung auf die neue Politik des Faschismus
überstrahlte bedeutungsverheißend gleichsam seine tatsächliche Gestalt. Im Grunde
genommen nimmt so der Nationalsozialismus für Benn durchaus die Gestalt eines Mythos
an; er eröffnete neue Bedeutungshorizonte, verband dabei die Zeichen der Zeit, Sprache,
Symbole und Ereignisse zu einer neuen Semantik, er verdichtete sozusagen die Welt in
einem geschlossenen Zeit-Raum. Was Benn im Dritten Reich sah, das zeigen seine
Äußerungen, berührt den wahren historischen Kern des Nationalsozialismus relativ wenig
und kann als Ganzes durchaus als sehr subjektiv konnotiert betrachtet werden. Benn war
es weitaus weniger um den völkischen Mythos gegangen als angenommen, und auch sein
Mythos vom neuen, totalen Staat zeigte eher ästhetische denn inhaltlich der Ideologie der
Nationalsozialisten verwandte Züge. Wenn viele, wie Kolakowski schreibt, aus der
realpolitischen Niederlage Deutschlands in den nationalen und den völkischen Mythos
geflohen waren, wobei es jedoch gerade "der Inhalt der Mythen" war, der die Menschen
hätte alarmieren müssen383, so bewegte sich Benn mit seiner zunehmend formal
ausgerichteten Behandlung des Mythos, auch des politischen, weitgehend am Rand der
originär faschistischen Mythen.
382
Und dies obwohl er wie er in einem Brief vom 23.11.1947 an
seinen Verleger Peter Schifferli (Peter Schifferli [Hg.],
Gottfried Benn, Briefe an Ernst Jünger, E.R. Curtius, Max Rychner,
Zürich 1960, S. 8; im folgenden zitiert als Schifferli, Briefe)
über das Statische schreibt: Statik also heißt Rückzug auf Maß und Form, es heißt natürlich auch
ein gewisser Zweifel an Entwicklung und es heißt auch Resignation, es ist anti-faustisch.
383
Kolakowski, Mythos und Moderne, S. 194f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Obgleich der Essay "Dorische Welt" (1934) bereits zum Zeitpunkt des Abrückens vom
Nationalsozialismus entstand384, so reflektiert er doch noch einmal summarisch die
Entwicklung dieses Denkens vom absoluten Staat im Kontext des Dritten Reichs und des
Faschismus. Wenn dem Mythos - wie gesehen - bereits eine ausgeprägte Tendenz zur
Totalität eignet bzw. eine Neigung, seine eigene Welt mittels einer immanenten,
selbstreferentiellen neuen Sprache zu bilden, so war der Schritt von dieser, auch in Benns
Schreiben und Denken angelegten Struktur nicht mehr weit bis zur versuchsweisen
Umsetzung solcher Totalität in einem realgesellschaftlichen Gebilde wie dem NS-Staat.
Zudem schien der Staats-Mythos auch mit seinen völlig eigenen Symbolen und seiner
eigenen Sprache das in seiner Kunst und ihrer Ausdrucks-Sphäre vereinzelte Individuum
zu integrieren und zu erlösen. Benn übertrug den Gedanken von Zucht und Maß, Form
und ästhetischer Stringenz schlichtweg auf ein Kollektiv und entschärfte diesen damit für
das eigene Ich. Insoweit konnte dieses aus seiner, für Benn sich in der Ästhetik
abspielenden, gesellschaftlichen Bezugnahme, der ästhetisch-sozialen Verantwortung und
zugleich auch vor sich selbst entweichen. Wo sich bisher das künstlerische Ich
zunehmend in einer Welt von gedanklich-ästhetischer Kristallinität, also im Kosmos der
abgemessenen Form gefangen sah, da bietet sich nun mit der Übertragung der formalen
Prinzipien auf ein Äußeres, auf den Staat als dem zu gestaltenden Kunstwerk, die
Befreiung von dieser Züchtigung des Inneren. Darum ist in "Dorische Welt" noch immer
die Rede von der Geburt der Kunst aus dem Staat (IV, S. 145) und nicht mehr aus dem
dionysisch-rauschhaften Rönne-Komplex. Was Benn in "Züchtung" von Zucht und Form
auf das Politische übertrug, das ist also mithin nicht zuletzt die Fortsetzung des
voraufgegangenen Apollinischen und der ansatzweise formalistischen Periode im
Zusammenhang nun mit dem Staatlichen und Historischen: Apollo erscheint so schließlich
als das Züchterische. (IV, S. 146)
Schon in der "Rede auf Stefan George" (1934)385 notiert Benn: auch der
Züchtungsgedanke fällt unter dies Formproblem. Es wird also ein Zeitalter des Geistes
384
Hillebrand, Benn, S. 205f.
Die Problematik von Benns kompilierender Arbeitsmethode sowie die
Frage nach der Originalität des Textes stellt sich bei "Dorische
Welt" ganz besonders. Gerhard Schuster zieht zuletzt das Resumee,
wonach man nur von maximal sieben eigenständigen Passagen ausgehen
könne. (Vgl. Gerhard Schusters Erläuterungen: IV, S. 562-565)
Neben der Anregung zum Titel durch Heinrich Kaminskis
Orchesterwerk "Dorische Musik", einen Komponisten (1886-1946), den
Benn als Mitglied der Akademie der Künste kannte, liegen, wie das
Wodtke (Antike, S. 108-125) und Ludwig Rohner (Der deutsche Essay,
Berlin Neuwied 1966, S. 259-280) weitgehend nachgewiesen haben,
als wichtigste Vorlagen zugrunde, und zwar hauptsächlich in der
Form verschränkter Exzerpte (vgl. den Nachlaß): Hippolyte Taine,
Philosophie der Kunst, übers. von Ernst Hardt, Leipzig 1903,
insbes. S. 85-217 und Jacob Burckhardt, Griechische
Kulturgeschichte, hrsg. v. Felix Stähelin und Samuel Merian,
Stuttgart 1924. (= Gesamtausgabe, Bd. 8-11)
385
Benn verfaßte diese Rede noch ursprünglich im Auftrag Hanns
Johsts zum Tode Stefan Georges zu Beginn des Jahres 1934 für einen
Gedenkabend in der Akademie der schönen Künste, zu dessen
Ausführung es aber nicht kam, weil Benn ausgeschlossen wurde,
worauf die Rede im Oktober 1934 dann nach dem Erstdruck in "Die
Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde" (Stuttgart, Jg. 36,
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
sein. (IV, S. 110) Ferner die Kunst entstehe wie bei den Dorern in Griechenland unter dem
Schutz des Staates (IV, S. 149), die dorische Kunstausübung sei also absolut und
selbstentzündet. (IV, S. 149) Der Faktor der Macht, der bei den Futuristen noch als das
kraftvolle, aufregende Leben erschien und den Benn von Nietzsche als dem Willen zur
Macht kannte, er wird jedoch relativiert. Kunst löst sich wieder aus den Fängen und der
Inanspruchnahme, selbst der faschistisch-mythischen. Der Staat, die Macht reinigt das
Individuum (...) macht es kubisch, schafft ihm Fläche, macht es kunstfähig, (...) aber
übergehen in die Kunst, das kann die Macht nie. Sie können beide gemeinsame
Erlebnisse mythischen, volkhaften386, politischen Inhalts haben, aber die Kunst bleibt für
sich die einsame hohe Welt. (IV, S. 150)
Benn greift dadurch wieder auf Probates zurück, auf Positionen, die er vor seinem
"Bündnis" mit dem Faschismus vertreten hatte: den reinen Gedanken der Form. Nach und
nach tritt dieser aber von allen weiteren Bestimmungen der Kunst - als Sturzgeburt nach
innen, als mystische Partizipation und organisch ablaufendes Geheimnis - losgelöst
hervor. Benn schreibt am Ende von "Dorische Welt":
Die Zeitalter enden mit Kunst, und das Menschengeschlecht wird mit Kunst enden. (...)
Diese machten Götter und Kunst, dann nur Kunst. Eine späte Welt, untermauert von
Vorstufen, Frühformen des Daseins, alles reift in ihr. (III, S. 152)
Die absolute Kunst, die Form. Doch "alles Schöne ist schwer, und wer sich ihm naht, muß
nackt und einsam mit seinen Gestalten ringen" - (...) Es bleiben nur die Gesetze, die aber
überdauern die Epochen. (IV, S. 153)
trägt: die Fresse von Cäsaren und das Gehirn von Troglodyten, die Moral des
Protoplasmas und das Ehrgefühl von Hotelratten. (IV, S. 283)
Dagegen spricht Benn noch in einem Brief an Johannes Weyl vom 10.6.46 bezüglich
seines Irrtums von 1933 von gutem Glauben an den NS-Staat, von einer Hoffnung aus
völlig allgemein existentieller Perspektivenlosigkeit.389 Benns mythisch-ästhetische
Auffassung des Nationalsozialismus hat zwar dessen Form, nie aber dessen historischen
Kern erfaßt; Benn spekulierte immer mit einer kaum vorhandenen kulturellen
Tiefendimension, mit dem "deutschen Wesen" des Dritten Reiches. So kritisiert Benn zum
Beispiel auch in dem Aufsatz "Strömungen" (1940) dann den unmetaphysischen, platten
nationalsozialistischen totalen Staat, der alles Künstlerische, Innerliche, Formale und
Feine mißachte, der die Hand auf Stile, Perspektiven und Schlüsse legte, der
Vereinzelung strafrechtlich bedrohte, Verfeinerung kriminell, Leidensfähigkeit pathologisch
nannte und sich ganz allein die Bestimmung darüber zusprach, was für Fragen, was für
Schlüsse im dialektisch und ästhetischen Betrieb zu gestatten seien. Nun mußte der Geist
sich wenden, er wurde unterirdisch, nächtlich, er raschelte im Laube. (IV, S. 253)
In diesem ideologischen Kahlschlag aber, in dem sich Benn nach der inneren Abwendung
von der NS-Mythologie befindet, die Anfeindungen von seiten des "Schwarzen Korps"
hatten bald nachgelassen und seit 1935 gehört Benn wieder dem Militär an, rekurriert er
erneut auf antike Mythen.390 Bis zum Kriegsende schreibt Benn nur für die Schublade,
auch aufgrund des offiziellen Schreibverbots. Aus dieser Zeit, wo Benn als Oberstabsarzt
in Landsberg an der Warthe seinen Dienst tat, genauer gesagt datierend vom 6.11.1943,
stammt auch der Aufsatz "Pallas", worin Benn mit dem markanten Satz, Das was lebt, ist
etwas anderes als das, was denkt (IV, S. 335), für den Rest seines Schaffens im Alter
wohl den Schlußstrich nicht nur unter seine Beziehung zur Außenwelt, sondern auch unter
alle mythischen Experimente zieht, das Geistige des Menschen mit dem organisch
Vegetativen oder innerlich Seelischen in einer Form zu vereinen.391
Vor allem der antike Mythos der Pallas Athene392 erfährt so eine neue Verwendung und
Wertschätzung393, denn nur noch als Spiegel bzw. Kontrast zu seinen Gedanken dient er.
389
Rychner, Briefe, S. 101.
390
Wodtke, Antike, S. 211.
391
Vgl.: Hillebrand, Benn, S. 223. Seit 1940 verliert sich die
Bedeutung der Geschichte zugunsten der Antithese von Geist und
Leben.
392
Benn war vor allem durch die Monographie Ernst Bergmanns
(Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der
Geschlechter, Leipzig 1933 [1931]; im folgenden zitiert als
Bergmann, Erkenntnissgeist), einem Schüler Bachofens, auf den
Athene-Mythos gestoßen, wobei er aber Bergmanns "Muttergeist"
bereits in der "Akademie-Rede" (III, S. 389f.) abgefertigt hatte.
393
Wilhelm Wodtke (Antike, S. 211f. u. 216f.) meint sogar, daß
Benns dichterischer Pallas Athene-Mythos der Inbegriff des
Apollinischen beim späten Benn sei. Auch zeige sich hier wieder
einmal Benns Montagetechnik bei der Konstruktion eigener Mythen.
Den Mythos der Pallas Athene führt Wodtke (Antike, S. 216-225)
großenteils auf einen Einfluß J. J. Bachofens zurück.
Bachofen wird zwar bei Benn vereinzelt erwähnt (so vor allem
in "Dorische Welt"), allerdings steht Benn dem Mutterrecht sehr
abschätzig gegenüber (Dorisch ist jede Art von Antifeminismus. Dorisch ist der Mann, der die Vorräte
im Haus verschließt und den Frauen verbietet, den Wettspielen zuzuschauen. [IV, S. 137f.] Ihr Traum ist Züchtung und
ewige Jugend, Göttergleichheit, großer Wille, stärkster aristokratischer Rassenglaube. [IV, S. 135] Dorisch ist der
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Kalt und formal behandelt spricht kein mittelmeerisches Entrücken mehr aus ihm: Pallas,
das ist das Gesetz der Kälte (IV, S. 336), wie Benn schreibt.
Am Ende ist diese Vorsicht Benns im Umgang mit Mythen und Stoffen auch sehr wohl aus
dem gescheiterten Experiment eines künstlerisch mitgeprägten Staatsmythos zu
verstehen. Das heißt aber, Benn verwendet den antiken Mythos deswegen von neuem,
weil nach der Entleerung des Staatsmythos in der momentanen Brache nur
vorhergehende Positionen zur Verfügung stehen. "Pallas" ist der Versuch den
diskreditierten Mythos wieder auf eine andere Basis zu stellen, weniger eigendynamisch
und weniger anthropologisch, dafür mehr mythologisch.394 Hingegen erklärt sich Benns
Rekurs auf antike Mythenmotive während seiner Enttäuschung über den Faschismus auch
aus der Totenklage über den Tod seiner zweiten Frau Herta von Wedemeyer zu Ende des
Krieges. Diese privaten geschichtlichen Ereignisse gingen nicht spurlos an Benn vorüber,
und das Stimmungstief und die Leere, in die er kurz nach dem Krieg gefallenen war,
wurden durch die Beibehaltung des Schreibverbots von seiten der Besatzungsmächte
nicht gelindert.395
Neue mythische Bilder aber verweigern wegen ihrer noch relativen Ungeformtheit und
Bedeutungsleere eine "tröstende Philosophie"396, das oft im Rahmen des Mythos
interpretierte Gedicht "V. Jahrhundert" (1944) steht mit für diese Phase der nunmehr
einsetzenden "Statischen Gedichte".397 Wohl mag in dieser Suche nach Halt und
Bedeutung Benns Rückgriff auf die antikisierende Mythen liegen, nicht aber wird damit das
erklärt, was der Begriff der Statik bei Benn assoziiert, wo die Erstarrung der äußeren
Umstände mit anklingt: jedes Schicksal ruht. Doch insgesamt wird anhand der Entwicklung
des Mythos innerhalb von Benns Oeuvre durchaus deutlich, was der in "V. Jahrhundert"
geschilderte Mythos will; wer "hier" bei diesen alten Mythen landet, der muß vor Nacht
hellenische Schicksalsbegriff: das Leben ist tragisch und doch durch Maße gestillt. [IV, S. 140]),
weshalb Bachofens Mutterrecht auch keine größere Bedeutung für die
Entwicklung von Benns Mythos haben konnte. Eine Ausnahme bilden
aber die stofflichen Anleihen, die Benn bei Bachofen und dessen
Nachfolger Ernst Bergmann (Erkenntnisgeist) machte. (Siehe dazu im
einzelnen Wodtke, Antike, S. 212-225)
Zu einem weiteren antikisierenden Nachkriegsmythos Benns, dem
der Nike vgl.: Wilhelm Wodtke (Antike, S. 237f.), der meint, daß
gerade in dem Mythos der Nike alle mythisch-antiken Phasen bei
Benn neu koinzidieren und sich gestalten: die dionysische, die
orphische und die apollinische.
Anton Reininger (Leere, S. 128f.) hingegen meint, daß,
während der Mythos bei Benn in den zwanziger Jahren nur als modern
aktualisierter antiker Mythos auftauche, um eine Möglichkeit zu
bieten, das moderne Ich zu spiegeln, Benn hingegen erst in den
40er Jahren den antiken Mythos mit "Orpheus Tod" wirklich
aufgreife. Dazwischen hätte er lediglich mythische Topoi als
"abrufbare Zeichen" innerhalb seines Dichtens verwendet.
394
Susan Ray (Geschichtspessimismus, S. 21) spricht sich sogar
dafür aus, daß Benns Poetik gerade durch und im Mythos,
insbesondere eben in dem der Pallas, entstehe.
395
Vgl. Lennig, Benn, S. 132f.
396
Koebner, Mythenrekonstruktion, S. 90.
397
Nach Wilhelm Wodtke (Antike, S. 222f.) versucht Benn in den
"Statischen Gedichten" und dem "Ptolemäer" bewußt, artistisch-
ästhetisch und unter fortgesetztem Rekurs auf die Bedeutung der
Mythen dem Leben einen mythischen Sinn zu geben.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
zurück aufs Meer, denn sie bieten keinen Halt. Nur als zwischenzeitliches Refugium leistet
der stofflich fixierte attische Mythos noch Dienste, und zwar indem er mystisch dem
lyrischen Ich das Blut zu öffnen vermag. Dieser Mythos hat nur noch die Gestalt einer
Traumreminiszenz, das lyrische Ich steht unbeteiligt an diesem ehemaligen auch
entgrenzenden Teil des Südmotivs. Zudem ähnelt die Verwendung des Mythos hier eher
einer wenig originellen allegorischen Umschreibung der unmittelbaren
Nachkriegssituation. So ist der Mythos in den "Statischen Gedichten" also umso weniger
rauschaft und dionysisch, als meist zuletzt doch eine zeitliche Perspektive vorwaltet, die
den Mythos entweder als religiös-mystisches oder aber, was weitaus bedeutender ist, als
hermetisches Phänomen für sich gelten läßt.398
V. Jahrhundert
II
400
Wilhelm Wodtke (Antike, S. 186f.) zeigt an diesem Gedicht weiter
den Einfluß Rohdes auf Benns Kenntnisse der Antike. Es zeigen sich
zum Beispiel erstaunliche Parallelen bis in die Formulierung zu
Rohdes Darstellung der eleusinischen Mysterien und des von Rohde
dargestellten Mythos der Persephone in "V. Jahrhundert". Vor allem
das dionysische Element weise speziell in diesem Kontext einmal
mehr auf Rohde und nicht auf Nietzsche hin. (Vgl. Rohde, Psyche,
Bd. I, S. 284-285)
Gerade aber für den Teil II des Gedichts ergeben sich erstaunliche
Parallelen zu Rohdes Buch. "Von den 27 Wörtern der ersten
vierzeiligen Strophe", meint sogar Werner Rübe (Benn, S. 177),
"sind 19 den Anmerkungen aus PSYCHE (...) von Erwin Rohde
entnommen".
Ein Beispiel sei hervorgehoben: "Leuke (...) ist wohl ursprünglich
ein rein mythisches Local, die Insel der farblosen Geister, (...)
am Eingang des Hades. (...) Die Silberpappel als Hadesbaum und
Bekränzung der Mysten in Eleusis. (...) Es war eine unbewohnte,
dicht bewaldete, nur von zahlreichen Vögeln belebte Insel, auf der
ein Tempel und Standbild des Achill sich vorfand, darin ein Orakel
(Arr. p. 398, 32), jedenfalls, da es ohne menschliche
Dazwischenkunft fungirte, ein Loosorakel, dessen sich die
Anlandenden selbst bedienen konnten. (...) Menschen dürfen auf der
Insel nicht wohnen, aber oft landen Schiffer auf ihr, die dann vor
Nacht (wo die Geister umgehen) wieder abfahren müssen. (...) Opfer
brachten die Landenden dem Achill von den Ziegen, die, auf der
Insel ausgesetzt, dort wild lebten. Bisweilen erschien Achill den
Besuchern der Insel, andere hörten ihn den Paean singen. (...)
Nicht ganz einsam soll Achill dort leben: Patroklos ist bei ihm
(...), Helena oder Iphigenia ist ihm als Gattin gesellt." (Rohde,
Psyche, Bd. II, S. 371-373, Anm. 2)
Walter Jens (Literaturgeschichte, S. 254) behauptet zu "V.
Jahrhundert", Benn gehe zu seiner frühen synthetischen
Mythenkonzeption im "V. Jahrhundert" auf Abstand.
Den Wechsel des südlichen Raums vom Raum des ekstatischen
Lebens zum Raum des Todes betont dagegen Ulrich Meister. (Sprache
und lyrisches Ich, S. 90)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Der Mythos ist hier vor allem mit dem Gedichtschluß in die Sphäre neuzeitlicher
ästhetischer Spekulation entrückt. Die mythischen Elemente dienen sozusagen als
spielerische Bausteine der gegenwärtigen menschlichen Existenz.401
In "Provoziertes Leben" von 1943 wird hingegen sowohl der archaische als auch der im
Organischen wurzelnde Mythos von neuem wieder positiv verwendet bzw. aktualisiert.
Trotzdem hat er nichts mehr mit der für Benn typisch abendländischen historischen
Weltsicht zu schaffen, denn es handelt sich um das mythische Kollektiv als Lebensgrund,
als unreflektiertes Existenzgefühl, seine in uns noch verbliebenen Reste und die
realisierenden Prozesse. (IV, S. 316)
Auch der Staat steht diesen mythischen Lebensprinzipien nunmehr feindlich gegenüber,
Mythos aber meint in Verbindung mit dem Religiösen erneut den kollektiven rauschhaften
Ritus, der den Einzelnen in einer "Provokation des Lebens" als eine Kommunion mit dem
All verbindet.402 Benn beurteilt die Stellung des Mythos und der darin implizierten Existenz
folgendermaßen:
Alles dies sind geschichtliche Tatsachen [Mystik und archaische Bewußtseinszustände;
Anm. d. Verf.], weitverbreitete Erfahrbarkeiten, selbst biologisch beurteilt: psychologische
Fakten. Gleichwohl steht der heutige Staat dem völlig fremd gegenüber. (IV, S. 317)
Existenz heißt Nervenexistenz, das heißt Reizbarkeit, Zucht, enormes Tatsachenwissen,
Kunst. Leiden heißt am Bewußtsein leiden, nicht an Todesfällen. Arbeiten heißt Steigerung
zu geistigen Formen. Mit einem Wort: Leben heißt provoziertes Leben. (IV, S. 318)
In dem Ausdruck des provozierten Lebens liegt natürlich der Gedanke von provozierten,
das heißt durch Rausch und Drogen konstruktiv selbstentzündeten
Realitätskonstruktionen durch das Gehirn: Benns Begriff vom Mythos neigt darum zwar
wieder zum rückerinnernden Urtraum, zur innervierten Nervenexistenz, aus der die Kunst
geformt wird403, und soweit ist das alles von Benns Rönnephase her bekannt. In gewissem
Sinne schwingt darin aber auch das mit, was man bei Benn die "Schwerpunktsverlagerung
auf das Zerebrale" bezeichnen könnte. Einst in der regressiven Rönnephase noch als Last
empfunden, wird es nunmehr zum Grundstock des Existentiellen und Dichterischen. Die
selbststimulierenden Worte werden den Drogen, die das Gehirn und Bewußtsein
erweitern, gleich.
Damit tauchen also sowohl wieder die archaische Regression als auch ansatzweise
antikisierende Denkmuster nach Benns Abwendung vom Nationalsozialismus auf. Benn
war nie Parteimitglied gewesen, auch sind so gut wie keine antisemitischen Hetzereien
von ihm bekannt, und das trotz seines eigentümlichen Rassedenkens, was jedoch eher
vor seinem medizinischen und eigentümlichen anthropologisch-philosophischen
Hintergrund gesehen werden muß. Schließlich zeigt sich hieran auch, wie wenig oder wie
viel Benn und der Faschismus im Grunde gemein hatten: Benn hat den Faschismus
offenkundig großenteils mißgedeutet404, was sein Bekenntnis zum Expressionismus und
zur literarischen Avantgarde unterstrichen hat. In "Doppelleben" (1950) äußert sich Benn
noch einmal zu seiner Rolle im Dritten Reich:
Ich glaubte an eine echte Erneuerung des deutschen Volkes, die einen Ausweg aus
Rationalismus, Funktionalismus, zivilisatorischer Erstarrung finden würde, die Europa
dienen, dessen Bildung, seine kritischen Maßstäbe einschließen, Religionen und Rassen
das lassen und sich zu Nutzen übernehmen würde, was das Beste an ihnen war. (V, S.
