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DER STEIN DES ANSTOSSES

HERAUSGEGEBEN VOM
LACAN-ARCHIV BREGENZ

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MASSIMO RECALCATI

Der Stein des Anstosses


Lacan und das Jenseits des Lustprinzips

Aus dem Italienischen von


René Scheu

TURIA + KANT
WIEN
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Recalcati, Massimo : Der Stein der Anstoßes :
Lacan und das Jenseits des Lustprinzips / Massimo Recalcati.
Aus dem Ital. von René Scheu. - Wien : Turia und Kant, 2000
ISBN 3-85132-250-9

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung,


Wissenschaft und Kultur in Wien sowie des Amts der Vorarlberger
Landesregierung

© Verlag Turia + Kant, 2000


ISBN 3-85132-250-9

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Inhalt

Vorwort 7

DAS ANSTÖSSIGE GENIESSEN ZWISCHEN MANGEL


UND ÜBERSCHUSS 13

Einführung in Lacan: vom Begehren zum Geniessen ..................... 15


Das Rätsel des Masochismus und
die Grenzen der Hermeneutik ......................................................... 42
Eine Ethik des Begehrens ................................................................ 66
Positionen des Subjekts im sozialen Band ...................................... 79
Der Vater jenseits des Ödipus .......................................................... 91
Wahnsinn und Struktur ................................................................... 103

DAS GESPALTENE SUBJEKT ZWISCHEN SINGULARITÄT


UND UNIVERSALITÄT 137

Subjekt und Entfremdung: Lacan zwischen Hegel und Sartre ..... 139
Das Ding und die Wahrheit: Heidegger durchqueren .................. 159
Die Konstitution des Subjekts ........................................................ 181
Die Ursache, die Begegnung und die Spur ................................... 206
Der Name als Schicksal im Werk von Tàpies ................................ 223

Anmerkungen ................................................................................. 239


Für Valentina

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Vorwort

Die Rückkehr zu Freud beseelt Lacans gesamtes Werk. Allein, wohin


kehrt Lacan in seiner Rückkehr zu Freud zurück? Zu welchem Freud?
Gewiss, vor allem zum Wortlaut, zum Buchstaben von Freuds Text.
Darin besteht das grossartige Unternehmen des Freud-Lesers Lacan:
Freud ganz zu lesen, Freud buchstäblich zu lesen, um in dieser syste-
matischen, umfassenden und unablässigen Lektüre den Geist der
Freudschen Unternehmung wiederzufinden, zugleich aber auch die
Stolpersteine, die inneren Spannungen und die unaufgelösten Wider-
sprüche, die sie gekennzeichnet haben. Freud war für Lacan eine
wahre Begegnung, gleichsam eine tyche, um einen Begriff zu gebrau-
chen, den er im Seminar XI unter Rückgriff auf Aristoteles entwickeln
wird. Aber was genau macht eine wahre Begegnung aus? Eine Be-
gegnung ist ein Stoss*1, eine erschütternde Überraschung. Eine Begeg-
nung ist aus Realem gemacht, und zwar in dem Sinne, dass eine
wahre Begegnung das einförmige Netz des automaton, die serielle
Wiederholung der Signifikanten durchbricht. Die Begegnung ist stets
etwas, das aus der Reihe tanzt, das Zusammentreffen mit einer Alter-
ität, die sich dem Selben nicht einverleiben lässt. Die Begegnung fin-
det nie mit Seinesgleichen, sondern allein mit Anderem statt. Aus die-
sem Grund war Freud für Lacan eine wahre Begegnung. Der junge
Psychiater, bewaffnet mit den feinsten Instrumenten der Psychiatrie
und der französischen Kultur der Dreissigerjahre (die phänomenolo-
gische Psychiatrie, der Surrealismus), begegnet dem Realen des
Freudschen Unbewussten. Dieser Zusammenstoss wird sein Schicksal
festschreiben. Er wird sich als Anstoss* offenbaren. In seiner Art und
Weise, Freud zu lesen, wird Lacan in der Tat unablässig diese erste
unerhörte Begegnung mit dem Freudschen Text wiederholen. Jedes
Mal wird sich der anfängliche Anstoss* mit immer wieder verschiede-
nen Effekten wiederholen.
7
Die Anfangsphase von Lacans Denken wird von der Euphorie und
der Leidenschaft für das dem Freudschen Unbewussten eigene Ver-
mögen, unendlich Sinn zu produzieren, geprägt. Die Begegnung ist
hier die glückliche Begegnung mit dem Unbewussten, das mit der
Wahrheit im Bunde steht, mit jenem Unbewussten, das sich, struktu-
riert wie eine Sprache, als Gegenteil des irrationalen und dunklen
Magmas zu erkennen gibt, wie es von den Romantikern und Irratio-
nalisten gerne beschrieben wurde. Es handelt sich um eine begei-
sternde Begegnung. Es genügt, Funktion und Feld des Sprechens und
der Sprache in der Psychoanalyse zu lesen, um diese entscheidende
Stimmung* wiederzufinden. Lacans Begeisterung galt nicht etwa dem
Unbewussten als einem Reservoir an Naturkraft, das im Widerspruch
zur Kultur steht, sondern dem Unbewussten im Sinne der Schreib-
kraft, der Sprache, des rhetorischen Vermögens, das in der Antwort
auf die Gesetze der Metapher und der Metonymie das Subjekt bestän-
dig spaltet, um so immer neue und unvorhersehbare Bedeutungen zu
schaffen. In seinem Grund war Lacans Begegnung mit dem Freud-
schen Unbewussten also nichts anderes als die Begegnung mit dem,
was zu überraschen versteht, was immer wieder zu überraschen ver-
steht, was die täuschend angepasste Maske des Ichs unablässig mit
Rissen versieht.
Aber Lacans Freud-Lektüre trifft bald schon auf eine andere Version
des Anderen. Auf eine andere Alterität. Sie wird nicht etwa auf die
Macht der immer neuen Überraschung treffen, sondern auf die Macht
einer Rückkehr des Gleichen, auf die Macht der ewigen Wiederkehr
des Gleichen. Es handelt sich um eine andere Form der Überra-
schung. Nicht um die Überraschung der Neuschöpfung, sondern um
diejenige der Wiederholung. Lacans Freud-Lektüre ist also dahin ge-
langt, zwischen zwei verschiedenen ›Freuds‹ zu unterscheiden.
›Freud I‹ ist der Freud der Traumdeutung* und des Unbewussten, das
wie eine Sprache strukturiert ist, der Freud der Verschiebung* und
der Verdichtung*, des Unbewussten als Schaffenskraft, als Möglich-
keit, dass die Wahrheit aus der Verbannung zurückkehrt, wie sich La-
can einmal poetisch ausgedrückt hat. Wir haben es hier mit jenem
Freud zu tun, der den Wunsch* theoretisierte, den Wunsch als Drang
nach einer symbolischen Befriedigung. ›Freud II‹ ist hingegen derje-
nige des Jenseits-des-Lustprinzips* und des Todestriebes*. Der Freud
des ursprünglichen und erogenen Charakters des Masochismus. ia.at
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Unbewusste überlässt den Platz dem Es*. Das Es* ist nicht wie eine
Sprache strukturiert. Das Es* drängt zum Geniessen. Und das Genies-
sen lässt sich unmöglich auf die Lust* reduzieren, weil es einen Über-
schuss impliziert, eine Sprengkraft, die die naturalistisch-hedonisti-
sche Logik des Lustprinzips* aus den Angeln hebt. Zwischen diesen
beiden Freud liegt ein Stein: der Stein des Anstosses. Derjenige Stein,
auf den Freud gestossen ist und über den er im Übergang von der er-
sten zur zweiten Topik gestolpert ist. In der deutschen Sprache ist das
Wort Anstossen* durch eine konstitutive Zweideutigkeit gekennzeich-
net. »Anstossen« beutetet einerseits, »sich zu stossen«, sich an einem
materiellen Objekt zu stossen, das im Wege steht und die Bewegung
behindert. Es bezeichnet aber zugleich die Begegnung im Sinne eines
»Anstosses«, der etwas in Bewegung zu setzen vermag, im Sinne eines
Stosses*, der imstande ist, zu erschüttern und vermöge dieser Erschüt-
terung eine neue Sicht, einen Ausgang aus der Trägheit zu bewerk-
stelligen. Dies ist die Bedeutung, die beispielsweise Heidegger in sei-
nem Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes2 der Dimension des Stos-
ses* verleiht. Ein Kunstwerk ist ein solches nur, wenn es einen Stoss*
hervorzubringen vermag, einen Stoss*, der eine neue Welt* erzeugt,
eine neue Weltsicht. Ein Kunstwerk ist ein solches nur, wenn es sich
der gewöhnlichen Weltsicht verschliesst, um sich den Möglichkeiten
einer anderen Sicht zu öffnen. Hier lässt sich der zweifache Sinn des
Anstossens* gut erkennen.
Allein, worüber ist Freud gestolpert? Wie sah sein Stolperstein, sein
Stein des Anstosses* aus? Wir haben es hier mit einer entscheidenden
Frage zu tun, wenn wir die einzigartige Bedeutung des Stolpersteines
für die Psychoanalyse in Betracht ziehen, weil es sich dabei genau
um das handelt, was den Punkt des Misslingens, des Knickes und des
Schwankens des Subjekts konstituiert, einen Punkt, den die Psycho-
analyse hervorhebt und gleichsam zum Punkt der Wahrheit des Sub-
jektes erweitert. Dasselbe geschieht auch in Freuds wissenschaftlicher
Suche: Der Stein des Anstosses, auf den er stösst, ist dazu bestimmt,
zum Eckstein des ganzen Freudschen Theoriegebäudes zu werden.
Woran also stösst sich Freud? Was bildet den Stein des Anstosses?
Hinsichtlich dieses Punktes können wir Freud das Wort überlassen:
»Beide, Sadismus wie Masochismus, sind für die Libidotheorie recht rätselhafte
Phänomene, der Masochismus ganz besonders, und es ist nur in der Ordnung,
wenn das, was für die eine Theorie den Stein des Anstosses gebildet hat, für
3
die sie ersetzende den Eckstein abgeben sollte.«
9
»Ganz besonders der Masochismus«, so lesen wir also. Er, der dazu
bestimmt ist, zum Eckstein zu werden, bildet den Stein des Anstosses.
Es war die Praxis der Psychoanalyse, die Freud dahin führte, die ur-
sprüngliche Idee des Unbewussten als Vermögen der Neuschaffung,
der symbolischen Schöpfung und der unendlichen Bedeutungspro-
duktion neu zu überdenken. Denn im Verlaufe der Analyse offen-
barte das Unbewusste eine ihm eigene Tendenz zur Trägheit, zur
Wiederholung des Gleichen, zur ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Dies deutete darauf hin, dass sich das Symptom nicht mehr einfach
als Hinweis auf eine Fehlfunktion des Subjekts begreifen liess. Viel-
mehr musste es als Quelle von ökonomisch-libidinösen Interessen
verstanden werden, die das Subjekt aktiv und unveränderlich an das
eigene Symptom binden. Der Stein des Anstosses ist genau diese ak-
tive Ankettung des Subjekts an das eigene Übel, an das, was Lacan
jouissance*, Geniessen nennen wird. Der Stein des Anstosses ist der
Todestrieb, der die sich unaufhörlich wiederholende Suche nach die-
sem heimtückischen Zusammenstoss mit dem Geniessen antreibt.
Wir treffen hier auf jenen Stein, der den ersten vom zweiten Freud
trennt. Dies ist der Stein, den Lacan in einer Epoche – der Epoche der
posfreudianischen Psychoanalyse – ausgräbt, die dieses Anecken als
eine unnütze Abstraktion, als altersschwache Ausklügelung oder als
dunkle Phantasie ohne jegliche klinische Grundlage abstempelt. La-
can hingegen lässt sich auf die stützende Funktion, auf den Eckstein
des Rätsels des Masochismus ein. Das, worauf man in der Erfahrung
der Psychoanalyse stösst: auf den Felsen, an dem sich die Welle des
Sprechens bricht, auf das Hindernis, die Trägheit, die Stagnation der
Libido, genau das wird zu jener anstössigen Entdeckung, dass sich
das Subjekt strukturell gegen sich selbst wendet. Vor diesem Hinter-
grund wird klar, dass sich die Ethik der Psychoanalyse auf keinen wie
auch immer gearteten Utilitarismus reduzieren lässt, weil das, was das
menschliche Tun bestimmt, durchaus keinem Kriterium der Nützlich-
keit oder des Gutes entspricht. Wahr ist vielmehr das Gegenteil. Das
Geniessen ist das, was die Menschenwesen gefangennimmt und sie
zu ihrer Zerstörung treibt. Einzig Lacan hatte den Mut, das Denken
des zweiten Freud aufzunehmen und aus ihm gar Zentrum seiner
Rückkehr zu Freud zu machen. Wenn der symbolische Andere keine
Garantie anzubieten vermag, um das Subjekt vor diesem Drang zum
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Realen des Geniessens und dessen tödlichen Teufelskreis @tu ria.a
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zen, weil eine universelle Lösung des Problems des Geniessens nicht
existiert – in diesem Sinne konnte Lacan behaupten, dass der Ödipus,
der den Wert einer universellen Lösung des Geniessens hat, »Freuds
Traum« war –, wenn der symbolische Andere also nicht dazu im-
stande ist, so stellt sich die Frage, angesichts welcher Zufälligkeit das
Subjekt etwas über seine Wiederholung wird entscheiden können,
um sich so das Feld einer möglichen Wahl zu öffnen, einer radikalen
Wahl, die so weit gehen kann, das Wesen mit dem Gewesensein zu
identifizieren, wie Hegel schrieb, d.h. die Notwendigkeit dessen, was
sich wiederholt, mit der Zufälligkeit des Aktes.
Dieses Buch versucht, Lacans Wiederaufnahme von Freuds Abgrund
des Todestriebes* und des Jenseits-des-Lustprinzips* aus verschiede-
nen Perspektiven und im Lichte der folgenden ethischen Grundfrage
zu erkunden: Wie lässt sich das Verhältnis zwischen der irreduziblen
Singularität des Subjekts und der Universalität der Sprache artikulie-
ren, wie lässt sich die Notwendigkeit der Wiederholung mit der Zu-
fälligkeit der Wahl zusammendenken? Dies ist eine Weise, Lacan zu
lesen, die den Eckpunkt des Realen und des Subjekts »als geniessen-
des Wesen« dem Eckpunkt des Unbewussten, das wie eine Sprache
strukturiert ist, vorzieht. Der Bezug auf grundlegende Begriffe der
Klinik und die Konfrontation mit der philosophischen Tradition
(Kant, Hegel, Marx, Nietzsche, Kojève, Heidegger, Sartre, Althusser)
bilden den Rahmen, in dem sich meine Lektüre entfaltet, die ihrer-
seits in der systematischen Lacan-Lektüre, die Jacques-Alain Miller
seit der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre unablässig praktiziert, einen
entscheidenden und unverzichtbaren Orientierungspunkt findet. Die
Begegnung mit Jacques-Alain Miller war für mich eine wahre Begeg-
nung. Mein Anstoss*. Dieses Buch verdank ich seinem Unterricht.

Massimo Recalcati, Mailand, im Dezember 1999


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Das anstössige Geniessen zwischen
Mangel und Überschuss
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Einführung in Lacan:
vom Begehren zum Geniessen

1.
DAS BEGEHREN IST DAS
BEGEHREN DES ANDEREN

In der ersten Phase seiner Lehrtätigkeit hat sich Lacan auf die Wir-
kungen konzentriert, die die imaginäre Ordnung auf das Subjekt aus-
übt, indem sie es gefangennimmt und entfremdet. Die Definition des
Ichs als Verkennungsfunktion stellt gleichsam die Synthese von La-
cans Reflexion über die Freudsche Problematik des Narzissmus dar.
Ausgehend von Funktion und Sprechen und v.a. von Seminar II be-
ginnt Lacan, das Primat und die Autonomie der symbolischen Ord-
nung immer stärker zu gewichten. In dem Sinne, dass die libidinös-
imaginären Fixierungen des Begehrens an die narzisstisch besetzten
Objekte dem Gesetz der symbolischen Ordnung untergeordnet wer-
den, einer Ordnung, die in der Theorie der väterlichen Metapher den
aus klinischer Sicht bezeichnendsten Ausdruck finden wird.
Diese zunehmende Bedeutung, die der symbolischen Ordnung zu-
kommt, und die an sie gebundene Funktion des Ödipus führen nebst
anderem auch zu einer neuen Definition des Begehrens. Mit dem
Ausdruck »Schaukel des Begehrens«4 hatte Lacan die imaginäre Be-
schaffenheit des Begehrens definiert, insofern es an das Objekt des
Begehrens des Anderen gebunden ist. Das Begehren blieb also in
den narzisstischen Reflexen des Spiegels gefangen: das Objekt des
Begehrens des anderen zu besitzen ist Ausdruck des imaginären Be-
gehrens. Genau daher rührt das ständige Schaukeln zwischen Eroti-
sierung und aggressiver Intention, wo der andere – insofern er das
Ideal des Subjekts ist – vom Subjekt geliebt wird und gerade deswe-
gen ein Objekt der Aggressivität und der Zerstörung darstellt.
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»Jegliche menschliche Erkenntnis hat ihre Quelle in der Dialektik der Eifer-
sucht (...). Das ist hier das Fundament, auf dem sich die menschliche Welt von
der animalischen Welt unterscheidet. Das menschliche Objekt zeichnet sich
durch seine Neutralität und seine unbegrenzte Proliferation aus. (...) Das, was
ausmacht, dass die menschliche Welt eine von Objekten bedeckte Welt ist,
beruht darauf, dass das Objekt menschlichen Interesses das Objekt des Be-
5
gehrens des anderen ist.«

Eine eingehende Lektüre von Hegel und der inneren Logik des
Freudschen Ödipus führt Lacan dazu, die Struktur des menschlichen
Begehrens vom narzisstischen Spiegelspiel zu befreien. Das Begeh-
ren des Subjekts kann in seiner Struktur nicht auf diese imaginäre
Schaukel reduziert werden. Der Freudsche Ödipus ist der beste Be-
weis dafür. Er kann weder auf einen bloss psychopathologischen
Komplex, an dem ein Subjekt allenfalls leidet (oder auch nicht), noch
auf die imaginären Angelegenheiten des neurotischen Familienro-
mans reduziert werden. Vielmehr funktioniert er als das, was dem
Subjekt ermöglicht, das eigene Sein im Verhältnis zum Begehren zu
organisieren. Der Ödipus funktioniert also als eine Struktur im eigent-
lichen Sinne. Oder anders gesagt: Der Freudsche Ödipus gestattet
dem Subjekt, sein Begehren an das symbolische Gesetz der Kastra-
tion zu knüpfen, das dem Menschen in universeller Weise den Ver-
zicht auf das inzestuöse Geniessen auferlegt. Als Gegenleistung erhält
das Subjekt die Möglichkeit einer symbolischen Identifikation, die es
ihm erlaubt, das eigene Geschlecht anzunehmen und sich nicht nur
der Kastration zu unterwerfen, sondern sich dank dieser Unterwer-
fung als Subjekt des Begehrens zu konstituieren.
Der Freudsche Ödipus bringt also jenseits des imaginären auch den
symbolischen Charakter des Begehrens zum Vorschein. Die symboli-
sche Definition des menschlichen Begehrens als Begehren des Ande-
ren entspringt nun Lacans einzigartiger Vermittlung zwischen Freuds
Ödipus und Hegels Begriff der Begierde/des Begehrens6. An der
strukturierenden Funktion des Freudschen Ödipus hebt er den sym-
bolischen Charakter der Identifikation des Subjekts mit den idealen
Insignien des Vaters hervor, aus der das Ichideal hervorgeht. Das
Ichideal als »Führer jenseits des Imaginären«7, als »befriedende Funk-
tion«, das die »Normativität der Libido und Normativität der Kultur«8
miteinander verbindet, d.h. das einen positiven Mittelweg zwischen
Begehren und Gesetz eröffnet9. Das Begehren entsteht also nicht da,
wo es sich dem Gesetz entgegenstellt, sondern da, wo ia.at
@turdas
ines
©fodurch
16
Gesetz vermittelt wird. Darin besteht nach Lacan der Sinn des Ichide-
als: das Ichideal ist die Wirkung einer symbolischen Gabe von Seiten
des Vaters. In diesem Sinn ist der sogenannte »Ödipuskomplex« das,
was die Realität des Subjekts symbolisiert. Er fällt mit dem Gesetz der
Kultur als solchem zusammen, das sich auf der einen Seite über die
Ordnung der Natur stülpt, um sie einer Normativität zu unterwerfen,
und das auf der anderen Seite den imaginären Käfig der spiegelbildli-
chen Beziehung durchbricht, die das Subjekt mit sich selbst unterhält:
»Der Ödipuskomplex [durchdringt] nach unserer Erkenntnis mit seiner Bedeu-
tung (signification) das gesamte Gebiet der Erfahrung (...) Nach diesem
Grundgesetz überlagert das Reich der Kultur durch die Regelung von Ver-
wandtschaftsbeziehungen das der Natur, das dem Gesetz der Paarung unter-
liegt. Das Inzestverbot ist nur der subjektive Angelpunkt (...).«10

Das Begehren als »Begehren des Anderen« zu definieren, bedeutet


freilich v.a., es als ein Begehren nach der symbolischen Anerkennung
des Anderen zu konzipieren. Das Begehren des Subjekts zielt in der
Tat nicht auf ein Objekt, sondern auf das Begehren des Anderen, auf
das begehrte Begehren des Anderen. Darin besteht die Präzisierung,
die Lacan dank Kojèves Relektüre von Hegel an der imaginären Kon-
zeption des Begehrens als Begehren des Objektes des anderen vor-
nimmt:
»Das Begehren des Menschen [findet] seinen Sinn im Begehren des anderen.
Und das nicht so sehr, weil der andere den Schlüssel zum begehrten Objekt
besitzt, sondern vielmehr weil sein erstes Objekt darin besteht, vom anderen
anerkannt zu werden.«11

Aus dieser zentralen Passage von Funktion und Feld geht klar hervor,
dass das Objekt des menschlichen Begehrens nicht mehr mit dem
Objekt des Begehrens des anderen zusammenfällt. Statt dessen wird
das Begehren des Anderen als Objekt des Begehrens definiert. Auf
diese Weise führt Lacan die Möglichkeit einer »symbolischen Befriedi-
gung«12 ein, welche die imaginäre Schaukel des Begehrens unter-
bricht. Sie beruht darauf, dass der Anspruch auf Anerkennung, den
das Subjekt an den anderen richtet, im Anderen auf eine symbolische
Anerkennung treffen kann. Es handelt sich in diesem Fall nicht mehr
um die imaginäre Schaukel des Begehrens, sondern vielmehr um die
symbolische Struktur des Begehrens, insofern es mit dem Anspruch
auf Anerkennung, mit dem Begehren des Anderen – mit dem Begeh-
ren, vom Begehren des Anderen begehrt zu werden – identisch ist.

