1
Soziologie als Wirklichkeitswißsenschaft, Leipzig und Berlin 1930, S. 307.
502 Helmut Kühn
Die Bedeutung dieses Satzes ist durch zwei in ihm enthaltene Annahmen
zu erläutern. Einmal: das geschichtliche Werden wird als eine Ge-
schehenskette von sinnvoller und notwendiger Verknüpfung gedacht.
Sofern beide, der historisch Erkennende und sein Gegenstand, in diese
Kette verflochten sind, sind sie in sein formal erfaßtes historisches
Verhältnis zueinander gesetzt. Ferner: das geschichtliche Werden ist
in seinen Formungen unabgeschlossen und setzt sich in ein gegen die
Zukunft geöffnetes Wollen und Tun fort. Die Erkenntnis dieser For-
mungen in ihrer Unabgeschlossenheit und Werderichtung fordert eine
Beurteilung ihrer werdenden Zukunft, d. i. einen Willensentscheid.
In dem Willensentscheid wird ein „Standpunkt" gewonnen, dessen
Richtigkeit durch die aus der Vergangenheit in die Zukunft reichende
Geschehnislinie bezeichnet ist. Dies hat nun sogleich das Mißliche,
daß der Standpunkt als „wahres Wollen" jeweils erst durch die Zu-
kunft gerechtfertigt werden kann, die selber wieder einer weiteren
Zukunft und ihrer Entscheidung harrt. Dieser an der Oberfläche lie-
gende Fehler des Standpunktbegriffes vom „wahren Wollen" weist
aber auf einen tieferen Mangel hin. Was sich als Ergebnis aus den
Spannungen des historischen Verhältnisses zur Erkenntnis ent-
wickeln kann: der Zusammenfall von erkannter objektiver geschicht-
licher Tendenz und eigenem Wollen — ist hier als Harmonie voraus-
genommen. Gänzlich ausgeschaltet ist damit eine Möglichkeit, die
der metaphysischen Grundgesinnung jener These (der Hegeischen
„Vernunftansicht der Geschichte") wohl als Frevel gelten muß: daß
der Betrachtende in innerer Auflehnung gegen die historische Ge-
schehensrichtung diese dennoch unerbittlich klar erkennt. Wer auf
die wirkliche geschichtliche Erkenntnis sieht, weiß, welche Bedeu-
tung diese Möglichkeit (mag sie sich auch in ihrer äußersten -Ver-
wirklichung selbst aufheben) für die Dynamik des historischen Er-
kennens hat. Auch dürften die von Max Scheler angeregten Unter-
suchungen über die affektiven Grundlagen des Erkennens bei aller
Unbestimmtheit ihrer Ergebnisse doch so viel gezeigt haben, daß
nicht jener in den Geschichtsgeist sich versenkende amor. intellec-
tualis und überhaupt nicht Liebe allein, sondern ebenso Abneigung,
Mißtrauen, Haß Erkenntnisse eröffnen und bedingen können.
Wir müssen also im Unterschied sowohl zu der soziologischen wie
zu der idealistischen Standpunktslehre ein konkretes und zugleich
echt historisches Verhältnis aufsuchen,'aus dem sich der „Standpunkt"
entwickeln kann.