91)
Im Grunde aber war Benn sogar durch seinen Geschichtsskeptizismus bereits in den
zwanziger Jahren über die teleologisch-prophetische Geschichtsauffasung des
Nationalsozialismus hinaus405, allein durch dessen mythologische Gewandung war es
Benn nicht zuletzt auch aufgrund seiner eigenen Mythenversessenheit wohl möglich, darin
noch etwas anderes zu sehen. Und so resultiert letzten Endes Benns Abwendung vom
Faschismus weitaus weniger aus historischer Einsicht, als vielmehr aus dem Scheitern der
Umsetzung seiner Kunstvorstellungen im nationalsozialistischen Mythos.406
Zu der Entleerung und Enttäuschung seiner mythischen Vorstellungen in der mittleren
Schaffensphase (ab 1930), die dem Ich auch keine endgültige Realität bieten konnten407,
schließt sich mit dieser Abwendung jedoch verstärkt die Erkenntnis von der eigenen
Zeitlichkeit und Hinfälligkeit und damit auch die der Worte an. Introversion, Statik und
absolute Dichtung statt Ekstase, Mythen und allgemein realer Inhalte, das sind für Benn
neue Eckpunkte der Kunst.408 Denn, sah Benn noch 1932 in "Nach dem Nihilismus" im
Mythos die Rettung der Zivilisation, so hat er nicht zuletzt doch wieder 1942 in "Pallas" das
Gegenteil bestätigt, das Nicht-mehr-zurück-in-den-Mythos-Können.409 Aus dem
einstmaligen modernen Ich ist ein "Verlorenes Ich" (1943) geworden.410
IN einem Brief an Elinor Büller vom 22. Februar 1936 behauptet Benn über sein
Schaffen retrospektiv, daß es ein Gemisch aus Heidentum, christlicher Innerlichkeit,
Glauben u Haß, Zersprengen u. Sammeln gewesen sei. Es gilt nur das Absolute. Nur das
404
Hillebrand, Benn, S. 189.
405
Koebner, Mythenrekonstruktion, S. 88.
406
Ridley, Benn, S. 127.
407
Koebner, Mythenrekonstruktion, S. 89.
408
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 91f. u. 127f. Vgl. ferner
die Gedichte "Sieh die Sterne, die Fänge" und "Vor keiner Macht zu
sinken" sowie "V. Jahrhundert".
409
Koebner, Mythenrekonstruktion, S. 91.
410
Alexander von Borman (Widerruf der Moderne, S. 41) meint hier,
daß Benn indirekt seine mythische Sehnsucht nach einer politisch-
faschistischen Umsetzung fortsetzt, indem er der verlorenen Mythe
nachtrauert.
Wahrscheinlicher, wenn auch nicht explizit nachweisbar, ist
die Verwandtschaft zu Schillers "Über naive und sentimentalische
Dichtung". Schiller schreibt: "Der Dichter, sagte ich, ist entweder
Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den
sentimentalischen Dichter." (Friedrich Schiller, Über naive und
sentimentalische Dichtung (1795), Stuttgart 1993 (1978), S. 30)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
zählt.411 Ab den späten dreißiger Jahren hat Benn den Mythos sodann auch nicht mehr als
realitätsveränderndes Phänomen verstanden, umgesetzt im NS-Staat, sondern er
reduzierte seine Sprache wieder als ein in sich geschlossenes, zunehmend artifizielles
Zeichensystem.412 Damit hat sich indirekt bereits eine neue Verbindung des
schöpferischen, künstlerischen Subjekts mit Form, der absoluten Form, als dem
Altersthema schlechthin angebahnt413, gerade aber im gestalterisch freien und zugleich
absoluten Charakter des Mythos sollte Benn eine weitere Möglichkeit für die Fortsetzung
der Formalisierung seiner Kunst erwachsen.
In der "Akademie-Rede" (1932) hatte sich Benn dergestalt schon von der Regression
abgekehrt und sich einer Wortdynamik zugewandt, eine Entwicklung, die, wie schon
gezeigt, zumindest kurz nach seinem Abrücken vom Faschismus wieder rückläufig war.
Jedoch setzt Benn dem in der "Akademie-Rede" beschriebenen - und erneut drohenden -
Verlust der psychologischen Einheit des Ichs nicht mehr die Integration des Ichs in eine
mythische Regression414 entgegen, sondern die schöpferische Wortartistik. Zugleich aber
spiegelte dieser Funktionalismus, der sich damit auch auf den Mythos erstreckt hatte, die
Entkleidung der Sprache von Stoff und Ziel hin zu einer ungebrochenen Sprachdynamik
der eigenen Bedeutungen, sprich des Mythos wider.
Das psychologische Interieur eines zum Erlebnis strebenden und dann dies Erlebnis im
Entwicklungssinne verarbeitenden Ich tritt in den Schatten, und hervor tritt ein Erkenntnis
forderndes, Begriffe bildendes, Worte schaffendes Ich, das den biographischen Ablauf nur
noch auf seine Virulenz hin sondiert, unter deren Reiz begrifflich oder perspektivisch zu
summieren. Aber dahinter steht noch eine viel allgemeinere antihistorische Tendenz. (III,
S. 387)
Funktionalismus, wissen Sie, heißt die Stunde, trägerlose Bewegung, unexistentes Sein
(...); überall imaginäre Größen, überall dynamische Phantome, selbst die konkretesten
Mächte wie Staat und Gesellschaft substantiell gar nicht mehr zu fassen. (III, S. 388)
Und um die um 1930 besonders hervortretende und für die folgende Annäherung an
mythisches Sprechen (apollinisch und faschistisch) nochmals zu unterstreichen, sei hier
eine weitere Passage aus jener Rede zitiert, in der Benn das "Wort" als Träger neuer
psychisch dynamischer Bedeutungen genauso wie als Zeichen verwendet, ein Zeichen,
das seinen eigenen Kontext bildhaft-assoziativ erschafft. Er nennt diesen Vorgang
"Halluzination" und setzt darin zwar an ästhetischen Strukturen, die noch aus den vom
Apollinischen geprägten zwanziger Jahren stammen, an, radikalisiert diese Tendenz
jedoch entschieden.415
411
Marguerite Valerie Schlüter (Hg.), Gottfried Benn. Briefe an
Elinor Büller, 1930-1937, Stuttgart 1992, S. 145. (= Gottfried
Benn, Briefe, Bd. 5) (im folgenden zitiert als Schlüter, Briefe)
412
Huber-Thoma, Triadische Struktur, S. 138f.
413
Meyer, Benn und der Expressionismus, S. 404.
414
Also hier kann man die Erkenntnis nicht basieren, Hirnblase und Suchttrieb, das ist nicht viel, beleibte
Spermatozoen auf Widerruf mit Begriffsparoxysmen, das kann die ewigen Welten wohl nicht tragen, aber der Rückweg,
die Regression, ist auch versperrt. (III, S. 389f.)
415
Erich Unger zeigte Benn 1930 mit seinem Buch (Wirklichkeit) die
ihm verwandte Theorie der imaginären "Wirklichkeitserzeugung durch
das Experiment mit der eigenen Anlage", so Wellershoffs (Phänotyp,
S. 99f.) Einschätzung. Die Bedeutung von Ungers Buch darf aber
darüber hinaus nicht überschätzt werden; das meiste, so wie im
Fall der mythisch-imaginativen Wirklichkeitskonstruktion, hatte
Benn bereits selbst für sich praktiziert. Ungers Bestimmung des
Verhältnisses von Dichtung und Mythos kam Benns
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Der Begriff und die Halluzination, sagte ich, seien die Ausdrucksmechanismen der neuen
Zerebralisationsstufe, die reine epische Anschauung, die apollinische Monotonie ebenso
wie die Entwicklungsarabeske seien es nicht mehr. (III, S. 390)
Dieser, was die die Möglichkeiten des Sprache betrifft, optimistische Versuch war aber
spätestens zusammen mit der Enttäuschung über die ästhetische Tragfähigkeit der
nationalsozialistischen Mythen schon vorab einmal mit in Frage gestellt geworden. Damit
und angesichts auch des künstlerischen Kahlschlags stand Benn erneut vor einem
Neuanfang. Es blieb allerdings auch noch die Möglichkeit eines Rückschritts auf eine
Kunst, wie er sie vor seiner faschistischen Wende verfolgt hatte. Benn tendierte, wie
bereits erwähnt, wieder zu dem, was er bereits kannte, zum Traum, zur Antike.416
Gleichwohl gestand er in "Dein ist -" (1934/35) ein, daß sein formalistisch-ästhetisches
Schaffen nicht die eigentliche "Zeichen"-Sprache des Mythos erreiche, weswegen ihm nur
die träumerische Täuschung bleibe, anstatt in mythischen allegorischen Bildern (König
und Kind) sprechen zu können. Vor dem Hintergrund des, wenn nicht mehr nach
Bestätigung durch den Nationalsozialismus, so doch zumindest nach einer gewissen
Tolerierung innerhalb der Gesellschaft im Dritten Reich strebenden Benn, gewinnt dieses
Eingeständnis richtungsweisenden Wert:
(...)
Du trägst - ach, nicht das Zeichen,
aus dem die Sagen sind,
es kommt aus hohen Reichen
ein König und ein Kind,
Noch herrscht hier eine gewisse Resignation hinsichtlich der Möglichkeit eines
Formalismus vor. Der Traum wird als Täuschung, seine Entrückungen als
Selbsttäuschung erkannt, und aus dem Rausch erwacht das Ich noch einsamer und noch
stärker in Frage gestellt: gläserne, zerbrechliche Form und Identität. Die Zeichen
beschwören nicht mehr, ihr Mythos, den sie evozieren, wird gerade wegen seiner
synthetischen und künstlichen Gestalt hinterfragt. Eine Entscheidung liegt nahe: Entweder
die existentielle lügenhafte Ausdruckswelt, die Ersatzform des Lebens verabschieden,
oder den formalistischen Weg ins Extrem fortsetzen. Zwei Gedichte markieren im weiteren
Verlauf Benns Entwicklung zur neuen Form der Artistik und Mythik nach dem Krieg418: "Ein
Wort" (1941) und das schon genannte "Verlorenes Ich" (1943). Im ersten der beiden wird
der Stellenwert und der raumbezogene Charakter der neuen formalistischen
Sprachimmanenz sichtbar:
Ein Wort
Stelle des tatsächlichen Existenzraumes ein, das Ich lebt in den Worten und Formen. Die
Worte werden mit neuer Bedeutung angereichert, jäher Sinn, flüchtig erkannte neue
Lebenszusammenhänge zeichnen sich darin ab, doch der Versuch mißlingt aufs Ganze
gesehen. Übrig bleiben das rauschhafte Entgrenzungsgefühl durch diese chiffrenhafte
Eröffnung neuer mythischer Bedeutungsräume und das Ich inmitten seiner Formen und
Worte. Wort und Raum, absolute, konsequente Form und die ich-immanente
Bedeutungsbildung sind die Folge davon.
Benn gestaltet an dieser Stelle seines Oeuvres aber auch nochmals den Abschied vom
Mythos des Staates und schafft so die Grundlage für die Übertragung des Mythos auf den
Ästhetizismus und das Formale der Nachkriegszeit.420 Bereits Else Buddeberg hat dies
treffend bemerkt: Benn wolle nach 1934 nicht mehr den Mythos real gestalten (im
Faschismus), sondern er suche ihn rein bildlich in der Literatur.421 In "Valse Triste" (1936)
thematisiert Benn dann auch diesen formalistischen Neuanfang nach dem Debakel der
Völker und der Siegesschauer.
Valse Triste
Die Form bringt das Auferstehen, sie, die neu gefaßte Verankerung der Kunst allein am
Ausdruck, setzt den Neuanfang von Benns Dichten nach der Erfahrung des Dritten
Reiches. Benns neugefundene Totalität seiner Sprache ersetzt dabei zunehmend die
Realität durch ihre eigene Ordnung und Struktur.423 In dieser Bezugnahme zum
Strukturellen zeigt sich die Parallele zum Mythos, denn auch dieser ist wesentlich durch
seine Verweisungsstruktur geprägt und gewinnt darin seine Unabhängigkeit.424 Benn
konstruiert so bewußt durch dichterische Bilder den zeitlosen Bereich des allseits
beweglichen Sprachraums, der sich im Gegensatz zur äußeren Bedrängnis, zu
Nachkriegsnot und den Tabus der politischen Ideologie durch seine Arbitrarität
auszeichnet. Man könnte aber auch sagen, Benn steckt erstmals den mythischen Raum in
420
Vgl. Hillebrand, S. 120; Wodtke, Antike, S. 225 u. 230f.
421
Buddeberg, Probleme, S. 16.
422
Zum Neuansatz der Mythen in diesem Gedicht vgl.: Wodtke, Antike,
S. 173f.
423
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 73f.
424
Siehe unten die referierten Ergebnisse der modernen
Mythenforschung, hier insbesondere zu Claude Lévi-Strauss: S. 198-
203.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Reinform ab, und zwar aufgrund einer neuen, rein sprachlichen Basis.425 Mit seiner
Konzeption der Ausdruckswelt aus der Vorrede zu "Ausdruckswelt" (1943) stellt Benn das
neue formalistische Programm vor:
Hier setzt die Philosophie der "Ausdruckswelt" ein, hinsichtlich der es an einer Stelle
heisst: "die Lehre von der Ausdruckswelt als Überwinderin des Nationalismus, des
Rassismus, der Geschichte, aber auch der menschheitlichen und individuellen Trauer, die
unser eingeborenes Erbteil ist. In irgendeinem inneren Auftrag arbeiten oder in
irgendeinem inneren Auftrag schweigen, allein und handlungslos, bis wieder die Stunde
der Erschließung kommt. (...) Nihilismus als Verneinung von Geschichte, Wirklichkeit,
Lebensbejahung ist eine große Qualität, als Realitätsleugnung schlechthin bedeutet er
eine Verringerung des Ich. Nihilismus ist eine innere Realität, nämlich eine Bestimmung,
sich in der Richtung auf ästhetische Deutung in Bewegung zu bringen, in ihm endet das
Ergebnis und die Möglichkeit der Geschichte." (IV, S. 342)
Damit ist sowohl der Abwendung von der Geschichte, der Realität als auch der
Referenzlosigkeit Bennschen Dichtens Ausdruck gegeben. Ausdruck, Form und
Existentielles verbinden sich zu einem Zustand anderer Wirklichkeitserfahrung, der des
Absoluten, des Geschlossenen, des Mythischen. Nach all den Versuchen, einen
tragfähigen Lebenszusammenhang426 zu finden, nach der von ihm stark rezipierten Krise
der Naturwissenschaften, nach ästhetischen Entgrenzungen mit psychisch-biologischen
oder anthropologischen Zielsetzungen, nach der Sehnsucht einer Aufhebung des
künstlerischen Außenseitertums und des Zwiespalts von Kunst und Leben, dem Zwiespalt
von dem, was lebt, und dem, was denkt (V, S. 136), wie Benn es selbst einmal nannte,
scheint nur noch im Kondensat dieser Gedanken und in der Verbindung und
Weiterentwicklung mancher Anlagen hieraus, also in der totalen Sphäre der sprachlichen
Imagination und Fiktion, kurzum im Mythos ein Ausweg zu bestehen. Zu einem
wesentlichen Instrument dieses ästhetischen Umwegs und Interims wurden nicht nur die
genannten antikisierende Topoi, sondern auch wieder die bereits aus den zwanziger
Jahren bekannten Blumentopoi.427
IN dem Gedicht "Astern" (1935) hält Benn zwar noch Rückschau auf den alten,
rauschhaften und mittelmeerisch-antiken Mythos der Götter, dem stellt sich aber der
einsetzende Blumenmythos, der in sich geschlossene Ausdrucks- und Bedeutungsraum
einer subjektiv bedichteten Blume als das neue Ästhetische entgegen.
Astern
In der Haltung des Noch einmal die goldenen Herden wird dieser Charakter des
Intermezzos, der kurzzeitigen Reminiszenz an den ehemaligen, aber nicht mehr so
aufrecht zu erhaltenden Impetus der regressiven Entrückung durch das Zitieren von
antiken Mythen deutlich. Hingegen gründet Benn in "Anemone" (1936/37) auf den
Trümmern der entleerten Zeichenwelt schon einen neuen künstlichen Mythos "Anemone",
Refugium und Kunstwelt zugleich. In seiner erratischen, völlig fremd der
"Blumensemantik" geprägten Behandlung, nimmt dieser Anemone-Mythos wiederum eine
eigene Bedeutung an.429
Anemone
Erschütterer -: Anemone,
die Erde ist kalt, ist nichts,
da murmelt deine Krone
ein Wort des Glaubens, des Lichts.
Erschütterer -: Anemone,
du trägst den Glauben, das Licht,
den einst der Sommer als Krone
aus großen Blüten flicht. (I, S. 134)430
428
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Schmitt, Das dichterische
Verfahren, S. 87f.; Wodtke, Anthologie, S. 192-194; Herman
Kunisch, Die deutsche Gegenwartsdichtung, München 1968, S. 98-103;
Hippe, Interpretationen, S. 66f.; Erwin Leibfried, Gottfried Benns
Gedicht "Astern" oder der Übergang von Hermeneutik in Theorie der
Geschichte, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 11
(1978), S. 141-148.
429
Paul Requadt (Südliches Wort, S. 160) meint beispielsweise auch,
daß Benns Anemone-Mythos ein Symbol der autogenetisch formalen
Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung sei.
Zum mythischen Topos der Anemone vgl. oben S. 36f.
430
Zur Gedichtinterpretation vgl. ferner: Steinhagen, Statische
Gedichte, S. 94-106; Wodtke, Anthologie, S: 191f.; Liewerscheidt,
Lyrik, S. 72f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
War einst die Anemone (vgl. das blaue Anemonenschwert) die Chiffre der ästhetischen
Entgrenzung, so erhält sie hier einen reduzierten Status. Die Blume wird vom
rauschhaften Medium zum Objekt des Betrachters, der um seinen Glauben und seine
einstmalige Hoffnung trauert. Diese Hoffnung, dem Sommer des Lebens verwandt, wird
als vertan, verloren und verlebt erfahren, die Umstände, die Enttäuschung über die
Nichtverwirklichung der subjektiv-kollektiven Erfüllung im neuen Staat des Dritten Reiches
und damit Benns Infragestellung seiner gesamten geistigen Entwicklung, seines gesamten
Weltbildes, werden dabei verschwiegen. Die Blume Anemone ist ein pars pro toto, dessen
toto, also die assoziierte Bedeutungsvielfalt, in diesem Falle weitgehend reduziert ist.
Anemone steht nahezu für sich, und ist in seiner klanglichen und sinnlichen Schönheit als
Blüte der Stellvertreter der Kunst und der schönen Form an sich.
Wo aber wie in "Welle der Nacht" (1940)431 der antike Mythos noch einmal evoziert wird, so
tritt er doch in Verein mit diesem mittlerweile nicht mehr wegzudenkenden ästhetischem
Blumenmythos auf. In dieser Vermengung zeigt sich nicht zuletzt wieder der heterogene
Charakter der mythischen Kompositionstechnik, wie man sie vor den dreißiger Jahren bei
Benn antraf. Jedoch nur kurz steigt der einstige Mythos in seiner chiffrierten, heterogen
zusammengesetzten, das heißt künstlichen Gestalt hier aus dem anzitierten südlichen
Mythos Meer auf; bald kehrt er in diesen zurück. Dem Gedicht kann 1940, zu dem
Zeitpunkt, als es entstand, zwar durchaus noch die Bedeutung einer halluzinatorisch
synästhetischen und traumhaft mythischen Revocatio des antiken Mythos zugeschrieben
werden, doch rollt die Perle zurück ins Meer, der antike Mythos erweist sich nur als kurzes
Intermezzo.
Welle der Nacht
MIT den hier skizzierten Elementen sind schließlich wesentliche Weichen für Benns
Alterswerk gestellt. Was nach dem Krieg noch an Neuem zu nennen ist, führt zur
autoreferentiellen Kunst, in der sich Benn von allen Konzepten, angefangen vom
vitalistischen Rauschdenken über das apollinisch oberflächliche Kunstschaffen bis hin zum
Geschichtlichen, weitgehend löst und in der die sich bereits anbahnende Konzeption der
absoluten Poesie bzw. Prosa auch zur letztgültigen Ausformung des Mythischen gelangt,
denn das Statisch-Absolute gilt gleichermaßen für beide, für die autonome Kunst wie auch
für den säkularen Mythos. Erst mit dem Versuch Benns, die Totalität nicht mehr psychisch
wie bei Rönne, oder gesellschaftlich wie im Mythos des Dritten Reichs und des totalen
431
Benn hat selbst in "Probleme der Lyrik" (1951) auf die
ungewöhnlich lange Entstehungszeit des Gedichts aufmerksam
gemacht. Angeblich hätten bis zu 20 Jahre zwischen der ersten und
der zweiten Strophe gelegen. (Vgl. Gerhard Schusters
Erläuterungen: I, S. 454f.)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Man würde es sich zu leicht machen, führte man Benns statische und absolute Dichtung in
seiner letzten Schaffensphase lediglich auf eine gewisse Altersstarre bzw. Enttäuschung
im Alter zurück. Benns Alterswerk stellt im Gegensatz sogar mit den wichtigsten Teil
seiner Entwicklung dar. Das Kapitel seines Oeuvres zeigt die konsequente Ausbildung all
seiner poetologischen und poetischen Ansätze, wie sie auch zumindest teilweise in dieser
Arbeit, insoweit sie das Phänomen Mythos betrafen, besprochen wurden. Wer aber
solchermaßen die verschiedenen Phasen des Mythos bei Benn überschaut, der wird
schließlich nicht umhin können, eine gewisse Parallelität zwischen Benns Handhabung
des für ihn so wichtigen Ästhetizismus resp. Formalismus und der Funktionalisierung bzw.
Säkularisation des Mythos zu erkennen, vorausgesetzt man erkennt Mythos als einen
Bestandteil der Sprache.
Zuerst von antikisierender Mythologie verfremdet, dann zu ersten formalen und
eigenständigen Mythen weitergebildet, muß man Benns Zeit und Wirken im Faschismus
zwar als durchaus darin gebundenes Phänomen, in gewisser Weise aber auch als eine
Unterbrechung auf dem Weg zur völlig puristischen, reinen absoluten Dichtung verstehen.
Letztlich vermag erst ein strukturales, sprachliches und zeichenhaftes Verständnis von
Mythos aufschlußreiche Einblicke und Parallelen in die Konzeption der absoluten Dichtung
zu gewähren.
432
Jürgen Schröder (Gottfried Benn - ein Emigrant nach innen, S.
42) spricht in seiner Untersuchung zu Benns innerer Emigration
ebenfalls von einem Rückzug in einen geschützten und sinngemäß
geschlossenen Raum: "In immer neuen Anläufen und Variationen
versucht Benn zwischen 1941 und 1943, seinen spirituellen und
ästhetischen Flucht- und Asylraum zu definieren, zu begründen und
abzusichern. Seine Essays sind gleichsam die Grenzwächter, die für
die notwendige Deckung nach außen zu sorgen haben und so seinen
ungestörten schöpferischen Rückzug nach innen ermöglichen."
