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HOLLY HEPBURN liebt es, Menschen zum Lächeln zu bringen – und sie

liebt ihre Katze Portia. Sie hat in der Marktforschung und als Model
gearbeitet, ihr großer Traum war aber schon immer das Schreiben. Holly
lebt in der Nähe von London.

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Holly Hepburn

Aus dem Englischen


von Melike Karamustafa
Die Originalausgabe erschien 2017
unter dem Titel Brief Encounter at the Picture House by the Sea
bei Simon & Schuster, London.

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Copyright © 2017 der Originalausgabe by Tamsyn Murray


Published by arrangement with Simon & Schuster UK Ltd., London, England
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlag: bürosüd unter Verwendung von Motiven von bürosüd
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-28047-5
V001
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Für meine Großmutter Agnes,
durch die ich so viele Filmklassiker
kennenlernen durfte.
Kapitel Eins

»Sehr geehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Bodmin Parkway. Bitte


denken Sie beim Verlassen des Zuges an Ihre persönlichen Gegenstände.«
Gina Callaway streckte sich, bevor sie nach ihrem Mantel griff. Die Fahrt
von London war schneller vergangen, als sie erwartet hatte.
Kurz bevor sie den Bahnhof Paddington verlassen hatten, war eine
gestresst wirkende, junge Mutter mit einem weinenden Baby eingestiegen,
dessen Gesicht vor Anstrengung rot angelaufen war, und hatte sich auf den
Platz ihr gegenüber fallen lassen. Augenblicklich hatte sich Gina auf
stundenlanges Gebrüll während der Fahrt eingestellt. Doch das Baby hatte
sich, vom Rattern des Zuges eingelullt, bald beruhigt und die Mutter ihren
gequälten Gesichtsausdruck schnell abgelegt, nachdem Gina sie mit einem
Tee aus dem Speisewagen überrascht hatte. Sie hatte ein leises Danke
gemurmelt, sich ansonsten aber zu keiner Unterhaltung verpflichtet gefühlt.
Im Gegenteil, sie hatten die Fahrt in einvernehmlichem Schweigen
verbracht und aus dem Fenster gesehen. Die Gleise auf dieser Strecke
kamen dem Meer so nahe, dass es fast wirkte, als reisten sie per Boot und
nicht mit der Bahn. Nun, als Gina aufstand, um den Zug zu verlassen,
tauschten die junge Mutter und sie ein flüchtiges Lächeln – zwei Fremde,
die sich vermutlich nie wieder über den Weg laufen würden.
Der Zug hielt, und Gina beförderte ihren Koffer schwungvoll durch die
Tür auf den Bahnsteig. Im selben Moment wurde sie von einer
Dampfwolke eingehüllt und sah sich irritiert um. Zugegeben, es war ewig
her, dass sie das letzte Mal am Bahnhof von Bodmin gewesen war, aber sie
war sich sicher, dass der Zug Richtung Penzance normalerweise an Gleis
eins hielt. Doch sie stand auf dem Bahnsteig von Gleis zwei, gleich neben
einer Gruppe von Tagesausflüglern, die eifrig Fotos von der alten Dampflok
schossen, die zwischen Bodmin und Wenford von Bahnsteig drei verkehrte.
Sie seufzte. Nun würde sie ihren Koffer die Treppen hinunter und auf der
anderen Seite wieder hinauftragen müssen, bevor sie sich ein Taxi zum
Haus ihrer Großeltern in Polwhipple nehmen konnte – sofern sie es
schaffte, sich einen Weg durch die Scharen von Touristen zu bahnen,
welche die ganze Breite des Bahnsteigs einnahmen.
Sie duckte sich unter einer gezückten Kamera hinweg und wich
anschließend einer Reihe Stativen und ausgestreckter Smartphones aus, als
der alte Zug einen schrillen Pfiff ausstieß. Eine dicke Rauchwolke stieg aus
seinem Schornstein und zog, angetrieben vom plötzlich auffrischenden
Wind, über den Bahnsteig hinweg.
Gina blinzelte und stöhnte auf, als sie plötzlich ein Stechen im Auge
spürte. Abrupt blieb sie stehen und ließ ihren Koffer los, woraufhin ein
Mann, der offensichtlich dicht hinter ihr gegangen war, einen Fluch
ausstieß.
»Au«, murmelte Gina, während ihr Tränen die Wange hinabliefen, »au,
verdammt, das brennt.«
Was war denn das? Sie brauchte einen Spiegel! Sie versuchte vergeblich,
nicht zu stark zu blinzeln, um besser sehen zu können, und durchwühlte mit
einer Hand ihre Handtasche nach dem kleinen Döschen Kompaktpuder.
Doch als sie es endlich gefunden und aufgeklappt hatte, tränten mittlerweile
beide Augen so sehr, dass sie kaum etwas in dem winzigen Spiegel
erkennen konnte.
»Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?« Die Stimme war tief und
männlich, mit dem unverwechselbaren singenden kornischen Unterton.
Gina wandte sich um. Doch alles, was sie erkennen konnte, war ein
verschwommenes Durcheinander aus Haaren und Umrissen. »Oh, nein,
vielen Dank. Alles bestens. Nur ein Staubkorn, glaube ich.«
»Hier, nehmen Sie das.« Ein kühles Rechteck aus Baumwolle wurde ihr in
die Hand gedrückt. »Keine Sorge, es ist sauber.«
Ginas Lid zuckte und sandte einen weiteren stechenden Schmerz durch ihr
Auge. »Danke.« Sie hob wieder den kleinen Spiegel, um das tränende Auge
mit dem dicken weißen Taschentuch abzutupfen. »Das ist sehr freundlich
von Ihnen.«
»Keine Ursache.«
Gina drehte eine Ecke des Taschentuchs zusammen und schob damit
vorsichtig das schwarze Körnchen, das sie nun entdeckt hatte, vom Rand
ihres unteren Wimpernkranzes. Dann blinzelte sie noch einmal, wodurch
weitere Tränen flossen, doch das Stechen ließ nach. »Ich glaube, jetzt ist es
raus.«
Nachdem ihr Augapfel sich nicht mehr anfühlte, als würde er von
mehreren Nadeln gleichzeitig attackiert, konnte sie den Besitzer des
Taschentuchs endlich besser erkennen. Er war groß – etwa 1,85, schätzte
sie – und gebräunt. Sein Haar war kurz geschnitten und durchzogen von
ausgeblichenen Strähnen, die vermuten ließen, dass er viel Zeit draußen
verbrachte. Seine Augen waren blau wie das Meer in Cornwall an einem
sonnigen Tag. Kein unangenehmer Anblick, entschied Gina. Wenn ihr
Sehvermögen nicht noch immer beeinträchtigt gewesen wäre, hätte sie ihn
vielleicht sogar noch ein wenig länger betrachtet.
»Das ist wie Folter, nicht wahr? Selbst ein winzig kleines Sandkorn fühlt
sich an, als würde man mit einer Rasierklinge malträtiert«, sagte er
mitfühlend. »Sind Sie sicher, dass ich nicht doch einen Blick darauf werfen
soll?«
In London hätte Gina seine Hartnäckigkeit als Anmache verstanden, aber
in seinem Gesicht spiegelte sich nichts weiter als freundlich gemeinte
Sorge. Und sein Dialekt war geradezu entwaffnend – die Weichheit und
Wärme und lang gezogenen Vokale. Es war eine ganze Weile her, dass sie
in Cornwall gewesen war, und dieser unverwechselbare Summton weckte
Erinnerungen an gleißende Sommertage am Strand von Polwhipple und
endlos viele Eiswaffeln vom Stand ihres Großvaters direkt an der
Promenade. Es fühlte sich beinahe an, als wäre sie wieder fünfzehn.
Gina rief sich innerlich zur Ordnung. Sie war vielleicht zurück in
Cornwall, aber von ihrem Teenager-Selbst hatte sie sich inzwischen
meilenweit entfernt.
»Schon in Ordnung«, sagte sie also schlicht und streckte ihm das
Taschentuch hin. »Trotzdem danke.«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Warum behalten Sie es nicht? Ein
Stück den Bahnsteig hinunter gibt es Toiletten, wo sie ihr Auge auswaschen
können, aber die Papierhandtücher aus den Spendern lösen sich allein vom
Ansehen auf.« Er musterte sie mit einem schiefen Lächeln, bevor er
nachdenklich die Stirn runzelte, als wollte er noch etwas sagen, wüsste aber
nicht, wie. Dann schien ihm klar zu werden, dass er sie anstarrte, und er
nickte knapp. »Na dann, alles Gute.« Mit einem letzten Blitzen seiner
sommerblauen Augen wandte er sich ab und verschwand in einer weiteren
Dampfwolke.
»Tschüss«, rief Gina ihm hinterher. »Und noch mal danke.« Eine weitere
Sekunde oder zwei blinzelte sie noch in die Wolkenfetzen, halb in der
Erwartung, der Mann werde sich daraus rematerialisieren. Dann stopfte sie
das Taschentuch in ihre Handtasche und setzte sich wieder in Bewegung.
Es war ein bisschen wie in einem dieser alten Filme, überlegte sie,
während sie ihren Koffer hinter sich her über den holprigen Bahnsteig zog:
Ein gut aussehender Fremder hilft einer Dame, ein Staubkorn aus dem
Auge zu entfernen, während Dampfwolken von einem nebenstehenden Zug
über sie hinwegziehen. Mit dem kleinen Unterschied, dass sie – wäre dies
tatsächlich ein Film – danach bei einer Tasse Kaffee zusammengesessen
hätten, um sich anschließend in eine heiße Affäre zu stürzen, die vermutlich
in einem großen Drama geendet hätte.
Gina schüttelte amüsiert den Kopf. An den zahlreichen
Samstagvormittagen, die sie im Laufe der Sommer, die sie bei ihren
Großeltern zu Besuch gewesen war, im Palace verbracht hatte, dem alten
Kino in Polwhipple, hatte sie eine Liebe zum Theatralischen entwickelt, die
sie nie wieder wirklich losgelassen hatte. Noch heute tat sie nichts lieber,
als es sich mit einer riesigen Tüte Popcorn vor der Leinwand gemütlich zu
machen und sich einen Film anzuschauen. Unglücklicherweise eine
Leidenschaft, mit der ihr Partner Max nichts anfangen konnte, weswegen
sie anstatt mit ihm mit Freunden ins Kino ging. Doch auch die hatten immer
seltener Zeit für sie. Die meisten hatten inzwischen eine Familie gegründet
und verbrachten die Abende zu Hause. Wahrscheinlich gehe ich bald nur
noch allein ins Kino, dachte Gina leicht verbittert. Genau wie in den alten
Zeiten …
In der Bahnhofstoilette roch es nach einer schwachen Mischung aus
Zitronen-Lufterfrischer und Kohle. Vorsichtig wusch Gina mit klarem
Wasser die letzten Staubkörner aus ihren Augen. Anschließend malte sie
den Lidstrich neu, den die Tränen weggewaschen hatten, tuschte ihre
Wimpern nach und strich sich die langen schwarzen Haare glatt, bevor sie
zurück in die Bahnhofshalle trat.
Draußen stand eine lange Schlange Taxis, die nur auf Kundschaft
warteten. Doch in dem Moment, als das durchdringende Pfeifen der
Dampflok ein weiteres Mal ertönte, warf Gina einen Blick über die Schulter
zu Bahnsteig drei hinüber. Sie zögerte. Sie könnte wie als Jugendliche die
historische Eisenbahn bis nach Boscarne Junction nehmen und sich dort
von ihrer Großmutter abholen lassen. Von Polwhipple aus war es nur eine
kurze Fahrt, und die gesamte Reise würde sie vielleicht sogar weniger Zeit
kosten als mit dem Taxi, so vollgestopft wie die Straßen selbst im März
zwischen Bodmin und der Küste oft waren. Ein einzelner zockelnder
Traktor auf einer schmalen Landstraße konnte den ohnehin schon
schleichenden Verkehr leicht in einen kilometerlangen Stau verwandeln.
Und es gab noch einen anderen, weniger pragmatischen Grund, die
Dampfeisenbahn zu nehmen – vielleicht war ja der galante Fremde an
Bord? Es war sehr nett von ihm gewesen, sich nach ihrem Befinden zu
erkundigen – ganz anders als die hektischen Berufspendler, mit denen sie in
London jeden Tag in der U-Bahn saß und die so darauf konzentriert waren,
möglichst rasch zur Arbeit oder wieder nach Hause zu kommen, dass sie
sich kaum die Zeit nahmen, auch nur einmal aufzuschauen. Auf diese Weise
bekam sie vielleicht die Chance, sich noch einmal richtig bei ihm zu
bedanken.
Sie sah zum Ticketschalter hinüber. Wie viel mochte eine Fahrkarte nach
Boscarne inzwischen kosten?
Es ertönte ein weiteres schrilles Pfeifen, und eine Rauchwolke zog über
die Eisenbahn hinweg, gefolgt von einem stampfenden Geräusch aus längst
vergangenen Zeiten, als sich der Zug an Bahnsteig drei in Bewegung setzte.
Der Verkäufer hinter der Glasscheibe des Schalters beugte sich vor. »Der
Nächste fährt um 16:20 Uhr, falls Ihnen das hilft.«
Gina schüttelte den Kopf. »Kein Problem«, sagte sie und schob die
Erinnerung an die dicken samtbezogenen Sitze und die Türen aus
Walnussholz, welche die Abteile voneinander trennten, energisch beiseite.
»Ich nehme einfach ein Taxi.«

»Wohin soll’s gehen?«, erkundigte sich der Fahrer, nachdem er ihren Koffer
in den Kofferraum gewuchtet und wieder hinter dem Lenkrad Platz
genommen hatte.
»Nach Polwhipple, bitte«, antwortete Gina. »Die alte Molkerei an der
Tregarran Street.« Sie überlegte kurz. »Ach nein, einen Moment …«
Wenn sie zuerst im Hotel eincheckte, war die Wahrscheinlichkeit, dass
Nonna darauf bestand, Gina bei sich unterzubringen, geringer. So sehr sie
ihre Großeltern und die Erinnerung an die Sommer, die sie bei ihnen
verbracht hatte, liebte, die beiden konnten ein wenig vereinnahmend sein,
und sie war keine fünfzehn mehr, sondern einunddreißig; sie brauchte einen
Rückzugsort.
»Könnten Sie mich zum Scarlet Hotel in Mawgan Porth bringen?«
Nickend startete der Fahrer den Wagen und lenkte ihn auf die Straße,
während Gina sich in den Sitz zurücksinken ließ und sich fragte, was sie
erwartete, wenn sie später zu ihren Großeltern fuhr. Sie waren nach wie vor
alles andere als gebrechlich – bis vor Kurzem hatten sich beide bester
Gesundheit erfreut –, aber Gina war klar, dass sie das als allzu
selbstverständlich betrachtete. War seit ihrem letzten Besuch tatsächlich
schon ein ganzes Jahr vergangen? Dabei war es schon damals nur ein
kurzes Wochenende gewesen. Sie hatte vorgehabt, schnell wieder
hinzufahren, aber die Arbeit hatte sie in Schach gehalten. Da war immer ein
neuer Kunde, den es zu gewinnen galt, oder ein weiteres Event zu
organisieren. Freiberuflich zu arbeiten bedeutete auch, freie Zeit schwerer
vor sich und anderen rechtfertigen zu können, und Cornwall schien so weit
entfernt, auch wenn die Zugfahrt hierher gar nicht so lange dauerte. Doch
als sie erfahren hatte, dass sich ihr Großvater das Bein gebrochen hatte, war
ihr sofort klar gewesen, dass sie herkommen musste.
Ferdie Ferrelli war niemand, der jemals freiwillig um Hilfe gebeten
hätte – das verbot ihm sein stolzes italienisches Erbe –, aber seine Frau,
Ginas Nonna, war äußerst pragmatisch veranlagt. Sie wusste, dass sie die
Molkerei niemals gleichzeitig allein betreiben und genug Eiscreme
herstellen konnte, um die Nachfrage ihrer Kunden zu bedienen. Also hatte
sie einen Notruf abgesetzt. Und Gina war das einzige Familienmitglied, das
nach wie vor in Großbritannien lebte. Also hatte es nur eine Antwort auf
den Hilferuf gegeben. Auch wenn das bedeutete, dass Gina eine
dreimonatige Arbeitspause würde einlegen müssen.
Abgesehen davon, welche Sorten sie am liebsten mochte, hatte sie so
ziemlich alles vergessen, was mit der Produktion von Eiscreme zu tun hatte,
und noch weniger Ahnung hatte sie davon, wie man eine Eisdielenfiliale in
einem Kino am Meer führte. Trotzdem hatte sie es einfach nicht übers Herz
gebracht, Nein zu sagen. Nicht zu ihren heißgeliebten Großeltern, die ihr
über Jahre hinweg so viele schöne Polwhipple-Erinnerungen beschert
hatten.
Doch all das bedeutete, dass sich nach wie vor diese kleine nagende Sorge
in Ginas Magen breitmachte, wie die kommenden Stunden, Tage und
Wochen laufen würden. Ferdie würde sich wahnsinnig freuen, sie zu
sehen – bis er herausfand, aus welchem Grund sie angereist war. Er war
geradezu berühmt dafür, jegliche Hilfe kategorisch abzulehnen, selbst wenn
sie von seinem eigen Fleisch und Blut kam. Er hatte sein Geschäft quasi aus
dem Nichts aufgebaut, nachdem er in den Fünfzigerjahren aus Italien nach
England gekommen war, und führte es seitdem ganz allein – auch wenn
Gina den Verdacht hatte, dass ihre Großmutter hinter den Kulissen weit
mehr regelte, als ihr Nonno jemals zugeben würde.
Ferdie Ferrelli war noch nie leicht zu überzeugen gewesen, und was sein
geliebtes Gelato anging, war er ganz besonders in seinen Gewohnheiten
festgefahren. Gina würde all ihren Charme und ihre Entschiedenheit an den
Tag legen müssen, um ihn davon zu überzeugen, dass sie in der Lage war,
seinen Job zu machen.
Kapitel Zwei

»Gina! Bella mia!«


Auf der Schwelle des hübschen grauen Steinhauses, in dem sie seit mehr
als fünfzig Jahren lebten und hinter dem sich eine Reihe niedriger
Nebengebäude duckte, schloss Elena Ferrelli ihre Enkelin in eine feste
Umarmung. »Es ist so schön, dich zu sehen. Bist du etwa gewachsen?«
Lächelnd vergrub Gina das Gesicht in den pechschwarzen Haaren ihrer
Großmutter. Niemand sprach ihren Namen auf die Weise aus, wie es ihre
Nonna tat – der italienische Akzent, den sie nie abgelegt hatte, verlieh ihm
etwas Elegantes, beinahe Exotisches.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Nonna. Das mit dem Wachsen hat
sich inzwischen allerdings erledigt, außer du sprichst von meinen Hüften.«
Elena trat einen Schritt zurück, um Gina von Kopf bis Fuß zu mustern,
während sie an ihrem Mantel zupfte. »Natürlich nicht. Du bist ja nur Haut
und Knochen. Nimmst du dir in der Stadt jemals Zeit, richtig zu essen?« Sie
rümpfte missbilligend die Nase und schüttelte den Kopf. »Egal, jetzt bist du
hier, und ich kann mich um dich kümmern. Du wirst schon sehen, bald
haben wir ein wenig Fleisch auf deine Rippen bekommen.«
Gina lachte. Nonna konnte sagen, was sie wollte, entgegen ihrer Predigten
war sie selbst eine äußerst schlanke Frau über siebzig, die es ganz normal
fand, sich in den Sommermonaten in hautengen Outfits zum Strand-Yoga
unter die Surfer zu mischen. Aber sie liebte es eben auch zu kochen und
erwartete aus Respekt von denen, die sie ernährte, nicht weniger, als dass
sie ihren Teller leer aßen.
»Komm bloß nicht auf falsche Gedanken«, sagte Gina, während sie ihrer
Großmutter zärtlich den Arm tätschelte. »Ich bin zum Arbeiten hier,
erinnerst du dich?«
»Trotzdem musst du was essen«, erwiderte Elena unbeeindruckt. »Aber
jetzt komm erst mal rein und begrüß Nonno. Er hat schlechte Laune und ist
furchtbar grantig, aber du wirst es schaffen, ein Lächeln in sein grimmiges
altes Gesicht zu zaubern.«
Ein nervöses Flattern machte sich in Ginas Magen breit. Wir würde ihr
Großvater die Neuigkeiten aufnehmen, dass sie hergekommen war, um
mehr oder weniger sein Geschäft zu übernehmen?
Elena runzelte die Stirn. »Wo sind deine Koffer? Du hast doch sicherlich
nicht all deine Sachen für die nächsten drei Monate in der kleinen
Handtasche da?«
Gina holte tief Luft. Bevor sie sich Ferdie stellte, musste sie noch durch
ein anderes Minenfeld hindurch.
»Ich habe mir ein Hotel genommen«, sagte sie, während sie sich innerlich
wappnete. »Ich weiß, dass der ursprünglich Plan war, dass ich bei euch
wohne. Aber du hast genug damit zu tun, dich um Nonno zu kümmern, und
so erschien es mir am vernünftigsten. So treten wir uns nicht gegenseitig
auf die Füße.«
Und ich habe einen Ort, an den ich flüchten kann, wenn mich deine
gutgemeinte Einmischung in mein Leben wahnsinnig macht, fügte sie
stumm hinzu.
Doch es spielte keine Rolle, dass sie den Gedanken nicht laut
ausgesprochen hatte. Elena schien trotzdem tödlich beleidigt. »Ein Hotel?
Wie konntest du? Meine Enkelin übernachtet in einem Hotel, wenn es hier
ein wunderbares Bett für sie gibt. Die Leute werden glauben, dass böses
Blut zwischen uns geflossen ist.«
Gina schluckte ein genervtes Stöhnen hinunter. Sie hätte wissen müssen,
dass sich ihre Nonna vor allem Gedanken darum machte, was ihre Freunde
und Nachbarn davon halten würden.
»Das werden sie nicht tun. Natürlich nicht.«
»Und wie soll ich mich um dich kümmern, wenn du nicht hier bist?«, fuhr
Elena entrüstet fort. »Dann hättest du genauso gut in London bleiben
können.«
»Es ist doch nur für ein paar Tage«, versuchte Gina, ihre Großmutter zu
beruhigen. »Abgesehen davon tue ich mir damit etwas Gutes – ein kleines
Geschenk an mich selbst. Es gibt ein Spa, ein Schwimmbad und Whirlpools
auf den Klippen, von denen man aufs Meer schauen kann.«
Elena stieß ein zartes Schnauben aus. »Klingt gefährlich.« Sie bedachte
Gina mit einem strengen Blick, dann seufzte sie. »Aber wahrscheinlich
wird es nicht schaden, wenn du anschließend sowieso bei uns wohnst.«
Gina zögerte. Ihr Plan war, sich nach einem passenden Ferienhaus
umzusehen, sobald sie richtig angekommen war. Aber es war nicht nötig,
das jetzt zu erwähnen.
»Danke, Nonna.«
»Mhm«, murmelte Elena, während sie durch den Flur vorausging. »Wer
weiß, was dein Großvater zu alldem sagen wird.«
Ferdie Ferrelli saß in seinem Lieblingssessel und las seine Gazzetta dello
Sport. Das Bein in Gips ruhte auf einem Hocker. Als Gina hereinkam, hob
er den Kopf, und das Gesicht mit dem olivfarbenen Teint wurde von einem
Lächeln erhellt. »Gina! Was für eine Überraschung!«
Als er die Hände nach seinen Krücken ausstreckte, beeilte sich Gina, ihm
zuvorzukommen. »Bitte bleib sitzen, Nonno«, sagte sie und beugte sich
hinunter, um ihn zu umarmen. »Ich habe gehört, du hast eine Schlacht
ehrenvoll verloren.«
»Es war ziemlich unehrenhaft«, knurrte Ferdie und verzog angewidert den
Mund. »Ich bin beim Streichen der Fensterbänke von der Leiter
abgerutscht. Mein eigener Fehler.«
Gina schüttelte den Kopf. Sie wusste, es hatte keinen Sinn, ihn darauf
hinzuweisen, dass es keine gute Idee gewesen war, überhaupt auf eine
Leiter zu steigen. Ferdie war achtundsiebzig, aber in seinem Kopf noch
keine dreißig, und er kümmerte sich gern selbst um alles. Jemand anderen
dafür zu bezahlen, sein Haus zu streichen, wäre ihm niemals in den Sinn
gekommen.
»Es war ein Unfall«, sagte Gina mit einem Lächeln. »Selbst dir kann so
was mal passieren.«
Er schien seiner Enkelin nicht zuzustimmen. »Es war dumm«, knurrte er
nur. »Aber genug von mir. Was bringt dich her? Deine Nonna und ich
dachten schon, dass du vergessen hast, wo wir wohnen.«
Elena trat einen Schritt vor. »Wie wäre es erst mal mit einem Kaffee?
Gina kommt direkt vom Bahnhof, und du weißt, was für Spülwasser sie in
den Zügen servieren.«
Gina lächelte. Der Cappuccino ihrer Großmutter war ein einziger Traum:
stark und cremig, mit der perfekten Menge an Milchschaum, und ihr
Espresso hätte das nationale Stromversorgungsnetz am Laufen halten
können.
»Das wäre wunderbar, danke.«
»Gerne«, sagte Elena. »Und vielleicht kann ich dich mit ein paar frisch
gebackenen Biscotti locken. Am besten wir fangen gleich damit an, unseren
Plan in die Tat umzusetzen.«
»Nonna will mich mästen«, fügte Gina erklärend hinzu und ließ sich auf
das butterweiche Ledersofa plumpsen, während ihr Großmutter den Raum
verließ.
»Das sollte sie auch«, bemerkte Ferdie. »Solange du aussiehst wie eine
Stabheuschrecke, wirst du deinen jungen Mann niemals dazu bringen, dir
einen Antrag zu machen.«
Da hätten wir es also, dachte Gina, halb amüsiert, halb resigniert. Wenn
sich bis zu diesem Zeitpunkt noch irgendjemand wunderte, warum sie sich
ein Hotel genommen hatte – spätestens jetzt durfte es klar sein.
Sie holte einmal tief Luft. »Ich möchte gar nicht, dass er mir einen Antrag
macht, Nonno. Es ist alles gut so, wie es ist.«
Ferdie betrachtete sie missbilligend. »Natürlich, ich vergesse immer
wieder, dass ihr jungen Paare nichts für die heilige Ehe übrig habt.
Heutzutage dreht sich alles um Speeddating und darum, von einem Bett ins
nächste zu hüpfen.«
Sie hob die Augenbrauen. »Wohl kaum. Max und ich sind seit mehr als
zwei Jahren zusammen. Wir sehen einfach keinen Grund, warum wir
heiraten sollten.«
»Dann liebt ihr euch also nicht.«
»Doch, das tun wir«, beharrte Gina. Sie merkte selbst, wie defensiv sie
klang. Sie wollte nicht wieder die gleiche Diskussion mit ihren Großeltern
führen wie bei ihrem letzten Besuch. Und beim vorletzten. Nicht, solange
sie wusste, dass sie schon bald einen sehr viel wichtigeren Kampf
auszutragen hatten. Deswegen fügte sie ein wenig sanfter hinzu: »Wir
lieben uns.« Ein Bild von ihrem scharfsinnigen, immer durchgestylten
Freund tauchte vor ihrem inneren Auge auf. »Aber das müssen wir
niemandem beweisen.«
Er musterte sie aufmerksam. »Und trotzdem bist du allein hergekommen.«
Sie zögerte. Max war ein äußerst ehrgeiziger und erfolgreicher Bauträger,
der in einige der ikonischsten neuen Gebäude investiert hatte, die am Ufer
der Londoner Themse geradezu wie Pilze aus dem Boden schossen. Er war
kein Freiberufler wie Gina, was bedeutete, dass er nicht einfach von einem
Moment auf den anderen alles stehen und liegen lassen konnte, um nach
Cornwall zu fliegen, schon gar nicht, um dort drei Monate zu bleiben.
»Max ist sehr beschäftigt«, sagte sie vorsichtig. »Er lässt euch aber ganz
herzlich grüßen.«
»Aha«, murmelte Ferdie. »Er erinnert sich wahrscheinlich nicht mal mehr,
wie wir aussehen. Wie lange ist es her, dass er mit dir hier war? Ein Jahr?«
Eher zwei, dachte Gina, sprach den Satz aber wohlweislich nicht aus. Sie
hatten sich erst ein paar Monate gekannt, als sie mit ihm nach Cornwall
gefahren war, um sich den Segen für ihre Beziehung von den Großeltern zu
holen. Und natürlich hatte er sie mit seinem Charme um den Finger
gewickelt, genau wie Gina selbst. Doch trotz zahlreicher darauf folgender
Einladungen hatte er Gina bei keinem weiteren ihrer Besuche begleitet. Ein
weiterer Grund, aus dem es ihr so schwerfiel, nach Cornwall zu reisen –
immer gab es da eine wichtige Party oder ein Essen mit Geschäftspartnern,
bei dem Max auf keinen Fall fehlen durfte. Mit ihrer Beziehung und all den
Verpflichtungen, die mit ihrem eigenen Job einhergingen, war sie selbst
selten dazu gekommen, ihre Großeltern auch nur anzurufen.
»So was in der Richtung«, antwortete sie also vage. »Aber ich bin mir
sicher, dass er mich besuchen kommt, sobald ich …« Sie brach mitten im
Satz ab, während sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Dies war nicht
der richtige Zeitpunkt, Nonno zu erklären, warum sie hier war – dafür
brauchte sie die Unterstützung ihrer Großmutter. Aber ein rascher Blick in
Ferdies Gesicht verriet ihr, dass es zu spät war, einen Rückzieher zu
machen.
»Dich besuchen?«, fragte er mit einem Stirnrunzeln. »Warum sollte er
dich hier besuchen, wenn ihr in London fast nebeneinander wohnt?«
Gina wappnete sich innerlich und machte den Rücken gerade. »Ich werde
ein paar Monate in Polwhipple bleiben.«
Ihr Großvater starrte sie an, die buschigen weißen Brauen so dicht über
den tiefbraunen Augen zusammengezogen, dass sie wie
zusammengewachsen wirkten. »Warum? Stimmt etwas nicht? Hast du deine
Arbeit verloren, geht es darum?«
»Nein, nichts in die Richtung.« Gina begann nervös auf dem Sofa hin und
her zu rutschen. Es gab kein Zurück mehr. »Nonna und ich dachten,
dass …« Sie hielt inne, als die Wohnzimmertür aufschwang.
»Da wären wir«, sagte Elena, ein Tablett mit dampfenden Kaffeetassen
und einem Teller mit Keksen in den Händen.
»Gina hat gerade erzählt, dass sie ein paar Monate bleiben wird«, sagte
Ferdie, als seine Frau das Tablett auf dem niedrigen Couchtisch abstellte
und sich setzte.
»Ich weiß.« Sie reichte ihm eine Tasse. »Es wird ihr guttun. Es wird uns
allen guttun.«
Ferdie sah zwischen ihr und seiner Enkelin hin und her. »Was soll das
heißen?«
Mit einem vielsagenden Blick schob Elena den Teller mit dem Gebäck in
Ginas Richtung. »Komm schon, Ferdie, ist das nicht offensichtlich? Sie ist
hergekommen, um dir mit dem Geschäft zu helfen.«
Gina brachte ein Lächeln zustande. »Genau. Wir dachten, ich könnte dich
ein wenig entlasten, bis es deinem Bein wieder besser geht.«
»Ich brauche keine Hilfe«, sagte Ferdie, dessen Miene sich mit jeder
Sekunde mehr verdüstert hatte. »Und vor allem keine von Menschen, die
diese Hilfe hinter meinem Rücken organisieren.«
»Niemand tut irgendetwas hinter deinem Rücken, du alter Sturkopf«,
sagte Elena und trank einen Schluck Kaffee. »Falls du es vergessen haben
solltest, dein Bein wird von sechs Metallstiften zusammengehalten. Es
braucht Zeit zu heilen. Haben sie dir im Krankenhaus nicht gesagt, dass du
dich ausruhen sollst?«
Ferdie schnaubte abfällig. »Ärzte … was wissen die denn schon? Ich habe
Arbeit zu erledigen und kann nicht den ganzen Tag faul herumliegen. Meine
Gelati stellen sich nicht von selbst her, falls euch das entgangen sein sollte.«
»Dann lass mich dir helfen«, sagte Gina und beugte sich vor. »Genauso
wie als kleines Mädchen.« Nicht dass er sie damals viel mehr hätte machen
lassen, als einen Löffel in die cremige Masse zu stecken, bevor sie in den
Gefrierschrank wanderte – aber auch die kleinste Hilfe war besser als
nichts.
»Dein Lager leert sich langsam«, ergänzte Elena. »Bald ist Ostern, und
das Wetter wird besser. Was dann? Möchtest du riskieren, die Restaurants –
deine Kunden – zu enttäuschen, nur weil dir dein Stolz verbietet, Hilfe von
deiner eigenen Familie anzunehmen?«
»Das Lager ist voll genug.« Ferdie starrte seine Frau an. »Zumindest, um
uns über die nächsten Wochen zu bringen.«
Elenas Augen blitzten zornig auf. »Ich weiß sehr genau, wie unsere
Vorräte aussehen. Zwölf Eimer Himbeere, zehn Vanille, elf Schokolade und
acht Honig. Erdbeere, Salzkaramell und Schoko-Minze sind aus,
ausgerechnet die Sorten, die für die Restaurants und die Eisdiele am
wichtigsten sind.« Sie lehnte sich zurück und trank einen weiteren Schluck
Kaffee. »Du brauchst Ginas Hilfe, ob es dir gefällt oder nicht. Und du
solltest ihr Angebot lieber schnell annehmen, bevor sie ihre Meinung ändert
und nach London zurückfährt, weil sie glaubt, dass du sie nicht hierhaben
willst.«
Der letzte Satz wird ihn umstimmen, dachte Gina, während sie heimlich
das beinahe machiavellistische Genie ihrer Großmutter bewunderte.
Nonno sah noch immer wütend aus, aber sie sah ihm an, dass er wankte.
»Wir könnten endlich einmal mehr Zeit miteinander verbringen«, sagte sie
und riss bittend die Augen auf. »Bis Juni habe ich keine weiteren Termine.«
Was folgte, war ein langes Schweigen. Ginas Instinkt riet ihr, dass sie ihn
weiter überzeugen sollte, aber sie beschloss, sich an Nonna ein Beispiel zu
nehmen, ihren Kaffee zu trinken und abzuwarten.
Schließlich stieß Ferdie ein kurzes verärgertes Schnauben aus.
»Wahrscheinlich kann ein wenig Hilfe nicht schaden.«
Gina widerstand dem Drang, laut loszujubeln, als Elena nickte. »Nein,
natürlich nicht.«
»Du musst ganz genau das tun, was ich sage«, fuhr er mit einem
vielsagenden Blick auf Gina fort. »Meine Rezepte überdauern inzwischen
sechzig Jahre, sie müssen exakt befolgt werden. Ferrelli’s Gelato ist wie
eine Arie von Puccini – sie braucht keine Verbesserung und vor allem
niemanden, der daran herumpfuscht. Mein Eis ist perfekt, so wie es ist.«
Dieses Mal verkniff sich Gina das Lächeln nicht. Solange sie denken
konnte, stellte Ferrelli’s die gleichen Eissorten her, auch wenn nach einer
heimlichen Aktion von Elena letztes Weihnachten aus Karamell gesalzenes
Karamell geworden war. Gina hatte ihnen eine Packung schicken lassen,
worauf Elena sie umgehend gebeten hatte, fünf weitere zu besorgen, damit
sie Ferdie damit überzeugen konnte, seine Rezeptur zu ändern. Es war
sofort zu ihrer bestverkauften Sorte geworden.
»Kein Herumpfuschen«, versprach sie erleichtert, jetzt, da die Schlacht
gewonnen schien.
Elena beugte sich mit dem Teller Biscotti in der Hand zu ihr vor.
»Vielleicht ein ganz kleines bisschen«, raunte sie ihr mit einem
verschmitzten Grinsen zu. »Seit Jahren versuche ich ihn dazu zu bringen,
ein Rezept für Tiramisu zu entwickeln, aber bisher hat er sich geweigert.
Jetzt kannst du es für mich machen!«
Gina warf einen Blick zu ihrem Großvater hinüber, dessen
Gesichtsausdruck entschlossener wirkte als je zuvor, dann wieder zu ihrer
Nonna, und ihr rutschte das Herz in die Hose. Sie hatte sich getäuscht. Die
Schlacht war noch lange nicht gewonnen. Soweit sie es beurteilen konnte,
hatte sie gerade erst begonnen – und sie befand sich genau zwischen den
Fronten.
Kapitel Drei

