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1.

Abschied von einem ausreisenden Freund


2. An einem schönen Herbsttag möcht ich sterben …
3. Andre, die das Land so sehr nicht liebten
4. Begräbnis der Alten
5. Der Dornwald
6. Der Ofen von Lublin
7. Der reiche Sommer
8. Die alten Geliebten
9. Die Gaunerzinke
10. Die schwarze Kondukteurin I+II
11. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan
12. Durch den Nebel
13. Durchs Dunkel draußen fährt im Sturm der März
14. Ein Weihnachten
15. Es ist schön
16. Für die die ohne Stimme sind
17. Genesen – verhaftet
18. In schwerer Stunde gehn
19. Komm und rück zu mir Marie
20. Lass still bei dir mich liegen
21. Lied am Bahndamm
22. Lob der Verzweiflung
23. Mostnacht in Eisenstadt
24. Nicht fürs Süße nur fürs Scharfe
25. Pfingsten für zwei alte Leute
26. Requiem für einen Faschisten
27. Selbstporträt 1946
28. Trinklied vorm Abgang
29. Verbannt aus Österreich
30. Vom Himmel von London
31. Vom Jung-Sein-Wollen
32. Von den ersten Fahrrädern im Marchfeld
33. Von den ersten Tagen in London
34. Von der Schande
35. Wann immer ein Mann trifft auf einen …
36. Was hast du Liebster, heute Nacht
37. Weinlese
38. Wenn du schon schläfst
39. Wenn ein Pfründner einmal Wein will
40. Wer läutet draußen an der Tür
41. Wien, Fronleichnam 1939
42. Winterhafen
43. Zur halben Nacht
Theodor Kramer
Abschied von einem ausreisenden Freund

Meinem Freund, der seinen Pass schon hatte,


gab ich gestern das Geleit zur Bahn;
unsre Hände waren wie aus Watte,
als wir tief uns in die Augen sahn.
Dreimal winkte er mir aus dem Wagen
und ich winkte stumm ihm wie erschlagen:
denn ich selber war noch immer hier.

Aus der Halle fuhr mit ein paar Pfiffen


schon der Zug mit ihm, er reiste aus;
doch ich hatte es noch nicht begriffen,
ging vom Bahnsteig wie betäubt nach Haus.
So als säß er, wo er oft gesessen,
war mir, und mir mundete kein Essen:
denn ich selber war noch immer hier.

Hinter den vertrauten Fensterläden


immer noch vermeinte ich den Mann,
und ich rief ihn, um mit ihm zu reden,
heute zur gewohnten Stunde an.
Aus der Muschel kam ein kleines Knacken,
und ein Schauer lief mir durch den Nacken:
denn ich selber war noch immer hier.
Theodor Kramer
An einem schönen Herbsttag möcht ich sterben …

An einem schönen Herbsttag möcht ich sterben,


der schon ein wenig rau und frostig ist,
vor unserm alten Haus daheim im herben
Geruch von Unkraut und von Rankenmist.

Den Hauch der schwarzen Schalen möcht ich schlürfen,


die von den Nüssen fallen, und den Pflug
die morschen Stoppeln stürzen sehen dürfen
ins fette Erdreich bis zum letzten Bug.

Dann könnt ich leichter glauben, dass das gleiche


Gesetz, nach dem der Fechsung morscher Rest
den Boden wieder düngt, auch mir das Gleiche
gewährt und mich nicht ganz vergehen lässt.
Theodor Kramer
Andre, die das Land so sehr nicht liebten

Andre, die das Land so sehr nicht liebten


War’n von Anfang an gewillt zu geh’n
Ihnen – manche sind schon fort – ist besser
Ich doch müsste mit dem eig’nen Messer
Meine Wurzeln aus der Erde dreh’n!

Keine Nacht hab’ ich seither geschlafen


Und es ist mir mehr als weh zumut –
Viele Wochen sind seither verstrichen
Alle Kraft ist längst aus mir gewichen
Und ich fühl’, dass ich daran verblut’!

Und doch müsst ich mich von hinnen heben –


Sei’s auch nur zu bleiben, was ich war
Nimmer kann ich, wo ich bin, gedeihen
Draußen braucht ich wahrlich nicht zu schreien
Denn mein leises Wort war immer wahr!

Seiner wär ich wie in alten Tagen


Sicher; schluchzend wider mich gewandt
Hätt’ ich Tag und Nacht mich nur zu heißen –
Mich samt meinen Wurzeln auszureißen
Und zu setzen in ein andres Land!

Andre, die das Land so sehr nicht liebten


War’n von Anfang an gewillt zu geh’n
Ihnen – manche sind schon fort – ist besser
Ich doch müsste mit dem eig’nen Messer
Meine Wurzeln aus der Erde dreh’n!
Theodor Kramer
Begräbnis der Alten

Von der Kirche zwischen Klee und Hecken


zieht der Zug gemessen aus dem Flecken
auf den Friedhof; das Geläut ist klein
und der Grabgesang fällt ungleich ein.

Wenige folgen, die zu trauern haben,


doch der Zug ist lang; mehr wird begraben
als die alte Häuslerfrau, die karg
liegt im ärmlich aufgebahrten Sarg.

Zittrig halten all die alten Leute,


die mit jeder Leiche gehn, auch heute
in der Hand das eingefasste Buch,
schleppen sich im schwarzen Fransentuch.

Ihre Finger achten nicht der Nesseln,


die sie streifen; aus dem Silberkessel
steigt der Weihrauch, von den Kerzen tropft
zäh das Wachs und ihre Schläfe klopft.

Ihre Ohren hören nicht die Bienen


im Hollunder; einer unter ihnen
ist vielleicht der nächste, den es trifft,
sei’s im Schlummer, sei’s auf grüner Trifft.

Alle werfen eine Schaufel Erde,


dass der Toten leicht die Ruhe werde,
und sie weinen still und bitterlich,
beten eins für sie und eins für sich.
Theodor Kramer
Der Dornenwald

Es zieht ein Dornenwald sich eben


vor Olyka zerklüftet hin;
noch rosten Saum an Saum die Gräben,
die sich beschossen über ihn.
Wie die Granaten hoch sie streckten,
stehn noch die Wurzelstrünke da;
grün ranken sich die Brombeerhecken
im Dornenwald vor Olyka.

Die Äste stehn zu Lehm gebacken;


die Ruten treiben frisch und kraus;
sie kommen aus dem Dorf und hacken
die Knochen samt den Knöpfen aus.
Die Kinder sammeln sie in Säcken,
des Messings Glanz geht ihnen nah;
grün ranken sich die Brombeerhecken
im Dornenwald vor Olyka.

Im Sand verbiegen sich die Spaten,


noch gehn die blinden Zünder los;
wir träumen, Kamerad, und waten
bis zu den Knöcheln tief in Moos.
Der Rasen nicht, die Lüfte decken
für uns mit Taubheit, was geschah;
grün ranken sich die Brombeerhecken
im Dornenwald vor Olyka.
Theodor Kramer
Der Ofen von Lublin

Es steht ein Ofen, ein seltsamer Schacht,


ins Sandfeld gebaut, bei Lublin;
es führten die Züge bei Tag und bei Nacht
das Röstgut in Viehwagen hin.
Es wurden viel Menschen aus jeglichem Land
vergast und auch noch lebendig verbrannt
im feurigen Schacht von Lublin.

Die flattern ließen drei Jahre am Mast


ihr Hakenkreuz über Lublin,
sie trieb beim Verscharren nicht ängstliche Hast,
hier galt es noch Nutzen zu ziehn.
Es wurde die Asche der Knochen sortiert,
in jutene Säcke gefüllt und plombiert
als Dünger geführt aus Dublin.

Nun flattert der fünffach gezackte Stern


im Sommerwind über Lublin.
Der Schacht ist erkaltet; doch nahe und fern
legt Schwalch auf die Länder sich hin,
und fortfrisst, solang nicht vom Henkerbeil fällt
des letzten Schinderknechts Haupt, an der Welt
die feurige Schmach von Lublin.
Theodor Kramer
Der reiche Sommer

Sie lagen zu zweit über Mittag im Sand


vor der staubigen Jutefabrik;
lose saß um die Hüften ihr Leinengewand
und die Sonne beschien ihr Genick.
Längst schon hatte der Staub, der aus Faser und Sack
stieg, die Lungen zur Gänze durchsetzt;
und sie fühlten sich oft schon vom süßen Geschmack
ihres eigenen Blutes benetzt.

Und sie tunkten ihr Brot in den Milchtopf, den Stich


in der Lunge verhielten sie gern;
denn sie wussten: sie hatten den Sommer vor sich
und der rasselnde Herbst war noch fern.
Rein und blau war die Zeit und die Luft roch nach Seim,
nicht allein ihre Haut schien geschält;
sie erzählten sich Dinge von einst, von daheim,
die sie bisher noch keinem erzählt.

Und es dünkte zu Mittag ihr eigenes Wort


Tag für Tag sie erstaunlich und weich;
noch war keine der roten Begonien verdorrt,
und bemalt war das Leben und reich.
Reich war alles: der Sand und das Gras und das Wehn
und die strahlende Glut im Genick;
und sie hörten verschattet die Spindeln sich drehn
in der staubigen Jutefabrik.
Theodor Kramer
Die alten Geliebten

Die alten Geliebten, mit denen ich lag,


gestorben, verschollen, vergessen vor Tag,
sie sind nun auf einmal mir nahe bei Nacht,
als hätt ich mit ihnen nicht Schluss längst gemacht.

Die erste war schüchtern und kindlich und mild,


die zweite war stolz und war schön wie ein Bild;
ich konnte sie beide nicht richtig verstehn,
drum lassen so oft sie bei Nacht sich nun sehn.

Die dritte war Freundin für Weinland und Flur,


die vierte gab Lust mir wie nie eine Hur;
sie gingen von mir, als sich wandte mein Glück,
drum kommen im Elend zu mir sie zurück.

Ich sag, was ich alles zu sagen vergaß,


ich rieche das Sofa und rieche das Gras;
ich liege mit ihnen, wie niemals ich lag;
bald wird es stets Nacht sein und niemals mehr Tag.
Theodor Kramer
Die Gaunerzinke

Die stillste Straße komm ich her,


im Schluchtenfluss die Otter schreit.
Mein Schnappsack ist dem Bund zu leer,
Gehöfte stehen Meilen weit.
Im Kotter saß ich gestern noch
und tret ins Tor im Abendrot
und weiß im Janker Loch um Loch
und bitte nur ganz still um Brot.

Und dem, der hart mich weist ins Land,


den mal ich an die Wand ein Haus –
und vor das Haus steil eine Hand;
die Hand wächst übers Haus hinaus.
Hier, seht, hier bat - und bat nur stumm
– nach mir, ihr Brüder, – eine Hand.
Und Einer geht ums Haus herum
und Einer setzt’s einst nachts in Brand.

1928

aus: Gesammelte Gedichte in drei Bänden. Hrsg, von Erwin Chvojka. Band 1. Paul Zsolnay Verlag, Wien
1997/2005

Obwohl ihn berühmte Zeitgenossen als »den stärksten österreichischen Dichter seit Georg
Trakl« anpriesen, ist Theodor Kramer (1897-1958), der Moritaten- und Balladen-Dichter aus
der Wiener Vorstadt, in Deutschland ein Unbekannter geblieben. Der Sohn eines jüdischen
Gemeindearztes knüpfte früh an plebejische Traditionen an und schlüpfte in seinem poetischen
Debütband »Die Gaunerzinke« (1928) in die Rolle des unbehausten Vagabunden, der aus dem
»Kotter« (=Dorfarrest) geflohen ist, bei seiner Bitte um Brot von den saturierten Bürgern
abgewiesen wird und daher seine geheimen Zeichen (= Gaunerzinken) an die Häuserwände
ritzt.

Der Dichter des proletarischen Österreich, ein unabhängiger Sozialist, den die Nazis als
»Hofpoeten der Demokratie« und prototypischen Ostjuden schmähten, konnte dank einer
Intervention Thomas Manns im Juli 1939 nach England entkommen, wo er seine Arbeit an
derb-vitalistischen Gedichten fortsetzte. Mit seiner exzessiven Lust am Leben hat Kramer alle
überkommenen Ordnungsmuster sabotiert.
Theodor Kramer
Die schwarze Kondukteurin I+II

Die schwarze Kondukteurin auf dem Bus


reicht mir den Fahrschein so als wär’s ein Kuss;
ihr steht die Uniform, sie ist nicht prüd,
sie ist fürs Bett gemacht: ich bin zu müd.

Ob auch von mir noch jede Freundin ging,


ich wüsst noch gut zu scherzen mit dem Ding
und wüsst das Spiel zu spielen, bis sie glüht,
doch dauert’s mir zu lang: ich bin zu müd.

Es schmeichelt mir, doch lieber kehr ich ein


und süffle in der Schenke meinen Wein
und seh, wie Stern bei Stern am Himmel sprüht
und Licht bei Licht im Tal: ich bin zu müd.

Dem stillen Fahrgast früh im Autobus


reich ich den Fahrschein so wie einen Kuss.
Er schaut zurück, doch spricht er nie mich an;
ich mag ihn gern, er ist ein feiner Mann.

Er meint vielleicht, er ist für mich zu alt,


mich aber lassen viele Jüngre kalt.
‘s ist niemand da, mit dem ich reden kann;
ich mag ihn gern, er ist ein feiner Mann.

Vielleicht verdrängt er mich aus seinem Sinn,


weil ich nur eine Kondukteurin bin.
Er sollt mich sehn, hab ich mein Wollkleid an;
ich mag ihn gern, er ist ein feiner Mann.
Theodor Kramer
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan

Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.


Ich darf schon lang in keiner Zeitung schreiben,
die Mutter darf noch in der Wohnung bleiben.
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.

Der Greisler schneidet mir den Schinken an


und dankt mir, wenn ich ihn bezahle, kindlich;
wovon ich leben werd, ist unerfindlich.
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.

Ich fahr wie früher mit der Straßenbahn


und gehe unbehelligt durch die Gassen;
ich weiß bloß nicht, ob sie mich gehen lassen.
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.

Es öffnet sich mir in kein Land die Bahn,


ich kann mich nicht von selbst von hinnen heben:
ich habe einfach keinen Raum zum Leben.
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.

(Gesammelte Gedichte in 3 Bänden. Zsolnay Verlag, Wien 1997 ff.)

Theodor Kramer (1897-1958), der Sohn eines jüdischen Dorfarztes aus Niederösterreich, ist
der große plebejische Realist in der deutschsprachigen Dichtung des 20. Jahrhunderts - nur
hat die Literaturgeschichte davon kaum Notiz genommen. Der größte Teil seiner sinnlichen
und drastischen Lieder auf das Milieu der Proletarier, Vaganten und sozialen Außenseiter
wurde erst nach seinem Tod publiziert. Sein erschütternder Zyklus „Wien 1938“ ist ein
eindringliches Zeugnis jenes Zustands der Rechtlosigkeit, in den der bekennende linke Sozial-
demokrat nach dem „Anschluss“ Österreichs geraten war.

