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5.

Kapitel:

Die Bedeutung des Platonischen >Phaidros<


für Hölderlins frühe Schönheitslehre

I. Die platonisch-kantische Wechselbeziehung

Neben der »Analyse des Schönen und Erhabnen«, die Hölderlin vorle-
gen wollte, sollte der Aufsatz über die ästhetischen Ideen »als Kommen-
tar über den Phädrus des Plato gelten«. »Eine Stelle desselben« war
Hölderlins »ausdrüklicher Text« (VI, 137). - Wir beschränken uns bei
der Untersuchung der Platoeinflüsse auf diese Phaidrosbeziehung, weil
sie den einzig konkreten Hinweis auf Hölderlins Platolektüre in
Waltershausen enthält und darüberhinaus in enger Verbindung zu sei-
nen >kantischästhetischen Beschäftigungen« steht.
Gleichwohl ergeben sich zwischen Hölderlin und Plato so viele An-
knüpfungspunkte, daß man von einer Geistesverwandtschaft sprechen
kann. Ihr wurden mehrere Untersuchungen gewidmet, so daß sie hier
keiner ausführlichen Erörterung bedarf.1 Begründet wird diese Geistes-
verwandtschaft vor allem durch die Verknüpfung der »Idee des Schö-
nen mit der des Guten«, wobei der »Vorzug des Schönen« offenbar ist:2
Das Schöne unterscheidet sich dadurch von dem schlechthin ungreifbaren
Guten, daß es eher zu ergreifen ist. Es hat in seinem eigenen Wesen, Er-
scheinendes zu sein. In der Suche nach dem Guten zeigt sich das Schöne. Das
ist zunächst eine Auszeichnung desselben für die menschliche Seele. Was sich
in vollkommener Gestalt zeigt, das zieht das Liebesverlangen auf sich. Das
Schöne nimmt unmittelbar für sich ein, während die Leitbilder menschlicher
Tugend sonst im trüben Medium der Erscheinungen nur dunkel kenntlich
s i n d . . . Das ist beim Schönen anders. Es hat seine eigene Helligkeit, so daß
wir hier nicht von entstellten Abbildern verführt werden.
Weiterhin zeichnet sich das Schöne gegenüber dem Guten dadurch aus,
daß es sich von sich selbst her darstellt, sich in seinem Sein unmittelbar ein-
leuchtend macht. Damit hat es die wichtigste ontologische Funktion, die es

1
Vgl. L 47, Böhm I, S. 143ff. L 116, Hildebrandt, S. 53ff. L 109, Henrich, S. 81.
2
Vgl. L 86, Gadamer, S. 455; auch im folgenden beziehe ich mich auf Gadamer,
S. 456ff.

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geben kann, nämlich die der Vermittlung zwischen Idee und Erscheinung ...
Am Beispiel des Schönen läßt sich daher die Parusie des Eidos . . . einleuch-
tend m a c h e n . . . >Anwesenheit< gehört auf überzeugende Weise zum Sein des
Schönen selbst. Schönheit mag noch so sehr wie der Abglanz von etwas
Überirdischem erfahren werden - sie ist doch im Sichtbaren da.3

Schönheit ist »die Erscheinungsweise des Guten überhaupt, des Seien-


den, w i e es sein soll«, in ihr tritt das »Licht des Geistes, der Nous«, in
die Offenbarkeit, 4 - das sind die vorzüglichen Kennzeichen, die Hölder-
lin mit Plato dem Schönen erteilt und dieses deshalb Kant gegenüber
aufwertet.
Daraus darf allerdings nicht auf eine Negation oder Ablehnung der
Kantischen Lehre bei Hölderlin geschlossen werden. 5 Das Eigentümli-
che seiner Platorezeption besteht gerade in der Tatsache, daß er sie auf
seine Kantstudien bezieht und mit ihnen in Einklang zu bringen ver-
sucht, obgleich Kant selbst seine eigene Position Plato gegenüber deut-
lich markiert und abgegrenzt hatte. 6 Es ist zu beachten, daß Hölderlins
Aufsatz über die ästhetischen Ideen als »Kommentar« zum >Phaidros<
gedacht war, nicht etwa umgekehrt. Hölderlin wollte ihn auch bei Conz,
seinem früheren Lehrer in Tübingen und damit in einer altphilologi-
3
Vgl. auch L 87, Gadamer, § 14 und L 141, Krüger, S. 235f.
4
L 86, Gadamer, S. 458.
5
Vgl. Hildebrandts Interpretation L 116, S.33ff. und 53; auch L 180, Müller,
S. 122 und besonders Böhms problematische Äußerungen L 47, S. 143ff., die
Hölderlin zu selbstverständlich eine Kritik Kants mit Hilfe Piatos unterstellen
(bes. S. 145):
»Wenn er (Hölderlin) zuvor schrieb, daß er sich fast ausschließlich mit
>Kant und den Griechen< beschäftigte, so handelt es sich eben um die Kritik
Kants durch Plato.«
6
In der KpV unterstreicht Kant die Notwendigkeit einer angemessenen
Deduktion der Kategorien und sagt gegenüber Plato: »Denn dadurch allein
kann verhütet werden, sie (die Kategorien), wenn man sie im reinen Verstände
setzt, mit Plato, für angeboren zu halten, und darauf überschwengliche An-
maßungen mit Theorien des Übersinnlichen, wovon man kein Ende absieht,
zu gründen, dadurch aber die Theologie zur Zauberlaterne von Hirngespen-
stern zu machen;...« (KpV, A 255). Vgl. auch KrV, Β 371, wo Kant auf Piatos
>Ideen< eingeht und in einer Anmerkung hervorhebt: »Er dehnte seinen Be-
griff freilich auch auf spekulative Erkenntnisse aus, wenn sie nur rein und völ-
lig a priori gegeben waren, sogar über die Mathematik, ob diese gleich ihren
Gegenstand nirgend anders, als in der möglichen Erfahrung hat. Hierin kann
ich ihm nun nicht folgen, so wenig als in der mystischen Deduktion dieser
Ideen, oder den Übertreibungen, dadurch er sie gleichsam hypostasierte; wie-
wohl die hohe Sprache, deren ersieh in diesem Felde bediente, einer milderen
und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wohl fähig ist.« -
Diese kritischen Aspekte Kants können die Problematik von Hölderlins
Versuch indirekt beleuchten.

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sehen Zeitschrift, dem >Attischen Museum< veröffentlichen, nicht in ei-
nem philosophischen Journal; d. h.: die »eine Stelle«, die Hölderlins »aus-
drücklicher Text« war, sollte nach Kantischen Prinzipien erläutert wer-
den, auch wenn diese eine gewisse Modifikation erfahren mußten.
Darin liegt ein provozierend moderner Zug von Hölderlins Plato-
interpretation: Sie wollte eine Entmythologisierung der Platonischen
Bilderwelt im Phaidros vornehmen. Die traditionellen Mythen sollten
als Chiffren m o d e r n e r Bewußtseinsphänomene gedeutet werden. Sie
wurden so als bildliche Evokationen dessen begriffen, was die neue Phi-
losophie rational entwickelte. Mit Recht sagt deshalb Paul Böckmann:

»In dem Augenblick als er (Hölderlin) sich Plato zuwandte, hat er sich von der
kritischen Philosophie Kants nicht losgesagt, sondern im Grunde erst ange-
fangen, sich ernsthaft mit ihr zu beschäftigen. Er sucht das neue, pantheisti-
sche Lebensverständnis durch den Austausch mit der griechischen Überlie-
ferung lebendig zu erfüllen und durch Aneignung der kritischen Philosophie
in seiner geistigen Entschiedenheit zu sichern. Er sieht sich also genötigt, Pla-
to mit Kant zusammen zu denken, nicht aber sie gegeneinander auszuspielen.
Durch die Rückwendung auf die Antike soll es gelingen, aus dem überlieferten
Offenbarungsglauben herauszutreten und ein lebensimmanentes Weltver-
ständnis so auszulegen, daß die Kraft des Glaubens und der Begeisterung, der
Liebe und der Schönheit erhalten bleibt«.7