Um kurz nach acht kehrte Gina, den Bauch voll mit Nonnas
Steinpilzrisotto, ins Hotel zurück.
Eine Weile stand sie auf dem Balkon, lauschte dem Rauschen des
Atlantiks, der in schäumenden Wellen gegen die Klippen des Strandes
unterhalb des Hotels krachte, und ließ den Wind durch ihre langen dunklen
Haare streichen. Die Luft war beinahe so beißend kalt, dass ihr der Atem
stockte, doch sie fühlte sich gleichzeitig so frisch und sauber an, dass Gina
nicht genug davon bekam, obwohl sie inzwischen bibberte. Als sie den
Blick Richtung Himmel hob, sah sie den Mond zwischen den dicken
Wolken am Himmel schimmern. Sein schwacher Schein tanzte auf den
Wellenkämmen.
Gina stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. Es war einige Zeit her, dass
sie sich London so fern gefühlt hatte, und das in mehr als einer Hinsicht.
Das Vibrieren ihres Handys unterbrach ihre Gedanken. Als sie einen Blick
darauf warf, sah sie Max’ Namen auf dem Display aufleuchten. Sie drehte
sich um, zog die gläsernen Schiebetüren auf und schlüpfte zurück in das
großzügige Schlafzimmer.
»Hallo Max, alles in Ordnung?«
»Ja, klar. Ich dachte, ich melde mich mal, um sicherzugehen, dass dich der
wilde Ferdie nicht bei lebendigem Leib verschlungen hat.«
Gina lachte. »Er ist nicht wild. Na ja, vielleicht ein kleines bisschen, aber
du weißt ja: Hunde die bellen, beißen nicht.«
»Ich weiß«, antwortete Max trocken. »Ich habe ihn kennengelernt,
erinnerst du dich? Und von dem Treffen habe ich gerade erst angefangen,
mich zu erholen. Manchmal habe ich immer noch Albträume, in denen er
vorkommt.« Seine Stimme klang warm, und Gina wusste, dass er lächelte.
»Und, wie ist das Hotel? Genauso toll, wie es sich angehört hat?«
Gina sah sich in ihrem luxuriösen Zimmer mit dem Kingsize-Bett, der
Samt-Chaiselongue und den gediegenen Lampenschirmen um. »Es ist
perfekt. Die Whirlpools habe ich mir noch nicht angesehen, aber ich habe
das dumpfe Gefühl, dass ich sie nach der heutigen Unterhaltung mit meinen
Großeltern gut gebrauchen kann.« Dann lieferte sie Max eine
Zusammenfassung zu Ferdies Reaktion auf ihr Hilfsangebot.
Nachdem sie geendet hatte, stieß Max ein ungläubiges Lachen aus. »Man
könnte meinen, du hättest ihm eine feindliche Übernahme angedroht, anstatt
ihm die Rettung aus einer potenziell katastrophalen Sackgasse anzubieten«,
sagte er. »Im Ernst, im Umgang mit deiner Familie braucht man mindestens
ein UN-Friedensmissions-Zertifikat.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Gina, auch wenn sie insgeheim zugeben
musste, dass er nicht ganz falsch lag. Einer der Gründe, aus denen sie die
Bitte ihrer Großmutter nicht hatte abschlagen können, war die Tatsache,
dass Ginas Mutter in der Vergangenheit so schrecklich mit Nonno
aneinandergeraten war, dass sie und Ginas Vater auf einen anderen
Kontinent gezogen waren, um ihm aus dem Weg zu gehen. »Streit gibt es in
jeder Familie.«
»Mhm«, murmelte er. »Und, wie sieht der Plan jetzt aus?«
Gina griff nach ihrem Glas mit Prosecco. »Morgen früh muss ich als
Erstes die Restaurants kontaktieren, um die Wogen zu glätten, die durch
Nonnos Unfall eventuell entstanden sind. Außerdem muss ich der
Ferrelli’s-Filiale im Palace Lichtspielhaus einen Besuch abstatten und mit
Gorran Dew, dem Besitzer, sprechen. Damit ich weiß, was in den nächsten
Wochen an Vorräten benötigt wird. Und …«
»Das kann unmöglich sein richtiger Name sein«, unterbrach sie Max.
»Klingt wie eine exotische Frucht.«
Sie rief sich das Gesicht des Kinobetreibers in Erinnerung, der sie immer
an eine rotwangige Ausgabe von Doc Brown aus Zurück in die Zukunft
erinnerte. »Sein Vor- und Nachname haben beide Tradition in Cornwall.
Der Stammbaum der Dews in Polwhipple reicht Jahrhunderte zurück. Und
an Gorran ist definitiv nichts Exotisches. ›Exzentrisch‹ wäre wohl die
richtigere Wortwahl.« Lächelnd schüttelte sie den Kopf, während sie sich
vorstellte, wie Gorran über der Lobby des altehrwürdigen Kinos im Art-
déco-Stil mit seinem Plüschteppich in Weinrot und dem üppigen
goldverzierten Dekor präsidierte. »Ich freue mich darauf, dem Kino mal
wieder einen Besuch abzustatten. Um genau zu sein, wird das eine richtige
Reise in die Vergangenheit. Ich frage mich, ob es immer noch möglich ist,
sich durch den Notausgang reinzuschleichen, um die Vorstellung umsonst
anzusehen.«
»Wann bist du das letzte Mal dort gewesen?«
»Vor Jahren. Als Teenager habe ich ganze Sommer dort verbracht. Da war
dieser eine Surfer, mit dem ich viel herumhing, und Nonno hat uns mit
Tonnen von Eiscreme versorgt, damit wir keinen Unsinn anstellen.«
»Hat es funktioniert?«
Sie lachte. »Nicht wirklich. Ich war Bonnie und Ben Clyde. Er war
derjenige, der mir den Trick mit dem Notausgang gezeigt hat.«
Gina hielt inne, als plötzlich ein Bild des fünfzehnjährigen Ben Pascoe in
ihrem Kopf auftauchte. Verstrubbelte blonde Haare und Sonnencreme im
Gesicht hatte er grinsend am Strand gestanden. Sommer auf Sommer war er
ihr bester Freund gewesen, und während ihres letzten Besuchs hatte es
sogar ein oder zwei Momente gegeben, in denen sie sich gefragt hatte, ob
da eventuell mehr zwischen ihnen war. Aber es war nichts weiter dabei
herausgekommen.
Sie spürte, wie ihre Wangen bei der Erinnerung warm wurden.
»Wahnsinn, es ist Jahre her, dass ich an ihn gedacht habe.«
»Lebt er noch in Polwhipple?« Max klang jetzt neugierig.
»Keine Ahnung«, antwortete Gina und schob das Bild von Ben energisch
beiseite. »Ich denke eher nicht. Sonst hätten ihn meine Großeltern mit
Sicherheit irgendwann mal erwähnt. In dieser Stadt geschieht nichts, ohne
dass die beiden etwas davon mitbekommen. Aber jetzt genug von meiner
bescheidenen kriminellen Vergangenheit. Wie war dein Tag?«
Sie hörte zu, während Max ihr von den Meetings berichtete, die er gehabt
hatte, und von dem neuen Vertrag über fünfundzwanzig Luxuswohnungen
in Battersea mit Blick über die Themse, den er unterzeichnet hatte.
»Kling, als seist du beschäftigt.«
»Bin ich. Aber nicht beschäftigt genug, um dich nicht zu vermissen.«
»Ha, ich wette, dir ist kaum aufgefallen, dass ich nicht in London bin.«
»Doch, das ist es«, sagte Max leise.
Gina stellte sich vor, wie er auf der Kante seines tadellos gemachten
Bettes saß, und auf einmal spürte sie eine plötzliche Welle von Heimweh
über sich hinwegrollen. »Es sind nur drei Monate. Im Ernst, ich werde
schneller zurück sein, als du denkst.«
»Ich weiß.« Er seufzte tief. »Aber das bedeutet nicht, dass du mir nicht
fehlen wirst.«
Seine Worte erfüllten sie mit einer bittersüßen Wärme. Es kam selten vor,
dass Max seine wahren Gefühle für sie so offen eingestand – auch wenn sie
nie daran zweifelte, was er für sie empfand. Es würde nicht leicht sein, so
lange von ihm und ihrem Leben in London getrennt zu sein, aber sie würde
genug zu tun haben, um gar nicht erst Heimweh zu bekommen – genau wie
Max, auch wenn sie es durchaus genoss, dass er sie vermisste.
Den ganzen restlichen Abend musste sie an ihn denken: während sie ein
Bad in der freistehenden Wanne nahm, und auch, während sie sich die
Haare abtrocknete und anschließend gedankenverloren durch die
zahlreichen TV-Kanäle zappte auf der Suche nach etwas, das sie ablenkte.
Der einzig passable Film war An Affair to Remember. Gina schlüpfte
zwischen die kühlen Laken und versuchte zunächst, nicht zu weinen an der
Stelle, als Cary Grant klar wird, warum Deborah Kerr ihn versetzt hat.
Dann aber gab sie es auf und schluchzte lauthals, ohne sich darum zu
kümmern, dass ihr Nase vermutlich knallrot war und ihre Augen
geschwollen waren.
Als der Film vorbei war, trocknete sie sich das Gesicht und machte sich
bettfertig. Ich wünschte, Max wäre hier, dachte sie, während sie im
Dunkeln lag und sich vom Rauschen des Meeres langsam in den Schlaf
lullen ließ. Und dann, gerade als ihr endgültig die Augen zugefallen waren,
tauchte ein weiterer Name in ihrem Kopf auf.
Ben Pascoe.
Ich muss Nonna unbedingt fragen, ob er noch in der Gegend lebt.
Ein müdes Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie in den Schlaf
abdriftete.

Ginas Hotel lag etwas mehr als anderthalb Meilen vom Strand in
Polwhipple entfernt. In London war sie es gewohnt, schon für weitaus
kürzere Strecken die U-Bahn zu nehmen, aber in Cornwall waren die
Optionen an öffentlichen Verkehrsmitteln deutlich limitiert. Für eine Fahrt,
die nicht länger als vier Minuten dauern konnte, kam es ihr nicht richtig vor,
ein Taxi zu nehmen, schon gar nicht an einem sonnigen Frühlingstag wie
diesem. Und einen Bus von Mawgan Porth nach Polwhipple gab es nicht.
Darüber hinaus war die Distanz durchaus zu Fuß zu bewältigen – laut
Google konnte sie den South West Coast Path an den Klippen entlang
nehmen.
Entschlossen, die Sonne und den Ausblick zu genießen, zog Gina ihren
Regenmantel und die brandneuen Wanderschuhe an und zog los.
Die Brise am Rand der Klippen war stärker, als sie vermutet hatte, aber
der Ausblick war es wert. Das Meer glitzerte im Vormittagslicht noch
tiefblauer, als sie es in Erinnerung hatte, und der Himmel schien um jeden
Preis mithalten zu wollen. Möwen kreisten über ihrem Kopf und kreischten
in den Wind.
Gina blieb stehen und ließ sich vom Wind die Haare ins Gesicht wehen.
»Ich habe das Gefühl, wir befinden uns nicht mehr in Kansas«, murmelte
sie mit einem zufriedenen Lächeln – sie fühlte sich tatsächlich ein wenig
wie Dorothy aus Der Zauberer von Oz, die plötzlich in einem
wundersamen, fremden Land gelandet war.
Während sie weiterspazierte, schoss sie Foto um Foto mit ihrer
Handykamera und nahm sich vor, die besten Bilder später auf ihrem
beruflichen Instagram-Account hochzuladen. Nur weil sie sich gerade nicht
in London aufhielt, war sie ja nicht völlig abgeschnitten von der Außenwelt,
und sie brauchte Kunden, sobald Nonno wieder auf den Beinen war.
Polwhipple hatte sich kein bisschen verändert. Es war ein verschlafenes
kleines Städtchen am Meer, eingebettet in eine felsige Bucht mit einem
goldenen Strand und einer Promenade mit einer Reihe sowohl reizender als
auch schrulliger Läden, die ihrer wundervollen Lage nie wirklich gerecht
wurden. Das Juwel in Polwhipples Krone war immer das Palace gewesen,
dessen geschwungene Art-déco-Fassade über die anderen Geschäfte am
Strand hinausragte. Gina konnte es bereits sehen, bevor sie die Promenade,
die sich den gesamten Strand entlangzog, erreichte. Und unter den riesigen
roten Lettern The Palace leuchtete das Schaufenster von Ferrelli’s Eiscreme
in allen Regenbogenfarben. Es war beinahe, als wäre die Zeit stehen
geblieben.
Doch als sie näher kam, runzelte Gina irritiert die Stirn. Das Palace hatte
sich verändert. Nun war zu erkennen, dass sich der weiße Anstrich der
Fassade gelblich verfärbt hatte und an vielen Stellen abblätterte, und
mehrere der vielen Glühbirnen, die den Schriftzug bei Nacht erleuchteten,
fehlten oder waren zerbrochen. Die Reihe rechteckiger Schaukästen, in
denen normalerweise Filmplakate hingen, die das laufende Programm
bewarben, waren leer. Gina wurde es schwer ums Herz. Wie es schien,
waren die letzten Jahre nicht spurlos am Palace vorbeigegangen. Was genau
trieb Gorran Dew da? Der einzige Lichtblick war das Ferrelli’s. Hinter dem
gläsernen Schiebefenster reihte sich eine cremige pastellfarbene Eiscreme-
Welle an die nächste. Ein Turm knuspriger, goldener Eiswaffeln lehnte sich
wie betrunken auf der Theke zu einer Seite, neben Gläsern mit
kunterbunten Streuseln standen eine Reihe Flaschen mit Schokoladensirup.
Und über all diesen Köstlichkeiten ragte Manda auf, die, seit Gina denken
konnte, für ihren Großvater arbeitete.
»Gina!«, rief die ältere Frau und schob das Glasfenster zur Theke auf,
bevor sie ihre blau-weiße Schürze glattzog. »Ich wusste gar nicht, dass du
in der Stadt bist.«
Gina lächelte. Manda musste Ende fünfzig sein, und ihre Bestimmung im
Leben schien darin zu bestehen, Polwhipples Bevölkerung mit Ferrelli’s
Eiscreme zu versorgen. »Sie ist wegen des Jobs gekommen und wegen der
Eiscreme geblieben«, hatte Ferdie Gina erklärt, als sie ihn einmal danach
gefragt hatte, wie er es schaffte, seine Mitarbeiterin jahrelang zu halten.
»Ich bin erst gestern angekommen«, sagte sie zu Manda. »Und ich werde
ein paar Monate bleiben. So lange, bis Nonno sich erholt hat.«
Manda hob überrascht die Augenbrauen. »Ach, wirklich? Und was hält
Ferdie von dem Plan?«
»Er hat es eingesehen«, antwortete Gina mit einem vielsagenden Blick auf
die Auslage hinter der schrägen Glasscheibe. »Selbst er kommt gegen das
Argument leerer Gefriertruhen nicht an.«
Manda griff nach einem Eisportionierer. »Was darf ich dir geben?
Erdbeer? Schokolade? Beides?«
Gina lief augenblicklich das Wasser im Mund zusammen, dennoch
schüttelte sie den Kopf. »Es ist noch ein bisschen früh für mich. Eigentlich
bin ich hier, um mit Gorran zu sprechen. Ist er schon da?«
»Er ist da«, sagte Manda und verzog die Lippen zu einem missbilligenden,
schmalen Strich. »Für was auch immer es gut sein soll.«
»Oh«, murmelte Gina. »Gibt es ein Problem?«
»Das wirst du dann schon selbst sehen«, antwortete Manda kryptisch.
»Die Tür ist auf.« Sie wandte den Kopf in Richtung einer gläsernen
Doppeltür mit silberfarbener Einfassung zu ihrer Linken.
Mit einem unguten Gefühl nickte Gina ihr zum Abschied zu und betrat
anschließend das Foyer.
Falls das überhaupt möglich war, wurde das Ausmaß des vernachlässigten
Zustands, in dem sich das Kino befand, hier noch deutlicher. Die weißen
Wände wirkten trüb und müde. Die goldenen Verzierungen, welche Säulen
und Decke zierten, blätterten ab. Und eine der silberfarbenen Flügeltüren,
die in den Kinosaal führten, schien nur noch lose in den Angeln zu hängen
und war mit Absperrband beklebt. Der wunderschöne rot-goldene Teppich,
den Gina so liebte, bedeckte noch immer den Boden, aber er war
schmuddelig und an mehreren Stellen durchgewetzt. Einige der Glühbirnen
in dem Kristallleuchter an der Decke mussten ausgetauscht werden, die
wenigen übrig gebliebenen verströmten nur gedämpftes Licht. Und die Bar,
die sich über eine komplette Wandseite erstreckte und an der früher mal die
Art elegante Cocktails ausgeschenkt worden war, von denen Gina als
Teenager nur hatte träumen können, war leer. Der gesamte Ort wirkte so
ungeliebt und verlassen, dass Gina gegen die Tränen ankämpfen musste.
»Traurig, nicht wahr?«
Manda lehnte im Rahmen der Hintertür des Ferrelli’s. Auch zum Foyer
hin gab es eine Theke, doch heute war sie leer. Vermutlich wurde dort nur
dann Eis verkauft, wenn ein Film gezeigt wurde, was Ginas Eindruck nach
bestimmt nur noch äußerst selten der Fall war.
»Wie konnte das passieren?«, fragte sie und schüttelte dabei ungläubig
den Kopf. »Das hier war mal so was wie eine Goldmine. Wie kann es so
schnell verfallen sein?«
Manda verschränkte die Arme vor der Brust. »Das musst du Mr. Drew
fragen. Das Eis verkauft sich nach wie vor gut – wir brauchen keine Filme,
um die Werbetrommel für unsere Marke zu rühren.«
Gina sah sich noch einmal um. »Wie oft gibt es denn überhaupt noch
Vorstellungen? Läuft heute Abend ein Film?«
Manda blickte nachdenklich zur Decke. »Am Donnerstag? Nein.
Normalerweise zeigt er am Wochenende den ein oder anderen Film, aber du
fragst ihn besser selbst, was morgen gespielt wird. Oder du wartest, bis er
das Plakat raushängt.«
»Dann wirbt er also immerhin noch für die Filme«, stellte Gina erleichtert
fest.
»Na ja, ich habe zwar Plakat gesagt«, fügte Manda hinzu, »aber im
Grunde ist es ein einfaches Blatt mit dem Namen des Films und der Uhrzeit
drauf. Ist ziemlich lange her, dass hier ein richtiges Filmposter hing.«
Gina ließ die Schultern hängen. Warum hatten ihr Nonna und Nonno nicht
erzählt, in welchem schlechten Zustand sich das Palace befand? So führte
man kein Geschäft. Erst recht keins, dass darauf angewiesen war, Besucher
mit seinem äußeren Erscheinungsbild anzulocken. Das Kino brauchte
Stammgäste und eine funktionierende Mund-zu-Mund-Propaganda anstelle
von unregelmäßigen Spielzeiten und billigem DINA-A4-Papier. Wenn sie
ihre eigenen Events auf diese Weise managen würde, wäre sie innerhalb
einer Woche pleite.
Gina kniff die Augen zusammen. Hatte Manda nicht gesagt, dass die
Eisdiele trotzdem gut lief? Vielleicht war ihren Großeltern deswegen gar
nicht in den Sinn gekommen, ihr vom Schicksal des Palace zu erzählen.
Strenggenommen war das Ganze schließlich dann nicht ihr Problem. Für sie
und Gina war allein wichtig, wie die Verkäufe im Ferrelli’s liefen.
»Wo kann ich Gorran finden?«
»Vielleicht im Büro. Oder im Vorführraum«, sagte Manda und deutete auf
eine schmale Tür an der Seite. »Viel Glück.«
Die Tür führte in einen schmalen Korridor, an dessen Ende sich eine kurze
Treppe befand.
»Gorran?«, rief Gina, als sie die Stufen hinaufstieg. »Mr. Drew? Sind Sie
hier?«
Am Ende der Treppe kamen mehrere Türen in Sicht, die im Gegensatz zu
den aufwendig verzierten im Foyer schlicht weiß waren.
Gina klopfte an die erste und lauschte, ob aus dem dahinterliegenden
Raum irgendwelche Geräusche drangen. »Hallo? Ist jemand hier?«
Keine Antwort. Sie ging zur nächsten Tür und klopfte wieder. Diesmal
lauter. »Hallo?«
Sie vernahm ein Rascheln, gefolgt von Schritten, dann wurde die Tür
geöffnet.
Vor ihr stand Gorran Dew. Die weißen Haare standen ihm noch wilder
vom Kopf ab, als Gina es in Erinnerung gehabt hatte.
»Ja? Wie kann ich Ihnen helfen?«
Sein kariertes Hemd war zerknittert, die eine Hälfte des Kragens nach
innen gedreht, und seine letzte Rasur musste einige Tage her sein. Gina
musste sich beherrschen, nicht zurückzuweichen.
»Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich, Mr. Dew. Ich bin
Gina Callaway, Ferdie Ferrellis Enkelin.«
Gorrans blaue Augen blitzten auf. Er streckte die Hand aus und begann,
Ginas Arm enthusiastisch auf und ab zu schütteln. »Natürlich! Du hast dich
ein klein wenig verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.« Er
ließ ihre Hand los, trat einen Schritt zurück und bat sie mit einer
ausholenden Geste einzutreten. »Möchtest du nicht reinkommen? Und sag
bitte Gorran zu mir.«
Gina spähte an ihm vorbei. Der Raum sah aus wie ein Büro. Auf einem
Schreibtisch stapelten sich Ordner und Papiere, mehrere braune Kartons
standen scheinbar willkürlich auf dem Fußboden verteilt.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Danke.«
Es gab lediglich eine Sitzgelegenheit, die nicht turmhoch mit Unterlagen
bedeckt war, ein Schreibtischstuhl aus Leder mit Rollen. Gorran bedeutete
ihr, darauf Platz zu nehmen, bevor er einen schwankenden Stapel Papier,
der vor allem aus Rechnungen und Quittungen zu bestehen schien, von
einem niedrigen Sofa auf den Boden beförderte. Der Stapel fiel um und riss
einen weiteren mit sich. Gina versuchte, nicht zusammenzuzucken.
»Also«, sagte Gorran und bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln.
»Was kann ich für dich tun?«
Gina räusperte sich. »Wie du sicher weißt, wird mein Großvater wegen
seines gebrochenen Beins mindestens einen Monat lang ausfallen. Bis er
sich wieder erholt hat, übernehme ich die Zügel.«
Gorran nickte. »Eine gute Idee. In seinem Alter sollte Ferdie es sowieso
ein wenig langsamer angehen lassen und nicht jede Stunde, die der Herr uns
gibt, arbeiten.« Er leckte sich nervös über die Lippen. »Nicht dass ich ihm
das jemals ins Gesicht sagen würde. Natürlich nicht.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Gina, um einen möglichst neutralen
Gesichtsausdruck bemüht. »Sehr weise von dir. Wie dem auch sei, ich
dachte, es wäre gut, wenn wir uns über deinen Spielplan unterhalten, damit
ich eine ungefähre Vorstellung habe, wie viel Eiscreme wir in den
kommenden Monaten für das Ferrelli’s benötigen.«
»Eine weitere gute Idee.« Gorran sah beeindruckt aus. »Was genau musst
du wissen?«
»Vielleicht fangen wir einfach mit diesem Wochenende an. Manda hat mir
erzählt, dass du morgen einen Film zeigst.«
»Richtig. Freitags und samstags kommen die meisten Leute. Manchmal
sind es … Ich weiß nicht genau, aber bestimmt um die zwanzig Kunden.«
Gina hätte beinahe laut aufgestöhnt. Es war also noch schlimmer, als sie
erwartet hatte. »Welcher Film läuft morgen Abend?«
Offensichtlich voller Vorfreude rieb er die Hände aneinander. »Oh, ein
Klassiker. Ein kaum bekanntes schwedisches Juwel. Betrachtungen einer
Taube über das Dasein.«
»Einer … Einer Taube?«, wiederholte Gina ungläubig. »Hast du gerade
gesagt, Betrachtungen einer Taube über das Dasein?«
»Stimmt genau«, bestätigte Gorran. »Das Ganze wird in einer Serie von
Tableaus gezeigt, sodass man jede einzelne Szene individuell in sich
aufnehmen kann.«
Gina blinzelte. »Das heißt, niemand bewegt sich?«
»Die Hintergrundkommentare sind auf Schwedisch, aber es gibt natürlich
Untertitel.« Gorran kicherte. »Es ist brillant, ehrlich. Ich bin mir sicher, dass
wir morgen eine Menge Besucher haben werden.«
Sie starrte ihn fassungslos an. »Bestimmt«, sagte sie in der Hoffnung,
weniger schwach zu klingen, als sie sich fühlte. »Und was wird am Samstag
gezeigt?«
Gorran seufzte. »Leider hab ich den anderen Indie-Film, den ich im Auge
hatte, nicht bekommen, deswegen habe ich einen aus dem Archiv
ausgesucht. Hast du schon mal von Footloose gehört?«
Gina richtete sich auf. Das klang schon ein wenig vielversprechender.
»Natürlich, ein großartiger Film. Kevin Bacon bringt jede Leinwand zum
Strahlen.«
Er schürzte zweifelnd die Lippen. »Nicht gerade das, was ich einen
Klassiker nennen würde, aber ich gehe davon aus, dass trotzdem ein paar
Leute kommen werden.« Er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen:
Was soll man machen?
Unfähig, sich eine Antwort abzuringen, die nicht vor Sarkasmus triefte,
hielt Gina lieber den Mund und ließ stattdessen den Blick durch das
chaotische Büro, über die welligen gelben Notizzettel an der Pinnwand und
die halb vollen Kaffeebecher auf dem Schreibtisch wandern. »Arbeitet
außer dir noch jemand im Kino?«
»Ja. Da wäre zum einen Tash, die den Projektor im Vorführraum bedient,
und Bruno kümmert sich um den Ticketverkauf. Du hast wahrscheinlich
gesehen, dass die Bar geschlossen ist – leider konnten wir die Kosten nicht
mehr stemmen. Alkohol ist teuer, und niemand schien mehr an einem Drink
interessiert zu sein.«
Gina dachte an die hell erleuchtete Bar, um die sich früher die Besucher
gedrängt hatten, und schluckte ein Seufzen hinunter. Nach zwei Stunden
schwedischem Tauben-Drama würde sie definitiv einen starken Drink
brauchen. Aber das Kino war nicht ihr Geschäft, ermahnte sie sich. Alles,
was für sie zählte, war die Eiscreme.
»Es wäre hilfreich, wenn ich einen Programmplan für die nächsten
Monate bekommen könnte. Ist das möglich?«
Gorran rieb sich das stoppelige Kinn. »Könnte ich vermutlich
zusammenstellen. Die Filme können sich im Nachhinein allerdings noch
ändern, je nachdem, was ich bekomme. Wäre das ein Problem?«
Eine der wichtigsten Fähigkeiten, die Gina im Laufe ihrer
Selbstständigkeit gelernt hatte, war zu wissen, wann man sich
zurücknehmen musste. »Lass uns ein Wochenende nach dem anderen
angehen«, schlug sie vor und zwang sich zu einem Lächeln. »Und vielleicht
sollte ich einfach mal selbst vorbeikommen, um zu sehen, wie es so läuft.
Um welche Uhrzeit startet Footloose am Samstag?«
»Das kommt darauf an, wann Tash sagt, dass sie anfangen will«, sagte
Gorran mit einem ermutigenden Lächeln. »Weißt du was, am besten schaust
du einfach am Samstagnachmittag rein und siehst auf dem Poster nach, das
ich dann schnell raushänge.«
Kapitel Vier