Das lyrische Ich verzeichnet in sarkastischer Nüchternheit die soziale Stigmatisierung, die
dem exponierten Nazi-Gegner in seiner österreichischen Heimat widerfuhr. Nach einem miss-
glückten Selbstmordversuch im August 1938 gelang es Kramer unter erheblichen Schwierig-
keiten doch noch, nach England auszureisen. Während seines englischen Exils, das bis 1957
fortdauerte, geriet das Werk des Dichters in Vergessenheit.
Theodor Kramer
Durch den Nebel

Nächtlich schwimmt der Nebel wie besoffen;


irgendwo hat noch ein Wirtshaus offen.
Schließ noch nicht, die Nacht hat was an sich;
durch den Nebel komm ich: wart auf mich.

Aus dem Dunst streckt schwarz ein Baum den Rüssel;


irgendwo schwingt noch ein Mensch den Schlüssel.
Wend die Moschusschritte nicht vom Strich;
durch den Nebel komm ich: wart auf mich.

Irgendwo geht hier die Stadt zu Ende;


der Kanal scholkt schaumig an die Lände.
Birg nicht hinter Zaun und Schuppen dich;
durch den Nebel komm ich: wart auf mich.
Theodor Kramer
Durchs Dunkel draußen fährt im Sturm der März

Durchs Dunkel draußen fährt im Sturm der März,


er fährt talein, talaus und hügelwärts:
was nicht gesund, der rechten Kräfte bar,
kann nicht bestehn vor ihm im neuen Jahr.

Durchs Dunkel draußen fährt im Sturm der März;


es stampft, ob ich auch lieg im Bett, mein Herz,
in meinen Backen prickelt dumpf das Blut …
Oh, sag mir nicht, ich sei zu nichts mehr gut!

Bin siecher als der Halm auf fahler Flur,


geringer als die ärmste Kreatur;
doch was ich setz in Worten, Strich für Strich,
ist mehr als ich … Das setz ich gegen dich!

‘s ist ungeordnet und noch nicht zu End


braucht meine Sicht dies Jahr noch, meine Händ …
Die Backen prickeln dumpf, es stampft das Herz;
durchs Dunkel draußen fährt im Sturm der März.
Theodor Kramer
Ein Weihnachten

Es winkte mir kein Baum mit Christbaumkerzen;


sechs Wochen erst war ich aus der Armee
entlassen, dichter lag in meinem Herzen
als ringsum in der großen Stadt der Schnee.
Die harschen Steige lagen schon verlassen,
die Buckel knarrten, und es war noch hell;
ich irrte ziellos durch die kleinen Gassen
und unversehens stand ich vorm Bordell.

Ich öffnete die wohlbekannte Türe –


und wandte mich zutiefst beschämt zum Gehn;
mir war, als würden mir die Silberschnüre,
die goldnen Sterne in die Augen sehn.
Der Tisch war für die Gäste schon gerichtet;
den Braten trug das dralle Ding vom Land
herein, sie sah mich, und ich stand vernichtet.
Dann nahm sie still mich freundlich bei der Hand.

Und vor den Leuten, die beladen kamen,


gab sie mich leicht als einen Vetter aus;
ich sang die alten Lieder, heilgen Namen,
und teilte froh mit jung und alt den Schmaus.
Und als ich ging mit ihren letzten Gästen,
rief auf der Stiege mich ihr Blick zurück;
und zwischen Christbaumschmuck und Kerzenresten
genoss gerührt ich unverdientes Glück.
Theodor Kramer
Es ist schön

Es ist schön, wenn du spät im verfinsterten Raum


ins geglättete Bett zu mir kriechst
und mich anrührst mit deinem kaum sichtbaren Flaum
und nach Seife und Pfefferminz riechst.
Deine Haut ist noch kühl, deine Hände sind schwer;
und dein Mund gibt sich zögernd und tut
bei allem, als ob es das erste mal wär,
und das, liebe Liebste ist gut.

Es ist schön, wenn die Brust sich dir hebt und sich senkt
und mich leise dein Atem weht an
und dein Leib sich mir nähert und freundlich sich schenkt,
weil er einfach nicht anders mehr kann.
Die Nacht ist noch lang und um uns alles still,
in den Ohren rauscht leise das Blut;
und was du willst, will ich, und du tust, was ich will,
und das, liebe Liebste, ist gut.

Es ist schön, wenn im Fenstergeviert sich der Schein


des Tages erhebt und mich weckt,
und die Hand lässt die Rundung der Schultern nicht sein,
bis der Druck meiner Finger dich schreckt.
Süß und weh zugleich ist, was ich tu oder lass,
wenn dein Arm mich umfängt, uns zumut,
und ich küss vom Gesicht dir das salzige Nass,
und das, liebe Liebste ist gut.
Theodor Kramer
Für die, die ohne Stimme sind …

Schön sind Blatt und Beer


und zu sagen wär
von der Kindheit viel und viel vom Wind;
doch ich bin nicht hier,
und was spricht aus mir,
steht für die, die ohne Stimme sind.

Für des Lehrlings Schopf,


für den Wasserkopf,
für die Mütze in des Krüppels Hand,
für den Ausschlag rau,
für die Rumpelfrau
mit dem Beingeschwür im Gehverband.

Ohne Unterlass
spricht es, viel schwingt Hass
mit, ich bin nicht bös und bin nicht gut;
wenn ich einsam steh,
wenn ich schlafen geh,
dünkt es mich, ich hab den Mund voll Blut.

Wehrt mir, Leute, nicht


der ich so im Licht
niedrig steh und sing: es währt nicht lang;
eine kurze Zeit
hört ihr großes Leid
und vielleicht ein wenig auch Gesang.
Theodor Kramer
Genesen – verhaftet

Spät im November - die Straße lag kahl -


wankte genesen ich aus dem Spital.
Hatte nicht Mantel und hatte nicht Schuh,
hatte nur Hunger und Kälte dazu.

Ging ich zum Passamt: Ihr Leute, ein Wort.


Waren die hundert Beamten schon fort.
Sprach ich slowakisch von Haus mich zu Haus:
jagte man mich in das Dunkel hinaus.

Hielt ich mich müd an die gute Latern.


Blinkte schon frostig der Wachmann von fern.
Einem, der kam, schlug ich ein sein Gesicht.
Geht nun, ihr Herren, mit mir ins Gericht.

(Orgel aus Staub. Hrsg. von Erwin Chvojka. Europa Verlag, Wien-Zürich 1991)

Der staatenlose Vagabund, der unter Hunger und Kälte leidet und von den Sachwaltern der
Macht davongejagt wird: So hat sich Theodor Kramer (1898-1958), der unbehauste Dichter
aus der österreichischen Provinz, in einem seiner späten Gedichte selbst porträtiert. Nach
seinem erfolgreichen Debütband „Die Gaunerzinke“ (1929) hatte der Sohn eines jüdischen
Landarztes und bekennende Sozialdemokrat eine Existenz als freier Schriftsteller begonnen;
1933 geriet der plebejische Volksdichter, von den Nazis als „Hofpoet der Demokratie“
verspottet, sofort auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“.

Das Ausgesetztsein des Staatenlosen, der schließlich zu einem Akt der Notwehr greift, ist ein
sinnfälliges Bild für Kramers Schicksal: Nach dem „Anschluss“ Österreichs im Jahre 1938
erteilte man Kramer Berufsverbot. Der Verlust der Wohnung und eine zunehmende
Aussichtslosigkeit führten im August 1938 zu einem psychischen Zusammenbruch. Im Juli
1939 gelang Kramer dank einer Intervention Thomas Manns die Ausreise nach Großbritan-
nien; die späte Rückkehr nach Wien im Herbst 1957 überlebte er nur kurz.
Theodor Kramer
In schwerer Stunde gehn

Will ein Mensch von dir in schwerer Stunde gehn,


halt ihn nicht zurück, und schweigsam lass geschehn,
was zuinnerst schon vor langer Zeit geschah;
dein vergangnes Leben kommt dir rauschend nah.

E i n e Spanne aber lässt sich nicht verstehn;


allem, was zu zweit erlebt ward und gesehn,
wohnt ein Schweigen inne, das um Stimme wirbt,
das den Glanz der Dinge annagt und verdirbt.

Über die gesteckten Maße hat sie Macht,


dass die Zeit du strichest gern in wacher Nacht;
doch die Pulse klopfen rascher, und dir graut,
wann sich früh dein Leben loser überschaut.
Theodor Kramer
Komm und rück zu mir, Marie

Komm und rück zu mir, Marie,


lass uns liegen Knie an Knie,
lass uns kurz vereinigt sein;
sinnen kann man nur allein.

Was es gibt an Lust, Marie,


lass verkosten uns wie nie;
küssen kann man nur zu zwein,
schnarchen kann man nur allein.

Nichts mehr ändert uns, Marie.


Jedes ist, wie es gedieh,
sterben kann man auch zu zwein,
tot sein kann man nur allein.
Theodor Kramer
Lass still bei dir mich liegen

Lass still bei dir mich liegen;


es trägt mich weit zurück,
am Bord mit seinen Fliegen
vorbei und noch ein Stück.
Das ist ein schweres Segeln
durch nichts als leeren Schein;
starr unter meinen Nägeln zieht
sich das Leben ein.

Rühr nicht an meine Haare,


mich krümmt’s, doch bleib mir nah;
das ist nun viele Jahre,
dein Mund war noch nicht da: und
doch war schon das eine
gewaltig und in Fluss,
mit dem ich mich vereinen
und mich versöhnen muss.

Es hätte auch ins Leben


sonst keinen Weg für mich
mehr wohl zurückgegeben;
vielleicht kann ich für dich
einst sein, was mir verholfen
zur Rückkehr hat: die Ruh.
Und aus den schwarzen Golfen
blinkst auch ein wenig du.
Theodor Kramer
Lied am Bahndamm

Süß das schwarze Gleis entlang


duftet die Kamille;
Mückenschwall und Vogelsang
sind verstummt, die Grille
regt allein sich schrill im Sand,
und uns beide, Hand in Hand,
überkommt die Stille.

Rote Tropfen streut der Mohn


über Hand und Stätte,
auf dem Stockgleis der Waggon
ist heut unser Bette,
wo man uns zwei schlafen lässt,
und schon hält dein Haar mich fest,
als ob’s Finger hätte.

In der Tür das Blau wird satt,


Sterne schaukeln trunken;
wenn auf Spelt und Schaufelblatt
sprühen jähe Funken,
und ein Zug vorüberfährt,
bleib ich ganz dir zugekehrt,
ganz in dich versunken.
Theodor Kramer
Lob der Verzweiflung

Verzweiflung, Freund des Armen,


du letzter Rest vom Rest,
du hast mit ihm Erbarmen,
wenn alles ihn verlässt;
du lässt sein bisschen Leben
im Schein des frühen Lichts
sich krümmen und erbeben
und führst ihn dann ins Nichts.

Du hast gar viele Namen,


bist unter allen groß,
heißt Würfel, Messer, Samen,
heißt Branntwein, Strick und Schoß,
du bist im Klirrn der Scherben,
im Zucken des Gesichts,
du fährst ins träge Sterben,
und wirbelst es ins Nichts.

Du warst mir oft Gefährtin


in meiner Einsamkeit;
für mich wär jeder Wert hin,
wär ich von dir befreit;
gib Kraft mir, dass ich lebe,
und führ mich durch das Nichts,
auf dass ich mich erhebe
am Tage des Gerichts.
Theodor Kramer
Mostnacht in Eisenstadt

Vom Herbstwind bin ich aufgewacht,


durchs Fenster schwebt ein Maulbeerblatt;
mit seinem Ruch erfüllt die Nacht
der schwere Most von Eisenstadt.
Die Rieden liegen tot, vom Tag
ist kaum zu sehn ein fahler Saum;
wo magst du sein, mit der ich lag
vor einem Jahr in diesem Raum.
Wo liegst du jetzt um diese Stund,
vor herbem Schimmel halt und heiß,
wer küsst jetzt deinen breiten Mund
und wohnt in deinem scharfen Schweiß?
Wie sah die Nacht doch damals aus
noch immer so und anders nie;
schwarz drüben glomm das kleine Haus
wie heut und bebten mir die Knie‘.
Die Magd schob einen Krug mit Most
mir gestern abends noch herein;
mit dem komm ich zur Walnusskost
aus bis zum ersten Morgenschein.
Theodor Kramer
Nicht fürs Süße, nur fürs Scharfe …

Nicht fürs Süße, nur fürs Scharfe


und fürs Bittre bin ich da;
schlag, ihr Leute, nicht die Harfe,
spiel die Ziehharmonika.

Leer, verfilzt ist meine Tasche


und durchlöchert ist mein Hut;
dass ich leb, das Herz aus Asche,
macht: aus Branntwein ist mein Blut.

Ließ das Salz der Tränen Spuren,


wären meine Gucker blind;
meine Liebsten sind die Huren,
mir Gesellen Staub und Wind.

Das Falsett, das möcht umarmen,


doch das Ganze trägt der Bass;
hab Erbarmen, brauch Erbarmen,
doch zuinnerst haust der Hass.

Weiß zu viel und möcht doch träumen


wie der Echs im Sonnenschein;
leeres Brausen in den Bäumen,
braus für mich, nick träg ich ein!

Darf nicht ruhn, muss Straßen weiter;


denn bald bin ich nicht mehr da,
und es spielt die Stadt kein Zweiter
so die Ziehharmonika.
Theodor Kramer
Pfingsten für zwei alte Leute

Setz auf die Bank vorm Haus dich, Alte, nieder!


Für heute Abend ist genug geschafft!
Am Rand der Vorortstraße blüht der Flieder
und die Kastanien stehn in vollem Saft.
Die Motorräder, die aus frischen Fernen
der Stadt zu brausen, tragen schon Laternen.

Es ist ein Abend, wie ich viele Jahre


schon ihn nicht sah, an dem man alles schmeckt:
den Staub der Stadt, den Ruch der Schlingkrauthaare,
den grünen Rasen, der den Hang bedeckt,
den Wurzelgrund der wilden Efeureben,
die noch den Paaren an den Tschernken* kleben.

Wie ist es, sag doch Alte, zu begreifen,


dass wir wie nun schon wohnen manches Jahr
und nie mehr sonntags durch die Wälder streifen
und dennoch leben, ohne Wind im Haar?
Wir stehen auf und schrubben uns und essen –
und alles andre haben wir vergessen.

Gewaltig, Alte, glaub mir, ist das Leben


in allem, wenn wir es nur richtig tun,
wenn wir dabei sind, wie wir uns erheben,
und ganz dabei, wenn wir ein wenig ruhn.
Ist lahm das Kreuz auch, eine Hand beschädigt,
es ist der Mensch damit noch nicht erledigt.

Kalt zieht sich’‘s in die Füße aus den Fliesen,


die Maiennächte sind noch reichlich frisch;
wir werden gehen und das Fenster schließen
und schmal bestellt ist morgen unser Tisch,
und viel wird’‘s sein, wenn für uns alte Leute
zuweilen noch ein Abend kommt wie heute.