Ohne diesen komplementären Bezug antiker Mythen und m o d e r n e r


Bewußtseinsphilosophie ist weder Hölderlins Griechenbegeisterung,
die oft als Flucht, Schwärmerei oder Resignation verkannt wird, noch
seine spätere Deutung des Wechselverhältnisses zwischen griechi-
schem und hesperischem Geist angemessen zu begreifen.
Mit dieser Deutung Piatos knüpft Hölderlin in Waltershausen an sei-
ne Tübinger Studien an. Dort hatte er in seiner Magisterarbeit, »Paralle-
le zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen«,
den Versuch unternommen, gleichartige Grundstrukturen verschiede-
ner Mythen herauszuarbeiten. Auch hier werden die Mythen als eine
Art »Personifikazion abstrakter Begriffe« gefaßt (IV, 184,9). Es ent-
sprach ohnehin den Forschungen der jungen Tübinger Stiftler, die alten
Mythen, besonders die christlichen, auf eine rationale Grundlage zu stel-
len, wie es Kant in seiner Abhandlung >Mutmaßlicher Anfang der Men-
schengeschichte< am Beispiel der Genesis demonstriert hatte. Die tra-
ditionellen, bildlichen Überlieferungen sollten durch die moderne Phi-
losophie ihre transzendentale Grundlage erhalten. 8 So war es auch um-
7
Vgl. L 43, Böckmann, S. 215ff.
8
Karl Philipp Moritz, der den Mythos als » Weihung des wirklichen Lebens«
verstand, wies hier einen ähnlichen Weg. - Vgl. dazu: L 230, Schrimpf, S. 176.

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gekehrt möglich, diese transzendentalen Wahrheiten wieder in neue
Mythen, die unserem Denken entsprachen, einzukleiden, was Hölderlin
bereits in den Jenaer Hyperion-Fragmenten ansatzweise zu leisten ver-
sucht9 und bald darauf im >Systemfragment< programmatisch fordert
mit den Worten (IV, 298-99):

Z u e r s t w e r d e ich hier von e i n e r I d e e s p r e c h e n , die soviel ich weiß, n o c h in


k e i n e s M e n s c h e n Sinn g e k o m m e n ist - wir m ü s s e n eine neue Mythologie ha-
ben, diese M y t h o l o g i e a b e r mus im Dienste der Ideen s t e h e n , sie m u ß eine
Mythologie der Vernunft w e r d e n .

Dieser Gedanke fand um die Wende des 18. Jahrhunderts vielfältige


Aufnahme und erregte die kühne, aber vergebliche Erwartung, durch
eine sinnliche Grundlage könne die transzendentale Philosophie breite
Schichten des Volks erreichen und eine allseitige Erneuerung der Wirk-
lichkeit herbeiführen.10
Unter solch weitgesteckter Perspektive erhält Hölderlins Phaidrosa-
nalyse ein besonderes Gewicht: Kants ästhetische Ideen, in der spezifi-

- E b e n s o w i r k t e H e r d e r mit seinen M y t h e n - D e u t u n g e n in dieser Hinsicht


b a h n b r e c h e n d . - A u c h Schellings E r k l ä r u n g d e r »ältesten p h i l o s o p h i s c h e n
V e r s u c h e « n a h m diese R i c h t u n g ; e r g l a u b t e so d a s » P r i n c i p aller S c h w ä r m e -
rei« e r l ä u t e r n zu k ö n n e n . M a n h a b e d a s » i n t e l l e k t u a l e S e y n « z w a r gefühlt, a b e r
» a u ß e r sich« g e s e t z t und sei so zu e i n e r »bloß historischen E r k l ä r u n g « ge-
k o m m e n , statt v o m >absoluten lch< h e r ein S y s t e m zu e n t w e r f e n . - Vgl. die
f r ü h e S c h r i f t : P h i l o s o p h i s c h e Briefe ü b e r D o g m a t i s m u s und Kriticismus
(1795), in: S c h r i f t e n v o n 1794-98, S. 201.
9
V o r d e r A u f n a h m e d e s p l a t o n i s c h e n L i e b e s m y t h o s z u r E r l ä u t e r u n g trans-
z e n d e n t a l p h i l o s o p h i s c h e r P r o b l e m e im P r o s a e n t w u r f z u r m e t r i s c h e n F a s s u n g
d e s >Hyperion< s t e h t d a s b e z e i c h n e n d e W o r t : » L a ß m i c h menschlich spre-
c h e n « ( S T A III, 192), d. h. hier: bildlich, g e s t a l t h a f t , m y t h o l o g i s c h , d u r c h e i n e n
sinnlichen A u s d r u c k das Ü b e r s i n n l i c h e s a g e n d , d a s a n d e r s p h i l o s o p h i s c h aus-
g e d r ü c k t w e r d e n o d e r v e r s c h w i e g e n b l e i b e n m ü ß t e . - In d e r m e t r i s c h e n Fas-
s u n g gelingt dieses » m e n s c h l i c h e « S p r e c h e n b e r e i t s s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e r (vgl.
S T A III, 193,120f.)·
Z u r Z e i t als Schelling und H e g e l sich b e m ü h e n , » S t o r r s T h e o l o g i e u n d
K a n t s Kritik als e x t r e m e G e g e n s ä t z e d a r z u s t e l l e n « (vgl. L 112, H e n r i c h / D ö -
derlein, S. 278), a r b e i t e t Hölderlin an d e n g l e i c h e n P r o b l e m e n d e r Z e r s t ö r u n g
d e s o r t h o d o x e n G l a u b e n s z w a n g e s o d e r a l l g e m e i n e r : d e r >positiven< Fixierung
d e r G l a u b e n s w a h r h e i t e n ; a b e r d o c h so, d a ß er b e r e i t s v e r s u c h t , mit Hilfe des
ä s t h e t i s c h e n P r o d u k t i o n s a k t e s d e n Ü b e r g a n g v o n d e r Kritik z u r O f f e n b a r u n g
g l e i c h s a m v o n innen h e r a u s v e r s t ä n d l i c h zu m a c h e n . D a r i n ist e r Schelling
u n d H e g e l v o r a n g e s c h r i t t e n . Vielleicht spielte N i e t h a m m e r , d e n er als »philo-
s o p h i s c h e n M e n t o r « a k z e p t i e r t e , d a b e i e i n e g e w i s s e Rolle, - e r h a t t e sich v o n
d e m r a d i k a l e n K a n t i a n i s m u s D i e z i s c h e r P r ä g u n g in J e n a a b g e w a n d t
(ebd. 281).
10
Vgl. L 59 B u r g e r , S. Iff. und L 7, A n t o n , S. 277ff.