Manda bestand darauf, das Gina eine doppelte Portion Erdbeere nahm. »Du
siehst aus, als könntest du den Zucker gebrauchen.« Sie schüttelte besorgt
den Kopf. »Viele Leute, die mit Gorran gesprochen haben, machen
anschließend genau das gleiche Gesicht wie du jetzt gerade.«
»Danke«, sagte Gina, während sie zusah, wie Manda Eiscreme in eine
Waffel türmte, anschließend bunte Streusel darüberstreute und das Ganze
mit einer Karamellstange garnierte.
»Und untersteh dich, bezahlen zu wollen«, warnte sie, als Gina
automatisch in ihre Handtasche griff, um nach ihrem Portemonnaie zu
suchen. »Sieh es als Training. Solange man das Produkt nicht probiert hat,
kann man es auch nicht verkaufen.« Sie tätschelte ihren runden Bauch.
»Zumindest erzähle ich das immer meinem Mann.«
Gina lächelte. »Verstanden.«
Als sie an den Streuseln leckte, explodierte die Süße auf ihrer Zunge, doch
der Erdbeergeschmack darunter war fast schon herb. Ihre
Geschmacksnerven reagierten mit purer Begeisterung. Sie leckte noch
einmal an dem Eis. »Ich hatte ganz vergessen, wie gut es ist!«
Manda nickte. »Deswegen müssen wir uns auch nicht allzu viele Sorgen
machen, was Gorran Dew tut – solange es genug ist, dass das Palace nicht
endgültig schließt. Dein Großvater ist ein Eiscreme-Genie, und jeder hier
weiß das.«
Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und ließ den feuchten Sand,
den die Flut hinterlassen hatte, schimmern. Auf einmal verspürte Gin das
unbändige Bedürfnis danach, einen Spaziergang entlang der Küste zu
machen.
Sie schenkte Manda ein weiteres Lächeln. »Es war schön, dich
wiederzusehen. In den nächsten Monaten werden wir uns ganz sicher häufig
begegnen.«
Am Ende der Strandpromenade führte ein gewundener Pfad hinunter zum
Strand, doch Gina entschied sich für die schmale Steintreppe nicht weit
entfernt vom Kino. Der kurze Fußmarsch führte sie am Mermaid’s Tail Inn
mit seinem hübsch dekorierten Biergarten, der um diese Tageszeit noch leer
war, und am Ocean Pearl Bookshop vorbei – zwei von Ginas Lieblingsorten
in Polwhipple, als sie noch ein Teenager gewesen war. Daneben befand sich
allerdings ein Laden, den sie noch nicht kannte, und sie blieb einen Moment
stehen, um die bunte Auslage zu betrachten. Die Schaufensterpuppen sahen
aus, als wären sie geradewegs von der Leinwand des Palace hereinspaziert:
Eine trug ein Minikleid in der Mode der Sechziger und dazu kniehohe
Stiefel, eine andere einen Pelzmantel und -hut, von denen Gina inständig
hoffte, dass sie nicht echt waren, und die dritte ein Teekleid und einen
schicken Glockenhut, der eingehüllt in die Dampfwolke der historischen
Eisenbahn in Bodmin Parkway kein bisschen aus der Zeit gefallen gewirkt
hätte. Sie sah zu dem grau-rosafarbenen Schild über dem Schaufenster
hinauf: Carrie’s Speicher. Sie musste lächeln. Wer hätte gedachte, dass es
im verschlafenen Polwhipple mal eine Vintage-Boutique geben würde?
Sie riss sich von dem netten Schaufenster los, überquerte die Straße und
stieg die steilen Stufen hinunter. Der Strand war, abgesehen von einem
Mann, der mit seinem aufgedrehten Labrador durch die flachen Pfützen
tollte, völlig verlassen. Weiter draußen konnte Gina die Silhouette eines
Surfers erkennen, der auf den Wellenkämmen ritt. Der Strand in Polwhipple
war sehr viel ruhiger als der bekannte Surfspot ein Stück die Küste hinunter
in Newquay und weniger protzig als der berühmte Fistral Beach.
Sie fand ein Fleckchen trockenen Sand und setzte sich einen Moment,
um – nicht ohne Neid – den Surfer zu beobachten, der sein Board geschickt
in der Luft drehte. Sie hatte surfen lernen wollen, seit sie vor Jahren Ben
zum ersten Mal auf den Wellen hatte reiten sehen. Schon damals hatte sie
gefunden, dass es unglaublich cool aussah, und das tat sie noch heute.
Das Eis hatte sie fast aufgegessen. Sie hob das Hörnchen, um an der
Spitze zu knabbern und den letzten cremigen Rest herauszusaugen. Dann aß
sie die knusprige, mit Erdbeerstreuseln überzogene Waffel, bevor sie
zufrieden seufzte. Sie musste aufpassen, wie viel sie aß, entschied sie,
während sie sich die Lippen leckte – sonst würde sie zehn Kilo schwerer
nach London zurückkehren, als sie es verlassen hatte, vor allem wenn
Nonna ihren Plan durchzog.
Der Surfer war inzwischen näher gekommen. Das Board unter dem Arm
pflügte er durch das seichte Wasser. Als er dem Mann mit dem Labrador
begegnete, beugte er sich hinab, um den Hund zu streicheln, bevor er ein
paar Worte mit dessen Besitzer wechselte. Es musste jemand sein, der hier
lebte und viel surfen ging.
Sie beobachtete, wie der Surfer das Wasser von seinem Board schüttelte
und dann seinen Weg zum Strand hinauf fortsetzte. Er war groß und hatte
die typische Surferstatur. Keine Überraschung angesichts seiner
Fähigkeiten, die darauf schließen ließen, dass er den Sport regelmäßig
betrieb. Seine nasses Haar glänzte braun, doch sie ahnte, dass es in
trockenem Zustand eher blond war. Mit seinem kantigen Kinn und den
ausgeprägten Wangenknochen sah er ausnehmend gut aus.
Und dann begegnete sie seinem Blick und spürte, wie die Erkenntnis sie
durchzuckte. Sie kannte ihn! Der Surfer war der Mann vom Bahnsteig, der
ihr am Tag zuvor mit seinem Taschentuch ausgeholfen hatte.
Er blieb stehen, den Blick fest auf sie gerichtet, und Gina war klar, dass er
sie ebenfalls erkannt hatte. Dann setzte er sich wieder in Bewegung.
Diesmal ging er gezielt in ihre Richtung.
Gina stand auf. »So sieht man sich wieder«, rief sie ihm entgegen, als sie
davon ausgehen konnte, dass er sie hörte.
»Wie geht’s dem Auge?«, erkundigte er sich. »Es sieht besser aus.«
Sie lächelte. »Komplett genesen. Vielen Dank, dass Sie sich meiner
angenommen haben. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch mal
wiedersehen, deswegen habe ich auch leider Ihr Taschentuch nicht dabei.
Tut mir leid.«
Er tat ihre Entschuldigung mit einer wegwerfenden Geste ab. »Kein
Problem. Um ehrlich zu sein, hätte ich gerade sowieso keine Möglichkeit,
es irgendwo hinzustecken.«
Unwillkürlich ließ Gina den Blick über den eng sitzenden, nassen
Neoprenanzug und die definierten Muskeln darunter gleiten. Hastig zwang
sie sich, ihm wieder in die Augen zu schauen, während sie spürte, wie ihre
Wangen heiß wurden. »Das sehe ich.«
Kurz breitete sich Stille zwischen ihnen aus, bevor der Surfer fragte: »Sie
sind hier, um Urlaub zu machen?«
Gina legte den Kopf schräg, die Stirn leicht gerunzelt. Jetzt, da sie ihn aus
der Nähe betrachtete, hatte er etwas Vertrautes an sich, das nichts mit ihrer
Begegnung am Vortag zu tun hatte. »Nein«, sagte sie langsam. »Ich besuche
meine Familie. Als Jugendliche war ich häufig hier, und …«
Er riss die blauen Augen auf. »Gina? Du bist es, oder?«
Sie musterte ihn misstrauisch. »Ja, das bin ich. Kennen wir uns?«
Sein ganzes Gesicht strahlte, als er das Board mit der Spitze in den Sand
rammte. »Ich dachte gestern schon, dass ich dich irgendwoher kenne. Ich
bin’s, Ben. Ben Pascoe. Wir waren befreundet. Das ist natürlich Jahre her.
Erinnerst du dich nicht?«
Und auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und sie konnte
den Jungen in ihm sehen, mit dem sie als Jugendliche so viel Zeit verbracht
hatte. »Oh mein Gott! Ich hatte keine Ahnung, dass du immer noch hier
lebst.«
Er streckte die Hand aus, um ihre zu schütteln. »Nach der Schule bin ich
viel gereist und habe eine Weile in Australien gearbeitet, aber seit diesem
Jahr bin ich zurück, um mir hier mein eigenes Geschäft aufzubauen.«
Seine Finger waren warm und feucht und ein klein wenig rau. Gina war
überwältigt. Ben Pascoe. All die Sommer lang waren sie unzertrennlich
gewesen. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihm zufällig über
den Weg lief, und dann auch noch ausgerechnet auf einem Bahnsteig in
Bodmin Parkway? Noch einmal glitt ihr Blick über sein Gesicht. Es war so
eindeutig Ben! Wie konnte es sein, dass sie ihn nicht bereits am Bahnhof
wiedererkannt hatte? Aber natürlich war da die Tatsache gewesen, dass sie
was im Auge gehabt und kaum etwas gesehen hatte …
»Wie geht es deinen Großeltern?«, erkundigte sich Ben und ließ ihre Hand
los. »Wie es aussieht, laufen die Geschäfte im Ferrelli’s nach wie vor gut.«
Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Ortes.
Gina lächelte. »Das ist der Grund, warum ich hier bin. Nonno hat sich das
Bein gebrochen, und ich helfe aus.«
Ein Funkeln trat in Bens Augen. »Dann bleibst du ein paar Wochen?«
»Ein paar Monate«, korrigierte sie. »Um zu lernen, wie man Eiscreme
herstellt, und natürlich, um den berühmten Sonnenschein in Cornwall zu
genießen. Bevor ich dann irgendwann zurück in die reale Welt nach London
muss.«
»Verstehe. Ich habe das mit der realen Welt auch mal ausprobiert. Hat mir
nicht besonders gut gefallen.«
Gina lachte, als sie an ihren vollgepackten Terminkalender daheim dachte.
»Yep, es kann einen ziemlich fordern, vor allem im Vergleich mit
Polwhipple.«
Wieder schwiegen sie eine Weile, doch die Stille hatte nichts
Unangenehmes, sie fühlte sich im Gegenteil sogar beinahe vertraut an.
Ben rückte sein Board zurecht. »Wir sollten mal zusammen was trinken
gehen, um uns auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen.«
»Das wäre schön«, sagte Gina und spürte, wie eine seltsame, unbestimmte
Wärme von ihr Besitz ergriff. Hatte er schon immer diese Wirkung auf sie
gehabt? »Oh, ich weiß was! Wir gehen zusammen ins Palace. Am
Samstagabend läuft Footloose. Hast du Lust?«
Er lachte. »Das wäre wirklich mal eine Reise in die Vergangenheit. Aber
vielleicht sollten wir diesmal ein Ticket kaufen, anstatt uns
reinzuschleichen.«
Gina dachte an Gorran in seinem chaotischen Büro – es gab keine
Garantie, dass der Film laufen würde, aber für den Fall, dass er es nicht tat,
konnten sie immer noch auf einen Drink ins Mermaid’s Tail gehen.
»Okay. Wollen wir Nummern austauschen?«
»Klar.« Er deutete wieder auf seinen Neoprenanzug. »Allerdings musst du
mich anrufen. Ich habe kein Handy dabei, um deine Nummer
einzuspeichern.«
Dieses Mal gelang es Gina, ihren Blick fest auf sein Gesicht gerichtet zu
lassen. »Kein Problem.« Sie tippte die Ziffern ein, die er nannte, und
drückte dann auf Anrufen. »Erledigt. Warst du in letzter Zeit mal im
Palace?«
Ben schüttelte den Kopf. »Das letzte Mal als Teenager. Warum?«
Gina erlaubte sich ein verstohlenes Grinsen, als eine Taube nicht weit von
ihnen entfernt im Sand zu picken begann. »Kein bestimmter Grund. Lass es
mich so ausdrücken: Es scheint mir in der Filmauswahl ein wenig
willkürlich geworden zu sein. Ich bin auf jeden Fall froh, dass wir am
Samstag und nicht am Freitag hingehen.«

»Also, was weißt du über die Herstellung von Gelato?«


Die alte Molkerei duckte sich im Schatten des Wohnhauses ihrer
Großeltern. Ein Eiscreme-Tempel aus Edelstahl, in dessen Zentrum Gina an
einer Kücheninsel stand. Es gab einen mehrflammigen Gaskocher, und
hinter ihr befanden sich ein deckenhoher Kühlschrank, ein Gefrierraum
angefüllt mit den silbernen Behältnissen, in denen die Eiscreme im
Ferrelli’s angeboten wurde, und verschiedene verchromte Maschinen, deren
Nutzen sich Gina bisher nicht wirklich erschloss.
»Man braucht gewisse Fertigkeiten?«, riet sie vage.
Nonno schlug mit der flachen Hand auf die glänzende Arbeitsplatte – es
klang wie ein Mini-Donnerschlag. »Natürlich, sonst könnte sie schließlich
jeder herstellen. Was sind die wichtigsten Zutaten?«
Sie warf eine Blick über die Schulter auf den Kühlschrank, der bis oben
hin mit Milch, Sahne und Eiern von einem nahe gelegenen Bauernhof
gefüllt war. Sie brauchte keine Kochausbildung, um zu begreifen, warum.
Auf der Arbeitsfläche stand eine Schüssel, die mit etwas Weißem gefüllt
war. Sie nahm an, dass es sich um Zucker handelte. Andererseits, konnte es
wirklich so einfach sein?
»Äh … Milch, Zucker, Eier und Sahne?«
»Exakt.« Nonno sah zufrieden aus. »Keine künstlichen Zutaten. Perfektes,
frisches Gelato nach dem Rezept meiner Mutter.«
Gina kannte die Geschichte. Ferdie war 1957 aus Italien nach
Großbritannien gekommen – ohne Geld und ohne einen Plan, aber
entschlossen, sich ein besseres Leben zu ermöglichen. Er fand einen Job bei
der London Brick Factory in Bedford, träumte aber insgeheim von einer
Karriere als Koch. Dann lernte er Elena kennen, Tochter eines anderen
italienischen Immigranten. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ferdie lernte
kochen, indem er Rezepte aus einem Notizbuch seiner Mutter adaptierte,
und sparte seinen Lohn, bis er genug verdient hatte, um selbst einen kleinen
Laden zu eröffnen. Dann machte er Elena einen Antrag. Schließlich zogen
sie nach Cornwall, an den Ort, wo es Ferdies Überzeugung nach die beste
Milch im ganzen Land gab. Seitdem hatte er nie wieder zurückgeblickt.
»Was ist mit den verschiedenen Geschmacksrichtungen?« Gina dachte an
das herb-säuerliche Erdbeereis, das sie am Vormittag gegessen hatte. Wie
kam Nonno um diese Jahreszeit an Erdbeeren, die so fruchtig und saftig
waren?
»Ebenfalls nur frische Zutaten. In der Nähe von Padstow gibt es einen
Obstbauern, der uns das ganze Jahr über mit allem beliefert, was wir
brauchen.« Ferdie war nicht entgangen, wie nervös Gina die verschiedenen
Geräte in der Küche musterte. »Keine Sorge, ich erwarte nicht, dass du
sofort verstehst, wie die Pasteurisieranlage oder die Gefriermaschine
funktionieren. Du wirst sehr viel kleiner anfangen. Nimm dir einen von den
Stieltöpfen da unter der Anrichte.«
Gina hob einen schweren Topf mit Kupferboden vom Regal und stellte ihn
auf einen der Gasbrenner.
»Heute wirst du lernen, wie du deine eigene Eiscreme machst, und zwar
vom ersten bis zum letzten Schritt, genau wie Generationen von Italienern
vor dir«, erklärte Ferdie. »Auch wenn ich nicht darauf bestehen werde, dass
du sie wie damals mit einem Holzlöffel schlägst. Ich bin ja kein
Unmensch.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und zeigte auf den
Kühlschrank. »Das meiste, was du brauchst, findest du da drin, und der
Zucker steht vor dir.«
Nachdem Gina alle Zutaten zusammengesucht hatte, fuhr Ferdie mit
seinen Instruktionen fort. Sie erwärmte die Milch und eine kleine Menge
Sahne im Topf, trennte dann das Eigelb vom Eiweiß und füllte Ersteres
anschließend zusammen mit dem Zucker in einen glänzend roten Mixer.
Dort wurde beides geschlagen, bis es sich zu einer dicken, cremigen Masse
verbunden hatte.
»Jetzt kommt der schwierige Teil«, erläuterte Ferdie weiter. »Du musst die
heiße Milch zum Ei geben, um eine Creme herzustellen. Wenn du es zu
schnell machst, hast du am Ende Rührei anstelle von Eis.«
Unter seinem kritischen Blick gab Gina die Milch löffelweise zu der Eier-
Zucker-Masse, ohne aufzuhören zu rühren. Sobald alles vermischt war,
füllte sie die Masse wieder in den Stieltopf und erhitzte sie langsam.
Ferdie schraubte ein Glas auf und nahm etwas heraus, das aussah wie ein
getrockneter kurzer Ast. »Das hier ist eine Vanilleschote. Schlitz sie der
Länge nach auf und gib sie mit in den Topf. Dann musst du so lange rühren,
bis die Masse am Löffel hängen bleibt, aber du musst aufpassen, dass sie
nicht anfängt zu kleben. Dann brennt sie nämlich an und schmeckt wie das
Innere eines Schuhs.«
Grinsend konzentrierte sich Gina wieder aufs Umrühren. Es hatte etwas
Beruhigendes, sich voll und ganz aufs Kochen zu fokussieren, dachte Gina,
während sie beobachtete, wie sich die Masse langsam verdickte. Dabei
vergaß sie allerdings nicht, dass Nonno sie keine Sekunde aus den Augen
ließ. Sie konnte es sich nicht leisten, das hier zu versauen – sonst würde er
sie nie wieder in die Molkerei lassen.
»Und jetzt muss die Masse ruhen«, verkündete Ferdie. »Füll sie in eine
Schüssel und lass sie bei Raumtemperatur abkühlen. Danach kommt sie für
mehrere Stunden – oder sogar über Nacht – in den Kühlschrank.«
Gina machte ein enttäuschtes Gesicht. »Dann kann ich es erst morgen
probieren?«
Er funkelte sie an. »Gelato braucht Zeit. Aber es ist eine gute Idee, die
Creme zu probieren, damit du weißt, wie sie in jedem Stadium schmecken
sollte.«
Sie steckte einen Löffel in die Mixtur und pustete anschließend darauf, um
sie abzukühlen. Es schmeckte köstlich und erinnerte sie an den
Apfelkuchen mit Vanillesoße, den ihre Mutter immer gemacht hatte.
»Wow.«
Ferdie nickte zufrieden. »Da ich weiß, dass du ungeduldig bist … Sieh
mal in den Kühlschrank, da steht eine identische Schüssel drin mit Creme,
die ich heute Morgen gemacht habe. Die darfst du jetzt zu Eiscreme
verarbeiten.«
Gina nahm die randvolle Schüssel aus dem Kühlschrank. Ferdie ließ sie
die Vanilleschote herausfischen und die Masse anschließend durchsieben.
»Und jetzt kommt die Zauberei«, sagte er und deutete auf eine eher kleine
Eismaschine. »Die benutze ich, wenn ich ein neues Rezept ausprobiere und
nur eine kleine Menge herstellen möchte. Die Schüssel steht seit Stunden
im Gefrierschrank – sobald du die Creme hineinfüllst, wälzt die Maschine
sie immer wieder herum, und die Mixtur wird kälter und kälter, bis sie
beinahe gefroren ist.«
»Könnte man die Creme nicht einfach so einfrieren?«, fragte Gina mit
gerunzelter Stirn.
»Nein!« Ferdie machte ein Gesicht, als hätte sie ihm eine Ohrfeige
verpasst. »Dann würden sich Eiskristalle bilden, und deine Eiscreme würde
nur nach Wasser schmecken.«
Die Maschine nahm ihre Arbeit auf. Fasziniert beobachtete Gina, wie die
Masse immer dickflüssiger wurde, bis sie irgendwann schon sehr viel mehr
Ähnlichkeit mit dem Eis hatte, das sie am Morgen bei Ferrelli’s in der
Auslage gesehen hatte.
»Nun verstehst du langsam, wie Gelato gemacht wird«, sagte Ferdie.
»Hiermit beginnt die wirklich harte Arbeit. Dieses Mal stellst du die Creme
ohne meine Hilfe her.« Er ging zur Tür. »Die Mengenangaben findest du da
drüben an der Wand. Du musst sie anpassen, um kleinere Portionen zu
machen. Die Zutaten sind ebenfalls alle hier. Du hast dreißig Minuten.« Mit
einem letzten Nicken wandte er sich ab und ging hinaus. Die Tür fiel mit
einem Krachen hinter ihm ins Schloss.
Gina sah ihm einen Moment nach, bevor sie die Schultern straffte. Das
war ein Test. Alles, was sie tun musste, war exakt das zu wiederholen, was
sie gerade schon einmal gemacht hatte. Sie konnte das, immerhin war das
hier nur Eiscreme. Verglichen mit dem Managen einer großen Firma würde
es der reinste Spaziergang werden.
Nach einem Blick auf die Mengenangaben stellte Gina abermals die
Zutaten zusammen. Das Glas mit Zucker war leer. Sie öffnete sämtliche
Schränke, bis sie eine große Packung gefunden hatte, und trug sie rüber zur
Waage. Dann begann sie mit dem Zusammenrühren der Mixtur.
Es lief gut – bis eines der Eigelbe zerfloss. Sie holte tief Luft, wusch sich
die Hände und versuchte es von Neuem. Vorsichtig balancierte sie jedes
Eigelb von einer Hälfte der Schale in die andere, bis sie sie sauber von
sämtlichem Eiweiß getrennt hatte. Dann gab sie den Zucker hinzu und
startete den Mixer. Die Warnung ihres Großvaters bezüglich der Rühreier
im Hinterkopf, nahm sie sich Zeit, die heiße Milch hinzuzufügen, dann
füllte sie die Mischung zurück in den Stieltopf und gab eine Vanilleschote
hinzu.
Die Masse hatte gerade angefangen, sich zu verdicken, als Nonno
zurückkam. »Mal sehen, wie du dich geschlagen hast«, sagte er und spähte
in den Topf. Dann nahm er den Löffel heraus und inspizierte die Rückseite.
»Die Konsistenz ist nicht schlecht, auch wenn die Creme nicht ganz so gut
am Löffel hängen bleibt, wie sie sollte.«
Gina verspürte einen Anflug von Panik. Sie hatte die Instruktionen bis ins
letzte Detail befolgt. »Vielleicht dauert es noch ein wenig. Hast du nicht
selbst gesagt, dass Gelato Zeit braucht?«
»Das habe ich. Das Ergebnis lässt sich am besten am Geschmack
ablesen.« Er hob den Löffel und nippte daran. Der Löffel bewegte sich
keinen Zentimeter, als er angewidert die Lippen verzog. Er sah Gina in die
Augen. »Du hast die gleichen Zutaten wie beim ersten Mal verwendet?«
Sie nickte. Die Panik verstärkte sich. »Bis auf den Zucker. Das Glas hier
war leer, aber ich habe welchen in einem der Schränke neben dem Ofen
gefunden.«
Ferdie ließ den Löffel sinken und tupfte sich den Mund mit einem
Taschentuch ab. »Zeig mir die Packung.«
Sie ging zu dem Schrank hinüber.
»Und du hast angenommen, das sei Zucker? Du hast es nicht überprüft?«
Gina starrte ihn verwirrt an. »Was sollte es sonst sein?«
Ferdie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … Salz vielleicht?«
Sie spürte, wie ihre Wangen in Flammen aufgingen, als sie einen weiteren
Blick auf die weißen Kristalle warf. Sie sahen aus wie Zucker; es war ihr
keine Sekunde in den Sinn gekommen, dass es sich um etwas anderes
handeln könnte. Davon abgesehen, warum hätte Nonno einen ganzen
Behälter mit Salz in seiner Küche herumstehen haben sollen, das noch nicht
mal als solches gekennzeichnet war? Wahrscheinlich ein Versehen, das
sich …
Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.
»Du hast mich reingelegt!«, rief sie entrüstet. »Du hast das Salz extra da
reingefüllt, weil du wusstest, dass ich es nicht probieren würde.«
Ferdie war von ihrer Anschuldigung völlig unbeeindruckt. »Die erste
Regel in der Küche lautet: Prüfe immer deine Zutaten.«
»Die Regel hast du dir gerade ausgedacht. Du wolltest, dass ich einen
Fehler mache, also hast du dafür gesorgt, dass ich es auch tue.«
Er zuckte mit den Schultern. »Aber es wird dir nie wieder passieren, oder?
In Zukunft wirst du jedes Mal überprüfen, ob du auch wirklich die richtigen
Zutaten hast.«
Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn jedoch
unverrichteter Dinge wieder. Weil er recht hatte. Beim nächsten Mal würde
sie alles auf jeden Fall überprüfen.
»Der Unterricht ist für heute beendet«, verkündete Ferdie. »Morgen früh
um sieben treffen wir uns wieder hier.«
Gina ließ die Schultern hängen. »Okay, Nonno.«
Ferdies Gesichtsausdruck wurde ein wenig weicher. »Du hast deine Sache
heute gut gemacht. Mal abgesehen von der Sache mit dem Salz.«
Seufzend schüttete Gina ihre salzige Creme in den Ausguss und spülte
alles ab. Sie wünschte, Nonno hätte sie nicht gleich am ersten Tag
dermaßen auf die Nase fallen lassen. Aber wie es aussah, konnte es ab jetzt
nur besser laufen. Oder etwa nicht?
Kapitel Fünf