Zunächst haben wir eine Feststellung voranzuschicken, um die all-
gemeine Blickrichtung unserer Betrachtung anzugeben. Solange man
unter Ausschaltung des Standpunktes ein wertfreies Faktum metho-
dologisch zu konstruieren sucht, wird man als Beispiel und Gegen-
Das Problem des Standpunkts und die geschichtliche Erkenntnis 503
stand des Studiums zweckmäßigerweise ein möglichst abgelegenes,
dem Gegenwartsleben und seinen gefühlsmäßigen Stellungnahmen
entrücktes historisches Objekt wählen. Eine solche Entlegenheit ar-
beitet offenbar einem methodologischen Subtraktionsverfahren vor,
das durch Ausschaltung der subjektiv-wert enden Zutaten die reine
Tatsächlichkeit abfiltrieren will. Wir, die wir die auf Gewinnung eines
angemessenen Standpunktes zielende Stellungnahme als Erkennt-
nisbedingung würdigen wollen, werden umgekehrt verfahren. Statt
auf die in ihrer Art unverächtlichen und auch philosophisch inter-
essanten Nebenprodukte einer weitgehend spezialisierten Wissen-
schaft zu sehen, glauben wir in erster Linie dorthin blicken zu müssen,
wo das Wesen geschichtlicher Erkenntnis in großen Lettern geschrie-
ben ist: auf die „große Geschichtsschreibung" von Herodot und
Thukydides an, die offenbar noch in ihrer höchsten Strenge die Be-
deutung einer Lebensfunktion hat und sich mitwirkend in die geistige
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einstellt. Indem wir die
Aufgabe, eine adäquate Vorstellung von einer bestimmten Vergan-
genheit zu gewinnen, in den Vordergrund stellen, ist auch die Rich-
tung angegeben, in der wir über die eigentlichen Geschichtsbücher
hinaussehen. So haben zum Beispiel weder der dichterisch-philo-
sophische Klassizismus in Deutschland noch die darauf folgende histo-
risch-poetische Romantik eine Darstellung der griechischen Geschichte
großen Stils hervorgebracht. Dennoch ist das geistige Bild des Grie-
chentums, wie es sich aus den Schriften Lessings, Goethes, Schillers,
W. von Humboldts (um von den Historikern Winckelmann, Herder
und August Wolff zu schweigen) entwickelt hat, auch historisch von
höchstem Belang — wichtiger, als spätere gründliche und stoffreiche
Zusammenfassungen, wie sie die Geschichte der Historiographie ver-
zeichnet.
Diesem Vorblick auf den Gegenstand haben wir eine weitere Be-
merkung anzuschließen. Man unterscheidet politische Geschichte, Wis-
senschaftgeschichte, Kunstgeschichte usf. Dieser Pluralität liegt eine
wesenhafte Einheit zugrunde. Die historischen Disziplinen geben nur
Teile der Geschichte schlechthin. Indem sie die Geschichte der Staats-
formen, der Begriffe, der künstlerischen Gebilde darstellen, stellen sie
den Menschen als politisches, als denkendes, als künstlerisch bilden-
des Wesen dar — erzählen sie? mit Hegel zu reden, die Taten und
Schicksale des Humanus, dieses Substrates aller Geschichte. Die Ge-
schichte, von der wir hier einzig reden, ist Menschengeschichte und
somit Geistesgeschichte. Alle Abgrenzung von „autonomen44 oder
„immanenten46 Entwicklungsreihen hat ihren guten Sinn, sofern sie
leichtfertige Übertragungen abschneiden will und etwa den Histo-
riker der Scholastik veranlaßt, in die eigentümliche Erkenntnisweise
!
504 Helmut Kühn . . '.
der mittelalterlichen Denker einzudringen, statt von außen, d. h.
z. B. von der Kunstgeschichte kommend, ein gotisches Gedanken-
Maßwerk festzustellen. In prinzipieller Bedeutung aher endet und
wurzelt jegliche „Autonomie" in dem Zentrum der Lebenssphären,
dem Menschen. Wir kennen heute den tiefen Zusammenhang auch der
scheinbar ganz sachgebundenen Forschungsgebiete mit der gemein-
geistigen Grundlage, Man denke nur an die bekannten Beziehungen
zwischen der physikalischen Hypothese eines gleichartigen Welt-
stoffes mit dem modernen pantheistischen Lebensgefühl, der helio-
zentrischen Kosmologie mit der neuplatonischen Religiosität usw.
Diese Feststellung von der menschlichen Grundlage aller Geschichte
ist für uns von großer Bedeutung. Sie besagt, daß das Verhältnis
zum historischen Gegenstand wesentlich ein Verhältnis zum Menschen
ist, daß der historische Standpunkt, den wir suchen, ein Stellung-
nehmen zum Menschen, und zwar jeweils zu einem bestimmten
Menschtum einschließt. Hier läuft also unser. besonderes Problem
mit der allgemeinen Frage zusammen: Kann der Mensch in seinem
eigentlichen Wesen (nicht der Mensch überhaupt, sondern dieser be-
stimmte Mensch) Gegenstand einer „reinen"» teilnahmsfreien Er-
kenntnis sein oder ist Menschenkenntnis notwendig und unablösbar
an ein Verhältnis zum Menschen gebunden ? Ohne den Gang unserer
Überlegung auch nur durch die Andeutung eines Beweises zu unter-
brechen, nehmen wir diese letzte Frage als bejaht. Die Schwierigkeit,
.daß damit die Übertragung der Erkenntnis zwar nicht unmöglich,
aber problematisch wird, haben wir mit dieser Bejahung in Kauf zu
nehmen.