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sehen Modifikation, die ihnen Hölderlin zuteil werden ließ - eine Mo-
difikation, die ihrerseits aus platonischem Geist erwuchs - sollten die
Ausführungen im Phaidros in ein neues Licht setzen, d. h., sie mußten in
transzendentalphilosophische Begründungszusammenhänge einge-
ordnet werden.
Aufgrund dieser Tatsache kann es nicht schwerfallen, den Umkreis
der einen Stelle abzustecken, die Hölderlin durch die ästhetischen
Ideen zu kommentieren gedachte: Es kann sich nur um Piatos Aus-
führungen über den »göttlichen Wahnsinn« der Liebe im Anblick des
Schönen handeln, wie Zinkernagel bereits bemerkte, obgleich er den
entsprechenden Abschnitt zu sehr eingrenzte.11 Die unter dem Einfluß
des Eros wirksame »Seelenbefiederung« (251 a, b) weist unmittelbar auf
Kants Belebung der Gemütskräfte durch die ästhetischen Ideen, die
Hölderlin allerdings, in einer >Korrektur< Kants als Begeisterung für das
Ideal, platonisch gesprochen: als >Metexis< am höchsten Guten inter-
pretiert und sich damit an den Phaidros anlehnt.
So ist eine doppelte Verschlingung in Hölderlins ästhetischen Refle-
xionen aufzulösen, wenn man seinen kantisch-platonischen Interessen
gerecht werden will: Zum einen gab Piatos Verknüpfung des Schönen
und Guten den Anlaß, Ästhetik und Moral auch bei Kant aufeinander
abzustimmen, die >Grenzlinie< zu überschreiten, zumal Hölderlin in
Kants Erklärung Unstimmigkeiten zu entdecken glaubte; dies führte ihn
zu der Begründung der Ästhetik auf moralphilosophischer Grundlage,
die wir am »Gesetz der Freiheit« untersucht haben. Zum andern aber
bot diese Begründung nun ihrerseits die Voraussetzung, Piatos Bilder-
welt im Phaidros transzendentalphilosophisch zu interpretieren und da-
mit zu entmythologisieren. - In dieser Doppelbindung liegt keine Zir-
kelstruktur, so, als ob Hölderlin einmal Kant mit Plato und anschließend
Plato mit Kant auslegte; es handelt sich vielmehr um zwei Schritte in
einem Begründungsakt zu Hölderlins Schönheitslehre, die Kant zwar
platonisch modifiziert, zugleich aber dessen transzendentale Problema-
tik behauptet.12 Kant und Plato wurden dabei gleichermaßen verbogen.
11
L 262, Zinkernagel verweist auf Β 255: »Nur Piatons Lobpreisung des Eros
kann von Hölderlin hier gemeint sein.« (S. 72).
Beissner dagegen schreibt: »Welche Stelle des Phaedros sein ausdrückli-
cher Text sein sollte, ist nicht auszumachen.« (STA VI, 699,260- Die Stelle liegt
im Rahmen des Textes 244a bis 257b; enger gefaßt wohl zwischen 249a und
252c.
12
Kant selbst hatte in der Kritik der teleologischen Urteilskraft den Anstoß
gegeben, die »Schwärmerei« Piatos auf teleologische Prinzipien zurückzufüh-
ren, was Hölderlin dann aufnimmt und weitertreibt. Vgl. Urtkr. S. 273/74, w o
er den »Eifer der alten Geometer« bewundert, die sich an einer »Zweck-

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D i e K a n t i s c h e M o r a l p h i l o s o p h i e aber, d e r Hölderlin zu e n t s p r e c h e n
g l a u b t e , w u r d e d u r c h s e i n e p l a t o n i s c h e B e g e i s t e r u n g z e r s e t z t , w e i l Pia-
t o s B e g r i f f d e s G u t e n , d e r in e i n e r t e l e o l o g i s c h e n S e i n s o r d n u n g f u n d i e r t
u n d s o auf e i n e t h e o r e t i s c h e Idee< g e g r ü n d e t w a r , n i c h t s z u r E r k l ä r u n g
d e s M o r a l i s c h - G u t e n b e i K a n t b e i t r a g e n k o n n t e . 1 3 S o ist b e i H ö l d e r l i n
eine teleologische W e n d u n g der Kantischen Moral zu konstatieren, die
a u c h f e r n e r h i n i m I d e a l i s m u s S c h u l e m a c h t e u n d z u r Ü b e r z e u g u n g führ-
te, d a ß » d e r W e g d e r F r e i h e i t « » s i c h n u r in d e r G e s t a l t d e s P a n t h e i s m u s
v o l l e n d e n « lasse.14 K a n t s e i n z i g m ö g l i c h e G r u n d l a g e e i n e r sittlichen
W e l t o r d n u n g m u ß t e d a b e i n o t w e n d i g in V e r g e s s e n h e i t g e r a t e n .

m ä ß i g k e i t in d e m W e s e n d e r D i n g e « b e g e i s t e r t e n , »die sie d o c h völlig a priori


in i h r e r N o t w e n d i g k e i t d a r s t e l l e n k o n n t e n « , und d a n n a n f ü g t : »Plato, selbst
M e i s t e r in dieser W i s s e n s c h a f t , g e r i e t ü b e r e i n e s o l c h e u r s p r ü n g l i c h e Beschaf-
f e n h e i t d e r Dinge, w e l c h e zu e n t d e c k e n wir alle E r f a h r u n g e n t b e h r e n k ö n n e n ,
und über das Vermögen des Gemüts, die Harmonie der Wesen aus ihrem
übersinnlichen Prinzip schöpfen zu können ... in die Begeisterung, welche
ihn über die Erfahrungsbegriffe zu Ideen erhob, d i e ihm nur d u r c h eine intel-
lektuelle Gemeinschaft mit dem Ursprünge aller Wesen erklärlich zu sein
schienen. Kein W u n d e r , d a ß e r d e n d e r M e ß k u n s t U n k u n d i g e n aus seiner
S c h u l e verwies, i n d e m e r das, w a s A n a x a g o r a s aus E r f a h r u n g s g e g e n s t ä n d e n
und i h r e r Z w e c k v e r b i n d u n g Schloß, aus der reinen, dem menschlichen Geiste
innerlich beiwohnenden, Anschauung a b z u l e i t e n d a c h t e . D e n n in d e r Not-
wendigkeit d e s s e n w a s z w e c k m ä ß i g ist, und so b e s c h a f f e n ist, als o b es f ü r
u n s e r n G e b r a u c h absichtlich so e i n g e r i c h t e t w ä r e , gleichwohl a b e r d e m We-
sen d e r D i n g e u r s p r ü n g l i c h z u z u k o m m e n scheint, o h n e auf u n s e r n G e b r a u c h
R ü c k s i c h t zu n e h m e n , Hegt eben der Grund der großen Bewunderung der
Natur, nicht sowohl außer uns, als in unserer eigenen Vernunft-, w o b e i es w o h l
verzeihlich ist, d a ß diese B e w u n d e r u n g d u r c h M i ß v e r s t a n d n a c h und n a c h bis
zur S c h w ä r m e r e i steigen m o c h t e . « - H ö l d e r l i n s P l a t o - E x e g e s e im Hinblick
auf K a n t läßt sich so mit K a n t selbst r e c h t f e r t i g e n . - U m g e k e h r t ist a b e r a u c h
sein e m p h a t i s c h e r Ausruf in d e r v o r l e t z t e n F a s s u n g z u m >Hyperion< ( S T A
111,237): »heiliger Plato, v e r g i e b ! m a n hat s c h w e r an dir g e s ü n d i g t « - Aus-
d r u c k seiner A b k e h r v o n K a n t u n d d e m >subjectiven A p r i o r k d e r Teleologie,
das H ö l d e r l i n n o c h in d e n J e n a e r >Hyperion<-Fragmenten zu r e c h t f e r t i g e n
sucht (vgl. >Metrische Fassung<, S T A III, 193,102f.). Vgl. a. Brief an H e g e l ,
Nr. 94, v o m J a n u a r 1795, in d e m H ö l d e r l i n K a n t s T e l e o l o g i e n o c h r ü h m t ( S T A
VI, 156,71 f.).
13
Vgl. K a n t s a u f s c h l u ß r e i c h e A n m e r k u n g in d e r > G r u n d l e g u n g z u r M e t a p h y s i k
d e r Sitten<, BA 80:
» D i e Teleologie e r w ä g t die N a t u r als ein R e i c h d e r Z w e c k e , die Moral
ein m ö g l i c h e s Reich d e r Z w e c k e als ein R e i c h d e r N a t u r . D o r t ist d a s R e i c h
d e r Z w e c k e eine theoretische Idee, z u r E r k l ä r u n g dessen, w a s d a ist. H i e r ist
es e i n e praktische Idee, u m das, w a s nicht d a ist, a b e r d u r c h u n s e r T u n u n d
L a s s e n wirklich w e r d e n kann, u n d z w a r e b e n d i e s e r I d e e g e m ä ß , zu S t a n d e
zu bringen.«
14
Vgl. L 109, H e n r i c h , S. 75. H i e r k ö n n t e eine U n t e r s u c h u n g a n s e t z e n , die es sich
zur A u f g a b e m a c h t , d e n s y s t e m a t i s c h e n S t e l l e n w e r t d e r >Urteilskraft< als
Bindeglied z w i s c h e n d e n b e i d e n a n d e r e n T e i l e n d e r Philosophie ( d e m t h e o r e -
tischen u n d p r a k t i s c h e n ) zu analysieren. - Vgl. zu d i e s e m P r o b l e m : L 13, Bar-
tuschat, N e u e A r b e i t e n zu K a n t s >Kritik d e r U r t e i l s k r ä f t e