Beim Abendessen regte sich Nonna schrecklich darüber auf, dass Ferdie
seine Enkelin reingelegt hatte, und sandte eine ganze Salve an italienischen
Sätzen über den Esstisch, von denen Gina vermutete, dass sie eine Reihe
saftiger Schimpfwörter enthielten.
Doch Ferdie beharrte darauf, dass es eine Lektion gewesen war, die Gina
hatte lernen müssen.
»Das ist das Lächerlichste, was ich jemals gehört habe!«, rief Nonna und
warf dabei theatralisch die Hände in die Luft. »Nur ein idiota würde Zucker
und Salz in unbeschrifteten Gefäßen aufbewahren. Du wärst es, der eine
Lektion lernt, wenn Gina auf der Stelle ihre Sachen packt und nach London
zurückfährt.«
»Nonna, ist schon okay«, versuchte Gina sie zu beruhigen. »Es ist
schließlich nichts Schlimmes passiert.«
Elena musterte ihren Mann mit vor Zorn funkelnden Augen. »Wenn ich
herausfinden sollte, dass du versuchst, Gina zu vertreiben, dann …«
»Natürlich möchte ich sie nicht vertreiben«, sagte Ferdie. »Und Gina
versteht das, oder nicht? Das Ganze war eine Art Aufnahmeprüfung. Eine
Erfahrung, aus der sie lernen kann.«
»Das Mädchen kann lesen«, bemerkte Elena in vernichtendem Tonfall.
»Ich bezweifle, dass sie Zucker und Salz verwechseln würde, wenn sie
korrekt gekennzeichnet sind.«
»Genug jetzt«, knurrte Ferdie. »Es ist geschehen. Vorbei. Und morgen
werde ich ihr all meine Geheimnisse verraten, okay?«
»Das will ich dir auch geraten haben«, warnte Elena. »Sonst könnte es
sein, dass ich demnächst Salz und Zucker in deinem Espresso verwechsle.«

Als Gina früh am nächsten Morgen in der Molkerei eintraf, wartete Nonno
bereits auf sie.
Er verbrachte mehrere Stunden damit, ihr zu zeigen, wie der Basiscreme
verschiedene Geschmacksrichtungen zugefügt wurden, und ermunterte sie
immer wieder zu probieren und mit den Zutaten zu experimentieren, um zu
verstehen, wie die verschiedenen Aromen miteinander reagierten.
Am Nachmittag brachte er ihr bei, wie die Maschinen funktionierten. Eine
war zum Pasteurisieren der Zutaten da, damit sie die gesetzlichen Auflagen
für Lebensmittel erfüllten, eine andere erhitzte und rührte abwechselnd die
Masse, bevor sie in die traditionellen neapolitanischen Bottiche aus
Edelstahl umgefüllt wurde, die Eishersteller und Eisdielen rund um den
ganzen Globus verwendeten.
Am Ende des Tages drehte sich in Ginas Kopf alles, aber sie verstand nun
viel besser, was es bedeutete, Gelato herzustellen.
»Hast du je daran gedacht, auch mal andere Sorten auszuprobieren?«,
fragte sie Ferdie, als sie die Arbeitsfläche sauber wischte. »In London gibt
es eine Eisdiele, die …«
»Nein«, unterbrach Ferdie sie. »Es hat Jahre gedauert, bis ich meine
Rezepte perfektioniert habe, und das Ergebnis verkauft sich sehr gut. Es
besteht kein Grund, die Dinge mit neuen, experimentellen
Geschmacksrichtungen zu verkomplizieren.«
Gina dachte an Nonnas Plan, an Ferdies Rezepten herumzuschrauben.
»Aber gilt das auch für traditionelle italienische Rezepte, die sich gut als
Eiscreme machen würden? Ich weiß nicht … Tiramisu vielleicht? Ich wette,
deine Kunden fänden es toll, eine neue Sorte zu probieren.«
Ferdies Augen funkelten wütend. »Sie mögen die Sorten, die wir
anbieten.«
»Woher weißt du das? Hast du sie jemals gefragt?«
»Nein. Die Leute sind Idioten – sie wissen nicht, was sie wollen. Bevor
man sich versieht, wünschen sie sich plötzlich Speckeis oder eine Sorte mit
dem Namen Rosa-Schweine-Schweinchen.« Er schnaubte. »Wie gesagt,
Idioten.«
Gina holte tief Luft und versuchte es anders. »Hättest du keine Lust auf
eine neue Herausforderung, Nonno?«
Seine Miene verdüsterte sich noch mehr. »Nein.«
Aus Erfahrung wusste Gina, wann sie sich angesichts Nonnos
Temperament geschlagen geben musste; dies war definitiv der Zeitpunkt,
die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen. Abgesehen davon sah er müde
aus. Einen ganzen Tag damit zu verbringen, ihr die Herstellung von
Eiscreme zu erklären, war nicht gerade das, was man landläufig unter
Ausruhen verstand.
»Warum überlässt du das Saubermachen nicht mir?«, schlug sie lächelnd
vor. »Ruh dich ein wenig aus.«
Er musterte sie misstrauisch. »Nur wenn du mir versprichst, kein Eis mit
Curry-Geschmack auszuprobieren, kaum dass ich dir den Rücken
zuwende.«
Sie lachte. »Ich weiß, dass ich noch viel zu lernen habe. Ich würde es
nicht mal wagen, eine weitere salzige Vanillecreme herzustellen.«

Den Samstagmorgen verbrachte Gina zum Großteil damit, sich Apartments


anzusehen, und entschied sich letztendlich für eins in einer luxuriösen
Ferienanlage am Rand von Mawgan Porth. Das war nah genug an
Polwhipple, um es unproblematisch erreichen zu können, und gleichzeitig
weit genug vom Haus ihrer Großeltern entfernt, um sich nicht gegenseitig
auf die Füße zu treten. Sie unterzeichnete einen Vertrag für eine
Dreimonatsmiete, wobei sie sich beim Anblick der Kosten bemühte, nicht
allzu sehr zusammenzuzucken. Immerhin hatte ihr vorübergehendes
Zuhause den Vorteil, voll möbliert zu sein – bis zur Kaffeekapselmaschine,
die niemals zum Einsatz kommen würde, hatte es alles, was man brauchte.
Nonna verwendete ausschließlich frisch gemahlene Bohnen für ihren
Kaffee, und Gina hätte das Gefühl gehabt, sie zu hintergehen, hätte sie es
gewagt, auch nur eine der Aluminiumkapseln in die Maschine zu schieben.
Doch am Ende war es in erster Linie die Aussicht gewesen, wegen der
sich Gina für das Apartment entschieden hatte. In den letzten Tagen hatte
sie sich daran gewöhnt, mit dem Rauschen des Meeres vor ihrem
Hotelzimmer aufzuwachen, und sie wollte so nah am Wasser bleiben wie
möglich. Aus der Wohnung, vor der eine steile Treppe die Klippen
hinunterführte, konnte sie von ihrem Balkon aus beobachten, wie die Flut
ans Ufer rollte und die Surfer auf den Wellenkämmen ritten. Sie glaubte
nicht, dass sie Ben erkennen würde, wenn er zum Surfen hierherkam, aber
das hielt sie nicht davon ab, nach ihm Ausschau zu halten.
Seit ihrem Treffen am Strand ertappte sie sich immer wieder dabei, wie
ihre Gedanken zu ihm wanderten. Ihr Wiedersehen hatte jede Menge
Erinnerungen wachgerufen, sodass sie sich sogar an einzelne
Unterhaltungen, vor allem aber an den ganzen Unsinn erinnerte, den sie
zusammen angestellt hatten. Einmal hatte sie heimlich etwas von Nonnas
Limoncello mit an den Strand genommen, um sich mit Ben zu betrinken –
ein Plan, der in der Sekunde ein Ende fand, in der sie den ersten Schluck
probierten. Und dann war da noch die Sache mit den Rollschuhen gewesen.
Ben hatte sie davon überzeugt, dass er wusste, wie man fuhr, und ihr seine
geliehen – was mit einem Ausflug in die Notaufnahme geendet hatte. Doch
vor allem erinnerte sie sich daran, wie sie zusammen gelacht hatten. Ein
Lachen, bei dem sie sich gebogen und verzweifelt nach Luft geschnappt
hatten. Sie waren deswegen bei mehr als einer Gelegenheit aus dem Palace
geworfen worden, weil sich andere Kinobesucher über sie beschwert hatten.
Wenn sie ehrlich war, hatte es in erster Linie an Ben gelegen, dass sie
jeden Sommer in Polwhipple hatte verbringen wollen, bis ihre Eltern
entschieden hatten, nach Los Angeles und damit außer Reichweite von
Cornwall zu ziehen. Damals, ohne Facebook und Smartphones, war es sehr
viel schwieriger gewesen, auf solch große Entfernung den Kontakt zu
halten, und mit der Zeit hatte sie ihre Freundschaft vergessen.
Nach einem kurzen Ausflug nach Newquay mit dem babyblauen Fiat ihrer
Großmutter, um sich mit dem Nötigsten einzudecken, spazierte Gina nach
Polwhipple. Die Sonne schien gerade stark genug, um der kühlen Märzluft
ihre Schärfe zu nehmen, und einige besonders hartgesottene Familien
bauten am Strand Sandburgen. Als sie eine Gruppe junger Leute mit
Eiscremetüten von Ferrelli’s sah, lächelte sie; vielleicht würden sie schon
bald eine Sorte probieren, die sie gemacht hatte.
Carrie’s Speicher hatte geöffnet. Einmal mehr blieb Gina vor dem
Schaufenster stehen und bewunderte eine Vintage-Lederhandtasche,
während mehrere Kunden kamen und gingen. Ganz bestimmt würde sie
auch schon bald in dem Laden stöbern, aber jetzt musste sie erst mal zum
Palace.
Als Gina beim Kino ankam, um nachzusehen, welcher Film für den
Abend angekündigt war, stand an Stelle von Manda ihre Kollegin Heather
hinter der Theke, eine alleinerziehende Mutter Mitte vierzig, die am
Wochenende ihren Sohn mit zur Arbeit brachte. Gina sah ihn in einer der
hinteren Ecken sitzen, sein Blick klebte förmlich am Display eines iPads.
Sie winkte Heather nun nur flüchtig über die Köpfe der in der Schlange
wartenden Kunden zu; Manda hatte sie ohne jeden Zweifel über die
Neuigkeiten aufgeklärt, und in den kommenden Wochen hatte sie noch
mehr als genug Zeit, sich mit Nonnos Mitarbeitern auszutauschen.
An der Flügeltür des Palace klebte ein DIN-A4-Blatt, genau wie Manda es
erzählt hatte. Es hielt das absolute Minimum an Informationen bereit: den
Namen des Films, die Altersbeschränkung und die Uhrzeit. Gina verzog das
Gesicht. Die Ankündigung erfüllte ihren Zweck, aber Werbung sah
eindeutig anders aus.
Sie tippte eine Nachricht in ihr Handy und schickte sie an Ben.

Footloose läuft um halb neun. Wollen wir uns um viertel nach acht
vor dem Kino treffen? Gina

Ein paar Minuten später leuchtete ihr Bildschirm auf.

Wir sehen uns dort. Soll ich den Limoncello mitbringen oder machst
du das? Ben

Gina tippte eine Antwort.

Igitt, ich habe immer noch den Geschmack auf der Zunge. Wie wäre
es, wenn wir es bei Eis belassen?

Deal! Bis später.

Lächelnd ließ Gina das Handy zurück in die Tasche gleiten und machte sich
auf den Weg zu ihrem Apartment. Sie freute sich auf den Film, und das
trotz des traurigen Zustands, in dem sich das Kino befand. So oder so würde
es eine denkwürdige Nacht werden, in der sie nach all den Jahren mal
wieder einen Film im Palace sah.

Was Gina als Erstes auffiel, als sie sich am Abend dem Kino näherte, war,
dass sie sich wegen des Schriftzugs nicht getäuscht hatte – mehrere
Glühbirnen fehlten. Das Zweite war Ben in einem schwarzen Wollmantel
und Schal.
Als er sie erblickte, lächelte er. »Liegt das nur an mir, oder ist das Ganze
ein wenig seltsam?«
Gina wollte sein Lächeln gerade erwidern, als ihr plötzlich bewusst
wurde, dass sie sich bis zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges Mal gefragt
hatte, ob er eventuell eine Freundin hatte. Jemand mit seinem Aussehen
konnte unmöglich Single sein, oder? Andererseits fand sie es kein bisschen
seltsam, mit einem alten Freund ins Kino zu gehen, es war schließlich kein
Date.
»Inwiefern?«, fragte sie also.
»Auf eine Zurück-in-die-Vergangenheit-Weise seltsam. Wie in einem
dieser Träume, wenn alles so scheint, wie es ist, und doch ganz anders ist.
Verstehst du, was ich meine?« Er hielt inne und schüttelte leicht den Kopf.
»Sorry, ich rede Quatsch. Es war ein langer Tag.«
Dann hielt er ihre Verabredung also auch nicht für ein Date, registrierte
Gina.
»Ja, ich glaube, ich verstehe«, sagte sie langsam. »Und ich denke in
gewisser Weise ist es genau das, was passiert ist. Wir sind gerade dabei,
etwas miteinander zu unternehmen, was wir früher ständig zusammen
gemacht haben, nur dass wir inzwischen nicht mehr dieselben Menschen
sind.«
Ben dachte einen Moment über ihre Worte nach. »Und da hätten wir den
Beweis, dass wir uns verändert haben – ich bin mir ziemlich sicher, dass
sich unsere Teenager-Ichs niemals Gedanken über so etwas gemacht haben.
Erinnerst du dich an unseren Wettkampf, wer es am längsten schafft, eine
Schokokugel mit Pusten in der Luft zu halten?«
Gina grinste. »Mir ist einer in der Kehle stecken geblieben, und ich
dachte, ich müsste sterben.«
»Und irgend so ein schmieriger Typ aus Newquay hat dir angeboten, dir
den Kuss deines Lebens zu geben.«
»Iiih!« Gina schauderte. »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine der
Erinnerungen ist, die ich noch einmal durchleben möchte.«
Jetzt war es an Ben zu grinsen. »Die guten alten Zeiten.«
Sein Lächeln war ansteckend, und so standen sie sich einen Augenblick
strahlend gegenüber, bis Gina bemerkte, dass Manda sie mit unverhohlener
Neugierde von der Theke des Ferrelli’s aus beobachtete.
»Lust auf ein Eis?«, fragte Gina.
»Klar. Es wäre ja schon fast unhöflich, keins zu kaufen, oder?«
Manda stellte keine unangenehmen Fragen, aber Gina entging nicht, wie
sie zwischen Ben und ihr hin und her sah. »Ich hatte ganz vergessen, dass
ihr zwei befreundet gewesen seid«, sagte sie dann schlicht, während sie
Eiscreme in zwei Pappbecherchen türmte.
»Wir sind uns am Strand zufällig in die Arme gelaufen«, erklärte Gina.
»Und ich dachte, es wäre schön, sich um der guten alten Zeiten willen
zusammen einen Film anzusehen.«
»Mhm«, murmelte Manda und nickte. »Das ist natürlich netter, als ganz
allein in einem leeren Kinosaal zu sitzen.«
Gina starrte sie an. »Wir sind doch nicht die Einzigen, oder?«
Manda zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt habe ich niemand anderen
reingehen sehen. Heather hat erzählt, dass gestern Abend kein einziger
Besucher da war. Allerdings ging es auch anderthalb Stunden zu spät los.«
Gina verkniff sich ein genervtes Stöhnen. »Im Ernst, wie will Gorran Geld
mit diesem Laden verdienen, wenn er das Geschäft so schlecht führt? Vor
einiger Zeit war ich in einem wahnsinnig schönen, kleinen und
unabhängigen Kino in London, genau wie das hier, und es schien die reinste
Goldmine zu sein.«
»Aber das ist London«, stellte Manda fest. »Die Leute in Polwhipple
betrachten das Palace mehr als eine Art Witz, vor allem wenn man
inzwischen fast alle Filme mit einem Klick zu Hause ansehen kann. Darum
führt Gorran auch diese verwirrenden Arthouse-Filme vor – er behauptet,
dass man die Menschen eher mit etwas vom Sofa holt, das sie zu Hause
nicht bekommen können.«
Gina musste zugeben, dass er damit vermutlich nicht ganz unrecht hatte,
dennoch waren schwedische Tauben ganz bestimmt nicht der
Kassenschlager, den er bitter nötig hatte. »Na ja, seine Filmauswahl für
gestern Abend war definitiv ungewöhnlich. Er muss den Leuten etwas
anderes bieten, ein Ausgeherlebnis, ein Event. Zum Beispiel der Film heute
Abend. Footloose. Er hätte das Ganze als schicke Cocktailparty inszenieren
können, mit Aperitifs im Foyer und einer Achtzigerjahre-Playlist.«
Manda machte ein skeptisches Gesicht. »Abgesehen davon, dass die Bar
geschlossen ist.«
Gina ignorierte ihren Einwand. »Und das Ferrelli’s könnte bei solchen
Veranstaltungen eine passende Eissorte anbieten. Irgendwas, das total
Achtziger schreit.« Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ich
wette, Nonna hätte dazu ein paar großartige Vorschläge.«
Ben legte den Kopf schief. »Keine schlechte Idee.«
»Eine tolle Idee«, bestätigte Manda, »aber du vergisst dabei eine Sache –
Gorran wäre nicht mal in der Lage, eine Piña Colada in einer Ananasfabrik
zu organisieren.«
Gina schnipste mit den Fingern. »Piña-Colada-Eis. Perfekt!« Sie riss
begeistert die Augen auf. »Das wäre genial. Ich wette, die Leute würden in
Scharen kommen.«
»Das glaube ich auch. Ich auf jeden Fall«, sagte Ben, der aufrichtig
beeindruckt aussah. »Du bist gut.«
Gina spürte, wie sie rot wurde. »Na ja, das ist mein Job. Ich arbeite als
selbstständige Event-Planerin. Zumindest wenn ich nicht gerade ein
Sabbatical als Eiscreme-Assistentin einlege.«
»Du solltest mit Gorran darüber sprechen«, schlug Manda vor. »Ich weiß
nicht, ob er sich darauf einlassen würde, und ich habe vor allem keine
Ahnung, wie er so etwas selbst auf die Beine stellen sollte, aber vielleicht
überrascht er uns alle noch.«
»Um die Organisation kann man sich dann immer noch Gedanken
machen«, sagte Ben, dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Wir sollten
langsam reingehen. Außer natürlich Gorran ist heute auch neunzig Minuten
zu spät dran. In dem Fall sollten wir lieber den nächsten Pub ansteuern.«
»Lass uns nachschauen«, sagte Gina. »Danke, Manda. Wir sehen uns.«
Sie kauften zwei Kinokarten am Schalter, wo ihnen ein schlaksiger
Jugendlicher, der sich etwas steif mit dem Namen Bruno vorstellte,
versicherte, dass der Film pünktlich anfangen würde. »Also ich meine, nach
der Werbung«, fügte er noch hinzu. »Die müssen Sie sich nicht ansehen,
außer Sie interessieren sich für einen Mobility Scooter aus dem Laden in
Padstow.«
Bens Mundwinkel zuckten, als er Gina einen raschen Blick zuwarf. »Nein,
ich denke, meiner hält noch eine Weile.«
»Haben Sie heute Abend viele Karten verkauft?«, erkundigte sich Gina.
»Hat vielleicht jemand online reserviert?«
Bruno runzelte die Stirn. »Wir machen keine Online-Reservierungen.
Karten gibt es nur hier, und wir haben genau …«, umständlich öffnete er
das vor ihm liegende Notizbuch und überflog die Zeilen, »zwei Tickets
verkauft. An Sie beide.«
»Verstehe.« Gina wagte es nicht, Ben anzusehen. »Gut. Dann können wir
also schon reingehen?«
»Ja, bitte.« Bruno nickte. »Plätze A1 und A2, aber ich denke, Sie könnten
sich auch woanders hinsetzen. Denken Sie nur daran, dass Sie sich dann
eventuell umsetzen müssen, falls noch viele Leute kommen.«
Bens Schultern zuckten vor unterdrücktem Lachen, als er und Gina die
Flügeltüren zum Kinosaal aufstießen. »Kennst du dieses Gefühl, dich wie in
einer Sitcom zu fühlen?«, fragte er. »Ich habe jeden Moment damit
gerechnet, dass jemand mit einer versteckten Kamera um die Ecke schaut.«
»Hör auf!«, sagte Gina. »Das Ganze ist wirklich zu traurig, um lustig zu
sein. Es ist eher …« Sie blieb wie angewurzelt stehen und sah sich entsetzt
um.
Hässliche Raufasertapete bedeckte die Wände, ein schäbiger roter
Vorhang hing vor der Leinwand, und die Samtbezüge der Sessel waren
abgewetzt und fadenscheinig. »Was ist hier drin passiert? Wo ist das Art-
déco-Dekor hin?«
Ben ging zur Wand hinüber und klopfte dagegen. »Sperrholz. Oder
Gipskartonplatten. Ich vermute mal, dass sich das ursprüngliche Dekor
noch dahinter befindet – wenn es nicht überstrichen wurde.«
Gina entfuhr ein leises Keuchen. »Aber warum? Mir ist schon klar, dass
ich es als Teenager nicht wirklich zu schätzen wusste, aber soweit ich mich
erinnere, war die Innenausstattung etwas Besonderes.« Mit einem Blick zur
Decke stellte sie fest, dass die goldene Bemalung mit langweiligem Weiß
überstrichen worden war. »Warum sollte man etwas daran ändern wollen?«
»Es ist immer wieder überraschend, was Menschen so tun«, murmelte Ben
und strich mit der Hand über die glänzende Raufaser. »Vergoldungen
müssen regelmäßig nachgestrichen werden, um ihren Glanz nicht zu
verlieren, und das ist nicht gerade günstig. Vielleicht wollte man einfach
Geld sparen.«
Sie runzelte die Stirn. »Woher weißt du, was Goldverzierungen kosten?«
Er lächelte. »Ich bin Handwerker und mache vor allem Renovierungen
von denkmalgeschützten Gebäuden. Deswegen weiß ich sogar ziemlich
genau, was Goldanstriche kosten.«
Handwerker?, dachte Gina, während sie sich gleichzeitig zu erinnern
versuchte, ob sie jemals über Zukunftspläne gesprochen hatten. Alles, was
Ben jemals hatte tun wollen, war Surfen gewesen. Vielleicht hatte er es mit
einer professionellen Karriere probiert und es hatte nicht funktioniert?
Andererseits bezweifelte sie, als junges Mädchen jemals erwähnt zu haben,
später mal als Event-Planerin arbeiten zu wollen. Vielleicht war Bens
Berufswahl also gar keine so große Überraschung.
»Was für denkmalgeschützte Gebäude?«, fragte sie nach. »Irgendwas
Berühmtes?«
»Das ein oder andere Weltkulturerbe war schon dabei. Im Moment arbeite
ich an dem stillgelegten Bahnhof von Polwhipple. Ist allerdings mehr ein
Hobby als ein bezahlter Job.«
Ein lautes Summen ertönte, und die Vorhänge öffneten sich.
Ben deutete auf die Sitzreihen. »Sieht so aus, als würde die Show
beginnen. Wir sollten uns setzen.«
Früher hatten sie immer ganz hinten gesessen, erinnerte sich Gina, direkt
unter dem Projektionsraum, damit sie lachen und sich unterhalten konnten,
ohne die Zuschauer um sich herum zu verärgern. Doch heute ließen sie sich
auf zwei Plätze genau in der Mitte des Kinosaals fallen.
Gina rutschte hin und her. »Liegt es an mir, oder sind in die Polster Steine
eingearbeitet?«
»Ich denke mal, das sind die Federn.« Ben sah sich um. »Sieht aus, als
wären das immer noch die Originalsessel. Wer weiß, wie viel Hintern die
vor unseren schon gestützt haben?«
Gina beäugte den schiefen Popcorntüten-Halter zu ihrer Rechten. »Und
noch was, das fehlt: Es gibt kein Popcorn! In welchem Kino gibt es bitte
kein Popcorn?«
Ben musterte sie amüsiert. »Ich fürchte, deine Erwartungen sind viel zu
hoch, Gina. Immerhin haben wir bereits festgestellt, dass dieses
Etablissement eindeutig an Glanz eingebüßt hat.«
Die Lautsprecher knackten, und Gorrans breiter Dialekt scholl über ihre
Köpfe hinweg. »Willkommen im Palace, Cornwalls führendem
Lichtspielhaus am Meer. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der
heutigen Vorstellung!«
Gina rutschte ein paar Zentimeter zur Seite, als sich eine einzelne Feder
schmerzhaft durch das durchgesessene Polster in ihren Po bohrte. »Unter
Vergnügen verstehe ich etwas anderes«, knurrte sie.
»Es könnte schlimmer sein«, sagte Ben, dessen Augen belustigt
aufblitzten. »Immerhin ist die Begleitung ein Vergnügen.«
Als sie ihn ansah, spürte sie, wie sich ihre Mundwinkel automatisch
hoben. Er hatte es schon immer geschafft, sie zum Lächeln zu bringen. »Du
hast recht. Ich höre jetzt mit dem Gemecker auf.«
Die tatsächliche Vorführung des Films – nach einer schier endlosen
Aneinanderreihung schrecklicher Werbestreifen für lokale Geschäfte – war
tatsächlich ganz in Ordnung. Das Bild war leicht verschwommen, und der
Ton kam mit etwas Verzögerung vom Band, sodass die Lippenbewegungen
der Schauspieler ihren Stimmen einen Bruchteil hinterherhinkten, doch das
hinderte Gina nicht daran, sich in der Geschichte zu verlieren, und ihre
Zehen wippten wie von selbst im Takt des Musik mit. Wäre sie allein
gewesen, hätte sie sich in dem leeren Saal vielleicht sogar dazu hinreißen
lassen, ein wenig zu tanzen.
Nachdem der Abspann zu Ende war, streckte sich Ben mit einem Seufzen.
»Das war gar nicht mal so schlecht.«
Gina nickte. »Kevin Bacon darf jederzeit vorbeischauen, um mir seine
Moves beizubringen.«
Als sie das Kino verließen, war das Ferrelli’s geschlossen. An der
Flügeltür wartete Bruno auf sie und wünschte ihnen einen schönen Abend,
bevor er sie hinter ihnen schloss.
»Trotz allem hatte ich wirklich Spaß«, sagte Ben. »Beim nächsten Mal
würde ich allerdings ein Kissen mitbringen …«
»Und Popcorn«, fügte Gina hinzu.
»Und Popcorn«, stimmte er zu. Fragend hob er eine Augenbraue.
»Möchtest du irgendwann noch mal hingehen?«
Das wollte sie, stellte Gina fest. Es war schön, mit jemandem ins Kino zu
gehen, der es genauso genießen konnte wie sie, auch wenn das Palace sein
Bestes gegeben hatte, den Abend so trostlos wie möglich zu gestalten. Und
wieder fragte sie sich, warum Ben an einem Samstagabend nichts Besseres
zu tun hatte. Dass er eine potenzielle Freundin lieber nicht ins Palace
ausführen wollte, fand sie nicht sonderlich verwunderlich, schließlich bot
Polwhipple auch andere Ausgehmöglichkeiten. Außer natürlich, er hatte gar
keine Freundin … Nicht dass sie das irgendetwas anging.
»Ja, das wäre schön«, sagte sie und schob den Gedanken an seinen
Beziehungsstatus energisch beiseite. »Aber bevor wir konkrete Pläne
machen, sollten wir besser abwarten, welche Filme Gorran nächstes
Wochenende zeigen will. Ich weigere mich, zweieinhalb Stunden meines
Lebens damit zu verbringen, unverständlichem Grabgesang über
Wäscheleinen in Prag zu lauschen.«
»Du machst Witze, oder?« Ben machte ein übertrieben entsetztes Gesicht.
»Ich liebe die Wäscheleinen von Prag.«
Gina spürte, wie sie unwillkürlich die Stirn runzelte. »Im Ernst?«
»Nein. Du solltest mit Gorran sprechen. Schlag ihm deine Idee für eine
Event-Filmvorführung vor. Ich mache gerne mündlich Werbung, wenn aus
der Sache was wird.«
Sie zögerte. Ihre Zeit in Polwhipple hatte eigentlich eine Pause von ihrer
Arbeit als Eventmanagerin sein sollen; sie musste sich darauf
konzentrieren, Nonno zu helfen. Andererseits bedeutete ein erfolgreich
laufendes Kinogeschäft auch mehr Verkäufe an der Eistheke.
»Ich werde darüber nachdenken. Danke.«
Ben lächelte. »Wie kommst du zurück? Soll ich dich bis zu deinen
Großeltern begleiten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Dann wären wir wirklich sechzehn Jahre in der
Zeit zurückgereist. Ich habe mir ein Apartment im Tawny Holiday Complex
genommen und mir Nonnas Wagen ausgeliehen.«
»Ist das diese Ferienanlage direkt am Meer? Die kenne ich. Tolle
Aussicht.«
»Der Hauptgrund, warum ich mich für das Apartment entschieden habe«,
sagte Gina. »Also … ich schreibe dir, okay? Ich meine, sobald Gorran
enthüllt, welchen Film er als Nächstes zeigt.«
Er neigte den Kopf. »Oder wenn du einfach mal Hallo sagen möchtest.«
Er blickte auf sie hinab. »Es war schön, dich wiederzusehen, Gina. Wirklich
schön.«
Sie erwiderte seinen Blick. »Das finde ich auch.«
Ein paar Sekunden lang standen sie einfach nur da und lächelten sich an.
Wie konnte es sein, dass er so aussah, wie er es immer getan hatte, und sich
gleichzeitig so verändert hatte?
Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn mal wieder anstarrte, riss sie sich
zusammen und kramte in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel. »Ich sollte
mich jetzt besser mal auf den Weg machen. Pass auf dich auf, Ben, und
vielen Dank für den netten Abend.« Sie hob die Hand zu einem halben
Winken, bevor sie sich abwandte und schnellen Schrittes ihren Wagen
ansteuerte. Nicht umdrehen, ermahnte sie sich. Nicht umdrehen …
Als sie Nonnas Fiat erreichte, erlaubte sie sich dennoch einen kurzen
Blick über die Schulter.
Ben war weg.
Sie stieg ins Auto und startete den Motor, bevor sie kurz auf ihr Handy
sah. Zwei verpasste Anrufe, beide von Max. Auf einmal fühlte sie sich
schuldig. Abgesehen von Bens Beziehungsstatus hatte sie Max ihm
gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Deshalb musste sich Ben dieselbe
Frage stellen wie sie – ob sie Single war. Sie hatte nicht mehr als
freundschaftliches Interesse an ihm gezeigt, trotzdem würde es das Beste
sein, sobald wie möglich Fakten zu schaffen, um jedes zukünftige
Missverständnis gleich von vornherein aus dem Weg zu räumen, entschied
Gina.
Ihr Blick zuckte wieder zurück zum Display. Sollte sie den Motor
abstellen und Max sofort zurückrufen? Andererseits war es schon spät, Max
war vermutlich noch mit Freunden aus, und sie selbst war müde, weil sie
am Morgen bereits so früh mit Nonno in der Küche gestanden hatte.
Gina legte den ersten Gang ein und machte sich auf den Weg zu ihrem
Apartment. Sie hatte Max nichts zu sagen, was nicht bis zum nächsten
Morgen warten konnte.
Kapitel Sechs