17
Der stark dialektische Charakter dieser Definition rührt daher, dass
versucht wird, das Begehren von der physiologisch-instinkthaften Di-
mension des Bedürfnisses zu lösen, um es in jene eigentlich mensch-
liche Dimension der symbolischen Befriedigung, die an die intersub-
jektive Anerkennung gebunden ist, einzuschreiben. Eine Befriedi-
gung also, die den einseitigen Antrieb des Subjekts zu einem Objekt
(dies ist die Definition, die Hegel von der animalischen Bedürfnisbe-
friedigung gibt) ausschliesst und vielmehr von einer intersubjektiven
Reziprozität ausgeht, in der die symbolische Verwirklichung eines
Subjekts von dem abhängt, was im Anderen geschieht. In diesem
Sinne gründet sich der Anspruch auf Anerkennung auf die Möglich-
keit, vom Anderen die symbolische Anerkennung dieses Anspruches
zu erhalten. Hier macht sich Lacan Kojèves Interpretation der Hegel-
schen Dialektik der Anerkennung buchstäblich zunutze. Unter den
vielen möglichen Passagen von Kojève, die in diese Richtung weisen,
scheint mir die folgende besonders deutlich:
»Der Mensch ›bewährt‹ sich als Mensch, indem er sein Leben für die Befriedi-
gung seiner menschlichen Begierde, d.h. seiner auf eine andere Begierde sich
richtenden Begierde, einsetzt. Eine Begierde begehren heisst aber, sich selbst
an die Stelle des von dieser Begierde begehrten Wertes setzen wollen. Denn
ohne diese Substitution würde man den Wert, das begehrte Objekt, und nicht
die Begierde selbst begehren. Die Begierde eines anderen begehren, heisst
also letztlich begehren, dass der Wert, der ich bin oder den ich ›repräsentiere‹,
der von diesem anderen begehrte Wert sei: ich will, dass er meinen Wert als
seinen Wert ›anerkennt‹, ich will, dass er mich als einen selbständigen Wert
›anerkennt‹. Anders gesagt, jede menschliche, anthropogene, das Selbstbewus-
stsein, die menschliche Wirklichkeit produzierende Begierde ist letztlich eine
Funktion der Begierde nach Anerkennung.«13

Die Struktur des Begehrens als Begehren des Anderen führt also ein
Jenseits des Imaginären ein, weil das, worauf das Subjekt abzielt,
nicht mehr in ein betrügerisches Spiel mit erotisch-aggressiver Ab-
sicht – wie sie typisch ist für die spiegelbildliche Beziehung – ver-
wickelt ist. Das Subjekt zielt nun auf eine andere Art von Befriedi-
gung, die sich sowohl von diesem Spiel als auch von einer rein ani-
malischen Befriedigung unterscheidet. Es handelt sich dabei um eine
Befriedigung jenseits des Imaginären und jenseits der Natur. Wir ha-
ben es hier präzise mit einer symbolischen Befriedigung zu tun: vom
Begehren des Anderen als Subjekt anerkannt zu werden.
Nichtsdestotrotz umfasst Lacans Definition des Begehrens, weit da- at
von entfernt, eine eindeutige Formel zu sein, eine Reihe uria.
o@tBedeu-
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©
18
tungen. Das Begehren als Begehren des Anderen enthält bei Lacan
zumindest vier verschiedene, wenn auch untereinander zusammen-
hängende Bedeutungsnuancen.
Die erste Bedeutung ist die eigentlich Hegelsche, wonach es das Be-
gehren des Menschen nicht auf ein Objekt abgesehen hat, sondern –
wie wir gesehen haben – auf das Begehren des Anderen. Gemäss
dieser Version ist das Sein des Menschen insofern in eine konstitutive
Intersubjektivität eingelassen, als sein Sein wesentlich vom Sein des
Anderen abhängt.
Die zweite Bedeutung zentriert sich besonders um die symbolische
Antwort des Anderen auf den subjektiven Anspruch auf Anerken-
nung. Als Begehren des Anderen hängt das Subjekt in seinem eige-
nen Sein in der Tat vom Begehren des Anderen ab, und zwar in dem
Sinne, dass z.B. das Sein des Kindes von den Antworten abhängt, die
es im Begehren des mütterlichen Anderen findet, davon also, ob es
im Begehren des Anderen eine Stütze seines Seins findet oder ob es
sich von ihm abzusondern gezwungen ist.
Die dritte Bedeutung bezieht sich in einem eigentlicheren Sinne auf
die Freudsche Bestimmung des Begehrens des Anderen als unbewus-
stes Begehren, das sich in einen »anderen Schauplatz« als den des Be-
wusstseins einschreibt, als unzerstörbares Begehren, als Wunsch* des
Subjekts. Hier übersteigt das Begehren des Anderen die intersubjek-
tive Dialektik, um auf eine dem Subjekt innewohnende Transzendenz
hinzuweisen, auf einen inhärenten Anderen, der sich als Grundstruk-
tur des Begehrens konstituiert.
Die vierte Bedeuteung eröffnet die Möglichkeit, das Begehren als Me-
tonymie zu definieren. Hier muss das Begehren des Anderen als Be-
gehren nach Anderem, nach autre chose*, nach einem anderen Ding
verstanden werden. Das Begehren situiert sich hier – wie wir in der
Folge noch deutlicher sehen werden – jenseits des Bedürfnisses, in-
sofern es, strukturell bedingt, dazu bestimmt ist, seine Erfüllung nie
in einem einzigen Objekt finden zu können. Es ist die klinische Kate-
gorie der Hysterie, die diese Unendlichkeit, diese Transzendenz des
Begehrens, d.h. die Tatsache, dass es durch kein Objekt befriedigt
werden kann, besonders deutlich illustriert, insofern sich nämlich das
hysterische Begehren nichts anderes wünscht als das eigene Unbe-
friedigtsein.

19
2.
VOLLES SPRECHEN UND LEERES SPRECHEN

Die Struktur des menschlichen Begehrens als Begehren des Anderen


kann nicht von der zentralen Bedeutung absehen, die Lacan der Di-
mension des Sprechens beimisst. Funktion und Feld beruht gänzlich
auf der Verbindung zwischen der dialektischen Theorie des Begeh-
rens als Begehren des Anderen und einer Psychoanalyse, die sich auf
»Grundlagen des Sprechens«14 gründet und sich von der Funktion des
Sprechens leiten lässt15.
Lacans Leistung besteht darin, die dialektische These vom menschli-
chen Begehren als Begehren des Anderen mit der Definition der Psy-
choanalyse als einer Praxis des Sprechens kurzzuschliessen. Das
Sprechen bleibt nämlich genau wie das Begehren strukturell auf die
Antwort des Anderen angewiesen: »Denn jedes Sprechen appelliert
an eine Antwort. (...) [es gibt] kein Sprechen ohne Antwort«16. Nichts-
destotrotz erlaubt aber nicht jedes Sprechen Die symbolische Ver-
wirklichung des Subjekts. Daher rührt die fundamentale Unterschei-
dung zwischen leerem und vollem Sprechen, d.h. die Unterscheidung
zwischen einer leeren Dimension des Sprechens, die im Imaginären
verankert bleibt, und einer vollen, die statt dessen die symbolische
Verwirklichung des Subjekts gestattet.
Worum handelt es sich also beim leeren und beim vollen Sprechen?
Das leere Sprechen ist dasjenige, das vom unbewussten Begehren
des Subjekts getrennt bleibt, es ist das Sprechen des Ichs (moi*), je-
nes Sprechen, das, wie Lacan schreibt, »sich nie der Aufnahme seines
Begehrens anschliesst«17. Umgekehrt definiert sich das volle Sprechen
gerade dadurch, dass es die spiegelbildliche Stufe des Ichs überwin-
det und dem unbewussten Begehren des Subjekts Ausdruck verleiht.
Wo das leere Sprechen an einem Übermass an Ich leidet, da ist das
volle Sprechen gerade aufgrund eines Verschwindens des Ichs in der
Lage, die (unbewusste) Wahrheit des Subjekts zu manifestieren. Je
mehr sich nämlich das Sprechen mit »Ich« auffüllt, als desto leerer
wird es sich in bezug auf die Wahrheit des Unbewussten zu erkennen
geben – und umgekehrt. Je mehr sich das Ich entleert und aus seiner
verkennenden Rolle fällt, umso stärker lädt sich das Sprechen mit
Sinn auf und umso kreativer wird es darin, die Wahrheit zu übertra-
gen. .at
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© inf
20
Das Insistieren auf dem Gegensatz zwischen leerem und vollem Spre-
chen führt Lacan dazu, die Analyse als eine Operation der Historisie-
rung des Subjekts, d.h. als eine Neubeschreibung seiner Geschichte
zu konzipieren. Das volle Sprechen ist nichts anders als das, was die
geschichtliche Wahrheit eines Subjekts zum Vorschein bringt. Das un-
begrenzte Vertrauen, das Lacan in diesen Jahren gegenüber der
Macht des Sprechens an den Tag legt, widerspiegelt sich auch deut-
lich in der Vorstellung, dass die stets wiederkehrenden Symptome
durch eine vollständige Anamnese, durch eine gänzlich gelungene
Wiedererinnerung der zensurierten Kapitel der Geschichte des Sub-
jekts beseitigt werden können. Lacans begreift in Funktion und Feld
di Analyse im Grunde genommen als eine Deutung des subjektiven
Textes, die das Ziel verfolgt, seine Vollständigkeit wiederherzustellen.
Wenn nämlich das Unbewusste »das Kapitel meiner Geschichte [ist],
das weiss geblieben ist«18, so besteht die Hauptaufgabe der Analyse
darin, die Kontinuität dieser Geschichte wiederherzustellen. In die-
sem Sinn ist Jacques-Alain Millers Hinweis, »Kontinuität« als das
Schlüsselwort von Funktion und Feld zu begreifen, absolut zutref-
fend19. Es handelt sich also in der Analyse darum, dem Subjekt dabei
zu helfen,
»die geschichtliche Aktualisierung der Tatsachen zu vollenden, die im Laufe
seines Lebens eine gewisse Zahl von historischen,Wendepunkten‹ bestimmt
haben«20.

Den geschichtlichen Text des Subjekts wieder zu vernähen, die Histo-


risierung zu vervollständigen, ist gleichbedeutend mit einer klaren
Trennung des Unbewussten vom Reich des Instinkthaften. Die Di-
mension des Unbewussten hat – im Gegensatz zu den Gegenständen
der Naturwissenschaften – nichts mit Biologie zu tun. Sie ist mit der
geschichtlichen Dimension des Subjekts identisch. In Übereinstim-
mung mit diesem theoretischen Grundprinzip besteht das Ziel der
Analyse nicht so sehr darin, die genauen Erinnerungen gleichsam ar-
chäologisch wiederherzustellen, als vielmehr in der »Aufnahme seiner
Geschichte durch das Subjekt«21. Wobei diese Aufnahme überhaupt
nichts – gemäss einer Illusion, die anfänglich auch Freud leitete, als
er die sogenannte kathartische Methode entwickelte – mit der Mög-
lichkeit eines direkten Zuganges zum Material des Gedächtnisses zu
tun hat, zu den Erinnerungen als ersten, ursprünglichen und archäo-
logischen Tatsachen, als wären sie gleichsam in der Vergangenheit
21
begraben. Was auf dem Spiel steht, ist vielmehr die Möglichkeit des
Subjekts, vergangene Ereignisse immer weiter zu resubjektivieren.
Man muss sich in der Tat gegenwärtig halten, dass
»es sich in der psychoanalytischen Anamnese nicht um Realität, sondern um
Wahrheit [handelt]; denn es ist die Wirkung des vollen Sprechens, die Kontin-
genz des Vergangenen neu zu ordnen, indem es ihr den Sinn einer zukünfti-
gen Notwendigkeit gibt (...)«22.

Wo also das leere Sprechen in der täuschenden Herrschaft des Ichs


versinkt, da ist das volle Sprechen in der Lage, die Geschichte des
Subjekts zu subjektivieren, das Sein des Subjekts zu historisieren. Das
erstere ist ein Sprechen, das im Morast des Imaginären steckenbleibt,
wohingegen das letztere das symbolische Vermögen besitzt, das ima-
ginäre Gewebe aufzulösen; das erstere ist in die Täuschungen des
Narzissmus verstrickt, während das letztere das ermöglicht, was La-
can »die psychoanalytische Verwirklichung des Subjekts« nennt. Die-
ser Gegensatz zwischen Imaginärem und Symbolischem macht die
Seele des berühmten Schemas L aus:

(Es) S a ’nderer

(Ich) a A nderer

Auf der imaginären Achse – definiert durch die spiegelbildliche Be-


ziehung zweier Ebenbilder (a-a’) – siedeln sich das leere Sprechen,
die täuschende Herrschaft des Ichs und der narzisstische Betrug der
spiegelbildlichen Beziehung an, während sich auf der symbolischen
Achse – definiert durch die Beziehung zwischen dem Subjekt des Un-
bewussten und dem Anderen als symbolischem Ort des Sprechens –
das volle Sprechen, die Verwirklichung des Subjekts und seine sym-
bolische Historisierung situieren.
Es muss jedoch präzisiert werden, dass Lacan da, wo er die Gleich-
wertigkeit von geschichtlicher Dimension und Dimension des Unbe-
wussten behauptet, sich nicht auf einen linear-progressiven Ge-
t
schichtsbegriff bezieht. Die geschichtliche Zeit ist nicht n
infeiner ria.a
o@tuUrsa-
© i
22
che-Wirkung-Beziehung von mechanischer Art begründet. Was ihn
dabei leitet, ist vielmehr eine Konzeption der Zeitlichkeit, wie sie von
Heidegger in Sein und Zeit ausgearbeitet oder von Freud im Wolfs-
mann entwickelt wurde. Es handelt sich genau genommen um eine
nicht-lineare Zeitlichkeit, die auf der Freudschen Nachträglichkeit*
aufbaut. Die Eigentümlichkeit dieser Zeitlichkeit liegt weder in der
blossen Aufeinanderfolge von Ereignissen noch in einem determini-
stischen Verhältnis zwischen der Vergangenheit als Ursache und der
Gegenwart-Zukunft als Wirkung. Sie liegt ausschliesslich in der Mög-
lichkeit, über die das Subjekt verfügt, »sich« nachträglich (après coup*)
»umzustrukturieren«23, d.h. darin, wie die Existentialanalytik von Sein
und Zeit lehrt,24 der eigenen Vergangenheit ausgehend von der Er-
schlossenheit der Zukunft Bedeutung zu verleihen. Das Subjekt ord-
net die Stränge der eigenen Vergangenheit im Ausgang von seiner Er-
schlossenheit der Zukunft neu. Nur so wird verständlich, dass die
Stränge der Vergangenheit keinen Sinn in sich tragen, sondern ihn
durch die gegenwärtige Interpretation des Subjekts erhalten. Der Sinn
der subjektiven Geschichte ist in der Tat keine Gegebenheit, keine
Tatsache, sondern die Wirkung des vollen Sprechens, d.h. der Effekt
der Art und Weise, wie das Subjekt seine eigene Geschichte an-
nimmt.25
Die zentrale Bedeutung, die Lacan der Dimension der subjektiven Hi-
storisierung beimisst, hat zur Folge, dass die Freudsche Triebtheorie
ent-biologisiert wird. Wie wir gesehen haben, hat Lacan Freuds Li-
bido-Theorie anfänglich durch die Linse des Imaginären neu interpre-
tiert. In dieser Perspektive wurde das, was Freud – gemäss seiner Li-
bido-Theorie, wie er sie in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
beschrieben hat – als »Triebfixierungen« des Subjekts an die sexuellen
und prägenitalen Entwicklungstadien (oral, anal, phallisch) heraus-
schälte, zur Manifestation von imaginären Stauungen, zur Manifesta-
tion einer narzisstischen Trägheit, die dem von den idealisierenden
Identifikationen geblendeten Subjekt eigen ist. Das brachte Lacan
dazu, den Narzissmus als das, was »die Formen des Begehrens ein-
hüllt«,26 zu definieren.
In Funktion und Feld liegt die Betonung ganz auf der Reduktion der
Freudschen Triebe auf die Signifikanten des Anspruches. Das Bedürf-
nis, den Trieb aller biologischen oder instinkthaften Konnotationen
zu entledigen, führt Lacan dazu, seine Struktur in rein signifikante

23
Begriffe zu übersetzen. Der Trieb wird so zu einer Form des Anspru-
ches. Der Oraltrieb z.B. wird zum an den Anderen gerichteten An-
spruch (weil es dem Kind an dem mangelt, was der Andere hat),
während der Analtrieb darauf abzielen wird, den Anspruch des Ande-
ren an das Subjekt zu wenden (weil es das Kind ist, das die Faeces
besitzt). Dies bedeutet folgendes: Der Trieb wird nicht so sehr als auf
das Geniessen gerichteter Drang konzipiert. Massgebend für den
Trieb ist vielmehr die signifikante Funktion des Anspruches im er-
weiterten Kontext der intersubjektiven Beziehungen. Auch in diesem
Zusammenhang erweist sich die Bezugnahme auf die geschichtliche
Dimension des Subjekts als zentral:
»So ist jede Fixierung an ein sogenanntes Stadium der Triebentwicklung v.a.
ein historisches Stigma, ein Schandfleck, den man vergisst oder für ungesehen
erklärt, beziehungsweise ein Ruhmesblatt, das verpflichtet. (...) Um es kurz zu
sagen: Die Stadien der Triebentwicklung sind bereits, während sie durchlebt
werden, als Subjektivität organisiert«27.

Auf diese Weise versucht Lacan die Psychoanalyse vor jeglichem »me-
chanischen« Missverständnis zu bewahren. Nichtsdestotrotz sieht er
sich aber gezwungen, die zentrale Charaktersitik der Freudschen
Triebtheorie – der Trieb als ein Anspruch auf Befriedigung – zu sus-
pendieren. Es wird einige Jahre dauern, bis Lacan im Ausgang von
Seminar VII (1959-1960) versuchen wird, die Freudsche Triebtheorie
jenseits imaginärer oder semantischer Anleihen wieder zu integrieren,
indem er sie konsequent auf das Register des Realen zurückführt.

3.
BEGEHREN ALS »METONYMIE DES
SEINSVERFEHLENS«

Wo Lacan in der ersten Version des Begehrens noch dessen ima-


ginären Status betonte, indem er aus dem Objekt des Begehrens das
Objekt des Begehrens des anderen machte, um dann in einem zwei-
ten Schritt die dialektische Struktur des Begehrens als Begehren des
Anderen in den Vordergrund zu rücken, da gelangt er in einer dritten
Phase dahin, das Begehren vom Begehren des Anderen zu lösen und
aus ihm den metonymischen Ausdruck des Seinsverfehlens (manque-
à-être) zu machen28.
.at
o@ turia
© inf
24
Mit dem ersten Übergang haben wir uns schon beschäftigt. Nun geht
es darum, den zweiten Übergang, der vom Begehren als Begehren
des Anderen zum Begehren als Metonymie des Seinsverfehlens führt,
genauer zu prüfen. Dies ist genau die Differenz, die, was den Status
des Begehrens anbelangt, Funktion und Feld von Die Ausrichtung
der Kur aus dem Jahre 1958 trennt.
Die Hauptthese, die Lacan bezüglich der Struktur des Begehrens ver-
tritt, geht nicht mehr von dessen Homologie mit dem Sprechen, d.h.
von der dialektischen Abhängigkeit des Begehrens von der Dimen-
sion der Intersubjektivität und der symbolischen Anerkennung aus,
sondern vielmehr von einer grundlegenden »Unverträglichkeit des
Begehrens mit dem Sprechen«29. Diese Unverträglichkeit hebt die dia-
lektische Vorstellung eines Begehrens als Begehren nach Anerken-
nung aus den Angeln. Lacan stösst in der Struktur des Begehrens auf
etwas, was das dialektische Schema des Begehrens als Begehren des
Anderen unterhöhlt. Es gibt da etwas im Begehren, etwas Exzentri-
sches, etwas Unbefriedigtes, das sich nicht auf das Gesetz der dialek-
tischen Anerkennung reduzieren lässt.
Die Bezeichnung des Begehrens als Metonymie des Seinsverfehlens
siedelt sich jenseits des Horizontes der symbolischen Anerkennung
an, weil sie auf die Eigentümlichkeit des Begehrens, die symbolische
Befriedigung der Anerkennung zu transzendieren, hinweist. Wo das
Begehren als Begehren nach Anerkennung nämlich die Bedeutung
des Anderen als möglicher Ort einer symbolischen Anerkennung her-
vorhebt, da steht beim Begehren als Metonymie des Seinsverfehlens
mehr das strukturell bedingte Verhältnis von Begehren und Seinsver-
fehlen im Vordergrund. Lacan konzipiert den Mangel des Subjekts in
der Folge von Sartres Begriff des manque d‘être* nicht als ein Mangel
an etwas, als ein Mangel, der auf etwas gerichtet ist, sondern als ein
Mangel im Sein des Subjekts, als ein Mangel in der Struktur des Sub-
jekts30. Das Begehren, das diesem Seinsverfehlen entspringt, ist eine
Bewegung, die darauf abzielt, den Mangel als solchen zu leugnen,
die aber gleichzeitig nicht umhin kann, sich in die Unendlichkeit zu
entwerfen, weil keine Befriedigung diesen Mangel jemals wird stop-
fen können. Das Begehren ist deshalb eine Metonymie des Seinsver-
fehlens, und zwar insofern, als der Mangel, der es hervorbringt und
aufrechterhält, sich stets gleich bleibt, obwohl das Objekt des Begeh-
rens immer wieder ein anderes ist. Das Objekt des Begehrens, das

25
immer wieder verschieden ist, kennzeichnet so die imaginäre Dimen-
sion des Begehrens, während seine metonymische Strukturierung,
d.h. der stetige Neubeginn, zu dem sich das Begehren jenseits der
spezifischen Objekte aufschwingt, seinen symbolischen Charakter de-
finiert, d.h. seine Abhängigkeit vom Signifikanten und von der Struk-
tur der Sprache. Ebensowenig wie ein Signifikant sich selbst bedeu-
ten kann, vermag sich auch das Begehren über keinem einzelnen
Objekt zu schliessen und bleibt immer Begehren nach anderem, nach
autre chose. Das Begehren ist eine Bewegung der Transzendenz, ein
unendlicher Aufschub von einem Signifikanten zum anderen.
In dieser Neuformulierung der Theorie des Begehrens lässt sich die
Bedeutung eines weiteren epistemologischen »Sprungs« von Lacan
ausmachen: der Sprung vom Primat der Funktion des Sprechens zum
Primat der Gesetze der Sprache. Die Vorherrschaft der Sprachgesetze
ordnet in der Tat das Sein des Subjekts dem Anderen als Ort der Sig-
nifikantenkette unter, wobei das Begehren zu einem Effekt – in die-
sem Sinn befindet er sich auf derselben Seite wie das Signifikat – des
Signifikanten wird. Die Konzeption des Begehrens als Metonymie wi-
derspiegelt genau diese Unterordnung des Subjekts unter die Gesetze
der Sprache.
Auch die symbolische Anerkennung des Anderen vermag also diesen
paradoxen und exzentrischen Charakter nicht zu absorbieren. Daraus
lassen sich zwei grundlegende Schlüsse für die Subjekttheorie ziehen.
Die erste Schlussfolgerung: Das Begehren ist nicht dem Subjekt un-
terworfen, vielmehr ist umgekehrt das Subjekt dem Begehren unter-
worfen. Das Begehren transzendiert nämlich das Subjekt, es ist, wie
Lacan schreibt, »subjektzwingend«.31 Der Begriff des Begehrens als
Metonymie unterstreicht die Gespaltenheit des Subjekts, das sich des-
halb als fi schreibt, wobei diese Spaltung ein Hinweis auf die nicht-
dialektische und uneingeschränkte – »subjektzwingende« – Beschaf-
fenheit dieser Metonymisierung, d.h. der Abhängigkeit des Subjekts
von der Signifikantenkette, ist.
Die zweite Schlussfolgerung: Die Befriedigung des Begehrens ist
nicht mehr die symbolische Befriedigung des Begehrens als An-
spruch auf Anerkennung. An die Unverträglichkeit des Begehrens mit
dem Sprechen knüpft sich eine andere Dimension der Befriedigung,
welche die Aufmerksamkeit auf die zunehmende Bedeutung lenkt,
.at
o@ turia
© inf
26
die der Begriff des Geniessens (jouissance*) in Lacans Denken an-
nehmen wird.
Sehen wir uns aus der Nähe an, wie Lacan versucht, diesen schwin-
delerregenden Übergang zu bewerkstelligen:
»Die Bearbeitung des Traums lebt aus dem Begehren – warum zögert unsere
Stimme und schliesst nicht: nach Anerkennung, als erlösche das zweite Wort,
welches eben noch, als es das erste war, das andere in seinem Lichte aufsog.
Schliesslich gibt man sich ja nicht im Schlaf zu erkennen. Und der Traum, teilt
Freud uns mit und sieht hier anscheinend nicht die Spur eines Widerspruches,
dient v.a. dem Begehren nach Schlaf. Er ist narzisstischer Rückzug der Libido
32
und Abzug von Besetzung von der Realität.«

Welcher radikalen Revision unterwirft hier Lacan das Begehren als


Anspruch auf Anerkennung? Seine Stimme, so sagt er uns, »zögert«,
den Ausdruck »Begehren« mit »nach Anerkennung« zu vervollständi-
gen. Man stösst so auf ein anderes Antlitz des Begehrens, das, nicht-
dialektisch und uneingeschränkt, imstande ist, mit der intersubjekti-
ven Dimension der symbolischen Anerkennung zu brechen. Um
diese radikale Drehung zu vollziehen, nimmt er Abstand von Hegel,
was ihm erlaubt, sich ein weiteres Mal Freud und seinem Begriff des
»Wunsches zu schlafen« zuzuwenden. Das Begehren zu schlafen fin-
det die Befriedigung des Begehrens in einer Art subjektivem Kurz-
schluss, der von jedweder Intersubjektivität und jedem Band mit dem
Anderen (Lacan spricht von »narzisstischem Rückzug der Libido« und
»Abzug der Besetzung von der Realität«) absieht. Dieser Kurzschluss
gibt den Blick frei auf die Frage nach dem Geniessen, das sich nicht
auf das Begehren reduzieren lässt. In der Herausarbeitung dieses Be-
griffes ist das Seminar VII von zentraler Bedeutung. Es wird nun
nicht mehr die dialektische Idealvorstellung des vollen Sprechens
sein, welche die Arbeit der Analyse leitet – weil sich das Sprechen als
unversöhnbar mit dem Begehren heraustellt –, sondern vielmehr das
Zum-Vorschein-bringen eines unzerstörbaren Geniessens, das das
Subjekt an sein Symptom kettet.