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II. Piatos Phaidros und die ästhetischen Ideen<

Obgleich Hölderlin durch den Platonischen >Phaidros< mannigfach


angeregt wurde und dessen Einflüsse noch in seiner späteren Dichtung
deutlich hervortreten, 15 ist der entsprechende Absatz, den er zu kom-
mentieren gedachte, infolge des Verweises auf die ästhetischen Ideen
o h n e Schwierigkeit herauszufinden: Er erstreckt sich etwa von 249a-
252c (genauer: 249d-252c) und gehört in den weiteren Rahmen einer
Lobeshymne auf Eros (244a-257b), die zugleich einen »Widerruf« des
Sokrates darstellt (243b und 257a) für die beiden vorausgehenden Re-
den, von denen die eine scheinheilig, die andere scheinbar die »Beson-
nenheit« des kalten Liebhabers vor der Verzückung des stürmischen
priesen. Für jene »Schmähungen« will Sokrates dem Eros Abbitte lei-
sten durch den Vortrag einer Rede des Stesichoros, 1 6 die »des Phaidros

15
Die Frage nach der Leistung der Sprache wird zu einem entscheidenden Spät-
problem Hölderlins, und ihre Grundproblematik des Verdeckens hatte Plato
ebenfalls im >Phaidros< abgehandelt. Vgl. den Mythos des Theut<, 274b und
bes. 275a, wo Thamus dem Theut antwortet: 'Denn diese Erfindung (der
Buchstaben) wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflö-
ßen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die
Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich
sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung,
sondern nur für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weis-
heit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst.'
Die geistige Verfehlung infolge der verbalen Fixierung wird in Hölderlins
Dichtung später thematisch. Man darf sogar behaupten, daß die Darstellung
der Gefahr des Entzugs des Wahren im Wirklichen sein spätes Werk be-
herrscht. Der prozessuale Charakter seiner späten Dichtung ist als Versuch
zu werten, das Wahre durch die Darstellung seines Werdens unverlierbar zu
machen. Auch das lag im Sinne der notwendigen >dialektischem Vermittlung
der Rede, die der Platonische >Phaidros< fordert (265cff.). Der Vorzug, den
Hölderlin der Kunst und der Ästhetik vor anderen Wissenschaften zubilligte,
lag eben in diesem Vollzugsmoment der Wahrheit, das Hölderlin einem bloß
abstrakt begrifflichen Denken entgegenstellte.
16
Durch den Hinweis, daß die Eros-Rede von Stesichoros stamme, soll ihr
Wahrheitsanspruch bekräftigt werden. Vgl. ebd. 243a/b: 'Es gibt aber für die
in Dichtungen über die Götter Sündigenden eine alte Reinigung, von welcher
Homeros nichts wußte, Stesichoros aber. Denn als er der Augen beraubt ward
wegen Schmähung der Helena, blieb ihm nicht wie dem Homeros die Ursache
unbekannt, sondern als ein den Musen Vertrauter erkannte er sie und dichtete
sogleich sein >Unwahr ist diese Rede^denn nie bestiegst du die zierlichen
Schiffe/noch kamst du je zur Feste von Troja<, und nachdem er den ganzen
sogenannten Widerruf gedichtet, ward er alsbald wieder sehend.' - So will
Sokrates lieber gleich 'mit entblößtem Haupt' seinen Widerruf entrichten. -
Die Beziehung dieser Stellen zu Hölderlins Dichtung und Dichtungsauffas-
sung liegt auf der Hand.

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wegen etwas dichterisch abgefaßt werden mußte« (257a), damit dieser
der Wahrheit teilhaftig werde. Eros soll jetzt als »ein Gott und die Liebe
(als) etwas Göttliches« (242e) gepriesen werden, denn nicht zum Übel
und Leidwesen der Menschen verleihen die Götter »diesen Wahnsinn«
der Liebe, sondern zu ihrer »größten Glückseligkeit« (245b). Vier Arten
des »göttlichen Wahnsinns« als »Urheber größter Güter« unterschei-
det Plato (265b):
1. Den »weissagenden Anhauch«, der dem Apollon zugeschrieben
wird;
2. Den Wahnsinn der »Einweihung«, der Dionysos zukommt;
3. Den »dichterischen« Wahnsinn, der den Musen vorbehalten bleibt;
4. Den Wahnsinn der »Liebe«, der Aphrodite und Eros dargebracht
wird.
Während der Wahnsinn des »weissagenden Anhauchs« in Sokrates'
»Widerruf« am Beispiel der »Prophetin zu Delphi« und der »Prie-
sterinnen zu Dodona« kurz Erwähnung findet (244a, b) - zwei Motive,
die in Hölderlins frühen Hyperion-Fragmenten wiederkehren 17 -
schenkt Plato der dionysischen Einweihung an dieser Stelle keine Be-
achtung.
Von der dritten »Eingeistung und Wahnsinnigkeit« aber sagt er: Sie
ergreife »eine zarte und heilig geschonte Seele aufregend und be-
feuernd, und in festlichen Gesängen und andern Werken der Dichtkunst
tausend Taten der Urväter ausschmückend«, bilde sie die Nachkom-
men. Wer »ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der

17
Im Thalia-Fragment wandert Hyperion nach seiner Landung in Morea, bevor
er in sein Vaterland zurückkehrt, zuerst nach Delphi - der vorletzte Brief ist
in »Kastri am Parnaß«, der letzte »auf dem Cithäron« geschrieben. Man darf
annehmen, daß er dort den w e i s s a g e n d e n Anhauch des Apoll< hätte erfahren
sollen, die Lichtmetaphorik im letzten Brief legt das ebenfalls nahe. - Später
wird das Apollon-Motiv bereits in Hyperions Delos-Erlebnis hineingenom-
men. Delos, der Geburtsort Apolls, war neben Delphi die wichtigste Kultstät-
te dieses Gottes. - Das Dodona-Motiv wird ebenfalls schon im >Fragment< im
Zusammenhang der Erscheinung Melites aufgenommen (STA III, 180): »Ich
sah sie staunend an, und schwieg. Mir war, als hätt' ich die Priesterin zu Do-
dona gehört.« -
Das sind nur zwei Anspielungen, die die Bedeutung von Piatos >Phaidros<
für Hölderlins Thalia-Hyperion unterstreichen. Sie bedürfte einer ausführli-
chen Untersuchung. -
Selbst die >etymologischen< Ableitungen, auf die Zuberbühler bei Hölderlin
hinweist (L 263, S. 21 Off.), sind im >Phaidros< bereits vorgeprägt. Die >Wahrsa-
gekunst< wird von der >Wahnsagekunst< (244c) und die >Liebe< v o m >Leibe<
(238c) hergeleitet.

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Dichtkunst« sich einfinde, »meinend, er könne durch Kunst allein ein
Dichter werden, ein solcher« sei »selbst ungeweiht und auch seine, des
Verständigen, Dichtung« werde »von der des Wahnsinnigen verdunkelt«
(245a).
Hier finden wir somit das emphatische Begeisterungsmoment, das
Hölderlin von der Dichtung fordert, ihren Bezug auf das »Empfindungs-
und Begehrungs-Vermögen« (IV, 183), der aus dem »Gesetz der Frei-
heit« herauszulesen war und mit dem er Kants Ästhetik transformierte.
Entscheidend für Hölderlins Urteil über das Schöne wird jedoch die
vierte und höchste Art der Platonischen >Eingeistung<, die der Liebe. In
metaphorisch überschwenglicher Ausmalung erläutert Sokrates ihren
Stellenwert:
Eros findet den ihm angemessenen Ort im Prozeß der Wiedererrin-
gung jener höheren Schönheit und Wahrheit, die allein den Göttern
eigen sind (247c-e). Nach dem »Gesetz der Adrasteia« nämlich, der Göt-
tin des Gleichmaßes und der sittlichen Weltordnung, verlieren diejeni-
gen Seelen, die beim »Auszug« und »Umschwung« der Götter auf dem
Rücken des Himmels nichts erblickten von dem »wahrhaft Seienden«
(247e und 248c), weil sie von »Vergessenheit und Trägheit angefüllt«
(248c) und von dem Führer der Seelenrosse, der Vernunft, schlecht ge-
leitet wurden (248b), ihr Gefieder und stürzen zur Erde. Unter Verbü-
ßung einer angemessenen Strafe versuchen sie nach genau geregelter
Ordnung die Sphäre der Götter wiederzuerlangen (248d-249b). Aber
nur denjenigen, die »ohne Falsch philosophiert oder nicht unphiloso-
phisch die Knaben geliebt« haben, kann das vorzeitig gelingen (249a).
Sie bedürfen dazu der »Erinnerung« an das, »was einst unsere Seele
gesehen, Gott nachwandelnd und das übersehend, was wir jetzt als
seiend bezeichnen« (249c). Wer »nach Gattungen Ausgedrücktes be-
greifen« kann, »indem er von vielen Wahrnehmungen zu einem durch
Denken Zusammengebrachten fortgeht«, ist der »Erinnerung« fähig
(249b).
»Erinnerung« an jene ehemals geschaute Schönheit des Himmels
wird aber auch beim Anblick der irdischen Schönheit geschenkt (249c-
250e). Sie belebt in einem Maße, daß die Seelen »heftig von hier dorthin
gezogen« werden, wobei ihre Verkrustungen aufbrechen und ein neues
Gefieder hervortreibt, das sie zu ihrem Ursprungsort wieder emportra-
gen soll (bis 252c):