Am Sonntagmorgen gönnte sich Gina den Luxus, noch eine Weile im Bett
liegen zu bleiben. Es gab keinen Anlass, so schnell wie möglich zu ihren
Großeltern zu fahren – sie würden im Gottesdienst in der Kirche St. Peter’s
sein, der bis zum späten Vormittag dauerte –, und es gab auch keinen
anderen Grund aufzustehen, mal abgesehen von ihrem überfälligen Anruf
bei Max. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass er bei ihrem letzten
Telefonat eine Party erwähnt hatte, also war er vermutlich sowieso noch
nicht zum Reden aufgelegt. Stattdessen machte sie sich einen Kaffee und
trank ihn auf dem Balkon, wo sie beobachtete, wie die tief hängenden
Wolken über das launische blaugraue Meer hinwegzogen. Die Wellen
waren vergleichsweise hoch, was bedeutete, dass die Surfer heute draußen
sein würden. Sie kniff die Augen zusammen, um sie auszumachen, doch sie
hätte nicht sagen können, ob Ben unter ihnen war. Nach ein paar Minuten
gab sie es auf und ging wieder nach drinnen, um zu duschen.
Max rief an, als sie sich gerade die Haare föhnte. »Du bist gar nicht so
leicht zu erreichen«, begrüßte er sie. »Hast du etwa das Nachtleben in
Polwhipple aufgemischt?«
Gina lachte. »Entschuldige. Ich habe zufällig einen alten Freund
wiedergetroffen.« Sie machte eine kurze Pause, als sie feststellte, dass ihr
Bens Name nicht über die Lippen kommen wollte. Es war komplett albern,
schließlich gab es keinen Grund, Max die Wahrheit zu verschweigen,
trotzdem umschiffte sie sie. »Wir haben uns in dem alten Kino im Ort einen
Film angesehen. Du wirst nicht glauben, wie heruntergekommen es
inzwischen ist.«
Nachdem sie Max eine kurze Beschreibung des Palace geliefert hatte,
stieß er ein nachdenkliches Pfeifen aus. »Hört sich ganz so an, als stünde
das alte Ding bereits mit einem Bein im Grab. Ich weiß, dass es einen
sentimentalen Wert hat, aber vielleicht ist es an der Zeit, Schluss zu
machen.«
Gina runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass man es schließen sollte«, erklärte Max vorsichtig. »Art
déco ist gerade sehr im Kommen, und dieser Gorran-Typ könnte einen
Haufen Geld machen, wenn er es zur Restaurierung verkauft. Genug, um
deinen Großvater für die Schließung der Filiale zu entschädigen und einen
ganz neue irgendwo anders zu eröffnen.«
Gina spürte, wie ihr der Mund offen stehen blieb. »Nonno wäre am Boden
zerstört, wenn das Palace schließt. Er würde keine neue Eisdiele wollen.«
»Dann müsstet ihr eben dafür sorgen, dass der Käufer euch zusichert, die
Filiale als gut gehendes Unternehmen weiter bestehen zu lassen«, schlug
Max vor. »Das Gebäude ist alt, vielleicht steht es sogar unter
Denkmalschutz. Jeder potenzielle Käufer müsste das berücksichtigen. Eine
Umwandlung in eine Apartmentanlage mit Meerblick wäre vermutlich die
rentabelste Lösung. Und das Ferrelli’s könnte weiterhin seine Eisdiele im
Erdgeschoss betreiben.«
»Vielleicht«, sagte Gina nachdenklich, während sie sich Polwhipples
Promenade ohne ihr ikonisches Lichtspielhaus vorzustellen versuchte. »Wie
dem auch sei, im Moment ist das Kino noch geöffnet. Ich wollte Gorran
vorschlagen, ein Event dort zu organisieren, um zu sehen, ob man so wieder
ein paar Leute mehr für das Kino begeistern kann.«
Max seufzte. »Klingt für mich nach reiner Zeitverschwendung. Aber wenn
es jemand schafft, so was auf die Beine zu stellen, dann du. Wie läuft es
denn eigentlich mit dem Eisgeschäft? Hast du die Firma deines Großvaters
schon revolutionieren können?«
»Nicht wirklich«, antwortete sie trocken und setzte an, Max von der
Geschichte mit dem Salz und dem Zucker zu erzählen. Doch dann zögerte
sie. Max’ Meinung über ihre Familie war bereits fragwürdig genug, sie
wollte nicht dazu beitragen, dass sie noch schlechter wurde. »Ich habe ein
paar Ideen«, sagte sie deshalb, »aber du weißt ja, wie das ist, ein Schritt
nach dem anderen. Und was hast du so getrieben?«
Sie hörte aufmerksam zu, während Max von der Geburtstagsfeier eines
gemeinsamen Freundes am Abend zuvor in Mayfair erzählte.
»Klingt, als wäre es ziemlich hoch hergegangen«, bemerkte sie, als er
geendet hatte. »Wundert mich, dass du keinen Kater hast.«
»Ich war der Vernünftigste«, sagte er, was Gina ein Lächeln entlockte.
Max war immer der Vernünftigste – in den drei Jahren, die sie sich kannten,
hatte sie ihn niemals die Kontrolle verlieren sehen, auch wenn sie wusste,
dass er trinken konnte wie ein Rugby-Spieler, wenn es sein musste.
»Ich habe mir die ganze Zeit gewünscht, dass du auch da bist«, fuhr er
fort. »Ohne dich ist es nicht dasselbe.«
»Mhm«, murmelte Gina unbestimmt, deren Vorstellung von einem
unterhaltsamen Abend ganz anders aussah. Viel lieber tippte sie mit den
Füßen im Palace zu Footloose den Rhythmus. »Hier gehen die Uhren ein
ganzes Stück langsamer, wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst«, sagte
sie, während sie die Möwen beobachtete, die am Himmel ihre Kreise zogen.
»Aber ich habe inzwischen ein Apartment gefunden.«
»Großartig.« Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. »Und wann
darf ich vorbeikommen? Ich kann’s kaum erwarten, mal wieder die Vorzüge
von Polwhipple zu genießen.«
Meinte er das ironisch? Am Telefon war das nur schwer zu beurteilen.
»Wirklich? Im Moment ist es hier wunderschön. Ich glaube, es würde dir
gefallen.«
»Du bist wunderschön. Ich wette, du fügst dich perfekt in die Umgebung
ein.«
Es war ein wenig kitschig, aber Gina musste trotzdem grinsen. »Sehr
geschmeidig, Max. Warum kommst du nicht für ein Wochenende runter und
siehst es dir selbst an?«
»Ich werde meinen Terminkalender checken«, versicherte er ihr.
»Nächstes Wochenende wird es allerdings nicht klappen, da findet die
Launchparty für dieses neue Restaurant an der South Bank statt. Vielleicht
das danach?«
»Du könntest zum Kinoevent kommen. Falls ich Gorran wirklich den
Vorschlag machen sollte.«
»Ha, ich denke, wir wissen beide, dass du das auf jeden Fall tun wirst.«
Gina musste wieder lächeln. Er kannte sie einfach zu gut! »Okay. Hör zu,
ich muss mich fertig machen. Ich rufe dich bald wieder an, dann können wir
ein Wochenende für deinen Besuch festmachen.«
»Ich kann es kaum erwarten.« Max Stimme war voller Wärme und
Vorfreude. »Wenn es so weit ist, werde ich sogar meinen berühmten Max-
Hardy-Charme auspacken. Mal sehen, ob ich den wilden Ferdie damit um
den Finger wickeln kann.«
Lachend legte Gina auf.
Doch plötzlich nagte etwas an ihr. Hätte sie Max sagen müssen, mit wem
sie im Kino gewesen war? Sie hatten schließlich bei ihrem letzten Telefonat
über Ben gesprochen, und Max hatte sie gefragt, ob ihr alter Freund noch in
Polwhipple lebte. Andererseits war Gina sich ziemlich sicher, dass Max
sich kaum an die Namen ihrer Freunde erinnerte, mit denen sie in London
ausging, wenn er selbst nicht dabei war. Warum sollte er sich auf einmal
Bens Namen gemerkt haben, nur weil ein paar Hundert Meilen zwischen
ihnen lagen? Max würde ohnehin nicht von ihr erwarten, dass sie jeden
Abend allein zu Hause saß. Ihm war mit Sicherheit klar, dass sie auch in
Polwhipple Gesellschaft brauchte.
Trotzdem spürte Gina einen Anflug von Schuldgefühlen. Und konnte
nicht damit aufhören, immer wieder Blicke zu den Surfern auf dem Meer
hinauszuwerfen.

Am Montag machte sich Gina kurz vor Mittag auf den Weg zum Kino in
der Hoffnung, Gorran dort anzutreffen. Und sie hatte Glück. Sie fand ihn in
dem kleinen Büro in einem Hemd, das dem, das er in der vergangenen
Woche getragen hatte, verdächtig ähnlich sah.
»Ich war am Samstag in Footloose«, erzählte sie, als sie wieder auf dem
ledernen Drehstuhl saß. »Es hat richtig Spaß gemacht, den Film
anzusehen.«
Gorran nickte, machte dabei jedoch ein düsteres Gesicht. »Gut. Ich denke
mal, du weißt, dass am Freitag niemand aufgetaucht ist, um sich den
Tauben-Film anzusehen. Was für eine Schande, es ist wirklich eine
faszinierende Geschichte.«
Gina beugte sich vor. »Es spielt keine Rolle, wie gut der Film ist, wenn
niemand weiß, dass er läuft, Gorran. Das verstehst du doch sicher, oder?«
»Wir hängen ein Plakat an die Tür«, sagte er in defensivem Ton. »Das
sollte reichen.«
»Vielleicht reicht es den Leuten, die wissen, wo sie nach der Ankündigung
suchen müssen«, argumentierte sie. »Du hast keine Website, verkaufst keine
Tickets online, und Filmvorführungen finden nur sporadisch statt. Ehrlich
gesagt wundert es mich, dass das Kino überhaupt noch existiert. Du kannst
unmöglich Gewinn machen.«
»Machen wir auch nicht«, gab er zu. »Ich tue mein Bestes, Gina, aber
irgendwie scheint es nicht genug zu sein.«
Er sah so niedergeschlagen aus, dass er Gina augenblicklich leidtat. »Hör
zu, wie wäre es, wenn ich dir ein wenig helfe?«, sagte sie. »Ich würde mich
freuen, wenn ich ein Event für dich organisieren dürfte. Ein Idee
ausprobieren, um zu sehen, ob man damit mehr Besucher anlockt.«
»Ach ja?«, fragte Gorran misstrauisch. »Was für eine Idee?«
Gina berichtete ihm von ihren Gedanken, die sie am Samstagabend gehabt
hatte – von der schicken Abendgarderobe bis hin zur maßgeschneiderten
Eiscreme. Als sie fertig war, sah Gorran sie so dankbar an, als hätte Gina
ihm soeben einen Rettungsring zugeworfen.
»Und das würdest du alles für mich tun?«
»Klar«, sagte Gina und kreuzte dabei insgeheim zwei Finger in der
Hoffnung, dass Nonno sie ein paar neue Geschmacksrichtungen würde
ausprobieren lassen. »Vermutlich müsstest du ein wenig investieren, aber
ich bin mir sicher, dass der Gewinn eines solchen Abends deine Ausgaben
übersteigen würde. Wie wär’s, wenn wir erst mal überlegen, welcher Film
infrage käme?«
Als sich Gorrans Gesicht augenblicklich erhellte, wusste Gina, dass er nun
irgendeinen obskuren Arthouse-Streifen vorschlagen würde. »Etwas, das
die Leute kennen«, fügte sie also schnell hinzu. »Einen Klassiker, der
Veranstaltungscharakter hat.«
Seine Miene verdüsterte sich wieder. »Oh … Ich glaube, ich weiß nicht
mal genau, was mit Veranstaltungscharakter gemeint ist.«
Sie lächelte. »Stell dir das Ganze als zusätzlichen Wert vor. Der Film an
sich ist das Herz des Events, aber man kann die ganze Veranstaltung mit
Extras anreichern, um mehr Leute zum Kommen zu animieren. Wie bei
einem Mottoabend. Verstehst du, was ich meine?«
»Wir dürfen nach wie vor Alkohol ausschenken«, sagte Gorran. »Ich habe
noch meine Lizenz.«
»Okay, das ist gut«, sagte Gina aufmunternd. »Jetzt müssen wir nur noch
den richtigen Film finden. Hast du eine Mailing-Liste?«
»Nicht wirklich, nein.«
Nun, das war nicht wirklich überraschend. »Eine Werbefläche?«,
versuchte sie es weiter. »Vielleicht in der Lokalzeitung? Oder in einem der
Läden an der Promenade. Es gibt da eine Vintage-Boutique, die der perfekte
Geschäftspartner für das Palace sein könnte.«
Er seufzte, als wüsste er bereits, dass sie enttäuscht sein würde. »Nein.«
»Dann müssen wir zuerst Flyer und Plakate drucken lassen.« Sie holte tief
Luft. »Was uns zum Budget bringt. Du wirst ein wenig Geld ausgeben
müssen, wenn das hier ein Erfolg werden soll.«
»Natürlich«, sagte Gorran, machte jedoch ein besorgtes Gesicht. »Wie viel
Geld?«
Gina addierte rasch ein paar Zahlen im Kopf und nannte eine eher
konservativ gerechnete Summe.
Er erblasste. »Wirklich?«
»Wenn du Plätze verkaufen willst, ja. Und wo wir gerade von Plätzen
sprechen, du solltest darüber nachdenken, die alten Sessel zu ersetzen. Sie
sind nicht gerade das, was man unter komfortabel versteht.«
»Neue Sessel kosten ein Vermögen«, sagte Gorran mürrisch. »Heutzutage
ist alles so furchtbar teuer. Tash will einen neuen Projektor oder zumindest
einen, der nicht einmal die Woche kaputtgeht, und sie lässt die ganze Zeit
Broschüren für diese modernen Digital-Projektions-Systeme rumliegen.
Aber da macht sie sich umsonst Hoffnungen. Niemals würde ich meine
Seele an den digitalen Teufel verkaufen. Niemals.«
Gina schwieg einen Moment, während sie überlegte, ob sie nachhaken
sollte, was genau er damit meinte. Digital klang gut. Ein besseres Bild und
bessere Tonqualität. Und vermutlich war es damit auch leichter, an
passende Filme zu kommen, auch wenn sie nicht so naiv war zu glauben,
dass das alles umsonst zu haben war.
»Entschuldige, ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe …«
»Wir zeigen die Filme analog«, unterbrach Gorran sie. In seinen Augen
loderte auf einmal ein geradezu fanatisches Feuer. »Die guten alten,
traditionellen 35-mm-Zelluloid, auf denen die gesamte Filmindustrie
aufgebaut wurde. Sie kommen auf Rollen vom Verleih und laufen auf
unserem, zugegeben quietschenden, Projektor – so wie Filme vorgeführt
werden sollten. Die meisten Kinos der großen Ketten haben inzwischen
Digitalprojektoren angeschafft, um keine riesigen Rollen lagern zu müssen,
die sich mit der Zeit abnutzen. Und einige der Studios produzieren schon
gar nicht mehr auf Film, aber das alles bedeutet nicht, dass digital besser
ist.« Er reckte trotzig das Kinn. »Sieh dir doch nur an, wie die Leute sich
auf die CDs gestürzt haben – und jetzt realisieren sie langsam, dass Vinyl
viel mehr Seele hat, und Plattenspieler etwas rüberbringen, das digitale
Musik einfach nicht kann.« Er hielt abrupt inne, als er Ginas erhobene
Augenbrauen bemerkte, und seine rosigen Wangen färbten sich noch
dunkler. »Sorry. Da habe ich mich gerade wohl ein wenig hinreißen lassen.
Was wolltest du sagen?«
»Die Sessel«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Notizen. »Vielleicht
könnten wir die Leute bitten, ein Kissen mitzubringen. Oder wir finden
einen Weg, die schlechten Polster zu einem Teil des Erlebnisses zu machen.
Wahrscheinlich wäre es besser, einen Kurzfilm auszuwählen, damit die
Kinobesucher nicht zu lange sitzen müssen.«
»In dem Fall: je älter, desto besser. Die meisten Schwarz-weiß-Klassiker
sind keine neunzig Minuten lang.«
Gina dachte einen Moment nach. »Okay, warum stellst du nicht eine Liste
zusammen und schickst sie mir? Dann kann ich sie mir ansehen und
überlegen, welche das größte Potenzial haben.« Sie lächelte. »Und dann
legen wir ein Datum fest. Danach beginnt die richtige Arbeit. Aber ich bin
mir ziemlich sicher, dass es sich lohnt. Stell dir ein volles Haus vor.«
»Okay«, murmelte Gorran, dessen Blick ins Leere ging. »Versuchen wir
es.«

»Ich kann nicht glauben, dass du Gorran Dew überredet hast, ein wenig
Geld zu investieren«, sagte Nonna, nachdem Gina ihr von dem Treffen
erzählt hatte. »Er ist berühmt dafür, der knausrigste Typ diesseitig des
Flusses Tamar zu sein.«
Sie saßen in Nonnas Küche und sammelten Ideen für neue Eissorten.
Nonno war zum Lunch mit seinen Freunden aus dem lokalen Rotary-Club
verabredet.
»Ich glaube, er hat begriffen: je mehr Ticketverkäufe, desto größer die
Wahrscheinlichkeit, dass das Palace überlebt«, erwiderte Gina. »Außerdem
plane ich ja auch kein Vermögen auszugeben. Die Einnahmen aus dem
Event sollten am Ende die Kosten decken.«
»Das kling alles großartig – du wirst die reinsten Wunder vollbringen.«
Elenas Augen blitzten vor Begeisterung. »Also, mit welchen
Geschmacksrichtungen möchtest du anfangen? Biscotti? Tiramisu?«
»Ich weiß nicht. Es hängt eigentlich alles von dem Film ab, für den wir
uns entscheiden …« Gina zögerte. »Meinst du, Nonno wird uns böse sein?
Ich bin erst seit ein paar Tagen hier, und schon plane ich Dinge hinter
seinem Rücken und mische mich in seine Rezepturen ein.«
Elena zuckte betont gelassen mit den Schultern. »Wir experimentieren ja
nur ein wenig. Von Einmischung kann keine Rede sein. Außerdem musst du
lernen, wie man verschiedene Aromen kombiniert. Das Ganze ist Teil
deiner Gelato-Ausbildung.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Und
Nonno muss schließlich nichts davon erfahren. Noch nicht.«
Gina konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Wenn du es so
ausdrückst …« Sie legte den Kopf schief. »In Ordnung. Ich liebe dein
Tiramisu, lass uns damit anfangen.«
Elena streckte sich, um ein dickes abgegriffenes Notizbuch, in das jede
Menge loser Seiten hineingestopft worden waren, von dem Regalbrett über
ihrem Kopf zu angeln. »Das hat meiner Mutter gehört und davor ihrer
Mutter. Da drin steht jedes Familienrezept, inklusive unseres legendären
Tiramisus.« Sie schob es Gina hin, damit sie die krakelige Handschrift lesen
konnte.
Zutaten und Zubereitung waren bis ins kleinste Detail beschrieben. Alles,
was Elena und Gina tun mussten, war herauszufinden, wie man das Ganze
später am besten zu einer Eiscreme verarbeitete. Schokolade, Sahne,
Zucker, Mascarpone … Die verschiedenen Aromen aufeinander
abzustimmen, würde einiges an Probierarbeit bedeuten, dachte Gina mit
einem verstohlenen Seitenblick auf Nonna. Vielleicht war das hier alles Teil
ihres Plans, ihre Enkelin zu mästen. Ihre Jeans saß bereits enger, dabei war
sie erst seit wenigen Tagen in Polwhipple. Sie würde ihre Spaziergänge auf
den Klippen ausdehnen oder sich in einem Fitnessstudio anmelden müssen.
»Ich habe gehört, Ben Pascoe und du habt euch gut verstanden«, sagte
Elena, während sie einen Espresso zubereitete, der ebenfalls zum Rezept
gehörte. »Ich hab ihn schon immer für einen sehr netten Jungen gehalten.
Hart arbeitend, höflich und ein äußerst angenehmer Anblick. Richtig gut
aussehend, wie Manda immer sagt.« Ihr Tonfall klang neutral, aber der
spitzbübische Blick, den sie Gina dabei zuwarf, brachte diese zum Lachen.
»Komm bloß nicht auf falsche Ideen, Nonna. Ich bin mir sicher, dass Ben
keine Mühe hat, eine Frau zu finden, und ich habe Max, erinnerst du dich?«
Die ältere Frau rümpfte die Nase. »Kaum. Ich hab ihn schließlich nur
einmal gesehen. Was macht er noch mal beruflich?«
»Er ist Bauträger«, antwortete Gina. »Er hat schon an einigen sehr
wichtigen Gebäuden in London mitgearbeitet, zum Beispiel am The Shard
und anderen modernen Bauten entlang der Themse.«
»Er nimmt alte Sachen und zerstört sie, um neue zu bauen, ist das
richtig?« Elena reichte ihr die Packung mit braunem Zucker, damit Gina die
passende Menge abwog. »Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt.«
Gina warf einen Blick auf das Rezept und schüttete anschließend
konzentriert den Zucker in die Waagschale. »Nicht immer. Wenn es ein
älteres Gebäude ist, dass es lohnt zu restaurieren, dann kauft er es und
saniert es so umsichtig wie möglich.« Sie versuchte, nicht an das Palace zu
denken, als sie ihre Großmutter mit einem vielsagenden Blick bedachte. »Er
arbeitet auch viel, ist höflich und sehr hübsch anzusehen.«
»Aber macht er dich auch glücklich, Gina?«, hakte Elena nach. »Es bricht
mir das Herz, dich so dünn und blass zu …«
»Ich bin nicht …«, versuchte Gina zu widersprechen, doch ihre
Großmutter ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Du brauchst ein wenig Sonnenschein, Lachen und Freude in deinem
Leben«, fuhr sie fort. »Warum kann Max dir diese Dinge nicht geben?«
Gina starrte in die braunen Zuckerkristalle in der Schüssel vor ihr. Max
brachte sie zum Lachen. Aber es stimmte, dass die meisten ihrer
Verabredungen in letzter Zeit irgendetwas mit dem Geschäft zu tun hatten.
Und sie konnte sich auch nicht erinnern, wann sie zuletzt mal zusammen
einen Tag in der Sonne gesessen hatten – vermutlich bei irgendeiner
Firmenveranstaltung im Sommer, um mit seinen Klienten zu plaudern. Aber
sie arbeiteten beide viel, und sie wusste, dass Max sie liebte, genau wie sie
ihn. Sie waren nicht unglücklich. Nonna verstand das einfach nur nicht, das
war alles.
»Wir sind nicht wie du und Nonno«, erklärte Gina mit leiser Stimme. »Ihr
habt euch in einer ganz anderen Zeit kennen und lieben gelernt. Als ihr Zeit
hattet, euch nur auf euch zu konzentrieren. Moderne Beziehungen sind
anders. Max und ich haben nicht jeden Moment zusammen nur Spaß, aber
das bedeutet nicht, dass wir unglücklich sind.«
Elena schwieg einen Moment, bevor sie zurückgab: »Ich möchte mich
nicht einmischen, Bella mia. Du kennst dein Herz am besten, und wenn du
sagst, dass Max es zum Singen und Tanzen bringt, dann muss ich dir das
glauben.« Sie straffte die Schultern und lächelte. »Wenn du wieder zu
Hause bist und für ihn kochst, wird er dich sicherlich noch mehr zu
schätzen wissen, meinst du nicht?«
Gina lachte. Der Glaube ihrer Großmutter an die heilende Kraft des
Essens war unerschütterlich. »Ich bin mir zumindest sicher, dass er kein
Problem damit haben wird, Nonna.«
»Gut«, sagte Elena nicht ohne einen zufriedenen Unterton. Dann rieb sie
die Finger aneinander und griff anschließend nach dem Marsala. »Und jetzt
zeige ich dir das Geheimnis für das perfekte Tiramisu.«
Kapitel Sieben