27
4.
DER PHALLUS ALS SIGNIFIKANT DES
BEGEHRENS

Die Metonymie des Begehrens macht den »paradoxen, abweichen-


den, erratischen, exzentrischen, ja sogar skandalösen« 33 Charakter des
Begehrens und seine Abhängigkeit von den Gesetzen der Sprache
sichtbar. Die psychoanalytische Klinik zeigt aber nichtsdestotrotz,
dass das unbewusste Begehren die Neigung besitzt, sich an be-
stimmte Objekte zu fixieren, Anhaltspunkte oder, wie Freud sagen
würde, Fixierungen dieses unendlichen Gleitens des Begehrens zu
schaffen. Der Lacansche Begriff des Phallus erhält vor diesem Hinter-
grund seinen ganzen Sinn: der phallische Signifikant präsentiert sich
als das, was das metonymische Fliessen des Begehrens anhält, indem
er es gleichsam magnetisiert.
Bevor wir näher darauf eingehen, worin die zentrale Bedeutung be-
steht, die Lacan – insbesondere im Verlaufe der zweiten Hälfte der
Fünfzigerjahre – dem Signifikanten des Phallus zuweist, ist es ange-
bracht, uns allgemeiner zu fragen, welche Rolle der Signifikant für
die Strukturierung des Subjekts spielt.
Zuallererst muss daher der begriffliche Unterschied zwischen Bedürf-
nis und Anspruch geklärt werden. Das Bedürfnis beschreibt einen
physiologisch konnotierten Zustand, in dem das Subjekt etwas
benötigt. Freud spricht diesbezüglich von der Zeit »der grossen Kör-
perbedürfnisse«34. Mit der Behauptung der »Ursprünglichkeit des An-
deren«35 – in dem Sinne, dass der Andere dem Subjekt stets vorher-
geht und seine Existenz bestimmt – versucht Lacan deutlich zu ma-
chen, dass es kein körperliches Bedürfnis gibt, das nicht durch den
Engpass des Signifikanten muss. In diesem Sinne bezeichnet der An-
spruch nichts anderes als das in signifikante Begriffe übersetzte bzw.
der Sprache unterworfene Bedürfnis. Der Anspruch ist die signifi-
kante Gestaltung des Bedürfnisses. Damit ein Subjekt ein Bedürfnis
befriedigen kann, muss es sich an den Anderen wenden, muss es ihn
fragen und nach ihm verlangen, muss es sich in das Feld des Ande-
ren einschliessen. Der Anspruch bezeichnet so eine Weise, wie die
Sprache bzw. der Andere sich auf die Strukturierung des Subjekts
auswirkt. Deshalb hebt Lacan hervor, wie der Anspruch grundsätzlich
nie Anspruch auf ein Objekt, sondern Anspruch auf den Anderen a.at
turials
o@
© inf
28
solchen, »Anspruch auf eine Gegenwart oder Abwesenheit« ist. Und
aus diesem Grund erkennt er dem Anderen auch eine besondere
Macht zu – »die Macht, vorzuenthalten« –, die im »‘Privileg‘, die Be-
dürfnisse zu befriedigen«,36 besteht. Und es ist genau diese Macht des
Anderen, die Bedürfnisse des Kindes je nachdem zu befriedigen oder
eben nicht, die aus der Antwort des mütterlichen Anderen eine sym-
bolische Antwort macht. Wenn es dem Anderen vorbehalten ist, das
zu geben oder eben nicht zu geben, worum er gebeten wird, so wird
sein Geben jenseits dessen, was er wirklich gibt, stets das Zeichen
seiner Liebe sein, die er für das Subjekt empfindet. Der Andere näm-
lich kann geben, könnte aber auch nicht geben. Daher kommt es,
dass das, was er tatsächlich gibt, den natürlichen Wert des Objektes
stets übersteigt und den symbolischen Wert einer Liebesgabe oder
aber deren Verweigerung annimmt.
Der signifikante Anspruch hebt das natürliche Bedürfnis also auf. Der
Anspruch dreht sich nicht um das Objekt, sondern um den Anderen.
In diesem Sinne ist der Anspruch grundsätzlich nie ein Anspruch auf
ein Objekt, sondern Anspruch auf nichts. Anspruch auf nichts, das
nicht die Präsenz des Anderen, die Gegenwärtigkeit des Anderen ist.
Darin besteht die Natur des Anspruches auf Liebe, der als solcher nie
das will, was der Andere hat – ein Objekt –, sondern nach dem ver-
langt, was der Andere nicht hat, wie Lacan sagt, nach dem Sein des
Anderen, nach einem Zeichen der Liebe von Seiten des Anderen.37 Es
handelt sich also um einen »unbedingten« Anspruch.
Die Liebe entledigt das natürliche Objekt aller Bedeutung. Der An-
spruch auf Liebe ist in seinem Kern ein Anspruch auf nichts: es will
nicht die Brust der Mutter, sondern ein Zeichen, das Zeichen des
Mangels des Anderen, wie Lacan präzisiert. Der Anspruch auf die
Liebe wünscht sich, vom Anderen nicht ein Objekt, sondern das Zei-
chen seines Mangels zu erhalten, jenes Mangels, den das Subjekt
selbst im Anderen auszuhöhlen vermag und der also dem symboli-
schen Wert entspricht, den es für den Anderen haben kann. Das Ob-
jekt wird so auf nichts reduziert, weil sein Wert gänzlich davon ab-
hängt, wie der Andere es dem Subjekt darbietet und welchen Sinn
der Andere ihm verleiht. In der Gabe der Liebe zählt in der Tat weni-
ger das, was man schenkt, als vielmehr die Art und Weise, wie man
etwas schenkt bzw. inwiefern das, was man schenkt, geeignet ist, als
Zeichen der Liebe zu fungieren.38

29
Diese signifikante Entwertung des Objektes, diese Entstellung des Be-
dürfnisses, die der Signifikant bewirkt, zeigt einmal mehr, dass der
Mensch vom Feld des Anderen abhängt. Sie zeigt aber ebenfalls, wie
das vom Signifikanten heimgesuchte und in ein Symbol verwandelte
Objekt nurmehr als negiertes Objekt existiert.
An dieser Stelle taucht der Phallus als jener besondere Signifikant auf,
der der Funktion der signifikanten Operation insofern Bedeutung
verleiht, als er das natürliche Objekt negiert (deshalb definiert ihn La-
can als »den Signifikanten der Signifikanten«).
Aus der Freudschen Lehre der infantilen Sexualität wird leicht ersicht-
lich, wie sich die Versuche des Kindes zu verstehen, was es bedeutet,
ein Geschlecht zu haben, ungeachtet dessen, dass der Phallus kein
reales Objekt ist – weil z.B. weder die Mutter noch das Mädchen
wirklich einen Phallus haben –, dennoch um den signifikanten Wert
des Phallus drehen. Der Phallus weist eine symbolische Natur auf, in-
sofern er eine reale Abwesenheit verkörpert, die aber nichtsdesto-
weniger die dynamische Strukturierung der menschlichen Sexualität
organisiert. In diesem Sinne gehört der Phallus für Lacan grundsätz-
lich dem Weiblichen an, weil allein die Unterstellung, der mütterliche
Andere besitze einen Phallus, bzw. die Begegnung mit seiner Abwe-
senheit, mit der mütterlichen Kastration, den Unterschied zwischen
dem Phallus als Signifikant – der auf der Abwesenheit des Objektes
beruht – und dem Penis als realem Organ hervortreten lässt.
Im Seminar IV unterscheidet Lacan den symbolischen Phallus, der
die Naturobjekte negiert – der Signifikant der signifikanten Operation
als solcher – vom imaginären Phallus, der den mütterlichen Mangel
anzeigt und zugleich sein Substitut darstellt, insofern das Begehren
der Mutter vom Wunsch beseelt ist, das Kind imaginär mit dem Phal-
lus, mit einem »Penisersatz«, wie sich Freud ausdrückte, zu identifizie-
ren. Darin besteht der symbolisch-imaginäre Status des Phallus, um
den das Seminar IV, das den sogenanten Objektbeziehungen gewid-
met ist, kreist39.
Der Primat des Phallus liegt in der Tatsache begründet, dass er – in-
sofern er kein Objekt, sondern das Fehlen eines Objektes, ein reines
Symbol ist – die Übermacht des Signifikanten offenbart und zugleich
den Signifikanten des Begehrens des Anderen repräsentiert. Wir ha-
ben gezeigt, inwiefern der Phallus der Signifikant der signifikanten
at
Operation ist; allein was bedeutet es zu behaupten, dass uria.
o@tPhallus
© infder
30
40
der Signifikant des Begehrens des Anderen ist? Worin unterscheiden
sich genau Begehren und Anspruch?
Das Begehren befindet sich in einer Exzentrizität in bezug auf den
Anspruch. Es siedelt sich zugleich diesseits und jenseits des Anspru-
ches an.41 Diesseits, insofern es auf das Seinsverfehlen des Subjekts
verweist; jenseits, insofern sich das Begehren auf keinen wie auch
immer gearteten Anspruch reduzieren lässt. Oder anders gesagt: Das
Begehren steht für das, was vom Anspruch übrigbleibt, nachdem er
befriedigt wurde, für das Diesseits desselben also. Das Begehren ist
»der Überrest einer Obliteration«,42 und zwar in dem Sinne, dass die
Verwandlung des Bedürfnisses in Worte, in die Signifikanten des An-
spruches, den Drang des Bedürfnisses nach seiner Befriedigung nicht
gänzlich zu beseitigen vermag. So kommt es, dass die Illusion, auf
der Funktion und Feld beruhte, verschwindet: das Reale des Bedürf-
nisses – das Reale des Triebes – wird niemals vollständig vom An-
spruch symbolisiert werden können. Aber das Begehren befindet sich
nicht nur diesseits des Anspruches, sondern verweist ebenso auf sein
Jenseits, und zwar insofern, als das Begehren – als Metonymie des
Seinsverfehlens – jeden Anspruch so wie jedes Befriedigungsobjekt
transzendiert. Das Begehren ist, anders ausgedrückt, ein Signifikat,
das vom Signifikanten nicht vollständig bedeutet werden kann.
Aber wie bereits gesagt ist die Metonymie des Begehrens an den
Phallus als den Signifikanten des Begehrens des Anderen geheftet.
Der Phallus konstituiert sich als spezieller Signifikant des Begehrens
des Anderen – als letzter Signifikant des Begehrens –, der imstande
ist, die Metonymie des Begehrens anzuhalten, weil er den internen
Gravitationspunkt repräsentiert. Der phallische Signifikant weckt im
Subjekt die imaginäre Erwartung, das eigene Sein vervollständigen zu
können. Das Objekt erwirbt so für das Subjekt einen phallischen
Wert, wo es die Illusion, die Beseitigung des Mangels möglich zu ma-
chen, aufrechterhält. Das ist die Rolle, die das Kind gegenüber dem
mütterlichen Begehren spielt; dies ist ebenfalls die Rolle des Fetisches
für das Begehren des Perversen. V.a. im Seminar IV hat sich Lacan
ausführlich damit beschäftigt, wie der Phallus die Beziehung zwi-
schen Mutter und Kind beeinflusst. Der dyadische Begriff der Mutter-
Kind-Beziehung, der die post-freudianische Psychoanalyse be-
herrschte, erweist sich aus dieser Perspektive als ungenügend, weil er
den Bezug auf den Phallus als drittes Element, das die ganze innere
31
Dialektik zwischen Kind und Mutter organisiert, vernachlässigt. Für
das Begehren der Mutter ist das Kind der Penisersatz, d.h. der ima-
ginäre Pfropfen, der den Mangel der Kastration verschliesst, jenes
Objekt, das die vollkommene Antwort auf das mütterliche Begehren
darstellt. Nichtsdestotrotz besteht eine strukturelle Unmöglichkeit, die
narzisstische Identifikation mit dem Phallus aufrechtzuerhalten. Diese
Identifikation wird sich freilich notwendig als ungenügend heraus-
stellen. Deshalb erkennt Lacan für eine gewisse Zeit seiner Lehrtätig-
keit die Aufgabe der Analyse darin, die imaginäre Identifikation des
Subjekts mit dem Phallus aufzulösen (auf der Seite des Seins der
Phallus beim Mann und auf der Seite des Habens der Phallus bei der
Frau) und es mit dem Mangel zu konfrontieren, der die Bedingung
für ein Begehren ist, das sich von einer imaginären Identifikation mit
dem Phallus zu lösen vermag.43

5.
DAS DING UND DIE OBJEKT-URSACHE DES
BEGEHRENS

In verschiedener Hinsicht nimmt das Seminar VII, das der Ethik der
Psychoanalyse gewidmet ist, eine zentrale Stellung in Lacans Denken
ein.44 V.a. deshalb, weil es dem Begriff des Geniessens (jouissance*)
einen entscheidenden Platz zuweist. Es handelt sich dabei um das Er-
gebnis von Lacans Rückkehr zum Todestrieb* und zum Jenseits des
Lustprinzips, dem Freud nach seiner metapsychologischen Kehre der
Zwanzigerjahre ausschlaggebende Bedeutung beimass. Lacans Lek-
türe spaltet Freud: der erste »Freud« ist derjenige der Traumdeutung,
der die Funktionslogik des Unbewussten als eine symbolische und
rhetorisch-linguistische Logik bestimmt, die nach den Gesetzen der
Metapher und der Metonymie organisiert ist. Dies wird Lacan zur
berühmten Formulierung führen, das Unbewusste sei strukturiert wie
eine Sprache. Der zweite »Freud« ist hingegen derjenige von Jenseits
des Lustprinzips, der nicht etwa den unbewussten Sinnbildungen be-
sondere Bedeutung verleiht, sondern das unheimliche Schweigen des
Todestriebes und des Es* und die Macht der Wiederholung in den
Vordergrund rückt.45 An erster Stelle steht nicht mehr das symbolische
Vermögen des Unbewussten und seiner Bildungen (Lapsus, Witz, t
ria.a
o@tuuner-
© inf
Symptom, Fehlhandlung, Traum), sondern ein heimtückisches,
32
trägliches und zerstörerisches Geniessen jenseits des Lustprinzips, an
dem das Subjekt haften bleibt und das dazu drängt, sich immer wie-
der zu wiederholen, wobei es im Gegensatz zum Unbewussten, das
wie eine Sprache strukturiert ist, keiner semantischen Interpretation
zugänglich ist.
Es ist deshalb kein Zufall, dass sich der Bezug auf das Jenseits des
Lustprinzips im Seminar VII als entscheidend herausstellt. Der Be-
griff, der im Mittelpunkt steht, ist derjenige des Dinges*. Lacan hat ihn
einem Text von Freud, dem Entwurf einer Psychologie, entnommen.
Auf ihn führt er den Begriff des Geniessens als das, was sich nicht auf
die Dimension des Begehrens reduzieren lässt, zurück.
Die Unterscheidung zwischen Begehren und Geniessens bildet in der
Tat ein Hauptthema dieses Seminars. Wo das Begehren vom Anderen
kommt, da befindet sich das Geniessen auf der Seite des Dinges. 46 Es
handelt sich also um einen doppelten Gegensatz:

Anderer ------------------ Begehren

Ding ------------------ Geniessen

Auf der einen Seite das dialekische Verhältnis von Begehren und An-
derem, auf der anderen Seite die nicht-dialektische Fixierung des Ge-
niessens an das Ding. Wie gesehen ist das Begehren dialektisch an
den Anderen gebunden, insofern es in seiner Struktur Begehren des
Anderen ist, Begehren des Begehrens des Anderen. Es ist überdies
der Signifikant – d.h. die Wirkung des Anderen auf das Subjekt –, der
macht, dass der Körper seines Geniessens beraubt wird und sich das
Subjekt als Seinsmangel konstituiert. Wir sollten deshalb einen Zu-
sammenhang zwischen der Wirkung des Anderen auf das Subjekt
und der Produktion des gespaltenen Subjekts, des Subjekts als Seins-
mangel herstellen. Das Begehren kommt auch in diesem Sinne vom
Anderen. Es kommt vom Anderen, weil es der vom Anderen ins Spiel
gebrachte Signifikant ist, der das Subjekt um den Verlust eines Ge-
niessens herum organisiert. Das Begehren zieht seine Kraft nämlich
nicht aus dem Sein, sondern aus dem Seinsmangel, aus jenem Man-
gel, der durch die Unterordnung des Subjekts unter den Anderen de-
terminiert wird.

33
Das Geniessen indessen steht nicht in einer Beziehung zum Anderen,
sondern zum Ding. Worin besteht also der Lacansche Status des Din-
ges? Im Seminar VII schält er es aus Freuds Entwurf. Bei Freud steht
es für das verlorene Objekt der ersten, mythischen Befriedigung. Der
Verlust des Dinges ist die Wirkung der Urverdrängung: das Ding ist
der Name eines vollen, uneingeschränkten und unwiederholbaren
Geniessens, ist aber zugleich jener Name, der sich genau da aus-
löscht, wo er sich schreibt. Das Ding ist in Wirklichkeit ein Un-ding,
weil es immer schon vom Signifikanten durchgestrichen wurde. Dar-
aus leitete Freud auch die Notwendigkeit ab, die Verdrängung als ur-
sprünglich zu denken: Das Ding ist verloren, und zwar in dem Sinne,
dass es weder ein ursprüngliches Signifikat noch ein Befriedigungs-
objekt bezeichnet, das der Verdrängung vorhergeht. Sein Verlust ist
vielmehr eine Wirkung der Verdrängung, die sich als ursprünglich zu
erkennen gibt, insofern das Ding nicht auf die Existenz eines Ur-
sprungs diesseits der Verdrängung hinweist, sondern vielmehr auf die
Vorstellung eines ursprünglichen Verlustes. Lacan bestimmt das Ding
näherhin in drei Hinsichten: es ist das »Signifikats-Ausserhalb«, es ist
»verloren« und immer woanders (»autre chose«*).
Das Ding ist zu allererst eine »Stumme Realität«, ein »Signifikats-Aus-
serhalb«, weil es sich weder auf die symbolische noch auf die ima-
ginäre Ordnung reduzieren lässt. Vermöge des Dinges erhält das Re-
gister des Realen gegenüber der symbolischen und der imaginären
Ordnung eine zentrale Bedeutung. Während beim »Lacan« der Dreis-
siger- und Vierzigerjahre die Funktion der Imago eine zentrale Stel-
lung in der Konstitution des Subjekts einzunehmen scheint und
während anfangs der Fünfzigerjahre das Unbewusste, das wie eine
Sprache strukturiert ist, den Schauplatz des Subjekts besetzt hält (mit
dem einhergehenden Primat der symbolischen Ordnung) und das
Reale an den Rand der Erfahrung drängt, als handelte es sich um eine
Art negatives, in sich geschlossenes An-sich »ohne Risse« – man
denke nur an Funktion und Feld –, da ist es ausgehend von der
Kehre, die Lacan im Seminar VII vollzieht, genau das Reale, das für
die Konstutition des Subjekts eine absolut zentrale Bedeutung er-
langt.
Als Manifestation des Realen weist das Ding einen doppelten Über-
schuss auf: einen Überschuss sowohl hinsichtlich der imaginären
.at
Identifikationen (das Ding ist kein Bild) als auch hinsichtlich turia
© info@der Sig-
34
nifikantenkette (das Ding als stumme Realität ist nicht Sprache, son-
dern vielmehr das der Sprache innewohnende Loch). Es gibt deswe-
gen keine Möglichkeit, das Ding zu repräsentieren, weil es sich aus-
serhalb des symbolisch-imaginären Feldes des Sinnes ansiedelt und
somit eine Art fremdes Element bildet, das die Gesamtheit der sym-
bolischen Ordnung als solche mit dem Effekt einer Unvollständigkeit
schlägt. Nichtsdestoweniger neigt die ganze repräsentative Tätigkeit
des Menschen dazu, um das Ding zu kreisen (das Ding ist in der Tat
das, »was sich darstellt und abhebt als der fremde Term, um den die
ganze Bewegung der Vorstellung* kreist«)47.
Wenn das Ding der Signifikantenkette äusserlich ist, wenn es ein Sig-
nifikats-Ausserhalb ist, so »leidet« sein Sein »am Signifikanten«. Diese
Definition des Dinges ist entscheidend: »das, was vom ursprünglichen
Realen am Signifikanten leidet«.48 Das Ding ist keine unaussprechli-
che, noumenische oder mystische Realität. Das Ding leidet am Signi-
fikanten, d.h. die Aktion des Signifikanten, die das ursprüngliche
Reale immer schon heimgesucht hat, macht das Ding zu nichts ande-
rem als zu einer Leerstelle, zu einem verlorenen Objekt. In diesem
Sinne kann Lacan behaupten, dass »es eine Identiät [gibt] zwischen
der Ausformung des Signifikanten und der Einführung einer Kluft, ei-
nes Lochs im Realen«.49 Darin besteht der extime Status50 des Lacan-
schen Dinges: auf der einen Seite ist es dem Feld der Sprache voll-
kommen äusserlich, während es auf der anderen nur im Ausgang von
der Sprache und der Aushöhlung des ursprünglichen Realen, die sie
mit sich bringt, konzipiert werden kann.
Das Ding als Leerstelle steht für die Wirkung, die die Aktion des An-
deren bei ihm erzeugt. Das Ding ist aufgrund des Anderen – auf-
grund der Gesetze der Sprache – immer schon verloren. Seine Natur
liegt in seiner Leere; das Ding bildet in der Tat »die Leere im Zentrum
des Realen«.51
Indem er auf der Leere des Dinges, die auf den ursprünglichen Ver-
lust des Objektes verweist, insistiert, versucht Lacan Freud gerecht zu
werden, der im verlorenen Objekt die Bedingung für die Strukturie-
rung der menschlichen Subjektivität erkannte. Es genügt, an die Rolle
zu denken, die es in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
spielt, wo gut ersichtlich wird, wie sich beim Kind die Bildung des
Triebkörpers (wo das Objekt verloren ist, konstituieren sich nämlich
die sogenannten erogenen Zonen: oral, anal, phallisch) und der Er-

35
fahrung der Realität um den Verlust des Objektes (Brust, Faeces, Pe-
nis) organisiert. Im Seminar IV hat Lacan im Detail aufgezeigt, inwie-
fern der Objektverlust strukturellen Charakter hat. Ein solcher Verlust
impliziert nämlich keineswegs die Vorstellung, dieses Objekt ur-
sprünglich (vor dem Signifikanten und vor der Sprache) besessen zu
haben. Er verweist vielmehr auf die Beschaffenheit des menschlichen
Begehrens, das der fundamentalen Unmöglichkeit unterworfen ist, in
der Realität das mythische Objekt der ersten Befriedigung wiederzu-
finden. Die Unmöglichkeit, dass das, was man sucht (das verlorene
Objekt), mit dem zusammenfällt, was man findet. Genau dies hat La-
can dahin geführt, ein tiefgreifendes Ungleichgewicht des Begehrens
und seine zutiefst »nostalgische« Natur zu theoretisieren:
»Eine Nostalgie bindet das Subjekt an das verlorene Objekt, eine Nostalgie,
durch die sich die ganze Anstrengung der Suche zum Ausdruck bringt. Sie
charakterisiert das Wiederfinden des Zeichens einer unmöglichen Wiederho-
lung, weil es nämlich nicht dasselbe Objekt sein könnte.«52

Die Leere des Dinges* ist keine unaussprechbare Leere, sondern wird
zur Bedingung selbst der Konstitution des Triebkörpers. Die Leere
des Dinges* gibt dem Subjekt die Richtung vor und lenkt es, es ist
eine »verursachende Leere«, die das unbewusste Begehren als Drang
bestimmt, das verlorene und vom Signifikanten durchgestrichene Ge-
niessen wiederzufinden. Das Begehren erhält hier eine neue Artikula-
tion: es ist nicht mehr Begehren des Begehrens des Anderen und
ebensowenig Metonymie des Seinsverfehlens, sondern von einer
Leere verursachtes Begehren, d.h. verursacht von dem, was vom ver-
lorenen Objekt übrigbleibt. Dies ist in der Tat die letzte Version, die
Lacan vom Begehren gibt. Das Begehren hängt nicht vom Begehren
des Anderen ab, sondern von einem Objekt, das es verursacht. Die-
ses Objekt, die »Objekt-Ursache des Begehrens«, wird als Objekt (a)
definiert.
Welche Beziehung unterhält das Objekt (a) mit dem Ding? Das Ob-
jekt (a) ist ein Derivat des Dinges und darf deshalb nicht mit dem
Ding selbst, das ja vom Signifikanten durchgestrichen wurde, ver-
wechselt werden. Vielmehr ist das Objekt (a) präzise der Rest, der
nach der Auslöschung des Dinges, die der Andere produziert, übrig
bleibt. Insofern es ein reales Residuum der Signifikantisierung des
Geniessens darstellt, ist das Objekt (a) ein Produkt der Sprache, ob-
at
uria.
nfo@t in ein
wohl es genau das bezeichnet, was die Sprache nicht gänzlich
© i
36
Symbol aufzuheben vermag. Das Objekt (a) ist das Ergebnis der Ak-
tion der Sprache, die das Ding durchstreicht. Indem es sich gleichsam
hinter dem Rücken des Subjekts einschreibt, funktioniert das Objekt
(a) als das, was das menschliche Begehren verursacht. Eine materi-
elle Ursache, der sich der Vektor des Begehrens unterordnet, der des-
halb den (durch die Unmöglichkeit gezeichneten) Drang verspüren
wird, eine Spur des verlorenen Dinges wiederzufinden. In diesem
Sinne fällt das Objekt (a) nicht tout court mit dem Geniessen zusam-
men, sondern umschreibt vielmehr ein lokalisiertes, vom Signifikan-
ten gleichsam ausgeschnittenes Geniessen,53 das dem Subjekt die
phantasmatische Möglichkeit bietet, den Verlust des Geniessens zu
kompensieren, der von der Einwirkung des Signifikanten auf den
Körper des Subjekts produziert wurde. In der Tat gilt für Lacan: »der
Körper ist der Ort des Anderen«, und zwar in dem Sinne, dass der
Körper der Sprache den Körper des Subjekts bestimmt. Der Körper
des Subjekts (dessen Bild sich, wie wir gesehen haben, im Spiegelsta-
dium formt) ist das Ergebnis der Einwirkung des Signifikanten, ist ein
geschichtlich-symbolisches Produkt, ein Produkt der Kultur, um ei-
nen Ausdruck Freuds zu gebrauchen. Der tätowierte, bekleidete Kör-
per, getrennt von der Nabelschnur, entwöhnt, zur Reinheit erzogen
etc. ist ein Körper, der nicht so sehr vom Instinkt als vielmehr vom
Anderen bewohnt wird, der sich den Signifikanten gleichsam einver-
leibt hat und von ihm modelliert wurde.54 Diese Einverleibung des
Signifikanten hat eine Entleerung des Geniessens vom Körper, ein
Verlust, eine Beraubung des Geniessens zur Folge. Das Objekt (a)
steht präzise sowohl für das verlorene Objekt – das vom Signifikan-
ten durchgestrichene Objekt des Geniessens – als auch für das, was
von diesem Verlust übrigbleibt, d.h. das, was ihn enthält, was ihn
kompensiert, was dem Subjekt die Möglichkeit gibt, im Ausgang von
diesem Entzug des Geniessens ein Mehr-Geniessen zu realisieren.
Eine andere Definition des Objekt (a) bestimmt es in der Tat als
Mehr-Geniessen (plus-de-jouir*), was klar zum Ausdruck bringt, dass
das Objekt (a) hinsichtlich des Entzugs an Geniessen, den der Signifi-
kant dem Subjekt auferlegt, Supplementcharkter besitzt.
Im Seminar XVII wird Lacan explizit zeigen, wie sich das Objekt (a)
vom Marxschen Begriff des Mehrwertes* ableiten lässt. Wie also bildet
sich der Mehrwert in den Analysen, die Marx im Kapital entwickelt?
Präzise ausgehend von einem Entzug; die kapitalistische Herrschaft