Man hat Beobachtungen darüber angestellt, welche Bedeutung den
Sympathiegefühlen für die Aufdeckung seelischer Eigentümlich-
keiten zukommt. Man weiß ferner, wie bestimmte gesellschaftliche
Zustände, etwa das demokratische Leben der späten griechischen Po-
lis oder das höfische Leben des klassischen Paris, das Spiel der mensch-
lichen Bestrebungen und Leidenschaften in ein helleres Licht setzten,
die Freiheit der Beurteilung förderten und so die erkenntnismäßige
Erfassung der Charaktere erleichterten. Als bemerkenswert drängt
sich ferner die Unbehilflichkeit und selbst tiefe Abneigung des am
Leitfaden bestimmter Prinzipien durch BegriflFseinteilungen fort-
schreitenden wissenschaftlichen Denkens gegenüber dieser Erkenntnis-
aufgabe hervor. Ganz spät erst ist sie in das Blickfeld methodischer
Forschung getreten.
Diese und verwandte Sachverhalte heben sich schwankend von
einem dunklen Grund ab: der letzten Unerkennbarkeit des Indivir
duationskernes in Selbst- und Fremderkenntnis. Indem wir in jenen
anfangs verwirrenden Phänomenen einen einfachen Grundzug durch?
Das Problem des Standpunkts und die geschichtliche Erkenntnis 505
scheinen lassen", geben wir zugleich dieser Grenze der Erkenntnis den
positiven Sinn einer Bewegkraft.
Der Mensch hat allen anderen Erkenntnisgegenständen gegenüber
dies Eigentümliche, daß er in aller seiner Bedingtheit doch immer
organisierender Mittelpunkt einer „Welt" ist, mit deren objektiven
Setzungen und Setzungsrichtungen sein innerstes Sein untrennbar
verflochten ist. Alle Trieb- und Willenstendenzen einer Person, auch
wo sie sich nicht zu, „Urteilen über", „Stellungnahme zu" rational
befestigen, tragen die Richtung auf vorstellungshafte Vergegenständ-
lichung,vauf „Welt wer düng* ihres Aktionsraums in sich. Jeder Ver-
such nun, das Eigentümliche einer Person durch ihr „Weltbild" zu
erfassen, muß dieses Bild (oder diese Bildtendenz) in seiner Unter-
schiedlichkeit gegen die eigne Welt abheben, gleichsam als Grenze
in eine schon vorhandene Weltkarte einzeichnen. So mögen wir ver-
suchen, ein Kind, einen Primitiven, einen Geisteskranken dadurch
zu „erkennen", daß wir seine Vorstellungsinhalte von denen eines Er-
wachsenen, Kulturmenschen, Normalen (als den wir jeweils uns selbst
setzen) im Sinne von „Abweichungen" unterscheiden. Wollten wir
dies Prinzip der Abhebung zum Leitsatz der Menschenerkenntnis
machen und demgemäß mit einem festen System von Weltbegrifien
vor, den zu Erkennenden treten, so dürften wir gewiß sein, stets das
Wesentliche, den Individuationskern mit seiner Richtung auf welt-
hafte Vorstelligkeit, zu verfehlen. Wir kämen mit unseren festen
Kategorien dem Augenblick fruchtbarer Passivität zuvor, auf den
uns die Praktiker der Menschenkenntnis hinweisen. Das psychologi-
sche Verständnis hat, mindesten in einer bestimmten Erfahrungs-
schicht, eine gewisse Freiheit des Geistes, ein „Gelten-lassen" der
Anderen zur Voraussetzung und ist daher nicht selten mit weltmän-
nischer Lockerheit der Lebensgrundsätze verbunden.