Den Rest des Nachmittags verbrachte Gina in der Molkerei, wo sie einen
Liter Eiscreme nach dem anderen nach Ferdies traditionellem Rezept
herstellte. Langsam ging ihr der Prozess in Fleisch und Blut über, und ihre
Gedanken schweiften ab, während sie die Zutaten zusammenstellte und
anschließend die Maschinen die schwerste Arbeit machen ließ.
Welchen Film sollten sie für die Event-Vorführung im Palace auswählen?
Star Wars war bekannt und thematisch gut umzusetzen, aber irgendetwas
sagte ihr, dass es nicht gut passte. Sie brauchten etwas, dass sowohl eine
ältere als auch eine jüngere Zielgruppe interessierte. Wenn es etwas gab,
dass sie in den letzten Jahren gelernt hatte, dann dass es die Leute liebten,
sich zu verkleiden. Vielleicht ein Klassiker der Achtziger? Oder sollten sie
besser noch weiter zurückgehen? Eventuell Vom Winde verweht? Oder war
das zu viel des Guten?
Auf dem Weg nach Hause – nach einem weiteren üppigen Abendessen bei
ihren Großeltern – dachte sie immer noch darüber nach. Sie war richtig
nervös gewesen, als sie beobachtet hatte, wie Nonno den ersten Löffel
Tiramisu probierte. Würde er merken, dass Gina und nicht Nonna es
gemacht hatte? Doch es schien ihm genauso gut wie immer zu schmecken,
und auch ihre Kommentare über neue Eissorten schien er nicht damit in
Verbindung zu bringen. Elena hatte ihr zugezwinkert und beim Abschied
geflüstert, dass sie sich bald überlegen sollten, wie sie am besten ihre neue
Eiscreme herstellen würden.
Gina fiel kein Klassiker ein, der in Italien spielte und die Durchschlagkraft
besaß, die sie sich vorstellte. Da war natürlich Ein Herz und eine Krone mit
Audrey Hepburn und Gregory Peck, aber dem Film fehlte der Wow-Effekt,
den sie sich für das erste Event im Palace wünschte. Das Tiramisu-Eis
würde also eher nicht die erste neue Sorte sein, die sie im Ferrelli’s anboten.
Am nächsten Morgen wachte sie früh auf und nutzte die Zeit, um am
Wasser Inspiration zu suchen.
Der Strand gehörte ihr allein. Die Sonne stahl sich gerade über den Rand
der Klippen, als sie ihre Matte auf dem blassen Sand ausbreitete, um, die
Hände um eine heiße Tasse Kaffee gelegt, dem Himmel dabei zuzusehen,
wie er sich von Dunkelblau zu Pink und Gold verfärbte. Eine kühle Brise
wehte vom Meer herüber. Gina war froh, dass sie ihren warmen Mantel
angezogen hatte, aber in der salzigen Luft hing ein Hauch von Frühling,
und sie glaubte nicht, dass der Tag besonders kalt werden würde. Der März
in London war häufig nieselig und trüb, auch wenn die Sonnenaufgänge
ebenfalls spektakulär sein konnten, aber in Cornwall war es beinahe so, als
habe man einen Instagram-Filter über den Ausblick gelegt – alles wirkte
heller und hübscher. Gina musste an Nonnas Bemerkung denken, dass sie
mehr Sonnenschein brauchte, und musste lächeln. Ihre Großmutter würde
ihren frühmorgendlichen Ausflug sicherlich gutheißen.
Nach und nach trafen die Surfer am Strand ein, nur zwei oder drei, aber
genug, um Gina zu sagen, dass es Zeit war, die Treppe hoch zu den Klippen
wieder hinaufzusteigen. Sie stand auf und klopfte den Sand von ihrer Matte.
»Gina!«
Als sie aufblickte, sah sie Ben auf sich zukommen, das Surfboard unter
den Arm geklemmt. Und wieder musste sie an Nonna denken. Sie konnte es
nicht abstreiten, Ben bot wirklich einen angenehmen Anblick. War er als
Teenager auch schon so gut aussehend gewesen? Daran musste sie sich
doch erinnern! Aber wenn sie an die gemeinsamen Sommer zurückdachte,
fielen ihr nur sein verstrubbeltes blondes Haar und seine Sommersprossen
ein. Nur im letzten Jahr, in dem sie hier gewesen war, da hatte es so etwas
wie Anziehung zwischen ihnen gegeben, oder nicht? Da war dieser Moment
am Strand gewesen, als sie geglaubt hatte, dass er sie küssen würde. Aber
irgendetwas hatte sie unterbrochen – sie konnte sich nicht erinnern, was –,
und der Moment war verstrichen. Bis gerade eben hatte sie das völlig
vergessen …
»Guten Morgen«, rief sie, während sie die Erinnerung erneute tief in
ihrem Gedächtnis vergrub. »Ein neuer Tag, ein neuer Neoprenanzug.«
Er grinste. »Ja, manchmal habe ich das Gefühl, in den Dingern zu leben.
Aber du solltest mich mal den Rest des Tages sehen – meistens bin ich von
Kopf bis Fuß mit Staub und Farbe bedeckt. Manchmal sogar Kohlestaub,
wenn ich im Zug arbeite.«
»Im Zug?« Gina blinzelte. »Wie viele Jobs hast du eigentlich?«
»Die Dampfeisenbahn«, erklärte er, »die zwischen Bodmin und Boscarne
pendelt. Die Züge sind seit Jahren meine Leidenschaft. Ich arbeite als
ehrenamtlicher Fahrer. Allerdings gibt es eine Menge Konkurrenz,
weswegen ich nicht halb so oft aushelfen darf, wie ich es gerne tun würde.«
Er war also ein Dampflok-Fan und so ziemlich alles andere, was man sein
konnte, dachte Gina mit einem ungläubigen Kopfschütteln. Hatte er nicht
auch erwähnt, dass er das alte Bahnhofsgebäude von Polwhipple
restaurierte? Das ergab jetzt natürlich schon sehr viel mehr Sinn.
»Warst du immer schon einer von diesen Zugbeobachtern?«, neckte sie
ihn.
Ben schüttelte den Kopf. »Als Zugbeobachter würde ich mich nicht
bezeichnen, die nehmen ihr Hobby sehr viel ernster. Mir gefällt einfach die
Eleganz der Dampfeisenbahn und die Geschichte, die dahintersteckt.
Wusstest du, dass die Linie zwischen Bodmin und Wenford früher bis nach
Polwhipple gefahren ist? Die British Railway hat den Personenverkehr auf
der Strecke in den Sechzigern eingestellt, danach wurde sie aber noch
jahrelang als Güterweg genutzt. In den Neunzigern hat die Bodmin Railway
Preservation Society, die sich um die Erhaltung des historischen Erbes des
Dampfeisenbahnverkehrs kümmert, dann entschieden, die Gleise wieder für
den Verkehr instand zu setzen, allerdings nicht bis Polwhipple.«
Langsam dämmerte es Gina. »Ist das der Grund, warum du das
Bahnhofsgebäude restaurierst? Damit die historischen Züge wieder bis
hierher verkehren können?«
»Das ist die Idee«, sagte Ben, »auch wenn es keine Garantie gibt, dass es
klappt. Ich denke, dass es der Stadt guttun würde, aber die Preservation
Society ist anderer Meinung, und ihnen gehören nun mal die Züge und die
Gleise. Ich hoffe, dass sie ihre Meinung ändern werden, sobald sie sehen,
wie schön der alte Bahnhof ist. Aber bis dahin mache ich es aus Liebe zur
Sache und nicht, weil ich dafür bezahlt werde.«
Gina runzelte die Stirn. Sämtliche Geschäfts-Alarmglocken in ihren
Hinterkopf klingelten gleichzeitig. »Aber sie wissen, dass du daran
arbeitest?«
Er verzog das Gesicht. »Na ja, irgendwie schon. Mein Dad war Zugführer
auf der Güterstrecke – er hat vor allem Porzellanerde transportiert – und hat
das Bahnhofsgebäude kurz nach der Schließung durch die Great Western
Railway gekauft. Er wollte es zu einem Haus für uns umbauen. Er ist
gestorben, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte. Seitdem steht es
verlassen da und verfällt immer mehr.«
Bens Dad hatte schon nicht mehr gelebt, als sie Ben kennengelernt hatte.
Er war gestorben, als Ben sieben oder acht gewesen war, und seine Mutter
hatte ihn allein großgezogen. Als Jugendlicher hatte Ben nicht viel über
seinen Vater gesprochen, und Gina hatte ihn nicht bedrängen wollen.
»Und jetzt restaurierst du das Gebäude selbst«, sagte sie langsam. »Wie
bezahlst du das? Hast du einen Kredit aufgenommen?«
»Nein, ich finanziere die Restaurierung aus eigener Tasche. Wie gesagt
aus Liebe zur Sache. In Erinnerung an meinen Dad, wenn man so will.«
»Aber …« Gina hielt inne, als sich eine ganze Reihe von
Vernunftsgründen in ihrem Kopf auftürmten. Max hätte so ein Projekt
niemals in Angriff genommen, nicht ohne zu wissen, was am Ende dabei
herauskommen würde. Aber Max war nun mal durch und durch
Geschäftsmann – Sentimentalität war ein Fremdwort für ihn. Was nicht
bedeutete, dass Ben nicht gut in dem war, was er tat. Nach allem, was er
erzählt hatte, arbeitete er an einigen sehr außergewöhnlichen
Restaurierungsprojekten. Dennoch, alles an Zeit und Geld in ein Projekt zu
investieren, das einem keine Garantie bot, dass man am Ende seine Ziele
erreichte, erschien Gina ziemlich waghalsig.
»Warum kommst du nicht mal vorbei, dann kann ich dir alles zeigen?«,
schlug Ben vor. »Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber ich glaube, du wirst
mich verstehen, wenn du erst mal in dem Gebäude stehst.«
Er wirkte so aufrichtig begeistert, dass Gina niemals hätte Nein sagen
können. »Okay«, sagte sie mit einem leisen Lachen in der Stimme. »Und
wann?«
Er grinste sie an. »Was hast du heute Nachmittag vor?«

Der Weg zum Bahnhof von Polwhipple war mit einem verzierten Eisentor
abgesperrt. Ein schweres Schloss hielt die schwarzen Metallstreben
zusammen, und zu beiden Seiten des Tors schloss sich ein robust wirkender
Zaun an.
Ben wartete vor dem Tor auf sie. Den Neoprenanzug hatte er gegen Jeans
und einen warmen Wollmantel eingetauscht.
Nonna wäre einverstanden, dachte Gina mit einem verstohlenen Grinsen,
als sie sich ihm näherte.
»Bereit?« Er hielt einen Schlüsselbund in die Höhe.
Sie spähte durch die Verstrebungen auf das niedrige Sandsteingebäude
nicht weit dahinter. Davor parkte ein weißer Transporter neben einem
gelben Container, der bereits zur Hälfte mit Bauschutt gefüllt war. »Ich
denke schon.«
Als sie sich dem Gebäude näherten, konnte Gina erkennen, dass einige der
Fenster vernagelt waren.
»Irgendwelche Vorstadtproleten«, erklärte Ben, der ihrem Blick gefolgt
war. »Die lieben es, nachts über den Zaun zu klettern und die Scheiben mit
Steinen einzuschmeißen, deswegen habe ich sie mit Holz vernagelt. Einige
der Fenster stammen noch aus der viktorianischen Zeit, und ich möchte so
viele davon erhalten wie möglich.« Er schloss die massive Holztür auf.
»Dieses dunkle schokoladenbraune Farbkonzept findet sich im gesamten
Great-Western-Railway-Streckennetz wieder«, erklärte er weiter. »Es war
gar nicht so leicht, genau den richtigen Braunton zu finden, obwohl die
Typen drüben in Bodmin Parkway extrem hilfsbereit waren. Stell dir vor,
ich hätte die falsche Farbe verwendet!«
Gina konnte es sich vorstellen. Sie kannte keine Zug-Enthusiasten
persönlich – aber waren die nicht berühmt dafür, absolut pingelig auf jedes
Detail zu achten? Der exakt richtige Farbton war vermutlich etwas, das sie
sofort erkannten. Und Ben war bestimmt jemand, der ein solches
Herzensprojekt in allen Details originalgetreu umsetzte.
Sie betraten das Gebäude, und Ben schaltete das Licht ein.
Beinahe hätte Gina ein lautes Keuchen ausgestoßen. Es fühlte sich an, als
wären sie soeben in der Zeit zurückgereist. Die Bahnhofshalle glänzte im
Licht der Messingleuchten, die von der Decke hingen, die Wände waren
makellos in schokoladenbraun und cremeweiß gestrichen, und die hohe
gewölbte Decke war frisch verputzt. Ihnen gegenüber befand sich eine
Flügeltür mit bogenförmigen Milchglasscheiben bis zur Mitte und kleineren
Buntglasfenstern darüber. Der Boden der Halle war schwarz und weiß
gekachelt. In eine Wand war ein Ticketschalter mit Fenster eingelassen,
dessen Rahmen im selben satten Braunton gestrichen war wie alle anderen
Holzarbeiten. An der Wand gegenüber hing eine hölzerne Bahnhofsuhr mit
römischen Ziffern, goldenen Zeigern und einem Kasten für den Schlüssel,
mit dem man das Uhrwerk aufziehen konnte. Darunter war ein
verschnörkeltes Wappen angebracht, auf dem der Schriftzug Great Western
Railway Company prangte. Mehrere Schilder, die von der Decke hingen,
wiesen den Weg zu den Gleisen und zum Warteraum.
»Wow«, sagte Gina, während sie sich staunend umsah. »Das ist
unglaublich.«
Ben lächelte. »Danke. Das Fahrkartenbüro ist noch nicht fertig, aber der
Wartesaal und die Toiletten sind bereits renoviert.«
»Und das hast du alles in deiner Freizeit gemacht?«, fragte Gina und trat
einen Schritt vor, um das verschlungene blau-grüne Muster der
Buntglasfenster in der Tür zu bewundern, die zu den Gleisen hinausführte.
»Wie lange arbeitest du schon daran?«
»Etwa achtzehn Monate. Im Sommer schaffe ich natürlich mehr, aber es
hilft vor allem, dass ich hier wohne …«
»Moment mal«, unterbrach ihn Gina und starrte ihn an. »Du lebst hier?«
»Natürlich nicht hier drin. Aber auf dem Grundstück.«
Sie runzelte die Stirn. »In einem Haus?«
»Nein. Ich glaube, es ist einfacher, wenn ich es dir zeige.«
Neugierig beobachtete Gina, wie er die Tür zu den Gleisen aufsperrte und
hindurchtrat. Sie folgte ihm den Bahnsteig hinunter bis ganz zum Ende, wo
sie ein niedriges weißes Tor passierten und anschließend ein paar Stufen
hinabstiegen. Von dort führte er sie zu einem Nebengleis, auf dem ein
schokoladenbraun und cremeweiß gestrichener Waggon stand.
»Hier?« Gina gab sich Mühe, vor Staunen nicht den Mund offen stehen zu
lassen. »Du wohnst in dem Ding?«
Ben lächelte. »Um ehrlich zu sein, ist es da drin ziemlich gemütlich.«
Gina musste automatisch an all die Züge denken, in denen sie bereits
gesessen hatte. »Wenn du meinst.«
»Komm rein, dann kannst du dich selbst überzeugen.« Er stieg die
Metalltreppe in der Mitte des Waggons hinauf, öffnete die Tür, sprang dann
wieder auf den Boden und bedeutete ihr einzutreten. »Nach dir.«
Beim Anblick der Bahnhofshalle hatte sich Gina in längst vergangene
Zeiten zurückversetzt gefühlt, doch dieser Raum, in dem sie sich nun
wiederfand, überraschte sie noch mehr.
Er war schmal und lang wie in einem Zug üblich, mit einer gewölbten
Decke und den üblichen Zugfenstern, doch damit hörte der Vergleich auch
schon auf. Es gab keine Reihen aus Sitzplätzen und Tischen und auch keine
Gepäckablagefächer. Stattdessen war der Raum mit zwei bequem
wirkenden schwarzen Ledersesseln ausgestattet, die um einen Couchtisch
gruppiert waren, auf dem sich Bücher stapelten. Dahinter stand ein
Holzofen. Der Boden war aus glänzenden dunkelbraunen Holzbohlen, die
einen angenehmen Kontrast zu der honiggelben Holzverkleidung der
Wände und Decke boten und hier und da mit Teppichen bedeckt waren.
Eine Tür, die den Waggon etwa in der Hälfte teilte, ließ erahnen, dass es
dahinter noch mehr zu entdecken gab.
»Darf ich?« Gina deutete auf die Tür.
»Gerne. Ich habe extra aufgeräumt.«
Gina lachte. »Dachte ich mir doch gleich, dass es hier verdächtig
ordentlich aussieht.« Sie drehte den Türknauf und fand sich in einer
Bordküche wieder. Die nächste Tür führte in ein Schlafzimmer mit einem
breiten Messing-Doppelbett vor Kopf, Gepäckhaltern auf Kopfhöhe an den
Wänden und einer weiteren Tür, die hinter dem Bett in ein Bad zu führen
schien.
Gina drehte sich zu Ben um. »Ich bin beeindruckt.«
Er zuckte bescheiden mit den Schultern. »Es ist kein schlechter Ort zum
Leben. Für die Renovierung des Bahnhofs ist es auf jeden Fall praktisch.«
Gina spähte in das kleine Bad und bewunderte die modernen Armaturen
und die eingebaute Duschkabine. »Und das hast du alles selbst gemacht?«
Er nickte. »Ich hab dir ja gesagt, dass ich Züge mag.«
»Hast du«, gab Gina zu. »Aber zwischen Züge mögen oder seinen eigenen
Bahnhof restaurieren und in einem Waggon leben besteht ein winzig kleiner
Unterschied, würde ich sagen. Hat dir deine Mum damals keine
Modelleisenbahn gekauft?«
Ben lachte. »Okay, zugegeben, es sieht ein wenig wie der Nachbau eines
Kindertraums aus, aber es gefällt mir nun mal, alten Dingen zu neuem
Glanz zu verhelfen und ihnen wieder Leben einzuhauchen.« Er hob die
Schultern. »Die Menschen sind heute viel zu schnell darin, Dinge einfach
wegzuwerfen, um sich eine neue, vermeintlich hübschere Sache
anzuschaffen. Manchmal warten sie nicht mal, bis etwas kaputt ist. Ich mag
Dinge, mit denen ich eine Geschichte verbinde.«
Als er sie aus seinen blauen Augen ansah, fragte sich Gina unwillkürlich,
ob er damit auch sie meinte. Falls das so war, verstand sie ihn. Es hatte
etwas Tröstliches, Zeit mit jemandem zu verbringen, den sie bereits ihr
halbes Leben kannte, mit jemandem, mit dem sie eine Geschichte verband.
Sie holte tief Luft. »Lebst du allein hier?«
Er verzog keine Miene. »Ja.«
Sie sah sich möglichst diskret um auf der Suche nach Anzeichen dafür,
dass sich eine Frau regelmäßig hier aufhielt. »Vermutlich wäre es für zwei
Leute auch ein bisschen eng.«
Ben grinste. »Du wärst überrascht. Das Bett ist groß genug für zwei.«
Gina schluckte. Flirtete er mit ihr oder wollte er damit andeuten, dass er
nur selten allein in seinem Bett lag? Sie konnte es nicht sagen. Außer dass
sie Ersteres hoffte, und wenn nur, weil sie glauben wollte, dass Ben kein
Typ war, der jede Nacht eine andere abschleppte.
Energisch schob sie den Gedanken beiseite. »Es ist wirklich hübsch. Und
wann, glaubst du, wirst du mit dem Bahnhof fertig sein?«
Er drehte sich um und ging ihr voraus ins Wohnzimmer zurück. »Das
kommt darauf an, wie das Wetter in den kommenden Monaten mitspielt.
Und wie viel ich in meinem richtigen Job zu tun habe. Vielleicht schon
Anfang Juni oder erst Ende September.«
»Großartig. Ich bin bis Juni hier, aber später kann ich auch immer zu
Besuch kommen, um zu sehen, wie es läuft.«
Ben nickte. »Das wäre schön. Aber fühl dich bloß nicht verpflichtet. Ich
weiß, dass du in der realen Welt da draußen ziemlich viel zu tun hast.«
Er meinte London. Und Max, obwohl sie einen Freund bisher nicht
explizit erwähnt hatte. Hatte sie nicht genau denselben Ausdruck benutzt –
die reale Welt –, um ihr Leben zu beschreiben, als sie Ben am Strand
wiedergetroffen hatte? Das Problem war nur: Je länger sie sich in
Polwhipple aufhielt, desto weiter entfernt war diese reale Welt. Das war
schon damals so gewesen, als sie ihre Sommer hier verbracht hatte.
»Ja«, sagte sie schlicht.
Sie sahen sich einen Moment lang an, dann griff Ben nach dem Knauf der
Tür, die nach draußen führte.
»Hast du dir noch mal Gedanken über ein mögliches Event im Palace
gemacht?«, erkundigte sich Ben, als sie wieder auf dem Bahnsteig standen.
»Oder ist Gorran schreiend weggerannt, als du ihm davon erzählt hast?«
»Erstaunlicherweise nicht«, sagte Gina, dankbar für den Themenwechsel.
»Er war sogar richtig angetan. Wir müssen nur noch den richtigen Film
finden – etwas, das den Leuten gefällt und ihre Fantasie anregt.«
»Begegnung«, schlug Ben ohne zu zögern vor. »Ein Klassiker, den jeder
liebt, und die Charaktere gehen sogar ins Kino.«
Gina lachte. »Und das hat jetzt nichts damit zu tun, dass ein Großteil des
Films am Bahnhof spielt?«
Er grinste. »Reiner Zufall. Also, was denkst du? Das Setting sind die
späten Dreißigerjahre. Ich könnte ein bisschen an der Bar rumbasteln, um
ihr was von dem Flair des Bahnhofscafés aus der Ära zu verpassen.«
Gina kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe, während sie versuchte, sich
genauer an die Geschichte des Film zu erinnern. »Das könnte funktionieren.
Die Kostüme wären für die Besucher nicht besonders schwer zu beschaffen
und nicht so teuer. Und ich bin mir sicher, dass ich ein paar passende
Cocktailrezepte auftun kann. Dann kommen vielleicht auch Leute, die den
Film nicht kennen. Und außerdem bin ich mir sicher, das Gorran keine
Probleme haben wird, eine Kopie aufzutreiben.« Sie schenkte Ben ein
Lächeln. »Eine sehr gute Idee. Danke.«
»Lass mich einfach wissen, wie ich helfen kann.«
Gina lächelte. »Oh, das werde ich. Wenn es funktioniert, dann ist es
vielleicht genau das, was das Palace braucht.« Sie zog ihr Handy aus der
Tasche. »Ich hoffe nur, dass Gorran versteht, worauf er sich da eingelassen
hat.«
»Ich glaube, er hat keinen blassen Schimmer«, erwiderte Ben fröhlich.
»Aber davon solltest du dich nicht aufhalten lassen.«
»Glaub mir, das werde ich nicht«, sagte sie, während sie Gorrans Nummer
antippte. »Ich mache ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann.«
Kapitel Acht

In den nächsten Tagen nahmen die Dinge an Fahrt auf. Gorran bestätigte,
dass er den Film besorgen konnte, und sie verständigten sich auf eine
Vorführung am Freitagabend in zwei Wochen. Gorran schien glücklich mit
der Wahl des Films, was Gina überraschte – aus irgendeinem Grund hatte
sie sich auf Diskussionen eingestellt. Und noch überraschender war, dass
Tash, die Filmvorführerin, geradezu enthusiastisch reagierte.
»Top Film«, sagte sie, während sie an ihrem Augenbrauen-Piercing
herumspielte. »Unterdrückte Gefühle und Haltung zeigen, hat mir schon
immer gefallen.«
Tatsächlich schienen alle restlos begeistert zu sein, erst recht, als Gina das
Motto beschrieb.
»Brillant«, kommentierte Manda und rieb sich erwartungsvoll die Hände.
»Ich habe genau das richtige Kostüm für die Party. Ich habe es vor ein paar
Monaten im Schaufenster der Vintage-Boutique von Carrie gesehen und
konnte nicht wiederstehen. Du solltest auch mal hingehen, um zu sehen, ob
du was Passendes für dich findest.«
»Gute Idee«, sagte Gina und spürte einen Anflug von Vorfreude bei dem
Gedanken, die hübsche Boutique endlich einmal von innen zu sehen. »Ich
glaube, das mache ich sofort.«
Es war früher Nachmittag und die Promenade relativ leer. Nach einem
Blick ins Schaufenster von Carrie’s Speicher öffnete Gina die Tür und
betrat den Laden.
Ein Glöckchen erklang, woraufhin die dunkelhaarige Frau hinter der
Kasse aufsah. Sie war etwa in Ginas Alter und begrüßte sie mit einem
freundlichen und gleichzeitig fragendem Lächeln. »Hallo. Brauchen Sie
Hilfe oder möchten Sie einfach stöbern?«
Gina sah sich um. Der Laden war sogar noch verlockender, als er durch
das Schaufenster gewirkt hatte. Wo sie auch hinsah, schienen die schönen
Kleidungsstücke um ihre Aufmerksamkeit zu buhlen. Sie streckte die Hand
aus, um einen seidigen Kaftan zu berühren, der neben ihr auf einem Bügel
hing. »Ich glaube, ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen.«
Die Frau trat hinter dem Tresen hervor. »Kein Problem. Ich bin Carrie,
und im Gegensatz zu dem, was man sich erzählt, stammen diese Sachen
nicht alle von meinem Speicher.«
Gina lachte. »Das denke ich mir. Man bräuchte auch schon einen ziemlich
ausgefallenen Geschmack, um all das hier zu besitzen.«
»Und womit kann ich Sie heute in Versuchung führen?«, erkundigte sich
Carrie. Ihre grünen Augen funkelten vergnügt. »Etwas für jeden Tag, oder
gibt es einen bestimmten Anlass?«
»Definitiv einen bestimmten Anlass. Ich organisiere eine Filmvorführung
im Palace ein paar Häuser weiter. Wir zeigen Begegnung, und ich brauche
ein Outfit, das den Glamour der Dreißigerjahre versprüht.«
Carrie riss die Augen auf. »Im Ernst? Das gefällt mir. Wann findet das
Event statt?«
Gina klärte sie über die Details auf, dann holte sie tief Luft. »Um ehrlich
zu sein, hatten wir gehofft, ein paar der ansässigen Geschäfte überreden zu
können, ein wenig Werbung zu machen. Wären Sie interessiert? Vielleicht
könnten Sie ein Poster ins Schaufenster hängen.«
Carrie nickte begeistert. »Machen Sie Witze? Ich würde mich wahnsinnig
freuen mitzumachen. Brauchen Sie eventuell auch noch Hilfe bei der
Organisation?«
Gina lächelte breit. »Ich denke, bisher ist so weit alles unter Kontrolle,
aber ich komme gerne auf Ihr Angebot zurück, sollte es nötig sein. Am
wichtigsten ist für uns im Moment, dass die Mund-zu-Mund-Propaganda
funktioniert.«
»Da können Sie auf mich zählen.« Die Besitzerin führte Gina zu einer
Kleiderstange an der rückwärtigen Wand des Ladens. »Die Dreißiger und
Vierziger haben wir hier. Zuerst suchen wir Ihnen jetzt mal ein
Hammerkostüm aus.«
Eine Dreiviertelstunde und viel Gekicher später waren die beiden beim Du
angelangt, und Gina verließ Carrie’s Speicher mit zwei vollgepackten Tüten
und dem Versprechen, Gorran für eine Anprobe vorbeizuschicken.
»Und denk daran, mir Bescheid zu geben, wenn du weitere Events
planst«, erinnerte sie Carrie, als sie sich an der Tür von ihr verabschiedete.
»Ich habe einen tollen goldenen Bikini, der perfekt für einen Star-Wars-
Marathon wäre.«
Gina grinste, als sie sich Gorrans Gesichtsausdruck vorzustellen
versuchte, wenn sie in so einem Outfit vor ihm stand. Ihr gefiel die
Vorstellung, bei weiteren Events mit Carrie zusammenzuarbeiten, und
außerdem ergab es in geschäftlicher Hinsicht durchaus Sinn. Sie hatte eine
Handvoll von Carries Visitenkarten mitgenommen, um sie im Palace an der
Kinokasse auszulegen – mit ein wenig Glück bescherte die Kinovorführung
von Begegnung auch Carrie ein paar neue Kunden.