37
beutet die Arbeitskraft des Arbeiters aus. Der Mehrwert produziert
sich auf jener Seite der Arbeit, die mit dem Lohn nicht abgegolten
wird. Nichtsdestoweniger beruht der eigene Profit des Kapitalisten
genau auf diesem Entzug. Der Marxsche Mehrwert spiegelt also den-
jenigen Mechansimus wider, den Lacan im Mehrgeniessen, im Objekt
(a) lokalisiert. In beiden Fällen besteht die Bedingung, die ihnen er-
möglicht, ein Mehr zu produzieren, in einer ursprünglichen Ausbeu-
tung/Beraubung, und zwar in dem Sinne, dass sich das »Mehr« nur
vor dem Hintergrund eines Verlustes, eines strukturellen »Weniger« zu
konstituieren vermag. Das Objekt bildet sich nur vermöge eines Ver-
lustes.55 Nach Lacan organisiert sich der Triebkörper in der Tat um
den Verlust des Objektes, wobei das Objekt (a) die Wirkung dieses
Verlustes ist (es ist das verlorene Objekt), zugleich aber auch das,
was ihn stopft, was ihn kompensiert.
Zuletzt kann das Ding insofern, als es immer schon verloren ist, nur
in »etwas anderem«, in autre chose* wiedergefunden werden. Darin
besteht die dritte Weise, in der Lacan die Realität des Dinges* be-
stimmt. Sie weist insbesondere auf die notwendig sublimatorische
Natur der menschlichen Befriedigung hin. Wenn nämlich das Ding
nur auf dem Umweg seines Aufschubs/seiner Verschiebung, in etwas
anderem, anderswo wiedergefunden werden kann, so macht das klar,
dass die Sublimation nicht ein Schicksal unter vielen ist, sondern
seine letztliche Struktur. Deshalb definiert Lacan die Sublimation als
»das Erheben des Objektes zur Würde des Dings«.56 Diese Formulie-
rung beinhaltet auch die nostalgische, »leidhafte«57 Natur des mensch-
lichen Begehrens, das als solches darauf abzielt, das zu wiederholen,
was durch das Gesetz der Struktur entzogen wurde und was deshalb
gar nie wiedergefunden werden kann. Die Metonymie des Begehrens
entdeckt also in der Wiederholung ihr tiefstes Gesetz.

6.
LACAN UND DAS JENSEITS DES LUSTPRINZIPS

Mit der Kehre des Seminar VII macht Lacan auch klar, wie gross die
Entfernung zwischen einer Ethik der Psychoanalyse und jeder mora-
lisch-werthaften Doktrin ist. Wo nämlich die traditionelle Moral die
Ethik stets an die Welt der ideellen Werte knüpfte, da bringt sie die t
ria.a
o@tuDiese
© inf
Psychoanalyse mit dem Register des Realen in Zusammenhang.
38
Wendung vom Idealen zum Realen wurde teils schon vom Utilitaris-
mus vorweggenommen. Der Utilitarismus von Bentham hat entschei-
dend dazu beigetragen, die Ethik von der Qual der Werte und von
den Schatten der Ideale zu befreien, indem er das Fundament dersel-
ben auf die Nützlichkeit, auf das Prinzip des subjektiven Wohlbefin-
dens zurückführte. Er ist jedoch da nicht auf der Höhe von Freuds
Lektionen, wo er nicht erkennt, dass das Geniessen keineswegs mit
dem Nützlichen und ebensowenig mit dem Wohlbefinden des Sub-
jekts zusammenfällt. Freuds Anstössigkeit liegt aus einem ethischen
Gesichtspunkt gerade darin, gezeigt zu haben, dass das Subjekt den
Hang besitzt, das eigene Leiden zu wollen. Das Leiden bildet für La-
can die Essenz des Geniessens. Es ist das, worauf Freud in Jenseits
des Lustprinzips im Gesetz des Wiederholungszwanges* gestossen ist:
das Subjekt transzendiert den Rahmen des Lustprinzips, sofern es
dazu neigt, Erfahrungen zu wiederholen, die es leiden machen.
Das Lustprinzip war für Freud das elementare Gesetz des psychi-
schen Apparates, wonach das Ziel des Subjekts darin besteht, die in-
nere Spannung möglichst gering zu halten. Nach dem Lustprinzip be-
ruhen die subjektiven Handlungen auf den Erwägungen einer natürli-
chen Vernunft, die Lacan als Aristotelisch definierte: die Unlust
vermeiden und Lust erstreben. Allein mit Jenseits des Lustprinzips ent-
zieht Freud diesem hedonistischen Prinzip der Ethik den Boden. Er
zeigt, dass der Mensch in beunruhigender Weise von einem un-natür-
lichen, exzessiven, heimtückischen und gleichsam strukturell maso-
chistischen58 Geniessen angezogen wird. Daher rührt die zentrale Be-
deutung, die der »späte« Freud dem Todestrieb zuschrieb als Prinzip,
das das Subjekt jenseits des Lustprinzips zur Wiederholung eines
heimtückischen, un-natürlichen, dem Gesetz der Homöostase wider-
sprechenden Geniessens drängt.
Lacan ändert im Verlaufe seiner Lehrtätigkeit die Art und Weise, den
Stein des Anstosses, welcher der Todestrieb ist, zu interpretieren. An-
fangs versucht er den Todestrieb ausgehend vom Spiegelstadium zu
konzipieren. Die Aggressivität des Ichs gegen den anderen offen-
barte, wie der suizidäre Charakter im Drang, den anderen zu zer-
stören, nichts anderes war als die unbewusste Manifestation des
Dranges, sich selbst zu zerstören.
In einer zweiten Phase während der Fünfzigerjahre ist er in seiner
Lektüre des Jenseits des Lustprinzips darum bemüht, die Freudsche

39
Dimension des Todestriebes in die Begriffe der Signifikantenlogik zu
übersetzen. Dies bedeutete im wesentlichen, den Automatismus der
Wiederholung nicht als Wirkung der (für Freud »dämonischen«) Kraft
des Triebes zu konzipieren, sondern vielmehr als Ergebnis der imma-
nenten Gesetze der Signifikantenkette. Die Wiederholung wird so al-
ler triebhaften Konnotationen entledigt. Lacan bringt in dieser Phase,
wie wir gesehen haben, das Bedürfnis zum Ausdruck, die Psychoana-
lyse von den Naturwissenschaften zu befreien. Die Freudsche Theo-
rie der Triebwiederholung (die in Wirklichkeit schon seit den Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie am Werke war, wenn man an die
zentrale Bedeutung des »Bedürfnisses nach Wiederholung« denkt, die
Freud dem Trieb beimass) leistete den mechanischen, biologisch-evo-
lutionär und »Stadien«-Lektüren der Psychoanalyse Vorschub. Lacan
war freilich bestrebt, die Psychoanalyse von instinkthaften und me-
chanischen Entstellungen zu bewahren, indem er die Freudsche Wie-
derholung auf das Register des Symbolischen zurückführte. Darin be-
steht, wie wir gesehen haben, der grosse Versuch von Funktion und
Feld: die Wiederholung ist eine Form der Historisierung des Subjekts.
In diesem Sinn gelangt Lacan dahin, die symbolische Ordnung als
solche mit dem Jenseits des Lustprinzips gleichzusetzen.
Die symbolische Ordnung siedelt sich aufgrund zweier wesentlicher
Gründe jenseits des Lustprinzips an. Erstens: Weil sie den Tod in den
Körper einführt, d.h. sie entkleidet ihn des Geniessens, sie mortifi-
ziert ihn, signifikantisiert ihn. Wenn der Körper der Ort des Anderen
ist, so deshalb, weil der Andere das Ding ersetzt, weil der Andere
den Körper negativiert, ihn aushöhlt und löchert, den Trieb in ihn
einführt. Der Effekt dieser Mortifizierung ist das gebarrte Subjekt: fi.
Zweitens: Die hedonistische Ordnung des Lustprinzips wird deshalb,
weil das Symbolische das ist, was die Realität strukturiert, und weil
diese Strukturierung sich an die Stelle der Naturordnung setzt, von ei-
ner anderen Ordnung überwunden, von einer symbolischen Ord-
nung, die sich jenseits des Lustprinzips ansiedelt, jenseits des biolo-
gisch-hedonistischen Prinzips der Nützlichkeit.
Gegenüber dieser Theorie, die den Wiederholungszwang mit der
symbolischen Ordnung gleichsetzt, führt das Seminar VII einen rich-
tiggehenden »epistemologischen Bruch« ein. Vor allem deshalb, weil
hier das Ding dem Anderen entgegengesetzt wird, und zwar in dem
.at
Sinne, dass das Jenseits des Lusprinzips und die symbolische turia
© info@ Ord-
40
nung nicht mehr miteinander identisch sind, sondern in einem
gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehen. Das Ding ist der sym-
bolischen Ordnung äusserlich. Es steht dafür, dass »nicht alles Signifi-
kant ist«. Das Ding manifestiert das Reale des Geniessens als das, was
sich mit utilitaristisch-hedonistischen Massstäben nicht mehr begrei-
fen lässt. Es besteht nicht die geringste Homologie zwischen dem
Jenseits des Lustprinzips und der signifikanten Ordnung. An ihre
Stelle ist vielmehr eine tiefgehende Kluft getreten. Es ist vielmehr
ebendieses Lustprinzip, das zuletzt mit der symbolischen Ordnung
zusammenfällt, und zwar in dem Sinne, dass die Lust ihre Mässigung
an jener Grenze findet, die durch das symbolische Gesetz bestimmt
wird, wohingegen das Geniessen sich durch die Überschreitung die-
ser Grenze, durch einen Verstoss, durch eine Störung des Lustprin-
zips definiert.
Das Lustprinzip (als Ausdruck der signifikanten Ordnung) bewahrt
das Subjekt vor der Begegnung mit dem Ding. Wo dieser symbolische
Damm seine Funktion als Barriere nicht erfüllt – wie im Falle der Psy-
chose –, dringt das Ding in das Subjekt ein und droht es zu verschlin-
gen. Es ist dieser Umstand, der Lacan dazu bewegt, die klinische Be-
hauptung aufzustellen, dass in der Schizophrenie das Geniessen den
Körper des Subjekts durchquert, weil er nicht genügend vom Signifi-
kanten ausgehöhlt und negativiert wurde. In diesem Sinne muss das
Ding vom Symbolischen stets »verhüllt« und auf Distanz gehalten wer-
den, weil es sonst das Subjekt zerstört.
Der Gegensatz zwischen der symbolischen Ordnung und dem Jen-
seits des Lustprinzips verdoppelt sich also in denjenigen zwischen
dem Unbewussten, das wie eine Sprache strukturiert ist, und der
Tätigkeit des Triebes. Um es anders auszudrücken: Wo das Unbewus-
ste vollkommen entzifferbar, der semantischen Interpretation zugäng-
lich und gemäss den Gesetzen der Sprache geordnet zu sein scheint,
da ist der Trieb vielmehr Ausdruck eines Drangs nach Geniessen, das
den Primat des Sagen-Wollens des Unbewussten aus dem Sattel wirft.
Der Trieb ist schweigsam und will nichts sagen. Er will einzig genies-
sen! Im Seminar VII wird der Trieb in der Tat als das definiert, was im
Hinblick auf das Unbewusste exzessiv ist. Dies bedeutet – wenn man
berücksichtigt, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist
–, dass sich der Trieb nicht mehr in signifikanten Begriffen konzipie-
ren lässt. Er lässt sich nicht mehr auf den Signifikanten des Anspru-

41
ches reduzieren. Er steht vielmehr für den Drang nach einer positiven
Befriedigung, die die Spaltung des Subjekts suspendiert. Er steht für
einen Drang – den Lacan im Seminar XI als »kopflos« definiert – nach
einem Geniessen, das sich nicht um den Anderen schert. Denn wo
das Begehren sich im Begehren des Anderen zu befriedigen vermag,
da findet der Trieb seine Befriedigung einzig im Objekt, im Genies-
sen des Objektes.

Das Rätsel des Masochismus und die


Grenzen der Hermeneutik

1.
EINE ANTINATURALISTISCHE LOGIK

Der Begriff des Masochismus findet im medizinischen Diskurs keinen


Platz. Die Logik, der die medizinische Klinik folgt, gründet sich näm-
lich auf ein einfaches Kausalitätsprinzip, das die Vorstellung einer
Fehlfunktion als Möglichkeit, ein paradoxes Geniessen zu verwirkli-
chen, ausschliesst. Sie droht aus dem Grundproblem der Psychoana-
lyse, dem Lustprinzip, eine Parodie zu machen, indem sie die Lust
zum alleinigen Prinzip erhebt. Die Annahme, dass der Körper ein Ge-
niessen in dem finden kann, was als Schmerz denunziert wird, wird
ausgeschlossen. Oder besser: Der Körper wird als eine funktionstüch-
tige Maschine konzipiert, die dazu da ist, Gutes zu produzieren. All
das, was sein positives Funktionieren beeinträchtigt, kann gemäss
dieser Perspektive unmöglich auf eine Logik zurückgeführt werden,
weil sich die einzige Logik der Maschine darin eschöpft, ihr Funktio-
nieren zu garantieren. Wie sollte es auch möglich sein, dass sich die
Maschine selbst sabotiert? Wie sollte es auch möglich sein, dass sie
ihre eigene Zerstörung programmiert? In diesem Sinne scheint die
medizinische Klinik in der Tat eine Behandlung zu sein, welche die
Lust als einziges Prinzip akzeptiert und die den Körper auf ein Objekt
reduziert, ihn zu einer Maschine macht, die wirksam zu funktionieren
hat.
Allein die psychoanalytische Logik erlaubt es, so etwas wie den Ma-
sochismus zu denken. Einzig sie macht es möglich, eine @ Logik a.at
turiim
o
© inf
42
Schmerz zu erkennen und eine Logik desselben zu entwickeln, die
ihn nicht auf eine bloss nebensächliche Störung des Mechanismus re-
duziert. D.h. in anderen Worten, dass sie die Bedingungen dafür
schafft, eine Logik des Schmerzes als Möglichkeit eines Lustprinzipes
zu begreifen. Während für die medizinische Semiotik so etwas wie
die Hingabe an den Schmerz absolut undenkbar ist, ruft Freud mit
dem psychoanalytischen Diskurs den Skandal eines Subjekts, das sich
gegen sich selbst wendet, auf den Plan. Wobei dieses »gegen« keine
zufällige (in dem Sinne, dass es auch nicht sein könnte), sondern
eine strukturell bedingte (in dem Sinne, dass es unmöglich nicht sein
könnte) Gegebenheit darstellt. Dass sich das Subjekt gegen sich
selbst richtet, ist also eine Tatsache, die den Status des Subjekts als ei-
nes geteilten und gespaltenen Subjekts in seinem ganzen Umfang be-
trifft. Dabei gilt es zu beachten, dass der Begriff des Subjekts, wie er
nicht nur vom medizinischen Diskurs, sondern ebenfalls von der
klassischen philosophischen Vernunft konzipiert wurde, buchstäblich
nicht mehr beisammen ist und auseinanderfällt. Das Subjekt scheint
nicht nur – als eine mannigfaltige Konstellation – in verschiedene In-
stanzen aufgeteilt, sondern wird auch zum Schauplatz eines Konflik-
tes, eines radikalen Zwiespaltes. Das Triebleben wird nun ungeachtet
der verschiedenen Schicksale, die es gemäss Freud ereilen können,
durch eine Ökonomie des Todes, durch einen Drang – durch den
Drang des Triebes – gezeichnet, der nicht vorwärts, sondern zurück-
drängt, und zwar gemäss einer negativen Vollendung, die Freud be-
kanntlich Todestrieb* tauft. Dies bedeutet wörtlich: Trieb-zum-Tode
(pulsione-di-morte). Und dennoch »geht das Leben weiter«, wie man
zu sagen pflegt. Das Leben ist Entwurf, Geschichte, Werden, vor-
wärtsschreitende Intentionalität. Man trifft hier auf eine tiefgehende
Zweideutigkeit in der Subjektposition als solcher, die Enzo Paci zu
Recht als »tragisch« kennzeichnete, weil sie dazu bestimmt ist, sich
nicht zu versöhnen.59 Das Subjekt wird gespalten, wobei diese Spal-
tung der Triebbewegung selbst inhärent ist (Lebenstrieb vs. To-
destrieb). Dennoch hört Freud nicht auf, dem Trieb eine prinzipiell
»konservative« Natur zuzusprechen.60 In diesem Sinn enthält der To-
destrieb* gewissermassen die Essenz des Triebes. Er ist eine Bewe-
gung, die zu einer endgültigen Versöhnung tendiert, zu einer Aufhe-
bung der Spannung, wobei er zugleich die logische Unmöglichkeit
impliziert, die Ek-sistenz des Subjekts auf Null zu reduzieren.

43
Es ist Eros, der, als Lebenstrieb die Unumkehrbarkeit des Lebens ver-
körpernd, im Freudschen Text die abstrakte Linearität der
Homöostase erschwert. Das bedeutet, dass es keine Spannungslosig-
keit oder Ruhe, sondern nur Ungleichgewicht und Veränderung –
Freud spricht von »Rhythmus« – innerhalb der Triebbewegung geben
kann. Der Masochsimus bezeichnet in diesem Zusamenhang die Tat-
sache, dass das Subjekt den Drang zu einem absoluten, als solchen
aber unmöglichen Nullzustand verspürt (wobei es nicht das Subjekt
selbst ist, das dahin drängt, sondern etwas im Subjekt), zur Reduktion
des Triebrhythmus auf die Ruhe der anorganischen Welt.
Wir legen hier besonderen Wert auf das »in« (nicht das Subjekt, son-
dern etwas im Subjekt), weil die Eigentümlichkeit des Masochismus
von Freud als Übung einer Schrift ohne Autor beschrieben wird. Als
eine Schrift, die in ihrer Materialität die metaphysische Vorstellung ei-
nes Autor-Subjekts, das sie produziert, unterläuft. Es ist nicht das Be-
wusstsein-Subjekt, das schreibt, sondern die Schrift, die aus dem Sub-
jekt »eine Schreibfläche« macht. In diesem Sinne erscheint der Maso-
chismus als die Hervorbringung der Schrift als solcher, die sich in den
Körper einritzt, einer Schrift ohne alle Absicht, die den Buchstaben
auf die Haut des Subjekts tätowiert.
Nicht zufällig sind Schrift/Niederschrift, Wiederholung und Erhaltung
die Leitmotive des Freudschen Denkens, das um die Struktur der
Ökonomie des »psychischen Apparates« kreist. Das »neurologische«
Schema vom Entwurf wie auch der Gebrauch der Metapher des
»Wunderblockes« – zwei entscheidende Passagen, um Freuds Artiku-
lation der Triebökonomie zu begreifen – betreffen in der Tat die Aus-
übung des Schreibens/der Schrift (scrittura), des Einschnittes, der
Einschreibung, wo sich das Subjekt, dem Protagonisten von Kafkas
Strafkolonie ähnlich, als Schreibfläche, die von der Schreibmaschine
gefurcht wird, zu erkennen gibt. Es handelt sich dabei um die ent-
fremdende Funktion des Signifikanten, der das Subjekt gemäss der
Lacanschen Logik teilt und es spaltet (fi), indem er es einer Ordnung
einschreibt – der Signifikantenkette –, die das Subjekt deshalb, weil
sie ihm vorhergeht, zugleich überragt.61 Wir haben es hier mit einer
Ökonomie der Schrift zu tun, die den Körper bearbeitet und ihn mar-
kiert. Dem trägt Freud durch die Rede vom »ökonomischen« Problem
des psychischen Apparates Rechnung.
.at
o@ turia
© inf
44
2.
EIN ÖKONOMISCHES RÄTSEL

So erscheint also der Masochismus Freud, der ihn aus der Perspektive
einer Triebökonomie betrachtet, in der Tat als ein wahrhaftes Rätsel.62
Es mag angebracht sein, an dieser Stelle eine kleine Bemerkung zum
Problem der Ökonomie einzufügen. Der ökonomische Gesichts-
punkt, der sich nach Freud mit dem topischen und dynamischen zum
Blick der Metapsychologie zusammensetzt, wurde im Verlaufe der
Geschichte der Psychoanalyse entweder übergangen oder auf eine
»biologische« Perspektive reduziert, eine Perspektive, die einmal mehr
versuchte, den Freudschen Diskurs den organisch-mechanischen Ka-
tegorien der positivistischen Kultur zu unterwerfen. Freud hingegen
erhebt im Ausgang vom Problem des Masochismus – d.h. ausgehend
von jener paradoxalen Ökonomie, die im »Schmerz« und der »Unlust«
ihr Triebziel findet – den ökonomischen Aspekt (dem er im Grunde
vom Entwurf bis zum Schluss treu bleibt) in den Rang eines wahrhaf-
ten »Rätsels«. In Die endliche und die unendliche Analyse bezieht er
sich auf eine ebenso »dunkle« wie »unwiderstehliche Macht des quan-
titativen Moments«.63 Der Versuch, dieses Rätsels Herr zu werden, be-
stimmt das ganze Freudsche Denken, das um den Todestrieb* kreist,
oder besser: das um etwas kreist, das eine Grenze des Symbolischen
markiert und eine Art hämorrhagischen Punkt bezeichnet, der eine
vollständige Überlagerung von Symbolischem und Realem unmöglich
macht und den Lacan als Objekt (a) zu fassen versuchte.
Der Masochismus ist deshalb ein ökonomisches Rätsel, weil er sich in
die Leerstellen der Freudschen Überlegungen zum Lustprinzip ein-
schleicht und so nicht nur einsichtig macht, wie der Trieb den
Schmerz in Lust verwandelt, sondern auch zeigt, dass der Trieb aus
nichts abgeleitet werden kann, dass er in der regressiven Bewegung
des Todestriebes* verwurzelt ist. Das wird ausgehend von der »Kehre«
der Zwanzigerjahre deutlich, wo Freud, seine frühere Perspektive
umkehrend, eine Ableitung des Sadismus aus dem Masochismus po-
stuliert und also letzterem einen »primären« Status zuerkennt64.
Welche Auswirkungen hat dieser Entwurf für die Klinik?
Sie betrifft v.a. die Struktur des Symptoms. Auf sie bezieht sich Freud
im Grunde, wo er in Das ökonomische Problem des Masochismus von
der fundamentalen »Erogenisierung des Masochismus« spricht.