Und hier nun ist die ganze Rede angekommen von jener vierten Art des
Wahnsinns - in Hinsicht auf welche derjenige, der bei dem Anblick der hie-
sigen Schönheit, jener wahren sich erinnernd, neubefiedert wird und mit dem

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wachsenden Gefieder aufzufliegen zwar versucht, aber unvermögend ist, nur
wie ein Vogel hinaufwärts schauend, was drunten ist, jedoch gering achtend,
beschuldigt wird seelenkrank zu sein - daß nämlich diese unter allen Begei-
sterungen als die edelste und des edelsten Ursprungs sich erweist, . . . ; sich
aber bei dem Hiesigen an jenes zu erinnern, ist nicht jeder Seele leicht, weder
denen, die das Dortige nur kümmerlich sahen, noch denen, welche, nachdem
sie hierher gefallen, ein Unglück betroffen, so daß sie, irgendwie durch Um-
gang zu Unrecht verleitet, das ehedem geschaute Heilige in Vergessenheit
gestellt-, wenige also bleiben übrig, denen die Erinnerung stark genug bei-
wohnt. Diese nun, wenn sie ein Ebenbild des Dortigen gesehen, werden ent-
zückt und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich be-
gegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen.
Nur wer »noch frischen Andenkens« und noch nicht »verderbt« ist, wer
also
noch frische Weihung an sich hat und das Damalige vielfältig geschaut, wenn
der ein gottähnliches Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, wel-
che die Schönheit vollkommen darstellen: so schaudert er zuerst, und es wan-
delt ihn etwas an von den damaligen Ängsten, hernach aber betet er sie an-
schauend an wie einen Gott, und fürchtet er nicht den Ruf eines übertriebenen
Wahnsinns, so opfert er auch, wie einem heiligen Bilde oder einem Gotte, dem
Liebling. Und hat er ihn gesehen, so überfällt ihn, wie nach dem Schauder des
Fiebers, Umwandlung und Schweiß und ungewohnte Hitze. Durchwärmt näm-
lich wird er, indem er durch die Augen den Ausfluß der Schönheit aufnimmt,
durch welchen sein Gefieder gleichsam begossen wird. Ist er nun durchwärmt,
so schmilzt um die Keime des Gefieders hinweg, was schon seit langem ver-
härtet sie verschloß und hinderte hervorzutreiben. Fließt aber Nahrung zu, so
schwillt der Kiel des Gefieders und drängt, hervorzutreten aus der Wurzel
überall an der Seele, denn sie war ehedem ganz befiedert (250e-251b).

Diesen Zustand, den Plato weiterhin überschwenglich beschreibt, »nen-


nen die Menschen Liebe«, während er bei den Göttern »der Flügler«
heißt, »dieweil er mit Macht das Gefieder heraustreibt« (252b). Der
Gegensatz zwischen der Platonischen Philosophie und ihrer Form
einerseits und Kants trockenen transzendentalphilosophischen Ab-
leitungen andererseits ist kaum zu überbrücken. Und dennoch war es
Hölderlins Absicht, beide aufeinander zu beziehen und die zitierten Ab-
schnitte des Phaidros durch einen »Aufsaz über die ästhetischen Ideen«,
der »eine Analyse des Schönen und Erhabnen enthalten« sollte, zu kom-
mentieren. Versucht man Piatos üppige Metaphorik auf eine rationale
Ebene zu transponieren, so ergeben sich mannigfache Anknüpfungs-
punkte zu Hölderlins früher Schönheitslehre, die in den Tübinger Hym-
nen und bruchstückhaft in dem theoretischen Fragment über das »Ge-
setz der Freiheit« zum Ausdruck kam.

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Zunächst läßt sich vom Phaidros her Hölderlins Begeisterung für
Urania »in der Urgestalt« begreifen. Daß dieser platonische Dialog der
zweiten Fassung der »Hymne an die Schönheit« zugrunde lag, zeigt
eine Umarbeitung: Des »Kummers morsche Glieder«in der ersten Fas-
sung (StA 1,150,34) ändert Hölderlin später in »des Kummers morsch
Gefieder«, das sich »in's Jubelland« schwingen möchte (StA I, 153,34).
Eine solch metaphorische Verschlimmerung in einer zweiten Fassung
ist kaum denkbar ohne eine Fixierung auf die entsprechende Vorlage,
so daß man annehmen darf, Hölderlin habe sich nicht erst in Walters-
hausen mit dem Phaidros beschäftigt. Wie hier der Drang zur höheren
Schönheit der Götter durch die irdische Schönheit >beflügelt< wird,
»schmeckt« in Hölderlins Hymne das >lyrische Ich< »schon im grünen
Erdenrunde« (1,153,41) »in Antiphilens Schöne« (1,154,69) »hohen Vor-
genuß« des Künftigen (1,153,42). Die Schönheit der Natur schenkt die
Kraft und die Lebendigkeit, den Ort des Heils wiederzuerringen: Schön-
heit ist wie in Piatos Phaidros Vorschein des »friedlichen hen kai pan«,
das einst war und wieder sein soll.18
Damit entspricht Hölderlin auch Schillers Programm in dem Gedicht
>Die Künstlern nach dem Urania in ihrer Verwandlung als irdische
Schönheit dem Menschen eine »späte Wiederkehr zum Lichte« auf
»schwerem Sinnenpfad« erleichtert (ΝΑ I, 202,66).
Da die Schönheit der Natur jedoch ein »ser unsicheres, nach Zeit und
Umständen wandelbares Ding« darstellt (StA IV, 212,12-13), das Reich
der göttlichen Schönheit und Weisheit aber wiedergewonnen werden
soll, fordert Hölderlin in Waltershausen noch imperativisCh: auch »one
alle Rüksicht auf die Hülfe der Natur« (IV, 212,3-4) sei diese Aufgabe
zu vollbringen.
Plato definiert die »Erinnerung an jenes, was einst unsere Seele ge-
sehen«, als ein Vermögen, »nach Gattungen Ausgedrücktes (zu) begrei-
fen, indem (man) von vielen Wahrnehmungen zu einem durch Denken
Zusammengebrachten fortgeht« (249b-c). Damit deutet das Schöne auf
eine »Ordnung des Seins«, »die sich als ein in sich Beständiges über das
Dahinfluten der Erscheinungen erhebt«.19 Der Ort des Göttlichen meint
einen intelligiblen Bereich reiner Proportionen und Formen, auf den
alles Sinnliche zu beziehen ist und in dessen Harmonien es aufgeht. Die-
se teleologisch fundierte Seinsordnung, die nach Plato auch das Reich
des Guten repräsentiert, faßt Hölderlin Kantisch unter dem >Gesetz der
FreiheiU und identifiziert sie so auch mit dem Reich des moralisch Gu-
" Vgl. die beiden Vorreden des ersten und vorletzten Hyperion-Fragments:
STA III, 163 und STA 111,236.
19
L 86, Gadamer, S.462.