In jeder freien Minute, in der Gina nicht in der Molkerei stand, blätterte sie
in Nonnas Rezeptbuch, um eine Idee für die perfekte Geschmacksrichtung
für den Filmabend zu finden, oder war mit der Planung der Veranstaltung
beschäftigt. Sie beauftragte einen Webdesigner aus der Stadt mit der
Erstellung einer einfachen Website, damit die Leute mehr über die
Filmvorführung herausfinden konnten. Anschließend bestellte sie Flyer und
Poster und machte sich mit Gorran daran, sie an Geschäfte vor Ort zu
verteilen. Carrie war sogar so begeistert, dass sie sich einen ganzen Packen
Flyer schnappte und verkündete, sie würde sie an ihren gesamten
Adressverteiler verschicken und außerdem jedem Kunden, der den Laden
betrat, einen in die Hand drücken. Der Besitzer des Scarlet Hotel sagte Gina
zu, ihnen für das Event ihren Bartender und Cocktailexperten zur
Verfügung zu stellen, und das nahe gelegene Restaurant Pendragon bot ihr
einen hervorragenden Deal für die Lieferung von Kanapees und anderen
Snacks an. Nachdem sie ein paar Strippen bei ihren Journalisten-Freunden
gezogen hatte, brachte die Lokalzeitung sogar einen kurzen Beitrag, und
Reporter sowie Fotograf überraschten sie am Ende des Interviews mit
einem Ticketkauf für sich selbst. Wohin Gina sich auch wandte, boten die
Leute ihre Hilfe an und waren tatsächlich hilfreich. Überall – nur nicht im
Wohnzimmer ihrer Großeltern.
»Nein«, sagte Ferdie, als sie zaghaft anmerkte, sie würde gerne eine
Motto-Eiscreme ausprobieren. »Wir brauchen keinen Schnickschnack.«
Gina zog ihr iPad aus der Tasche und öffnete die Website. »Aber sieh
doch mal, Nonno, das Ganze könnte so toll werden. Wir müssen nur die
passende Geschmacks …«
Er stieß das Display beiseite. »Ich habe Nein gesagt. Gelato ist ein
ernsthaftes Geschäft. An althergebrachten Ferrelli-Familienrezepten wird
nicht herumgepfuscht. Bevor man sich versieht, serviert man sonst auf
einmal Schlumpf-Eis und anderen Müll.«
Elena sah von ihrem Buch auf. »Aber die Rezepte kommen nicht allein
von den Ferrellis. Du vergisst, dass meine Mutter auch einige beigesteuert
hat. Sie hat sich nicht gescheut zu experimentieren.«
»Lass es mich doch bitte einmal ausprobieren, Nonno«, sagte Gina.
»Wenn dir die neue Sorte nicht schmeckt, dann frage ich dich auch nie
wieder, versprochen.«
Ferdie warf ihr einen mürrischen Blick zu. »Und was soll das für eine
Sorte sein? Irgendein Cocktail, nehme ich an.«
Gina schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen. Aber ich möchte die
Überraschung nicht verderben. Du musst mir einfach vertrauen.«
»Du hast ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt, oder?«, knurrte Ferdie in Elenas
Richtung. »Seit Jahren willst du an meinen Rezepten herumwursteln.«
Elena hob eine Augenbraue. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.
Aber jetzt, da du es erwähnst, deine Rezepte brauchen tatsächlich dringend
ein – wie nennt man das heutzutage – Makeover. Warum lässt du Gina nicht
einfach mal machen?«
Ferdie sah missmutig zwischen Gina und Elena hin und her. »Na ja,
vielleicht kann es nicht schaden.« Er hob warnend einen Finger. »Aber ich
möchte es zuerst probieren. Und es sollte besser hervorragend sein.«
Gina wechselte einen triumphierenden Blick mit ihrer Großmutter. »Das
wird es, Nonno«, sagte sie. »Vertrau mir.«
Am nächsten Samstagmorgen lieh sich Gina Nonnas Wagen, um nach Truro
zu fahren und sich eine eigene Eismaschine zu kaufen. Nonnos in der
Molkerei arbeitete sehr viel schneller und effizienter, aber sie brauchte Zeit
und Ruhe, um zu experimentieren, und beides hatte sie nicht, solange ihr
Nonno über die Schulter blickte. Abgesehen davon musste sie für das
Rezept, das sie gefunden hatte, Zutaten karamellisieren, und das war in der
Molkerei nicht so einfach umzusetzen. Also würde sie es in ihrer Wohnung
ausprobieren. Bis zur Filmvorführung war es nur noch eine Woche, und sie
wollte die perfekte Eissorte dafür kreieren.
Am späten Sonntagnachmittag hatte sie ihr Rezept perfektioniert – oder
zumindest glaubte sie das. Was sie brauchte, war ein unvoreingenommener
Testesser. Jemand, der ihre eine ehrliche Antwort geben würde …
Sie schrieb Ben eine Nachricht, und eine knappe Stunde später stand er
vor der Tür ihres Apartments.
»Das ist also der unwiderstehliche Ausblick, den du erwähnt hast«, sagte
er, während er den Blick über die Klippen wandern ließ. »Ich verstehe, was
du meinst.«
Gina lächelte. »Ich könnte mich auf jeden Fall daran gewöhnen.«
»So ist das mit Cornwall, es geht einem unter die Haut. Und sobald man
es verlässt, ruft es nach einem.«
»Bist du deswegen zurückgekommen?«
»Zum Teil.« Er sah wieder aufs Meer hinaus, die Schultern leicht
hochgezogen. »Und weil mir in Australien das Herz gebrochen wurde.
Danach wollte ich einfach nur nach Hause.«
»Oh«, entfuhr es Gina leise. »Das tut mir leid.«
»Muss es nicht«, gab er mit einem schwachen Lächeln zurück. »Ist
inzwischen lange her, und alles hat sich zum Besseren gewendet. Ich bin
jetzt genau dort, wo ich hingehöre.«
Es gab vieles, das sie nicht über Ben wusste, das fiel Gina in diesem
Moment auf. Warum er Handwerker geworden war, anstatt eine
professionelle Surferkarriere anzustreben. Aus welchem Grund er
offensichtlich Single war. Auch wenn sie sich kaum vorstellen konnte, wie
er zwischen Job, Surfen und Restaurierung noch Zeit für eine Freundin
aufbringen sollte. Oder einen Freund. Doch dann musste sie daran denken,
wie er sie in seinem Schlafzimmer angesehen hatte. Sie war sich ziemlich
sicher, dass er nicht schwul war.
»Hast du nicht was von Eiscreme gesagt?«, unterbrach er ihre Gedanken.
Dann streckte er ihr etwas entgegen. Eine DVD von Begegnung. »Ich
dachte, du hast vielleicht Lust, den hier anzusehen.«
Gina grinste erfreut. »Perfekt. Ich mache eine Flasche Wein auf.«
Während der Vorspann lief und Laura Jesson ihre Geschichte zu erzählen
begann, machten sie es sich auf dem Sofa bequem.
»Oh mein Gott, das sind wir!«, rief Gina und deutete auf den Bildschirm,
wo Trevor Howard gerade Celia Johnson dabei behilflich war, ein
Staubkorn aus ihrem Auge zu entfernen. Dabei wurden die beiden von einer
dichten Dampfwolke eingehüllt. »Ich glaub’s nicht.«
Ben schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht. Im Ernst, ich habe gar nicht
mehr an diese Szene gedacht. Dabei habe ich den Film schon mindestens
fünf- oder sechsmal gesehen.«
»Ich auch. Ein Lieblingsstreifen meiner Mutter. Bevor ich nach England
zurückgegangen bin, haben wir oft zusammen Schwarz-Weiß-Filme
angesehen. Als du auf dem Bahnsteig zu meiner Rettung geeilt bist, dachte
ich noch, dass mich die Situation an eine Filmszene erinnert. Wie witzig!«
»Gerettet habe ich dich wohl kaum.« Er setzte eine übertrieben verletzte
Miene auf. »Es war vielmehr so, dass du meine Hilfe rundheraus abgelehnt
hast.«
Sie boxte ihn gegen den Arm. »Ich fand dein Verhalten sehr freundlich.
Und jetzt ssssch, es wird interessant.«
Bis zum Ende des Films wechselten sie nur noch kurz ein paar Worte, um
zu überlegen, wie Ben die heruntergekommene Bar im Palace herrichten
konnte, damit sie der im Film ähnlich sah. Und schließlich fand der Film
sein bittersüßes Ende, und die arme Laura musste ihrem Liebhaber dabei
zusehen, wie er für immer aus ihrem Leben verschwand.
»Glaubst du, sie hat das Richtige getan, als sie sich für Fred entschieden
hat?«, fragte Gina, den Blick nach wie vor auf den Bildschirm geheftet, wo
der Abspann lief.
Ben schürzte die Lippen. »Ich weiß nicht. Fred scheint mir kein
schrecklicher Ehemann zu sein, und ich nehme an, dass sie ihn, zumindest
irgendwann einmal, geliebt hat. Mir gefällt der Gedanke, dass sie es
zusammen schaffen.«
Gina nippte nachdenklich an ihrem Glas Wein. »Dann bist du mit ihrer
Affäre nicht einverstanden?«
»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Ben sanft. »Du hast mich gefragt,
ob ich denke, dass sie bei Fred bleiben sollte. Du hast mich nicht gefragt, ob
ich denke, dass sie ihrem Herzen folgen sollte. Meine Antwort darauf wäre
Ja gewesen.« Sein Blick ruhte eine Sekunde zu lange auf ihr, bevor er
Richtung Küche blickte. »Wie auch immer, ich deute wirklich nicht gerne
an, dass du eine schlechte Gastgeberin bist, aber von dem Eis, dass du mir
versprochen hast, habe ich immer noch nichts gesehen. Oder hast du mich
mit falschen Versprechungen hergelockt?«
»Oh!«, rief Gina und sprang auf. Sie durchquerte das Wohnzimmer, trat in
die offene Küche und öffnete das Gefrierfach. »Das ist die neue
Geschmacksrichtung, die ich gerne für das Event vorschlagen würde, aber
zuerst brauche ich eine zweite Meinung.« Sie löffelte etwas von der gold-
braunen Eiscreme in eine Schüssel und reichte sie Ben. »Was hältst du
davon?«
Er probierte, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich beinahe in
derselben Sekunde. »Das schmeckt unglaublich gut! Was ist das?«
»Shortbread-Eis. Die Grundlage bildet normales Vanilleeis, das ich mit
zerstoßenen und karamellisierten Shortbread-Keksen gemischt habe.
Findest du, dass es zu unserem Event passt?«
Ben aß einen weiteren Löffel voll. »Machst du Witze? Es ist perfekt. Hast
du deinen Großvater schon probieren lassen?«
»Nein, ich dachte …« Als im selben Moment ihr Telefon auf der
Küchenanrichte zu vibrieren begann, zuckte Gina erschrocken zusammen.
Sie warf einen raschen Blick auf das Display, und ihr Herz machte seinen
Satz. Max. Schon seit ein paar Tagen versuchten sie sich gegenseitig zu
erreichen, hatten sich aber immer verpasst. »Da sollte ich kurz rangehen«,
sagte sie mit einem entschuldigenden Blick an Ben gewandt. »Sorry.«
»Kein Problem.« Er sah auf die Uhr. »Ich sollte sowieso langsam nach
Hause gehen. Schon gut, du musst mich nicht zur Tür bringen, ich finde den
Weg.«
»Danke«, sagte sie, den Daumen über dem Antworten-Button. »Und
vielen Dank, dass du vorbeigekommen bist. Das war wirklich nett von dir.«
Kleine Lachfältchen gruben sich in die Haut um seine Augen, als er zur
Tür ging. »Sehr gerne. Um ehrlich zu sein, musstest du nicht viel mehr
sagen als das Wort Eiscreme.«
Gerade, als Gina den Anruf annahm, drehte sich Ben noch einmal zu ihr
um. »Ach ja, wir sollten noch mal genauer darüber sprechen, wie du dir die
Bar vorstellst. Aber das hat Zeit. Bis bald, Gina.«
Lächelnd hob sie eine Hand zum Abschied, bevor sie die Tür hinter ihm
schloss und sich anschließend das Handy ans Ohr hielt. »Hi Max,
entschuldige.«
»Wer war das?«, fragte er neugierig.
»Nur Ben«, antwortete Gina. »Er ist der alte Freund, von dem ich dir
erzählt habe. Mit dem ich als Jugendliche meine Sommer hier verbracht
habe.«
Ein kurzes Schweigen trat ein, bevor sich Max wieder zu Wort meldete.
»Ach, dann lebt der doch noch da? Und was habt ihr an einem
Sonntagabend um halb elf zusammen gemacht? In Erinnerungen
geschwelgt?«
Gina runzelte irritiert die Stirn. Dieses Verhalten sah Max gar nicht
ähnlich. »Nein, wir haben zusammen an dem Event gearbeitet, das wir für
das alte Kino planen«, sagte sie und kreuzte dabei die Finger, auch wenn es
nicht wirklich gelogen war. »Ben ist Handwerker, und er wird die Bar im
Kino so herrichten, dass sie aussieht wie die im Film.«
Eine weitere kurze Pause folgte, bevor Max ein Seufzen hören ließ.
»Entschuldige, ich wollte mich nicht wie ein Idiot aufführen. Du schuldest
mir keine Erklärungen.«
Er klang müde, wie schon bei ihrem letzten Telefonat, und Gina fragte
sich, ob er das Wochenende durchgearbeitet hatte. »Mach dir deswegen
keine Gedanken, du hast jedes Recht, neugierig zu sein. Wie geht es dir
denn sonst so?«
Es dauerte nicht lange, bis Gina herausgefunden hatte, dass seine
Müdigkeit auf eine Junggesellenparty am vorhergehenden Abend
zurückzuführen war. Sie musste grinsen, als er ihr beschrieb, was der arme
Bräutigam alles hatte mitmachen müssen. »Hört sich an, als könntest du
eine Pause gebrauchen«, stellte sie fest, als er fertig erzählt hatte. »Wie
wäre es mit Cornwall?«
»Wann? Nenn mir ein Datum, und ich werde da sein.«
Sie runzelte irritiert die Stirn. »Ich hab dir das Datum schon geschickt,
Max. Nächstes Wochenende. Wir haben letzten Sonntag darüber
gesprochen, und du hast gesagt, du würdest deinen Kalender checken.
Erinnerst du dich?«
»Hab ich das?« Seine Stimme klang gedämpft, als würde er sich mit der
Hand übers Gesicht fahren. »Verdammt, ich kann mich kaum erinnern, was
ich gestern gemacht habe, ganz zu schweigen von vor einer Woche.« Eine
weitere Pause folgte, von der Gina annahm, dass er sie nutzte, um einen
Blick in seinen Kalender zu werfen. Schließlich schnaubte er verärgert.
»Nächstes Wochenende geht es nicht. Kannst du die Filmvorführung
verschieben?«
Gina hätte beinahe ihr Handy fallen lassen. »Nein, natürlich nicht. Wir
haben Flyer drucken lassen, und in der Zeitung ist ein Artikel erschienen.
Die Leute haben Eintrittskarten gekauft. Ich kann nicht mal eben so ein
Event verschieben, nur weil mein Freund seine Termine nicht im Griff hat.«
»Dann kann ich nicht kommen«, sagte Max ohne Umschweife. »Toll.«
»Was ist bloß mit dir los? Du weißt inzwischen schon eine ganze Weile,
wann die Filmvorführung stattfindet. Kannst du dafür nicht deine anderen
Termine verschieben?«
»Ich denke nicht, tut mir leid«, sagte er und klang dabei aufrichtig
bedauernd. »Wie es aussieht, muss ich einfach an einem anderen
Wochenende kommen. Wann passt es dir denn?«
Bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, blätterte Gina
durch ihren Kalender und nannte ihm ein paar weitere mögliche Daten.
Danach breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus.
»Ich vermisse dich«, sagte Gina nach einer Weile vorsichtig.
»Ja, ich dich auch«, sagte er müde. »Hör zu, wie wäre es, wenn ich dich
morgen wieder anrufe? Ich bin heute nicht in der besten Verfassung.«
»Ja, klar. Pass auf dich auf. Ich liebe dich.«
»Ja, okay, wir hören uns. Tschüss.«
Nachdem er aufgelegt hatte, starrte Gina grübelnd auf ihr Handy. Was
hatte sie falsch gemacht? Er ist nur müde, erinnerte sie sich selbst. Und es
war zwar schade, dass er das Event verpassen würde, andererseits konnte er
mit Kino sowieso nichts anfangen. Und sie wäre zu beschäftigt, um sich
Gedanken darum zu machen, ob er seinen Spaß hatte, ganz abgesehen
davon, dass sie kaum Zeit für ihn gehabt hätte.
Sie ließ das Handy auf die Küchenanrichte sinken und schloss für einen
Moment die Augen. Vielleicht war es sogar besser, dass er es nicht schaffte,
nach Cornwall zu kommen, entschied sie und löffelte den Rest der halb
geschmolzenen Eiscreme aus der Schale.

Ohne Onlineverkäufe hatte Gina absolut keine Anhaltspunkte, wie viele


Leute zu dem Kinoabend kommen würden. Sie hatte eine Facebook-Seite
für das Palace ins Leben gerufen und sie mit der Website für den Abend
verlinkt, was ihr zwar viele Likes eingebracht hatte, aber nicht zu
Ticketverkäufen zu führen schien. Nach Rücksprache mit Bruno erfuhr sie,
das er zehn Vorbestellungen in seinem kleinen Büchlein notiert hatte. Und
das drei Tage vor dem großen Tag.
»Haben die Vorbesteller sofort bezahlt?«, erkundigte sich Gina, während
sie versuchte, das nervöse Flattern in ihrem Magen zu ignorieren.
»Vielleicht die Hälfte«, sagte Bruno. »Carrie von der Boutique hat
bezahlt, und sie bringt ein paar Freunde mit. Die anderen haben mir
versichert, dass sie an der Abendkasse bezahlen.«
»Das ist nicht genug.« Gina seufzte. »Wenn nicht mehr Leute kommen,
lohnt sich das Ganze nicht.«
Bruno zuckte die Achseln. »Was soll ich sagen? Die sind es gewohnt,
spontan vorbeizuschauen. Oder eben auch nicht, je nachdem.«
Gina warf einen Blick über die Schulter auf die halb reparierte Bar. Ben
berechnete ihnen fast nichts für die Instandsetzung des unebenen Bodens
hinter der Theke und die Verschönerungsarbeiten, um sie dem Café, das im
Film eine Rolle spielte, möglichst ähnlich zu machen. »Ich denke mal, dass
die leckere neue Eissorte und das Popcorn ein paar mehr Besucher als sonst
anlocken werden.«
Ihr blieb nichts anderes, als darauf zu hoffen, dass die Ticketverkäufe bis
Freitag anzogen. Andernfalls wäre sie blamiert und Gorran vermutlich
pleite.
Sie traute sich nicht, Nonno davon zu erzählen. Wenn er Fragen stellte,
blieb sie so vage wie möglich. Selbst ihre neue Eiscremesorte hatte er noch
nicht probiert. Doch am Donnerstagmorgen hielt sie es nicht mehr aus und
bat ihren Großvater, sich mit ihr in der Molkerei zu treffen.
»Schließ die Augen«, wies sie ihn an und stellte eine Schüssel vor ihn auf
die Arbeitsfläche. Dann drückte sie ihm einen Löffel in die Hand. »Jetzt
darfst du gucken.«
Er starrte einen Augenblick auf die goldene Masse, dann tauchte er den
Löffel hinein. Sekunden verstrichen, während er aß, erneut seine Augen
schloss und sich mit jedem Bissen Zeit ließ. Als die Schüssel schließlich
leer war, wandte er sich zu Gina um. »Sehr gut. Was ist das für eine
knusprige Zutat? Keine Nüsse oder Pralinen, da bin ich mir sicher.«
»Shortbread«, sagte Gina und hielt gebannt den Atem an. »Dann ist das
ein Ja? Bekommt das Eis den Ferrelli-Segen für Freitag?«
Nonno kratzte mit dem Löffel die Reste aus der Schüssel. »Natürlich. Ich
denke, es ist perfekt.«
Gina spürte, wie sie eine Welle der Erleichterung und Freude überrollte.
»Danke, Nonno.«
Er sah sie ernst an. »Ich wusste immer, dass du Gelato im Blut hast, Gina,
genau wie deine Mutter. Du bist eine echte Ferrelli. Ich bin stolz auf dich.«
Bei der Erwähnung seiner Tochter sah er so traurig aus, dass Gina ihn
spontan in eine Umarmung schloss. Sie wusste, dass der Bruch ihre Mutter
genauso mitnahm wie Nonno. In der Vergangenheit hatte ihre Mum immer
wieder Fragen gestellt, durch die sie sich indirekt danach erkundigte, wie es
Ferdie ging. Das ließ Gina hoffen, dass die beiden ihre Differenzen
irgendwann beilegen würden. Ferdie war mit dem Alter weicher geworden,
und die vielen Jahre, die Ginas Mutter inzwischen im Ausland lebte, hatten
den Schmerz, den sie empfunden hatte, als ihr Vater sie beschuldigte, die
kleine Gina zugunsten ihrer Karriere zu vernachlässigen, kleiner werden
lassen. Das Problem war, dass sie beide Sturköpfe waren und ein
aufbrausendes Temperament hatten, dachte Gina, während sie ihren
Großvater noch fester umarmte. Sie waren sich eben zu ähnlich.
Dann trat sie mit einem Lächeln einen Schritt zurück. »Das bedeutet mir
sehr viel, Nonno. Ich bin auch stolz, eine Ferrelli zu sein.«
Kapitel Neun