* Bergschuh
Theodor Kramer
Requiem für einen Faschisten

Du warst in allem einer ihrer Besten,


erschrocken fühl ich heut mich dir verwandt;
du schwelgtest gerne bei den gleichen Festen
und zogst wie ich oft wochenlang durchs Land.
Es füllte dich wie mich der gleiche Ekel
vor dem Geklügel ohne innern Drang,
vor jedem Wortgekletzel und Gehäkel;
nichts galt dir als der schöne Überschwang.

So zog es dich zu ihnen, die marschierten;


wer weiß da, wann du auf dem Marsch ins Nichts
gewahr der Zeichen wurdest, die sie zierten?
Du liegst gefällt am Tage des Gerichts.
Ich hätte dich mit eigner Hand erschlagen;
doch unser keiner hatte die Geduld,
in deiner Sprache dir den Weg zu sagen:
dein Tod ist unsre, ist auch meine Schuld.

Ich setz für dich zu Abend diese Zeilen,


da schrill die Grille ihre Beine reibt,
wie du es liebtest, und der Seim im geilen
Faulbaum im Kreis die schwarzen Käfer treibt.
Dass wir des Tods und Ursprungs nicht vergessen,
wann jeder Brot hat und zum Brot auch Wein,
vom Überschwang zu singen wie besessen,
soll um dich, Bruder, meine Klage sein.
Theodor Kramer
Selbstporträt 1946

Buschig ist mein Haar, ist strähnig,


schon von Grau durchsetzt ein wenig,
schmerzhaft mein Gedärm verwachsen
und mein Herz macht mir schon Faxen.

Alles Laue, Halbe hass ich,


was an Geld kommt ein, verprass ich;
was ich weiß – nicht viel – das weiß ich,
auf die Neunmalweisen scheiß ich.

Einstand stets ich für die Armen,


oft mit mir kommt mir Erbarmen;
nötig hätt ich oft ein Fuder −
alle sind wir arme Luder.

Blau schon schwillt mir das Geäder,


unbeirrt führ ich die Feder;
schön ist’s, Tag für Tag zu schreiben:
dies und das davon wird bleiben.
Theodor Kramer
Trinklied vorm Abgang

Schon wird uns oft ums Herz zu eng,


es lässt uns niemals ruhn;
wir konnten manchmal im Gedräng
nicht ganz das Rechte tun.
Lasst in der Runde gehn den Wein,
horcht, wie die Zeit verrinnt;
die Menschen werden kleiner sein,
wenn wir gegangen sind.

Uns wäre eingereiht, behaust


und vorbetreut nicht wohl;
wir konnten noch in unsrer Faust
vereinen Pol und Pol.
Lasst in der Runde gehn den Wein,
horcht, wie die Zeit verrinnt;
die Menschen werden schwächer sein,
wenn wir gegangen sind.

Ob altes Maß, ob neues Maß,


wir müssen bald vergehn;
was schadet’s, bleibt nur dies und das
von uns als Zeichen stehn.
Lasst in der Runde gehn den Wein,
horcht, wie die Zeit verrinnt;
die Menschen werden freier sein,
wenn wir gegangen sind.
Theodor Kramer
Verbannt aus Österreich

Es blassen schon im Wasserglas


nach einem Tag die Nelken
das Laub des Baums, der aus dem Gras
getan ist, muss verwelken.
Schon dreimal fiel und schmolz der Schnee;
wie lang noch, dass ich nicht vergeh,
verbannt aus Österreich?

Der Goldlack, wird ihm Salz gestreut


ins Glas, hält sich noch gelber;
aus bittren Tränen mir erneut
das Lebens Saft sich selber.
Entwurzelt, schwind ich nicht so leicht;
um meine Schläfen, sing ich, streicht
ein Hauch von Österreich.

Mein Herz, ich werf dich – du gehst still –


gach ins Getös der Zeiten;
rasch, wann ich nicht verbluten will,
muss ich dich nun erstreiten.
Doch fass und setz ich dich ins Loch,
bevor mein Blut gerann,
wer noch kennt mich in Österreich?

(1943)
Theodor Kramer
Vom Himmel von London

Vom Blau, das nicht lange die Farbe behält,


ein Stück, das vor Abend wie Soda zerfällt
und sein tintiges Nass sucht in Strichen verpisst,
bis die Dächer zu brausen beginnen: das ist
der niedrige Himmel von London.

Wo patzig die Büsche im Rasenrund stehn


Und schläfrig die Schwaden des Nebels sich drehn,
wo immer vorbei der Autobus zwängt
seinen Weg, in die winkligen Gassen hängt
der niedrige Himmel von London.

Wenn die gleitende Treppe zu Tage mich trägt,


Wenn das Hasten nach Arbeit die Straßen abschrägt,
wenn der Boss mich mit leerem Versprechen entlässt,
feucht fast streift mich, verdurstet, verrußt und durchnässt,
der niedrige Himmel von London.

Wie wäre der Tag, wenn im wildfremden Land


hell strahlte die Sonne und gleißte das Band
des Stromes, erst einsam und trostlos für mich;
bepiss’ mich, was täte ich denn ohne dich,
du niedriger Himmel von London.
Theodor Kramer
Vom Jung-Sein-Wollen

Nur wenigen ist’s vergönnt auf dieser Erden,


in Ehren und mit Weisheit alt zu werden;
oft fügt sich’s, wird das erste Haar ihm weiß,
dass einer jung sein will um jeden Preis.

Kein Seidenhemd ist ihm für sich zu teuer,


den jungen Mädchen ist er nicht geheuer;
und er erhitzt sich, wird nicht gleich ihm heiß,
weil gern er jung sein will um jeden Preis.

Der Welt wird solche Schwäche recht gefährlich,


bleibt einer nicht in seinem Schaffen ehrlich,
macht mit wie wild, was grad des Tags Geheiß,
nur, weil er jung sein will um jeden Preis.
Theodor Kramer
Von den ersten Fahrrädern im Marchfeld

Dazumal, vor guten vierzig Jahren,


als wir noch zwei braune Burschen waren,
sind im Marchfeld, weit und wegverkommen,
grad die ersten Räder aufgekommen.

Und die Flecken, die in jenen Tagen


voneinander noch entfernter lagen,
haben sich nun in den ein, zwei blassen
Abendstunden leicht erreichen lassen.

Und es hat bis an die Grenze droben


bald ein großes Fahren angehoben
zu den Ziegelhöfen in den Senken,
zu den aufgespürten Bretterschenken.

Und wir haben seltsam unterm Gleiten


es empfunden, unsre Heimlichkeiten
nun auf viele Dörfer zu verteilen,
fern und nah, und nirgends zu verweilen.
Theodor Kramer
Von den ersten Tagen in London

In London treib ich mich seit ein paar Tagen


herum, die Koffer stehn noch eingestellt;
wohin ich komm, hör ich die gleichen Fragen,
wie es mir Neuling hierzuland gefällt.
So groß die Stadt auch ist, sie dünkt mich ländlich
mit ihren Gassen, ganz von Grün verschönt;
im Hydepark liegt das Volk wie selbstverständlich:
ich aber bin daran noch nicht gewöhnt.
Mit Auskunft dient mir, wen ich frage, willig,
doch lässt er mich beileibe nicht heran;
es tut ihm leid, er hält es nicht für billig,
dass ich im eignen Land nicht schreiben kann.
Dass man zuweilen meinesgleichen endlich
die Straßen waschen lässt und ihn verhöhnt,
erscheint den Leuten vollends unverständlich:
ich aber bin daran schon längst gewöhnt.
Der Fisch ist billig, doch das Wohnen teuer,
die Butter salzig und das Wasser schal;
sind die Entfernungen auch ungeheuer,
nicht sitzen bleiben kann ich nach dem Mahl.
Dass man nicht immer lächelt, wenn man endlich
beherbergt wird, und aus dem Schlaf noch stöhnt,
dünkt hierzuland die Leute unverständlich:
ich aber bin noch nicht an sie gewöhnt.
Theodor Kramer
Von der Schande

Ein Kuttelfleck – ich brauche keinen Braten –


wenn du mir’‘s zahlst, will ich dir was verraten;
es ist der Mensch so schlecht nicht beieinand,
was er am meisten fürchtet, ist die Schand.

Er schlägt sich mit der Zelle Finsternissen,


ihn schreckt es mehr, dass drum die Nachbarn wissen;
die Jungfrau, der’‘s den Bauch verdächtig spannt,
was sie am meisten fürchtet, ist die Schand.

Es weiß der Bursch den Tripper zu ertragen,


doch’‘s ist ihm bang, was sie zuhause sagen;
ich stink nach Schnaps, verdreckt ist mein Gewand,
wohl mir, ich fürcht mich nicht mehr vor der Schand.
Theodor Kramer
Wann immer ein Mann trifft auf einen …

Wann immer ein Mann trifft auf einen,


der im Winkel sitzt, stumm und allein,
so schuldet, so sollte ich meinen,
er ihm ein Glas Bier oder Wein.

Bis die Augen nicht unstet mehr wandern


und sich aufhellt das bittre Gesicht;
dies schuldet ein Mann einem andern,
aber zuhören muss er ihm nicht.
Theodor Kramer
Was hast du, Liebster, heute Nacht …

Was hast du, Liebster, heute Nacht,


in einer Nacht aus mir gemacht!
Dass ich, dir fern, dich süß begehr,
ist nun mein Stolz und meine Ehr.

Es ist nach dir wie nie mir bang,


der Tag ist grell und sinnlos lang;
die Nacht, so dünkt es meinen Mund,
ist länger kaum als eine Stund.

Ich möcht nur, dass ich dir gefall


in allem, immer, überall;
gern säng ich, ob’‘s auch nicht gefällt,
es ins Gesicht der ganzen Welt.
Theodor Kramer
Weinlese

Kommt, geschnitten ist der Wein,


und es schäumt die Kelter;
lasst uns heute lustig sein,
morgen sind wir älter.
In der Kapsel surrt der Mohn,
aus den Malvenbroten
rinnt’s; beim kleinsten Hauch und Ton
klaffen leer die Schoten.
Spielt die Ziehharmonika
drum und singt nur lauter;
heute sind wir alle da,
waren nie vertrauter.
Schön am Saum der Herbststrauch steht,
Reif deckt früh den Anger;
die heut in die Stauden geht,
ist im Frühjahr schwanger.
Theodor Kramer
Wenn du schon schläfst

Oft kann ich, wenn du lange


schon schlummerst, noch nicht ruhn;
ich möchte gern und lange
das gleiche wieder tun.
Ich möchte tief mich beugen
zu dir und meine Hand
versenken in die Beugen,
die sie an dir erst fand.

Kühl kommt es durch die Rille,


die unsre Betten trennt;
dein Atem, der die Stille
im Zimmer fast verbrennt,
geht ruhig hoch und nieder,
indes im schwachen Licht
ich mir aus Mund und Lidern
nachforme dein Gesicht.

Gern möcht ich einmal liegen


wie du vor mir, ganz still,
so, dass ich mich nicht biegen
und nichts mehr sagen will,
mich auf die Seite wenden
und nichts als ruhen sacht
mit ausgeschöpften Händen
die ganze lange Nacht.
Theodor Kramer
Wenn ein Pfründner einmal Wein will

Wenn ein Pfründner einmal Wein will,


sucht er im Gemeindehaus
eine Harke, eine Schlinge,
und dazu noch eine Schwinge
geht er auf den Anger aus.

Wo die Erde fett und frisch ist,


gräbt er schwarz dem Maulwurf nach.
Raben krächzen in den Kolken,
leise ziehen weiße Wolken
und die Gräser gilben brach.

Alle Gänge hebt der Pfründner


gründlich aus, die Zunge dick,
fasst die samtnen bei den Fellen,
schlägt die traurigen Gesellen
mit dem Schaft in das Genick.

Mittags misst der Armenvater


ihm den Trunk zu trübem Rausch.
Faulig schmeckt der Wein, die Krallen
rosenroter Zehenballen
wachsen zart in seinen Rausch.
Theodor Kramer
Wer läutet draußen an der Tür?

Wer läutet draußen an der Tür,


kaum dass es sich erhellt?
Ich geh schon, Schatz. Der Bub hat nur
die Semmeln hingestellt.

Wer läutet draußen an der Tür?


Bleib nur; ich geh, mein Kind.
Es war ein Mann, der fragte an
beim Nachbar, wer wir sind.

Wer läutet draußen an der Tür?


Lass ruhig die Wanne voll.
Die Post war da; der Brief ist nicht
dabei, der kommen soll.

Wer läutet draußen an der Tür?


Leg du die Betten aus.
Der Hausbesorger war’s, wir solln
am Ersten aus dem Haus.

Wer läutet draußen an der Tür?


Die Fuchsien blühn so nah.
Pack, Liebste, mir mein Waschzeug ein
und wein nicht: sie sind da.

1938

aus: Gesammelte Gedichte in 3 Bänden. Hrsg. v. Erwin Chvojka. Bd. 1. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997 und
2005

Es ist die traumatische Erfahrung für alle Opponenten und Dissidenten einer totalitären Macht.
Jederzeit können die Schergen der Despotie in die private Lebenswelt des einzelnen einbrechen
und ihre Akte der Willkür vollstrecken. Diesen Augenblick der Angst vor Verhaftung oder Ver-
schleppung, der die sich kumulierende Bedrohung abbildet, hat der große österreichische Re-
alist und plebejische Lyriker Theodor Kramer (1897-1958) hier festgehalten. Das Gedicht ent-
stand im Juni 1938, als der linke Sozialdemokrat Kramer nach dem »Anschluss« Österreichs
an das Deutsche Reich existenziell bedroht war.

Die volksliedhafte, formal konventionelle Dichtung Kramers hat die Literaturgeschichte oft
sehr despektierlich behandelt. Dabei hat Kramer in der Tradition der Chansonniers und Bän-
kelsänger die bewährten Muster des Redens und Reimens souverän durchgespielt. Sein politi-
sches Erweckungserlebnis im Jahr 1929, das ihn zum Realismus der Neuen Sachlichkeit führte,
beschrieb der Dichter so: »Ich hoffe sehr, dass ich unter anderem ein Asphaltdichter bin, ein
Kohlenrutschendichter, ein Stundenhoteldichter, ein Fress-und Saufdichter.«
Theodor Kramer
Wien, Fronleichnam 1939

Wenige waren es, die Stellung nahmen


unterm Himmel, um zur Stadt zu gehn;
als sie singend ihres Weges kamen,
blieben viele auf den Steigen stehn.

Schütter quoll der Weihrauch und die Reiser


längs der Straße standen schier erlaubt;
klagend sang der kleine Chor sich heiser
und das Volk entblößte still das Haupt.

Manche kannten nur vom Hörensagen


noch den Umgang; doch dem baren Haar
tat es wohl, dass selbst in diesen Tagen
irgendetwas manchen heilig war.