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ten. - Von Piatos Phaidros her ist daher einzusehen, in welchem Sinne
Hölderlin Kants Moralphilosophie mißverstand, obgleich er deren An-
spruch voll akzeptierte und auf das Schöne übertrug: Das Moralisch-
G u t e wird platonisch (d. h. hier auch: teleologisch) gedacht, aber mit
kantischen Mitteln ausstaffiert. So scheint es zwar, daß Hölderlin mit
Kant seine >Seelenrosse< an der harten Deichsel des Imperativs führt;
mit Plato aber läßt er doch gerne die Zügel schießen zur stürmischen
Fahrt ins Übersinnliche, das er als künftiges Reich der Vernunft ersehnt.
Deshalb verwundert es nicht, wenn Hölderlin die belebende Kraft im
Anblick des Schönen, die Plato >Liebe< nennt und die das >Gefieder< der
Seele hervortreibt, um deren Interesse an den Ideen zu bekunden, mit
dem »moralischen Gefühl«, das im »Begehrungsvermögen« seinen Aus-
druck findet, in eins setzt. Kant selbst hatte den ästhetischen Ideen< eine
belebende Kraft zugebilligt, einen »Schwung« und ein »Spiel«, »welches
sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt« (Urteilskraft 192
u. 196). - Auch nach Piatos Phaidros ist die Seele »das sich selbst Be-
wegende« (245c u. e.). Während hier aber die Seele »mächtig von hier
dorthin gezogen« wird (»Zu der Schönheit selbst«, 250e), werden ihr in
der Urteilskraft die Flügel ordentlich gestutzt; sie mag sich frei bewe-
gen, aber in höhere Sphären zu schwingen, ist ihr verwehrt. Kant redu-
ziert ihre Belebung auf das proportionierte Spiel der Erkenntniskräfte,
auf den Zustand der Kontemplation. Den ästhetischen Ideen geht Pia-
tos metaphysischer Aufschwung vollkommen ab. Diesen jedoch über-
trägt ihnen Hölderlin, so daß er - entsprechend dem Phaidros - die
ästhetischen Ideen auch als Erscheinungsweisen des Guten (in platoni-
schem Sinne) wahrnehmen kann; die Seelen werden so durch »ein Eben-
bild d e s D o r t i g e n . . . entzückt«, w o b e i sie »nicht mehr ihrer selbst
mächtig« sind und nicht wissen, was ihnen »eigentlich begegnet«, »weil
sie es nicht genug durchschauen« (250a).
In diesen Formulierungen Piatos fand Hölderlin Kants Erklärung der
ästhetischen Idee als einer »Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu
denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke,
d. i. Begriff, adäqua t sein« könnte, wieder (Urteilskraft 192-93). Aber bei
ihm verweisen diese »inexponiblen Vorstellungen« auf den »ungetrüb-
ten Aether« (III, 202,6), zu dem sich unser Geist zurücksehnt, während
sie bei Kant ihr Genügen in sich selbst finden. »Der leidensfreie reine
Geist befaßt / Sich mit dem Stoffe nicht« (III, 195), der uns als sinnli-
chem Wesen zugemessen ist; aber unter den Bedingungen des Schönen
leuchtet das »Urbild, das wir in uns tragen« hervor und fordert uns auf,
»das formlose zu bilden« (III, 188). -

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Obgleich die entsprechenden Ausführungen der Jenaer Hyperion-
Fragmente in einen fichtisierenden Argumentationsgang einbezogen
sind, tritt der Platonische Hintergrund des Phaidros klar hervor und be-
stätigt noch einmal Hölderlins Bemühen, antike Philsophie mit moder-
nen Bewußtseinsphänomenen in Einklang zu bringen, d. h. einerseits,
traditionelle Mythen in kritische Philosophie aufzulösen, andererseits,
transzendentalen Wahrheiten eine neue sinnliche Grundlage zu geben.
Die Subjektivierung der Ästhetik, die damit einsetzt und die bedingt,
daß Kunst von nun an als ein »Reflex des Geistes« gedacht werden
kann,20 steht somit bei Hölderlin nicht im Widerspruch zu einer ontolo-
gisch fundierten und teleologisch begründeten Seinsordnung des Schö-
nen, die Gadamer als Gegenbild zur modernen, isolationistischen Ten-
denz der Kunst und ihrer »ästhetischen Unterscheidung« herausarbei-
tet;21 sie erläutern sich vielmehr wechselseitig und kennzeichnen die ei-
gene Dynamik von Hölderlins griechisch-hesperischen Reflexionen. -
Das Oxymoron »heilig-nüchtern« ist wie eine Saite, die er über den pla-
tonisch-kantischen Bogen spannt, um seiner Dichtung den Schwung und
die Richtung zu geben, die Hegel später als das Wesen der Kunst be-
zeichnet: »dem Menschen vor ihn zu bringen, was er ist«.22
Neben der metaphysischen Kraft des Schönen und dessen Verweis
auf das Gute, die Hölderlin mit Plato in die Kantische Ästhetik hinein-
trägt, liefert der >Phaidros< einen dritten wichtigen Baustein zur Bestim-
mung des Stellenwerts der Schönheit bei Hölderlin: Eros fand dort sei-
nen Ort im Kontext eines heilsgeschichtlichen Prozesses zwischen Sün-
denfall und neuer göttlicher Gnade, die demjenigen zuteil wird, der
noch »frischer Weihung« und lebhaften »Andenkens« ist (250e, 251a).
»Erinnerung« - Piatos >Anamnesis< - wird zu einem Zentralbegriff des
Thalia-Fragments; er geht ein in die Totenfeier Homers, in deren Ver-
lauf Hyperion von seinen Irrungen befreit wird und zu einem neuen
Leben findet, so daß er später sagen kann: »Ich war ganz ein andrer
geworden. Laßt vergehen, was vergeht,..., es vergeht um wiederzukeh-
ren, es altert, um sich zu verjüngen, es trennt sich, um sich inniger zu
vereinigen, es stirbt, um lebendiger zu leben« (StA III, 180).

20
L 86, Gadamer, S. 455.
21
Vgl. Gadamers Kritik, L 86, S.454ff. und S.81ff.
22
Hegel, Vorlesungen über Ästhetik, ed. Lasson, S. 57. - Der scheinbare Gegen-
satz von >heilig-nüchtern< taucht bereits im Zusammenhang von Hölderlins
>kantisch-platonischen< Beschäftigungen in Waltershausen - wenn nicht im
Wortlaut, so doch der Sache nach - auf. Im Brief vom 21. August 1794 an den
Bruder (Nr. 86) schreibt Hölderlin (STA VI, 132,49): »Überdenke kalt! und fü-
re mit Feuer aus!«

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III. Rückblick auf Hölderlins >kantisch-platonische<
Beschäftigungen
und das Motto der >Hymne an die Schönheit<

Die Resultate, die sich aus Hölderlins philosophisch-ästhetischen Über-


legungen der Waltershäuser Zeit ergeben, lassen sich beziehen auf das
Motto der >Hymne an die Schönheit, die Quelle, von der wir ausgingen.
Sie ließ zuerst die Trübung der Kantischen Begrifflichkeit in Hölderlins
Denken erkennen. Zwar können die späteren Ergebnisse hier noch
nicht ihre strenge Gültigkeit behaupten; die Gesetzlichkeit, unter die
Hölderlin später sein Denken stellt, und die pointierte Kritik der Urteils-
kraft fehlen noch weitgehend. Dennoch liegen die Prinzipien, die Höl-
derlin in Waltershausen systematisch zu entwickeln sucht, auch den Tü-
binger Hymnen zugrunde. So darf man sagen, daß Hölderlin sich in
Waltershausen bemüht, seine Dichtung auf den Begriff zu bringen. Dar-
auf deutet das »Gesetz der Freiheit«, und auch die Abhandlung »Über
den Begriff der Strafe« kann in diesen Zusammenhang eingereiht wer-
den. 23 Hölderlins Schönheitskonzeption der Waltershäuser Zeit ist älter,
als es die Texte und die gerade hier bezeugten Kantstudien vermuten
lassen. Sie gründet in der gemeinsamen Kantlektüre der Tübinger
Freunde, die sich unter der Freiheitsfahne gegen die Orthodoxie rüste-
ten. Ohne diesen Nährboden und ohne den schwäbischen Geist, unter
welchem Kants Lehre eine ganz eigentümliche Triebkraft entfaltete,
hätte Hölderlins Schönheitskonzeption der Waltershäuser Zeit kaum
entstehen können, so daß man von den späteren begrifflichen Explika-
tionen her auch die unentwickelte Struktur des Mottos und das gerade-
zu selbstverständliche Mißverständnis, das es enthält, klarer fassen
kann:

1) Wir verstehen jetzt, weshalb Hölderlin im Handstreich das mora-


lische Gefühl zur Grundlage des ästhetischen Urteils machen konn-
te: Er interpretiert es als die belebende Kraft in der Gewährung der
>Idee<, im Anblick des Schönen, das er unter »moralischen« Prinzi-
pien beschreibt. Es entspricht der »metaphysischen Stimmung«, die
er im Brief an Schiller als »Jungfräulichkeit des Geistes« bezeichnet
(Nr. 144, VI, 1,249,6-7). Kant selbst war in der Urteilskraft von seiner
strengen Fassung des moralischen Gefühls in der KpV abgerückt.
Das konnte Hölderlins Anlaß sein, noch einen kühneren Schritt zu
wagen, der dem Kontext seiner »moralischen« Interpretation des

23
Vgl. dazu S. 148ff. dieser Arbeit.

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Schönen angemessen war. Im Brief an den Bruder (Nr. 97, StA VI,
162,15) verschmilzt das moralische Gefühl mit dem »Gewissen«.
Nicht nur der religiöse Umkreis, in den Hölderlins »kantisch-ästheti-
sche Beschäftigungen« gehören, wird an dieser Stelle deutlich, son-
dern auch die Erweiterung der moralischen Begriffe über Kant hin-
aus. Hier muß - wie früher - das moralische Gefühl als ein »Sinn«
für das Gute interpretiert werden, was Kant verwarf. Hölderlin
scheint das Gefühl überhaupt nicht spezifiziert zu haben in ein mo-
ralisches, ästhetisches, religiöses etc. - >Gefühl< ist ihm der grundle-
gende Regulator menschlichen Empfindens, Denkens und Handelns,
weil sich in ihm der Anspruch auf Einheit des Subjekts manifestiert.
Wie es im Brief an den Bruder zum »reingedachten unbestechlichen
Grundsaz« wird, das der Gedanke nicht tötet (StA VI, 162J6-17), so
ist es später »Zügel und Sporn dem Geist« (>Reflexion<, IV,
233,23-24). Es ließe sich jenem »heiligen Hauch« vergleichen, »der
uns in den Tönen der Musik berührt«, durch den Friedrich Schlegel
im »Brief über den Roman«, die alles durchwehende Kraft der Poe-
sie zu fassen versucht. 24
2) So läßt sich auch nach den scheinbar weitabführenden Erläuterun-
gen zu den »ästhetischen Ideen« nun begreifen, weshalb Hölderlin
im Motto das moralische Gefühl als eine Art Organ (»Auslegungs-
gabe«) für die »schönen Formen der Natur« deutet. Auslegung er-
fordert ein Ziel, ein >Woraufhin< des Verstehens. Hölderlin muß die-
ses Ziel bereits in Tübingen in den metaphysischen Ideen erblickt
24
Vgl. dazu: L 101, Henkel, S. 293/94. - Ganz entsprechend bewertet auch No-
valis das Gefühl. Vgl. dazu: L 79, Frank, S. 95. - S. a. F. H. Jacobi, den Hölderlin
studierte: In >David Hume< (Werke, Bd II, S. 60, Fußnote) heißt es (Jacobi
selbst zitiert die Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1809, St. 207): »Es gehört
aber kein gemeiner Verstand dazu, einzusehen, wie das Höhere im Menschen,
die Vernunft, der Sinnlichkeit entgegensteht, und wie das eigentliche Denken
im Innersten des Gemüths, nicht mit einer Verwandlung sinnlicher Vorstellun-
gen in Begriffe, sondern mit einer Erhebung des Gemüths über die sinnliche
Vorstellung, und eben deswegen mit einem Gefühle anfängt, das ganz anderer
Abkunft ist, als alle sinnlichen Vorstellungen. Das doppelsinnige Wort Gefühl
ist hier ein Notbehelf in Ermangelung eines andern, das wir sonst in einer
Sprache suchen, die nicht von Philosophen erfunden wurde.« - Deshalb gehe
seine eigene Philosophie vom Gefühl aus, sagt Jacobi, und erkenne »seine
Autorität für eine allerhöchste« an; sie gründe sich auf das Gefühl »als Lehre
von dem Übersinnlichen«. Das Gefühl sei das über »alle andere erhabene
Vermögen«. Es sei »mit der Vernunft Eines und Dasselbe«. »Die Vorstellun-
gen des im Gefühle allein Gewiesenen, nennen wir Ideen.« (62). -
Die platonisierenden Tendenzen, die über Shaftesbury und Hemsterhuis in
Deutschland Eingang fanden, bringen diese außergewöhnliche Bewertung des
Gefühls mit sich. Auch der pietistische Gefühlskult ist dafür maßgebend.

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haben, auf die nach seiner Ästhetiktheorie bestimmte Konstellatio-
nen der Einbildungskraft, die später unter dem >Gesetz der Freiheit
beschrieben werden, hindeuten. Das paßt nur scheinbar und nur über
die Hilfsbrücke einer Umwandlung von Kants Geschmacksästhetik
in eine Produktionsästhetik zu einer Äußerung in der Urteilskraft, in
der es heißt, im moralischen Gefühl werde ein »unmittelbares In-
teresse« für die Ideen bewirkt (168-70); denn dort ist es die a priori
bestimmende Vernunft, die ein solches Interesse hervorbringt, nicht
die reflektierende Urteilskraft. Dort ist das moralische Gefühl die
Wirkung des moralischen Gesetzes als Triebfeder zum Handeln, hier
ist es Belebung zum Genuß einer höheren Einheit, die der schöne
Gegenstand verheißt. Hinter dem Wort »Auslegungsgabe« also, das
in dem entsprechenden Text der Urteilskraft nicht vorkam, verbirgt
sich bereits Hölderlins Umstrukturierung des ästhetischen Urteils zu
einem teleologisch-bestimmenden und interessegebundenen, ohne
daß er hier schon begriffliche Klarheit gewonnen hätte, wie später
in Waltershausen. Elemente des Ästhetischen, des Erhabenen, des
Teleologischen, des Technisch-Praktischen und des Moralisch-Prak-
tischen, die Kant sorgfältig zu scheiden bemüht war, werden in Höl-
derlins ästhetischer Theorie eingeschmolzen. Sie konstituieren einen
Universalbereich geistiger Aktivität, die als Theorie zu einer künfti-
gen Praxis sollte gelten können.24"
3) Noch eine letzte wichtige Umwandlung der Kantischen Vorlage läßt
sich am Motto der Hymne bemerken; eine Veränderung Hölderlins,
die wir zunächst übergehen mußten, weil der erste Satz: »Die Natur
in ihren schönen Formen spricht figürlich zu uns«, gegenüber dem
entsprechenden Relativsatz bei Kant keine inhaltliche Differenz zu
enthalten schien. Es wird aber jetzt sichtbar, daß Hölderlin die »figür-
liche« Sprache der »schönen Formen der Natur« ganz anders deu-
ten mußte, als Kant sie meinte:
Dort waren es in der Tat die Formen der Natur, die Proportionen in
Raum und Zeit, auf die das Schöne gegründet wurde, weil nur durch
diese die Erkenntniskräfte ins Spiel gesetzt werden können. »Das Schö-
ne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung
besteht« (74-76J.25