Die fehlenden Glühbirnen, die den Schriftzug The Palace bildeten, waren
endlich ersetzt worden.
Um kurz nach sieben stand Gina bewundernd vor dem alten Kino. Es
erstrahlte in neuem Glanz und sah wunderschön aus – drinnen wie draußen.
Gorran hatte es endlich geschafft, ein paar Original-Filmplakate
aufzutreiben, die jetzt in den Schaukästen hingen. Manda war als
Platzanweiserin aus den Vierzigern verkleidet, und Bruno hatte
offensichtlich eine alte Pagenuniform gefunden, die perfekt zu seiner
Aufgabe als Ticketverkäufer passte.
Die Bar war aufgefüllt und in eine überwältigende Replik des
Bahnhofscafés aus Begegnung verwandelt worden, und der Barkeeper stand
bereit, um elegante Cocktails zum Soundtrack der Dreißiger, der im
Hintergrund dudelte, zu servieren. Selbst Gorran hatte sich Mühe gegeben:
Er trug einen Anzug und einen weichen Filzhut. Dank Carries genialem
Einfall hatte Gina ihr Outfit an Laura Jesson angelehnt, komplett mit
frecher Schirmmütze und falscher Pelzstola. Nur Ginas roten Lippenstift –
den hätte Laura wohl niemals zu tragen gewagt. Alles, was jetzt noch fehlte,
waren die Gäste.
Im Laufe des Donnerstags und Freitags hatten sie noch einige
Eintrittskarten verkauft, sodass sie damit rechnen konnten, dass das Kino
zumindest nicht peinlich leer war. Ben hatte eine Rolle alter Zugfahrkarten
mitgebracht, und Gina hatte ihn gebeten, sie an die Gäste zu verteilen,
damit sie diese beim Betreten des Kinosaals von Gorran abknipsen lassen
konnten.
Beim Anblick von Bens Kostüm musste Gina lachen. Er trug die Haare
unter seinem Hut zurückgekämmt und war ganz offensichtlich Alec Harvey,
der Gegenpart zu der von ihr verkörperten Laura.
»Du siehst aus, als gehörtest du auf die Leinwand«, murmelte er bei ihrer
Begrüßung. »Lass es mich wissen, falls dir noch mal ein Staubkorn ins
Auge fliegt.«
Um halb acht trudelten die ersten Gäste ein, und Ginas Magen
verkrampfte sich. Was, wenn jetzt noch etwas schiefging?
»Entspann dich«, sagte Ben, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Der
harte Teil der Arbeit liegt hinter uns, jetzt ist es an der Zeit, Spaß zu haben.«
Er hatte recht, das war Gina klar, doch das bedeutete nicht, dass ihre
Gedanken aufhörten zu rasen. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie sich erst
besser fühlen würde, wenn sich abzeichnete, dass das Event ein Erfolg war.
Und das würde erst der Fall sein, wenn alle Gäste bei laufendem Film im
Kinosaal saßen. Doch es brachte sie auch nicht weiter, so offensichtlich
nervös zu wirken, also holte sie einmal tief Luft und zwang sich zur Ruhe.
Immerhin werde ich meinem Filmcharakter gerecht, dachte sie, als sie sich
die unruhige Laura vorstellte.
Die Minuten verstrichen, und immer mehr Gäste trafen ein. Eine
Mischung aus jung, alt und irgendetwas dazwischen. Viele von ihnen hatte
sich große Mühe mit ihren Kostümen gegeben – ohne Zweifel hatten sie
sich bei Carrie’s Speicher inspirieren lassen –, und bald schon erinnerte das
Foyer an ein Filmset. Carries Outfit war natürlich perfekt: Sie glich fast
haargenau Dolly Messiter, der geschwätzigen Freundin, welche das
Liebespaar im Film daran hindert, sich richtig voneinander zu
verabschieden.
»Wow«, entfuhr es Gina bei ihrem Anblick. »Du siehst aus, als wärst du
geradewegs aus der Leinwand herausgestiegen.«
»Findest du wirklich, Laura Schätzchen?«, antwortete Carrie mit
näselnder Stimme. »Wie überaus reizend von dir.« Zufrieden sah sie sich im
Foyer um. »Ein voller Erfolg. Gut gemacht!«
Gina hob die Augenbrauen. »Was zu keinem kleinen Teil deinen tollen
Outfits zu verdanken ist. Gibt es jemanden hier, der nicht bei dir war?«
»Nein, ich glaube nicht«, gab Carrie zu. »Die letzte Woche habe ich mehr
oder weniger dauerhaft vor dem Laptop verbracht, um passende Kostüme
auf eBay aufzutun. Aber es hat Spaß gemacht, und ich finde, Ben gibt einen
besonders umwerfenden Dr. Harvey her, oder?«
»Ja?« Gina zwang sich zu einem möglichst beiläufigen Tonfall. »Ich habe
ihn nur kurz im Vorbeigehen gesehen.«
»Da drüben ist er.« Carrie deutete auf die andere Seite des Foyers. »Er
unterhält sich gerade mit Rose.«
Gina folgte ihrem Blick. Ben stand neben einer glamourösen Blondine
und schien völlig in das Gespräch mit ihr vertieft zu sein. In der nächsten
Sekunde hob die Frau eine Hand und strich Ben über die Wange.
Gina spürte, wie sich etwas in ihrem Magen zusammenzog. »Ich glaube,
ich kenne sie nicht. Wer ist das?«
Carrie stieß ein Knurren aus. »Rose Arundell. Lokales It-Girl und
sozusagen Cornwall-Adel. Es geht das Gerücht um, dass sie und Ben vor
einer Weile was miteinander hatten. Und seitdem versucht sie, wieder ihre
Krallen in ihn zu schlagen.« Sie warf Gina einen Seitenblick zu. »Armer
Ben … Sollen wir ihn retten?«
Das Bett ist groß genug für zwei, hörte Gina Bens Stimme in ihrem Kopf.
»Geh du«, sagte sie zu Carrie. »Ich wollte gerade nachsehen, wie es mit
dem Eisverkauf läuft.«
Gina versuchte, Ben und Rose möglichst zu ignorieren, als sie zum
Ferrelli’s hinüberging.
Auf beiden Seiten der Eisdiele hatte sich eine lange Schlange gebildet,
und Gina war froh, dass sie Heather ebenfalls gebeten hatte zu kommen.
Nonno und Nonna trauten ihren Augen kaum, als sie das Foyer betraten
und die vielen Menschen sahen, die sich unterhielten und miteinander
lachten.
»Das ist unglaublich«, sagte Nonno, der sich umsah, als würde er träumen.
»Du hast ein wahres Wunder vollbracht.«
Ganz in der Nähe hob in diesem Moment eine Frau ihre Eiswaffel und
verkündete mit verzücktem Gesichtsausdruck: »Was für leckere Gelati,
Ferdie. Damit hast du dich selbst übertroffen.«
Ihr Begleiter nickte. »Es war wirklich Zeit für ein paar neue Sorten. Ich
hoffe, da kommt noch mehr!«
»Siehst du?« Elena verpasste Ferdie einen sanften Stoß mit dem Ellbogen
in die Rippen. »Wirst du jetzt endlich auf mich hören?«
Ginas Atem hatte sich gerade endlich beruhigt, als sie Tash bemerkte, die
verstohlen den Kopf aus der Tür neben dem Ticketschalter steckte.
»Pssst!«, zischte sie und winkte Gina näher.
Gina ging hastig zu ihr hinüber, während sich ihr der Magen schon wieder
umdrehte. »Alles okay, Tash?«
Die Filmvorführerin schüttelte den Kopf. »Nein. Mir fehlt eine Rolle.«
Gina starrte sie an, da sie nicht wirklich begriff. »Und das bedeutet …«
»Ich habe nicht den ganzen Film«, sagte Tash grimmig. »Es wird eine
ziemlich lange Pause von vierundvierzig Minuten geben.«
»Oh nein«, hauchte Gina, die spürte, wie ihr sämtliches Blut aus den
Wangen wich. »Wo könnte die Rolle denn sein?«
Tash zuckte mit den Schultern. »Ich habe überall gesucht. Sie ist weder im
Archiv noch im Vorführraum. Gorran weiß es vielleicht, aber er geht nicht
an sein Handy. Und ich kann hier nicht weg.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Gina. »Keine Panik, die Rolle muss
schließlich irgendwo sein.«
Mit möglichst unbekümmertem Gesichtsausdruck bahnte sich Gina einen
Weg durch die Gäste, bis sie Gorran fand.
Als sie ihm die Hiobsbotschaft überbrachte, runzelte er die Stirn. »Aber
sie kann nicht weg sein. Ich habe die Rollen heute Morgen selbst noch mal
nachgezählt.«
»Dann waren sie also definitiv alle da?«, hakte Gina nach.
Er nickte. »Ja. Neun Rollen, so wie es sein sollte.«
»Könnte jemand sie weggenommen haben?«
Gorran machte ein zweifelndes Gesicht. »Ich wüsste nicht wie.«
»Gibt es ein Problem?«, erkundigte sich Ben, der neben Gina aufgetaucht
war.
»Nur ein kleines«, antwortete sie und sah sich verstohlen nach Rose um,
konnte sie aber nirgends entdecken. Also klärte sie Ben schnell auf.
Ben warf einen Blick auf die Uhr. »Uns bleiben zwanzig Minuten. Meinst
du, wir schaffen es, das Palace in dieser Zeit einmal von oben bis unten zu
durchsuchen, Gorran?«
Gorran stieß nachdenklich die Luft aus. »Wir können es versuchen. Ich
sehe im Büro nach, Tash kann den Mitarbeiterraum übernehmen, und ihr
beide teilt das Archiv und den Vorführraum zwischen euch auf.«
Gina übernahm das Archiv, einen schummrigen Raum im hintersten Teil
des Gebäudes, der von oben bis unten mit Regalen gefüllt war. Jeder Film
war deutlich gekennzeichnet, und manche von ihnen bestanden aus mehr
Rollen, als sie Zeit gehabt hätte zu zählen. Sie zog eine Trittleiter heran und
begann ganz oben. Eine Filmrolle nach der nächsten zog sie heraus und
warf einen Blick auf das Label. Ihr war nur allzu bewusst, wie die Minuten
verstrichen – eine kurze Verzögerung spielte keine Rolle, aber wenn sie die
Gäste zu lange warten ließen, würden sie unruhig werden. Doch bevor sie
die fehlende Rolle nicht gefunden hatten, konnten sie den Film nicht
starten.
Als sie bei V wie Vendetta ankam, verließ sie langsam die Hoffnung. Das
untere Regalbrett war nur etwa bis zur Hälfte gefüllt. Mit einem
verzweifelten Stöhnen zog Gina die letzte Rolle heraus. Wieder nichts. Was
nun?, fragte sie sich, während sie aufstand und sich den Staub von den
Knien klopfte. Es blieben ihnen nur wenige Minuten, bis der Film beginnen
sollte. Wo sollte sie noch suchen?
Sie strich sich die Haare aus den Augen und ging schnellen Schrittes auf
die Tür zu, dabei streifte ihr Blick einen Stapel Begegnung-Filmplakate auf
dem Boden, unter dem eine Filmrolle hervorblitzte. Sie stürzte sich darauf
und zog die silberne Rolle unter dem Papierstapel hervor. »Ja!«, schrie sie,
als sie das Label las. Gorran musste die Rolle versehentlich hier liegen
gelassen haben, als er die Plakate geholt hatte.
Gina schob sie vorsichtig unter den Arm und riss die Tür auf. »Ich hab sie
gefunden«, rief sie, während sie zum Vorführraum sprintete. »Gorran! Tash!
Ich hab sie gefunden!«
Gorran stürzte aus seinem Büro, einen Haufen Blätter in einer Hand. Und
Tash streckte erleichtert den Kopf aus der Tür zum Pausenraum. Sie riss
Gina die Rolle aus der Hand und hastete damit davon.
Ben stand niedergeschlagen in der Mitte des Vorführraums, als sie
hereinkamen.
»Wir haben sie!«, verkündete Tash triumphierend. »Gebt mir ein paar
Minuten, dann sind wir startklar.«
Gina ließ sich erschöpft gegen den Türrahmen sinken, nicht sicher, ob sie
lachen oder weinen sollte.
»Na komm«, sagte Ben und drückte sich an Tash vorbei. »Lassen wir sie
in Ruhe ihre wunderbare Arbeit machen.«
Gorran stand noch immer im Flur. Er sah aus, als wäre gerade sein
gesamtes Leben vor seinem inneren Auge vorbeigezogen. »Stell dir vor, wir
hätten sie nicht gefunden«, murmelte er. »All diese Leute wären furchtbar
enttäuscht gewesen.«
»Aber das haben wir«, sagte Gina und tätschelte ihm beruhigend den Arm.
»Katastrophe abgewendet. Und jetzt sollten wir besser zusehen, dass alle
ihre Plätz finden, oder?«
Er blinzelte. »Ja, natürlich. Überlass das mir.«
Gina sah ihm nach, als er davoneilte. »Das war knapp«, sagte sie an Ben
gewandt.
»Stimmt. Wo hast du die Rolle gefunden?«
»Unter einem Stapel Plakate begraben. Es war reines Glück, dass ich sie
entdeckt habe.«
»Wo wir gerade von entdecken sprechen …« Ben trat einen Schritt auf sie
zu und legte die Hände an ihre Wangen. »Du hast da ein wenig Staub.«
Gina bewegte sich keinen Zentimeter, als er zärtlich über ihre Haut rieb.
Seine Augen wirkten blauer als jemals zuvor, und sie konnte die
verblassten Sommersprossen erkennen, die früher sehr viel deutlicher zu
sehen gewesen waren.
Es konnten nicht mehr als zwei oder drei Sekunden sein, in denen sie so
dastanden, doch es kam Gina vor, als würde sie Ben stundenlang
betrachten. Genau wie im Film, dachte sie verträumt. Ich bin Laura und er
ist Alec.
Dann sah er ihr in die Augen, und ihr stockte der Atem. Er wird mich
küssen, dachte sie und hielt unwillkürlich noch stiller. Und ich glaube nicht,
dass es mir etwas ausmachen würde.
Einen Moment lang sah er ihr einfach nur in die Augen, als trage er einen
inneren Kampf mit sich aus, was er als Nächstes tun sollte. Dann neigte er
den Kopf leicht nach vorn.
Sie ließ die Augen geöffnet, als seine Lippen über ihre strichen, auch
wenn ein Teil von ihr sie gerne geschlossen hätte; aber sie wollte sich
dessen, was sie hier tat, vollkommen bewusst sein. Es gab so viele Gründe,
aus denen es sich hätte falsch anfühlen müssen, und trotzdem tat es das
nicht. Ganz im Gegenteil, es fühlte sich warm und beruhigend an. Wie nach
Hause kommen.
Als der Kuss endete, klopfte Ginas Herz wie wild in ihrer Brust, und sie
stellte fest, dass sie die Augen doch noch geschlossen hatte.
Als sie sie öffnete, sah Ben sie erschrocken an. »Gina, ich …«
Die Tür zum Foyer wurde aufgerissen, und Gorran streckte seinen Kopf
um die Ecke. »Showtime! Kommt ihr?«
Ben öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Gina kam ihm zuvor.
»Später«, murmelte sie und rieb mit den Fingerspitzen sanft etwas
Lippenstift aus seinem Mundwinkel. »Wir sprechen später darüber.«
Auf der anderen Seite der Tür strömten die Gäste in den Kinosaal.
In der Hoffnung, nicht ganz so schuldbewusst zu wirken, wie sie sich
fühlte, gesellte sich Gina zu ihren Großeltern.
»Du musst nicht den Babysitter für uns spielen«, schimpfte Nonna, als
Gina vorschlug, sich neben sie zu setzen. »Wir sind nicht zum ersten Mal
im Kino. Na los, setz dich zu Ben.«
Gina spürte, wie sie rot wurde, als sie zu Ben hinübersah, der neben dem
Eingang zum Kinosaal lehnte und sie beobachtete. Neben ihm stand Rose,
einen Arm besitzergreifend unter seinen gehakt. »Nein, ich glaube nicht,
dass …«
»Gina!«, erscholl es in diesem Moment laut über die Köpfe der Zuschauer
hinweg aus dem Foyer.
Sie fuhr herum.
Max stand in der Tür zum Kinosaal, einen Filzhut in der Hand und eine
Nelke im Knopfloch seines altmodischen Anzugs. Für einen Moment blieb
sie wie angewurzelt stehen, dann hastetet sie auf ihn zu.
»Max!«, keuchte sie. »Was machst du denn hier?«
»Ich wollte dich sehen.« Er zog sie für einen Kuss in seine Arme.
Gina entwand sich ihm so schnell, wie sie es irgendwie vertreten konnte.
Sie wagte es nicht, ihre Großeltern oder Ben anzusehen.
»Ich dachte, du hättest zu tun?«
Max zuckte mit den Schultern. »Ich habe alle Termine und Partys
abgesagt. Leider kann ich nur eine Nacht bleiben, aber ich weiß, wie
wichtig dir das hier ist.« Er sah sich interessiert um. »So sieht das Kino also
von innen aus. Du hast recht, es ist wirklich ein großartiges Gebäude.«
Gina schluckte schwer und zwang sich zu einem Lächeln, als er ihr einen
Arm um die Schultern legte. »Na los. Ich will deinen Großeltern Hallo
sagen.«
Besorgt sah sich Gina um, als sie Max zu Nonna und Nonno führte. Ben
war nirgends mehr zu entdecken.
Sie gab sich innerlich einen Ruck und schob den Gedanken an ihn
beiseite. Sie konnte jetzt weder über ihn noch über das, was der Kuss
bedeutete, nachdenken, genauso wenig wie über die Art, wie Rose sich an
ihn ranschmiss. Ben musste warten.
Kapitel Zehn

Die Zuschauer brachen in spontane Jubelrufe und Applaus aus, als der
Abspann über die Leinwand lief, und Gina war klar, dass es nichts mit
Lauras Entscheidung zu tun hatte, bei ihrem Ehemann zu bleiben.
Der Abend war ein voller Erfolg, trotz der kurzen Panik wegen der
vermissten Filmrolle. Gina beobachtete, wie die Leute bei Gorran stehen
blieben, um ihm zu gratulieren, doch er winkte bescheiden ab und deutete
stattdessen auf sie. Als sie mit dem Schütteln diverser Hände fertig war,
schmerzten ihre Arme mindestens genauso wie ihre Wangen; sie konnte
sich nicht erinnern, irgendwann schon mal so lange am Stück gelächelt zu
haben.
Ein- oder zweimal sah sie Bens Gestalt in der Menge aufblitzen, doch er
blickte nicht in ihre Richtung. Und als sich das Foyer deutlich gelichtet
hatte, konnte sie ihn nirgendwo mehr entdecken. Nur Rose lehnte allein und
mit wütender Miene an der Bar. Max schien dagegen eine Charmeoffensive
nach der anderen zu starten. Er stand bei ihren Großeltern und einigen ihrer
Freunde und brachte sie mit einer ungeheuerlichen Geschichte nach der
anderen über die Londoner Immobilien- und Baubranche zum Lachen.
Einen Augenblick lang stand Gina einfach nur da und beobachtete ihn. Es
war schön, dass er seine Termine verschoben und den ganzen Weg
hergekommen war, um an diesem Abend bei ihr zu sein. Und er gab sich
ganz offensichtlich große Mühe mit ihren Großeltern. Nonnas
Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wirkte sein Charme wahre Wunder.
»Und hier ist sie, die Frau der Stunde«, verkündete Max, als sie sich zu
der kleinen Gruppe gesellte, und trat einen Schritt zurück, um ihr
fürsorglich eine Hand auf den Rücken zu legen. »Es war ein wunderbarer
Abend, Gina. Ich hoffe, es war auch Presse da?«
Gina nickte. »Ein Journalist und ein Fotograf von der Lokalzeitung. Die
bringen bestimmt was darüber.« Sie sah neugierig zu ihm auf. »Hat dir der
Film gefallen?«
Er wich ihrem Blick aus. »Natürlich. Vielleicht ein klein wenig
altmodisch und eintönig, aber vermutlich sollte es sich ja auch so anfühlen,
oder? Als ob wir in der Zeit zurückgereist wären.«
Gina starrte ihn an. »Eintönig? Wie kannst du den Film eintönig finden?«
Max hob eine Augenbraue. »Ach, komm schon, all diese langmütigen
Schuldgefühle und aufgestauten Emotionen? Das kann man sich heute doch
gar nicht mehr vorstellen – die Menschen verhalten sich nicht mehr so.«
Ein Bild von Ben, nah an ihrem Gesicht, bereit sie zu küssen, tauchte in
ihrem Kopf auf. Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurde. »Glaubst du
wirklich?«
Er lachte. »Ja, das glaube ich wirklich. Aber jetzt möchte ich endlich
dieses wunderbare Apartment sehen, von dem ich schon so viel gehört
habe. Ich freue mich schon darauf, morgen zum Rauschen der Wellen
aufzuwachen.«
Gina schenkte ihren Großeltern ein Lächeln. »Hat es euch gefallen?«
Elena drückte ihre Hand. »Es war wundervoll. Und Nonno möchte sich
mit dir über neue Eiscremesorten unterhalten.«
»Da besteht keine Eile«, grummelte Ferdie. »Gönn dir erst mal eine
Pause.«
Ginas Lächeln wurde breiter. »Ich kann es kaum erwarten.« Dann beugte
sie sich vor und gab ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange.
»Ben hat mich gebeten, dir noch einen schönen Abend zu wünschen«,
wisperte ihr die ältere Frau zu. »Er hat gesagt, dass er dich nicht stören
möchte, aber wenn du mich fragst, wollte er vor allem so schnell wie
möglich von dieser schrecklichen Rose Arundell weg.«
Gina spürte einen messerscharfen Stich im Bauch. Rasch trat sie einen
Schritt zurück und sah Elena in die Augen, in denen ein wissender
Ausdruck lag. »Gute Nacht, Nonna.«

»Daran könnte ich mich definitiv gewöhnen«, sagte Max am nächsten


Morgen, als Gina ihm einen Kaffee ans Bett brachte. »Ich glaube, ich
verstehe jetzt, wie du das mit dem Wellenrauschen meinst. Das gefällt mir.
Es ist wirklich sehr beruhigend.«
Gina unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte schlecht geschlafen. Stundenlang
hatte sie sich hin und her gewälzt, während ihre Gedanken einfach keine
Ruhe gefunden hatten. Und als sie endlich weggedämmert war, hatte sie
wirre Träume gehabt, in denen sie im Palace nach Dingen gesucht hatte, die
sich jedes Mal, wenn sie sie zu entdecken geglaubt hatte, in etwas anderes
verwandelten. Sie war erleichtert gewesen, endlich aufstehen zu können.
»Wir könnten einen Spaziergang an den Klippen entlang machen«, schlug
sie vor, die Hände um ihren wärmenden Kaffeebecher gelegt. »Und
anschließend in Polwhipple frühstücken.«
Max betrachtete sie mit schweren Lidern. »Ich würde lieber hierbleiben.«
Gina sah aus dem Fenster in den klaren blauen Himmel. In der
vergangenen Nacht hatte er ihr gezeigt, wie sehr er sie vermisst hatte. Sie
waren kaum durch die Tür gewesen, als er sie geküsst hatte, und es hatte
nicht lange gedauert, bis der Gedanke an Ben aus Ginas Kopf
verschwunden war. Doch jetzt, am nächsten Morgen, fühlte es sich anders
an. Sie war sich nicht sicher, was sie wollte. Max hier bei sich zu haben,
fühlte sich falsch an. Er gehörte nach London, in die reale Welt.
Gina schluckte ein Seufzen hinunter. Wann waren die Dinge so
kompliziert geworden?
»Ich will, dass du nach Hause kommst«, unterbrach Max ihre Gedanken.
»Ich vermisse dich.«
Gina wandte sich zu ihm um. »Ich komme ja zurück. Sobald Nonno
wieder auf den Beinen ist.«
»Gestern Abend hat er einen ziemlich fitten Eindruck auf mich gemacht.«
Sie runzelte die Stirn. »Er kann sich bewegen, falls du das meinst. Aber es
ist ein großer Unterschied, ob man ab und zu etwas unternimmt oder den
ganzen Tag in der Küche steht, um das Ferrelli’s mit genug Eis zu
versorgen. Bald ist Ostern, und die Verkäufe werden anziehen. Abgesehen
davon hast du Nonna doch gehört. Er hat endlich eingesehen, dass es an der
Zeit ist, ein paar neue Sorten auszuprobieren.«
Max stieß ein gutmütiges Brummen aus. »Okay, ich weiß, dass ich mich
gerade ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt habe – vor allem, nachdem es
gestern Abend so gut gelaufen ist. Wie es aussieht, werde ich dich einfach
häufiger besuchen kommen müssen, das ist alles.«
Gina lächelte. Es war wirklich süß von ihm, dass er gekommen war. Sie
konnte sich an keinen einzigen Anlass erinnern, seit sie sich kannten, zu
dem er für sie einen Termin abgesagt oder verschoben hätte.
»Klingt gut. Und jetzt steh auf und zieh dir was an. Ich möchte dir den Ort
zeigen.«

Fast den ganzen Montag verbrachte Gina mit ihren Großeltern, um sich
neue Ferrelli’s Eissorten zu überlegen. Am Dienstagmorgen traf sie sich mit
Gorran, der immer noch komplett überwältigt vom Erfolg des Mottoabends
war und wissen wollte, wann sie etwas Ähnliches wiederholen könnten.
Und am Dienstagnachmittag war sie mit dem Ausprobieren neuer Rezepte
beschäftigt, sodass sie erst am Mittwoch die Zeit fand, an Ben zu denken.
Er hatte sie weder angerufen noch eine Nachricht geschickt, und sie
machte ihm deshalb keinen Vorwurf. Sie fühlte sich selbst schuldig und
irgendwie seltsam. Aber sie mussten die Situation zwischen sich klären,
also riss sie sich zusammen und machte sich auf den Weg zum alten
Bahnhof.
Das Tor war zu, aber nicht verschlossen. Nachdem sie hindurchgetreten
war, folgte Gina dem lauten Geheul eines Bohrers in die Bahnhofshalle.
Das Geräusch kam aus dem Raum zu ihrer Rechten.
Gina räusperte sich, bevor sie laut rief: »Ben? Ben, ich bin’s. Wir müssen
reden.«
Das Geheul verstummte abrupt, und wenige Sekunden später tauchte Ben
im Türrahmen des Ticketbüros auf. Er schob seine Staubmaske herunter.
»Hallo.«
»Hi«, sagte Gina und gab ihr Bestes, die Schmetterlinge, die sich bei
seinem Anblick in ihrem Magen bemerkbar machten, zu ignorieren. »Wie
geht’s?«
»Gut. Und dir?«
Sie brachte ein gequältes Lächeln zustande. »Ganz okay. Hör mal, wegen
neulich Abend …«
Er hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. »Du musst nichts dazu sagen,
Gina. Was ich gemacht habe, war falsch, und es tut mir leid. Ich weiß, dass
du liiert bist. Kannst du mir verzeihen?«
Gina starrte ihn fassungslos an. »Ich wollte mich eigentlich bei dir
entschuldigen. Mir war klar, was passieren würde, und ich hätte es stoppen
müssen. Es tut mir auch sehr leid.«
Ben musterte sie. »Wir haben uns beide von dem romantischen Film
mitreißen lassen.«
Sie nickte. »Ja, ich denke auch. Es war ein Fehler. Ich hoffe, dass er uns
nicht daran hindert, weiter Freunde zu sein?«
Jetzt lächelte er. »Nein. Es braucht eindeutig mehr als einen albernen
Kuss, um uns zwei auseinanderzubringen, stimmt’s?«
Gina war erleichtert. »Stimmt.«
Ben schwieg einen Moment, bevor er sagte: »Abgesehen davon war der
Abend ein Hit. Der ganze Ort spricht über nichts anderes.«
»Es ist wirklich gut gelaufen«, stimmte Gina ihm zu. Beinahe hätte sie
noch hinzugefügt, dass er für Rose Arundell ebenfalls der Hit gewesen war,
biss sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Was er und Rose taten
oder nicht, ging sie nichts an. »Sehr viel besser, als ich gedacht hätte, um
ehrlich zu sein. Gorran hat schon gefragt, wann wir das nächste Event
planen können, aber ich glaube, vorher müssen wir unbedingt was mit den
Sesseln machen. Deswegen wollte ich dich auch sprechen.«
»Ach ja?«
Sie holte tief Luft. »Ich möchte das Palace renovieren.« Als er den Mund
öffnete, um etwas zu entgegnen, kam sie ihm zuvor: »Ich weiß, dass das
keine kleine Aufgabe ist und vermutlich ein Vermögen kosten wird, aber
ich glaube, dass es großes Potenzial hat. Deswegen habe ich mich gefragt,
ob du mir eventuell dabei helfen könntest, Fördergelder bei der Stadt zu
beantragen. Ich weiß vielleicht, wie man Zuschauer anlockt, aber du
verstehst am meisten von der Finanzierung eines solchen Projekts.« Sie sah
flehend zu ihm auf. »Was sagst du? Hilfst du mir, Ben?«
Er schien sie eine halbe Ewigkeit anzustarren, die Stirn gerunzelt. Seine
ernste Miene wurde von den dunklen Staubschlieren unterstrichen, die sich
in seinen kleinen Falten gesammelt hatten. »Unter einer Bedingung«, sagte
er schließlich.
»Ja?«
»Dass du mir dabei hilfst, die Bodmin Railway Preservation Society
davon zu überzeugen, die Strecke bis nach Polwhipple wieder in Betrieb zu
nehmen. Ich glaube, dass wir ein ziemlich gutes Geschäfts-Team abgeben –
wenn wir zusammenarbeiten, sollten wir beide bekommen, was wir
wollen.«
Gina zögerte. Was er sagte, stimmte. Sie und Ben waren bei der
Organisation des Kinoabends ein gutes Team gewesen. Aber wenn sie an
zwei so großen Projekten gleichzeitig zusammenarbeiteten, bedeutete das,
sie würden viel Zeit miteinander verbringen; sie mussten sich eindeutige
Grenzen setzen, um sicherzugehen, dass ihre Beziehung auf einer rein
platonischen Ebene blieb. Denn jetzt, wo Gina Ben als Freund
wiedergewonnen hatte, wollte sie nicht riskieren, ihn noch einmal zu
verlieren.
Entschlossen ging sie auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin. »Ben
Pascoe, du hast dir soeben eine Geschäftspartnerin geangelt. Und so viel
Eiscreme, wie du essen kannst.«
Haben Sie Lust gleich weiterzulesen?
Dann lassen Sie sich von unseren Lesetipps
inspirieren.
Holly Hepburn

Zitronenküsse in der kleinen Eisdiele am Meer


(Teil 2)
Roman

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Im zweiten Teil von Holly Hepburns zauberhaftem Roman strahlt
die Sommersonne über dem kleinen Küstenstädtchen Polwhipple.
Mit Hilfe des attraktiven Handwerkers Ben setzt Gina alles daran,
die Eisdiele ihres Großvaters vor dem Ruin zu retten. Doch damit
sie wieder zum glänzenden Mittelpunkt des malerischen Örtchens
werden kann, muss dringend die Unterstützung des Stadtrats her.
Wird es Gina mit einer rauschenden Sommerparty und einer
exotischen neuen Eiskreation gelingen, auch die skeptischsten
Gemüter zu überzeugen?

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Holly Hepburn

Vanilleträume in der kleinen Eisdiele am Meer


(Teil 3)
Roman
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Im dritten Teil steht die große Neueröffnung der kleinen Eisdiele


am Meer kurz bevor. Gina hat alle Hände voll zu tun. Doch mitten
in den Vorbereitungen überrascht ihr Freund Max sie mit einem
Heiratsantrag und der Bitte, mit ihm nach London zurückzukehren.
Gina ist glücklich – aber warum schlägt ihr Herz dann immer noch
schneller, wenn ihr Jugendfreund Ben in der Nähe ist? Da bittet
Rose Arundell, das It-Girl des kleinen Städtchens, Ben um eine
Verabredung. Und Gina muss sich fragen, ob sie und Rose nicht
doch dasselbe wollen ...

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Holly Hepburn

Schokoladenzauber in der kleinen Eisdiele am


Meer (Teil 4)
Roman
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Im vierten und letzten Teil von Holly Hepburns romantischem


Sommerroman scheint der Eissalon gerettet – bis ein geldgieriger
Immobilienunternehmer im Städtchen Polwhipple auftaucht, der
das ganze Gebäude kaufen und in schicke Apartments mit
Meerblick verwandeln will. Gina muss noch einmal auf die
Unterstützung der Dorfbewohner hoffen. Gleichzeitig erfährt sie
ein überraschendes Geheimnis über ihren Verlobten Max, und ein
turbulenter Strandausflug mit Ben wirbelt ihre Gefühle endgültig
durcheinander. Wird Gina in Polwhipple bleiben und in der kleinen
Eisdiele am Meer ihr Glück finden?

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Holly Hepburn

Heute Abend in der Eisdiele am Meer


Roman

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Ihre Sehnsucht nach den goldgelben Sandstränden Cornwalls hat


Gina nie verlassen: Hier hat sie bei ihren Großeltern viele
glückliche Sommer verbracht, und hier hat sie ihre erste große
Liebe kennen gelernt. Als ihr Großvater sich das Bein bricht und
seine berühmte Eisdiele nicht mehr allein führen kann, lässt Gina in
London alles stehen und liegen und eilt nach Cornwall – doch
kaum trifft sie ein, ist sie bestürzt: Das kleine Kino am Meer, in
dessen Foyer die Eisdiele beheimatet ist, ist heruntergekommen,
die Gäste bleiben schon lange aus. Gina ist fest entschlossen,
Eissalon und Kino zu retten. Ihr Plan: köstliche neue Eissorten zu
kreieren, deren fruchtige Süße ein Lächeln in die Gesichter zaubert.
Unterstützung bekommt sie von ihrer Jugendliebe Ben, doch als
alte Gefühle langsam wieder aufflammen, reist Ginas Verlobter aus
London an ...

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Holly Hepburn

Um fünf unter den Sternen


Roman
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sein, doch eines haben sie gemeinsam: ein hoch kompliziertes
Liebesleben. Als sie ein romantisches kleines Pub auf dem Land
erben, kommt die Chance auf einen Neuanfang für beide wie
gerufen. Doch der verläuft anders als gedacht – das Gebäude ist
heruntergekommen und verschuldet, und dann sind da noch die
naseweisen Dorfbewohner, die schon ganz eigene Pläne für die
Neueröffnung geschmiedet haben. Doch Nessie und Sam sind fest
entschlossen, das Pub zu retten und es wieder zum Mittelpunkt des
Dorfes zu machen. Zum Glück gibt es da noch Joss, den
charmanten Kellner, und Owen, den gut aussehenden Schmied von
gegenüber …

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Holly Hepburn

Herzklopfen in der kleinen Keksbäckerei


Roman – Schönste Unterhaltung zum Verlieben und Wohlfühlen
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Seit sie denken können, verbindet die besten Freundinnen Cat und
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Plätzchen aus dem Ofen, die Sadie mit buntem Zuckerguss verziert.
Doch die Inhaberin der französischen Patisserie nebenan fürchtet
Konkurrenz und legt den beiden allerhand Steine in den Weg. Zum
Glück können die beiden immer auf Jaren zählen, den gut
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dann ist da noch der Bienenzüchter Adam, der die Keksbäckerei
mit Honig versorgt ...

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