433
Im Gegensatz zu der Untersuchung Harald Steinhagens zu den
"Statischen Gedichten", die das Statische über die gesamte
Bandbreite der Entwicklungsphasen Benns ausmachen zu können
glaubt, bietet sich jedoch eher der Ansatz Dieter Wellershoffs an,
der diesen Begriff für die Altersphase Benns aufspart. In
Wellershoffs Erläuterungen kommt auch der Zusammenhang mit der
absoluten Dichtung angemessen zur Geltung. (Vgl. Wellershoff,
Phänotyp, S. 139-169)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
IN einem Brief vom 18.9.1948 an seinen Verleger Max Niedermayer erklärt Benn
das Problem der absoluten Dichtung in Bezug auf seinen "Roman des Phänotyp" (1944)
folgendermaßen:
Demgegenüber ist nun im Phänotyp eine andere Frage entstanden: für ihn gibt es keine
Vergangenheit und keine Zukunft, das sind ja bürgerlich-kommerzielle Vorstellungen, es
gibt keine tragfähige Substanz mehr im Inneren und kein psychologisches Gefüge -- aber
er muß einen Satz schreiben, wie also muß der aussehen? --: In jedem Satz muß alles
stehn, er kann sich auf nichts außerhalb seiner selbst mehr beziehn, es gibt ja keinen
Anfang und es gibt kein Ende, das wären ja Raum-Zeitvorstellungen aus einer anderen
chaotischen Welt, er also muß sich selber ordnen, selber tragen, alles umschlingen, für
alles stehn - er muß - um seinem Inneren zu genügen - absolut sein in jeder Chiffre, in
jedem Wort. Das ist die Krise!435
Absolute Kunst ist insofern nicht nur die Beschränkung der Aussage auf das künstlerische
Subjekt und die Gestaltung seiner inneren Totalität, sondern sie stellt dieses auch in
Frage. Es gibt nicht nur keine Handlung und keine abgeschilderte Wirklichkeit mehr,
absolute Kunst entsteht ganz aus dem Ich und seinen Reflexionen436, und dennoch
scheitert sie immer wieder an dessen mangelnder Kohärenz, an der abhanden
gekommenen einheitlichen und folglich erzählbaren Struktur des Menschen. An die Stelle
der äußeren Wirklichkeit tritt darum die innere, die allerdings in ihrer Krisenhaftigkeit auch
keinen Gegenstand mehr abgibt. So nimmt dann der Mythos den Platz des literarischen
Bezugssystems ein, ja er selbst ist dieses sogar. Wann immer das erzählende und
reflektierende Individuum dazu neigt, sich im Kosmos der Sprache, im synthetischen
Bereich der Bedeutungen aufzuhalten, so tut es das durch die Ahnung von der darin
enthaltenden Möglichkeit, absolut zu werden. Mit der Verabsolutierung der Sprache
verabsolutiert sich der Mensch, und wie er einmal aus seiner stofflich-mythologischen
Versenkung hervorgetreten war, so verabsolutiert er sich nun zugleich als literarischer und
existentieller Kosmos.
434
Vgl. Gerth, Absolute Dichtung, S. 256f.
435
Rychner, Briefe, S. 127.
436
Diese Tendenz hat auch Georg Lukács (Theorie, S. 99) erkannt. Im
Roman des 19. Jahrhunderts bereits weist er die Voraussetzungen
hierfür nach: "Der Verlust der epischen Versinnbildlichung, die
Auflösung der Form in ein nebelhaftes und ungestaltetes
Nacheinander von Stimmungen und Reflexionen über Stimmungen, der
Ersatz der sinnlich gestalteten Fabel durch psychologische
Analyse."
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
In dem Gedicht "Hör zu:" (1954/55) wird Benns persönliche Neigung zum geschlossenen
Raum und der darin sich entwickelnden imaginären Entrückung nochmals deutlich.
Hör zu:
In "Der Ptolemäer. Berliner Novelle" (1947)437 betrachtet Benn dann diesen neuen Bereich
und Raum als der Sprache und ihrer veränderten Syntax verbunden, wenn nicht sogar
inhärent:
Der Mensch steht ganz woanders als seine Syntax, er ist ihr weit voraus. Der Mensch von
heute rechnet weder mit Vergangenheit noch Zukunft. Der Satz, den er gerade schreibt,
muß alles enthalten, vielleicht der Absatz, beim Maler vielleicht das Bild. (V, S. 33)
Wenn Benn hier Syntax sagt, so meint er die normale, konventionelle Sprache, der er wie
Werff Rönne die veränderte, neue und absolute Syntax entgegenstellt. Das ist an sich
nichts vollkommen Neues, bereits in der Rönnegeschichte "Die Insel" war von dem
Syntaxwechsel die Rede. Neu jedoch ist die stringente Ablehnung jeglichen Bezugs.
Weder besteht ein Bezug zur Geschichte noch zur Lebensrealität, weder zur Zukunft noch
zur Vergangenheit, allein die Selbstbezüglichkeit und darin die notgedrungen zu leistende
Absolutheit bleibt vor Benns Urteil bestehen. Im Gegensatz zu Rönne aber, der sich selbst
verlor, der sich entgrenzte und in Urtümliches "entschweifte", begrenzt sich dieses Ich
437
Gerhard Schuster (Erläuterungen: V, S. 277) nennt den
"Ptolemäer" "eine Fontäne von notierten Sachen". Tatsächlich sind
wiederum eine Reihe von Quellen für diesen Roman zu veranschlagen:
Unger, Wirklichkeit; Wilhelm Filchner, Om mani padme hum. Meine
China- und Tibetexpedition 1925/28, Leipzig 1940 (1929); Sven
Hedin, Eroberungszüge in Tibet, Leipzig 1940; S. H., Im Herzen von
Asien. Zehntausend Kilometer auf unbekannten Pfaden, Leipzig 1903;
Max Bense, Der Geist der Mathematik. Abschnitte aus der
Philosophie der Arithmetik und Geometrie, München Berlin 1930;
Louis Bromfield, Der große Regen, übers. v. Hans Kaempfer (im
Original: The Rains came), Berlin 1939.
Darüber hinaus muß entweder mit einer Reihe von bewußt
scheinwissenschaftlichen Zitaten gerechnet werden, oder damit, daß
es letztlich, auch trotz des Vergleichs mit den hinterlassenen
Arbeitsheften, nicht möglich sein wird, alle Anspielungen zu
erschlüsseln. (Vgl. Gerhard Schuster: V, S. 278f.)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Form schaffend; Rönne war dagegen der Formzerstörer, Benns "Ausdruckswelt" meinte
die apollinische Antithese zu Rausch und Traum, zunehmend eingegrenzt in
gesellschaftliche Belange, in die funktionale, kunstbezogene Geschichtsbetrachtung. Nun
aber ist Sprache reiner Raum, reiner Bedeutungsraum, unberührt von jeglicher
Fremdbestimmung. Es ist das Problem der absoluten Prosa. Einer Prosa außerhalb von
Raum und Zeit, ins Imaginäre gebaut, ins Momentane, Flächige gelegt (V, S. 140)438, wie
Benn es jedoch in dem Kapitel "Absolute Prosa" in "Doppelleben" (1950) beschreibt, ist im
Grunde auch das Problem des Mythos, der sich in den imaginären Raum ausbreitet, ein
fiktionaler und zugleich absoluter Raum. Das erfordert bereits der Legitimationsdruck, in
dem ein solch absolutes Zeichen ohne jegliche reale Beziehung steht. In dem Vergleich
mit der Raumstruktur einer Orange konkretisiert Benn sodann zumindest, was seinen
Roman "Der Phänotyp" als absolute Prosa auszeichnen soll:
Der Roman ist - ich bitte den jetzt folgenden Ausdruck zu beachten - orangenförmig
gebaut. Eine Orange besteht aus zahlreichen Sektoren, den einzelnen Fruchtteilen, den
Schnitten, alle gleich, alle nebeneinander, gleichwertig, die eine Schnitte enthält vielleicht
einige Kerne mehr, die andere weniger, aber sie alle tendieren nicht in die Weite, in den
Raum, sie tendieren in die Mitte, nach der weißen zähen Wurzel, die wir beim
Auseinandernehmen aus der Frucht entfernen. Diese zähe Wurzel ist der Phänotyp, der
Existentielle, nichts wie er, nur er, einen weiteren Zusammenhang der Teile gibt es nicht.
Also der Existentielle ist da, in unserem Fall in jener Kaserne, lebt dahin, denkt dahin,
spaltet sich in Gedanken und inneren Beobachtungen auf, sammelt sich aber zugleich zu
Ausdrucksversuchen, zu Schöpfertaten. (V, S. 140f.)
Die Bildung von geschlossenem Raum ist ein wesentliches Kennzeichen des
ästhetischen, sprachlichen Mythos. Obgleich Benn hier davon spricht, daß sich die
absolute Prosa nicht in den Raum hinaus erstrecke, sondern sich auf eine Mitte hin
konzentriere, so ist damit noch keine prinzipielle Raumlosigkeit gemeint. Vielmehr spricht
er von der Intensität der geschlossenen Raumstruktur der orangenartigen absoluten Prosa
gegenüber der Extension und Weite des offenen Raumes. Zieht man sodann diese
orangenhaft gebaute absolute Prosa zum Vergleich mit dem Mythos heran, so wird der
Zusammenhang evident: in der strukturell geschlossenen Form verbinden der Mythos und
diese Prosa ihre gegenseitig beinahe austauschbaren, weil nahezu ähnlichen, zumindest
aber sich gegenseitig bedingenden Teile. Die Prosa wird mythisch-absolut, weil sie sich
als eigenen, geschlossenen Bedeutungskosmos begreift.
Was hingegen den hermetischen Charakter des Raumes betrifft, so bestätigt Benn sogar
ausdrücklich dessen Bedeutung in "Doppelleben" (1950), dem großen Essay der
Selbstrechtfertigung hinsichtlich seiner inneren Emigration zur Zeit der Diktatur, und zwar
bestätigt er ihn als Grundbedingung der Kunst, im speziellen für die statische Kunst439,
dem Nenner seiner poetischen Entwicklung.
438
Wie Wolfgang Iser zurecht erkannt hat (Akte des Fingierens, S.
132), gilt die grenzüberschreitende Raumstruktur sowohl für Prosa
als auch für Lyrik, denn in letzterer konstituiere sich gerade das
lyrische Ich als Konvergenzpunkt der Raumschemata, oder, mit
anderen Worten ausgedrückt, im lyrischen Ich liegt das Zentrum des
imaginären mythischen Raumes.
439
Zum Begriff des Statischen vgl. Theo Meyer, Kunstproblematik, S.
76: "Der Begriff des Statischen zeigt bei Benn eine dreifache
Bedeutungsrichtung. Er kann verweisen erstens auf eine
metaphysische Grundsubstanz, zweitens auf den artifiziellen Modus
operandi und drittens auf die autonome Werkgestalt. Während unter
dem Begriff des Statischen Gedichts ganz offensichtlich in erster Linie
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Ein Werk entsteht nur in geschlossenem Raum. Was die Leute dynamisch nennen,
worunter sie sich etwas Revolutionäres, Fortstürmendes, Grenzeneinreißendes vorstellen,
das gehört in andere Seinsbereiche, das sind Voraussetzungen - Kunst ist statisch. (V, S.
163)
Wiederaufgreifen des Topos von der kalten Kunst deutlich. Bereits in "Lebensweg eines
Intellektualisten" schrieb Benn dazu folgendes:
Der Kunstträger (...) ist kalt, das Material muß kaltgehalten werden, er muß ja die Idee, die
Räusche, denen die anderen sich menschlich überlassen dürfen, formen, d. h. härten, kalt
machen, dem Weichen Stabilität verleihen. Er ist zynisch und behauptet auch gar nichts
anderes zu sein. (IV, S. 182)444
Kalt besagt hier zu einem gewissen Teil aber auch "nicht tangiert", sei es von Inhalt oder
Aussage, kalt heißt beziehungslos, autonom, in sich geschlossen, unberührt. Gegenüber
der vom Bezug zur lebendigen Realität geprägten Kunst und Sprache muß so eine
hermetisch-statische Kunst natürlich als "unterkühlt" ins Auge stechen. Letztlich dadurch
bedingt ist jedoch die Trennung des ästhetischen Bereichs von dem der Wirklichkeit. Das
Zeichen steht nurmehr für sich und seinesgleichen im mythischen Raum und ist
unangreifbar.
Ein weiterer partieller Widerspruch zum mittigen Einheitskonzept der absoluten Dichtung
ist das Diskontinuierliche der Kunst, denn auf die Darstellung des Zersplitterten, des
444
Vgl. "Doppelleben"; V, S. 168: Man unterscheide doch endlich zwischen Kunstträgern und
Kulturträgern (...). Der Kunstträger ist statisch asozial, lebt nur mit seinem inneren Material, er ist ganz uninteressiert
an Verbreiterung, Flächenwirkung, Aufnahmesteigerung, an Kultur. Er ist kalt, das Material muß kaltgehalten werden,
er muß ja die Idee, die Wärme, denen sich die anderen menschlich überlassen dürfen, kalt machen, härten, dem
Weichen Stabilität verleihen.
Diese spezifische Unterscheidung erinnert dabei stark an
Thomas Manns antiaufklärerische, frühe Differenzierung von Kultur
und Zivilisation: "Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form,
Haltung, Geschmack, ist irgendwie geistige Organisation der Welt,
und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild,
blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie,
Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition,
Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die
buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft,
Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptizierung, Auflösung, -
Geist. Ja, der Geist ist zivil, ist bürgerlich: er ist der
geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften, er ist
antidämonisch, antiheroisch, und es ist nur ein scheinbarer
Widersinn, wenn man sagt, daß er auch antigenial ist. Das Genie,
namentlich in der Gestalt des künstlerischen Talentes, mag wohl
Geist und die Ambition des Geistes besitzen, es mag glauben, durch
Geist und Würde zu gewinnen, und sich seiner zu Schmuck und
Wirkung bedienen, - das ändert nichts daran, daß es nach Wesen und
Herkunft ganz und gar auf die andere Seite gehört, - Ausströmung
ist einer tieferen, dunkleren und heißeren Welt, deren Verklärung
und stilistische Bändigung wir Kultur nennen." (Gedanken zum
Kriege [1914], S. 528, in: Peter de Mendelssohn [Hg.], Th. M.,
Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XIII, Nachträge, 2.
durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1974 [1960], S. 527-545)
Wo Thomas Mann aus diesem Gegensatz eher seine literarische
Standortbestimmung als spezifisch deutsch Bürgerlicher und nicht
internationaler Zivilisationsliterat ableitet, da führt Benn diese
Polarität von rauschhafter Dichtung, mythischer Lyrik und
prosaischem Zivilisationsliteratentum allerdings zur Ausarbeitung
seiner hyperämischen, absoluten Kunst.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Nebeneinanders der Dinge, legte Benn ebenso Wert. Dieser Anspruch einer
Antisynthetik445, das Verlangen nach offenen Strukturen im Gedicht446, widerspricht aber
nur vordergründig dem geschlossenen mythischen Sprach-Raum. Denn, wenn man in
Betracht zieht, daß ja gerade der mythische Raum durch diese Abgeschlossenheit und
Beziehungslosigkeit zu irgendeinem definierten oder konkreten Inhalt, im wesentlichen
also durch seine freie Kodierung und die stets ergänzbare Struktur der Bricolage
gekennzeichnet ist, so lassen sich durchaus beide Merkmale verbinden: im nach außen
hin statisch-geschlossenen Mythos herrscht intern rege Geschäftigkeit, die mythischen
Zeichen be-deuten sich in einem steten Kreislauf. Der Umstand, daß die absolute
Dichtung bei Benn keinen Bezug mehr aufweist, taucht dagegen wiederholt auf. In
"Probleme der Lyrik" (1952) umschreibt Benn den Sachverhalt noch einmal wie folgt:
Das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das
Gedicht an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, das sie faszinierend montieren.
(Ws. I, S. 1088)
LITERATURGESCHICHTLICH läßt sich, und das war Benn auch so bewußt, der Anfang
dieser Dichtung bis in das 18. Jahrhundert zurückverfolgen.449 In "Doppelleben" glaubt
Benn erste Spuren der absoluten Prosa schon bei Pascal finden zu können:
Ich fand die ersten Spuren bei Pascal, der von Schönheit schaffen spricht durch Abstand,
Rhythmus und Tonfall, durch "Wiederkehr von Vokal und Konsonant" - "die
Schwingungszahl der Schönheit", sagt er und: "Vollkommenheit durch die Anordnung von
Worten." (V, S. 140)450
445
Vgl. "Der Ptolemäer"; V, S. 27: Zugegeben: Panoptikum, Bilder, - Fragmente, von meinen
Fragen koloriert. Aber das Zusammenhang suchende Denken scheint mir noch viel unvollkommener.
446
Vgl. Wellershoff, Phänotyp, S. 163f.
447
Gerth, Absolute Dichtung, S. 242f.
448
Ridley, Benn, S. 161.
449
Reinhold Grimm, Romane des Phänotyp, in: Akzente, 9 (1962), S.
463-479.
450
In der Forschung ist diese Stelle allgemein heftig wegen ihrer
nicht eruierbaren Quellen umstritten. Fest steht aber
mittlerweile, daß Benn Pascal nur aus Sekundärquellen kannte und
so auch zitiert. Die Vermittlung durch Heinrich Mann kann nach P.
U. Hohendahl (Einleitung, S. 60) einen ersten Hinweis auf eine
solche Sekundärquelle geben, aber auch Hugo Friedrichs Aufsatz
"Pascal Paradox" (1936) könnte von Benn als Quelle herangezogen
worden sein. (Vgl. Pauler, Schönheit, S. 42f.)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Hingegen ist auch eine inhaltliche Nachfolge oder Verbindung zur frühromantisch
Schlegelschen Konzeption der "Universalpoesie"451 durchaus vorstellbar, vor allem
hinsichtlich der mythisierenden Tendenzen. Friedrich Schlegel hat wie Benn den
Kunstcharakter des neuen Mythos erkannt:
"Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet
werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle anderen
umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst
das unendliche Gedicht, welches die Keime aller anderen Gedichte verhüllt."452
Entschieden allerdings weicht Benns äußerlich statische Kunst von dem progressiven
Charakter der Romantik ab. Allein im Innern des Mythos, also in seinem "Syntagma"
(Syntagma in der abgewandelten Bedeutung, die lediglich konkretisierten Sprach-Raum
meint, also "Syntagma" als mehrdimensional im Gegensatz zum Syntagma-Begriff de
Saussures verwendet), im Innern des mythisch sprachlichen Raums und seiner dort
interpretativen Funktion ist auch eine gewisse Dynamik bei Benn nicht von der Hand zu
weisen. Und doch fehlt diesem Raum der Aspekt der romantischen Utopie; die reale Welt
wird durch diese Utopie, wie es in der Romantik der Fall war, nicht mehr berührt, Mythos
und absolute Kunst bleiben rein imaginativ.
Ein weiterer, nicht wegzudenkender Bezugspunkt von Benns Konzept der formalistisch
absoluten Ausdruckskunst ist aber Gustave Flaubert. Benn bezieht sich vor allem auf
Flauberts Stilideal, so wie er es aus Heinrich Manns Essay "Gustave Flaubert und George
Sand" (1905/10) und dem darin wiederum enthaltenen Brief Flauberts an George Sand
vom 3.4.1876 kannte.
Dann wurde diese Lage durch Flaubert berühmt, den der Anblick einiger Säulen der
Akropolis ahnen ließ, "was mit der Anordnung von Sätzen, Worten, Vokalen an
unvergänglicher Schönheit erreichbar wäre." (V, S. 140)453
Diese bereits in "Rede auf Heinrich Mann" (1931) mit dem Vorspann Die absolute Kunst
enthaltene Passage markiert hier wie dort die Verbindung von dem, was Benn Artistik
nannte, und ihrer Fortentwicklung, nämlich der absoluten Kunst. Infolge dessen ist
Flauberts sowie Mallarmés Kunstideal der poésie pure, einer Poesie nahezu vollständig
getrennt von jeglicher Welt- und Lebenswirklichkeit454, nicht nur "Grundzug modernen
451
Kaufmann, Krisen, S. 197.
452
Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie, S. 497, in:
Friedrich Schlegel, Werke in einem Band, Wien München 1971. (=
Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 23)
453
Bei Heinrich Mann (Alfred Kantorowicz [Hg.], Heinrich Mann,
Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Bd. 11, S. 88) hieß es aber
noch: "Ich erinnere mich, daß ich Herzklopfen bekam und eine
heftige Lust empfand, als ich eine Mauer der Akropolis
betrachtete, eine ganz nackte Mauer (die zur Linken, wenn man nach
den Propyläen hinaufgeht). Und ich frage mich, ob ein Buch,
unabhängig von dem, was es sagt, nicht diesselbe Wirkung
hervorbringen kann. Liegt nicht in der Genauigkeit der Wortgefüge,
der Seltenheit der Bestandteile, der Glätte der Oberfläche, der
Übereinstimmung des Ganzen, liegt darin nicht eine innere Tugend,
eine Art göttlicher Kraft, etwas Ewiges wie ein Prinzip?"
454
Zur poésie pure vgl.: H. W. Decker, Pure poetry 1925-30. Theory
and debate in France, Berkeley Los Angeles 1962; Henri Bremond, La
poésie pure, Gallimard Paris 1926.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Dichtens" allgemein, wie Hugo Friedrich meint455, sondern im speziellen auch ein
wesentlicher Faktor der absoluten Lyrik. Mallarmés symbolistisches Bekenntnis des,
"nommer un objet c'est supprimer les trois quarts de la jouissance du poème, qui est fait
du bonheur de deviner peu à peu: le suggérer, voilà le rêve"456, das hat zuletzt Umberto
Ecos Interpretation gezeigt, ist nicht nur die Vermeidung eines konkreten Sinns, sondern
durch diesen "leeren Raum um das Wort herum, (...) durch die räumliche Komposition des
Textes" wird eine "Aura des Unbestimmten" verliehen, die auf vieles hindeuten kann.457
Diese räumliche Aura ist nichts anderes als der in sich geschlossene, absolute poetische
Raum, der Mythos, der in seinem Innern durch die changierenden Beziehungen zwar
keinen eindeutigen, objektiven Sinn mehr erlaubt, nach außen hin aber dennoch
hermetisch wirkt. Erst in der in sich ruhenden Geschlossenheit des Topos, des Raumes,
gewinnt ein mythischer Text die vor jeglichem instrumentellen Zugriff geschützte Freiheit,
die seine Absolutheit, für alles und nichts zu stehen, garantiert. Letztlich kann Benn in
dieser Verwandtschaft zu Gide, Flaubert, Mallarmé und Pasqual, sei es nun explizit oder
implizit, durch bewußte Rezeption oder auch nur durch ähnliche Entwicklungstendenzen,
nicht in einem deutschen Alleingang der modernen Dichtung gesehen werden.
Weitaus wichtiger als Benns Bezug zu Gide458 ist der zu Carl Einstein. Benn und Einstein
lernten sich spätestens am 7.3.1914 bei einer gemeinsamen Lesung kennen. Und Einstein
erkannte in seiner Rezension von Benns "Gesammelten Gedichten" (1927) bereits damals
dessen Bedeutung für die, auch von ihm selbst in seinem Roman "Bebuquin oder die
Dilettanten des Wunders" (1912) intendierte, absolute Kunst: In der Abwendung vom
Gegenständlichen erfinde das lyrische Ich "eine zwanghaft geschaute Welt", worin es sich
in sich selbst abgesperrt habe.459 Er spricht von der "Geschlossenheit Bennscher
Schöpfung" und davon, daß diese zerebralen Halluzinationen zwangsmäßig, orakelhaft
herausgestoßen werden und sich zu einer Folge von Substantiven verdichteten, einem
sogenannten "Gesamtkomplex". Dies sei der "Entwurf zu heutigem Mythus", der damit das
als total gefaßte innere Geschehen abbilde.460
Mittlerweile ist zwar bekannt, daß Benn Einsteins spätere theoretische Äußerungen zur
absoluten Kunst ("Totalität" [1914]461; "Absolute Kunst und absolute Politik" [1921]462) wohl
455
Friedrich, Struktur, S. 109f.