Binder weist auf die » M o n o t o n i e der Begeisterung« in den Tübinger H y m n e n


hin (L 38, S. 16). Hier sei n o c h ein » Ü b e r s c h u ß an sittlichem Bewußtsein« spür-
bar, das erst später den G e s e t z e n der Kunst integriert worden sei.
25
Vgl. Anthropol. § 64 (Akad. Ausg. § 67), BA 187: » D i e Beurteilung eines G e -
genstandes durch G e s c h m a c k ist ein Urteil über die Einstimmung o d e r d e n
Widerstreit der Freiheit im Spiele der Einbildungskraft und der G e s e t z m ä ß i g -
keit des Verstandes und g e h t also nur die Form (diese Vereinbarkeit der Sin-

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So meint die »figürliche« Sprache der Natur einerseits ihr Sprechen
weder durch Empfindungen noch durch Begriffe, sondern allein durch
die »Vereinbarkeit der Sinnenvorstellungen« (Anthropologie BA 187);
andererseits deutet dieser Terminus auch auf das Eigentümliche des
Kantischen Schönheitsbegriffes, das Zierliche, Spielerische, Proportio-
nierte.
Bei Hölderlin ist weder das Schöne an die Formen der Natur gebunden,
noch weist der Terminus »figürlich« auf jenes harmonische Spiel von
Einbildungskraft und Verstand. Es ist auf Entgrenzung angelegt und
wird zum Ausdruck für die chiffrierte, hieroglyphenartige Bedeutungs-
haltigkeit bestimmter Konstellationen der Einbildungskraft. Wie bei
Novalis zu Beginn der >Lehrlinge zu Sais< verweist Schönheit auf das
übersinnliche Reich des Geistes, für das keine anderen Ausdrucksmittel
gefunden werden können als indirekte Zeichen. Nach Hölderlins Schön-
heitsbegriff deuten die Formen der Natur auf nicht entschlüsselbare,
höhere Zwecke und die Schönheit wird nicht an jenen gemessen, son-
dern - ähnlich wie bei Kants Erhabenem - an dem Gebrauch, den man
von ihnen macht (der >Denkungsart<). Deshalb konnte er auch das Na-
turschöne ohne weiteres von seinem Spielcharakter befreien und unter
der gleichen Gesetzlichkeit behandeln wie das Erhabene und das Kunst-
schöne.26
Als »Einfalt«27 oder »kunstlose Zweckmäßigkeit« bezeichnet Kant
den »Stil der Natur im Erhabenen« (125-26). Nach Mendelssohn ist das
»Naive«, das mit dem »Kunstlosen« übereinkommt, »der einfältige, un-
nenvorstellungen) ästhetisch zu beurteilen, nicht Produkte, in w e l c h e n j e n e
w a h r g e n o m m e n werden, hervorzubringen an; denn das wäre Genie, d e s s e n
aufbrausende Lebhaftigkeit durch die Sittsamkeit des G e s c h m a c k s g e m ä ß i g t
und eingeschränkt zu werden oft bedarf.«
26
Bei der Kritik des Kantischen Spielbegriffes konnte sich Hölderlin in g e w i s s e r
W e i s e auch auf den 61. Abschnitt des >Phaidros< berufen, der v o m Schreiben
als einem »Spiel der Wissenden« und seinem »Ernst beim Säen unsterblicher
S a m e n « handelt (276b,f). Phaidros sagt 276e: »Ein gar herrliches, ο Sokrates,
nennst du neben den geringeren Spielen: das Spiel dessen, der v o n der Ge-
rechtigkeit, und was du sonst erwähntest,dichtend mitReden zu spielen weiß.«
Sokrates antwortet: » S o ist es allerdings, Phaidros.Weit herrlicher aber, denke
ich, ist der Ernst mit diesen Dingen, w e n n jemand nach den Vorschriften der
dialektischen Kunst, eine gehörige S e e l e dazu wählend, mit Einsicht R e d e n
säet und pflanzt, w e l c h e sich selbst und dem, der sie gepflanzt, zu helfen im-
stande und nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen, vermittels
dessen einige in diesen, andere in anderen S e e l e n gedeihend, eben dieses un-
sterblich zu erhalten vermögen und den, der sie besitzt, so glückselig machen,
als einem M e n s c h e n nur möglich ist.«
27
>Einfalt< ist in der KrV, Β 683 als G e g e n s a t z zu >Mannigfaltigkeit< gebraucht
und heißt s o viel wie systematische Vernunfteinheit, die man dem Mannigfal-
tigen gibt, w e n n man zur »Gattung« hinaufsteigt. ( D i e s e Bedeutung könnte für
Hölderlin wichtig sein.)

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geschmückte Ausdruck (Zeichen) einer großen, würdevollen Sache im
Innern«. 28
Beide Begriffe finden sich bei Hölderlin wieder. Es ist nicht ausge-
schlossen, daß er den Stil der Natur in ihrer Schönheit als >naiv< und
>kunstlos< verstanden wissen wollte. So darf man nach dem »Naturzu-
stand der Phantasie«, wie er im »Gesetz der Freiheit« in Analogie zur
»Moralität des Instinkts« entwickelt wurde, vermuten. Auch die Heidel-
berg-Ode, das >kunstlos Lied<, ließe sich als >Ausdruck einer großen, wür-
devollen Sache im Innern«, als eine >moralisch< organisierte An-
schauung deuten, die von der Natur geschenkt wird. Der »Totaleindruck«
ist es, der Hölderlin an Naturwahrnehmungen interessiert, 29 und die
»Total Vorstellung« allein, so sagt er bereits in der >Hesiod<-Arbeit, wir-
ke »auf das Empfindungs- und Begehrungsvermögen«, dessen >Zweck<
»Schönheit und Erhabenheit« sei (IV, 183,24f.). >Kunstlos< und >naiv< wä-
ren deshalb diejenigen Gebilde, die gleichsam von selbst und ohne je-
den Zwang das >Gesetz der Freiheit<, als das >moralisch< organisierende
Prinzip der Schönheit, erfüllen. So spricht Melite auch »manch himmli-
sches Wort, kunstlos, ohne alle Absicht, in lautrer heiliger Einfalt« (III,
168).
Nach allen Folgerungen, die wir mit Hilfe des »Gesetzes der Frei-
heit«, des >Phaidros< und des Neuffer-Briefes unter der anfänglichen Zu-
grundelegung des Mottos der >Hymne an die Schönheit gezogen haben,
ist damit erwiesen, daß nicht ein geringfügiges Versehen oder eine
Nachlässigkeit Hölderlins freie Formulierung im Anschluß an Kant ver-
ursachte; darunter verbirgt sich der Ansatz zu einer selbständigen und
eigenwilligen ästhetischen Konzeption, die zwar noch nicht ihre begriff-
liche Grundlage gefunden hat, aber bereits in der späteren Richtung
über die Kantische >Grenzlinie< hinausweist. Nicht »Kant« sollte unter
Hölderlins freiem Zitat stehen, »Anti-Kant« wäre richtiger.
28
Vgl. Mendelssohns Schriften, ed. Brasch, II, 204/05/06. - Auch bei Wieland sind
die Begriffe >naiv< und >kunstlos< nahezu identisch (Vgl. Wielands >Abhandlung
vom Naiven<).
29
So schreibt er am 28. April 1795 (Nr. 99): »Ich kanDich nicht mit Reisebe-
obachtungen plagen, ich mochte das Wesen nie recht leiden, wahrscheinlich,
weil ich keine Gaabe dazu habe, ich bin meist mit dem Totaleindruk zufrie-
den.. .«VI, 1,168). - Es spielt bei Hölderlin keine Rolle, welche Landschaft er
vor sich hat; sie verdichtet sich immer zur Einheit einer >Idee<. - Vgl. auch L
238, Seckel, S. 470ff. - Heselhaus (L 114, S. 21) bezeichnet Hölderlins >Totalein-
druck< mit Recht als ein »Bild des schaffenden Spiegels der Seele, eine ästhe-
tische Wahrnehmung, eine künstlerische Konzeption«.Vgl. auch ebd. S. 22, wo
die »Zeichen der Natur« mit Hölderlin als verwandte Zeichen< (111,308) und
»Entsprechungen«gedeutet werden. Sie setzen sich zusammen zum >heiligen
Bilde, das wir bilden< (V, 329). Hölderlins Naturbilder seien »Gebärden der Ent-
sprechung«, »Zeichen, die die Seele in der Natur ahnend erkennt.«
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