45
Das Symptom ist einerseits gewiss eine Botschaft, ein Diskurs, eine
Metapher – Lacan würde sagen, »der Signifikant eines verdrängten
Signifikats«65–, aber auch der Ort eines Geniessens, wo sich Lust und
Leiden in jener zweideutigen Weise vermischen, die Freud seiner ei-
genen Definition des Symptoms gemäss als »Kompromissbildung« be-
greift. In diesem Begriff kommt gut zum Ausdruck, wie Lust und ihre
Untersagung unlösbar miteinander verflochten sind. Dies ist die öko-
nomische Seite des Symptoms. Im Mittelpunkt steht weniger die Ver-
drängung als Prozess der Metaphorisierung und der symbolischen
Substitution, sondern vielmehr das, was sich jeder Symbolisierung wi-
dersetzend dazu neigt, sich zu wiederholen und den eigenen Lustge-
winn zu reproduzieren. Es handelt sich um eine Verflechtung, um
eine »Vermischung« von Lust und Leid, die Lacan als Geniessen be-
schreibt. Mit diesem Begriff versucht Lacan die Struktur des Sym-
ptoms, wie sie von Freud konzipiert wurde, neu zu überdenken,
nämlich als eine »ökonomische« Struktur, die imstande ist, einen Lust-
gewinn abzuwerfen. Was also ist das Geniessen? Mit dem ihm eige-
nen aphoristischen Stil beschreibt er es als Ort des Nicht-Sinns, in
den sich die Wahrheit des Begehrens zurückzieht, um seine Einfü-
gung in die Signifikantenkette zu vermeiden. Der Ort des Nicht-Sinns
ist der Körper, der autark und autoerotisch zu geniessen beansprucht,
der Ausdruck eines Realen, das jeder Symbolisierung widersteht, et-
was also, das sich, wie Lacan schreibt, dem Wissen nicht einverleiben
lässt.66 In diesem Sinne ist der Masochismus der eigentlichste und
reinste Ausdruck des Geniessens. Die masochistische Ökonomie wird
durch die Vermischung von Lust und Schmerz aufrechterhalten. Dies-
seits der metaphorischen Funktion des Symptoms scheint sich
tatsächlich etwas gemäss einem Zwang, den Freud, wie gesehen, als
»unwiderstehlich« definiert, zu wiederholen. Darin besteht die Eroge-
nität des Symptoms, nicht dieses oder jenes Symptoms, sondern der
Struktur desselben. Die Erogenität im Sinne dessen, was in die Träg-
heit des Symptoms und in das entsprechende Leiden eine heimtücki-
sche Lust einschreibt.
Es ist also präzise die Psychoanalyse, die diese reale Organisation des
Symptoms zu denken gestattet. Sie erkennt im Symptom eine Ökono-
mie und folglich auch die Möglichkeit einer – wenn auch paradoxen
– Heilung (Freud spricht nicht zufällig von einem primären und ei-
a.at
nem sekundären Lustgewinn des Symptoms bzw. vonin der @turiin
fo»Flucht
©
46
die Krankheit«). Das Symptom repräsentiert eine Ordnung, ein Band,
das die Distribution von starken Interessen organisiert. Es handelt
sich nicht um eine blosse Fehlfunktion der Organismus-Maschine,
sondern um eine andere Organisation derselben. Die Erogenität des
Masochismus, wie sie von Freud konzipiert und von Lacan im Begriff
des Geniessens wieder aufgenommen wird, betrifft also genau das
Haften des Subjekts am Lustgewinn des Symptoms. Und genau im
Angesichte dieser Haftung stösst die Analyse auf etwas, was der Ord-
nung des Widerstandes angehört. Dadurch, dass es einen Lustgewinn
verursacht, garantiert nämlich das Symptom – darin liegt seine thera-
peutische Wirkung – eine gewisse Ordnung und Stabilität. Daher
rührt sein träges Wesen, das dazu drängt, sich zu wiederholen. Um es
anders auszudrücken: Das Geniessen ist an den Todestrieb gebun-
den. Es gibt einen Wiederholungszwang, einen Befehl, der, wie La-
can an der Funktion des Über-Ichs zeigt, das Geniessen befiehlt. Aus
dieser Perspektive siedelt sich der Masochsimus jenseits der perver-
sen Logik an und stellt sich schliesslich als das grundlegende Faktum
der psychoanalytischen Behandlung heraus. Freuds Hinweise auf das
»ursprüngliche Merkmal« des Masochismus sind in diesem Sinne zu
verstehen.67 Es ist dieses Merkmal, das es uns gestattet, den Masochis-
mus als eine Kategorie zu artikulieren, die durch die Klinik nicht ein-
geholt werden kann, d.h. als etwas, was das Wesen der Struktur des
Symptoms zum Ausdruck bringt.

3.
DIE GRENZEN EINER PSYCHOANALYTISCHEN
HERMENEUTIK

Das Problem des Masochismus hat auch Auswirkungen auf die Versu-
che, die Psychoanalyse auf eine Hermeneutik zu reduzieren. An ihm
nämlich scheitern alle Versuche, aus der Psychoanalyse eine herme-
neutische Disziplin zu machen.
Ökonomie, Wiederholung und Trägheit des Symptoms bezeichnen
im Freudschen Diskurs die materiellen Grenzen der Erfahrung, die
sich unmöglich auf das Symbolische einschränken lassen. »Ordnung
der Schrift« (so drückt sich Lacan hinsichtlich der psychosomatischen
Phänomene aus68), die sich dem Idealismus der Stimme und der
phoné widersetzt. Es war v.a. Derrida, der sich in dieser Richtung zu
47
schaffen machte, indem er zeigte, dass es etwas gibt, das sich dem lo-
gozentrischen Herrschaftsbereich der phoné nicht einverleiben lässt.
Phoné: die Stimme als das metaphysische Trugbild einer vollen Iden-
tität von Signifikat und Signifikant, als die Täuschung, dass der Sinn
gänzlich dem Akt des Sprechens immanent ist (Derrida spricht von
einer »absolut reinen Selbstaffektion«69). Wechselseitige Entsprechung
von phoné und logos: der Logozentrismus ist ein Phonozentrismus.
Diese Entsprechung ist die Charakteristik jener Metaphysik, die das
Andere und die Alterität der Schrift ausschliesst. Im Ausschluss der
Schrift besteht nach Derrida der phonozentrische Mythos, der die Ge-
schichte der abendländischen Vernunft prägt: das Signifikat geht
gänzlich in der uneingeschränkten Nähe der Stimme auf, die Äusser-
lichkeit wird in die Innerlichkeit aufgehoben, die Alterität des Kör-
pers bis hin zur Auflösung desselben in der Bewegung des logos vor-
angetrieben. Demgegenüber verfährt Derrida genau umgekehrt, in-
dem er aufzeigt, dass sich die Aktion der Schrift nicht auf den
Monozentrismus der Stimme reduzieren lässt. Freud und Lacan befin-
den sich in dieser Hinsicht auf derselben Seite wie Derrida. Sie sind
unterwegs zu einem Denken, das auf der Unmöglichkeit, die Alterität
auf den Sinn zu reduzieren, beharrt, zu dem also, was man eine ma-
terialistische Kritik der Hermeneutik nennen könnte.
Freud widmet dieser Grenze des Diskurses sein ganzes spätes Den-
ken. Der Begriff des Todestriebes* und der damit verbundene Begriff
des primären Masochismus bezwecken nichts anderes als die Kenn-
zeichnung der Distanz, welche die Psychoanalyse von jedem wie
auch immer gearteten hermeneutischen Idealismus trennt. Es gibt da
stets etwas, das sich dem Netz der Sprache entzieht und auf ein Jen-
seits derselben hinweist. Dieses Etwas lässt sich als etwas beschrei-
ben, das, bar aller Signifikation, die Arbeit der Analyse ins Stocken
bringt; es handelt sich um ein Etwas, das man daran erkennt, dass
sich die Analyse im Kreise dreht, und zwar deshalb, weil sich etwas,
was die Arbeit der Analyse nicht passiert hat, wiederholt. In diesem
Sinne kann der Masochismus nicht auf eine bloss semiotische, von
den Affekten verursachte Verwechslung von Lust und Leid, von Hass
und Liebe, von Freund und Feind zurückgeführt werden (“konfusive
Symbolisierung«), als rührte sie von einer verfehlten Anlage jenes »Be-
deutungstriebes« (pulsione a significare) her, aus dem das Unbewus-
turi a.at
ste besteht.70 Ebensowenig lässt er sich, so glaube ich,inf o@eine
auf Art
©
48
»Gegenarbeit« zurückführen, auf eine alternative Arbeit, welche die
unbewusste ergänzt und die, anstatt die normative Instanz des Unbe-
wussten zu festigen, deren Gültigkeit unterminiert.71 Diese beiden Po-
sitionen haben eine »Positivierung« des Todestriebes, eine spätere Se-
miotisierung (der Todestrieb wird zu einem »Repräsentationstrieb«)
oder aber seine verfehlte Auffassung als »Friedensstrieb« zur Folge
oder enden in einem »Versöhnungstrieb«.72 Was dabei verloren geht,
ist das irreduzible Wesensmerkmal des Masochismus, die untilgbare
und unmöglich zu beherrschende Negativität des Todestriebes*. Es ist
der Masochismus, der in Freuds Erfahrung den rätselhaften Kern des
Geniessens berührt. Er bezeichnet jenen Punkt, der die Ordnung der
Sexualität mit der Thematik des Todes verknüpft. Kurz und gut, es
besteht keine Möglichkeit, vom Masochismus zu »genesen«. So ver-
mag er gewiss auch eine Logik des Phantasmas/Phantasie sichtbar zu
machen – für den Freud von Ein Kind wird geschlagen bedeutet das
Schlagen nichts anderes als die Übersetzung der Liebe in ihre signifi-
kante Wirkungen –, ohne sich freilich auf diese Logik reduzieren zu
lassen.
Wenn man dem Freudschen Denken folgt, so stellt man fest, dass es
ihm ab einem gewissen Punkt nicht mehr gelingt, den Masochismus
zu repräsentieren. Der Masochsimus ist umgekehrt das, was die
Macht der Repräsentation aus den Angeln hebt. Dies ist die Bedeu-
tung der Schweigsamkeit, die Freud in Jenseits des Lustprinzips dem
Todestrieb* zuschreibt. Es handelt sich dabei offensichtlich um ein
Gleichnis, das die Differenz zwischen Symbolischem und Realem,
oder besser: das die Unmöglichkeit, das Reale in hermeneutischer
Absicht auf das Symbolische zu reduzieren, die Opazität des To-
destriebes in den Sinn zu übersetzen, zum Ausdruck zu bringen ver-
sucht.
Während sich das Reale für die Hermeneutik in den Sinn, in die Be-
wegung der Interpretation (hermeneutischer Idealismus) auflöst, exi-
stiert sowohl für Freud als auch für Lacan etwas, das sich dieser Re-
duktion widersetzt. Es handelt sich dabei um eine Art hämorrhagi-
schen Punkt, an dem stets etwas aus der Signifikantenkette
herausfällt, oder anders ausgedrückt: an dem sich etwas nicht in
diese Kette einfügt, weil es sich in ihr nicht mehr zu metaphorisieren
vermag73.

49
Wir treffen hier auf das, was Lacan mit dem Begriff des Realen zu fas-
sen versuchte, ein Punkt, an dem alle Ansprüche einer psychoanalyti-
schen Hermeneutik wie auch jedes Idealismus zunichte werden. Das
Symbolische ist nicht imstande, das Reale erschöpfend zu umfassen.
Oder anders ausgedrückt: Das Symbolische beinhaltet eine Grenze,
und an dieser Grenze macht sich das Reale als das »Unmögliche« be-
merkbar, das sowohl die Unmöglichkeit des Signifikanten, den Man-
gel zu signifizieren, als auch die Unmöglichkeit des Mangels, sich in
einen Signifikanten aufzulösen, bezeichnet.
Das bedeutet in anderen Worten, dass das Subjekt nicht allein von ei-
nem Lustprinzip als universaler und logisch-biologischer Norm, die
das Funktionieren einer namenlosen Maschine, eines anonymen Ap-
parates bestimmt, reguliert wird. Die menschliche Welt wird nicht
von der biologischen Rationalität regiert. Die Freudsche Triebtheorie
hat nichts mit einer naturalistisch-hedonistischen Theorie gemein.
Ganz im Gegenteil. Der Skandal, den Freud verursachte, liegt darin,
dass dem Trieb der Tod innewohnt, dass der Trieb wesenhaft To-
destrieb ist. »Wesenhaft«, das soll hier besagen: er ist in seinem We-
sen, in seiner Struktur Todestrieb.
An diesem Punkt greift Lacan ein. Er begreift den Todestrieb als in
der Signifikantenkette enthalten, deren logischer Mittelpunkt er zu
bilden scheint. In der Tat, die nicht-signifikante Bedingung für die
signifikante Artikulation ist ein fehlendes Element, das immer schon
verloren sein muss, damit die Kette funktionieren kann. Denn die Be-
dingung dafür, dass sich Signifikation produzieren kann, besteht
darin, dass der Ursprung verloren und vom Signifikanten durchgestri-
chen ist.
Dieser Umstand wirft Licht auf die rätselhafte und von Freud in Jen-
seits des Lustprinzips gemachte Aussage, wonach der Todestrieb
triebhafter ist als der Trieb selbst. 74 Was kann Freud damit meinen?
Worin besteht dieses »Mehr«, dieses »triebhafter«, das Freud dem To-
destrieb* zuschreibt?
Lacan nimmt hiervon Ausgang und versucht auf Freuds Frage zu ant-
worten: Der Todestrieb ist deshalb triebhafter als der Trieb, weil er
auf die Dimension des Verlustes und des Mangels, die dem Trieb ei-
gen ist, hinweist. Es ist dieser Umstand, der Lacan von einer »Affinität
jedes Triebes zum Bezirk des Todes«75 sprechen lässt.
.at
o@ turia
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50
Es ist niemand anders als der Signifikant, der jenes Loch in der Wirk-
lichkeit öffnet, das Lacan im Seminar VII mit dem Namen des Dinges*
versieht. Diese Leerstelle soll nun aber nicht einer Mystik Raum ge-
ben, sondern einer Triebtheorie. Der Trieb kreist um diese Leere, wie
Lacan im Seminar XI ausführt. Diese Leerstelle darf aber ebensowe-
nig als statische Leere begriffen werden. Vielmehr handelt es sich um
eine Leere, die zur Ursache wird (um eine verursachende Leere), in-
sofern sie, wie Lacan sagt, »der Suche [des Subjekts] ihr Ende, ihren
Zweck und ihre Absicht festlegt«.76
Das Ding repräsentiert einen schwindelerregenden Punkt, auf den
vor Lacan allein Spinoza gestossen ist, da wo er die ethische Abhän-
gigkeit des Subjekts von der Ordnung der Substanz theoretisiert, ei-
ner Ordnung, die, wie Althusser in einer Releküre dieser Passagen
klar herausstellt, die Vorstellung einer abwesenden Ursache als »un-
hörbarer und unlesbarer« Ort impliziert, der die Subjektposition her-
vorbringt77.
Es muss also eine Leerstelle, ein »Weniger« vorhanden sein, damit so
etwas wie ein Trieb agieren kann. Dies ist, wenn man so will, der Zu-
satz, den Lacan den vier Bestandteilen, in die Freud den Trieb zerlegt
(Quelle, Objekt, Drang, Ziel), hinzufügt. Es gibt ein fünftes Element,
das die Bedingung der anderen vier darstellt: das »Weniger«, den Ver-
lust, den Mangel, der als solcher die Trieborganisation ermöglicht
und der zugleich den notwendigen Einschluss des Triebes in das Feld
des Anderen remarkiert.
Die Ergebnisse dieser Wendung, die Lacan dem Todestrieb hinzufügt,
haben ihren Ursprung in der einzigartigen Art und Weise, in der La-
can Freud mit Marx kreuzt. Vor Freud war es nämlich Marx, der es
gestattete, eine Logik des Jenseits-des-Lustprinzips zu denken. Es war
niemand anders als Marx, der, wie Lacan betont, auf »höchst differen-
zierte« Weise die Struktur des Symptoms erkannte. Jenes Triebhafter-
als-der Trieb*, das Freud dem Todestrieb zuerkennt, wird so zu jener
logischen Voraussetzung, die Lacan, durch Marx vermittelt, dahin
führt, das Objekt als plus-de-jouir*, als Mehr-Geniessen, als positive
Kompensation der durch den Signifikanten eingeführten Negativie-
rung zu konzipieren.
Worin besteht der entscheidende Punkt, den Marx im Begriff des
Mehrwertes, auf den sich Lacan im Seminar XVII über die vier Dis-
kurse explizit beruft, entdeckte? Der entscheidende Punkt, den Marx

51
entdeckt, ist, dass die Ausbeutung, die Beraubung, der Verlust bzw.
der Entzug des Geniessens die Subjektposition innerhalb des Feldes
des Anderen als solche konstituieren. Die vergessene Herkunft des
Mehrwertes ist nichts anderes al das Reale der Mehrarbeit, das als sol-
ches zum Verlust bestimmt ist. Um es anders auszudrücken: Die Öko-
nomie des Geniessens impliziert strukturell bedingt eine Leerstelle,
ein »Weniger«, ein Jenseits-des-Lustprinzips, das die naturalistische
Täuschung, wonach die Lust mit dem biologischen Produkt der Ob-
jektfunktion identisch ist, aus den Angeln hebt.78 Nichtsdestoweniger
ist es genau dieser Leerstelle zu verdanken, dass das Subjekt Zugang
zu einem Mehr-Geniessen erhält.
Mit Lacans Rückkehr zu Freud verschiebt sich der Akzent der Fra-
gestellung. Das Problem besteht nicht mehr darin, ob ein allgemein-
gültiges Gesetz existiert, das den psychischen Apparat regelt. Viel-
mehr stellt sich nun die Frage nach einem besonderen Lustprinzip. So
lese ich die Frage nach der Subjektivierung des Todes, die Lacan ins
Zentrum seiner Arbeit in der Analyse rückt (wenn diesbezüglich La-
cans Freud-Lektüre durch Heidegger, und insbesondere durch Sein
und Zeit, vermittelt ist, so würde ich dennoch sagen, dass seine Lek-
türe allein vor dem Hintergrund der Marxschen Konzeption des
Mehrwertes verstanden werden kann). Darin besteht die ausserge-
wöhnliche Wendung, die Lacan der Ethik aufgibt: vom Idealen zum
Realen, von der Identifikation mit dem Ideal zu jenem Subjekt, das
die Unzerstörbarkeit des Begehrens annimmt.
Dies kommt dem Übergang von einer Logik der Energetik – die
Freudsche Logik des Lustprinzips* – zu einer Ethik oder, wenn man
will, zu einer Politik gleich. Wie man sieht, befinden wir uns im Her-
zen einer möglichen Definition der Politik der Psychoanalyse: es geht
darum, die Artikulation eines subjektiven Lustprinzipes in die Tat um-
zusetzen, darum also, einen Namen für die Singularität (die logische
Singularität) des Begehrens zu finden.
Die Aufgabe der Psychoanalyse besteht in der Tat darin, Subjektivität
da als ethische Kategorie einzuführen, wo ein Geniessen ohne Rück-
sicht auf Prinzipien zirkuliert, da also, wo sich, anders gesagt, das
Geniessen als Geniessen des Anderen, als ein Geniessen bar aller
Subjektivität Geltung verschafft.
Auf das Umschlagen eines subjektiven Lustprinzips in ein desubjekti-
t
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viertes trifft man z.B. in jener Logik, die nach Freud das
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insoziale
52
strukturiert. Was in der Masse das Band stiftet, ist nichts anderes als
die Identifikation mit dem Ideal, das sich im Führer objektiviert. Wir
haben es hier mit jenem Punkt zu tun, an dem das Ideal (I) mit der
Objekt-Ursache des Begehrens (a) verschmilzt, ein Punkt, den die
Analyse mit einem chirurgischen Eingriff wieder zu teilen versuchen
muss, mit einem Einschnitt, der die beiden Momente trennt. Das
Ideal von der Objekt-Ursache des Begehrens zu trennen, ist genau
das, was die Ethik der Psychoanalyse leitet: wie uns Lacan zu verste-
hen gibt, handelt es sich um eine umgekehrte Hypnose, die einen
Niedergang impliziert, und zwar den Niedergang des Anderen, der
selbst nicht vollständig, sondern durch einen Mangel gekennzeichnet
ist, was die Psychoanalyse dadurch kenntlich macht, dass sie ihn
durchstreicht, mit einer Barre versieht (¶). Die Durchstreichung des
Anderen ist die logische Bedingung dafür, dass sich Subjektivität pro-
duzieren kann, dass das Begehren vom Subjekt als singuläres Begeh-
ren angenommen werden kann. Die Analyse liesse sich gleichsam als
Übergang von der Logik der Masse (diejenige Logik, welche die Iden-
tifikation mit dem Anderen beziehungsweise mit dem Lustprinzip des
Anderen bestimmt, eines Anderen, der dadurch, dass das Subjekt sich
mit ihm identifiziert, dass es mit ihm Eins zu sein trachtet, seiner
Mangelhaftigkeit verlustig geht) zur Logik des Subjekts (die Logik der
Trennung vom Anderen beziehungsweise der Konstruktion eines sin-
gulären und subjektiven Lustprinzips) beschreiben. Die Psychoana-
lyse bewegt sich entlang dieses Überganges.

4.
EIN VERZICHT AUF DIE SUBJEKTIVITÄT

Freud unterscheidet in Das ökonomische Problem des Masochismus


drei Grundformen des Masochismus: erogener, weiblicher und mora-
lischer Masochsimus. Von der ersten Form, der Freud eine zentrale
Bedeutung beimisst, weil sie die anderen durchzieht und hilft, sie un-
ter ökonomischen Gesichtspunkten zu verstehen, haben wir schon
gesprochen. Der Übergang vom erogenen zum weiblichen und mora-
lischen Masochismus deckt sich mit dem Übergang von einer »inne-
ren« Trieborganisation zum Feld der Intersubjekivität. Weiblicher und
moralischer Masochismus sind nämlich Formen der Intersubjektivität.

53
In Das Sein und das Nichts beschreibt Sartre deren Struktur beispiel-
haft. Das Subjekt versucht sich dem eigenen manque d‘être*, dem ei-
genen Seinsmangel dadurch zu entziehen, dass es sich zum Objekt
für den Anderen macht (Lacan wird vom Subjekt als Instrument für
das Geniessen des Anderen sprechen). Es handelt sich dabei um eine
Dialektik, die auf der Oszillation zwischen Subjekt und Objekt, zwi-
schen Für-Sich und An-Sich gründet und die in ihrer konstitutiven
Ambivalenz die vollkommene Spiegebildlichkeit dieser Beziehung
zum Vorschein bringt. Die Anstrengungen, die der Masochist unter-
nimmt, um sich zu demütigen, sich zu einem Ding zu machen und in
absoluter Passivität zu verharren, sind nach Sartre nichts anderes als
Versuche, die Verantwortung für die eigene Freiheit dem Anderen
aufzubürden. Ich mache mich zum Objekt, um mich als Subjekt, d.h.
als geteiltes, gespaltenes Subjekt, als Seinsmangel zu verlieren. Wir
haben es hier also mit einer Vervollkommnung im Anderen zu tun. Es
ist die Subjektivität des Anderen, die mich dadurch, dass sie sich an
die Stelle meiner eigenen setzt, zu einem An-Sich macht, zu einem
Wesen, das den Grund seiner selbst in der absoluten Freiheit des An-
deren findet. Der Masochist entrinnt der eigenen Spaltung, der eige-
nen Mangelhaftigkeit, oder besser: versucht ihr zu entrinnen, indem
er sich der Freiheit des Anderen überantwortet. Dies ist insofern ein
paradoxes Projekt, als es sich vom eigenen Begehren im Namen des
Willens des Anderen loszusagen versucht, ohne sich der Tatsache be-
wusst zu sein, dass seine Absicht, sich dem Anderen hinzugeben, zu-
letzt immer noch auf einer »Wahl« beruht. Sartre betont in der Tat den
eigentümlichen Entwurfscharakter des Masochismus. Es handelt sich
um eine Subjektivität, die, wie sehr sie auch darauf abzielt, sich auf
das Objekt für ein Subjekt zu reduzieren, dennoch nicht aufhört, am
Spiel zu partizipieren. In diesem Sinne ist der Masochist unmöglich
imstande, sich von der eigenen Subjektivität zu trennen. Dies ist die
Aporie, an denen seine diversen Anstrengungen zerbrechen. »Vergeb-
lich rutscht der Masochist auf den Knien, zeigt sich in lächerlichen
Stellungen, lässt sich wie ein blosses lebloses Instrument benutzen,
für den anderen ist er obszön oder einfach passiv, für den anderen
erduldet er diese Stellungen; für sich ist er auf immer dazu verurteilt,
sie sich zu geben. In seiner Transzendenz und durch sie disponiert er
sich als ein zu tranzendierendes Sein; und je mehr er versucht, seine
.at
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54
Objektivität zu geniessen, um so mehr wird er durch das Bewusstsein
seiner Subjektivität überflutet, bis hin zur Angst«.79
Wie man sieht, besteht die impasse des Masochisten in der Unmög-
lichkeit, die Verantwortung für das eigene Begehren an den Anderen
zu delegieren. Oder um es anders zu sagen: Sie besteht in der Un-
möglichkeit, sich zum Objekt zu machen, ohne dass in diesem Pas-
siv-Machen seiner selbst eine Initiative von Seiten des Subjekts, wie
gering sie auch sein mag, zum Vorschein kommt. Wobei er genau auf
diese subjektive Dimension verzichten möchte. Dem entspricht in der
Freudschen Konzeption die Stellung des sogenannten weiblichen Ma-
sochismus. Freud beharrt wie Sartre auf dem Passiv-Machen als der
Eigentümlichkeit dieser Subjektposition: »Der Masochist [will] wie ein
kleines, hilfloses und abhängiges Kind behandelt werden«80. Eine
weibliche Position einzunehmen bedeutet, das Subjekt zum Objekt
zu machen, zu früheren infantilen Subjektpositionen zu regredieren,
dahin, wo das Subjekt dem Anderen auf Gedeih und Verderb ausge-
liefert war. Es ist Freud selbst, der das Infantile und das Weibliche
übereinander schichtet. Freud geht weiter als Sartre. Er erblickt jen-
seits dessen noch etwas anderes: das masochistische Ritual – »gekne-
belt, gebunden, in schmerzhafter Weise geschlagen, gepeitscht, ir-
gendwie misshandelt, zum unbedingten Gehorsam gezwungen, be-
schmutzt, erniedrigt zu werden«81 – ist in Wirklichkeit an ein Gesetz,
oder besser noch: an ein bestimmtes Verhältnis zum Gesetz gebun-
den. Im manifesten Inhalt der masochistischen Phantasien kommt et-
was zum Ausdruck, das mit der Schuld zusammenhängt, mit dem
»Schuldgefühl«, wie Freud sagt. Das Passiv-Machen seiner selbst wird
so zu einem Geniessen, das an die Vorstellung gebunden bleibt, der
Andere sei von der Kastration unversehrt. Die Bestrafung erscheint so
gleichsam als der durch die masochistische Farce verhüllte Signifi-
kant, der die Frage nach dem Verhältnis von Begehren und Gesetz
aufwirft. Der Masochist fleht nach einem rücksichtslosen und unein-
geschränkten Gesetz, um auszuschliessen, dass der Andere einen
Mangel besitzt. Dieses Verhältnis zeigt, dass es nicht so sehr darum
geht, den moralischen Masochismus zu begreifen, als vielmehr
darum, sich über die moralische Essenz des Masochismus Klarheit zu
verschaffen.