456
Stéphane Mallarmé, Oeuvres complètes, hg. v. G. Jean-Aubry,
Gallimard Paris 1945, S. 869.
Mallarmé notiert aber weiter: "C'est le parfait usage de ce
mystère qui constitue le symbole: évoquer petit à petit un objet
pour montrer un état d'âme, ou, inversement choisir un objet et en
dégager un état d'âme, par une série de déchiffrements." (Ebd.)
Aus dieser wie bei Benn grundlegenden Verbindung der
absoluten Dichtung zum Inneren und Psychischen ergibt sich der
Raum dieser Dichtung notgedrungen als durch die Subjektivität und
das Ich begrenzt; er ist geschlossen.
457
Umberto Eco, Das Offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973 (im
Original: L'opera aperta, 1962), S. 37. (im folgenden zitiert als
Eco, Offene Kunstwerk)
458
Vgl. hierzu ergänzend: Pauler, Schönheit, S. 52-55.
459
Einstein, Benns Gedichte, S. 122.
460
Ebd., S. 122-124.
461
Carl Einstein verficht hier auch die Geschlossenheit als
Grundbedingung menschlicher Erkenntnis: "Gebilde sind erst, wenn
sie deutlich sind, Form; nur die Totalität, ihre Geschlossenheit
macht sie zum Gegenstand von Erkenntnis und ermöglicht, daß sie
realisiert werden können. Denn jede Realisierung und jede
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
nicht rezipiert hat463, doch gesteht er in einem Brief am 31.5.1944 an Oelze, daß der
"Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders" (1912) eine Vorläuferrolle für seinen gerade
entstehenden "Roman des Phänotyp" eingenommen habe, obwohl er sich nicht untersteht,
angebliche Mängel des Textes zu kritisieren.
Tatsächlich findet sich auch in diesem Roman keine Handlung mehr. Die "Dilettanten" des
Romans suchen das Wunder und die Verwandlung in der absoluten Kunst, in der die
totale Form der Aussage nur im Augenblick der Wahrnehmung Sinn erhält. Einstein
entwirft so die Idee eines abgeschlossenen, "fertigen" Textes, der sich nicht mehr an die
gewöhnlichen Maßstäbe von Raum- und Zeitstruktur hält. Erich Kleinschmidt zieht
demgemäß auch die Parallele zur Malerei:
"Wie das gemalte Bild als eine in sich geschlossene Einheit auf den Rezipienten wirkt, so
soll dies auch der Text tun. (...) Die Fiktion wird aus ihrer Objektsphäre herausgelöst, wird
autonom und entzieht sich auf diesem Wege einer gängigen, aussagelogischen
Verfügbarkeit."464
Man könnte auch sagen, der Text konstituiert seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit,
die beide nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben; er bezieht sich nur auf sich selbst,
kurzum er wird ein mythischer Raum. Zwar scheitert das Experiment Bebuquins, eine so
von jeder Konvention losgelöste Existenz zu begründen, doch stellt dieser Versuch
Einsteins/Bebuquins nichtsdestoweniger einen wichtigen Schritt zum autonomen
modernen Kunstwerk dar. Indessen hebt sich die Poetik, die dabei entsteht, doch selbst
auf, das zeigt auch die Auflösung der Subjektivität Bebuquins. In seinem Versuch der
gesteigerten Selbstreflexion und Selbstbespiegelung, also der Selbstreferenz, offenbart
sich schließlich eher die Unmöglichkeit einer solchen absoluten Prosa.465
Absolute Prosa bei Benn, Einstein, oder dem unbekannteren Frank Thieß, besteht auf alle
Fälle nicht mehr in der Nachahmung der empirischen Außenwelt466, einer geschlossenen
Psychologie oder der Darstellung einer Handlung467, sondern vielmehr tritt die Darstellung
von reinen Bewußtseinsvorgängen in den Vordergrund. In diesem inneren, monologischen
und isolierten psychischen Raum erhält der Mythos als anderer Sprach-Raum und anderer
Inhalt seine spezifische Bedeutung für die Entwicklung der absoluten Dichtung.
SCHON in "Epilog und lyrisches Ich" (1921) bezeichnete Benn sich erstmals als
totalen Denker. (III, S. 128) Hingegen war in "Der Garten von Arles" (1920) das Absolute
noch weitgehend als mit dem Traum verwandt gesehen. (III, S. 113) Benns Begriff vom
Absoluten wurde also in dieser Frühphase noch ziemlich vielseitig und unpräzise
gebraucht. Erst mit dem Essay "Zur Problematik des Dichterischen" (1929) setzte die
Suche nach einer totalen Denkweise dezidiert ein (III, S. 242); in der Regression auf das
Organische und seine psychischen Tiefenschichten zeichnete sich der Begriff des
Absoluten und Totalen wesentlich durch diese nicht poetologischen Aspekte aus. Total
und absolut waren die Attribute des numinösen kollektiven Trancebewußtseins, das in
einer mystischen bzw. tiefenpsychologischen Vereinigung des Ichs damit angestrebt
wurde. In dem Maße aber, wie Benn zu der Zeit dabei auch noch glaubte, eine
archetypisch reproduzierte Mythenwelt für das einsame Ich im Medium der Sprache finden
zu können, also wie in den Gedichten "Ikarus" und "Karyatide" sich zugleich auf die
Sprache wie auch - zumindest im weitläufigen Zitat - auf die antike Mythologie stützte, da
war auch der Begriff des Totalen durch solche außersprachlichen Inhalte noch weitgehend
vorgeprägt und noch nicht auf das rein Sprachliche reduziert.468 Mit der Regression und
der rückwärts bzw. nach innen gewandten Kunstauffassung im Kontext der mystischen
Partizipation setzt dann aber bei Benn erst die eigentliche Verabsolutierung von Kunst
ein469; das totale Denken verharrt bei sich und der Welt der Gedanken, der Sprache.
Darum ist die hieraus entstehende Konzeption einer absoluten Dichtung nicht ohne die
vorausgegangenen Säkularisationsprozesse (des Mythos und damit auch der Kunst, die
sich auf sich selbst besinnt) möglich. Bevor die Sprache sich als Absolutum und
Weltganzes des denkenden Menschen über die Welt hinwegsetzt, nur noch über ihre
eigene Welt spricht und diese darstellt, also die Welt der innersprachlichen Bedeutungen,
die die Sprache aus dem Innern des Menschen in seine Imagination enthebt, an die Stelle
der scheinbar empirischen Inhalte setzt, hie bevor muß sie sich als solche, i.e. als reine
Funktion erst einmal erkannt haben.
In der Zeit zwischen 1931 und 1935 hat Benn dann begonnen, seine wesentlichen
Gedanken zur absoluten Dichtung zu fassen, und wie Klaus Gerth feststellt, somit "vor
allem nach seinem politischen Irrtum entwickelt und verfolgt."470 Gerth stellt aber am Ende
seiner Betrachtung zurecht die Frage, ob vielmehr diese Hinwendung zur absoluten Kunst
"nicht Ausdruck einer Flucht - einer neuen Regression, zwar nicht mehr ins Biologische
466
Paul Hatvani, Prosaisches Weltbild (Heidelberg 1913), S. 301f.,
in: Paul Pörtner, Literatur-Revolution 1910-1925. Dokumente -
Manifeste - Programme, Bd. 1: Zur Ästhetik und Poetik, Darmstadt
Neuwied 1960, S. 301-303. (im folgenden zitiert als Pörtner,
Dokumente 1)
467
Alfred Döblin, Bemerkungen zum Roman (1917), S. 287, in:
Pörtner, Dokumente 1, S. 286-290; A. D., An Romanautoren und ihre
Kritiker (1913), S. 285, in: Pörtner, Dokumente 1, S. 283-286.
468
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 79-81.
469
Gerth, Absolute Dichtung, S. 240.
470
Ebd., S. 257.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
und Mythische, wohl aber in ein gläsernes Lotosland" darstelle.471 Diese Frage läßt sich
beantworten, wenn man die Genese der absoluten Dichtung bei Benn als Ganzes
betrachtet und dabei miteinbezieht, daß bereits der Mythos bei Benn zugleich regressive
als auch dynamische Elemente, und das schon seit der Frühphase, aufgewiesen hat.
Regressiv, um es noch einmal zu betonen, bezieht sich bei Benn vornehmlich auf das
Inhaltliche. Hier war Benn tatsächlich in das Biologische abgetaucht, dynamisch aber blieb
seine Sprache, die so erst die Voraussetzung für die spätere hermetische bzw. statisch-
absolute Kunst bilden konnte.
Der Gedanke der absoluten Kunst aber war erstmals in "Rede auf Heinrich Mann" (1931)
als die Thematik der absoluten Kunst im Zusammenhang mit Flaubert aufgetaucht; eine
formale, inhaltslose Kunst: Der Einbruch der Artistik -: Worte, Vokale! (III, S. 317) Die
frühen Vorstellungen von der absoluten Kunst waren dabei jedoch bereits auffällig von
dem Autonomisierungsprozeß der Zeichen geprägt gewesen472, und auch die Wende zum
Faschismus ging hier nicht spurlos vorbei; in "Der neue Staat und die Intellektuellen"
(1933) hat das "Absolute" um ein deutliches an künstlerischer Bestimmung verloren,
menschheitsdämmernde Gedanken treten an ihre Stelle: Aber der Mensch will groß sein,
das ist seine Größe; dem Absoluten gilt unausweichlich sein ganzes inneres Bemühen.
(IV, S. 20) Die gesamte Periode bis 1934, als sich Benn wieder vom Nationalsozialismus
losgesagt hatte, ist durch solche unpräzisen ästhetischen Bestimmungen zum Absoluten
gekennzeichnet, wobei das Absolute sich ausschließlich als die Vorstellung des in Benns
Staatsvorstellungen konzentrierten Totalen vorfand, man erinnere sich nur an die dorische
Kunstausübung. Von absolut und selbstentzündet (IV, S. 149) war dort die Rede gewesen.
Die absolute Kunst Benns war geprägt von der Konzeption einer Absolutheit als einer
Ausdehnung auf den Staat und das Leben. Absolut wurde wie die Begriffe von Maß, Stil
und Form zu einem Stichwort im Rahmen von Benns Vorstellungen zum
nationalsozialistischen Staat. Insoweit hat der Weg vom Biologischen über erste
formalistische Ansätze in der Konzeption der Artistik schließlich zur Vermengung der
Bereiche Staat und Kunst in der absoluten Kunst als dem totalen Staat und dem totalen
Kunstwerk geführt. Soviel ist schon bekannt, das künstlerisch gedachte Absolute
ermöglichte aber erst den totalen Staat, und dieser etablierte wiederum erstmals einen
übergreifenden absoluten mythischen Bereich.
Indes, bereits bald lassen sich in Benns weiterer Entwicklung Vorläufer der späteren
absoluten Kunstkonzeption finden, in "Kunst und Drittes Reich" (1941) notiert er:
Singen - d. h. Sätze bilden, Ausdruck finden, Artist sein, kalte einsame Arbeit machen,
dich an niemanden wenden, keine Gemeinde apostrophieren, vor allen Abgründen nur die
Wände auf ihr Echo prüfen, ihren Klang, ihren Laut, ihre koloraturistischen Effekte, (...) der
tiefe substantielle Verfall. Dies verlieh andererseits der neuen Kunst ein großes Gewicht:
hier wurde im Artistischen die Überführung der Dinge in eine neue Wirklichkeit versucht.
(...)
Die entscheidenden Dinge in die Sprache des Unverständlichen erheben; sich hingeben
an Dinge, die verdienten, daß man niemanden von ihnen überzeugt. (IV, S. 278f.)
In diesem substantiellen Verfall der Wirklichkeit findet man Benn als den "kritischen
Nihilisten"473 wieder, der hier erstmals die "metaphysische Suche" nach dem Absoluten
471
Ebd.
472
Gerth, Absolute Dichtung, S. 241.
473
Vgl.: Bruno Steidle (Erfahrung, S. 153f.) zu Benn: "So ist der
kritische Nihilist derjenige, der sich des Verlustes jenes gefunden
geglaubten Bestimmten und Absoluten zum ersten Male in aller illusionsloser
Schärfe gewiß wird und den Mut aufbringt, es einzugestehen. Wo
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
aufgibt und sich mit dem Ästhetischen letztlich begnügt.474 Bis zu den eingehend sich mit
der absoluten Dichtung beschäftigenden Aussagen Benns, wie sie bereits erörtert wurden,
war also der Weg nicht mehr weit. Denn während der frühe Benn (Rönne) noch an eine
archetypisch reproduzierbare Mythenwelt für das einsame Ich im Medium der Sprache
glaubte, geht er später weiter, indem Sprache und Mythos autonom und absolut werden.
Die "Welt", der Bezug zur Realität und am Ende auch die Referenz der Sprache auf die zu
benennenden Objekte und Sachverhalte gehen verloren, weshalb notgedrungen auch auf
dem Weg zur absoluten Sprache damit die Regression zum Urtümlichen und Archaischen
aufgegeben wird. Der Weg zur, zumindest intentionalen, absoluten Dichtung ist dabei
auch der Weg zum absoluten, in sich ruhenden ästhetischen und durch seine formale
Strukturiertheit statischen Mythos.475
IM "Roman des Phänotyp" (1944) ringt Benn noch einmal um eine Bestimmung des
Existentiellen und der Prosa476, und das ist auch äußerlich einsichtig, denn seit Mitte
August 1943 leistete er seinen äußerlich ereignislosen und zurückgezogenen Dienst in
Landsberg an der Warthe. Auch mag das ansatzweise eine Erklärung für seine enorme
Lektüreleistung in dieser Zeit geben, denn durch diese Lektüre hielt er sich wohl für den
Mangel an Erlebnissen schadlos. Im einzelnen ist für das eigentümlich bricolageartige
Werk "Roman des Phänotyp" jedoch nicht mehr genau zu ermitteln, welche Quellen und
Vorlagen Benn benutzt hat, mit Ausnahme einiger Kapitel.477 Thematisch hingegen ist
sich diese Gewißheit aber einstellt, bietet sie auch schon den
Verweis auf einen neuen Horizont möglicher Existenzbewältigung."
474
Auch nach Wilhelm Wodtke (Antike, S. 221) ist der Mythos beim
statischen, späten Benn nur noch im Ästhetischen faßbar.
Vgl. ferner: Steidle, Erfahrung, S. 153.
Im Gegensatz zu der hier verfolgten Linie der Autonomisierung
der Kunst sieht aber beispielsweise Eugen Gürster (Das Schöne und
das Nichts. Die Welt Gottfried Benns, S. 316, in: Hochland, 4.
Heft, Jg. 47 [April 1955], S. 310-321) Benns absolute Poesie
durchgehend als ein narkotisches und prinzipiell rauschhaftes
Phänomen an.
475
Vgl. Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 79-81.
476
Die "Existenz" ist die Stimmung, die ihn bewegt und die er fordert, hart und unaufhörlich. (...) "Existentiell" (...)
zieht das Schwergewicht des Ich vom Psychologisch-Kasuistischen ins Arthafte, Dunkle, Geschlossene, in den Stamm.
(IV, S. 388f.)
Nein, er will nichts künden. Er ist leer, leer, Triebe füllen; ihr Schwellungscharakter ist im Phallus so wunderbar
klargestellt, so sonnig, alle Fleischmarken für einen Pferdetrieb - er ist leer, leer. Er weiß, daß es nichts zu künden gibt,
was sich nicht im Einzelnen, in einzelnen Einzelnen, selbst verkündet. Es gibt die Kette dieser Einzelnen. (...) Heute ist,
das Nebeneinander der Dinge zu ertragen und es zum Ausdruck zu bringen, auftragsgemäßer und seinserfüllter.
(Ebd., S. 396)
Fröste des Isoliertseins, blutleerer Taumel, Brüchigkeiten, - und fortschreiten, fortklimmen, fortschleichen von Wort zu
Wort, Silbe zu Silbe (...): Ausdruck schaffen, ja ihn verlangt nach dem allein. (Ebd., S. 397)
477
Vgl. Gerhard Schusters Erläuterungen (IV, S. 759): "Was genau GB
alles auf sich wirken ließ und dann durchdachte (414,21), welche
Quellen im Einzelnen genutzt wurden: Kulturfahrpläne oder
Geschichtstabellen, historische Romane, Briefanthologien,
Reisereportagen und Expeditionsberichte, Memoiren, Biographien,
Kunstbände oder zufällige Sonntagsbeilagen der Tagespresse, ließ
sich anhand der erhaltenen Bibliothek vollzählig ebensowenig
ermitteln wie durch ausgebreitete Recherchen in den Sachregistern
einschlägiger Bücherverzeichnisse."
Dennoch lassen sich zumindest einige Vorlagen angeben: Nicolaus
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
unter anderem von der Deutbarkeit der Zeichen die Rede.478 Die Dinge stehen in keinem
Lebenszusammenhang mehr, außer in dem der Kontiguität und des künstlerischen
Arrangements: Alles gleich zur Hand durch malerische Anordnung, kein
Lebenszusammenhang, keine Zeitfolge, nichts von Ursache und Wirkung (IV, S. 390),
denn diese vordergründigen Kategorien sind aufgehoben, werden existentiell nicht mehr
als nachvollziehbar empfunden, wodurch nicht zuletzt nur noch der formale, mythische
Konnex und dessen andere außerempirische Raumerfahrung übrig bleiben. Dadurch, daß
die Zeichen entleert wurden, sind sie aber umso stärker interpretierbar, man darf die
Zeichen eben deuten. So tritt wieder an die Stelle des rauschhaften Erlebnisses die
Imagination, doch diese Imagination ist nunmehr in sich reduziert, erhebt keinen Anspruch
mehr auf Welthaftigkeit und Bezug zum Leben oder zum körperlich Biologischen, sie weiß
um ihre Abgeschiedenheit: das heißt, der formale Mythos bekommt die Bedeutung des
Weltersatzes, er muß darin so absolut sein wie die Kunst, er muß alles enthalten. Im Blick
des Phänotyps zeigt sich diese Perspektive in den neuen imaginären Raum:
Das unmittelbare Erleben tritt zurück. Es brennen die Bilder, ihr unerschöpflicher
beschirmter Traum. Sie entführen. Der körperliche Blick reicht nur über den Platz bis an
die Burgen, - aber die Trauer reicht weiter, tief in die Ebene hinein, über die Wälder, die
leeren Hügel, in den Abend, das Imaginäre, sie wird nicht mehr heimkehren, dort verweilt
sie, sie sucht etwas, doch es ist zerfallen, und dann muß sie Abschied nehmen unter dem
Licht zerbrochener Himmel --, diese aber entführen, führen weit und führen heim. (IV, S.
406)
Dieses Heimweh in der Kunst erinnert an die Sehnsucht der Frühromantiker nach einer
transzendentalen und zugleich ästhetischen Heimat, doch trennt Benn gerade die
Autonomie seiner ästhetischen Bereiche, das völlige in-sich-Verbleiben von der
romantischen Hoffnung auf eine reale Erlösung des innerlichen Zwiespalts im poetischen
Überschreiten der persönlichen Begrenzung. Aus Benns Raum führt kein Weg mehr
heraus, weder in die Welt noch in irgendeine Transzendenz. Die einzige Transzendenz,
vielmehr die einzige Entgrenzung von seinem äußerlichen empirischen Ich erfährt das
Bennsche Ich nur noch in sich selbst unter Zuhilfenahme des mythischen Bereichs. Benns
Zeit-Raum des absoluten Gedichts ist seine letztgültige Transzendenz und ist nur noch
durch die eigene Form, seine Struktur begründet: weder subjekt- noch realitätsbezogen ist
das absolute Gedicht Benns der reine, formalistische Mythos, das heißt, er bzw. es ist
vollkommen säkularisiert und nur noch von seiner Struktur und seiner Form her getragen:
die Sprache transzendiert sich schließlich selbst.479
Darum spricht Benn neben dem Verlust des Gegenstandes auch davon, in sich selber
seine Springbrunnen hochzuwerfen und wieder, unter Rückgriff auf die Lévy-Bruhlsche
Anamnese, die im Gehirn enthaltenen Mythen der Vergangenheit als Bilder und neue
Die regressiven Mythen tauchen zwar noch latent hinter den modernen Erlebniswelten als
geschichtssynoptische Bilder auf, doch diese, der platonischen Anamnesis verwandte,
Mythenpraxis dient dem Ptolemäer nur noch als Beleuchtungseffekt seiner Existenz. (V, S.
39f.) Im Panoptikum des Ptolemäers werden so die einzelnen Bilder zu frei assoziierten
mythischen Gebilden, die in keinem Zusammenhang mehr stehen. Mythen wie die vom
Verbrecher oder vom Mönch, Mythen als Repräsentanten des neuen Jahrhunderts (V, S.
24) sind es letztlich aber deshalb, weil ihre Aussage nicht zuletzt anderes meint als das,
480
Aber Jahrtausende leben in unseren Seelen, Verlorenes, Schweigendes, Staub; Kain, Zenoiba, die Atriden
schwingen ihre Thyrsosruten her. (IV, S. 410)
481
Wer Dauer wünscht, stilisiere nicht auf Ewig, sondern auf à propos; ein Schatten, der über das Manuskript fällt,
kann schwerwiegender sein als das Ur. (IV, S. 412)
482
Gerth, Absolute Dichtung, S. 248.
483
Allerdings zählt Marahrens (Geschichte und Ästhetik, S. 191)
"Der Ptolemäer" nicht zur absoluten Dichtung.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
wofür sie eigentlich als unmittelbares Ding-Zeichen stehen. Ihre Bedeutung ist um einiges
verschoben, überlagert und entgrenzt. Damit ermöglichen die modernen Mythen das
assoziative Panoptikum der Welt in all seiner Heterogenität und Geschlossenheit, sie
ermöglichen die Erzählbarkeit und ästhetische Gestaltbarkeit der Welt in einer
Perspektive, in der die Phänomene nur noch synekdochisch, das heißt unter
Verschiebung ihrer Bedeutungsgrenzen eingebracht und zusammengebracht werden
können. Doch dies alles gilt nur innerhalb der Worte (V, S. 41), schreibt Benn und zeigt
damit zugleich die Reduktion der Welt des Ptolemäers auf seinen sprachlich panoptischen
und synthetischen Traum. Die notwendige Selbstreferenz, die Beschränktheit auf den
Bereich der Sprache, wird also im "Ptolemäer" zum Bestand des Mythos, so daß Benn
endgültig alle existentiellen Bezugsprobleme überwindet: woher ich stamme, wohin ich
falle, das ist alles überwunden, und trotzdem bleibt in gewissen Stunden dieses Erdteils
letzter Traum. (V, S. 54) Rhetorische und psychische Entgrenzung bzw.
Grenzverschiebung fallen somit im Begriff der Synekdoche bei Benn zusammen.