Doch nicht diese Oberflächenschicht der Erfahrung beschäftigt uns
hier, sondern eine tiefere Region des Wissens vom Individuum — ein
Wissen, das, wie wir annehmen, nur im wesenhaften menschlichen
Verhältnis entspringt. Alle wesenhaften menschlichen Verhältnisse
— wie Verehrung, Freundschaft, die Liebe in ihren mannigfaltigen
Formen <—< haben nun dies Eigentümliche, daß in ihnen nicht in
fester Abhebung Weltbild sich gegen Weltbild setzt, noch weniger,
daß eine Deckung stattfindet. Was in der Oberflächenschicht die
Passivität des Eindrucks und weltmännisches Geltenlassen war, ist
hier das Bewegt-sein durch den Anderen und Hingabe an die Wir-
kung des Anderen. Der Standpunkt, von dem aus der Andere gesehen
wird, ist nicht mit dem eigenen So-sein gegeben — er bildet sich mit
dem eigenen Sein am Anderen. Jede Annäherung innerhalb eines sol-
chen Verhältnisses ist zugleich ein „Wiederfinden des Ich im Du44
506 Helmut Kühn
(Dilthey), eine erkennende Auseinandersetzung, die sich in dem Wi-
derspiel von Hingabe und Selbstbehauptung entfaltet. Im Gottesver-
hältnis wächst diese Auseinandersetzung zur größten Schwingungs-
weite zwischen titanischem Trotz und Selbstpreisgabe. In der zwi-
schenmenschlichen Sphäre, die uns allein beschäftigt, begründet sie
die Unerschöpflichkeit jedes echten Verhältnisses — das positive
Gegenstück zu der grundsätzlichen Unerkennbarkeit des Indivi-
duationskernes und seiner notwendigen Selbstverwahrung vor dem
Anderen.
Es mag gewagt erscheinen, derartige, hier nur eben angedeutete,
Feststellungen mit einer erkenntnistheoretischen Erwägung zu ver-
quicken. In der Tat pflegen unsere methodologischen Begriffe nicht
bis in diese Schicht hinabzureichen. Und doch ist es der unbefangen
gerade in den Geisteswissenschaften geübten Beurteilung ganz ge-
wöhnlich, sich in ihr zu bewegen. So pflegt man bei der Beurteilung
einer Biographie nach dem inneren „Recht" zu fragen, mit dem sich
der Autor gerade diesem Gegenstand zuwendet; und ein letztes Unbe-
teiligtsein, wenn nicht gar eine gewisse Feindseligkeit bezeichnet
z. B. bei dem in vielfacher Hinsicht ausgezeichneten Buch R. Hayms
über die Romantische Schule unmittelbar auch eine Grenze seines
Verstehens. Er ,war, im Unterschied etwa zu Dilthey, nicht „er-
griffen". Er hatte schon seinen Standpunkt.
Wir haben nun aus der Mannigfaltigkeit der zwischenmenschlichen
Verhältnisse das besondere „historische Verhältnis" als die Grund-
lage des sich bildenden historischen Standpunktes abzulösen. Ein-
mal ist dieses Verhältnis einseitig: der rückschauende Betrachter
steht der Vergangenheit als einem Objekt gegenüber. Ferner: dieses
einseitige Verhältnis ist auf den konkreten Inbegriff eines Mensch-
tums, eines Volkes, einer Kulturgemeinschaft usw. ebenso gerichtet
wie auf das Individuum. Solange sich der Blick wesentlich auf das
leichter Faßbare, die objektivierte Welt statt auf den objektivieren-
den Individuationskern einstellt, wird sogar die erste Form über-
wiegen. Endlich das dritte und wichtigste Merkmal: das historische
Verhältnis wird nicht beliebig geknüpft. Es ruht auf einer vorbe-
stehenden Grundlage. Ehe die Vergangenheit als geschichtliches Bild
weiterwirkt, lebt sie in anderer Form in der Gegenwart. Ehe die Ge-
genwart sich betrachtend der Vergangenheit hingibt, ist sie schon
als ihr Ergebnis von ihr abhängig. Diese Abhängigkeit findet in ver-
schiedenen Schichten statt. Sie tritt oberhalb des Naturhaften ins
Bewußtsein als Tradition. Dieses Weiterwirken des Vergangenen
in der Gegenwart oder das Beruhen des Gegenwärtigen auf der Ver-
gangenheit durch Tradition ist einmal das Fortbestehen von Wohn-
ort, Arbeitsgeräten, Lebensweise usf.; dann aber auch die Erinnerung
Das Problem des Standpunkts und die geschichtliche Erkenntnis 507
an die Stifter und Bewahrer der Tradition, an den Ahn, König, Gesetz-
geber, Propheten. Doch hat deren Fortleben im Gedächtnis noch
nicht den Charakter historischer Erinnerung, Es fehlt noch die Ab-
lösung des Vergangenen zu einem gegenüberstehenden, streng in sich
beschlossenen Sein. Das Gedächtnis ist die Form, in der dieses Sein
die Gegenwart trägt und in der Gegenwart weiterwirkt. Es nimmt
daher mit der Bildsamkeit des Mythos an dem Formwandel des Le-
bens teil. Wenn sich aber hier schon Spuren des eigentlich Histori-
schen melden, so liegen auch umgekehrt die Anfänge des Geschicht-
lichen, die sog. Ruhmeshistorie, noch wesentlich im Bereich dieses
Fortwirkens durch mythisch-traditionelle Erinnerung.