Und indessen sie dem Zug nachstarrten,


salzigen Auges, Mannsvolk, Weib und Kind,
schwenkten aus den Fenstern die Standarten
alle das verbogne Kreuz im Wind.
Theodor Kramer
Winterhafen

Moses Vogelhut, den semmelblassen,


des Hausierens in den Häfen matt,
führte einst sein Rundgang aus den Gassen
bis zum Winterhafen vor die Stadt.
Mit der Flut im Schein der Uferlampe
zog ein angepflockter Kahn am Seil;
Schiffer hockten auf der kalten Rampe,
Vogelhut bot Kram und Messer feil.
aaaMoses Vogelhut,
aaatu vom Haupt den Hut,
aaaspät am Strand zu schlendern tut nicht gut!
aaaDenn der Stromwind beizt Gesicht und Lunge
aaaund die Faust ist rascher als die Zunge,
aaaMoses Vogelhut, du alter Jud!

Moses Vogelhut, vorm Bauch den Kasten,


pflegte oft nun vor die Stadt zu gehn
und dem Löschen der verstauten Lasten
und dem Gang der Krane zuzusehn.
Auf die Schlepper trug er weite Hosen,
seine Börse dröhnte schlecht verwahrt;
auf der Rampe luden ihn Matrosen
ein zum Grog und zausten ihm den Bart.
aaaMoses Vogelhut,
aaawisch den Priem vom Hut,
aaaspät am Strand zu tänzeln tut ja gut!
aaaDenn der Stromwind beizt Gesicht und Lunge
aaaund die Faust ist rascher als die Zunge,
aaaMoses Vogelhut, du alter Jud!

Moses Vogelhut schritt durch die Kühle


mancher Nacht, allein mit Tau und Strand
bis das Schaufelrad der Ufermühle
morgens stockend ihn beim Kaftan fand.
Dünner Regen sprühte in den Rahen,
ausgeblutet lag er und verstummt;
die ihn nachts noch bei den Speichern sahen,
sagten aus, er hätte dort gesummt:
aaaMoses Vogelhut,
aaahalt vom Haupt den Hut,
aaaspät am Strand zu schlendern tut dir gut!
aaaDenn der Stromwind beizt Gesicht und Lunge
aaaund die Faust ist rascher als die Zunge,
aaaMoses Vogelhut, du alter Jud!
Theodor Kramer
Zur halben Nacht

Was bin ich plötzlich aufgewacht.


Die Luft ist schal und dick;
unsichtbar sitzt zur halben Nacht
ein Druck mir im Genick.
Ist niemand da, der trinken will
mit mir vorm Nahn des Lichts?
Ich trommle laut, ich trommle still
den schwarzen Marsch ins Nichts.

Der Mond steht kalt am Himmel, wie


gefallen aus der Zeit;
die Sträucher seufzen hohl wie nie
vor lauter Einsamkeit.
Ist niemand da, der schlafen will
mit mir vorm Nahn des Lichts?
Ich trommle laut, ich trommle still
den schwarzen Marsch ins Nichts.

Erschöpft hat sich, was du verlangst


von mir, o Welt; ich härm
im Schlaf mich sehr und ich hab Angst
und mach, allein, mir Lärm.
Ist niemand da, der mithörn will
die Stimme des Gerichts?
ich trommle laut, ich trommle still
den schwarzen Marsch ins Nichts.
Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Konstantin Kaiser:
Theodor Kramer (1897-1958)

Lebensphasen
In einem Dorf bin ich geboren ... - 1897 bis 1907
In einem Brief an Hilde Spiel schreibt Kramer (Guildford, 24.7. 1955):
"Vielleicht hab ich es leicht, weil schwer, gehabt. Auf dem Land geboren, aber Sohn des
jüdischen Arztes. Dann lebte ich in der Stadt. Ich gehörte nie ganz dazu und nicht nur sah ich
deshalb besser, sogar meine Empfindungen, ja meine Triebe waren heftiger. Und unbedingte
Ehrlichkeit wurde mit gepredigt."
Kramers Vater, der mit Hilfe eines Kredits sein Medizinstudium abgeschlossen hatte, musste
die nächste freiwerdende Stelle als Sprengelarzt annehmen. So wurde er, mehr oder weniger
zufällig, Landarzt im niederösterreichischen Dorf Niederhollabrunn, ca. 40 Kilometer
nordwestlich von Wien im Weinviertel gelegen. (vgl. Lebenschronik) Niederhollabrunn hatte
bei der Volkszählung von 1910 612 Einwohner. Max und Betty Kramer und ihre Söhne
Richard und Theodor waren die einzige jüdische Familie im Dorf. Die Söhne erhielten kaum
eine jüdisch-religiöse Erziehung.
Der Vater, ein Mann von robuster Körperkraft, war im Dorf hoch angesehen. Gegen
antisemitisches Gerede soll er sich mitunter brachial zur Wehr gesetzt haben. Dennoch waren
die Kramers im Dorf Außenseiter, die an für die Dorfgemeinschaft wesentlichen Festen und
Zeremonien nicht teilnahmen. In Theodor Kramers Werk findet sich kaum eine Hindeutung
auf Freundschaften mit den anderen Kindern des Dorfes.
Der Vater wird als amusisch beschrieben, die Mutter dürfte eine Verehrerin der klassischen
deutschen Dichtung, besonders aber Gotthold Ephraim Lessings und Heinrich Heines
gewesen sein. Theodor Kramers Gedichte sind zunächst an die Mutter adressiert. Sie ist es,
die seine ersten beiden Gedichte (1908) überhaupt aufschreibt, ihn zum Schreiben ermutigt
und offenbar stolz auf die poetische Veranlagung des Sohnes ist. Die Figur des Vaters kehrt in
vielen Gedichten wieder, die sich jedoch nicht an den Vater wenden, selbst wenn sie die
ländlichen Verhältnisse aus der Erfahrung eines in seinem Beruf erprobten Landarztes
schildern. Kramer hat auch späterhin die Sommerferien zumindest zum Teil bei den Eltern in
Niederhollabrunn verbracht. Für seine ausgedehnten Wanderungen (bis 1931) bevorzugte er
das ihm heimatliche Weinviertel.

Die Leopoldstadt, 1908 bis 1914


Theodor Kramer hatte zunächst Hausunterricht genossen, besuchte dann zwei Jahre die
Volksschule in Niederhollabrunn und ein Jahr das Realgymnasium in Stockerau. Von 1907
bis 1914 lebte er als Schüler der Realschule in der Vereinsgasse in wechselnden
Untermietquartieren in Wien-Leopoldstadt.

Wir lagen in Wolhynien im Morast ..., 1915 bis 1918

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

... wir irrten einher unter altem Gewicht, 1919 bis 1926
Über diese Lebensperiode Kramers liegen nur wenige Zeugnisse vor. Es hat den Anschein,
dass Kramer die Gedichte und Korrespondenzen aus dieser Zeit nicht aufgehoben oder sogar
bewusst vernichtet hat. Was ihn in diesen "dämmernden Jahren nach dem Krieg" bewegte,
erschließt sich nur aus seinem eigenen Rückblick, der einen scharfen Bruch in poetologischer
und weltanschaulicher Hinsicht um das Jahr 1926 vermuten lässt. In einem Brief an seinen
alten Freund Paul Elbogen schreibt Kramer (Guildford, 12. Februar 1949):
"In allen Ländern Europas hat man wieder mit dem Surrealismus usw. begonnen, also kann es
nicht nur eine Modeerscheinung sein, sondern muß tiefere Ursachen haben. Mir erscheint die
Bewegung noch mehr eine Sackgasse zu sein als nach dem ersten Weltkrieg. Hingegen bin
ich der Meinung, daß mit INNERLICHKEIT allein nichts getan ist, sondern daß auch die
äußeren Lebensbedingungen geändert werden müssen, obwohl das Pendel ja immer nach der
einen oder nach der anderen Seite weiter ausschwingt und es heute vielleicht an der Zeit ist,
Innerlichkeit zu betonen, aber wohlgemerkt nur den Planern gegenüber und nicht etwa der
Reaktion gegenüber, obwohl Sie dieses Wort sicherlich höchst ungern hören. Aber am 12.
Februar kann ich es wohl gebrauchen."
Die Weise, in der Kramer "äußere Lebensbedingungen" und "Innerlichkeit" einander
gegenüberstellt, deutet auf ein durchgehendes Denkmotiv Kramers. So beginnt auch eine
Besprechung von Rudolf Brunngrabers Roman "Karl und das 20. Jahrhundert" mit den
Worten:
"Von den beiden großen Romanthemen der Gegenwart, der Bestimmtheit des Individuums
durch sein Unterbewußtsein und der Abhängigkeit des Einzelschicksals vom
Wirtschaftsgeschehen, hat sich Rudold Brunngraber in seinem ersten Roman [...] mit
ungewöhnlicher Konsequenz an das letztere gemacht." (Rezension in: Vossische Zeitung,
23.4. 1933 [!])
Kramer bewundert nun zwar die Konsequenz und die Anschaulichkeit, mit denen
Brunngraber sein Unterfangen durchführt, doch wird darin auch einige Distanz spürbar. Die
"beiden großen Romanthemen", von denen Kramer spricht, sind in Wirklichkeit mehr
Ausdruck eines Dilemmas denn neue Gebiete der künstlerischen Gestaltung. Das Individuum
ist entweder wie in den psychologischen Romanen Stefan Zweigs durch ein ihm selbst
verborgen bleibendes Innenleben bestimmt, das nur als dunkler Drang bewusst wird, und
dessen Botschaft meist erst in der persönlichen Katastrophe erfahren wird, oder es ist
schicksalhaft den Gesetzen einer Ökonomie, auf die es von vornherein keinen Einfluss hat,
unterworfen. Das innere Leben des Individuums und sein äußeres Schicksal fallen schlechthin
auseinander. In beiden Fällen fehlt die Kategorie der Persönlichkeit, die Einholung und
Aufhebung der eigenen Voraussetzungen im tätigen Lebensprozess und die damit
einhergehende Versöhnung des Gegensatzes von Innen und Außen. Ob sich die Gestaltung
nun ausschließlich auf das Innenleben oder das äußere Leben konzentriert, die menschliche
Persönlichkeit kann in diesem Entweder-Oder keine Rolle spielen. Umgekehrt entspringt
solche Ausschließlichkeit nicht der Willkür literarischer Moden, sondern dem realen
Bedeutungsverlust der Persönlichkeitsentwicklung im Leben der Menschen jener Epoche, die
Kramer unbestimmt als 20. Jahrhundert bezeichnet.

Kramers 'klassische Periode', 1927 bis 1939 - Besonderheiten seines

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Exilschicksals
Theodor Kramers Gedichtzyklus "Wien 1938", entstanden in Wien in der Zeit von der
Okkupation Österreichs durch Hitlerdeutschland bis zu einem "mißglückten
Selbstmordversuch" im August 1938 und fortgesetzt in Wolverhampton, London und
Guildford in den Jahren 1942/43, legt ein an Eindringlichkeit schwer überbietbares Zeugnis
ab von dem "Zustand der Macht- und Rechtlosigkeit", von "dem an Entmenschung
grenzenden Zustand der Angst". Die Lyrik Theodor Kramers ist damit "das tönende Herz
vieler ihrer Stimme, ihres Einspruchs, ihrer Menschenwürde Beraubter, unsäglich Bedrohter
geworden". (Viertel 1989, 246)
"Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan", "Wer läutet draußen vor der Tür?", "Woher soll
das Brot für heute kommen [...]", "Wien, Fronleichnam 1939", "Ich bin froh, daß du schon tot
bist, Vater" - es sind Gedichte, hinter deren Prägungen der heute Schreibende nicht mehr
zurückgehen kann.
Wien, Fronleichnam 1939
Wenige waren es, die Stellung nahmen
unterm Himmel, um zur Stadt zu gehn;
als sie singend ihres Weges kamen,
blieben viele auf den Steigen stehn.
Schütter quoll der Weihrauch und die Reiser
längs der Straße standen schier erlaubt;
klagend sang der kleine Chor sich heiser
und das Volk entblößte still das Haupt.
Manche kannten nur vom Hörensagen
noch den Umgang; doch dem baren Haar
tat es wohl, daß selbst in diesen Tagen
irgendetwas manchen heilig war.
Und indessen sie dem Zug nachstarrten,
salzigen Auges, Mannsvolk, Weib und Kind,
schwenkten aus den Fenstern die Standarten
alle das verbogne Kreuz im Wind.
Dass der Zyklus "Wien 1938" zusammen mit dem 1943-45 in Guildford entstandenen Zyklus
"Die grünen Kader" 1946 in einem Band erschien, ist nicht Zufall, sondern ganz gewiss
kompositorische Absicht des Dichters gewesen. Die Kunde vom Leid ist mit der Botschaft

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

vom Widerstand durch das Motiv der Rache verbunden, der Erniedrigung folgt die Erhebung.
Andre, die das Land so sehr nicht liebten
Andre, die das Land so sehr nicht liebten,
warn von Anfang an gewillt zu gehn;
ihnen - manche sind schon fort - ist besser,
ich doch müßte mit dem eignen Messer
meine Wurzeln aus der Erde drehn.
Keine Nacht hab ich seither geschlafen,
und es ist mir mehr als weh zu Mut;
viele Wochen sind seither verstrichen,
alle Kraft ist längst aus mir gewichen
und ich fühl, daß ich daran verblut.
Und doch müßt ich mich von hinnen heben,
sei's auch nur zu bleiben, was ich war.
Nimmer kann ich, wo ich bin, gedeihen;
draußen braucht ich wahrlich nicht zu schreien,
denn mein leises Wort war immer wahr.
Seiner wär ich wie in alten Tagen
sicher; schluchzend wider mich gewandt,
hätt ich Tag und Nacht mich nur zu heißen,
mich samt meinen Wurzeln auszureißen
und zu setzen in ein andres Land.
Theodor Kramer hat offenbar gezögert, das zur Ostmark gewordene Österreich zu verlassen.
Doch für ihn, der nach den "Nürnberger Rassegesetzen" ohnehin als "Jude" galt (ungeachtet
einer "arischen", zum jüdischen Glauben übergetretenen Großmutter), bestand einige
Veranlassung, eine rasche Flucht aus dem Machtbereich Hitlers zu erwägen. Dass er mit
"sämtliche Schriften" in der "Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" der
Reichsschrifttumskammer, Stand vom 31.12. 1938 angeführt war, ist ein Detail am Rande.
Wichtiger scheinen verschiedene Schritte und Aktivitäten, durch die Theodor Kramer als
eindeutiger Gegner des Nationalsozialismus identifizierbar wurde.
Theodor Kramer hatte 1933/34 in Wien dem Vorstand der "Vereinigung sozialistischer
Schriftsteller" angehört, der sich nach dem 30. Jänner 1933 (Machtantritt Hitlers) auch aus

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Deutschland nach Österreich geflüchtete Schriftsteller/innen anschlossen wie Oskar Maria