55
5.
EIN GESETZ OHNE BEGEHREN

Wir haben gesagt, dass das Rätsel des Masochismus als Rätsel eines
Schmerzes beschrieben werden kann, der Lust erzeugt. Im Hinblick
auf den »erogenen« Aspekt des Masochismus ist es der Schmerz, der
als solcher das »Ziel« des Triebes darstellt, wohingegen in demjenigen
Masochismus, den Freud als »moralischen« definierte, der Schmerz
zum »Mittel«, d.h. zum Signifikanten von etwas anderem wird. Freud
ist sehr präzis, was diesen Punkt angeht. Die masochistische Busse
befriedigt ein Bedürfnis nach Bestrafung. Darin besteht sein »morali-
scher« Charakter. Es gibt da etwas im Gehorsam gegenüber dem Ge-
setz, was das Geniessen betrifft. Freud bemerkt das schliesslich da,
wo er von einer »Sexualisierung« der Moral spricht 82. Was bedeutet es,
die Moral zu sexualisieren? Was genau hat dies mit dem Gesetz und
dem Begehren zu tun? Und inwiefern erfüllt sich im sogenannten mo-
ralischen Masochismus sowohl die ebengenannte Sexualisierung als
auch die Implikation von Gesetz und Begehren?
Freud scheint auf zwei verschiedene Mechanismen des Gesetzes hin-
zuweisen: auf der einen Seite die ödipale Normativität, die an die
Frage nach der Kastration geknüpft ist, und auf der anderen Seite der
Befehl des Über-Ichs, wobei der zweite Mechanismus weder chrono-
logisch noch logisch aus dem ersten abgeleitet werden kann. Um sie
voneinander zu unterscheiden, nennen wir den ersten ethisch und
den zweiten moralisch. Mit dieser Unterscheidung bringen wir eine
Differenz ins Spiel, und zwar die Differenz zwischen einem Diskurs,
der symbolisch ist und auf das Reale abzielt (die Ethik), und jenem
anderen Diskurs, der, wenigstens wenn man die Lektionen von Freud
und von Lacan in Betracht zieht, imaginär ist und dazu neigt, das
Reale zu vermeiden (die Moral). Während der erste Mechanismus be-
strebt ist, eine Dialektik zwischen dem Gesetz und dem Begehren zu
artikulieren, versumpft der zweite im »schlechten Unendlichen«, wie
Hegel sagen würde, eines Entweder-Oder, das keine Lösung kennt,
entweder Gesetz oder Begehren.
Freud scheint in der Tat dem Über-Ich die Reglementierung der mo-
ralischen Frage als eine imaginäre Reglementierung vorzubehalten.
Das Über-Ich erscheint buchstäblich als der Erbe des kategorischen
Imperatives von Kant, als der Ort eines Sein-Sollens. Im Bereich ia.at
turdes
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© inf
56
Über-Ichs erweist sich das Gesetz als Antagonist des Begehrens, »ein
Gesetz ohne Dialektik«,83 in dem Sinne, dass es sich mit dem Begeh-
ren nicht zu versöhnen vermag. Vielmehr ist es gegen das Gesetz. In
diesem Sinne kann man behaupten, dass das Über-Ich nichts anderes
als das melancholische Missverständnis des Gesetzes ist, insofern es
ein Gesetz ohne Begehren begründet. Wie Vereecken im Ausgang
von Lacan gezeigt hat, gründet sich die Melancholie darauf, dass sich
Gesetz und Begehren gegenseitig ausschliessen. Der einzige Zugang
zum Gesetz wird vom Über-Ich reguliert.84
Die gebieterische Moral des Über-Ichs reproduziert die Aporien der
Kritik der praktischen Vernunft. Gesetz und Begehren befinden sich
in einem gegensätzlichen Verhältnis. In diesem Sinne wird die Busse
zur Bedingung des Sein-Könnens: »ich büsse, also bin ich«.
Diesem Zwangs- und Repressionscharakter des Gesetzes des Über-
Ichs ist Freud in Totem und Tabu in seiner komplexen Genealogie
nachgegangen. Hier kommt ganz deutlich zum Vorschein, dass es
nicht die Moral in ihrem idealen Gehalt ist, welche die Triebverdrän-
gung verursacht, sondern gerade umgekehrt die Triebverdrängung,
welche die Konstitution der Moral erzeugt. Die Moral – und diesbe-
züglich gehen Freud und Nietzsche denselben Weg – entsteht auf-
grund einer rückläufigen Bewegung der Triebe, einer Bewegung der
»Verinnerlichung«, wie Nietzsche sagen würde.
In Totem und Tabu hängt die Genealogie der Moral mit dem Mythos
des Überganges von der Urhorde zur totemistischen Gesellschaft zu-
sammen. Der tödliche Hass der Brüder-Söhne wendet sich gegen das
unbarmherzige Gesetz des Vaters. Es handelt sich um einen Konflikt
mit tödlichem Ausgang, in dem der Vater getötet und verschlungen
wird. Und auf dem Grund dieses mythischen Todes scheint Freud die
Genese der Moral zu errichten, und zwar im Sinne einer Ordnung,
die sich auf das Tabu und das Verbot stützt, die wiederum auf dem
Schuldgefühl beruhen, das der Vatermord hervorrief. Das Ideal der
Vatergestalt verkörpert sich im Totem als »Vaterersatz«; das Totem re-
präsentiert den toten Vater. In dieser Genealogie jedoch gibt es zu-
gleich etwas, das sich nicht erfüllt: die Übereinstimmung von Begeh-
ren und Gesetz. Die Moral des Über-Ichs, die die Essenz dieses Pro-
zesses erbt, ist nämlich eine totemistische Moral. Der Schatten des
Vaters fällt auf das Subjekt und lässt es nicht mehr in Ruhe. Was an-
deres ist das Über-Ich als ein irrationales und wahnsinniges Gesetz?

57
Ein Gesetz, das sich auf dem Phantasma gründet, das sich immer wie-
der in einen Albtraum, in einen strengen Blick, in Angst und
Schrecken, in quälende Gedanken verwandelt, was ist das für ein Ge-
setz? Melanie Klein hat also Recht, wo sie die »mütterliche« Genese
dieses Gesetzes herausstreicht. Das Über-Ich scheint sich als ein Ab-
kömmling der infantilen Aggressivität zu erweisen, das gemäss dem
brutalen Gesetz der Wiedervergeltung wiederkehrt und sich in den
unglaublichsten und grauenvollsten Verfolgungsszenarien gegen den
wendet, der es hervorbrachte. Es fehlt hier jedweder Bezug auf das
Symbolische. Wir haben es mit einem sprichwörtlich kapriziösen Ge-
setz zu tun, das nicht entziffert werden kann, weil es bar aller Ver-
nunft ist.
In der Freudschen Genealogie lebt das Über-Ich im Innern des Sub-
jekts als ursprüngliche Schuld weiter. Als Schuld dafür, den Vater
getötet zu haben. In diesem Sinne verlangt es als Bedingung der Wie-
dergutmachung nach einer Moral der Aufopferung und der bedin-
gungslosen Verleugnung. Ein Gesetz ganz ohne Begehren. Dies ist
die masochistische Essenz jener Moral, die Nietzsche in der Genealo-
gie der Moral so schön beschrieben hat. Aber in Freuds genealogi-
scher Abhandlung Totem und Tabu wird in der Geburt der Moral dar-
über hinausgehend das Problem der Sexualisierung des Geniessens
aufgeworfen. Der moralische Masochismus ist zwar eine Moral der
Aufopferung. Dies aber freilich nur in dem Masse, wie er im Sein-Sol-
len – im Ideal – auf einen im Grunde unmöglichen Ort, d.h. auf den
Ort einer unmöglichen Befriedigung trifft (wie ihn schon Kant ent-
deckt hatte), wobei es ihm im besten Fall gelingt, aus dieser Unmög-
lichkeit eine gewisse Überlegenheit zu machen. Insofern sie imaginär
ist, baut die Moral auf dem Ideal, oder besser: auf dem Ich als Ideal
auf. Das Sein-Sollen, verstanden als Trieb, der auf eine Identität
dringt, die sich nie realisiert, ist nichts anderes als der formale Aus-
druck der Entfremdung des Subjekts. Deshalb führt Lacan den »mora-
lischen« Begriff des Willens auf jene »ungestüme Leidenschaft, die
den Menschen auszeichnet, das eigene Bild der Realität aufzu-
drücken«85, zurück. Es handelt sich um eine prometheische Leiden-
schaft, die Freud in Zur Gewinnung des Feuers ironisiert, die Lacan
aber freilich zur Grundlage des moralischen Masochismus und des
entsprechenden Todestriebes erklärt.86
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58
In welchem Sinne also ist es zu verstehen, wenn Freud im Hinblick
auf das Problem der moralischen Essenz des Masochismus auf eine
Sexualisierung der Moral hinweist?
Die Sexualisierung der Moral kann nur dann begriffen werden, wenn
man das zu fassen kriegt, was die Moral als imaginären Diskurs kon-
stituiert. Auch was diesen Punkt betrifft, ist Freud sehr deutlich.
Während sich die Ethik ausgehend vom Untergang des Ödipus und
von der Anerkennung des Vaters als symbolischer Repräsentant eines
menschlichen Gesetzes – der Vaters ist nicht das Gesetz, ebensowe-
nig wie er der Phallus ist – bildet, lässt sich beim moralischen Maso-
chismus eine Regression der Moral zurück zum Ödipuskomplex be-
obachten.
Während Freud aus der Kastration und dem Ödipus auf der einen
Seite eine ethisch-symbolische Ordnung hervorgehen sieht, erfüllt
sich im moralischen Masochismus gewissermassen eine vor-ethische
Bedingung des Begehrens. Das Gesetz erhebt sich hier gegen das Be-
gehren. So verkörpert der Gehorsam bzw. die Unterwerfung unter
das Gesetz in Wirklichkeit den Signifikanten des Begehrens, dasselbe
zu übertreten (in Ein Kind wird geschlagen betont Freud in der Tat,
dass der Signifikant »schlagen« den Signifikanten »lieben« ersetzt). Das
Gesetz wird desto unmenschlicher, je mehr es sich vom Begehren
entfernt und sich als Unterdrückung von oben zu erkennen gibt. Die
Moral zu sexualisieren, bedeutet also, die Beziehung zum Gesetz in
ein phallisch-imaginäres Geniessen zu verwandeln. Die Identifikation
mit dem Gesetz beschränkt nicht etwa den zerstörerischen Charakter
des Geniessens, sondern verhilft ihm nur zu umso grösserer Kraft, bis
zu dem Punkt, an dem das Subjekt das eigene Geniessen masochi-
stisch erfüllt. Wobei es sein Geniessen präzise durch einen Triebver-
zicht erfüllt, der zum Ort einer (überichhaften) Befriedigung wird.
Die Verabsolutierung des Gesetzes ist in der Tat der Weg, auf dem
das moralische Subjekt den Triebverzicht in eine Sexualisierung des
Verzichtes umzuwandeln scheint. Die Unterwerfung unter das Gesetz
impliziert nämlich eine imaginäre Phallisierung desselben. Es ist nie-
mand anders als das Über-Ich, das diesen Prozess leitet. Die Identifi-
kation mit dem Gesetz, die vom Über-Ich gestützt wird, stellt sich als
der vergebliche Versuch heraus, das Subjekt vor der Anerkennung
seines Kastriertseins und vor der Feststellung, dass es, wie Lacan sagt,
keinen Anderen des Anderen gibt, dass also auch der Andere gebarrt

59
ist, zu bewahren. Die imaginäre Tragweite dieses Gesetzes streicht
Freud da heraus, wo er sich auf die Genese des Über-Ichs als Effekt
einer Identifikation nicht etwa mit den wirklichen Eltern, sondern
vielmehr mit deren Über-Ich bezieht.
Das Über-Ich repräsentiert als gebieterische Herrschaft ein jüdisches
Bild des Gesetzes in dem Sinne, in dem Hegel das »Kantische« Juden-
tum als Bruch und Trennung von Begehren und Gesetz deutet. In
diesem Sinne haben wir es im Über-Ich entweder mit einem Gesetz
ohne Begehren (Du sollst!) oder mit einem Begehren ohne Gesetz
(Geniesse!) zu tun. Mit einem Gesetz also, dass sich auf jeden Fall als
sadistisch bewahrheitet. »Über-Ich« ist der Name, den Freud dem Sa-
dismus eines Gesetzes gibt, das bar jeden Begehrens ist. Es ist das,
was das Subjekt zu einem Monument erstarren lässt. Wenn nämlich
das Gesetz absolut ist und wenn ich (moi*) des weiteren dieses Ge-
setz bin, so bin ich, narzisstisch betrachtet, das Absolute, d.h. es fehlt
mir – ebensowenig wie dem Anderen – an nichts. Wir treffen hier auf
eine Phallisierung des Gesetzes, die ihre Kraft darauf verwendet, die
Tatsache der symbolischen Kastration zu umgehen. Die Identifikation
des Subjekts mit dem Gesetz führt deshalb zu einem Erlöschen des
Begehrens und befördert die substanzialistische Täuschung eines
vollständigen Subjekts, dem es an nichts mangelt.
Für Freud ebenso wie für Nietzsche ist der moralische Diskurs der
Diskurs des Masochismus, weil in ihm in derselben Weise wie in der
Kritik der praktischen Vernunft die imaginäre Passion für ein Gesetz
auf dem Spiel steht, das unmöglich aufrechterhalten werden kann
(die asketische Haltung, die Nietzsche mit dem Seziermesser analy-
siert, ist ein beispielhafter Ausdruck dieser Passion). Wie schon Spi-
noza in seiner Ethik herausgestellt hat, ist der moralische Diskurs
auch ein anthropozentrischer Diskurs über die imaginären Werte, die
sich auf den Begriff eines leeren, abstrakten und von der Realität des
Begehrens losgelösten Gesetzes stützt. Dieses Gesetz und das Ideal,
das es stützt – Freud nennt es »Idealich« –, ist eine formale Norm, ein
reines Sein-Sollen. Das Subjekt befindet sich ihm gegenüber in einer
sklavischen Position. Es ist nichts anderes als der Hegelsche Knecht,
dem der Zugang zur symbolischen Dimension der Arbeit* verwehrt
ist und der auf diese Weise das Gesetz des Herren erleidet.
Allein das Begehren schleicht sich genau in diese imaginäre Phallisie-
t
rung des Gesetzes, wo es zu überleben vermag. So weist @tu ria.a
© infodie maso-

60
chistische Wiederholung – die Freud in Jenseits des Lustprinzips als
»unerwünschte Treue« definiert – in Wirklichkeit auf eine Treue zum
Ideal. Treue zu jener Verirrung des Gesetzes, die der Imperativ des
Über-Ichs ist. In Hegelschen Begriffen liesse sich diese Tatsache als
Recht ohne Moral beziehungsweise als Moral ohne Recht beschrei-
ben. Darin besteht auch die grosse Aporie der Kritik der praktischen
Vernunft. Das Gesetz des Rechts erweist sich als blosse Äusserlich-
keit, als unvermittelte Abstraktion, wohingegen das moralische Ge-
setz eine Innerlichkeit bezeichnet, die da zur impasse bestimmt ist,
wo ihre Verwirklichung notwendig scheitert und nur als Sein-Sollen,
als purer Formalismus eines »Sollens um des Sollens Willen« überlebt.
In diesem Sinne nehmen die Grundlinien der Philosophie des Rechts
von Hegel gewissermassen das Freudsche Unterfangen vorweg, auch
wenn in der Freudschen Ethik keine Spuren von »Monumentalität« zu
finden sind. Der Status des Freudschen Subjekts besitzt nämlich den
Status einer Subjektivität, die vom Mangel gekennzeichnet ist, und
nicht etwa denjenigen einer geschichtlichen Versöhnung mit dem Ab-
soluten.
Dennoch ist der Hegelsche Versuch, Moralität und Recht – Begehren
und Gesetz – in ihrem wechselseitigen Verflochtensein und in ihrer
Zu-gehörigkeit zu begreifen, zutiefst Freudianisch. Es geht nicht mehr
darum, das Begehren dem Gesetz oder das Gesetz dem Begehren
entgegenzustellen, sondern vielmehr darum, sie in ihrem wechselsei-
tigen Aufeinanderangewiesensein zu denken.
In der ödipalen Freudschen Dialektik, so wie sie von Lacan in grund-
legender Weise geklärt wurde, gibt es die Möglichkeit, das Begehren
in das Gesetz zu integrieren. Lacan tauft diese Integration in der
Nachfolge Freuds auf Kastration.87 Gewiss nicht im psychopathologi-
schen Sinne eines »Komplexes von...«, sondern im normativen Sinn
einer »Übereinstimmung mit...« und eines symbolischen Gesetzes, das
eine Annahme des eigenen Begehrens von Seiten des Subjekts mög-
lich macht. Die Kastration ist die Bedingung für die Möglichkeit des
Begehrens und repräsentiert das Gesetz des Begehrens.
Bei der Kastration steht in der Tat nicht die blosse Verhängung eines
Verbots in Frage: der kastrierende Vater, der die Absichten des Sub-
jekts dadurch vereitelt, dass er den Inzest untersagt und ihm das
Ding*, die Objekt-Ursache des Begehrens entzieht. Vielmehr ermög-
licht sie in ihrer normativen Funktion die Symbolisierung des Kom-

61
promisses von Narzissmus und Einhaltung des Gesetzes – ein wirk-
lich einmaliger Kompromiss, für dessen Zustandekommen nach
Freud das Ichideal verantwortlich ist und dem Lacan zu Recht eine
»befriedende Funktion«88 zuschreibt.
Während sich in den ersten beiden Stadien des Ödipuskomplexes
(das Stadium der imaginären Identifikation mit dem Objekt des müt-
terlichen Begehrens als Begehren, der Phallus zu sein; das Stadium
der Untersagung, in dem sich sowohl das Begehren der Mutter als
auch dasjenige des Kindes im Ausgang von einer doppelten Untersa-
gung neu ordnen: »An die Adresse des Kindes: Du sollst/wirst nicht
mit Deiner Mutter schlafen. Und an die Adresse der Mutter: Du
sollst/wirst Dein Produkt nicht wieder in dich hineinnehmen.« 89) alles
zwischen dem Versuch abspielt, im Ausgang von einer imaginären
Identifikation mit dem Phallus der konstitutiven Spaltung des Sub-
jekts zu entrinnen, und der Begegnung mit einem Gesetz, welches
dem Subjekt das Objekt seines Begehrens durch ein Verbot entzieht,
hat der Vater im dritten Stadium zugleich die Funktion einer Norm
und einer Gabe. Er beschränkt sich nicht darauf, zu verbieten und zu
unterdrücken, sondern wird zugleich zu einem Objekt der Liebe, zu
einem idealen Objekt, dessen Introjektion von subjektiver Seite die
Errichtung eines Ichideals als neue Repräsentation des Gesetzes mög-
lich macht, was dem Subjekt den Ausgang aus dem Ödipuskomplex
gestattet. Darin besteht die zentrale Bedeutung der väterlichen Funk-
tion, die einzig dazu imstande ist, »eine Begierde mit dem Gesetz in
Einklang zu bringen (und nicht entgegenzusetzen)«.90
Lacan beschreibt diese komplexe Bewegung auch als Substitution
des imaginären Phallus durch den symbolischen, als Übergang vom
Sein zum Haben. So funktioniert die väterliche Metapher genau des-
halb, weil sie, obwohl sie dem Subjekt das Ding* entzieht, dennoch
seine Metaphorisierung entlang der Signifikantenkette erlaubt. Vom
Ding zum Namen, vom Sein zum Haben, beide Male handelt es sich
um denselben Übergang. Das Gesetz – angenommen durch die Ka-
stration, die einen tragischen Moment darstellt – befindet sich hier
nicht mehr einfach im Gegensatz zum Begehren, sondern wird aus-
gehend von der Konfrontation des Subjekts mit dem eigenen man-
que-à-etre zur Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sich das Begeh-
ren artikulieren lässt.
.at
o@ turia
© inf
62
Die väterliche Metapher schafft die Voraussetzung dafür, dass das
Subjekt dem einen Namen zu geben vermag, was sonst unnennbar
bliebe: das eigene Begehren. Das Ichideal kann uns helfen, die Wir-
kung zu bestimmen, welche die väterliche Funktion auf das Subjekt
ausübt, indem es das Gesetz als Hindernis und Verbot in das Gesetz-
des-Begehrens verwandelt.
Das Ichideal lässt sich also nicht einfach in das spiegelbildlich-narzis-
stische Register des Imaginären einschreiben. Es ist nicht Ausdruck
jener blinden Passion – die Passion, durch die eigene Hand zu ster-
ben –, die das Subjekt in eine verhängnisvolle und narzisstische Ver-
führung des Ichs verstrickt, das von seinem idealen Spiegelbild ge-
fangen ist. Das Ichideal ist vielmehr – wie schon der frühe Lacan
wusste – »ein Führer jenseits des Imaginären«.91 Kurz und gut, wir ha-
ben es hier mit etwas zu tun, dessen heteronome Genealogie einen
Bezug zum Symbolischen impliziert. Während das Idealich sich im
Ausgang vom Bild des Ich, das es von sich selber hat, gleichsam
selbstständig hervorbringt, beruht das Ichideal als Abkömmling des
Ödipus-Komplexes auf jener väterlichen Funktion, die imstande ist,
das Gesetz in eine dialektische Bewegung zu versetzen, um es so
dem Manichäismus des Über-Ichs zu entziehen.
An gewissen Stellen unterscheidet Freud zwischen dem imaginären
Idealich und dem symbolischen Ichideal (symbolisch insofern, als es
an den Namen-des-Vaters gebunden ist), an anderen hingegen ver-
mischt er die beiden Begriffe. So scheint er in Massenpsychologie und
Ich-Analyse aus dem Ichideal das bloss narzisstische Trugbild des
Eins-Seins, des Eins-Machens der Masse zu machen, einer Masse, die
das eigene Ichideal im Staat, in der Kirche oder in der charismati-
schen Gestalt des Führers erblickt. Darin kommt die ganze Dramatik
einer überichhaften Verkennung des Gesetzes zum Ausdruck. Freud
entdeckt diese Seite des Gesetzes bei Dostojewski.92 Das Subjekt ist
gefangen in der Oszillation zwischen der offenen Übertretung und
der demütigen Untwerfung unter das Gesetz; es ist überdies unfähig,
in der Schuld, die sich ausgehend von dieser Oszillation immer wie-
der von neuem einstellt, einen Hinweis darauf zu erkennen, dass die
Beziehung zum Gesetz vom Hass gegen den Vater geprägt ist. Hier
vermochte das Gesetz die Erbschaft des Begehrens nicht zu überneh-
men; Gesetz und Begehren stehen sich in tödlicher Bedrohung ge-
genüber. Niemand anders als die Gewissenlosigkeit des Über-Ichs93