Das historische, d. h. auf Erkenntnis des Vergangenen abzielende
Verhältnis nimmt erst dort seinen Ursprung aus der gebundenen
Tradition, wo das fraglose Beruhen der Gegenwart auf dem Tradier-
ten erschüttert ist. Erst aus dieser neuen Unsicherheit und Freiheit
wird der Rückblick möglich, der die Vergangenheit im historischen
Sinn diese Wortes, als das Andere, als Nicht-Gegenwart erstehen läßt
und der die Aufgabe einer Neubegründung des Verhältnisses stellt.
Aus solcher Situation ist das erste große Geschichtswerk entstan-
den. Wir denken dabei nicht an Herodot, der mit der kolonialen
Geistesfreiheit den ihm sich darbietenden Weltinhalt, Beschaffenheit
der Länder, Bräuche der Menschen, ihre Taten und Leiden und, dies
alles umschließend, das Werden und Vergehen des Perserreiches zu
einem im „Kreislauf der Dinge4' bewegten Kosmos zusammen-
schließt. Vielmehr sehen wir in Thukydides das erste große Para-
digma des historischen Verhältnisses.1 Unmittelbar aus dem Bruch
mit den politischen Grundlagen des Daseins steigt das mit strenger
Sachlichkeit erfaßte Bild der Vergangenheit auf — nicht mehr in
mythischer Wirksamkeit, noch nicht, wie bei der späteren römischen
Historie, in idealischer Verklärung, sondern so, wie der „Bruch" in
ihr selbst entstand. Im sechsten und siebenten Buch, der Erzählung
der das Schicksal Athens besiegelnden sizilischen Expedition, gipfelt
die Darstellung: mit den Reden des Nikias und des Alkibiades vor
der Ausfahrt treten sich die erhaltenden und die sprengenden Kräfte
dialogisch gegenüber. — Diesem „Bruch46 als der Bedingung histo-
rischer Rückschau begegnen wir dann allenthalben: in der Geschichts-
schreibung des kaiserlichen Roms, der Renaissance-Historie, beson-
ders deutlich dann wieder im 18.- Jahrhundert bei Justus Möser und
in der aus der Romantik stammenden Historiographie. Er ist auch
dort vorhanden, wo er durch die vorwiegende Tendenz der Neu-
anknüpfung verdeckt wird, wie z. B. bei Treitschke. Bei dem jähen
1
VgL W. Schadewaldt, Die Geschichtsschreibung dee Thukydides. Ein Versuch.
1929.
Kantstudien XXXV. 34
508 Helmut Kühn
Sturz der Geschehenskurve in der Gegenwart erleben wir, wie in der
raschen Ablösung vom Gestern dies eben noch Gegenwärtige in den
Blickkreis geschichtlichen Betrachtens tritt.
Aus der Erschütterung der Sicherheit, mit der die Gegenwart
traditionsgebunden auf dem Vergangenen ruht, wendet sich die Ge-
genwart auf die sie tragende Vergangenheit zurück und knüpft zu
ihr ein neues, ein erkennendes Verhältnis an. In diesem Verhältnis
ist einerseits Versenkung und Hingabe, die das Vergangene in seinem
unberührten Sein erfassen will. Das Verlangen nach Auslöschung
des eigenen Selbst (nach dem bekannten Wort Rankes) bezeichnet
dieses Moment am klarsten. Untrennbar hiervon ist das zweite Mo-
ment des Verhältnisses: die Selbstbehauptung vor dem Gegenstand.
In der Wechselbewegung von Hingabe und Selbstbehauptung, der
Dynamik des historischen Verhältnisses, formt sich der Standpunkt
historischer Erkenntnis.