Graf (der wie Theodor Kramer als Obmann-Stellvertreter fungierte) und Hermynia Zur
Mühlen. (vgl. Exenberger 1984, 27-31) Fritz L. Brassloff, der von 1931-36 Konzipient in der
Rechtsanwaltskanzlei des sozialdemokratischen Strafverteidigers Dr. Heinrich Steinitz (der
als Schriftführer fungierte) war, berichtet:
"Steinitz [...] spielte im Vorstand der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller und
Journalisten eine aktive Rolle. [Anmerkung: Was den Vereinsnamen betrifft, irrt sich
Brassloff. Der Zusatz "und Journalisten" kam erst hinzu, als die Vereinigung, mit
gewechseltem Personal, nach 1945 unter dem Vorsitz von Rudolf Brunngraber wieder ins
Leben gerufen wurde. Viele Mitglieder der Vereinigung wurden in deutschen
Konzentrationslagern ermordet: Heinrich Steinitz, Käthe Leichter, Else Feldmann, Adolf
Unger, Benedikt Fantner, Walter Lindenbaum, Thekla Merwin.] [...] Kramer war
Obmann-Stellvertreter des Vereines; das war wohl nur eine ehrende Geste; außerdem waren
nur wenige Mitglieder literarisch allgemein geschätzt. Die sehr loyale persönliche Sekretärin
von Dr. Steinitz besorgte auch die administrativen Agenden." (Brassloff 1985, 5)
In der Vereinigung fanden sich Autor/inn/en von beträchtlichem literarischen Ansehen mit
weniger bekannten "Arbeiterdichtern" zusammen, führten gemeinsame Diskussionen und
Lesungen durch. Einleitende Referate hielten Wieland Herzfelde, Emil Oprecht, Ernst
Fischer, Oskar Maria Graf. Die "Vereinigung sozialistischer Schriftsteller" stand in der kurzen
Zeit ihres Bestehens (bis zu ihrer behördlichen Zwangsauflösung nach dem Februar 1934) im
Zusammenhang mit den vielen Bemühungen in jener Zeit, um die in Deutschland
ausgebrochene "Walpurgisnacht" einen geistigen Cordon sanitaire zu ziehen. Johann
Muschik, der den Zweiten Weltkrieg in Wien überlebte und dem Kramer vor seiner Ausreise
nach Großbritannien einen großen Teil seiner Manuskripte und Korrespondenzen zur
Aufbewahrung übergeben hat, berichet:
"In den Jahren 1933/1934 war Kramer, der früher kaum je eine politische Zeile geschrieben
hatte, zum politischen Dichter geworden. Da man um seine Gesinnung wußte, wurde er kaum
mehr gedruckt. In Privatwohnungen aber fanden nunmehr Vorlesungen statt. Kramer, der sein
bester Interpret war, trug selbst vor. Er bot ein großartiges Bild, wenn er hinter dem
Vorlesetisch saß: seine mächtige Erscheinung, sein bleiches Antlitz mit dem dunklen Haar. Er
trug Bartkoteletten, und es gab Leute, die fanden, er sähe wie Franz Schubert aus. In kleinen
Schlucken trank der Dichter gerne roten Sooßer Wein. Einmal las er auch in meinem
damaligen Untermietzimmer." (Muschik 1970, 9)
Theodor Kramer war Mitglied des in Berlin ansässigen "Kartells lyrischer Autoren" gewesen,
das dem "Schutzverband deutscher Schriftsteller" (SDS) eingegliedert war. Als der SDS am
10. März 1933 vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda
"gleichgeschaltet" wurde (vgl. Martens 1975, 159), legte Theodor Kramer am 12. März
"freiwillig unter Protest meine Mitgliedschaft beim Kartell lyrischer Autoren, Berlin, zurück."
(Brief vom 24.02. 1938 an Richard A. Bermann in Wien, zit. nach Berthold, Eckert, Wende
1993)
Er blieb Mitglied des österreichischen SDS, der sich infolge der Ereignisse von der deutschen
Mutterorganisation abgespalten hatte. Und als am 22. April 1933 in der ebenfalls bereits
gleichgeschalteten "Literarischen Welt", Berlin, Theodor Kramers Gedicht "Maifeuer"
erschien - in Gesellschaft anderer Beiträge österreichischer Schriftsteller, die als
Begrüßungsadressen an das NS-Regime zusammenmontiert waren?, veröffentlichte Theodor

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Kramer am 6. Mai in der "Arbeiter-Zeitung" (Wien) eine Protesterklärung gegen diesen


Missbrauch seines Gedichts und erklärte, dass er alle seine Arbeiten aus Deutschland
zurückziehe.
In den Augen der Nationalsozialisten noch belastender als diese frühen und unverblümten
Distanzierungen müssen Theodor Kramers Kontakte zum Wiener Vizebürgermeister Ernst
Karl Winter und dessen Kreis angesehen werden. In Winters Gsur-Verlag erschien 1936
Theodor Kramers umfangreichster Gedichtband "Mit der Ziehharmonika". Die Autoren dieses
Verlages konnten besonderer Aufmerksamkeit durch die Gestapo sicher sein - 1935 hatte der
"Ständestaat" dem Verlag die weitere Verbreitung von Hermynia Zur Mühlens Roman
"Unsere Töchter, die Nazinen" untersagt. Vorangegangen war eine Intervention des deutschen
Gesandten in Wien, Franz von Papen. Der Verleger, E. K. Winter, war einer der
prominentesten und bekanntesten Gegner des Nationalsozialismus in Österreich. Die
Veröffentlichung eines Gedichtbandes Theodor Kramers in seinem Verlag steht politisch im
Zusammenhang mit Winters Bemühungen, die durch den Bürgerkrieg vom Februar 1934
Entzweiten zu versöhnen, um eine gemeinsame Abwehrfront gegen den drohenden
Nationalsozialismus zu bilden. Ohne Zweifel war sich Theodor Kramer der politischen
Stellung und Intention Winters vollkommen bewusst. Krames Gedicht "Nach neunzehn
Jahren" (entstanden 1937) belegt es. (vgl. Exkurs: Gespräch mit Kurt Blaukopf)
"Wie durch ein Wunder", schreibt Kurt Blaukopf über Theodor Kramer am 30. November
1938 aus Suresnes (Seine) an die "American Guild for German Cultural Freedom", ist er bis
jetzt der Verhaftung entgangen", jedoch:
"Nach den jüngsten Ereignissen wird seine Lage in Wien unhaltbar. Seine jüdischen Freunde
sind teils verarmt, teils ausgewandert, von allen anderen Leuten ist er unter den
gegenwärtigen Bedingungen fast abgeschnitten. Seine Gesundheit ist durch zwei
Übersiedlungen und üble Behandlung in einer SA-Kaserne stark mitgenommen. [...]
Schweizer Freunde haben sich nun entschlossen, ihn in den nächsten Tagen in die Schweiz zu
bringen. Es hängt nur noch von seinem Gesundheitszustand ab, ob er den vorbereiteten Weg
wirklich beschreiten kann." (zit. nach Berthold, Eckert, Wende 1993, 341)
Blaukopf bittet, Theodor Kramer im Schweizer Exil zu unterstützen, aber die Flucht in die
Schweiz kommt nicht zustande. Am 4. Oktober 1938 hatte der Schweizer Bundesrat der
Vereinbarung mit Deutschland über die Einführung des "Juden-Stempels" zugestimmt und
eine Visumspflicht für jüdische deutsche Staatsangehörige erlassen. Es ist möglich, dass
Blaukopf bei der Abfassung seines Briefes diese neu eingetretenen Umstände noch nicht
bekannt gewesen sind.
Theodor Kramer gab aber noch nicht auf. Am 7. Jänner 1939 ersuchte er das
Polizeidepartement in St. Gallen um einen "Grenzübertrittsschein"; er wolle am 16.1. um
10.45 Uhr in Buchs (der schweizerischen Grenzstation) ankommen. Das Ersuchen wurde
abgewiesen mit der handschriftlichen Bemerkung: "Die Grenze ist seit Samstag für
Emigranten jeder Art vollständig gesperrt." (vgl. Chvojka 1984, 57-80)
Über die Schweiz können Sie sich auch in unserem Vorlesungsüberblick "Exilland Schweiz"
informieren.
Zufällig hatte Heinrich Rothmund, der Leiter der Eidgenössischen Fremdenpolizei, der die
Absperrung der Schweiz gegen unerwünschte Flüchtlinge mit Nachdruck betrieb, gerade am

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

6./7. Jänner 1939 die St. Gallener Behörden erneut unter Druck gesetzt, die Fluchtbewegung
aus Österreich zu unterbinden. (vgl. Keller 1993, 235 f.) Möglicherweise hatten Kramer und
seine Schweizer Freunde auf die Hilfe des St. Galler Polizeihauptmanns Paul Grüninger
gesetzt, der Flüchtlinge unter Umgehung der in der Schweiz geltenden Bestimmungen ins
Land ließ. Die Stellung Grüningers war aber in der Zeit, in der Theodor Kramer in die
Schweiz einreisen wollte, bereits sehr prekär geworden. Am 31.3. 1939 wurde er vom Dienst
suspendiert.
Theodor Kramer unternahm parallel dazu eine ganze Reihe anderer Versuche, das rettende
Visum für ein Exilland zu erlangen. So beantragten er und Inge Kramer-Halberstam Visa für
die USA, wo vor allem Inge Halberstam etliche Verwandte hatte. Allein an dieser letztlich
erfolglosen Visumsangelegenheit sind eine Vielzahl von Personen beteiligt, und der
Schriftwechsel, akribisch zusammengetragen, würde gewiss mehrere Aktenordner füllen.
Am 6. Februar 1939 verließ Inge Halberstam Wien mit einem britischen Dienstboten-Permit.
Eine Mrs. Josephine Willcock in Albrighton bei Wolverhampton war bereit, sie als
Hausgehilfin zu beschäftigen und unterzubringen. Inge Halberstam bemühte sich, in
Großbritannien angekommen, nun auch für Theodor Kramer ein Dienstboten-Permit zu
erwirken. Ihre Dienstgeberin wollte helfen. Doch am 23. März musste Theodor Kramer Ernst
Waldinger (der in die USA emigriert war) melden, "daß sein vom [britischen] Home Office
bewilligtes Permit vom britischen Konsulat in Wien ebenfalls abgelehnt worden sei, da er für
den vorgesehenen Posten nicht geeignet erscheine."
Wieder parallel dazu bemühte sich Theodor Kramer um eine Ausreise in die Republica
Dominicana und schrieb am 9.5. 1939 an Ernst Waldinger um Empfehlungen. Es ginge um
eine Stellung als Bibliothekar an der Universität von Ciudad de Trujillo (Santo Domingo).
Der Vermittler dieser Möglichkeit war ein Cousin Kramers, der Chemiker Dr. Paul Bleier.
Theodor Kramer sagt von sich: "Ich bin elend krank, arbeite 16 Stunden täglich, bin moralisch
völlig ungebrochen, ganz allein." (Brief an E. Waldinger, Wien, 9.5. 1939, zit. nach: Berthold,
Eckert, Wende 1993, 343 f.)
Theodor Kramer bereitete seine Emigration auch anderwärtig vor; darauf, dass er viele seiner
Manuskripte verschiedenen Freunden zur Aufbewahrung übergab, wurde im Zusammenhang
mit Johann Muschik bereits hingewiesen. Rose Spranger berichtet:
"Kramer hat mir einen größeren Betrag auf gut Glück vor meiner Ausreise in die Schweiz
gegeben, den ich ihm in der unsicheren Zukunft! zurückgeben sollte. Und so geschah es.
Nach '46 oder '47 hat er es (auf seinen Wunsch) in Raten zurückbekommen. Er muß Gründe
dazu gehabt haben. Damals (in New York) waren wir bereits in der Lage, den ganzen Betrag
zu retournieren [...]
Da ich sein Geld nicht aus Wien mitnehmen konnte (durfte!), aus Angst, erwischt zu werden,
habe ich es für Kleidereinkäufe verwendet." (Rose Spranger, Brief an die Zeitschrift "Mit der
Ziehharmonika", Nr.1/1990, 12)
Irm Sulzbacher zufolge hat Kramer bereits 1941 monatliche Überweisungen von "jener
Geldsumme" erhalten, "die er ... vor seiner Emigration der Familie Prof. Spranger ins Ausland
mitgegeben hat." (vgl. Sulzbacher 1984, 52 f.) Als entscheidender Strang in dem Gewirr von
Bemühungen, ein Visum für Theodor Kramer zu beschaffen, muss der von Theodor Kramer
schon seit 1936 über Peter de Mendelssohn, Thomas Mann und Richard A. Bermann

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

angebahnte Kontakt zur "American Guild for German Cultural Freedom" vermutet werden,
wobei besonders Ernst Waldinger durch Vorsprachen bei Thomas Mann und bei der
"American Guild" in New York um den in Wien verbliebenen Freund bemüht war. Die
"American Guild" verschaffte Theodor Kramer zunächst ein amerikanisches Affidavit. Dieses
wurde jedoch vom US-Konsulat in Wien in der vorgelegten Form nicht anerkannt. (vgl.
Berthold, Eckert, Wende 1993, 341) Das Problem bestand bald nicht mehr darin, Theodor
Kramer die Einreise in ein Land seiner Wahl, sondern darin, ihm die Einreise in irgendein
Land und damit die Ausreise aus dem Deutschen Reich zu ermöglichen. So schrieb also am
27.4. 1939 Thomas Mann aus Princeton an das British Home Office und setzte sich für eine
Einreise Theodor Kramers ein.
Es ist nicht geklärt, ob dies in Abstimmung mit der "American Guild" geschah, was aufgrund
der engen Zusammenarbeit der "American Guild" mit Mann wahrscheinlich ist, oder nur
aufgrund einer persönlichen Intervention Ernst Waldingers.
Und am 31.5. 1939 schrieb das englische P.E.N-Zentrum an das Home Office, dass es für die
Zeit des Aufenthalts Theodor Kramers in Großbritannien eine Unterstützung aus dem "P.E.N.
Refugees Writers Fund" garantiere. (Diese Unterstützung betrug gewöhnlich 3 Pfund die
Woche.) Schon Anfang Mai hatte das "Scholarship Committee der American Guild" ein
dreimonatiges Stipendium (monatlich 50 Dollar) für Theodor Kramer beschlossen, das an
Inge Kramer-Halberstam in Großbritannien angewiesen wurde. (vgl. Berthold, Eckert, Wende
1993, 341) Am 2.5. 1939 hatte Arnold Zweig zu diesem Behufe für die "American Guild" ein
Gutachten über Theodor Kramer skizziert:
"Der Lyriker Theodor Kramer schien mir schon vor der Zerstörung des deutschen
literarischen Lebens durch den Einbruch der Hitlerei eine der lebendigsten und wertvollsten
Stimmen, die sich im Vers äußern. Seither hat er Gedichte veröffentlicht, die nach Einbruch
eines neuen Zeitalters in einer Lyrik-Anthologie das Gesicht unserer Jahre würdig
widerspiegeln werden." (zit. nach Berthold, Eckert, Wende 1993, 343)
Am 20. Juli 1939 konnte Theodor Kramer das Deutsche Reich endlich verlassen und kam am
nächsten Tag in Dover an. Am gleichen Tag schrieb die "American Guild" an das
US-Generalkonsulat in London:
"Mr. Kramer has come to England under the auspices of our organization; a scholarship has
been awarded to him in recognition of his literary merits." (zit. nach Chvojka 1984, 238)
Der Aufenthalt in Großbritannien galt den Beteiligten als Zwischenlösung. Am 31.7. 1939
schrieb Theodor Kramer aus London an die "American Guild", er strebe nun eine
Weiteremigration in die USA an. Seine Frau "ist noch etwa 14 Tage in Aushilfsstellung in
Wendover". (zit. nach Berthold, Eckert, Wende 1993, 345) In den USA hatten etliche Freunde
und Verwandte Kramers, so Rose und Otto Spranger, Ernst Waldinger, Paul Elbogen, sein
Bruder Richard, Asyl gefunden. Außerdem hatte Inge Halberstam ja Verwandte in den USA,
nicht aber in Großbritannien. Fritz L. Brassloff berichtet:
"Ich war bereits im März 1938 aus guten Gründen in die Schweiz gekommen oder richtiger
entkommen. Ich wanderte im August 1939 nach England weiter. Am Tag nach meiner
Ankunft in London begab ich mich pflichtgemäß ins Büro des jüdischen Flüchtlingskomitees
zur Registrierung. Im Warteraum war auch Theodor Kramer, der sich mir vorstellte, den ich
aber bereits von der Vorlesung im Volksheim [Anmerkung: Brassloff hatte, wie er an anderer