Worin der "Roman des Phänotyp" hingegen diesen Sachverhalt übersteigt, das ist sein
stark reflexiv-diskursives Element. Es handelt sich hierbei nahezu nur noch um Exkurse
und Reflexionen, doch stellt eine solche Form lediglich die konsequente Ausbreitung und
Verabsolutierung des Ichs im ästhetischen und mythischen Roman und Raum dar; ohne
Referenz erlischt früher oder später auch jeder vordergründige Inhalt, und das Ich findet
nur noch sich selbst und seine Gedanken vor, die es monologisch wiedergibt.484 Im
"Roman des Phänotyp" skizziert Benn dieses Problem so:
Ein Roman im Sitzen. Ein Held, der sich wenig bewegt, seine Aktionen sind Perspektiven,
Gedankengänge sein Element. Das erste Wort schafft die Situation, substantivische
Verbindungen der Stimmung, Fortsetzung folgt aus Satzenden, die Handlung besteht in
gedanklichen Antithesen. Selbstentzündung, autarkische Monologie. (IV, S. 415)
In der neuen monologischen Sprache erfaßt das Subjekt des Sprechers in der
eingeschränkten Zeit-Raum-Struktur alles und nichts. Nur noch der Monolog, das Selbst-
Gespräch, das selbstbezügliche Gespräch bleibt angesichts der Abschließung nach außen
möglich. Was Benn immer wieder als Perspektive bezeichnet hat (von Nietzsches
Perspektivismus herkommend), erhält hier seine eigentliche Bedeutung485; der Mythos mit
484
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 46.
485
Zu Benns Nietzscheanischem Perspektivismus vgl.: Hillebrand,
Benn, S. 26; Hillebrand, Nietzsche, S. 414.
Da alle geistigen Ordnungsversuche des Menschen sich als
gleich falsch erwiesen haben, kann nach Nietzsche der Künstler
über alle verfügen, sie vermengen und zerstören oder beliebige
neue Ordnungen schaffen, die an keine vorgegebene Wirklichkeit
mehr gebunden sind.
Theo Meyer (Nietzsche und die Kunst, S. 394) faßt Benns
Verhältnis zu Nietzsches bzw. Benns Rezeption von Nietzsches
Perspektivismus zusammen: "Der zentrale Gedanke, den Benn von
Nietzsche übernimmt, ist die Idee des Schöpferischen, das sich in
der dreifachen Ausprägung des perspektivischen, monologischen und artistischen
Verhaltens zur Welt entfaltet. Im Hinblick auf Perspektivismus und
Monologismus entspricht er dem Denken Nietzsches, hinsichtlich der
Artistik geht er über Nietzsche hinaus. Die Idee des
Perspektivismus übernimmt Benn unmittelbar. (...) Die Ablösung der
Wahrheit durch die Perspektive (...) prägt auch Benns Weltverhältnis.
Durch den Perspektivismus erhält das Subjekt eine neue kreative
Freiheit, denn nun werden Erlebnis, Imagination und Experiment in
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
den höchsten Rang erhoben. Die Welt wird zum Experimentalstoff des
schöpferischen Ich. (...) Dennoch ist der spezifische Unterschied
nicht zu übersehen. Nietzsches Experimentalphilosophie, die das
Leben als Versuch auffaßt, will die Welt neu prägen, radikal
umformen, von Grund auf verwandeln. Benns Experimentalästhetik,
für die das Leben bloßer ästhetischer Rohstoff ist, will eine
Formwelt über der realen Welt errichten."
486
Zu Mythos und Diskurs siehe oben S. 39, 72 und 174.
487
Vgl. Gerth, Absolute Dichtung, S. 241.
488
Vgl. ebd, S. 256f.
489
Hillebrand, Benn, S. 29.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
4. "Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts": Zum Vergleich: Der literarische Mythos bei
Ernst Jünger, Hermann Broch und Thomas Mann
Des öfteren werden Jünger und Benn in einem Zug genannt490, vor allem dann, wenn es
darum geht, im zwanzigsten Jahrhundert den reaktionären Mythos von dem aufklärerisch-
humanistisch geprägten zu sondern. Benn ist aber nicht so ohne weiteres mit Jünger
vergleichbar, wie das vor dem Hintergrund der konservativen Revolution vielleicht
erscheinen mag. Selbst in seinem Engagement für den Nationalsozialismus unterscheidet
sich Benn noch von Jünger, der hier nicht so weit gegangen ist.491 Oft werden aber auch
das "mythische Geraune", die Blut- und Bodenmetaphern schon als hinreichendes Indiz
für die Zugehörigkeit zum faschistischen Gedankengut genommen. Hingegen dürfte
anhand dieser Untersuchung klar geworden sein, daß Benn weitgehend einen formalen
und synthetischen Begriff von Mythos und einen eigenen Begriff von Blut und Boden,
nämlich in der Hyperämischen Theorie des Dichterischen, hatte, von dem sich der von
Jünger doch in wesentlichen Aspekten unterscheidet.
OBSCHON Jünger ebenso eine neue Mythologie zu ergründen versucht, also Mythen
wie die des Kriegers, des Arbeiters492 und des Krieges493 selbst bildet, so sind diese
Mythen doch im Grunde stets geschichtlich bezogen, eine Tendenz, der Benn, mit
Ausnahme des Mythos vom totalen Staat, nicht entsprochen hat. Gleichwohl mag es
statthaft sein, Benn und Jünger und selbst Hermann Broch, der eine gewisse Mittelstellung
zwischen dem innerlich-psychischen, imaginären Rückgriff auf einen naturmystischen
Mythos und der Erweiterung des Mythos im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit
490
Vgl. Kaiser, Mythos, Rausch und Reaktion; Norbert Bolz, Auszug
aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen
den Weltkriegen, München 1989, S. 11.
491
Ernst Jüngers konsequente Weigerung, sich an bestimmte partei-
ideologische Programmatiken zu binden, veranlaßten ihn dazu, die
1933 ihm angetragene Aufnahme in die "Deutsche Akademie der
Dichtkunst" mit einem ziemlich brüsken Hinweis auf eine Passage
seines Arbeiters (S. 197ff.) zu beantworten, in der er sich über den
beschränkten Horizont der Parteibürokratie lustig machte.
492
Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), in:
E. J., Sämtliche Werke, Zweite Abteilung, Essays, Bd. 8, Essays
II, Stuttgart 1981, S. 1-321
493
Ernst Jüngers Behandlung des Themas Krieg übersteigt das rein
Historische und nähert sich in der subjektiven Konnotierung einem
Mythos Krieg: "Gute und ernste Gedanken kamen mir in den Sinn, und
ich ahnte zum ersten Male, daß dieser Krieg mehr als ein großes
Abenteuer bedeutete." (Ernst Jünger, In Stahlgewittern [1920], S.
39, in: Sämtliche Werke, Erste Abteilung, Tagebücher, Bd. 1,
Tagebücher I, Der Erste Weltkrieg, Stuttgart 1978)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
494
"Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in
Mythologie zurück." (Adorno/Horkheimer, Dialektik, S. 6)
Zu Adornos und Horkheimers Mythosbegriff vgl.: Jürgen Habermas,
Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Bemerkungen zur Dialektik
der Aufklärung - nach einer erneuten Lektüre, in: Bohrer, Mythos und
Moderne, S. 405-431.
495
Der Mythos bei Walter Benjamin ist nach Rolf-Peter Janz (Mythos
und Moderne bei Walter Benjamin, S. 368-370, in: Bohrer, Mythos
und Moderne, S. 363-381) durch seine Kafka Deutung bestimmt, es
ist ein Mythos des Terrors, der Mythos der undurchschaubaren
Gewalt.
496
Ähnlich wie Benn sucht auch Robert Musil in der Dichtung den
Mythos, allerdings auf andere Art und Weise als dieser; der Mythos
ist die neue Legitimation des moralisch defizitären
gesellschaftlichen Zustands. (Vgl. Manfred Frank, Auf der Suche
nach einem Grund. Über den Umschlag von Erkenntniskritik in
Mythologie bei Musil, S. 350 u. 352f., in: Bohrer, Mythos und
Moderne, S. 318-362) (im folgenden zitiert als Frank, Umschlag)
497
Koebner, Mythenrekonstruktion, S. 75-78 u. 84f.
498
Frank, Umschlag, S. 349.
499
Nach Helmut von Arntzen (Musil-Kommentar zu dem Roman "Der Mann
ohne Eigenschaften", München 1982, S. 126) ist der Musilsche
"andere Zustand" ein Zustand der Zweckfreiheit: "Das von aller
Zweckhaftigkeit freie, das insofern sinnlose Sprechen, das wie ein
lyrischer Vers ist, konstituiert die Gemeinsamkeit des anderen Zustands
als Einverstandensein. Aber eben insofern kein Sprechen sinnlos, wie man in
die Luft spricht, bleibt, sondern an sich selbst schon den Sinn als
Allgemeines und Überliefertes trägt, der im Fortgang zum Gespräch
erscheint, wird auch dieses Sprechen in seiner kommunikativen
Konventionalität, in seiner Verbrauchtheit, seinem bloßen
Zitatcharakter merklich und vernichtet den anderen Zustand, indem es
Verstehen im Sinne des Selbstverständlichen automatisiert."
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
generiert und sich auf sich selbst bezieht.500 Wo Jünger jedoch zwischen 1933-1945 die
Rasse zunehmend als geistige Elite verstanden haben wollte501, und er sich selbst vom
Nationalsozialismus gerade aufgrund dessen platter Blut und Bodenanthropologie
distanzierte, kontrastiert Benns Verhalten dazu; er berief sich sogar explizit auf den
Mythos von Blut und Boden, wenn auch eben in eigener Abwandlung, und zwar als
biologischer Kern der Psyche und Dichtung, später auch der Gesellschaft. Trotz aller
Unterschiedlichkeit in der Konsequenz, sprich in der Stellung zur Blutideologie des Dritten
Reiches, zeigt aber immerhin noch der späte Jünger Konstanten, die weitgehend mit der
Bennschen frühen biologistischen Mythosauffassung koinzidieren.502
Der Weg der Unterscheidung Jüngers von Benn bleibt eine Gratwanderung. 1965 schreibt
Jünger in "Mythos und Wissenschaft" zum Beispiel:
"Da ragt in den Mythos viel Älteres hinein. Doch jede zeitliche Zuordnung bleibt sekundär.
Wir tragen den Drachen in uns durch die Zeiten, und daher sind wir ihm vertraut. In
diesem Sinne gehört die Paläontologie zu unserer Erinnerung. Wir konnten hier nichts
entdecken, was wir nicht bereits zutiefst gewußt hätten."503
Eine solche Formulierung ist einem von Benn natürlich von "Aufbau der Persönlichkeit"
bekannt. Dort hieß es:
500
Vgl. Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis (1922), S.
11f., in: Sämtliche Werke, Zweite Abteilung, Bd. 7, Essays I,
Betrachtungen zur Zeit, S. 11-104: "Der Krieg ist es, der die
Menschen und ihre Zeiten zu dem machte, was sie sind. (...) Der
Krieg, aller Dinge Vater, ist auch der unsere; er hat uns
gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind. Und immer,
solange des Lebens schwingendes Rad noch in uns kreist, wird
dieser Krieg die Achse sein, um die es schwirrt."
501
Kaiser, Mythos, Rausch und Reaktion, S. 153.
502
Bei Benn heißt es in "Gesänge I":
O daß wir unsere Urahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.
Wir tragen die frühen Völker in unserer Seele, und wenn die späte Ratio sich lockert, in
Traum und Rausch, steigen sie empor mit ihren Riten, ihrer prälogischen Geistesart und
vergeben eine Stunde der mystischen Partizipation. (III, S. 271)
Jüngers Behandlung des Mythos läßt sich nach Koslowski in drei größere Abschnitte
aufteilen. Der erste reicht bis 1932 und beschreibt den Einbruch der Geschichte in die
Dichtung. Der mythische Typus des Kriegers entsteht so in den "Stahlgewittern", worauf
der des Arbeiters in der Zwischenkriegszeit folgt.504 "Der Erste Weltkrieg und die
Transformation des Krieges von der Feldschlacht alten Stiles über den Stellungskrieg und
die Materialschlacht bis zur mechanischen Schlacht bewirken die Metamorphose des
Helden vom Krieger zum Arbeiter."505 Das Schlagwort von der totalen Mobilmachung des
Staates wird dabei zum Inbegriff der Moderne, zuletzt zu einem quasi mythischen
Allgemeinplatz bei Jünger, und begleitet - wie der des Krieges - so als Konzept die eher
heroischen Mythen von Arbeiter und Krieger, beide Verkörperungen wiederum des
modernen Menschen.506 Nach dieser noch eher wie bei Benn-Rönne rauschhaften und
traumhaft mystischen Phase507 löst in der Zeit von 1933-1938 der Mythos des Giganten-
und Titanenkampfes den des Einzelnen, des neuen mythischen Helden vom Arbeiter und
Krieger ab. Jüngers Mythos orientiert sich somit wieder an mythologischen Konzepten
antiker Prägung. Koslowski schreibt dazu:
"Als Mythologe erkennt er nach den Giganten- und Titanenkämpfen der
Menschheitskriege der Moderne, daß die Rückkehr des Menschen zur Erde stattgefunden
und daß sich in der geschichtlichen Wirklichkeit die Wandlung des antiken Mythos vom
Gigantenkampf zum gnostischen Mythos von der Revolte des Titanen Mensch gegen die
Götter vollzogen hat."508
Mit "An der Zeitmauer" führt der Zusammenstoß von Mythos und Geschichte allerdings
eine Stufe weiter, und zwar in das epische Erfassen der Moderne, weg vom mythischen
Typus hin zum sprachlich verankerten Mythos:509 "Die Große Mythologie der Moderne vom
Gigantenkampf des Arbeiters weicht in Jüngers Spätwerk den Kleinen Erzählungen der
Defaitisten, Historiker, Dandys und Überwinder der Moderne."510
Schließlich ähneln sich in der späten Behandlung der Mythen Benn und Jünger zumindest
in einem Aspekt, und zwar bezüglich der Statik. Die Altersstatik ihrer Ansichten und ihrer
504
Koslowski, Mythos der Moderne, S. 17 u. 35.
"Der mythologische Held dieses Epos, der Mensch als Krieger,
Arbeiter und Titan, ist zugleich philosophischer Typus und
modellhafte Gestalt, deren Züge begrifflich-philosophisch und
bildlich-dichterisch gezeichnet werden." (Mythos der Moderne, S.
18)
505
Ebd., S. 37.
506
Ebd., S. 18 u. 35.
507
Kaiser, Mythos, Rausch und Reaktion, S. 52. Kaiser (ebd., S.
110) meint ferner, daß bei Jünger allerdings in der Zeit des
Kriegserlebnisses der Rausch zugunsten des Traumes zurücktritt,
worin es Jünger eher gelinge, zu den tieferen psychischen
Schichten Zugang zu finden.
Im Gegensatz zu Benn ist bei Jünger aber der tatsächliche und
nicht der poetisch-synästhetische Traum gemeint.
508
Koslowski, Mythos der Moderne, S. 18.
509
Ebd., S. 17f.
510
Vgl. "Gläserne Bienen" (1957) und "Eumesmil" (1977); Koslowski,
Mythos der Moderne, S. 121.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
in sich ruhenden Werke aus dieser Zeit, wenngleich Benn Statik stärker als Jünger auf
seine Dichtung bezieht, ist zumindest in groben Ansätzen vergleichbar.511 Auch Jüngers
späte Statik resultiert aus dem "Eindruck einer Zeitlosigkeit"512, ein Merkmal, das Benns
zeitenthobenem und statischem Konzept des Mythos in der Phase der absoluten Dichtung
entspricht.
Jüngers Mythos ist also noch mythologisch gebunden, und dennoch bildet Jüngers Werk,
das sich eben teilweise durch mythische Figuren (Arbeiter, Titan) auszeichnet, letzten
Endes doch so etwas wie ein Epos der Moderne513: "Sein Epos der Moderne ist Mythos
vom Aufstieg und Fall der Moderne und Erzählung vom Nachspiel der Moderne im
Posthistoire des nachmythischen und nachhistorischen Zeitalters."514 Jünger ist zugleich
Mythologisierer und Entmythologisierer der Moderne515, und obwohl sein Mythos zum Teil
ein künstlicher, profaner Mythos ist, bleibt er anderenteils doch ein mythologisch
gebundener, zumindest was den Gemeinplatz des Titanischen anbelangt. Stärker als bei
Benn drängt sich stets die geschichtliche Perspektive in den Vordergrund, und zwar indem
Jünger den Mythos als historisch vermittelte Erzählung begreift, als Ausdruck der
Rebellion des Menschen gegen die Götter und die Natur.516
IM Gegensatz dazu ist Benn Hermann Broch eher zu vergleichen; beide sind von
einer starken "Mythenskepsis" geprägt, die allerdings bei Broch dazu führt, daß er
schließlich dem kollektiv-gesellschaftlich geprägten Mythos, dem Mythos als Ausweg für
das moderne verlorene Ich, ablehnend gegenüber steht.517 So weit ging Benn erst zuletzt;
einerseits folgte er dem Entrückungspotential mythischer Räume und Weltlichkeit,
andererseits erkannte er aber auch die Fragwürdigkeit kollektiver Mythen anhand seiner
Erfahrung mit dem Nationalsozialismus.
Wie Benn bezeichnet Broch den Traum auch als "die eigentliche Geburtsstätte des
Mythos"518, und auch er erkennt somit die Virulenz, die allgegenwärtige Bedeutung des
Mythos in der modernen Welt, seine Bedeutung für Dichtung und Medien. Dichtung
bezieht für Broch vom Mythos ihre Prägung, zu ihm strebt sie in ihrer Darstellung, und die
Totalitätsforderung des modernen Romans macht diesen insofern auch zum Mythos.519
511
Vgl. Kaiser, Mythos, Rausch und Reaktion, S. 205.
512
Ebd., S. 205.
513
Koslowski, Mythos der Moderne, S. 11 u. 16.
514
Vgl. ebd., S. 18.
515
Ebd., S. 35.
516
Vgl. Ernst Jünger, An der Zeitmauer (1959), S. 593, in:
Sämtliche Werke, Zweite Abteilung, Essays, Bd. 8, Essays II, S.
399-645: "Hie wurde eine der Stellen sichtbar, an denen sich die
Erde zu entzünden beginnt, und es gibt deren viele in unserer
Zeit. Wir müssen, um Vergleichbares zu finden, weit, zum mindesten
auf den Mythos, zurückgreifen. (...) Es hängt mit dem Göttersturz
zusammen, zu dem die grenzenlose Erde ihre Söhne aufreizt. (...)
Es ist ein großer Zug des Mythos, daß er den Kampf gegen die
olympischen Götter nicht in vormenschliche Zeiten verlegt, sondern
den Menschen, vertreten durch Herakles, entscheidend an ihm
teilhaben läßt."
Vgl. Koslowski, Mythos der Moderne, S. 105.
517
Vgl. Koebner, Mythenrekonstruktion, S. 91.
518
Broch, Mythische Erbschaft, S. 247.
519
Vgl. Hartmut Steinecke, Hermann Broch und der polyhistorische
Roman. Studien zur Theorie und Technik eines Romantyps der
Moderne, Bonn 1968, S. 39. (= Bonner Arbeiten zur deutschen
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Wie bei allen mythisierenden Dichtern schwankte auch Broch zwischen der Adaption
antiker Mythen, oder dem Begreifen des Mythos als Traum, Unbewußtem und als "Ur-
Assoziation", also zwischen einer eklektizistischen mythologischen und einer generativen,
das heißt selbst mythenschaffenden Kunst.520 Zwar bezeichnet Broch 1936 mit sicherem
Auge die Totalitätsforderung des Romans als "mythische Aufgabe, mythisch im Geheimnis
ihres Tuns, mythisch in der Versinnlichung, in der Versinnbildlichung der im Chaos
geheimnisvoll wirkenden Kräfte, mythisch als Leistung und mythisch als Wirkung."521 Broch
geht aber auch davon aus, daß nur der Mythos das Ziel des modernen Romans sein
könne, weil im zwanzigsten Jahrhundert allein im Mythos es noch möglich wäre, Totalität
zu verwirklichen.522
Er läßt damit sogar bereits seine Einsicht in den direkten Zusammenhang von Mythos und
Dichtung von 1934 aus "Zeit und Zeitgeist" hinter sich, wo er schrieb, daß der "Mythos die
dichterische Urform" sei, und daß es "der lyrische Gehalt, der aller Dichtung innewohnt,"
sei, der sie "zu dem macht, was sie ist, Dichtung."523 Mythos sei die Hoffnung auf die
Entdeckung der "verlorenen Sprache".524 Deren Zeitstruktur weise zudem in Ansätzen
schon auf diejenige hin, wie sie sich mittlerweile als konstitutiv, zumindest für den neuen
Mythos erwiesen hat, nämlich der "zeitlosen Zeitstruktur".525
Schlechterdings bezweifelt Broch hier noch die Realisierung eines "neuen Mythos", weder
Joyce noch Thomas Mann hätten das erreicht.526 Vielmehr sei "die mythische Gestalt (...)
immer eine des Trostes und der Religion".527 Diese kulturbedingte und religiöse
Verankerung wird Broch auch später nie ganz ablegen528, doch formuliert er den
strukturellen Aspekt des Mythos in seiner Bestimmung für Kunst, Religion und Philosophie
weiter aus; Zivilisation enthüllt sich "als ein alles umfassender und einordnender Mythos",
der diese "zu geschlossenen Systemen" macht.529 Broch gelingt es damit zwar nicht, die
zivilisatorischen mythischen Gestaltungskräfte von derselben gesondert, also fern des
sozialen Kontextes, zu analysieren, doch verweist seine strukturelle Sichtweise schon
weitgehend auf den spezifischen Zeit-Raum des Mythos. Dabei ist es nur natürlich, daß
auch Broch der feine Unterschied zwischen Mythologie und Mythos klar war; in "Mythos
und Altersstil" (1947) unterscheidet er explizit zwischen Mythologie und reinem Mythos,
der für ihn mit Kafka beginne: Die "Rückkehr zum Mythos in seinen alten Formen (selbst
wenn diese so modernisiert werden wie bei Joyce) stellt vorderhand noch keinen wirklich
neuen Mythos dar, keinesfalls den neuen Mythos."530 Kafka sei dabei an dem "Punkt des
Entweder-Oder angelangt: entweder vermag Dichtung zum Mythos vorzustoßen, oder sie
hat ihren Bankrott zu erklären."531 Ferner manifestiere sich bei Kafka die lyrisch-mythische
Form des Kunstwerks, das, nachdem bei Homer der Mythos zur Dichtung und bei Tolstoj
"Dichtung wieder zum Mythos"532 wurde, als die reine Form des Mythos bzw. des "Gegen-
Mythos", wobei allerdings aufgrund der rhythmischen und musikalischen Qualitäten
gerade das lyrische Kunstwerk die nach Broch geforderte Totalität, die "Totalität eines
Augenblicks"533 zu gewährleisten vermag. Der mystische Augenblick der Identifikation von
Ich und Welt534, den Broch zuweilen auch als "Ekstase" bezeichnet535, setzt in der
ästhetischen Totalität des lyrischen Kunstwerkes den Dualismus von Zeit und Raum im
Zustand der "Simultaneität"536 außer Kraft. Trotzdem, auch hier bleibt Brochs Mythos im
Kontext der Religion und des Ethischen537, denn, so Broch, der neue Mythos fände seinen
Platz im "religiösen Mittelpunkt des Wertsystems der Menschheit".538 Broch war zu sehr
von anthropologisch-philosophischen Überlegungen zum Mythos bestimmt, als daß er
dessen vorrangig ästhetisches Potential genügend befördert hätte. Walter Hinderer kommt
in seinem Aufsatz zu Brochs Mythos dann auch zu folgendem Fazit:
"Brochs >Arbeit am Mythos< galt nicht den Geschichten, den Mythologemen, sondern
vielmehr der Besinnung auf die metaphysische Substanz des Menschen und die Einheit
eines neuen Weltbildes. (...) Die Einheit von Mythos und Logos war primär eine
anthropologische und philosophische, nicht eine ästhetische Aufgabe."539
Broch läßt sich damit zwar zu einem gewissen Teil in die Reihe der Gestalter des
modernen Mythos stellen, doch geht auch bei ihm die explizite Einsicht in die
Eigenständigkeit der Mythen nicht weit genug.540 Er verharrt zwischen tradierter,
insbesondere christlicher Mythologie und der Ahnung vom Aufkommen eines völlig neuen
mythischen Kosmos in ebenso völlig neuer Form, so wie er es in der angedeuteten Rolle
von Film und Mythos durchscheinen ließ. Nicht zuletzt spiegelt sich dieses Verhältnis zum
530
Ebd., S. 229; Vgl. Durzak, Hermann Broch, S. 68.