Man mag nach diesem Gesichtspunkt die gesamte moderne Ge-
schichtsschreibung zu gliedern versuchen und man wird finden, daß
z. B. bei den Historikern der Romantik die ehrfürchtige Hingabe
überwiegt, bei der pragmatischen Geschichtsschreibung und der Ge-
schichtsphilosophie des deutschen Idealismus und des französischen
Positivismus die Selbstbehauptung der Gegenwart — eine Einteilung,
die etwa mit Nietzsches Unterscheidung von antiquarischer und
monumentalischer Historie zusammenfällt. Dabei aber gewahren wir,
daß es sich um untrennbare Momente und somit zugleich um Grenzen
des Historischen handelt. Die bloße Hingabe ist außerstande, auch nur
eine bestimmt charakterisierte historische Vorstellung zu gewinnen;
diese verlangt immer das Abheben von einem festen Koordinaten-
system, in dem sich der eigene Standpunkt ausdrückt. Sonst zerfließt
der antiquarische Sinn in einem historischen Impressionismus, der bei
seiner eigenen Haltlosigkeit immer bereit ist, in sein Gegenteil, die
naive Übertragung von Gegenwartsbegriffen, zu verfallen. Man ver-
sucht dann, wie Renan, das Leben Jesu aus den Eindrücken einer
Palästina-Reise zu rekonstruieren. Andererseits ist der starren Selbst-
behauptung in den Setzungen der Gegenwart die Vergangenheit über-
haupt unzugänglich. Nur als Sammlung von Beispielen, als gelehrtes
Material, kurz als Werkzeug für ein aus Gegenwartsinteressen be-
stimmtes Tun und nicht in ihrem Eigenbestand wird sie sichtbar.
Echte geschichtliche Erkenntnis hingegen ist ebensowenig Flucht in
die Vergangenheit wie Projektion der eigenen Wünsche und Bestre-
bungen in die Vergangenheit.
Der geschichtlich Erkennende, in seinem für ihn grundlegenden
Verhältnis zur Vergangenheit betrachtet, ist weder der zur Unselig-
keit verdammte „freie Geist", dessen Bild Nietzsche entwirft, noch
Das Problem des Standpunkts und die geschichtliche Erkenntnis 509
der gläubig in Tradition Befangene. Auch die historische Erkenntnis
ist eine Form der Tradition, in der sich die Vergangenheit zur Zukunft
bildet. Sie begründet, so sagten wir, ein Verhältnis zur Vergangen-
heit. Aber die Wirkung, die dadurch von dem Vergangenen ausgeht,
ist von der ursprünglichen, autoritären Form verschieden. Sie ist^
hindurchgegangen durch den Prozeß der in Hingabe und Selbstbe-
hauptung wirkenden Auseinandersetzung, in der der Standpunkt der
Erkenntnis sich bildet. Dieser Standpunkt^ wenn auch das ^einjdes
Betrachters ausdrückend, ist somit zugleich Funktion der auf den
Betrachter wirkenden historischen Wirklichkeit. Diese befreit sich
in ihm aufs neue zur Wirkung. Aber nicht, indem sie sich seiner nur
als eines Durchgangspunktes, als eines passiven Trägers ihrer Ten-
denz bediente, sondern indem sie ihn selbst mit dem labilen Gleich-
gewicht der gegensätzlichen Ansprüche in Erkenntnis „frei" macht.
Diese im Prozeß der Auseinandersetzung sich ergebende freie Wir-
kungsträgerschaft ist es, was die harmonistische These des Idealis-
mus im Auge hat, wenn sie sagt: wahres Wollen begründe wahre Er·?
kenntnis. Hier klärt sich ferner jenes eigentümliche Phänomen auf,
das als „Unabgeschlossenheit'% oder, mit einem von M. Scheler ge-
wagten Ausdruck, als „Erlösbarkeit" der geschichtlichen Vergangen-
heit bezeichnet wird.1
Das Verhältnis des Erkennenden zum historischen Gegenstand ist
daher "zweiseitig und weder durch Gleichheit noch durch Gegensatz
zu kennzeichnen. Es ist ebenso unsinnig, von dem Historiker zu ver-
langen, daß er „wie ein Zeitgenosse" in seinem Gegenstand leben soll
(als Zeitgenosse kann er nicht Historiker sein), wie es sinnvoll ist,
eine in seiner Person begründete Lebensbeziehung zu dem Gegen-
stand zu fordern. Um das urtümlich-bodenständige Leben Osna-
brücks erfassen zu können, mußte Justus Möser in ihm verwurzelt
sein. Aber um es nicht bloß in sich zu tragen, sondern historisch
schildern zu können, bedurfte es einiger tiefer Atemzüge in der
scharfen, überklaren Luft des 18. Jahrhunderts, die jene altertüm-
lichen Formen bald zerfallen ließ.