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Stelle berichtet, vor 1934 eine Lesung TKs im Volksheim Ottakring besucht] kannte. Ich
glaube nicht, daß ich davon überrascht war, daß er zumindest "rassisch" Jude war. Vorher
hatte mich seine Abkunft gleich jene vieler anderer nicht beschäftigt oder interessiert. Jetzt
war es sozusagen normal geworden, daß sich herausstellte, daß Leute, die bisher gar nicht als
Juden galten, zu der verfemt gewordenen Gruppe gehörten."
"Kramer sagte mir mit einem gewissen Stolz, Eleanor und Herbert Farjeon [Anmerkung:
Eleanor Farjeon (1881 - 1965), berühmt vor allem als Kinderbuchautorin, Verfasserin von
über 100 Büchern und Theaterstücken. Einige Werke: "Jim at the Corner and Other Stories"
(1934), "The Children's Bells" (Gedichte, 1934; auch unter dem Titel: "Eleanor Farjeon's
Poems for Children", 1951), "The Little Bookroom" (Geschichten für Kinder, 1955)], zwei
damals angesehene englische Schriftsteller, hätten ihm als Garanten die Einreise ermöglicht,
die unter den Auspizien des PEN-Klubs stattfand." (Brassloff 1985, 5)
Eleanor Farjeon hat, so Erwin Chvojka, "nichts zur Ermöglichung der Einreise Kramers in
England beigetragen. Sie konnte dies gar nicht tun [...] Sie hat dann später wirkungsvoll in
Kramers Leben eingegriffen, indem sie die treibende Kraft hinter den schließlich
erfolgreichen Bemühungen, Kramer ab 1.1. 1943 eine Stelle als Bibliothekar in Guildford zu
beschaffen, war." (Brief an Konstantin Kaiser, Wien, 11.3. 1995)
Kramer blieb zunächst in London, lebte von dem Stipendium der "American Guild" und der
Unterstützung des englischen P.E.N.-Clubs und betrieb seine Weiteremigration in die USA.
Am 17. Oktober 1939 berichtete Theodor Kramer aus Wimborne (Dorset) Volkmar von
Zühlsdorff (von der American Guild):
"Ich selbst hatte in London eine Vorlesung und schrieb eine Anzahl einschlägiger Gedichte.
Knapp vor Kriegsausbruch erhielten meine Frau und ich eine Einladung und lernten eine
schöne englische Landschaft kennen. Nach drei Wochen mußten wir fort ... und sitzen nun in
einem kleinen Landstädtchen fest.
Meiner Einreise nach U.S.A. stellen sich Schwierigkeiten entgegen. [...] Alle literarischen
Dinge, die ich in Frankreich anbahnte, stocken nun. In England sind wir an unser Permit
gebunden, das uns nur Arbeit im Haushalt gestattet; dieser Arbeitsmarkt hat sich hier ganz
wesentlich verschlechtert. Wir hatten hier nur ganz vorübergehend Arbeit; ich selbst hatte
steinigen Grund zu roden. [...] Wir dürfen uns nur im Umkreis von fünf Meilen bewegen ..."
(zit. nach Berthold, Eckert, Wende 1993, 345)
Theodor Kramer bat zugleich um eine "weitere Hilfe" der "American Guild", welche aber
nicht möglich war. Möglicherweise verkehrte Theodor Kramer schon bald nach seiner
Ankunft in dem am 17. März 1939 eröffneten Austrian Centre, mit dem auch Theodor
Kramers alter Freund Joseph Kalmer (vor allem als Mitarbeiter der Zeitschrift "Zeitspiegel")
verbunden war. In der Zeit vor der Internierung könnte auch ein erstes Zusammentreffen mit
Erich Fried stattgefunden haben. Erich Fried berichtet:
Über das "Austrian Centre" können Sie sich in unserer gleichnamigen Überblicksvorlesung
informieren.
"Der Kalmer ist auf mich aufmerksam geworden wegen meiner Gedichte, und er hat auch den
Kramer gekannt. Und ich hab den Kramer durch meinen Deutschlehrer, den Otto Spranger,
kennengelernt, der gesagt hat, ich muß den unbedingt kennenlernen und mich unter

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Umständen ein bißchen um ihn kümmern." (Kaiser 1990, 81)


In den zugänglichen Dokumenten und in der vorhandenen Sekundärliteratur klafft für die Zeit
von Oktober 1939 bis Mai 1940 eine Lücke. Feststeht, dass Kramer vermutlich am 16. Mai
1940 als "enemy alien" der Kategorie B interniert worden ist und zunächst ins Lager Huyton
bei Liverpool kam. Ein Leidensgenosse Theodor Kramers, Gerhard Zadek, der sich allerdings
an eine persönliche Bekanntschaft mit Kramer nicht erinnern kann, berichtet:
"'Huyton' war eine Vorortsiedlung der großen Hafenstadt Liverpool an der Westküste
Englands in der Grafschaft Lancashire. Man hatte dort einen ganzen Ortsteil neu erbauter ein-
bis zweistöckiger Siedlungshäuser mit einem soliden Stacheldrahtzaun umgeben. Das ganze
sah aus wie eine gerade verlassene Baustelle."
Der Lagerkommandant, ein Colonel, verlangte, dass die Internierten in Reih und Glied und
mit einem deutschen Lied ins Lager einzögen. Unter den Internierten war auch der deutsche
kommunistische Dichter Kuba (mit dem Theodor Kramer, wie aus anderen Zusammenhängen
vermutet werden darf, damals Bekanntschaft schloss).
"In den uns zugewiesenen Quartieren befand sich absolut nichts, als nur der blanke, sauber
gestrichene Fußboden. Am Abend gab es pro Person einen leeren Jutesack. Genug Stroh lag
jetzt vor den Häusern auf der Straße, zur Komplettierung der 'Wohnung'. Wir hatten Glück, in
unserem Haus gab es wenigstens Wasser, bei anderen noch nicht. [...] Die Zusammensetzung
in Huyton mit seinen 4000 Insassen aus Deutschland und Österreich war viel bunter als in
anderen Lagern. An Berufen war hier alles vertreten, Arbeiter, Ingenieure, Wissenschaftler
und Studenten, Ärzte und Krankenpfleger, Köche, Friseure, Matrosen und Geistesschaffende,
Künstler, Schriftsteller, Journalisten. Auch hier bildeten die aus rassistischen Gründen
verfolgten jüdischen Internierten den Löwenanteil. [...] Das traf aber nicht auf alle Internierten
zu. Im Lager befanden sich auch sogenannte Auslandsdeutsche ... Auch SS-Leute gab es im
Lager. [...] Eine Minderheit im Lager bildeten die linken politischen Emigranten. Ihre
Einreise nach England war jahrelang erschwert oder überhaupt unmöglich gemacht worden.
[...] Der Anteil der Jugendlichen war erheblich ... [...] Geleitet wurde das Jugendkomitee von
Stefan Kaufmann, einem jungen Österreicher mit großem Einfühlungsvermögen und
diplomatischem Geschick."
Kaufmann, wie der Briefwechsel Theodor Kramers mit Gretl Oplatek erhellt, war ein
gemeinsamer Bekannter Kramers und Zadeks aus dem Internment Camp. - Das
Jugendkomitee organisierte Bildungsveranstaltungen und Theateraufführungen, so eine von
Louis Fürnbergs "Böhmischer Passion" im September 1940, ein Stück über den "Verrat" von
München.
Von deutschen Luftangriffen blieb das Lager verschont, jedoch:
"Wenige Kilometer von unserem Lager weg brannte, splitterte es, schlugen die Flammen
lichterloh in den schwarzen Nachthimmel. Von der Dachluke unseres Hauses bot sich ein Bild
des Grauens. Gezielt zwar auf den Hafen, zerfetzten die Bomben ganze Wohnviertel."
Wenige Wochen später, für Gerhard Zadek war es der 9. Oktober 1940, wurden die meisten
Lagerinsassen über die Irische See auf die Isle of Man überführt. Man darf annehmen, dass
auch Theodor Kramer im Oktober auf die Isle of Man kam und wie die anderen Internierten
wusste, was am 2. Juli 1940 mit dem ohne jeden militärischen Geleitschutz von Liverpool

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

nach Kanada in See gestochenen Passagierschiff "Arandora Star" geschehen war. Aufgrund
dieser Vorgeschichte war die Unruhe über die Verlegung auf die Isle of Man im Lager
Huyton beträchtlich. Sie spiegelt sich in den Lagergedichten Theodor Kramers wider. Im
Jänner 1941 wurde er aus der Internierung entlassen. Inzwischen scheint ein Koffer Theodor
Kramers mit Materialien beim Bombardement Londons durch die deutsche Luftwaffe
verloren gegangen zu sein. (vgl. Brief an Michael Guttenbrunner, Guildford, 24.6. 1954) Fritz
L. Brasloff berichtet:
"Das nächste Treffen mit Kramer und die erste Begegnung mit Inge Kramer fand 1941 in
Birmingham statt. Ich arbeitete dort als Büroangestellter. Gemeinsam mit einigen anderen
Mitgliedern der Austrian Labour Club-Gruppe fungierte ich als 'Stützpunkt Birmingham' des
'London Bureau of Austrian Socialists in Great Britain' und des Club. [...] Zahlenmäßig waren
wir eine kleine, bewußt exklusive Gruppe, bestehend aus Menschen, die entweder in der
Sozialdemokratischen Partei oder bei den Revolutionären Sozialisten oder in der
Gewerkschaftsbewegung aktiv gewesen waren. [...] Etwa zehn oder zwölf in Birmingham und
Umgebung lebende, zum Austrian Labour Club gehörende Emigranten kamen aber doch
einige Jahre mehr oder weniger regelmäßig gesellschaftlich zu Sonntagsjausen bei mir
zusammen. [...] Wir sprachen über aktuelle Themen und auch über Zukunftsprojekte, meine
erste Frau 'lieferte' großzügig immer neue Ladungen belegter Brote zum Kaffee. Das Ehepaar
Kramer gehörte zu dem Kreis. Es lebte damals in der nahegelegenen Industriestadt
Wollverhampton. Kramer hatte keine Arbeit und wurde daher - was nicht ungewöhnlich war -
von seiner Frau erhalten. Sie hatte verhältnismäßig schnell Kontakt zu Engländern gefunden,
sie gehörte der Wolverhamptoner Sektion der 'International Friendship League' an.
An den politischen Unterhaltungen beteiligte sich Kramer kaum; er konzentrierte sich auf die
Brote mit sichtlichem, ja kindlichem Vergnügen." (Brassloff 1985, 5)
Es fällt auf, dass Brassloff, der sich Theodor Kramer gegenüber immer sehr freundschaftlich
und hilfreich verhalten hat, sich in der Berichterstattung über Kramer zu einer gewissen
Herablassung verpflichtet fühlt. Im Hintergrund steht vielleicht die sozialdemokratische
Sprachregelung, Kramer habe sich dem mit den Sozialdemokraten im Clinch liegenden
Austrian Centre zugewandt um einer Nestwärme willen, die die Sozialdemokraten nicht
bieten konnten, und weil man sich dort auch für seine Gedichte interessierte, also mehr aus
einer persönlichen Schwäche heraus als aus politischen Gründen. Diese Sprachregelung
erklärt bis zum heutigen Tag das, was das Problem der führenden Sozialdemokraten war
(nämlich ihre persönliche Kälte und ihr literarisches Desinteresse) zu einem Problem
Kramers.
Eigenartig am Bericht Brassloffs ist, dass er mit keinem Wort die vorangegangene
Internierung Kramers erwähnt, die sich gewissermaßen vor seinen Augen abgespielt haben
muss. Obwohl auch prominente Sozialisten wie der Philosoph Otto Neurath und der Journalist
Alfred Magaziner von der Internierung betroffen waren, scheinen die führenden
österreichischen Sozialisten in Großbritannien, durch ihre Kontakte zur Labour Party und
offiziellen Stellen selbst vor der Internierung geschützt, von dem Problem der Internierungen
wenig betroffen gewesen zu sein, wie sie überhaupt den Problemen der Massenemigration nur
wenig Aufmerksamkeit schenkten. Dies dürfte für die Isolation der Sozialisten im britischen
Exil entscheidend gewesen sein. Statt sich auf die in den Lagern geknüpften Kontakte stützen
zu können, hatten sie sich vielmehr mit einem zumindest stummen Vorwurf der Internierten
und ihrer Angehörigen auseinander zu setzen. So scheint es, dass sich für Theodor Kramers