63
verkörpert hier das Gesetz, wie Lacan sagt. In genau derselben Posi-
tion befindet sich die Masse gegenüber dem Führer, der als »ge-
fürchteter Urvater«, als père terrible* erlebt und nachempfunden wird,
als ein Vater, vor dem man nicht umhin kann, den Wunsch zu
äußern, »unbeschränkte Gewalt zu erleiden«.94
Im Angesicht des strengen Blickes dieses archaischen Vaters büsst
das Subjekt die eigene Singularität ein und verliert sich in einer rei-
nen Entfremdung. Freud betont hier die hypnotische Wirkung dieses
Blickes, der im Führer-Hypnotiseur wieder auflebt und das Subjekt
zur vollständigen Unterwerfung zwingt. Der Vater funktioniert in die-
sem Fall nicht als Metapher, sondern stellt sich als Eins-mit-dem-Ge-
setz dar; er repräsentiert das Gesetz nicht, sondern ist buchstäblich
das Gesetz. Er ist das Gesetz, so wie er auch der Phallus ist. Auf diese
Weise wird die Metaphorisierung ebenso unmöglich wie jene »befrie-
dende« Identifikation mit dem Namen-des-Vaters, die das Überleben
des Begehrens nach dem Untergang des Ödipus ermöglicht.
Es scheint mir sinnvoll, Vereeckens Untersuchungen zur Klinik der
Melancholie gleichsam als Beweis dieser These von der »befrieden-
den« Funktion des Ichideals in Erinnerung zu rufen, insofern sie ex
negativo zeigen, wie die Melancholie auf einem Fehlen derselben be-
ruht95. Die melancholische Position – als Deklination der masochisti-
schen Position – weist gerade in ihrem Scheitern darauf hin, dass
dem Ichideal hinsichtlich der Begründung des Gesetzes eine lebens-
wichtige Bedeutung zukommt, insofern es Gesetz und Begehren mit-
einander versöhnt.
Was veranlasst das Subjekt, sich mit dem verlorenen Objekt zu identi-
fizieren? Was bringt es dazu, sich gleichsam im Verlust des Objektes
selbst zu verlieren, was so weit gehen kann, dass, wie Freud in
Trauer und Melancholie ausführt, der Schatten desselben auf das Ich
fällt?
Wir treffen hier auf das Unvermögen, Trauerarbeit zu leisten und eine
symbolische Ordnung zu rekonstruieren. Das Subjekt ist deshalb
nicht dazu in der Lage, weil sich ihm der Verlust als etwas Reales dar-
stellt, das sich nicht symbolisieren lässt. Es gibt etwas im Symboli-
schen, das sich dem Ziel, den Verlust zu symbolisieren, widersetzt.
Die Trauerarbeit kommt deshalb zu keinem Abschluss, sondern ist
gezwungen, sich zu wiederholen und im selben Rhythmus immer
a.at
von neuem wiederzukehren. Deshalb definiert Lacan indie @turi
foTrauerar-
©
64
beit, sofern sie zu einem »positiven« Ergebnis führt, als die Umkeh-
rung der Verwerfung*, der forclusion96, wie Lacan den Freudschen
Ausdruck übersetzt. Wo das Subjekt in der Psychose keinen Zugang
zum Symbolischen hat, weil es genau jenen Signifikanten – den Na-
men-des-Vaters – verworfen hat, der diesen Zugang gewährleistet, da
ist es in der Trauerarbeit genau die symbolische Ordnung, die es ge-
stattet, den Verlust zu symbolisieren, indem sie das Subjekt in die
Lage versetzt, den durch den Verlust des geliebten Objektes verur-
sachten Riss symbolisch wieder zu kitten. Das Loch befindet sich hier
anders als bei den Psychosen nicht im Symbolischen, sondern im
Realen. Das melancholische Subjekt bleibt aufgrund dieses Verlustes
im Realen gefangen. Seine symbolischen Möglichkeiten sind nicht
weit genug entwickelt, um einen Verlust zu symbolisieren. Daher
rührt sein Rückzug aus der Welt und die Neigung, sich in strenger
und erbittlicher Selbsterniedrigung auf sich selbst zurückzuziehen.
Wir stossen hier auf etwas, was mit einem Defekt der Ausbildung des
Gesetzes zusammenhängt. Je mehr nämlich im melancholischen Uni-
versum – einem lastenden und strengen Universum – die »befrie-
dende« Funktion des Ichideals abhanden kommt, desto mehr gerät
das Gesetz in die Hände des Über-Ichs. Es wird zu einem sadisti-
schen und »gewissenlosen« Gesetz. Daher rührt auch die masochisti-
sche Selbstquälung in der Schuld, weil man vor dem Über-Ich immer
schuldig ist. Das Gesetz spricht von oben herab als totemistisches
und unerbittliches Gesetz und erweist sich als Verkehrung der Ethik
in ein unmenschliches Sein-Sollen.
Gegenüber dieser melancholischen Seite des Gesetzes – einer Seite,
auf der moralischen Essenz des Masochismus beruht – bringt der psy-
choanalytische Diskurs eine andere Seite des Gesetzes und der
Schuld ins Spiel. Das so verstandene Gesetz ist die Frucht einer be-
sonderen Arbeit, einer Aufgabe, die jedem einzelnen in bezug auf
sein eigenes Begehren aufgegeben ist. Einer Aufgabe, vor der man
nicht zurückweichen kann (Lacan spricht von céder), oder besser: der
man sich nur um den Preis entziehen kann, zuletzt wirklich der
Schuld anheimzufallen. Und zwar der aus psychoanalytischer Sicht
einzig möglichen Schuld: nämlich vom eigenen Begehren abgelassen
zu haben97.
Eine Ethik des Begehrens

1.
VOM IDEALEN ZUM REALEN

In den einleitenden Seiten des Seminar VII, das der Ethik der Psycho-
analyse gewidmet ist, verdichtet Lacan in einem Satz den Wechsel,
den Freud in die abendländische Ethik eingeführt hat: Während diese
die Ethik mit dem Idealen verband, verpflichtet sie die Psychoanalyse
aufs Reale.98
Die Wendung, die sich vollzieht, führt also vom Idealen zum Realen.
Worin besteht ihre Bedeutung?
Die beiden Modelle, die die Strategie der metaphyisch-humanisti-
schen Moral verkörpern, sind für Lacan Aristoteles und Kant (wobei
Lacan sich schon im Seminar VII, aber auch später in Kant mit Sade
bemühen wird, die paradoxale und unfreiwillige Konvergenz von
Kantischem und Sadeschem Modell aufzuzeigen). Das Aristotelische
Modell bildet eine Ethik des Gutes, des Gutes als »Objekt«, die auf ei-
nem Lustprinzip ohne Schwierigkeiten und Hemmnissen beruht; eine
harmonische, zur Bescheidenheit neigende Ethik, die zur Tugend
und Glückseligkeit führt und die das Wertproblem durch ein naturali-
stisches Verständnis zu lösen vermag; eine Ethik zudem, welche die
Konfliktualität und Zerrissenheit der platonischen Ethik (zwischen
Seele und Leib, zwischen Geist und Körper etc.) geschichtlich zu ver-
söhnen versteht. Es handelt sich also um eine Ethik, die weniger von
einem Gespaltensein des Subjekts als von der Erreichbarkeit der Lust
ausgeht, von einer Lust als »Objekt«, die gemäss rationalen Gesetzen
geregelt wird. In diesem Glauben besteht mitunter das ethische Fun-
dament des Mythos der griechischen Polis, die Mikro- und Makrokos-
mos, Einzelnes und Allgemeines, Individualität und Kollektivität ver- t
ria.a
söhnen können soll – der Mythos einer vollkommenenin
© fo@tu
Entsprechung

66
von Ethik und Politik im Zeichen einer wechselseitigen Begrün-
dung.99 Das Kantische Modell bricht mit der naturalistischen Harmo-
nie des ersten, indem es, wie Lacan betont, den Schmerz zu seinem
Prinzip erhebt.100 Gemäss der transzendentalen Begründung der Mo-
ral, wie sie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft leistet, wird
jede Möglichkeit einer Übereinstimmung zwischen Tugend und
Glückseligkeit, zwischen Willen und Gesetz, zwischen Einzelheit und
Allgemeinheit ausgeschlossen.
Die Kantische Ethik ist die Ethik eines Zwiespaltes, geprägt von ei-
nem unversöhnbaren Gegensatz, eine Art negativer Theologie, die
sich in einem imaginären Horizont artikuliert, wo sich das Subjekt
unendlich nach einer Vervollkommnung seiner selbst sehnt, die es
unmöglich erreichen kann. Das Sein-Sollen ist ihr Motor, indem es
notwendig – insofern das Sein-Sollen dem Sein entgegengesetzt ist –
eine Logik der Aufopferung und des Verzichtes in Gang setzt, die
durch den Antagonismus von Gesetz und Begehren (ein Gesetz
gegen bzw. ohne Begehren) bestimmt wird. Dies ist die Interpreta-
tion, die Adorno und Horkheimer dem Kantischen Moralismus in der
Dialektik der Aufklärung angedeihen lassen. Diese Moral gleicht ei-
ner ironischen Version des Freudschen Lustprinzips*. Für Freud näm-
lich ist es die Moral selbst, die die Lust prinzipiell aus sich verbannt,
insofern die Rationalität der Pflicht und des Sollens von Anfang an je-
den Bezug auf einen möglichen Lustgewinn ausschliesst. Der katego-
rische Imperativ bringt so einen unversöhnbaren Zwiespalt zwischen
Sein und Sein-Sollen, zwischen Begehren und Gesetz zum Ausdruck,
was im Grunde die Hegelsche Interpretation der Kantischen Ethik als
einer strukturell »jüdischen« Ethik durchaus rechtfertigt, »jüdisch« auch
deshalb, weil sie sich auf einen Abstand zur Identität und zur Syn-
these und auf die schlechte Unendlichkeit eines subjektiven Willens
gründet, der dazu verurteilt ist, in der Sehnsucht nach einer Einheit
zu verharren, die ihm stets entgeht.
Wo Aristoteles das Wertprinzip im Objekt erkannte (die Aristotelische
Ethik ist, insofern naturalistisch, eine Ethik der Güter), da setzt ihn
Kant in das Subjekt, das er zum transzendentalen Fundament der Mo-
ral als solcher erhebt. Dies ist der Punkt, an dem sich der kategori-
sche Imperativ Kants und der Sadesche Imperativ zum Geniessen
kreuzen. Beide nämlich machen das Subjekt zum Urheber des Geset-
zes, auf eine solche Weise freilich, dass das Subjekt das Gesetz be-

67
gründet und ihm zugleich unterworfen ist. Man darf hier in der Tat
nicht Freuds Urteil über den kategorischen Imperativ Kants verges-
sen, wonach er im Über-Ich den Erben ebendieses Imperativs er-
kannte.101 Der von Lacan darüber hinausweisende Schritt besteht
darin zu zeigen, wie die Wahrheit der Kritik der praktischen Vernunft
von der Philosophie im Boudoir von Sade geliefert wird. Um es an-
ders zu sagen: Lacan zeigt, wie sowohl bei Kant (reines Gesetz bar al-
len Begehrens) als auch bei Sade (reines Geniessen bar jeden Geset-
zes) das Subjekt dem Willen des Anderen ausgeliefert ist, sei dies nun
in Form einer Pflicht um der Pflicht Willen (Du sollst!) oder in Form
eines Geniessens ohne Subjektivierung (Geniesse!).
Weder bei Aristoteles noch bei Kant (in seiner paradoxalen Verbun-
denheit mit Sade) wird deutlich, dass die Ethik wesentlich mit dem
Verhältnis des Subjekts zum Realen zusammenhängt. Sowohl Aristo-
teles als auch Kant – d.h. die beiden Autoren, welche nach Lacan die
strategisch entschiedenden Bezugspunkte für die Entwicklung der
abendländischen Moral bilden – tilgen in der Tat die Verflechtung der
Ethik mit dem Realen. Aristoteles, indem er, wenn ich so sagen kann,
das Reale im Symbolischen absorbiert; Kant, indem er es im Ima-
ginären auflöst. So ist die Ethik für Aristoteles eine hedonistische Po-
litik, die im Hinblick auf die Universalität des Gesetzes der Polis auf
das Erlangen einer möglichen Lust abzielt. Bei Kant hingegen ist die
Ethik asketisch, weil sie auf der Pflicht gründet, auf dem Streben
nach dem Gesetz, auf dem Verzicht, auf der imaginären Kategorisie-
rung des Imperativs, der das Subjekt als immer aufgeschobener
Drang nach Selbstidentität bestimmt.
Sich von beiden abgrenzend, gelangt Lacan dahin, eine nicht-trans-
zendentale Begründung der Ethik zu artikulieren, indem er die bei-
den metaphysischen Voraussetzungen der abendländischen Moral –
die Ansetzung eines Objektes (Aristoteles) und die Ansetzung eines
Subjekts als Sein-Sollen (Kant) – zunichte macht. Daraus lassen sich
die beiden Verneinungen ableiten, die für die Ethik der Psychoana-
lyse massgebend sind und die gleichsam den Boden für eine allge-
meine Neuorientierung der Ethik bereiten. Die erste Verneinung: Die
Ethik hat kein Objekt (»es gibt kein Höchstes Gut«102); und die zweite
Verneinung: Die Ethik bezieht sich auf kein Sein-Sollen (die Ethik ist
an kein »Gefühl der Verpflichtung gebunden«103), das dem Subjekt ei-
.at
nen imaginären Befehl von oben auferlegt104. turia
© info@
68
Die Ethik, die Lacan ausgehend von dieser doppelten Verneinung
konzipiert, lässt sich am ehesten als das Umkreisen einer Leere be-
schreiben. Sie steht in einem Verhältnis zur Unmöglichkeit des Rea-
len, zu seinem »Gewicht«; sie ist das, was das »Gewicht des Realen
vergegenwärtigt«105.
Was bedeutet das? Welche Folgen hat die Neuorientierung der Ethik
im Ausgang von der »Kategorie« des Realen? Und was ist denn mit
dem Lacanschen »Realen« überhaupt gemeint?106
Nach Lacan ist das Reale das, was sich weder auf das Feld der Bilder
(d.h. der Identifikationen) noch auf dasjenige der Sprache (d.h. der
Signifikantenkette) reduzieren lässt. Im Seminar VII gibt er ihm den
Namen des Dinges*. Das Ding nun ist das, was sich – insofern es so-
wohl das Imaginäre als auch das Symbolische überragt – an Realem
im Subjekt einschreibt. Es verweist auf den »absoluten Anderen«, auf
das, was sich ausserhalb des Signifikanten ansiedelt, auf eine Art
»stummer Realität«, die sich jeder möglichen Symbolisierung wider-
setzt. Das Ding ist aber auch die Leere (»das Objekt, das als solches
verloren ist«), das sich ausserhalb jeder Repräsentation ansiedelt und
um das alle Vorstellungen* kreisen.107 Diese Leere, dieser Verlust hin-
terlässt im Subjekt in der Tat eine Spur, die das Gewebe der Vorstel-
lungen organisiert, ohne sich selbst je vorstellen zu lassen. Zu diesem
Resultat gelangt Lacan in seiner Herausarbeitung von Freuds »Ding«.
Das Ding* nun ist ein Begriff, den Freud im Entwurf einer Psycholo-
gie verwendet. Lacan entnimmt ihn diesem Text. Der Beginn seiner
Ethik der Psychoanalyse ist nichts anderes als eine »Relektüre« – nach
einer ersten Lektüre, wie er sie im Seminar II praktizierte – von
Freuds Entwurf. Eine Relektüre, die in ihrer Wiederaufnahme des
von Freud analysierten Zusammenhanges zwischen Ding* und Befrie-
digungserlebnis* die Absicht verfolgt, die Inkonsistenz einer (Aristote-
lischen) Ethik des Gutes aufzuzeigen. Freud begreift das Objekt der
Psychoanalyse in der Tat als verlorenes Objekt, das unmöglich wie-
dergefunden werden kann. Das Ding* als Ort eines mythischen, voll-
kommenen, erfüllten Geniessens, als Quelle des ursprünglichen Be-
friedigungserlebnisses*, das als solches immer schon verloren, da
nicht wiederholbar ist, entzieht sich nämlich jeder objektiven Ver-
gegenwärtigung. Es gibt sich allein als das, was vom Objekt verschie-
den ist, als das Andere des Objekts, weil es in Wirklichkeit dessen
Matrize darstellt, die vom Signifikanten durchgestrichen wurde.

69
2.
DAS DING IST DIE URSACHE

Auf der Suche nach diesem verlorenen Objekt gleitet das Begehren
metonymisch der Signifikantenkette entlang. Aber genau das, wo-
nach gesucht wird, gibt sich in Wirklichkeit niemals in der Kette. Das
Ding* ist etwas Reales, das keinen Zugang zur Signifikantenkette hat,
sondern gleichsam diesseits von ihr verbleibt, indem es den Punkt ih-
res Ursprungs konstituiert108.
Wir stossen hier auf einen entscheidenden Punkt des Lacanschen
Realen. Dem Realen mangelt es selbst an nichts, es hat keine Risse,
enthält keine Leerstellen, die Differentialität des Symbolischen ist ihm
unbekannt. Zugleich aber lässt es sich nur ausgehend von einer
Überschneidung mit dem Signifikanten denken. So kann man also sa-
gen, dass das Ding genau insofern das Feld der signifikanten Diffe-
renz (der Signifikant ist als solcher nie eine Identität, sondern ver-
weist stets auf einen anderen Signifikanten, der sich von ihm unter-
scheidet) betritt, als es sich verliert, ohne Aussicht, wiedergefunden
zu werden.109 Das bedeutet nichts anderes als dass sich der Ursprung
genau da verliert, wo er sich einschreibt und wo er Platz lässt für et-
was, was ihn unvermeidlich für immer und ewig auslöscht. So kann
man schließlich sagen, dass es nicht so sehr der Ursprung als solcher
ist, der dem Verlust anheimfällt, als vielmehr der Verlust, der sich als
ursprünglich setzt.
Es ist das Funktionieren des Signifikanten als solches, das ein Loch
im Realen öffnet110. Oder anders gesagt: Es ist der Signifikant, der ge-
nau dadurch, dass er das Reale des Dinges* auslöscht, gleichsam den
Boden dafür bereitet, dass das Ding das Subjekt zu verursachen ver-
mag. Vor diesem Hintergrund, so glaube ich, muss die berühmte De-
finition des Dinges als das, »was vom ursprünglichen Realen am Sig-
nifikanten leidet«111, verstanden werden. In diesem Sinn ist das Ding*
zwar die Matrize des Begehrens; aber nur als leere Matrize (»als Kluft
der Ursache«, wie Lacan im Seminar XI sagen wird), als eine Leere,
die sich zur Ursache des Subjekts macht, dessen Bewegung und Rich-
tung es bestimmt.
Es handelt sich in gewisser Hinsicht um jene Leere, mit der sich Hei-
degger in einem Aufsatz mit dem Titel Das Ding112 befasst, den Lacan
im Seminar VII nicht zufällig auf den Plan ruft. .at
o@ turia
© inf
70
Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass dieses Loch für Lacan im
Gegensatz zu Heidegger – für den der Ort der Leere der Ort der on-
tologischen Differenz, d.h. der Unmöglichkeit darstellt, das Sein auf
das Seiende zu reduzieren – keine »ontologische« Leere ist, keine
Leere also, die einer Mystik oder Kosmologie zugänglich ist, sondern
vielmehr eine solche, die das Begehren anzieht, es auf sich zieht, es
verursacht. Eine verursachende Leere also, die in ihrer ganzen Macht,
die Position des Subjekts materialistisch zu determinieren – insofern
sie »als Ursache der menschlichen Leidenschaft«113 agiert –, begriffen
werden muss.
Die Leere in Heideggers Text ist das, was den Krug zusammenhält
und ihn sein lässt. Heidegger also sagt uns, dass das, was das Seiende
ermöglicht, nicht von der Art des Seienden ist, dass also, anders ge-
sagt, das Seiende nur in und dank seiner ontologischen Differenz
zum Sein erscheinen kann. Das Nichts, die Leere ist hinsichtlich des
Seienden in der Tat das radikal Andere, und dennoch konstituiert
sich der Krug als etwas, was enthalten und schenken kann, was also
ein Seiendes unter anderen Seienden auf der Erde sein kann, allein
dank dem Nichts und der Leere.
In diesem Sinne kann Lacan behaupten – der sich genau in dieser
Hinsicht auf den Text von Heidegger beruft –, dass das Ding* als
»Leere im Zentrum des Realen« sei. Und dennoch ist es angebracht,
das Ding (Cosa) mit einer Barre zu versehen (so wie der »späte« Hei-
degger das Sein (l’essere) nur so schreibt, dass er es zugleich durch-
streicht; an diesem Punkt sind sich Lacan und Heidegger sehr nahe),
weil es kein Sein ist bzw. nicht die Eigenschaften der Präsenz besitzt,
sondern nichts ist.114 Das Begehren umkreist es, ohne es anders errei-
chen zu können als illusorisch auf dem Sadeschen Weg des Befehles
zu geniessen, einem Weg, der eine Ethik der Gewalt und der Be-
gierde verkörpert. Eine Ethik des Willens zum Geniessen, der darauf
abzielt, jedwede Distanz zum Ding aufzuheben. Der Inzest ist im
Grunde das Sinnbild dieser Täuschung. Er steht für die Möglichkeit,
das verlorene Objekt – den mythischen Körper der Mutter – durch
eine imaginäre Bemächtigung wiederzufinden, die versucht, die irre-
duzible Differenz des Dinges wieder zu vergegenwärtigen. Die Di-
stanz aber betrifft die Struktur des Dinges*. Das Ding, behauptet La-
can, ist immer autre chose*, ist immer anderswo. Es ist ein Unding.
Wenn es also wahr ist, dass es sich im Triebobjekt vergegenwärtigt,

71
so ist ebenso wahr, dass es sich in dieser Vergegenwärtigung niemals
erschöpft (genau das wird uns Lacan im Seminar XI sagen, wo er sich
implizit auf die Leere des Dinges* beruft, und zwar da, wo er näher
ausführt, dass das Objekt nicht der Punkt ist, an dem »der Trieb seine
Kreisbahn schliesst«, sondern eher die Leere, die es »umkreist«115).
Lacan hat bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt, dass die
Ethik der Psychoanalyse – die, wie wir gesehen haben, weder mit ei-
ner Ethik der Lust (Aristoteles) noch mit einer Ethik der Pflicht (Kant)
und ebensowenig mit einer Ethik des Geniessens (Sade) verwechselt
werden darf – eine Ethik des Begehrens ist, die auf dem Gesetz des
Begehrens gründet. Wir haben es hier mit einem Paradox zu tun: Was
bedeutet es genau, eine Ethik des Begehrens zu postulieren, wenn
die Objekt-Ursache des Begehrens ein verlorenes Objekt ist?
Um darauf antworten zu können, müssen wir zu bestimmen suchen,
was es für Lacan bedeutet, die eigene Begründung der Ethik der Psy-
choanalyse unter das Zeichen Freuds zu stellen. Die Unmöglichkeit,
das Ding* wiederzufinden, impliziert nämlich ganz im Sinne Freuds
eine Konfrontation mit dem Gesetz der Kastration. Lacan schreibt die
Kastration – die Wirkung der väterlichen Metapher, die die Vorausset-
zung dafür schafft, dass der Herrensignifikant wirksam werden kann
– als Mathem: S(¶), wobei die Barre, die den Anderen durchstreicht,
darauf verweist, dass es einen Mangel, eine Leere im Anderen gibt.
Die Annahme dieses Mangels bezeichnet jenen entscheidenden
Punkt, den das Gesetz der Kastration in die Ökonomie des Begeh-
rens einführt. Die Barre über dem Anderen deutet darauf hin, dass
das Begehren dazu verurteilt ist, anstelle des Objektes, das es verur-
sacht, nur täuschende Erscheinungen (sembianti) desselben zu fin-
den, oder genauer noch: dass der Phallus als »Signifikant der Signifi-
kanten« mangelt und durch eine Negation gekennzeichnet ist (– j).
Dieses Fehlen des Signifikanten des Phallus nun entspricht dem Man-
gel des Subjekts, so dass sich die Unmöglichkeit des Subjekts, sich
einheitlich in einem Signifikanten zu repräsentieren, gleichsam ver-
doppelt. Der Signifikant ist in der Tat etwas – gemäss Lacans Defini-
tion, wonach der Signfikant das Subjekt für einen anderen Signifikan-
ten repräsentiert –, was das Subjekt der Differenz überantwortet, der
Unmöglichkeit, sich in einem einzigen Signifikanten wie eine Sub-
stanz wiederzufinden (die Signifikantenkette ist der Ort der Differenz,
.at
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72
weil der Signifikant S1 genau in dem Moment unwiederbringlich ver-
loren ist, wo er sich in einem S2 repräsentiert).
Die Unmöglichkeit, mit der sich die Ethik auflädt, bedeutet auch dies:
die Unmöglichkeit, zurückzukehren und S1 wiederzufinden, das Sub-
jekt als eine »starke« Identität zu denken, die von der Identifikation
mit einem Herrensignifikanten, eben dem S1, aufrechterhalten wird;
die Unmöglichkeit, das Ding* anders als in seinen metaphorischen
Gestalten wiederzufinden, in denen es sich unter der Wirkung des
Gesetzes der Kastration aufschiebt.
Ein Begehren, das sich nicht im Horizont des Gesetzes der Kastration
artikuliert, wird der spiegelbildlichen Illusion der Identität mit sich
selbst auf ewig ausgeliefert sein. Die Sadesche Ethik des Geniessens
verkörpert eine in vielerlei Hinsicht exemplarische Art und Weise,
den Abstand zum Ding (differenza della Cosa) zu verleugnen. Der
Mangel wird nicht angenommen, sondern im Namen eines Willens
zum Geniessen, der seine tödliche Natur offenbart, zurückgewiesen.
Im Gegensatz dazu ist die Lacansche Ethik eine Ethik des Abschieds
und der Distanznahme gegenüber dem narzisstischen Geniessen des
Dinges. Auf diese Weise, d.h. durch die Annahme des Kastrations-
prinzips als Grundlage des Begehrens, wird die Sadesche Aggressi-
vität vermieden. Die psychoanalytische Ethik erweist sich auf der
Höhe dessen, wovon der von Sade geprägte Befehl zum Geniessen
indessen nichts wissen will: vom realen Gewicht der Unmöglichkeit,
das verlorene Objekt jemals finden zu können, vom realen Gewicht
seiner Abwesenheit.
Zu begehren bedeutet also, den eigenen Mangel nicht als eine kon-
tingente, sondern als eine strukturelle Mangelhaftigkeit anzunehmen,
als ein Verfehlen des eigenen Seins, als ein Mangel an Sein, als ein
Seinsmangel.
Die Ethik der Psychoanalyse zielt darauf ab, dem eigenen Begehren,
das an den Mangel und die Unmöglichkeit einer definitiven Vervoll-
kommnung gebunden ist, einen Namen zu geben. Nicht etwa des-
halb, wie es bei Kant geschieht, weil das Sein-Sollen das Sein des
Subjekts vermöge der Strenge eines reinen moralischen Gesetzes
nicht gänzlich zu absorbieren vermag, sondern weil diese Unmög-
lichkeit das Wesen des Begehrens selbst betrifft, eines Begehrens, das
in einer Mangelhaftigkeit begründet liegt. Diese Mangelhaftigkeit nun
gehört immer auch dem Anderen an, weil dem Gesetz des Begehrens

73
zu folgen bedeutet, anzuerkennen, dass vom Anderen niemals eine
Rechtfertigung, ein Sinn hinsichtlich unserer eigenen Entscheidung,
was wir als eigenes Begehren annehmen, zu uns gelangen wird.