Man könnte nun weiter fragen: wenn die standpunktgebundene
historische Erkenntnis mit ausdrückt, wie der Erkennende zu seinem
Gegenstande steht — wäre es nicht dann ein Gebot methodischer
Klarheit, dieses Verhältnis jeweils bewußt zu machen und auszu-
sprechen? Als Ideal könnte dann Hegels Geschichtsphilosophie gel-
ten. Denn indem sie das historische Phänomen zur Funktion eines
absoluten Zeitpunktes macht und den Betrachter selbst im histo-
rischen Zeitverlauf lokalisiert, legt sie zugleich ihr gegenseitiges Ver-
1
M. Scheler, „Die Wissensformen und die Gesellschaft" 1926 S. 177.
34*
510 Helmut Kühn, Das Problem des Standpunkte und die geschichtliche Erkenntnis
hältnis eindeutig fest. Sie erlaubt es, den Gegenstand gewissermaßen
in. einer Relationsformel auszudrücken. Damit aber ist die Frucht-
barkeit des Verhältnisses auch für die Erkenntnis vernichtet. Eine
Abrechnung hat stattgefunden, der Gegenstand hat nichts Wesent-
liches mehr zu sagen, die Dynamik der Auseinandersetzung mit ihm
ist lahmgelegt. Im Gegensatz dazu bewahrt die historische Darstel-
lung immer ein Moment der Irrationalität, die die Unerschöpftheit des
historischen Verhältnisses ausdrückt. Die begriffliche Formel dringt
hier nicht bis zum Kern. Die Feindseligkeit der historischen Schule
gegen die Hegeische Philosophie ist darum mehr als der Kampf um
die philologisch-historische Methode. In ihr kämpft die historische
Betrachtung für die Wesenhaftigkeit ihres Gegenstandes. Die neueste
Zeit hat in ihrer Beunruhigung über ihr Verhältnis zur Vergangen-
heit zahllose Formeln für das Wesen des Griechentums, des Abend-
landes, des alten Orients usw. hervorgebracht. Aus dem Gesagten er-
gibt sich die Beurteilung des Wertes dieser Formeln: sie sind bedeu-
tungsvoll, soweit sie eine Etappe der erkennenden Auseinander-
setzung bezeichnen, nichtig, wo diese Grundlage mangelt; samt und
sonders bleiben sie leer ohne die Erfüllung durch die konkrete histo-
rische Vorstellung.
Wir fragten nach dem „Standpunkt" als einem Inbegriff von Be-
dingungen historischer Erkenntnis. Wir fanden, daß dieser Stand-
punkt sich innerhalb einer realen Abhängigkeit entwickelt. Er steht
auf deimJ3oden der Tradition. Aus einem ursprünglichen Bruch bil-
det er sicfnTxlein~ Prozeß der in Hingabe und Selbstbehauptung be-
wegten Auseinandersetzung. Wenn nun jemand bestimmte Vorschrif-
ten erwartet hätte, die das Einnehmen sowie die Beurteilung des
„richtigen Standpunkts" bestimmen, so wird er mit Recht finden,
daß wir eigentlich zu gar keinem Ergebnis gekommen sind,-daß wir
allenfalls etwas über das Werden des Standpunktes statt über diesen
selbst ausgesagt haben. Sollten aber unsere Überlegungen nicht ganz
fehl gegangen sein, dann hat diese Erwartung unrecht. Dann liegt es
im Wesen des historischen Standpunkts, daß er sich nicht nach einer
methodologischen Vorschrift beliebig herstellen läßt. Dann gehört es
weiterhin zu seinem Wesen, daß seine Seinsart sich in seinem Werden
ausdrückt. Die Richtung dieses Werdens aber ist bezeichnet durch
die Frage nach der metaphysischen Begründung des menschlichen
Seins. Die Geschichte ist freilich nur Teil des Kraftfeldes, in dem
sich dieses Sein zwischen Abhängigkeit und Freiheit sichert und in
Frage stellt.