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Entlassung aus der Internierung eher noch die das Austrian Centre tragende Association of
Austrians eingesetzt hat als seine sozialdemokratischen Parteigenossen. (vgl. Lafitte 1988, 80)
In Francois Lafittes "The Internment of Aliens. New edition with an introduction by the
author" wird in dem Kapitel "Who was Interned, and How it was Done" auf Seite 80 Kramer
als "lyrical poet of outstanding quality" angeführt; der Gewährsmann oder vielmehr die
Gewährsfrau für die Angaben in diesem Kapitel ist aber Eva Kolmer, gewissermaßen die
Generalsekretärin des kommunistisch beeinflussten Austrian Centre.
Die Lage, in der sich Theodor Kramer nach der Internierung in Wolverhampton befand,
scheint wenig beneidenswert. Er ist arbeitslos, unterliegt der Meldepflicht und der
Ausgangssperre und darf nur mit polizeilicher Genehmigung nach London reisen. Bei einem
Verstoß gegen die ihm auferlegten Beschränkungen drohte die neuerliche Internierung. Als
Kramer zu dem am 11. September 1941 in London stattfindenden P.E.N.-Kongress
eingeladen wurde, ergriff er die Gelegenheit, in London zu bleiben. Joseph Kalmer
unterstützte ihn, indem er ihm "parttime work" verschaffte. (vgl. Brief an Gretl Oplatek,
Wolverhampton, 26.10. 1942)
In dieser Zeit muss sich der intensivste Kontakt zu jungen österreichischen Exilierten
entwickelt haben. Einer von ihnen, der Journalist und Schriftsteller Arthur West, meint,
Theodor Kramer habe damals fast alle jungen Lyriker beeinflusst, ohne sich um ihre
Produktion zu kümmern. Oft sei Theodor Kramer bei ihnen, bei West und seiner Frau Edith,
eingeladen gewesen. Dass er 1941-43 wiederholt den Lieblingsgedanken geäußert habe, einen
Gedichtband über "Suff und Fraß, Schlaf und Beischlaf" zu schreiben, hätte befremdet.
Absonderlichkeiten seien ihm jedoch wegen seiner Leistungen verziehen worden - Theodor
Kramer stand für einen, der Österreich "gefunden" hatte: "Er war schon das, was wir sein
wollten." Für das Gros der jungen jüdischen Emigranten aus Wien habe Österreich außerhalb
Wiens nur als Sommerfrische existiert, Theodor Kramer "war erste Berührung mit Landluft",
"war fast eine Umkehrung von Blut und Boden". Bei Theodor Kramer wirke selbst in den
"weinerlichen Gedichten" ein "Stückchen Kraft", er habe ein Österreich gezeigt, auf das man
noch Vertrauen habe können. Kramer strahlte für West, könnte man sagen, die Robustheit
eines unzerstörbaren "Unten" aus. Man habe, in der Emigration, eine Assimilation an
Österreich gesucht; und die meisten seien erstmals auf die Tatsache gestoßen, dass es nicht
nur Bildungsbürgertum in Österreich gebe. "Sie kannten nur das Kaffeehaus, nicht das
Wirtshaus." Auch er selbst, Arthur West, habe Gedichte in der Art Kramers geschrieben und
publiziert. (vgl. Gespräch Konstantin Kaisers mit Arthur West in dessen Wohnung, Wien, 1.7.
1983)
Auch einige frühe Gedichte Erich Frieds sind in der Manier Theodor Kramers geschrieben.
Charakteristisch für die Rezeption der Lyrik Kramers durch andere österreichische Exilierte
sind auch Hilde Spiels - freilich viel später geprägte - Worte über Theodor Kramer:
"Theodor Kramer, mein Freund und Gefährte im Exil, war einer der letzten wahren
Volksdichter. Wenn etwas den dummen deutschen Mythos von der 'artreinen' Bindung an
'Blut und Boden' widerlegt, dann sind es seine wunderbaren Schilderungen der Natur, der
Landschaft, der Bauern und Häusler, der Glasbläser und Winzer, der Lehrer und Schreiber,
der Schnapsbrenner und Budenwirte, der Soldaten und der einfachen Leute allenthalben und
überall. [...] Der Sohn des jüdischen Dorfarztes fühlte sich schon in Wien nicht ganz daheim,
in England wahrhaft verbannt und ausgesetzt. Wenn er, einer der größten deutschen Lyriker,

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

in der Fremde schrieb 'Ich preise die Scholle, die einst mich gebar', dann hatte er mehr Recht
auf diese Scholle als jeder, der auf ihr verblieben und dem dummen deutschen Mythos
erlegen war." (Spiel 1983, 130)
Die am 15.12. 1941 und am 14.1. 1942 entstandenen Gedichte "Der Austrian Youth" und
"Austrian Centre" (vgl. Chvojka 1987, Bd. III, 544 f.) sprechen eine klare Sprache. An die
Austrian Youth (die Jugendorganisation des Austrian Centre) gewandt, schrieb Kramer:
"Näher fühl ich euch mich als den andern,
wend ich manchmal ein auch dies und das,
kann ich auch nicht heben mehr und wandern,
brauch ich auch von Zeit zu Zeit ein Glas."
Der Kontakt zum Austrian Labour Club brach dennoch nie ganz ab. Fritz L. Brassloff
berichtet:
"Wann das Ehepaar Kramer aus Wolverhampton nach London zog [Anmerkung: Hier irrt
Brasloff. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß "das Ehepaar Kramer nach London zog".
Kramer hielt sich ohne seine Frau in London auf], ist mir nicht erinnerlich, aber ich traf
Kramer wiederholt, wenn ich zu Tagungen des Austrian Labour Club nach London kam. Er
gehörte nicht zu den "auserwählten" Teilnehmern und stand im Vorraum herum, offenbar
wartend, um Bekannte zu treffen. Wir beide gingen regelmäßig in ein nahegelegenes Café zu
einem Plausch. [...] Er empfand es schmerzlich, daß "die Genossen" sich zu ihm so
gleichgültig benahmen. Wie er mir wiederholt sagte, werde er hingegen von den viel
freundlicheren Angehörigen der "Konkurrenz", dem Austrian Centre, häufig zu Kaffee und
Kuchen eingeladen."
Die Gründe dieser Gleichgültigkeit, von der schon die Rede war, sieht Brassloff - abgesehen
von der Konzentration der Sozialisten auf die 'reine Politik' - u. a. darin:
"[...] daß es in diesen Kreisen bekannt war, daß er in der Periode des Christlichen
Ständestaates in zu diesem Regime gehörigen Publikationen veröffentlicht hatte.
[Anmerkung: Dieser Vorwurf müßte wohl dahin ermäßigt werden, daß Kramer zwar in
Österreich publiziert hat, nie aber in den Zeitschriften und Zeitungen, die als Organe der
Regierung oder der Vaterländischen Front angesehen werden müssen.] [...] sein literarisches
Werk und seine Eigenart wurde in diesen Kreisen nicht geschätzt."
Nun folgt in Brassloffs Bericht eine kleine Verwirrung des Zeitablaufs, indem er ein Ereignis,
das ins Jahr 1943 fällt, zur Erklärung von Haltungen heranzieht, die er wahrscheinlich schon
1941 und 1942 beobachtet hat:
"Dazu kam ferner, daß er auch in der Emigration unter den Auspizien des Austrian PEN den
Band 'Verbannt aus Österreich' publizierte. Hinter dem PEN standen wohl damals den
Kommunisten nahestehende Sympathisanten; ich vermute, daß er, abgesehen vom Namen,
nicht wirklich bedeutend war. Die PEN-Publikation war in der Sicht orthodoxer
Parteisozialisten ein anderer Schlechtpunkt." (Brassloff 1985, 6)
Brasloffs Darstellung des Austrian PEN ist nicht korrekt.

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Ähnliches berichtet Hilde Spiel von Theodor Kramer:


"Jener Londoner Hüter der Sozialdemokratischen Partei indes, der Kramer sich in Wien
verschrieben hatte, Oscar Pollak, wollte ihm nicht erlauben, sein Werk in dem weiter links
gerichteteten Austrian Centre vorzulesen, das die einzige Plattform für literarische und
theatralische Darbietungen der österreichischen Emigranten war. Schuldbewußt betrat er denn
von Zeit zu Zeit das Podium, des Pollak'schen Bannfluches gewärtig." (Spiel 1986, 2 f.)
Kramer hat aber auch mindestens einmal, nämlich am 2. August 1942, aus "neuen Gedichten"
im Austrian Labour Club, London, gelesen. Und an der vom Austrian-P.E.N. veranstalteten
"I. Österreichischen Kulturkonferenz" (London, 29./30.8. 1942) nahm er als vom Austrian
Labour Club Nominierter teil.
Warum aber bestand zwischen den österreichischen Sozialisten in Großbritannien und dem
Austrian Centre überhaupt ein solcher ausschließender Gegensatz? Die größten
Meinungsverschiedenheiten bezogen sich auf die Zukunft Österreichs: Während das Austrian
Centre und das aus ihm hervorgegangene Free Austrian Movement für die Wiederherstellung
eines demokratischen Österreich eintraten (sie folgten darin den politischen Direktiven der
KPÖ, entsprachen damit aber sicher den Wünschen einer großen Mehrheit der Flüchtlinge aus
Österreich), hielten die führenden Sozialisten (Karl Czernetz und Oscar Pollak) am Konzept
der "gesamtdeutschen Revolution" fest, welche sie, als deutsche Truppen fast ganz Europa
erobert hatten, später zu einer "gesamteuropäischen" modifizierten. Sie lehnten zwar die Form
des "Anschlusses" an Deutschland ab, bejahten aber seine "historische Notwendigkeit". Sie
blieben der großdeutschen Einstellung der Vorkriegssozialdemokratie verhaftet, die die
Vereinigung Österreichs mit Deutschland als eines ihrer wichtigsten Ziele ansah und diesen
Passus erst im Oktober 1933 aus ihrem Parteiprogramm strich. Für Theodor Kramer war das
Aufgehen Österreichs in einem Großdeutschland kein erstrebenswertes Ziel. Je länger
Kramers Exil währte, umso betonter "österreichisch" ist seine Haltung.
"Es mögen andre suchen eine Bleibe
und nützlich werden, der und jener reich;
doch wo ich steh und was ich immer treibe,
dort steht und lebt ein Stückchen Österreich."
(Datiert 28.9. 1941; vgl. "Gesammelte Gedichte 2", 185)
Dieses selbstbewusste Bekenntnis zu einem Österreich, das Kramer in sich selbst trägt,
repräsentiert (und das ihm daher auch nicht Gegenstand eines Heimwehs werden kann), findet
sich vielfach wiederholt und variiert in Gedichten, Briefen und anderen Dokumenten. In einer
Eingabe an das österreichische Unterrichtministerium schreibt Kramer im April 1949:
"Werk: durchaus österreichisch. Müßig, dem im Einzelnen nachzugehen. [...] Formale Lösung
mit dem ersten Gedichtband gefunden, erweitert, auf fast alle Stoffe des Alltagslebens
angewandt."
Zugleich verwahrt er sich vehement und wiederholt gegen eine Klassifikation als
"Heimatdichter". Auch einem undifferenzierten Österreich-Patriotismus konnte er nichts
abgewinnen:

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

"[...] ärgere ich mich über einen Ausschnitt aus dem Wolverhamptoner Lokalblatt [...] Das
F.A.M. [Free Austrian Movement] hielt ein Meeting ab; ein Abgeordneter sagte, der Frieden
müsse wieder sein wie der Friede von Wien (nach den napoleonischen Kriegen). Alles
klatschte Beifall. Niemand stand auf und sagte, daß dieser Frieden 33 Jahre der ärgsten
Knechtschaft brachte (Heilige Allianz, Metternich usw.) und daß niemand in Österreich einen
solchen Frieden wolle. Ein Beispiel der segensreichen Tätigkeit des F.A.M. Solche Dinge
sind gefährlich." (Brief an Gretl Oplatek, Guildford, 17.3. 1943)
Nach dem Aufenthalt in London im Herbst 1941 musste Kramer im Dezember nach
Wolverhampton zu seiner Frau zurückkehren. Vergeblich hatte er in London Arbeit gesucht.
In der Folge war er monatelange krank, schrieb erfolglos Stellengesuche und sann darüber
nach, wie er nach London zurückkehren könnte. In Vorbereitung war der Gedichtband
"Verbannt aus Österreich", der schließlich im Juli 1943 erscheinen sollte. Ein Brief von Willy
(Wilhelm) Scholz, Sekretär des Austrian Centre, gibt Aufschluss über die näheren Umstände:
"Robert Neumann teilte mir gestern mit, daß der P.E.N. nichts gegen die Herausgabe
einzuwenden hat. Er möchte dies nur unter dem Titel tun 'Schriftenreihe des Austrian P.E.N.
Clubs' No. 2. No. 1 wird das Protokoll der Kulturkonferenz sein.
Mit John Heartfield habe ich gesprochen. [...] Er ist einverstanden, diese Sache zu machen.
Ich habe außerdem mit Robert Neumann die Frage der Auslieferungsstelle besprochen. Er
erklärte mir, der P.E.N. Club könne sich selbst nicht damit belasten und hat das Austrian
Centre vorgeschlagen. [...]" (Wilhelm Scholz, Brief an Th. Kramer, London, 2.10. 1942)
Die Initiative ging also offensichtlich vom Austrian Centre aus. Nicht zustande gekommen ist
die in dem Brief erwogene Gestaltung des Umschlags durch John Heartfield.
Im Oktober 1942 zog Kramer von Wolverhampton nach London und trennte sich endgültig
von Inge Halberstam. Am 30. Oktober nahm er an der Generalversammlung des Austrian
P.E.N. teil und wurde in den Vorstand gewählt. Durch Vermittlung von Eleanor Farjeon und
des Verlegers Geoffrey Faber erhielt er den Bibliothekarsposten am Technical College in
Guildford (Surrey) (vgl. Sulbacher, "Theodor Kramer: Lebenslauf". Unveröffentlichtes TS, 2
S, E. Chvojka, Brief an K. Kaiser, Wien, 11.3. 1995), den er im Jänner 1943 antrat und bis zu
seiner Rückführung nach Wien im September 1957 behielt. Die Guildford-Möglichkeit muss
sich erst in der Zeit des Londoner Aufenthaltes ergeben haben. In Guildford schloss Kramer
Freundschaft mit anderen dort angesiedelten Exilierten, unter ihnen den Graphiker und
Zeichner Helmut Krommer und dessen Tochter Anna, die an der Kunstgewerbeschule des
Technical College in Guildford studierte. Dem vor allem im International Youth Club
organisierten Emigrantenleben Guildfords stand er skeptisch gegenüber. Er fand Kontakt zur
örtlichen englischen Poetry Society - die Schilderung, die Anna Krommer von einer Lesung
Kramers in Anwesenheit von literaturinteressierten Damen der Poetry Society gibt, dürfte
allerdings eine Spur überzeichnet sein:
"Theodor Kramer räusperte sich und begann laut aus seinen Werken vorzulesen. Sein ernster
prüfender Blick streifte uns dabei über der Hornbrille. Fräulein Woolwich erbebte, vergeblich
bemüht, ihre Erregung zu unterdrücken. Es kam da Lyrik zur Geltung im strengen Versmaß,
in harmonischen Reimen, die in ihrer Schlichtheit viel Sexuelles umfaßten, das die alten
Fräuleins erröten ließ und ihnen einen Schamschweiß auf die Stirn trieb. Besonders Fräulein
Smithys Busen hob und senkte sich in atemloser Empörung, auch Fräulein Woolwich litt

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

unter den derben Worten moralischer Unzulänglichkeit. Die Damen saßen in Verlegenheit
versteinert. Doch der Blick über der Hornbrille ignorierte die bigotte Entrüstung der reinen
Seelen zuhörender englischer Jungfrauen mittleren Alters. (Krommer 1990, 57 ff.)
Kramer unterhielt weiter vielfache Kontakte zur "Emigrantenszene" in London, wurde zu
Lesungen eingeladen, las für das Austrian Service der BBC, besuchte Vorträge und
Kulturveranstaltungen im Austrian Centre. Durch die Auseinandersetzung mit den erst seit
Juli 1944 (Befreiung des Konzentrationslagers Majdanek bei Lublin durch die Rote Armee) in
vollem Ausmaß bekannt gewordenen Verbrechen der Nationalsozialisten entstehen Gedichte
wie "Der Ofen von Lublin" (22. August 1944) und in weiterer Folge Zyklen wie "In der
Dobrudscha" (teilweise aufgenommen in die Sammlung "Die grünen Kader".
Der Ofen von Lublin
Es steht ein Ofen, ein seltsamer Schacht,
ins Sandfeld gebaut, bei Lublin;
es führten die Züge bei Tag und bei Nacht
das Röstgut in Viehwagen hin.
Es wurden viel Menschen aus jeglichem Land
vergast und auch noch lebendig verbrannt
im feurigen Schacht von Lublin.
Die flattern ließen drei Jahre am Mast
ihr Hakenkreuz über Lublin,
sie trieb beim Verscharren nicht ängstliche Hast,
hier galt es noch Nutzen zu ziehn.
Es wurde die Asche der Knochen sortiert,
in jutene Säcke gefüllt und plombiert
als Dünger geführt aus Dublin.
Nun flattert der fünffach gezackte Stern
im Sommerwind über Lublin.
Der Schacht ist erkaltet; doch nahe und fern
legt Schwalch auf die Länder sich hin,
und fortfrißt, solang nicht vom Henkerbeil fällt
des letzten Schinderknechts Haupt, an der Welt
die feurige Schmach von Lublin.