531
Broch, Mythos und Altersstil, S. 231.
532
Ebd., S. 212.
533
Broch, Mythische Erbschaft, S. 204.
534
Hermann Broch, Philistrosität, Realismus, Idealismus der Kunst
(1913), S. 13, in: Paul Michael Lützeler (Hg.), H. B.,
Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/1, Schriften zur Literatur 1,
Kritik, Frankfurt a. M. 1976, S. 13-30.
535
Hermann Broch, Notizen zu einer systematischen Ästhetik (1912),
S. 14f., in: Paul Michael Lützeler (Hg.), H.B., Kommentierte
Werkausgabe, Bd. 9/2, Schriften zur Literatur 2. Theorie,
Frankfurt a. M. 1976, S. 11-35.
536
Vgl. ebd., S. 14 u. 16f.
537
Hermann Broch (Joyce, S. 89) spricht in dem Joyce-Essay insoweit
auch von "der außerordentlichen Aufgabe (...), alles Ästhetische
in die Gewalt des Ethischen zu werfen".
538
Ebd., S. 231. Vgl. Durzak, S. 67.
539
Walter Hinderer, Reflexionen über den Mythos, S. 66, in: Paul
Michael Lützeler und Michael Kessler (Hg.), Brochs theoretisches
Werk, Frankfurt a. M. 1988, S. 49-68.
540
Durzak, Hermann Broch, S. 68f. u. 71f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Mythos in "Der Tod des Vergil" (1945) wieder, wo sowohl dessen Thema wie auch die
zahlreichen mythologischen Anspielungen und Zitate nicht für eine freie künstlerische
Gestaltung eines neuen, eigenen Mythos sprechen.541 Wiewohl Brochs anderer, ethischer
Mythos im "Tod des Vergil" aus der modernen Entfremdung des Menschen im
zwanzigsten Jahrhundert entsteht, so ist er doch etwas anderes als der "aggressive" und
dynamische Faust-Mythos Thomas Manns, der weitaus stärker instrumentalisiert und
allegorisch verwendet wird: der Faust-Mythos als Paradigma des modernen Mythos.542
AUCH bei Thomas Mann kann man einen Unterschied von implizitem und explizitem
Mythos veranschlagen. Wurde der Mythos von ihm selbst in seiner zweiten Freud-Rede
"Freud und die Zukunft" (1936) als das "Typische" gesehen543, so gilt das wohl in Variation
auch für sein gesamtes Werk, für die Figuren Aschenbach, Joseph und Leverkühn: "Hinter
einem Einzelvorgang in Raum und Zeit wird der überzeitliche Typus sichtbar" gemacht, so
Manfred Dierks zu Thomas Manns mythischem Erzählen.544 Alle Mannschen Protagonisten
sind nahezu typische, allgemeingültige mythische Modellgestalten, die durch die
Verwendung mythologischer Überzeichnungen weitere, archetypische Bedeutungsfelder
eröffnen. Bewegt sich aber Aschenbach in antiker Mythologie und durch das
mythologische Symbolgerüst "unterhalb des raumzeitlichen Geschehens" auf einer "Ebene
des überzeitlich Musterhaften", so ist der Joseph-Stoff nicht nur ein völlig anderes
mythologisches Bezugsfeld (nämlich das des biblischen Mythos), sondern Thomas Mann
lehnt sich dabei bereits an einen Schopenhauerschen und Freudschen Mythos an. Aus
der auf die Joseph-Romane hin geleisteten Lektüre Thomas Manns von Dmitri
Mereschkowskis "Die Geheimnisse des Ostens" (Berlin 1924) entsteht schließlich die
Notiz:
541
Vgl. H. J. Weigand, Brochs "Death of Vergil". Program Notes, in:
PMLA, 62 (1947), S. 525-551; Walter Hinderer, Die
"Todeserkenntnis" in Hermann Brochs "Tod des Vergil", Diss.
München 1961.
542
Tamás Lichtmann, Die mythische Erkenntnis bei Hermann Broch.
Einige Bemerkungen zu seinem Roman "Der Tod des Vergil", S. 115f.,
in: Hartmut Steinecke und Joseph Strelka (Hg.), Romanstruktur und
Menschenrecht bei Hermann Broch, Bern Frankfurt a. M. New York
Paris 1990, S. 109-120.
Zum Faust-Mythos vgl.: Quirin Engasser, Der Faustische
Mythos. Ist "Faust" das heilige Buch der Deutschen?, Rosenheim
1949.
543
"(...) daß das Typische auch schon das Mythische ist und daß man
für >gelebte Vita< auch >gelebter Mythus< sagen kann. (...) die
Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit, jene
Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythus zu Hause ist und die
Urnormen, Urformen des Lebens gründet. Denn Mythus ist
Lebensgründung; er ist das zeitlose Schema, die fromme Formel, in
die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewußten seine Züge
reproduziert." (Thomas Mann, Freud und die Zukunft [1936], S.
492f., in: Peter de Mendelssohn [Hg.], Th. M., Gesammelte Werke in
dreizehn Bänden, Bd. IX, Reden und Aufsätze, Frankfurt a. M. 1960,
S. 478-501)
544
Manfred Dierks, Thomas Mann und die Mythologie, S. 303f., (im
folgenden zitiert als Dierks, Mythologie), in: Helmut Koopmann
(Hg.), Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart 1990, S. 301-306. (im
folgenden zitiert als Koopmann, Thomas-Mann-Handbuch)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Der mythische Stoff des "Doktor Faustus" setzt hingegen diese Tendenz, nämlich weg von
antiker, hin zu moderner Mythologie, fort. Thomas Manns Absicht, mit diesem Mythos den
Nationalsozialisten nicht allein dieses Feld zu überlassen, ist bekannt: "Man muß dem
intellektuellen Faszismus den Mythos wegnehmen und ins Humane umfunktionieren."546
Auch ist bereits erörtert worden, welchen Charakter diese neuen Mythen hatten, nämlich
den von politischen Mythen; insbesondere die Ästhetik des Faschismus wies dieses
Merkmal auf, eine Tatsache, die auch Thomas Mann erkannte. Unter dem
Tagebucheintrag vom 5. August 1934 notiert er: "Die ganze national-sozialistische
Bewegung einschließlich ihres Erweckers ist ein wahres Sich sielen des deutschen
Gemüts in der mythischen Jauche."547 In Thomas Manns "Doktor Faustus", dem
Künstlerroman, nahmen damit am Ende sogar Ästhetik und Mythos auch den
paradigmatischen Rang der Politik ein. Manfred Frank bezeichnet die Rolle der
"ästhetisch-mythologischen Kategorien" im Umfeld des "sozial-politischen Dilemmas der
Weimarer Zeit", aus dem heraus dieser Roman nicht unwesentlich entsteht,
folgendermaßen:
"Im Bereich der Kunst die von Tag zu Tag spürbarer werdende Unhaltbarkeit tradierter
Ausdrucksformen und Gattungen, deren konventionelle Verbindlichkeit den Ruin
funktionierender Gemeinschaftlichkeit nicht überleben kann. Auf diese Weise enthüllt sich
das Schicksal der Kunst - der Musik - als an das Geschick der Gesellschaft gebunden, auf
deren Boden sie erwächst. (...) Die Ästhetik wird zum Paradigma der Politik: Mythen
(sollen) fortan das Vehikel der politischen Bewegung sein."548
Sowohl die Joseph-Tetralogie als auch der "Doktor Faustus" stellen insofern - ähnlich wie
bei Broch - einen weiteren Versuch dar, den Mythos in humanistisch-ethischem Sinn
dienstbar zu machen. In "Meerfahrt mit Don Quijote" (1934) schreibt Thomas Mann dann
auch: "Als Erzähler bin ich zum Mythus gelangt - indem ich ihn freilich, zur grenzenlosen
Geringschätzung der nichts als Seelenvollen und Möchtegern-Barbaren, humanisiere,
mich an einer Vereinigung von Mythus und Humanität versuche, die ich für menschheitlich
zukünftiger halte als den einseitig-augenblicksgebundenen Kampf gegen den Geist, das
Sich-beliebt-Machen bei der Zeit durch eifriges Herumtrampeln auf der Vernunft und
Zivilisation."549 Darum auch erscheint es nicht ohne weiteres als berechtigt, von einem
autonomen Mythos bei Thomas Mann zu sprechen; seine Inanspruchnahme und
545
Archivmaterial. Zitiert nach Dierks, Mythologie, S. 305.
546
Thomas Mann in einem Brief an Karl Kerényi vom 7. Sep. 1941, S.
100, in: Karl Kerényi (Hg.), Thomas Mann - Karl Kerényi. Gespräch
in Briefen, Zürich 1960.
547
Peter de Mendelssohn (Hg.), Thomas Mann, Tagebücher 1933-1934,
Frankfurt a. M. 1977, S. 497.
548
Manfred Frank, Die alte und die neue Mythologie in Thomas Manns
"Doktor Faustus", S. 86, in: Herbert Anton (Hg.), Invaliden des
Apoll. Motive und Mythen des Dichterleids, München 1982, S. 78-94.
(im folgenden zitiert als Frank, Alte und neue Mythologie)
549
Meerfahrt mit Don Quijote (1934), S. 464f., in: Peter de
Mendelssohn (Hg.), Th. M., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden,
Bd. IX, 2. durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1974 (1960), S. 427-
477.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Mediatisierung ist zu ausgeprägt.550 Gleichwohl stellt sich, wie das Eberhard Scheiffele an
den Josephs-Romanen gezeigt hat, durchaus bei Thomas Mann auch so etwas wie ein
zaghafter Ansatz zum neuen Mythos ein; Scheiffele meint, der Mannsche Joseph-Mythos
sei deshalb teilweise ein neuer Mythos, denn er versuche, sich Fremdes und Heterogenes
einzuverleiben.551 Es handele sich darum nicht nur um einen humanisierenden Mythos,
sondern auch um einen entmythologisierenden.552 Scheiffele kommt sogar nach der
Analyse der aus den unterschiedlichsten Quellen montageartig komponierten Gestalt zu
folgendem Schluß bezüglich einer impliziten Mythenpraxis in den Joseph-Romanen:
"Die Art, wie Thomas Mann in seinen letzten drei Romanen Mythen und Mythologeme
abwandelt, umstellt, arrangiert und verschmelzt, wurde immer wieder mit des Autors
eigenem Parodie-Verständnis erklärt. (...) Wenn man aber den Blick einmal auf die vom
Inhaltlichen abgelöste Machart selbst richtet, fällt die erstaunliche Nähe zu dem auf, was
Claude Lévi-Strauss in seiner strukturalistischen Mythenforschung "bricolage",
"Bastelarbeit", nennt. (...) Er bringt "arbiträr" Inhalte und Formen zusammen, die mit diesen
von Haus aus gar nichts zu tun zu haben brauchen."553
Nach all dem, und unter formalem Aspekt haben Thomas Mann, Broch und Benn eines
gemeinsam; die Abwandlung des Mythos in formaler Gestalt. Zwar bleibt Thomas Mann
noch eher der am kollektiven, archetypischen Mythos Orientierte, doch ist für alle drei der
kollektive Mythos auch nur eine Folge des modernen verlorenen Ichs. Eine gewisse
"Mythenskepsis"554 kann keiner verleugnen.
550
Zwar versucht Manfred Frank (Alte und neue Mythologie), den
Mythos im "Doktor Faustus" als Wiederaufnahme der frühromantischen
Bestrebungen nach einer neuen Mythologie zu interpretieren, doch
gelingt ihm das nicht ganz. Er gelangt über diese Erkenntnis nicht
zu einer Darstellung dieser neuen Mythologie.
551
Eberhard Scheiffele, Die Joseph-Romane im Licht heutiger Mythos-
Diskussion, S. 173, in: Thomas-Mann-Jahrbuch, 4 (1991), S. 161-
183. (im folgenden zitiert als Scheiffele, Joseph-Romane)
552
Ebd., S. 175.
553
Ebd., S. 180f.
554
Koebner, Mythenrekonstruktion, S. 91.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
555
James K. Lyon und M. Craig Inglis, Konkordanz zur Lyrik
Gottfried Benns, Hildesheim New York 1971.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Behandlung des Mythos durch Rönne war der Mythos noch nicht auf sich selbst und sein
eigenes Potential geworfen, eine Entwicklung, die sich erst mit der apollinischen Wende
(vgl. "Orphische Zellen") herausschälte.
Der Süden wurde schließlich zum bedeutendsten mythischen Existenzraum der frühen
und mittleren Dichtung, mit individuell eingesetzten und belegten Zeichen angereichert,
Zeichen die einen semantisch-poetischen Raum absteckten, den Süd-Komplex
schlechthin. Der konventionelle Wortcharakter hob sich dadurch tendenziell auf, und ein
eigenständiger Aktionsraum von Bedeutungen, ein Raum jenseits des durch das
semantische Dreieck abgesteckten Spektrums, ein Raum jenseits des Feldes zwischen
Zeichen, realem Bezugspunkt und Referent, kam zum Vorschein. Dieser Raum zeigte sich
besonders in der Lyrik Benns, doch stellt er darüber hinaus einen grundlegenden Sprach-
Raum dar, dessen Inhalt bzw. Bedeutung auf einem anderen Schlußverfahren als dem der
Referenz, des Bezugs des Zeichens zu einem denotativen und mehr oder weniger fixen
Objekt, besteht. In der Selbstbezüglichkeit entsteht somit ein sprachliches Bedeutungs-
und Interpretationsverfahren, das vor allem grundlegend für Benns späte Dichtung wird,
ferner aber auch weitgehend von der Sprachwissenschaft mißachtet wird.
Benns sprachliche Bedeutungen sprachen im Süd-Komplex, wie schon gesagt, ihre
eigene Sprache jenseits der Fakta; das Fiktionale dieses Raumes trat somit in den Dienst
des Mythos und verließ dabei den landläufigen Bereich des literarisch Fiktionalen, der -
auf das jeweilige Kunstwerk beschränkt - nur hier und im Gegenzug zur faktischen
Wirklichkeit einen innerhalb seiner fiktionalen literarischen Koordinaten begrenzten Raum
aufstellt. Die Fiktion und die Imagination in Benns Lyrik übersteigen hingegen schlichtweg
den Rahmen des geschlossenen Werkes; in ihrer Aufforderung zur Assoziation
entgrenzen sie sowohl den Leser als auch das lyrische Ich. Es war darum die Rede von
Offenheit und Geschlossenheit. Versucht normalerweise ein literarisches Werk die
Aufmerksamkeit des Lesers in den fiktionalen Bereich seiner Geschichte zu ziehen, so
nimmt Literatur bei Benn eine ganz andere Funktion an. Es geht also nicht mehr darum,
sich aus einer determinierten Lebenssituation in eine andere geschlossene und
determinierte, das heißt vorgegebene Scheinwirklichkeit, also die Fiktion zu entgrenzen,
sondern die literarisch-psychische Selbsterregung entgrenzt nur noch in ein prinzipiell
offenes subjektives Assoziations- und Bedeutungskontinuum. Darin liegt der Unterschied
zum überkommenen Fiktionalen; die Bennsche Fiktion nimmt keine festen Formen mehr
an, sie ist nur noch ihre eigene Funktion, Mythos. In diesem künstlich-ästhetischen
imaginären Mythos wurde schließlich, wie das die Spätphase Benns gezeigt hat, prinzipiell
keine Entgrenzung und Erweiterung in irgendein Kollektiv, Unbewußtes oder sonst
irgendwie anthropologisch-organisch geartetes Bewußtsein mehr verfolgt, vielmehr
beschied sich Benn mit dem Bezug auf sich und seinen Innenraum, indem er sich durch
diese ästhetische Funktion der Sprache, Topoi und Mythen "selbst erregte" und "selbst
entzündete", ein hermetischer Abschluß von der Außenwelt.
Was an poetologisch wichtigen Entwicklungen nach dem Krieg noch zu nennen sind,
waren der Versuch, die autoreferentielle Kunst zu Ende zu denken, eine Kunst, in der sich
Benn von allen bisherigen poetologischen Grundlagen, angefangen vom vitalistischen
Rauschdenken über das Apollinische, das der Oberfläche, dem Schein verhafteten
Kunstschaffen, bis hin zum Geschichtlichen weitgehend löste, und in der Konzeption der
absoluten Dichtung zur letztgültigen Ausformung auch des Mythischen, zur statisch-
absoluten Kunst brachte. Dabei kam ihm der in die mythische Räumlichkeit umgrenzte
Bereich der Sprache zugute.
Benns Poetik der schöpferischen Überwindung des Nihilismus und der Subjekt-Objektkrise
dekonstruierte so nach und nach die Erzählform und die Sprache, so daß nur noch das
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Absolute und das Kollektiv-Anonyme des Mythos übrigblieb.556 In der der intensionalen(!)557
Struktur der Bennschen absoluten Prosa (vgl. orangenhafter Aufbau) und in der Inhalts-
und Bezugslosigkeit (vgl. gerichtet an keinen Leser), in der Absolutheit der Aussage (vgl.
in jedem Satz muß alles enthalten sein) stellte sich die absolute Dichtung als
wesensgleich mit der mythischen Sprache heraus; beide sind totale, absolute sprachliche
Phänomene.558 Benns absoluter Prosa, die außerhalb von Raum und Zeit durch die
"bewußtseinsmäßige Simultaneität aller Elemente" gezeichnet ist559, entspricht die
bewußtseinsspezifische simultane und homogene Form des Mythos. (siehe dazu das
folgende Kapitel)
Ob Mythos und absolute Dichtung nun aber identisch sind560, oder die späte statisch-
geschlossene Kunst bei Benn mythisches Denken ablöste561 bzw., anders gewendet, der
Mythos dies vorbereitete, ja sogar der geschlossene moderne Mythos der Endpunkt von
Benns Poetik darstellt, das ist so nicht mehr genau zu entscheiden, da sich Benn in seiner
letzten Phase nur noch marginal zum Mythos geäußert hat. Seine wichtigsten Aussagen,
die bedeutendsten Elemente lagen in den zwanziger und dreißiger Jahren. In der Phase
der absoluten Dichtung und der statischen Kunst fand alles nur noch seine letztgültige
Ausformung.
556
Vgl. Martini, Wagnis der Sprache, S. 473.
557
Der neugebildete Begriff "intensional" soll hier im Gegensatz zu
"extensional" gerade die Eigenschaft eines Dings oder Vorgangs
bezeichnen, die sich als "in der nach innen gerichteten
Verdichtung" zeigt. Ausdrücklichlich ist nicht "intentional"
gemeint.
558
Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 43.
559
Bleinagel, Absolute Prosa, S. 94-96.
560
Vgl. Bleinagel, Absolute Prosa, S. 3 u. 76f.
561
Vgl. Meister, Sprache und lyrisches Ich, S. 64f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Ernst Cassirer bereits erkannte, daß im Mythos das Zeichen noch gleich Bezeichnetes,
"Dingmoment gleich Bedeutungsmoment" ist und insoweit Ich und Welt dabei noch
ungeschieden sind.562 Ein Teil verweist immer zugleich auf viele andere, ja es ist in diesem
komplexen Bedeutungsraum sogar unmöglich, eine konkrete Bedeutung eines Teiles
auszusondern oder auszumachen. Das mythische Sprechen, entstanden aus der
Geschlossenheit und Einheitlichkeit archaischer Weltanschauung, hat bis heute diese
Homogenität, zumindest im sprachlichen Bereich, bewahrt. Damit drängen sich auch alle
Inhalte, die der Mythos umfaßt, zusammen, egal ob es sich dabei um Bild oder Ding
handelt. Aufgrund dieser im Mythos waltenden Indifferenz und Ungeschiedenheit der
Inhalte muß man heute davon ausgehen, daß die Struktur des Mythos ein prinzipiell
anderes Sprachverfahren darstellt, in jedem Fall aber ist Mythos Sprache (siehe oben,
Kapitel 2). Hierbei liegt wiederum die Hinweis nahe, daß mythisches Sprechen ein Raum
bildendes und räumlich strukturiertes563 Grenzverschiebungsverfahren des pars pro toto
darstellt; allein in der räumlichen Sprachstruktur lassen sich Bedeutungen und Inhalte
solcherart anordnen, wie das der Mythos leistet.
"So hat sich bereits gezeigt, wie das mythische Denken zwischen dem Ganzen und den
Teilen nirgends eine scharfe Grenzscheide setzt - wie für dasselbe der Teil nicht nur das
Ganze vertritt, sondern es geradezu ist."564
Der Mythos ist also ein stetig agierendes pars pro toto, ein totum pro parte565, besser
gesagt ein synekdochisches funktionales Raum-Zeichen, das aber durch seine
562
Cassirer, Symbolische Formen, II, S. 31f. u. 51.
Vgl. ferner Liebrucks, Sprache und Mythos, S. 257, 267 u. 269.
563
Trotz allen Verhaftetbleibens Cassirers (Die Begriffsform im
mythischen Denken [1922], S. 48f., in: E. C., Wesen und Wirkung
des Symbolbegriffs, S. 1-70; im folgenden zitiert als Cassirer,
Begriffsform) an einer antiquierten, das heißt vorsprachlich
kulturellen Konzeption von Mythos, streicht er doch für ein
vollkommen den Mythos als Sprache und äquivalente Zeichentheorie
nehmendes modernes Verständnis wesentliche Aspekte, wie den der
Räumlichkeit des Mythos, heraus: "Wenn das wissenschaftliche
Denken bestrebt ist, den Primat des Zeitbegriffs vor dem
Raumbegriff festzustellen und immer bestimmter auszuprägen, so
bleibt im Mythos der Vorrang des räumlichen Anschauens vor dem
zeitlichen durchaus gewahrt. (...) Aus der allgemeinen Struktur
des mythischen Kausalbegriffs (...) werden, da die Schematisierung
wesentlich durch Vermittlung der Raumform, nicht durch die der
Zeitform erfolgt, die einzelnen Glieder der Mannigfaltigkeiten
nicht auf Vorgänge, auf Bewegungsprozesse zurückgedeutet, sondern
hier werden sie auf die unterschiedlichen Gegenden im Raume bezogen
und an diese gleichsam angeheftet."
564
Cassirer, Symbolische Formen, II, S. 82f.
Vgl. ferner ebd., S. 56 u. 299.
565
Cassirer, Sprache und Mythos, S. 151f.
Schmidt-Henkel (Mythos und Dichtung, S. 267f.) bezeichnet das
mythische Denken gleichfalls als eine überzeitliche
sprachimmanente Leistung des pars pro toto, das dabei die
Erkenntnisdistanz und die Subjekt-Objektspaltung aufhebt und stets
variabel, das heißt beliebig gestaltbar bleibt.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Wie auch im Falle Benns gesehen, ist der mythische Zeit-Raum oder auch Zeichen-Raum,
nicht zuletzt aufgrund dieser Ungeschiedenheit von Teil und Ganzem, sowohl synchron-
simultan als auch sukzessiv567, auf jeden Fall übersteigt er jegliche bisherige Sprach- und
Erzählstruktur.568 Er bildet eine homogene Sphäre, in der alle Elemente durch ihre
beliebige Varianz und Bezüglichkeit schließlich zu einem simultanen
Bedeutungskontinuum von Zeichen werden.
NEBEN Cassirer war es aber auch Claude Lévi-Strauss, der den Mythos als ein
Zeichen betrachtete, und zwar erstmals als ein einzelnes. Er nannte den Kern des Mythos
Mythem.569 Ob im Anschluß daran oder im Gefolge der symbolischen Interpretation des
566
Cassirer, Symbolische Formen, II, S. 65.
567
Ebd., II, S. 67.