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Über das Gedicht "Der Ofen von Lublin" können Sie sich auch im "Holocaust und Literatur"
informieren.
Kramer war sich offenbar der großen Schwierigkeiten, mit denen der Widerstandskampf
gegen die Nationalsozialisten in Österreich selbst zu rechnen hatte, bewusst. Er verlegte seine
Visionen von Guerillakrieg und Aufstand in ein Gebiet Rumäniens, das ihn aus den Romanen
Panaït Istratis vertraut war. Guildford war ein Exil im Exil. Am 8.11. 1945 schrieb Kramer an
Paul Elbogen in den USA:
"Trotzdem die Gruppe des österreichischen Penklubs im Sommer 1943 es ermöglichte, daß
das Austrian Centre meinen kleinen Auswahlband 'Verbannt aus Österreich' veröffentlichte,
war ich bis vor Kurzem, auch an den Maßstäben dieser Emigration gemessen, fast ganz in
Vergessenheit geraten. Leben in der Provinz, politische Zänkereien, Freunderlwirtschaft,
Vorherrschaft der Nichtskönner, die ihr Österreichertum plötzlich unter großem Geseres in
London entdeckten, das mag einiges erklären."
Ähnlich bittere Resümees finden sich auch an anderen Stellen. Eine "Wiedergutmachung"
erhielt Kramer von österreichischer Seite nicht. 1956 hatte er sich darum bemüht, musste aber
erfahren, dass er, wenn überhaupt, erst zu einem späteren Zeitpunkt berücksichtigt werde.
Kramer erhielt die Hilfe, auf die er ein Recht zu haben glaubte, durch die Bitten von Freunden
wie Hilde Spiel gnadenhalber erst zu einem Zeitpunkt, wo er sie zur Führung eines eigenen,
selbständigen Lebens kaum mehr brauchen konnte.

Gescheiterte Rückkehr
Die Geschichte der Nicht-Rückkehr der meisten österreichischen Emigranten nach 1945 ist
kaum noch beschriebenes Kapitel unserer Nachkriegsgeschichte. Während selbst Politiker wie
Adolf Schärf der Remigration mit Ablehnung und Misstrauen gegenüberstanden, wurde die
Wiedereingliederung der ehemaligen Nationalsozialisten schnell vollzogen. Die
Wiedergutmachung kam nur äußerst schleppend in Gang.
Oskar Kokoschka und Ernst Karl Winter, die sich - als Künstler der eine, als Politiker und
Wissenschaftler der andere - im Exil unbezweifelte Verdienste um die Wiederaufrichtung
eines unabhängigen Österreichs erworben hatten, fanden bei ihrer Rückkehr verschlossene
Türen, keine ihnen entsprechenden Betätigungsmöglichkeiten. Sie stehen hier als prominente
Beispiele für viele.
Deutschland, ob die Bundesrepublik oder die DDR, hat sich in dieser Hinsicht anders
verhalten. War dort das Bewusstsein einer historischen Schuld an den Greueln der
Naziherrschaft vorhanden, ist die Abstreifung jeder Verantwortung für die Vergangenheit hier
für viele die wesentliche Pointe bei der Betonung österreichischen Nationalbewusstseins
geworden.
"Daß Österreich eine eigene Diktatur hatte und an der Naziherrschaft nicht unschuldig war,
dafür hat man kein Gefühl dort, davon will man durchaus ganz und gar überhaupt nichts
hören, ein Emigrant hat einen Buckel zu machen ... Nur ein Gesunder oder ein Wohlhabender
oder ein Massenautor könnte dort leben und nichts beigeben, es nicht billiger geben. Ich
werde niemals als Schriftsteller irgendeine Konzession machen."
So schreibt Kramer am 20. November 1955 aus Guildford an Harry Zohn in Boston. In
Guildford war Kramer seit 1943 als Bibliothekar beschäftigt, unter oft drückenden

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

Bedingungen. Dennoch hat er diese Stellung der ihm angebotenen in Wien vorgezogen. Der
Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka, damals Mitglied der KP, einer der wenigen, die sich
konsequent für die Rückkehr der Emigranten eingesetzt haben, hielt ihm einen Platz in der
Zentrale der Wiener Städtischen Bibliotheken frei. Doch Kramer zögert und versagt sich: Als
Magenleidender sieht er seine Ernährung in Österreich gefährdet, das Gehalt eines
Volksbibliothekars ist ihm zu gering, es gibt Schwierigkeiten bei der Beschaffung eines
geeigneten Quartiers, er fürchtet, in die neu aufgebrochenen politischen Frontenbildungen
unfreiwillig einbezogen zu werden, auch dass ihn die Kommunisten verfolgen würden,
erbrächte er nicht die politische Gegenleistung für die gebotene Hilfe. All diese Motive und
noch einige andere werden wechselnd vorgebracht, nie im Zusammenhang. Die Vermutung,
dass hinter diesen "Vorwänden" andere Motive stecken, liegt nahe.
Weiter Informationen finden Sie auch in der Überblicksvorlesung "Germanistik als
Erinnerung, Mahnung und Heimat".
Von - geschätzten - 130.000 österreichischen Flüchtlingen sind bis 1952 nur etwas mehr als
4.000 nach Österreich zurückgekehrt, ungefähr jeder dreißigste. Kramer ist offenbar einer von
den vielen, die die damals schmale Sicherheit des Exils der breiten Ungewissheit in
Österreich vorziehen, die von Misstrauen und Abscheu gegen Menschen erfüllt sind, die
gestern die Judenverfolgungen zumindest gebilligt haben und die überlebenden Opfer heute
als "Hitlers Unvollendete" bewitzeln.
Die Rückführung einzelner Emigranten, losgelöst vom allgemeinen Zusammenhang einer
wirklichen "Entnazifizierung" (ein schrecklicher Ausdruck übrigens, der unterstellt, das
Problem sei durch Elimination zu lösten), einer ernsthaften Wiedergutmachung, gerinnt zur
Versorgung. Versorgung ist ein klassischer Begriff bürokratischer Nächstenliebe: Sie setzt
den, dem sie zu helfen vorgibt, zum Objekt herab. Die Versorgung beginnt, wo einer in den
mitleiderregenden Zustand geraten ist, sich nicht mehr selber helfen zu können. Zweierlei
wird dabei unterschlagen: erstens, dass die Emigranten ein Recht auf Wiedergutmachung,
nicht eine Option auf Mitlied hatten; zweitens wird der Anspruch der Emigranten, an der
Gestaltung der Verhältnisse, auf welchem Gebiet auch immer, aktiv teilzuhaben,
abgeschnitten. Eine Schar Wohlmeinender korrespondiert über die Versorgung Kramers, und
kaum einer von diesen Wohlmeinenden pflegt auch nur einen Gedankenaustausch mit
Kramer, was in Österreich, z. B. auf kulturellem Gebiet, nun zu tun sei. Wie Matejka Kramer
einmal bittet, Vorschläge zur Gestaltung eines österreichischen Bauernkalenders zu
unterbreiten, antwortet ihm Kramer sofort eifrig, ausführlich, erfreut. Diese Reaktion sticht
signifikant von dem sonstigen hinhaltenden Ton ab, dessen sich Kramer im Briefwechsel mit
Matejka und anderen befleißigt. Sie erhellt, wie man es anstellen hätte müssen, um die
Emigranten für Österreich wieder zu "gewinnen".
In Österreich ist Versorgung meistens mit dem besonderen Witz verbunden, dass die Opfer
des Faschismus zu Objekten einer Versorgung gemacht werden, die in der Regel einfach nicht
stattfindet. Erst 1956 wird Kramer über Vermittlung Franz Theodor Csokors und des
PEN-Klubs zur Ausfüllung eines Fragebogens des Hilfsfonds für politisch Verfolgte
angehalten, um dann zu erfahren, "daß ich in eine Gruppe eingereiht werde. Erst nach dem
10.6. 1957 wird es sich entscheiden, ob diese Gruppe überhaupt was kriegt, und dann fragt es
sich, was und was." (Brief an Hilde Spiel, 23.8. 1956) Wer also bis 1955 nicht die
Gelegenheit ergriffen hatte, sich durch seinen Tod der Wiedergutmachung zu entziehen,
konnte seit 1956 in der Hoffnung, immerhin einen Fragebogen ausgefüllt zu haben,

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Österreichische Literatur im Exil - 2002 © Universität Salzburg

weiterleben. Die Versorgung, die stattfinden sollte, ermutigte offizielle Kreise dazu, die Opfer
des Faschismus derweil als Schaustücke für den Beitrag, den Österreich nach dem Moskauer
Memorandum für seine Befreiung zu leisten hatte, in Gebrauch zu nehmen. Am 16. Oktober
1955 schreibt Kramer an Hilde Spiel:
"Die Großzügigkeit des Neuen Österreich wurde mir eindringlich vor Augen geführt. Für eine
Anthologie will man etliche zwanzig Gedichte von mir abdrucken, das Werk soll vornehmlich
verteilt werden an ausländische Bibliotheken (um sich in guten Geruch zu bringen), jedoch
der Autor bekommt nicht einen Schilling Anerkennungshonorar."
Kramer führt all die Jahre einen verbissenen Kampf um seine Selbstständigkeit. Er klammert
sich, trotz Überarbeitung, schwerer Krankheit, immer neuen Schwierigkeiten, in der
englischen Kleinstadt Guildford geduldet zu werden, an seine Stellung als Bibliothekar. Hier,
an diesem Punkt, muss er festhalten. Das Festhalten ist angesichts seines sich
verschlechternden körperlichen Zustandes und der damit verbundenen effektiven
Unmöglichkeit, etwas Neues anzufangen, seine einzige Chance, souverän zu bleiben. Seine
ständigen, geradezu hypochondrischen Klagen über seinen Gesundheitszustand, dazu die
Betteleien, mit denen er niemanden ungeschoren lässt, sind Betriebsmittel dieser seiner
bedrohten Souveränität.
Er bettelt, um kein Bettler zu werden.
Dazu kommt, dass Kramer wahrlich nicht mit leichtem Gepäck unterwegs ist. In den Jahren
des Exils hat sich eine große Masse unveröffentlichter Gedichte angesammelt, die sich durch
tagtägliche unermüdliche Produktion unaufhörlich vermehrt. Die Masse des Ungeordneten,
Unausgefeilten, Unveröffentlichten liegt wie ein Alb auf der Entschlusskraft Kramers. Schon
am 3. Mai 1946 schreibt er seinem Freund Paul Elbogen nach Hollywood: "... bin
entschlossen, hier meine Manuskripte aus den Notizheften reinschreiben zu lassen, zu Bänden
zu arrangieren und zu feilen, bevor ich zurückgehe." Die Anstrengungen einer Übersiedlung
erscheinen als tödliche Gefahr für die Fortführung einer Arbeit, mit der Kramer auch in den
folgenden Jahren nicht wirklich weiterkommt.
Es werden hier nur die Hauptlinien einer Entwicklung, die für Kramer eine Katastrophe
gewesen ist, nachgezeichnet. Es hat auch gegenläufige Tendenzen gegeben. Verschiedene
Menschen, unter ihnen Matejka, aber auch Michael Guttenbrunner, Robert Neumann, Edwin
Rollett, Bruno Kreisky, Erwin Chvojka, Hilde Spiel u. a. haben sich um Kramer ehrlich
bemüht - freilich ohne Zusammenhang und in verschiedenen Zeiten. Die Liste ließe sich
fortsetzen. Diese Bemühungen sind nicht fruchtlos geblieben, aber sie endeten unglücklich.
Zu Hilde Spiel finden Sie Informationen in der gleichnamigen Porträtvorlesung.
"Neuerlich werden Versuche gemacht, mich nach Österreich zu verpflanzen, doch die guten
Leute kennen meine körperliche Verfassung nicht. Mein Gott, wenn man mich nur endlich in
Ruhe ließe." (Brief an Hilde Spiel, 1. Februar 1957)
Der Widerstand Kramers, sich versorgen zu lassen, hat den Punkt der Unverzeihlichkeit
überschritten. Die bürokratische Nächstenliebe schlägt - natürlich ungewollt, unabsichtlich,
darum um so gesetzmäßiger - in die Vergewaltigung ihres Objekts um. Am 15. Juni 1957
berichtet Hilde Spiel dem Staatssekretär Bruno Kreisky:
"Die Sozialreferentin der österreichischen Botschaft hatte indirekt von Kramers

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Schwierigkeiten erfahren und den Medical Officer (den für die Grafschaft Surrey, in der
Guildford liegt, zuständigen englischen Gesundheitsbeamten, Anm. d. Verf.) auf ihn
aufmerksam gemacht. Das Resultat war, daß Kramer nach längeren Gesprächen mit diesem
sehr wohlwollenden, aber das labile Temperament eines österreichischen Dichters doch nicht
ganz begreifenden Mann, angeblich 'freiwillig', in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde.
Er hatte vor mehreren Jahren schon einmal an Depressionen gelitten und einige kurze Zeit in
einem Sanatorium verbracht. Nun wurde er also von neuem in ein solches gesteckt, und hier
bekommt er, obwohl seine Erkrankung vom Chefarzt als 'akute Depression' bezeichnet wird,
eine Serie von Schockbehandlungen."
Direkt aus diesem Sanatorium ist Kramer dann im September nach Wien gebracht worden,
wo er am 3. April 1958 gestorben ist. Diese letzten Monate, in denen Kramer auf Kosten des
Unterrichtsministeriums in einer Pension in der Innenstadt untergebracht worden ist, bieten
nun das Umkehrbild der Versorgung. Die Versorgung hat ihr Objekt nur in seinen stofflichen
Lebensbedürfnissen umschrieben. so bleibt das Individuum in der Kommunikation, die als
Versorgung verläuft, ein leeres, äußerlich umschriebenes Phänomen. Eine Vermittlung von
geistigen Gehalten, eine Verständigung über konkrete Bedürfnisse findet nicht statt. Das
Resultat ist hoffnungslose Isolation, die durch Kontakte zu anderen Individuen nur übertüncht
werden kann. "Ich bin überhaupt, nicht nur während der Feiertage, zu viel allein, höchst
ungern allein." (Brief an Waldinger, 25. Februar 1957)
"Erst in der Heimat bin ich ewig fremd" - lautet der Refrain eines der letzten Gedichte
Kramers.

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