568
Auch Cassirers Mangel ist es hierbei, obgleich er den
sprachlich-funktionalen Aspekt des Mythos herausstreicht, diesen
sodann wieder gebunden an anthropologisch-kulturgeschichtlichen
Phänomene (wie z.B. der Religion etc.) nachzuweisen und eigentlich
nicht eingehender die Mechanik des Mythos in seinem eigenen Kosmos
zu behandeln. Cassirer erkennt weiterhin nicht, daß die von ihm
richtig erkannte mythische Homogenitätsstruktur nicht unbedingt
dem kulturgeschichtlichen Ablösungsprozeß unterliegt, sondern sich
nach wie vor als eine Grundkategorie sprachlich-mythischen
Welterfassens fortsetzt.
Vgl.: Helmut Holzhey, Cassirers Kritik des mythischen
Bewußtseins, S. 195, in: Hans-Jürg Braun u.a. (Hg.), Über Ernst
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M.
1988, S. 191-205.
569
Claude Lévi-Strauss, Anthropologie Structurale, S. 232f. u. 240.
Das Mythem konstituiere sich auf Satzebene, und zwar ergebe sich
der Sinn des Gesamtmythos im wechselseitigem kontextuellen Bezug
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Mythos570, auf jeden Fall aber schält sich mit der zunehmenden "Autofunktion" der Sprache
im zwanzigsten Jahrhundert auch der neue zeichenhafte Charakter des Mythos heraus.
Dabei wird durchaus deutlich, daß er zu einem raumbildenden synekdochischen
Zeichenkomplex tendiert, durch dessen selbstbezügliche Geschlossenheit Mythos sich
nach außen sogar den Anschein eines Großzeichens, eines komplexen
Zeichenkontinuums verleiht. Es ist dies der räumliche Aspekt des Mythos. (Vgl.
"Raumwörter" bei Benn)
Das im semantischen Raum ausgedehnte Zeichen oder Kontinuum besitzt so seine
eigene Zeitform, und zwar die der Zeitlosigkeit, in der in jedem Moment alle Elemente
zusammengesetzt werden können, seien sie aus der Vergangenheit, oder der Zukunft, der
Utopie genommen, seien sie aus völlig unzusammenhängenden Bereichen und
Paradigmen entlehnt, wodurch in der in sich geschlossenen, Bedeutungsvarianz ein
anderer Raum, der imaginär-mythische Bedeutungsraum entsteht. (siehe oben) In
Hermann Brochs "Die Schlafwandler" kann man Vergleichbares lesen:
"Denn was immer der Mensch tut, er tut es, um die Zeit zu vernichten, um sie aufzuheben,
und diese Aufhebung heißt Raum. Selbst die Musik, die bloß in der Zeit ist und die Zeit
erfüllt, wandelt die Zeit zum Raume, und daß alles Denken im Räumlichen vor sich geht,
daß der Denkprozeß einer Verquickung unsagbar verwickelter vieldimensionaler logischer
Räume darstellt, diese Theorie besitzt allergrößte Wahrscheinlichkeit. Ist dem aber so,
dann mag es auch klar sein, daß allen jenen Manifestationen, die sich unmittelbar auf den
Raum beziehen, eine Bedeutung und Sinnfälligkeit zukommt, wie sie keiner anderen
menschlichen Tätigkeit je zukommen kann."571
Daß menschliche Vorstellung immer bildlich ist572, das heißt weitaus mehr räumlich
dreidimensional als zugleich räumlich und zeitlich, also "vierdimensional" geprägt573,
korrespondiert mit dem Mythos als raumgestalterischer Grundlage der Sprache. Ernst
Cassirer hat letztlich mit seiner Auffassung, "daß es nicht eine allgemeine, schlechthin
feststehende Raum-Anschauung gibt, sondern daß der Raum seinen bestimmten Gehalt
und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung erhält, innerhalb derer er (...)
Gestalt" und dabei entweder als "mythische, als ästhetische oder als theoretische
Ordnung" annimmt, wichtige Impulse in diese Richtung gesetzt.574 Aber auch nach Maurice
Merleau-Ponty ist die Räumlichkeit der Existenz eine Grundkategorie des Seins, und zwar
so, daß "nach innerer Notwendigkeit [die Existenz; Anm. d. Verf.] sich einem Außen öffnet,
und zwar so wesentlich, daß wir von einem geistigen Raum und einer Welt der
Bedeutungen und der sich in ihnen konstituierenden Denkgegenstände sprechen
können"575, ein erweiterter Aspekt des Raumes, der besonders für den imaginativ
dichterischen fiktionalen Raumentwurf576 wichtig wird. Darum, durch die Inanspruchnahme
der seelischen Imagination, schlägt Sprache577 und somit auch der Mythos578 in die Bildung
zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt liegt darin, daß die
Zeitlichkeit als ekstatische Einheit so etwas wie einen Horizont
hat."
574
Ernst Cassirer, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum,
S. 26, in: Alexander Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der
Erzählkunst, Darmstadt 1976. (erstmals in: Beilagenheft zur
Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 25
[1931], S. 21-26)
575
Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v.
Rudolf Boehm, Berlin 1966 (im Original: Phénoménologie de la
perception, Paris 1945), S. 341. (= Phänomenologisch-
Psychologische Forschungen, Bd. 7) (im folgenden zitiert als
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung)
576
Die Bedeutung des Raumes in der Konstituierung der Fiktionalität
und vice versa unterstreicht auch Norbert Reichel (Der erzählte
Raum. Zur Verflechtung von sozialem und poetischem Raum in
erzählender Literatur, Darmstadt 1987 [= Impulse der Forschung,
Bd. 52]; im folgenden zitiert als Reichel, Erzählte Raum): "Ohne
die Erörterung der Beziehung zwischen Raum und Zeit, die zugleich
eine Erörterung des Verhältnisses von Fiktion und Realität in
einem Werk ist, läßt sich die Frage nach Darstellung des Raumes in
der Literatur nicht beantworten." (Ebd., S. 4)
577
Friedrich Creuzer (Symbolik und Mythologie der alten Völker
besonders der Griechen. Im Auszuge von Dr. Georg Heinrich Moser,
Leipzig und Darmstadt 1822, S. 24-36) schon skizzierte die
Funktion des Mythos und sein Zusammenwirken mit dem Symbol als
räumlich, mit fließenden Bedeutungsgrenzen und bezüglich seiner
Bedeutungen zur Totalität neigend: "Schweben, Unentschiedenheit
zwischen Form und Wesen, ist daher dem Symbol eigen. (...) Im
Symbol gelangt ein allgemeiner Begriff in irdischem Gewand durch
das äußere Auge vor das Auge unseres Geistes; im Mythus äußert die
erfüllte Seele ihr Ahnen und Wissen in einem lebendigen Worte.
Darum sind auch die ältesten Mythen nichts als ausgesprochene
Symbole, (...) bloße Formeln, trocken, abgebrochen und hart, mehr
an das Bild, das Beharrliche im Raume, als an das Fortschreitende
der Sprache und Rede erinnernd. (...) Daß der Mythus in seiner
ältesten Form, durch gedrungene Kürze und momentane Totalität
seiner Wirkung, sich noch getreuer an das Symbol anschließe, und
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
von geschlossenem internem Raum579 um.580 Gemeint ist schließlich ein Raum, der sich
gegenüber dem externen Raum jeglicher Gegenständlichkeit und
Stierle faßt das Modell der Bricolage zusammen; er schreibt, Bricolage sei die "Tätigkeit,
Altes, das unbrauchbar geworden ist, aus seinen ursprünglichen Zusammenhängen
herauszunehmen und durch einfallsreiche Kombination einer neuen Intention dienstbar zu
machen. Der bricoleur erschafft nicht aus dem Nichts, sondern indem er auf ein Arsenal
von Vorhandenem zurückgreift und dieses umfunktioniert."584 Kennzeichen des Mythos als
Bricolage ist es vor allem, daß er kein Referenzzentrum und Bezugszentrum mehr
aufweist585, was ihn - als Zeichen genommen - zu einem strukturierten, selbstreferentiellen,
sich selbst deutenden und zunehmend interpretierenden Zeichenkomplex bzw. Makro-
Zeichen macht.586 Der Mythos hat damit seinen Sinn in sich selbst, er ist nach außen hin
durch seine literarisierte Autonomie abgeschlossen. In sich homogen, tendiert er dazu, die
Grenzen und Konturen seiner Inhalte in stetem Bezug und in unentwegter Interpretation
einander anzugleichen.587
In der Synchronie des Mythos, so Lévi-Strauss588, im mythischen Nicht-Ort, oder wie Hans
Blumenberg es bezeichnet, in der mythischen "Ubiquität" ohne Zeit589, ist also eine
vollkommene Entfaltung und neue Strukturierung von Zeichen und damit auch von
Literatur erst möglich.590 Und in dieser "Ubiquität" schlechterdings591, gekennzeichnet durch
den Nicht-Ort und die strukturelle Geschlossenheit, schneiden sich mythische und
dichterisch-fiktionale Praxis592, dort nämlich, wo der Mythos mit seiner "Allgegenwart" ein
voraussetzungsloses und nicht weiter hinterfragtes Einverständnis zwischen Erzähler und
Leser etabliert. In diesem einheitlichen Raum, in dieser geschlossenen Zeitstruktur,
bedingt durch die räumliche Geschlossenheit, in dieser "mythischen Homogenität", um es
kurz zu bezeichnen, herrscht sowohl für Autor als auch für den Leser die absolute
Verfügbarkeit von Inhalten, von Anfang und Ende.593 Der Mythos fügt sich dabei
gleichzeitig nicht nur als eigene Sprache innerhalb der Alltags- und Literatursprache,
sondern er wird gleichermaßen auch zu seinem eigenen Bezugssystem, einer
Referenzgrundlage mit einer eigenen Semantik, die sich wesentlich über die
kontinuierliche Selbstreferenz ergibt. So hebt der Mythos die semantischen
Selektionsbeschränkung weitgehend unter Maßgabe seiner eigenen Selektion und
Distribution auf, das heißt, er ordnet seine Elemente nach eigenen Gesetzen, seien diese
nun durch Kult, soziales Klischee oder die Assoziationstätigkeit des Einzelnen
vorgegeben. Das gibt ihm seine hervorgehobene Bedeutung und erklärt dabei zugleich
seine unabdingbare Verwendung im literarischen Autonomisierungsprozeß, denn in ihm ist
die dichterische Sprache jeglicher Inpflichtnahme durch irgendeine feste Bezeichnung
enthoben, sie entfaltet ihr eigentliches Potential.594
Entgegen dem strukturalistischen Ansatz von Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes
läßt sich darum der Mythos innerhalb der Sprache mittlerweile sehr wohl als anderer
Bereich einer eigenen Zeichenfunktion rhetorischer Herkunft, und zwar, wie schon gesagt
wurde, synekdochischen Charakters595 erfassen. Daß der Mythos schließlich, zumindest
der Mythos der Neuzeit, wesentlich als strukturelle und artifiziell-komponierte Form
besteht, daran läßt sich mittlerweile schwerlich zweifeln.596 Im Zusammenhang der
Verlegung von erzähltem Geschehen in einen in sich abgeschlossenen künstlichen Zeit-
Raum, der weder geschichtlich noch literarisch vermittelt ist, erlangt der Mythos seine sich
590
Zur poetischen Möglichkeit als unbegrenzte Ausdehnungsfähigkeit,
Offenheit und Assoziativität des mythischen Begriffs und seines
Zeichens vgl.: Barthes, Alltagsmythen, S. 99f.
591
Ein älteres, aber in seiner literaturgeschichtlichen
Schrittmacherfunktion umso einprägsameres Beispiel der mythischen
Ubiquität bietet schon Goethes Behandlung des antiken Mythos in
Faust II, insbesondere in der "Klassischen Walpurgisnacht", wo er
die neuzeitlich wiederum selbst mythisierte Faustgestalt mit
christlich-heidnischer Teufelsmythologie zeitgleich in der
Handlung mit dem antiken Mythos in einem imaginären und
geschlossenen Raum verschränkt. (Goethe, Faust II, S. 215-256)
592
Blumenberg (Arbeit am Mythos, S. 85) weist dabei jedoch darauf
hin, daß der Mythos eine größere Verbindlichkeit zu leisten vermag
als die Fiktion. Sein Sinnverweis kommt ohne Autorschaft und
letztlich ohne eine strikte Ordnung a priori aus.
593
Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 114.
594
Nach Weimann (Literaturgeschichte, S. 350) besteht allerdings
ein Unterschied zwischen der dichterischen und der mythischen
Metasprache: Dichtung bewahre das Zeichen als Signifikant, Mythos
integriere es.
595
So auch von Graevenitz: Mythos, S. 294.
596
Lévi-Strauss, Anthropologie Structurale, S. 254f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
konstituierende Rolle, das heißt, im Kontext der bezugslosen und autonomen Kunst wird
diese notgedrungen auf einen Urzustand der Sprache verwiesen, auf den Mythos.
Inzwischen ist aber auch der Ansatz von Lévi-Strauss schon wiederholt, sogar in der
Mediävistik597, kritisch in der Germanistik angewendet worden, was darüber hinaus einen
gewissen Neuansatz durchaus rechtfertigen dürfte. Auch ist mittlerweile bekannt, wie erst
aufgrund der formalen Strukturiertheit einer Erzählung oder eines Textes dieser zu etwas
Eigenem wird; ein Text schafft sich damit seinen eigenen außerempirischen und nicht
empirisch-geometrischen Raum, von allen anderen Raumkoordinaten getrennt und in sich
homogen abgeschlossen. Einige Bemerkungen dazu und die wichtigsten Ergebnisse der
Mythenforschung sollen auch hier Aufschluß geben, insbesondere über die Raum-Zeit-
Struktur des Mythos und seine semantischen Eigenschaften. Letzten Endes lassen sich
aber anhand dieser eigenwilligen Raum-Zeit-Struktur des Mythos weitaus mehr
Phänomene dem mythischen Sprechen zuordnen, als das bisher vielleicht der Fall war.
Der Mythos ist eine räumlich interpretierende Zeichensphäre, das ist schon gesagt
worden. Dadurch aber, daß er durch seine beinahe rein immanente Struktur und durch
seine, nahezu ungebundene, eigene "Realität" zunehmend auf sich selbst verweist, war er
weitaus weniger an die umgebende Wirklichkeit gebunden als ein "normales", das heißt
denotierendes Zeichen. Wie bereits erörtert, sind ihm die säkularisierten Inhalte, die er
verwendet, nur Anlaß und Motiv, um sich daraus seine eigene, schöpferische Bedeutung
zu schaffen (Bricolage). Sein Verfahren ist also geprägt durch Überlagerung mit strukturell
vermittelten neuen Inhalten, weniger mit neuen "Begriffen" oder einem "sekundären
semiologischen System".598 Das ist es, was in diesem Zusammenhang auch be-deuten
und interpretieren meint. Doch diese Überlagerung ist nur in sich, also immanent
verständlich, und das heißt soviel wie, sie ist geschlossen und nicht mehr von irgendeiner
empirischen Wirklichkeit abhängig. So weit der Gang dieser Erörterung. Der rein fiktionale,
imaginäre moderne Mythos stellt damit jedoch keine Welt mehr dar, sondern er begreift sie
mit bzw. mit sich. Er ist seine eigene Welt. So konnotiert und verschiebt der Mythos
unmerklich die vorhandenen Inhalts- bzw. Bedeutungsgrenzen, und das eher, als daß
597
Hartmut Kokott, Mittelhochdeutsche Mythen?, in: Acta Germanica,
Jahrbuch des südafrikanischen Germanistenverbandes, Bd. 13 (1980),
S. 15-29.
598
Barthes, Mythen des Alltags, S. 92. Eine Auseinandersetzung mit
Barthes sei hier nur am Rande vermerkt.
Roland Barthes zweites Zeichensystem des Mythos rechnet nicht
mit ein, daß auch schon im primären Zeichensystem, der Sprache
also, eine gewisse Verdopplung (dergestalt, wie sie mit dieser
Arbeit erläutert wird) möglich ist. Dadurch, daß der moderne
Mythos fortwährend seine alten, vor allem aber seine neuen Inhalte
verschiebt und uminterpretiert, entsteht in diesem Rahmen eine
ausreichende Entgrenzung. Zwar bleibt diese im selben System von
Significat, Signifcant und und Signifié verhaftet, aber schon hier
ist eine neue "Begriffsbildung", wie sie Barthes für den Mythos vorrangig
veranschlagt (ebd., S. 98f.), ohne weiteres gegeben. Es bilden
sich im Verständnis dieses Beitrags mit dem funktionalen,
semiotischen Mythos eher sekundäre Inhalte, die aber
nichtsdestoweniger auf gleicher Ebene siedeln, nur mit dem einen
Unterschied, daß sie "transzendent" sind und erst durch die
strukturelle, bzw. rituelle Ausübung und Verbindung des Mythos
hervortreten, das heißt transzendiert werden. (Vgl. Lévi-Strauss,
Anthropologie Structurale, S. 254)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
qualitativ neue denotative Inhalte zugänglich gemacht werden.599 Darin gleicht er eben der
Synekdoche und dem modernen Symbolbegriff.600
Genauer besehen, stellen sich aber auch Unterschiede zur klassischen Synekdoche ein.
Während in der dem Mythos eigenen Verweisstruktur das Bezeichnete ganz aufgeht, also
keine substantielle Referenz zur Wirklichkeit mehr möglich ist, weil Sprache als arbiträres,
autonomes Gebilde601, losgelöst von der Struktur der Dinge, erfahren wird, so bleibt im
Gebrauch vor allem der klassischen Rhetorik dagegen das synekdochisch Bezeichnete im
Zeichen noch erkennbar. Das pars steht in einem minimalen evidenten Zusammmenhang
mit dem toto. Dem mythischen Raumzeichen mangelt jedoch eine solche Schlüssigkeit.
Sein sprachlicher Syntheseprozeß ist nur noch figurativ, das heißt bedingt denotativ
nachvollziehbar; im Grunde fällt die denotative Funktion ganz weg. In der, einen
imaginären Raum abgrenzenden, Synekdoche werden neue Bedeutungen, (Kon)-
Notationen nicht nur unterschoben, sondern auch erschlossen. Dabei bleibt der säkulare
Mythos selbstbezogen, das heißt er interpretiert eigentlich fortlaufend - und mit der
zunehmenden literarischen Ausgestaltung umso mehr - nur noch alle seine einmal
eingeführten und neu nachträglich hinzugefügten eigenen Elemente; er ist das
Kaleidoskop der enttranszendierten Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts
schlechthin.
In gewissem Sinn könnte man auch meinen, der Mythos sei metaphorisch, das heißt im
Vergleich völlig Konträres und Heterogenes kontiguell in einen wechselseitigen
Bedeutungszusammenhang bringend, doch dem ist nur so, was den Charakter des
Heterogenen betrifft. Der Mythos als eigengesetzlicher Sprach-Raum vermag ohne
weiteres das in der Wirklichkeit Unzusammenhängende innerhalb seines Bereiches zu
kombinieren, wo es dann eben einen neuen Sinn erhält. Damit, ohne die Forderung einer
realen evidenten Beziehung der Elemente untereinander, hört der Mythos auf,
metonymisch zu sein, also das eigentlich Gemeinte durch ein Anderes, das in einer realen
Beziehung zu ihm steht, zu ersetzen, ähnlich der Metapher. Die mythische Erfahrung ist
599
Roland Barthes (Mythen des Alltags, S. 93) kommt zu einem
vergleichbaren Teilergebnis: "Alles vollzieht sich so, als ob der
Mythos das formale System der ersten Bedeutung um eine Raste
verstellte."
Die Grenzverschiebung, von der er spricht, geht allerdings weiter,
als vertretbar erscheint. Sie übersteigt das System der Sprache in
sich zum "zweiten semiologischen System".
600
Zum Symbol in der Moderne vgl. Hoffmann, Raum, S. 286f.: "Der
referentielle Bezug auf eine empirische Welt geht verloren mit
zunehmender Symbolisierung auf allen Schichten des literarischen
Werks (einschließlich der Metaphorisierung der Sprache), mit der
dauernden Kombination des Heterogenen und der Substitution des
einen für das andere - der Charakter für die Sachen, der Dinge für
die Menschen, des Raumes für die Zeit und beider für das Geschehen
(...) Der Wirklichkeitsbezug geht verloren zugunsten einer
negativen, das heißt nun keine Bedeutung mehr setzenden, aber den
Verweisungsmechanismus des Symbols beibehaltenden Symbolisierung,
die in ihrem Leerlauf auf rein literaler Ebene paradoxerweise das
einzig noch Faßbare ist und damit nur noch formal, wenn überhaupt,
auf das Groteske bzw. die Absurdität der Welt verweist."
601
Nach Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale,
Payot Paris 1972. Vgl. Bernhard Lindemann, L'arbitraire du signe.
Zur Neubestimmung eines Saussureschen Begriffs, in: Orbis, 21, Nr.
2 (1972), S. 275-288.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
nach wie vor synekdochisch angelegt: In einem Teil konnotiert der mythisch Denkende
immer zugleich das Ganze mit. Am Ende beginnt der Mythos so, bewußt an sich selbst zu
arbeiten (Blumenberg), eine Aufgabe, die er vorher nur an der Welt wahrnahm.
Im mythischen Raum, wo die Zeit aufgehoben ist, in der fortgesetzten sprachlich-
räumlichen Verweisung lassen sich insofern keine linearen oder syntagmatischen Zeit-
und damit klassischen Erzählstrukturen mehr durchführen.602 Der Mythos ist, strukturell
gesehen, ein unauslotbares Syntagma, in dessen Ebene bzw. Raum sich keine zeitlich
syntagmatischen, das heißt Satz- oder textbezüglichen Strukturen mehr ermitteln lassen:
sein Bedeutung konstituierendes und arrangierendes "Syntagma" ist deshalb auch eher
ein immanentes Paradigma, der mythische Bedeutungsraum.
Dessen komplexes Beziehungsgeflecht besteht beinahe ausschließlich aus der
Austauschbarkeit von Elementen und vor allem aus der Austauschbarkeit ihrer
Bedeutungen. Dadurch muß für eine Aussage weder ein Diskurs noch ein sprachliches
Syntagma gebildet werden, sondern in der statisch geschlossenen Räumlichkeit können
alle sprachlichen Elementen durch den Raum hindurch auf direkter Linie miteinander in
Verbindung treten, während sie das im zweidimensionalen Syntagma primär nur im
Kontext und sekundär nur durch Metastrukturen (Motive, Parallelen, Simultaneität, etc.)
vermochten603, wodurch im Grunde der von der westlichen Kultur und ihrer, durch die Logik
beherrschten, analytisch bedingten Sprach- und Literaturauffassung nur Vorausdeutung
und Rückdeutung im Erzählfluß zur Verfügung standen, Prolepse und Analepse.
Schlechterdings versucht das moderne Erzählen aber am Ende doch noch, diese
Zergliederung der Wirklichkeit im erzählten und arrangierten Darlegen und Darstellen, in
der "Polyhistorie", wieder synthetisch zu überwinden, wobei jedoch, wie das der moderne
Roman gezeigt hat, dieses Erzählen scheitern muß. Es scheitert, insofern es letztlich
allenthalben seine Unabgeschlossenheit und Offenheit eingesteht. Helmut Koopmann hat
602
Georg Lukács (Theorie, S. 108f.) noch erklärt die Zeit als das
wesentliche Element im Roman und im modernen Erzählen: "Nur im
Roman, dessen Stoff das Suchenmüssen und das Nicht-finden-Können
des Wesens ausmacht, ist die Zeit mit der Form mitgesetzt: die
Zeit ist das Sichsträuben der bloß lebenhaften Organik wider den
gegenwärtigen Sinn, das Verharrenwollen des Lebens in der eigenen,
völlig geschlossenen Immanenz. (...) Im Roman trennen sich Sinn
und Leben und damit das Wesenhafte und Zeitliche; man kann fast
sagen: die ganze innere Handlung des Romans ist nichts als ein
Kampf gegen die Macht der Zeit."
Vgl. auch Bruno Hillebrand (Mensch und Raum im Roman. Studien
zu Keller, Stifter, Fontane, München 1971, S. 6): "Die Zeit nimmt
dem Leser gleichsam den Atem, wie einem Läufer, der zum Ziel eilt.
Ist aber dieser Lauf abgeschlossen, erinnert sich der Leser - vor
allem mit zunehmenden Abstand - der durchmessenen Strecke und des
Schauplatzes als etwas Räumlichen".
Vgl. Angela D. Friederici (Raumreferenz unter extremen
perzeptuellen Bedingungen: Perzeption, Repräsentation und
sprachliche Abbildung, S. 17, in: Klaus Rehkämpfer (Hg.),
Raumkonzepte in Verstehensprozessen. Interdisziplinäre Beiträge zu
Sprache und Raum, Tübingen 1989, S. 17-36 [= Linguistische
Arbeiten, 233]): "Räumliche Strukturen, das heißt RAUM ist
dreidimensional. SPRACHE dagegen findet als geordnetes
Nacheinander in der Eindimensionalität der Zeit statt."
603
Vgl. ähnlich schon Cassirer, Begriffsform, S. 50.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
das in seinem Buch zum klassisch-modernen Roman anhand Hermann Brochs "Die
Schlafwandler" benannt:
"Der polyhistorische Roman kann die Totalität der Welt deswegen nicht repräsentieren,
weil er nur sukzessiv, eben polyhistorisch, durch die Zeiten oder auch Räume hindurch
wieder mühsam zusammensetzen muß, was der mythische Roman als unverbrüchliche
und von vornherein garantierte Einheit darstellt."604
Alle dabei sonstig verwendeten Kompositionselemente und -strukturen müssen darum wie
aufgesetzte Ausflüchte auf der Suche nach dem ursprünglich ganzheitlich-synthetischen
Sprechen wirken, ein Sprechen, wie es nur der Mythos darstellt.
DIE Brisanz des Mythos besteht hierbei gerade in der erneuten Zugänglichmachung
des geschlossenen, das heißt räumlichen Sprechens und Deutens. Zeitlich angelegte
Sprache bleibt in letzter Konsequenz immer offen, immer fließend, wie sie es ihrem Wesen
nach sein muß. Der Raum zwar in gewisser Weise auch, doch ist der semantisch-
imaginäre Raum, wie das Wölfflin in der räumlich-statischen gegenseitigen Bezogenheit
der Teile des Bildes zu zeigen versucht hat605, als ästhetisch vorgestelltes oder
wahrgenommenes Kunstwerk zumeist intern geschlossen, obgleich eine Erweiterung zu
außerhalb ihm liegenden Elemente möglich ist.
Raum ist der menschlichen Wahrnehmung erfaßbar, vorstellbar, weil er sich allein unter
abgegrenzten Koordinaten entfaltet, zumindest zwischen drei Punkten.606 Zeit hingegen
wird dem Menschen nie vorstellbar werden, sie bleibt entweder als Ewigkeit oder
Unendlichkeit nur schwer zugänglich. Der mythische Sprach-Raum will dagegen nicht
eindeutig erklären oder Wirklichkeit erfassen, also in der Ausdehnung progressiv auf diese
verweisen, sondern er verweist, wie gesagt, nur auf sich selbst. Dadurch ruht in ihm die
Zeit, denn in der unausgesetzten Beziehung und Bedeutung ist kein einfaches, lineares
Zeitgefüge, auch nicht in gestufter zyklischer Form mehr möglich. Wo sich alles auf jedes
und umgekehrt beziehen und dieses durch seine Inbeziehungnahme einfärben kann, da
ist eben keine zeitliche Ordnung des Nacheinander mehr möglich, sondern nur noch eine
simultane.
Wenn die Struktur des Mythos aber vornehmlich durch die Intensität des Raums und nicht
durch die äußerliche Ausdehnung geprägt ist, so entsteht zuletzt in der
Wechselverweisung ein räumlich komplexes System, eine Matrix. Leitet sich daraus die
Sprach-Sphäre des Mythos ab, ein nur unter Vorbehalten zeitlich geprägtes Text-Raum-
Vektorkontinuum, ein räumliches Verweis- und Bezugssystem, so ist dessen Komplexität
604
Helmut Koopmann, Der klassisch-moderne Roman in Deutschland.
Thomas Mann, Alfred Döblin, Hermann Broch, Stuttgart Berlin Köln
Mainz 1983, S. 119f. (= Sprache und Literatur, 113) (im folgenden
zitiert als Koopmann, Klassisch-moderne Roman)
605
Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das
Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Basel München
1915, S. 137 u. 141f. (im folgenden zitiert als Wölfflin,
Grundbegriffe)
606
Zur Abhängigkeit des imaginären Raumes vom objektiven vgl.:
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 335 u. 338.
Zum imaginären Raum als prinzpiell durch Zweipunkt- bzw.
Dreipunktlokalisation konstituiertes Gebilde vgl.: Theo Herrmann,
Vor, hinter, rechts und links: das 6H-Modell. Psychologische
Studien zum sprachlichen Lokalisieren, S. 127f., in: Sprache und
Raum, Göttingen 1990., S. 117-140. (= Zeitschrift für
Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 78)
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
607
Bereits Oswald Spengler (Untergang, S. 214) schreibt der, zur
Synekdoche verwandten, Grenzverschiebungstrope des Symbols als
sprachlichem Zeichen ausdrücklich auch räumliche Eigenschaften zu:
"Symbole, als etwas Verwirklichtes, gehören zum Bereich des
Ausgedehnten. Sie sind geworden, nicht werdend - auch wenn sie ein
Werden bezeichnen, mithin starr begrenzt und den Gesetzen des
Raumes unterworfen."
608
Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 340.
609
Der Notwendigkeit, sich - angefangen im Mittelalter - gegenüber
geistlicher und historischer Dichtung, heutzutage gegenüber der
Gebrauchsliteratur, der Literatur mit ökonomischem oder
ideologischem Gebrauchswert, zu legitimieren.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
stärkerem Maße nach außen hin bezieht, indem es philosophisch, historisch oder
ideologisch geprägt bleibt, und so auch wirken will. Seine Struktur ist wesentlich offen.
Erst von daher ist eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Kunstwerk und Mythos
möglich: ersteres interpretiert bzw. referiert die Welt, es hat eine prinzipiell strukturelle
offene Kontur, letzterer aber ist, obgleich nach außen hin erweiterbar und insoweit zu
einem gewissen Teil auch offen, im Grunde, das heißt in seiner Struktur und
Zeichenbeziehung, innerlich geschlossen. Was einst Wölfflin gemeinhin, rein auf den
bildlichen Bereich bezogen, als generelle Strukturen der Malerei und Skulptur erklärte,
nämlich geschlossene und offene Form610, das stellt sich somit weniger als Gattungs- oder
Epochenfrage, sondern wurzelt viel tiefer, und zwar im Mythos, im Ursprung und Ende
allen sprachlichen Gestaltens.
Nur noch Georg Lukács hat in "Die Theorie des Romans" einen letzten großen Versuch
unternommen, den Kunstcharakter unter der Kategorie von Geschlossenheit und Totalität
zu untersuchen. Lukács erkennt dies als die Voraussetzung für die neue Immanenz und
die demzufolge notwendige selbstbeschränkte Totalität des modernen Kunstwerks, er
wagt allerdings noch nicht, den Schritt zu einer Kunstbetrachtung, die sich nicht im
Bezugsfeld zum Leben und der Wirklichkeit definiert:
"Die visionäre Wirklichkeit der uns angemessenen Welt, die Kunst, ist damit selbständig
geworden: sie ist kein Abbild mehr, denn alle Vorbilder sind versunken; sie ist eine
erschaffene Totalität, denn die naturhafte Einheit der metaphysischen Sphären ist für
immer zerrissen."611
Hingegen kann der Versuch Umberto Ecos, mit dem "offenen Kunstwerk" indirekt auch
das Geschlossene, als die durch die nicht abgeschlossene und variable
Rezeptionshaltung des Lesers bedingte kommunikative Kraft eines Kunstwerks,
schlechthin zu bestimmen, zum inneren Verständnis eines Kunstwerkes nur bedingt
beitragen; Eco mißachtet zu sehr das Referenzproblem.612 In den unendlichen Spielarten
der Rezeption verliert sich dieser grundlegende sprachliche Faktor, eine Tatsache, die
Wolfgang Iser durchaus sah:
"Wenn im figurativen Sprachgebrauch der denotative Charakter der Sprache stillgelegt ist,
so ist eine figurative Verwendung doch nicht ohne Verweis. Der Verweis allerdings einer
610
Heinrich Wölfflin (Grundbegriffe, S. 130) schreibt zur
geschlossenen Kunstform: "Gemeint ist eine Darstellung, die mit
mehr oder weniger tektonischen Mitteln, das Bild zu einer in sich
selbst begrenzten Erscheinung macht, die überall auf sich selbst
zurückdeutet, wie umgekehrt der Stil der offenen Form überall über
sich hinausweist, unbegrenzt erscheinen will."
611
Lukács, Theorie, S. 29.
Eine Folge nach Lukács (ebd., S. 53) ist dabei auch, daß gerade
"die Lyrik (...) das Phänomenalwerden der ersten Natur ignorieren
und aus der der konstitutiven Kraft des Ignorierens heraus eine
proteische Mythologie der substantiellen Subjektivität schaffen"
kann.
612
Auch Gaston Bachelard (Poetik des Raumes, S. 242-272) unternimmt
noch einmal einen, allerdings nicht überzeugenden, Versuch der
Ehrenrettung für ein geschlossenes "rundes" Kunstwerkverständnis.
Zwischen der "Dialektik des Draußen und des Drinnen" befaßt er
sich mit der dichterischen Imagination in Bild und Raum, wobei er
aber nicht über die reine phänomenologische Beschreibung und
Bestätigung der inneren Räumlichkeit hinauskommt.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
aus der Relationierung entstandenen figurativen Sprachverwendung läßt sich nicht mehr
über bestehende Referenzsysteme einlösen. Er zielt auf Ausdruck und Repräsentation."613
Das heißt, etwas gegen den Strich gelesen und auf das Referenzproblem des modernen
Mythos bezogen, soviel wie, daß das figurativ-imaginäre Sprechen, wie es im Mythos
erscheint, eben weder durch den Leserbezug (Eco) noch durch den klassischen
semantischen Bezug zu einem Bezeichneten geprägt ist.614
Ganz im Gegenteil dazu gelingt es Julia Kristeva mit ihrer Auffassung des geschlossenen
Romantextes, >le roman comme un texte clos<, Geschlossenheit als zumindest Teil-
Bedingung von Sinnhaftigkeit zu begreifen und die Bedeutung dieses Kriteriums für
jegliche Stimmigkeit und Brauchbarkeit eines Textes zu formulieren.615 Prinzipielle
Offenheit und das im Vergleich dazu unstete Diskursive muß im Gegenzug stets zur
Relativierung seiner Aussagen führen, also auch in letzter Konsequenz zur
Kommunikationsunfähigkeit und - in dieser unendlich fortschreitenden Quantifizierung -
zum Verstummen. Kristeva kommt zu dem Schluß, daß nur durch die Geschlossenheit
eines Textes seine Beurteilung und Analyse ermöglicht wird: >Il est évident que les
concepts d'"arbitraire" et de "litéralité" ne peuvent être pensés que dans une idéologie de
valoration de l'oeuvre (phonetique, discursive) au détriment de l'écriture (de la productivité
textuelle), autrement dit, dans un texte (culturel) clos.<616
DIE moderne Erzählanalyse hat bisher ungleich stärker im Zeichen des analytischen
Denkens und Erfassens von Realität gestanden. In den so sprachlich vermittelten
analytischen Segmenten und in der von der Sprache als eines im Zeitkontinuum und somit
in der sukzessiven Satzstruktur geprägten Syntagmas dominierte meistens der Diskurs.
Das Erzählen auf einer sprachlich-zeitlichen Achse ging von der durch das abendländisch-
aristotelische Wissenschafts- und Kategoriendenken zerstückten Erfahrungswirklichkeit
aus und ordnete dieses wieder im zeitlich-historischen Erzählen. Die Literaturwissenschaft
kam dabei über die Struktur dieses Erzählens (Syntagma und Paradigma) nie hinaus;
wenn hierbei, in der diskursiven Methode, Räume untersucht wurden, so figurierten sie in
diesem Erzählbereich nur als Komponenten des Erzählens, wurden im zeitlich angelegten
613
Iser, Akte des Fingierens, S. 133.
614
Zum Vergleich Umberto Eco: "Das Modell eines offenen Kunstwerks
gibt nicht eine angebliche objektive Struktur der Werke wieder,
sondern die Struktur einer Rezeptionsbeziehung". (Offenes
Kunstwerk, S. 15) "So hat man in der Ästhetik über die Geschlossenheit
und Offenheit eines Kunstwerkes diskutiert: diese beiden Termini
meinen einen Aspekt des Kunstgenusses, den wir alle aus eigener
Erfahrung kennen (...): Einerseits ist ein Kunstwerk nämlich ein
Objekt, in dem sein Schöpfer ein Gewebe von kommunikativen
Wirkungen derart organisiert hat, daß jeder mögliche Konsument
(über das als Stimulans von Sensibilität und Intellekt empfundene
Spiel von Antworten auf die Konfiguration der Wirkungen) das Werk
selbst, die ursprünglich vom Künstler imaginierte Form
nachverstehen kann. In diesem Sinne produziert der Künstler eine
in sich geschlossene Form und möchte, daß die Form, so wie er sie
hervorgebracht hat, verstanden und genossen werde." (Ebd., S.
29f.)
615
Julia Kristeva, Recherches pour une sémanalyse, Le Seuil, Paris
1969, S. 115.
616
Ebd. S. 142.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Fortfahren als Varianten, nicht aber als gleichwertige Sprachkategorien erfaßt.617 Hatte
also die Sprache des modernen neuzeitlichen und wissenschaftsorientierten Menschen
versucht, die Wirklichkeit analytisch zu erfassen, so gelangte sie letzten Endes im
zwanzigsten Jahrhundert sowohl in der Literatur als auch in der Naturwissenschaft zur
Erkenntnis ihrer, aufgrund des dem syntagmatisch-kausallogischen Diskurses eigenen
beschränkten Erfassens, Offenheit und dem Eingeständnis der, solcherart in einem
linearen Syntagma unaussprechbaren, Bereiche. Wenn der moderne Roman in seiner
Offenheit und die moderne Lyrik in der sprachlichen Autonomie enden, so bezeichnen
diese Tendenzen, die dabei weite Bereiche der Sprache, Wirklichkeit und Erkenntnis
einfach ausklammern und der beliebigen Interpretation anheim stellen, genau jene mit
ihren sprachlichen Mitteln nicht auszusprechenden Bereiche. Besonders die moderne
Prosa scheint hiervon betroffen zu sein.
Wo immer in der Wissenschaft die Erkenntnis heutzutage von komplexen Funktionen und
vieldimensionalen Netzen reift, hat die Literatur diese Tendenz schon einige Jahrzehnte
früher durch den Aufbruch des eingleisigen Erzählens in das Zyklische, Simultane und
Vielstimmige vorweggenommen. Sowohl zyklisches als auch vielstimmiges Erzählen lösen
sich aber im Grunde nur im Erscheinungsbild von der syntagmatischen Achse, deren
Bedeutungsverfahren stets auf der kontingenten Ebene des Bezugs, also des
Vorhergesagten oder Nachhergesagten stehen bleibt, selbst wenn dieses motivisch auf
weitere Zusammenhänge verweist. Mit Ausnahme des in parallelen Diskursen möglichen
motivischen Verbindens, das dabei nur die Zweidimensionalität des Syntagmas mit der
räumlichen dritten Dimension eines textuellen Paradigmas stützend ergänzt618, diese
Zweidimensionalität aber als prägende Grundstruktur nicht ablösen kann, mit Ausnahme
dessen ist jedoch keine kontingente einheitliche Raumbildung im Text möglich.619 Das
Vorhergesagte des Satzes und sein Folgendes, nebst allen seinen motivischen Verweisen
ersetzen keine eigentliche sprachliche Räumlichkeit.
617
Im Grunde hat diese Richtung ihren bedeutendsten und Epoche
machenden Begründer schon in Gotthold Ephraim Lessing (Laokoon,
Aus dem Nachlaß, S. 555, in: Herbert G. Göpfert [Hg.], G. E. L.,
Werke, sechster Band, Kunsttheoretische und kunsthistorische
Schriften, bearbeitet von Albert von Schirnding, Darmstadt 1974)
gefunden, der im "Laokoon" den Raum als für die beschreibende
Sprache wesensfremd hält, wenn er auf den Punkt gebracht schreibt:
"Die Malerei brauchet Figuren und Farben in dem Raume. Die Dichtkunst
artikuliert Töne in der Zeit."
618
Hoffmann, Raum, S. 47.
619
Zeit und das im zeitlich strukturierten Syntagma geprägte
Sprechen wird zwar normalerweise als eindimensional bezeichnet,
doch, rechnet man die literarische Funktion der Sprache von
Weltdarstellung hinzu, so beansprucht das literarisch erzählende
Syntagma allein, schon auf sein Vorher und Nachher gestützt,
zumindest eine erweiterte Dimensionalität und Räumlichkeit, die
der Zweidimensionalität. Gerade durch das zeitliche arrangierte
Erzählen und die geordnete Abfolge von Handlungssegmenten auf der
Achse des Erzählens breitet sich ein imaginärer Überschuß an
Räumlichkeit aus, der aber durch die Koppelung an das beschränkte
zweidimensionle Medium der Sprache nicht weit über sich hinaus
verweist. Die zweite Dimension des literarischen "Syntagmas"
gegenüber der in der Zeit eindimensionalen linearen Sprache ist so
auch der gesamte, diese Dimension transzendierende
Bedeutungsüberschuß.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Das analytische Erzählen hat folglich versucht, die Wirklichkeit in Segmente zu zerlegen
und diese für sich zu erforschen. Einmal dort angelangt, sollte dann aber wieder eine
Einheit und Ganzheit synthetisch zusammengefügt werden. Über dieses Zusammenfügen
kam die so strukturierte und durch keine ganzheitlichen Weltkonzepte mehr geprägte
Sprache nicht hinaus; in der additiv-linearen Reihung gelang es nicht mehr, die verlorene
Tiefendimension, den Raum der Bedeutung wiederherzustellen, weshalb sich der davon
geprägte Romantypus in der deutschen Literatur auch nicht durchgesetzt hat, wie Helmut
Koopmann zeigt.620 Blieb so für das Erzählen nur das zeitliche Syntagma übrig - die Zeit
und ihre erzählerische Abart, nämlich die Geschichte, trat an die Stelle aller Welterklärung
(Eschatologie; Geschichtlichkeit) -, so mußte in ihrer Unendlichkeit das Ende stets
unerreichbar bleiben, womit solche Sprache sich nie des Eindruck erwehren konnte, nicht
zu genügen. Mit diesem Fiasko des nie Tiefenbedeutung und -räumlichkeit gewinnenden
Sprechens steht die Moderne und ihre weitgehend als positiv erfahrene Offenheit
mittlerweile auf dem Prüfstand.621 Die Postmoderne, als Reaktion darauf verstanden, ist
insoweit das Wiedereinklagen von zumindest in begrenzten Räumen verwirklichter
Geschlossenheit auf der Basis eines anderen Sprechens, und zwar des mythischen. Der
entwurzelte Mensch des späten zwanzigsten Jahrhunderts erfährt, wie Rönne/Benn, vor
allem - trotz aller Information und Medien - die Unüberschaubarkeit bzw. die individuelle
Unvereinbarkeit des globalen Raumes. Seine "Angst, sich in unüberschaubaren Räumen
zu bewegen"622 läßt ihn bereits in der sprachlichen Wirklichkeitserfassung Geschlossenheit
einfordern.
Damit steht mythische Sprache dem analytischen Verfahren als gleichrangiges, zweites
inhärentes und a priori synthetisches Sprachverfahren gegenüber und tritt mit ihm in
Verbindung.623 Doch um diese Ergänzung der Zeit geht es hier nicht. Während die lineare,
selbst in ihrer Dialogizität und Polyphonie gefächerte Literatur-Sprache noch stets in der
einlinig-sukzessiv extensionalen Erzählhaltung der Chronologie des Erzählens begriffen
ist, und das aufgrund der Unabgeschlossenheit von Zeit auch bleibt, so fortwährend zur
romantischen "Sehnsucht" zurückkehrt, der Sehnsucht, von einem beliebigen, in der
offenen Wirklichkeit gesetzten Punkt zu einem Endpunkt in der Erzählung zu gelangen624,
620
Koopmann, Klassisch-moderne Roman, S. 20f.
621
Michel Foucault (Das Denken des Draußen, S. 132) stellt diese
Tendenz folgendermaßen fest: "Das Sprechen entzieht sich der
Seinsweise des Diskurses - das heißt der Dynastie der Darstellung
-, und das literarische Wort entwickelt sich aus sich selbst
heraus und bildet so ein Netz, in dem jeder Punkt, von den anderen
unterschieden, entfernt sogar von dem nächstliegenden, im
Verhältnis zu allen anderen in einem Raum steht, der sie zugleich
aufnimmt und trennt."
622
Reichel, Erzählte Raum, S. 115. Zur Historizität der
Raumstruktur vgl. allgemein Reichels Arbeit.
623
"So eng ist dieser Zusammenhang", schreibt Ernst Cassirer
(Sprache und Mythos, S. 110), "daß sich auf Grund empirischer
Daten wohl kaum jemals entscheiden lassen wird, wer von beiden,
der Mythos oder die Sprachen, in diesem Fortschritt zum
Allgemeinen, zu universellen Gestalten und Begriffen, vorangeht
und wer ihnen folgt."
624
Vgl. Reichel, Erzählte Raum, S. 7: "Wo jedoch weder
Vergangenheit noch Zukunft in der Darstellung eines Raumes
aufleuchten, wird in diesem Sinne nichts erzählt: Zeit und Raum
geraten aus dem Gleichgewicht, und der Erzähler dokumentiert nur
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
und sei dies auch zyklisch, kreisend, so ist selbst darin jedoch noch eine Richtung
vorgegeben. Die mythische Sprache hingegen entgeht diesem Dilemma, weil sie
intensional-statisch ist.625 Ihre verweisende Bewegung liegt in einem komplexen, im
mehrdimensionalen Sprach-Raum sich vollziehenden Verweisen aller semantischen
Elemente auf alle, insoweit das rhetorisch (synekdochisch) möglich ist, denn über den
rhetorisch geprägten Bereich der Sprache kommt auch diese Form von
Wirklichkeitserfassung letztlich nicht hinaus. Einen wahrhaftig mythischen Roman als
statisch-absolutes Kunstwerk kann es darum auch nur schwerlich geben, Lyrik hingegen
vermag einer solchen Anforderung schon eher gerecht zu werden.
noch die Sehn-Sucht nach dem reinen zeitlosen Raum sowie die Angst
vor der unbegriffenen Dynamik seines Erzählortes."
625
Cassirer, Sprache und Mythos, S. 122f.
DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
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DIE MYTHISCHE LITERATURBETRACHTUNG: MYTHOS, SPRACHE UND DICHTUNG
Erklärung:
Ich versichere hiermit, daß ich die vorliegende Zulassungsarbeit in allen Teilen selbständig
angefertigt und keine anderen Hilfsmittel, als die in der Arbeit angegebenen, benutzt habe
und ferner daß ich sie nicht schon als Zulassungs- oder Facharbeit bei einer anderen
Lehramtsprüfung oder als Teil solcher Arbeiten eingereicht habe.