3.
VON DER IDENTITÄT ZUR EXTIMITÄT

Als subjektive Destitution beschreibt Lacan die Torsionswirkungen,


die die Analyse am Subjekt da zu vollbringen vermag, wo sie jene
Differenz hervorbringt, die es von der imaginären Funktion des Ichs
trennt, mit der das Subjekt sich in einem Traum von täuschender
Herrschaft identifizierte. In diesem Traum verbirgt sich die Matrize
des humanistisch-metaphysischen Mythos des Sein-Sollens bzw. des
»Willens zum Willen«, wie Heidegger sagen würde, des Mythos der
Freiheit als ontologischer Auszeichnung eines mächtigen Subjekts, je-
ner »tobenden Leidenschaft«, wie Lacan sich ausdrückt, die bestrebt
ist, den Stempel und das Siegel des eigenen Bildes dem Anderen auf-
zudrücken.116
Die Ethik der Psychoanalyse ist eine Ethik des Verlustes und nicht des
Gewinnes. Weil sich etwas (das Geniessen, das sich im Phantasma
verdichtet) abtrennt, abfällt, verlorengeht, findet das Subjekt ein an-
deres »Prinzip« für das eigene »psychische Geschehen«, um es mit
Freud zu sagen. In diesem Sinne, aufgrund der besonderen Bedeu-
tung, die sie dem Rückzug, dem Entzug und dem Verlust beimisst,
wird das Subjekt als Nicht-Identität, als Extimität, als innere Differenz
oder als strukturelle Spaltung erkennbar.
Die subjektive Destitution impliziert freilich, dass die Spaltung des
Subjekts, die von der Ethik der Psychoanalyse aufrechterhalten wird,
nicht moralisch ist und sich also nicht innerhalb des Gegensatzes von
Tugend und Lust ansiedelt (seit dem Christentum und bis hin zu Kant
entsprach diese Teilung der Ratio, die die abendländische Kultur
prägte), sondern sich auf die Struktur bezieht. Sie betrifft also keines-
wegs die Ebene der Werte (schon bei Freud fällt das moralische Urteil
aus dem Rahmen der Psychoanalyse), sondern die Struktur. Und es
ist nach Lacan genau das Gesetz der Struktur, das durch eine Leere,
durch einen Mangel gekennzeichnet ist: die Struktur ist nichts ande-
res als das Gesetz der Wiederholung, der Wiederholung eines Verlu- a.at
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74
stes, wobei es das Ding ist, das verloren wurde. Die Ethik hat so letzt-
lich mit dem Nicht-Sinn dieser Leere und dieses Mangels zu tun.
Deshalb formuliert Lacan den ethischen »Imperativ« der Psychoana-
lyse folgendermassen: Avez-vous agi conformément au désir qui vous
habite?* »Habt Ihr konform mit Eurem Begehren gehandelt, das Euch
innewohnt?«117
In diesem Imperativ treffen wir auf etwas Entscheidendes, das wir
herausheben wollen. In der Tradition der humanistisch-metaphysi-
schen Moral, die in Kants Kritik der praktischen Vernunft kulminiert,
fungiert der Imperativ als ein Befehl, der sich dem Begehren ent-
gegensetzt. Bei Lacan hingegen ist das Gesetz nicht gegen das Be-
gehren gerichtet, sondern mit ihm identisch, ist das Gesetz des Begeh-
rens. Das Begehren funktioniert als Gesetz. Dies hat zur Folge, dass
das Subjekt nicht mehr als Haupturheber seiner Handlung, nicht
mehr als »Eigentümer« seiner Freiheit begriffen werden kann, dass
also das Fundament der Ethik nicht mehr in der subjektiv-werthaften
Intentionalität, die das Subjekt als Urheber oder Täter konzipiert, ge-
sucht werden muss. Lacan hingegen sagt uns, dass es das Begehren
ist, das uns innewohnt (sein Vorgänger ist hier allenfalls Spinoza, da
wo er eine Äquivalenz zwischen dem Wesen des Menschen und dem
Begehren ansetzt) und dass die Ethik der Konformität des Menschen
mit diesem ihm innewohnenden Überschuss entspringt.
Für Lacan ist entscheidend, dass nicht die Freiheit »konstituierend« für
die Subjektivität als solche ist (dies ist das philosophische Postulat,
das die humanistische Tradition von Descartes bis zum Existenzialis-
mus von Sartre leitet), sondern die vom Signifikanten, vom Anderen
eingeführte Spaltung. Die Aufgabe der Analyse bestimmt sich näher-
hin als ein Akt der Spaltung, der zum Ziel hat, das Subjekt von der
Leidenschaft für das eigene Bild zu trennen, wobei sich diese Leiden-
schaft, wie schon der tragische Epilog vom Mythos des Narziss be-
zeugt, in einer eigentümlichen Nähe zu dem befindet, was Freud
dann auf den Namen des Todestriebes* getauft hat.
Es war wiederum Heidegger, auf den sich Lacan für eine bestimmte
Zeit abstützen zu können glaubte. In Sein und Zeit findet sich in der
Tat in der Übernahme-Vorwegnahme des eigenen Seins-zum-Tode
von Seiten des Daseins, das die eigene Grundlosigkeit bis an den
äussersten Punkt auf sich nimmt, ein anderes Prinzip der Ethik. Ein
Prinzip, das sich nicht auf das imaginäre Feld der moralischen Wert-

75
lehre reduzieren lässt. Was Lacan an dieser Heideggerschen Konzep-
tion interessiert, ist die Tatsache, dass hier der Dimension des Todes,
die sich nicht spiegeln lässt und die auf eine reale Mangelhaftigkeit
des Subjekts verweist, entscheidende Bedeutung zukommt; die Tatsa-
che also, dass es einen Punkt von Nicht-Sinn, von radikaler Kontin-
genz gibt, der sich inmitten des Subjekts aushöhlt und so einen Be-
zirk von Realem zum Vorschein bringt, dem nicht einmal der Andere
einen Sinn zu verleihen vermag. Heideggers Vorlaufen in den Tod
wird bei Lacan zur Annahme jener »Wahrheit ohne Wahrheit«, die da-
mit zusammenhängt, dass es keinen Anderen des Anderen gibt, d.h.
dass ich im Anderen keine Garantie für den Sinn meiner Existenz fin-
den kann. Lacan beweist, die Tragweite von Heideggers Denken be-
stens begriffen zu haben, wo er aus der Struktur des Seins-zum-Tode
und seiner Übernahme den entscheidenden Moment der Subjektivie-
rung des Begehrens macht: einen ethischen Moment, auf den das Un-
ternehmen der Analyse abzielt.
Die subjektive Destitution hat also weniger mit einem Auseinander-
fallen des Subjekts als vielmehr mit seiner Subjektivierung zu tun.
Was destituiert wird, ist nicht das Subjekt des Begehrens, sondern je-
nes andere, das sich auf den Mythos vom Anderen des Anderen grün-
det, jenes Subjekt, das sein Begehren nicht in seiner Einzigartigkeit
benennt, sondern es den Händen des Anderen überlässt. In diesem
Sinne und also mit der nötigen Vorsicht lässt sich sagen, dass Lacans
subjektive Destitution im Grunde ein anderer Name für das Heideg-
gersche Sein-zum-Tode ist.
Lacans Bezugnahme auf das Sein-zum-Tode nimmt aber in Wirklich-
keit den Umweg über Freud, über das Ding* als verursachende Leere,
die dem Subjekt die Richtung seines Weges vorgibt. Präzise aus dieser
Kreuzung von Heidegger und Freud gewinnt Lacan die Idee, dass
eine Ethik nur dann möglich ist, wenn sie sich der Unmöglichkeit an-
nimmt und die radikale Unvollständigkeit des Anderen auf sich
nimmt. Darin liegt auch der Grund, weshalb das Begehren – vom
Ding verursacht – nicht vom Tod bzw. vom unumkehrbaren Verlust
des Dinges* getrennt werden kann.118 Hier bleibt in der Tat etwas un-
geschrieben, es gibt da etwas, das sich nicht auf den Sinn reduzieren
lässt und unmöglich bedeutet werden kann.
Bei Lacan verhält es sich so, dass der Status des Sinnes das Reale
ia.at
turund
nicht berührt, sondern allein die beiden Register des Imaginären
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76
119
des Symbolischen umfasst. Die Ethik indessen impliziert zwar das
Symbolische, aber nur in seiner Beziehung, in seiner Überschneidung
mit dem Realen. Die Ethik befindet sich also genau an jenem Punkt,
an dem sich das Reale und das Symbolische verknoten; sie umreisst
die Grenzen des Symbolischen. In diesem Sinne rührt sie auch an
den Mangel im Anderen, d.h. an die Unmöglichkeit, das Reale mit
den letztlich hermeneutischen Behauptungen zu versöhnen, seine Al-
terität lasse sich auf den Sinn reduzieren.
Im Grunde besteht darin die unheimliche Wahrheit, die schon in der
siebten Behauptung von Platons Parmenides eine Bresche schlug
(ein Text, bei dem Lacan stets der Überzeugung war, ihn seinen
Schülern nicht genugsam zur Lektüre empfohlen zu haben), da wo
der Andere als eine Alterität erscheint, die unmöglich beherrscht wer-
den kann und keine Vermittlungen erlaubt, die also nicht einmal in
den Begriffen einer dialektischen Negativität gedacht werden kann.
Die Ethik entspricht der Bereitschaft, diese Irreduzibilität, diesen
Nicht-Sinn auf sich zu nehmen; sie ist die Anerkennung dessen, dass
kein Signifikant existiert, der den Mangel gänzlich zu bedeuten ver-
möchte, dass das Reale des Mangels nicht in der Ordnung des Sinnes
aufgehoben werden kann.
So wird es möglich, die Ethik der Psychoanalyse als eine radikale Al-
ternative zur hermeneutischen Ethik anzusetzen, die zur Zeit das phi-
losophische Denken zu beherrschen scheint (Gianni Vattimo hat sie
als jene koiné definiert, die nach der Epoche des Marxismus und der-
jenigen des Strukturalismus die abendländische Vernunft beherrscht),
wobei sie auch nicht ohne Einfluss auf gewisse Interpretationen der
Psychoanalyse selbst war (man denke hier nur an Ricoeurs Freud-In-
terpretation) und verschiedene Strömungen des psychoanalytischen
Denkens wesentlich mitprägte (es seien hier stellvertretend Alfred Lo-
renzer und Franco Fornari genannt).
Wo sich die Hermeneutik also jedenfalls als der Entwurf einer fort-
laufenden (mag er auch ad infinitum strukturiert sein) Aufhebung der
Alterität im Sinn zu erkennen gibt, da ist die Ethik der Versuch, die
Opazität des Unmöglichen-Realen, das jeder Interpretation wider-
steht, auf sich zu nehmen.
Ethisch ist deshalb nicht der Sinn (Hermeneutik), sondern die Über-
nahme dessen, was ihn in Ketten legt, dessen, was die metaphorische
und metonymische Bewegung des Sinnes blockiert, sie scheitern und
77
versagen lässt. Darin ist die Ethik radikaler als die Hermeneutik; sie
artikuliert sich als ein Diskurs, der sich um die Grenzen des Diskurses
selbst bemüht. Ebendiese Ethik kann sich in den vier Diskursen, die
Lacan formuliert, nur im Diskurs des Analytikers wiederfinden, wo
am Platz des Agenten das Objekt (a) anzutreffen ist, die Objekt-Ursa-
che des Begehrens, das leere Überbleibsel des Dinges*, das die
menschliche Leidenschaft in Bewegung setzt und in Bewegung hält.

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Positionen des Subjekts im
sozialen Band

1.
POLITIK DER PSYCHOANALYSE

Die Hypothese, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt,


nimmt Ausgang von einem Vortrag über das Programm der Psycho-
analyse, den Jacques-Alain Miller vor einigen Jahren in Rom gehalten
hat:120 Geniessen und Begehren sind zwei Antworten, zwei Ökono-
mien, ich würde sogar sagen: zwei Positionen des Subjekts im Hin-
blick auf das Unbehagen in der Kultur. Daher rührt es, dass sich die
Politik der Psychoanalyse nicht anders konfigurieren kann – wie Al-
thusser sagen würde – denn als radikale Stellungnahme für das Be-
gehren, wohingegen sich die Politik der Kultur auf einer Ökonomie
des Geniessens errichtet, deren Wirksamkeit in jenem Bereich der
Gewissenlosigkeit gründet, den Freud Über-Ich nannte. Wenn so et-
was wie eine Politik der Psychoanalyse existiert, so lässt sie sich kei-
nesfalls auf eine Psychoanalyse der Politik reduzieren, auf eine blosse
Anwendung der Psychoanalyse auf die Politik. Vielmehr entspricht
sie einer Radikalisierung der Option für das Begehren. Lacan hat dies
in einer ethischen Form des Imperativs sehr schön gesagt: Avez-vous
agi conformément au désir qui vous habite?* »Habt Ihr konform mit
Eurem Begehren gehandelt, das Euch innewohnt?«121
Insofern es sich bei ihr um eine Stellungnahme für das Begehren
handelt, erweist sich die Politik der Psychoanalyse als irreduzibel auf
die Logik der Anpassung; das Begehren lässt sich weder beherrschen
noch anpassen. Und dies in einem doppelten Sinne: Das Begehren
kann sich dem Programm der Kultur nicht angleichen (von diesem
Glauben geht hingegen die Politik der Ich-Psychologie und seiner
verschiedenen Ausprägungen aus), ebensowenig wie sich das Pro-
79
gramm der Kultur dem Begehren anzupassen vermag (dies ist hin-
gegen die Politik eines gewissen Freudo-Marxismus, der von Reich
über Marcuse bis hin zu Deleuze reicht).
Die Frage nach einer möglichen Politik der Psychoanalyse lässt sich
nicht innerhalb dieser Alternative entscheiden: Akzeptieren des Un-
behagens und Verzicht auf das Begehren (die Hypothese der Anpas-
sung des Begehrens an die Kultur) oder Befreiung des Begehrens
und Auslöschung des Realen des Unbehagens (die Hypothse der An-
passung der Kultur an das Begehren). Sie hat vielmehr von der struk-
turellen Äquivalenz von Unbehagen und Begehren auszugehen. Um
es in anderen Begriffen zu sagen: Die Politik tritt für ein Begehren
ein, das sie mit dem Unbehagen gleichsetzt; die Politik der Psycho-
analyse ist eine Entscheidung für das Unbehagen des Begehrens.
Dies verlangt nach einer Neudefinition der für das Subjekt konstituti-
ven Sozialität, oder anders formuliert: Wie ist das soziale Band inner-
halb der Logik des Begehrens weiterhin zu denken?

2.
FREUD UND DAS SOZIALE BAND

Wohin führt die Freudsche Analyse des sozialen Bandes? Versuchen


wir, die wichtigsten Punkte kurz zusammenzufassen.
1) Was das soziale Band stiftet, ist nicht der Sexualtrieb, der vielmehr
Trennung und Entzweiung hervorruft. Das Band strukturiert sich auf
der Seite der Ichtriebe (eine Seite, die sich freilich nicht von selbst
versteht, denn Triebe und Ich bilden einen Gegensatz).
2) Das soziale Band artikuliert sich hauptsächlich vermöge der Iden-
tifikation; sie stellt die unbewusste Bedingung für die Konstituierung
des sozialen Bandes dar. In Totem und Tabu konzipiert Freud genau
den Übergang vom toten Vater zum idealen Vater, dem Objekt der
Identifikation, als wesentliche Grundlage für den Gesellschaftsver-
trag.
3) Der Weg der Identifikation – da wo sie ein soziales Band stiftet –
spielt sich zwischen Imaginärem und Symbolischem ab und verwirk-
licht sich paradigmatisch im Ichideal. Das Ichideal bildet in der Tat ei-
nen Ort der Integration und der Abschwächung – Lacan spricht von
Befriedung – des Konfliktes zwischen Trieb und Kultur. Hier wird der at
uria.
Trieb insofern sozial, als er den Weg der Sublimation© i nfo@t den
einschlägt,
80
Freud mit dem Weg des Verzichts gleichsetzt. So ist es in Totem und
Tabu präzise die Untersagung, die dadurch, dass sie das Subjekt vom
Geniessen trennt, das soziale Band stiftet.
4) Das logische Schema der Freudschen Argumentation ist genealo-
gisch. Freud konstruiert eine Genealogie des sozialen Bandes. Der
geschichtlich-diachronische Aspekt herrscht vor; er nimmt Bezug auf
eine mytho-logische Genese des Sozialen.
5) Es ist unmöglich, zwischen Subjektivität und Intersubjektivität,
zwischen einer Individualpsychologie und einer Sozialpsychologie zu
unterscheiden. Das Subjekt ist strukturell in die Sozialität eingebun-
den.

3.
LACANS ERSTER UMWEG ÜBER FREUD:
DIE SOZIALITÄT DES SUBJEKTS

Welche Wirkungen zeitigt Lacans Rückkehr zu Freud hinsichtlich die-


ses theoretischen Modells? In welche Richtung biegt Lacan den
Freudschen Diskurs?
Im wesentlichen lassen sich eine Wiederaufnahme, die in Wirklich-
keit eine Präzisierung ist, und ein Fortschritt gegenüber dem Freud-
schen Horizont feststellen.
Eine Wiederaufnahme: Lacan liefert eine strukturelle Begründung für
Freuds Idee einer für das Subjekt konstitutiven Sozialität. Die genea-
logische Entwicklung, auf die sich Freud stützt, erweist sich als für
diese Aufgabe unangemessen, und zwar deshalb, weil sie von einem
prä-sozialen Urzustand ausgeht, auf den dann in einem zweiten
Schritt die Institution einer Sozialität folgt. Lacan entledigt sich dieser
Konzeption, indem er der synchronischen Achse gegenüber dem
diachronischen Moment den Vorzug gibt. Indem er, anders gesagt,
die diachronische Bewegung der synchronischen Achse bzw. das
Subjekt der Struktur aufpfropft.
Was also bedeutet es für Lacan, die Sozialität des Subjekts zu denken?
Was bedeutet es, das Subjekt als ein soziales Problem zu begreifen?
Nehmen wir zwei fundamentale und sehr bekannte Aussagen: a) »das
Begehren ist das Begehren des Anderen«, b) »das Subjekt kommt im
Feld des Anderen zur Welt«. Diese zwei Aussagen begründen die Po-
sition des Subjekts strukturell als soziale Position: das Subjekt gelangt
81
zum Symbolischen, zum Anderen, der schon da ist, der ihm voraus-
geht. Es wird in einem Feld geboren, welches dasjenige des Anderen
ist. Das Begehren schreibt sich in dieser konstitutiven Entfremdung
ein: das Begehren ist das Begehren des Anderen, weil das Subjekt im
Feld des Anderen zur Welt kommt. Oder genauer: Die Zeit der Sozia-
lität ist im Grunde die Zeit der Entfremdung-Trennung des Subjekts
im bzw. vom Feld des Anderen. Um die subversive Operation zu be-
greifen, die Lacan an der onto- und psycho-logischen Vorstellung, es
gebe zuerst ein Subjekt (wenn auch nur in einem potentiellen Status),
auf das dann der Anbruch des »Sozialen« folge, vornimmt, ist es not-
wendig, den Status dessen, was Lacan als »Entfremdung« definiert, ge-
nau zu bestimmen. Den Begriff der Entfremdung hat er bekanntlich
Hegel entlehnt. Lacan bedient sich seiner, wobei er aber seinen ur-
sprünglichen Sinn modifiziert.
Bei Hegel verweist die Entfremdung auf das Anderswerden, auf das
Aus-sich-Herausgehen einer einfachen Entität, einer Subjekt-Sub-
stanz, die zuerst in sich selbst ruht und sich erst in einem zweiten
Moment entfremdet, um sich als das Andere ihrer selbst zu offenba-
ren. Beim jungen Marx trifft man auf dieselbe Logik, wo er mit Hegel
dahingehend übereinstimmt, dass ein Wesen, eine Subjekt-Substanz
existiert, die unter den historisch-materiellen Produktionsbedingun-
gen des Kapitalismus dazu verurteilt ist, sich zu verlieren, sich fremd
zu werden und aus dem eigenen Wesen herauszugehen.
Lacan vollzieht eine radikale Neubestimmung des Begriffes der Ent-
fremdung: es gibt nicht mehr wie bei Hegel eine ursprüngliche Sub-
jekt-Substanz, die dann in einem zweiten Moment eine entfremdende
Teilung erfährt. Er insistiert umgekehrt darauf, dass das Subjekt ge-
nau insofern, als es im Feld des Sinnes zur Welt kommt, eine ur-
sprüngliche Entfremdung erleidet, die zugleich einen Seinsverlust mit
sich bringt. Das Subjekt ist, in anderen Worten, der letalen Ordnung
des Signifikanten unterworfen; es kann dem Schicksal, von einer pri-
mordialen Entfremdung affiziert zu werden, nicht entrinnen. Damit
kehrt Lacan Hegels Perspektive radikal um: die Entfremdung ist ur-
sprünglich und nicht das Subjekt. Es gibt keine Subjekt-Substanz, die
sich im Anderen setzt; es ist gerade umgekehrt: die Entfremdung ist
die Auswirkung des Anderen auf das Subjekt. Die Entfremdung ist
also im eigentlichen Sinne keine Position des Subjekts, sondern ent-
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spricht der materiellen Art und Weise seiner Verursachung. turia
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82
Die Sozialität des Subjekts hängt also von der Auswirkung ab, welche
die Aktion des Signifikanten auf es ausübt. Das Subjekt ist insofern
sozial, als es sich vermöge des Signifikanten konstituiert. Und genau
deshalb, weil Lacan dem Anderen als dem, was das Subjekt verur-
sacht, eine zentrale Bedeutung beimisst (wie er dies im Seminar XI
tut), sieht er sich zur Einsicht gezwungen, dass der Begriff der Inter-
subjektivität – ein Begriff von phänomenologisch-dialektischer Her-
kunft – nicht mehr genügt, um Rechenschaft von der Beziehung zwi-
schen dem Subjekt und dem Anderen zu geben122. Aus diesem Ge-
sichtspunkt lässt sich also sagen, dass Lacan Freud auf ein strenges
Fundament stellt: die Einschreibung des Subjekts in eine geschicht-
lich-soziale Ordnung wird in die Signifikantenlogik integriert. Damit
ist implizit gesagt, dass es unmöglich ist, die Individualpsychologie
von der Sozialpsychologie zu unterscheiden.

4.
LACANS ZWEITER UMWEG ÜBER FREUD:
TODESTRIEB UND SOZIALES BAND

Ausgehend von Freuds Wortlaut führt Lacan jedoch etwas ein, das bei
Freud selbst nicht gänzlich entfaltet wird und das seinen Text deshalb
von innen heraus in eine Richtung verschiebt, die von ihm nicht be-
dacht wurde.
Worauf beziehe ich mich? Gehen wir diesmal von zwei Aussagen
Freuds aus, die die Struktur des Über-Ichs betreffen, das für Freud
bekanntlich eine entscheidende Rolle in der Konstitution der Kultur
spielt. In Das Ich und das Es definiert er das Über-Ich einmal als
»Reinkultur des Todestriebes«123. In Das Unbehagen der Kultur indes-
sen führt er offen die Idee eines sozialen Über-Ichs oder, wenn man
lieber will, eines Über-Ichs der Kultur ein.
Was geschieht, wenn wir versuchen, diese beiden Aussagen zusam-
menzudenken? Wir kommen zum Schluss, dass für Freud das Über-
Ich in doppelter Hinsicht, d.h. als soziales Über-Ich, aber auch als
Reinkultur des Todestriebes, das entscheidende Fundament des so-
zialen Bandes bildet. Wir haben es mit einer unheimlichen Aporie zu
tun angesichts dessen, dass es niemand anders als Freud selbst ist,
der im Agieren des Todestriebes* zugleich den Ursprung des Krieges,

83
des Kampfes aller gegen alle, der in ihm also ein Prinzip der Anti-
Kultur erkennt....
Lacan dringt in diese Aporie ein; er versucht sie von innen heraus
neu zu überdenken. Er geht dabei von der Freudschen Kette To-
destrieb>Über-Ich>soziales Band aus, indem er insbesondere Ord-
nung in die Formulierung der Begriffe des Idealichs*, des Ichideals*
und des Über-Ichs* bringt. Schematisch gesprochen: das Idealich wird
zu einer imaginären Bildung narzisstischen Charakters, das sich in
der Augenblicklichkeit der Beziehung des Subjekts mit seinem eige-
nen Spiegelbild konstituiert. Das Ichideal schreibt sich hingegen als
Wirkung der väterlichen Funktion in das Innere der ödipalen Dialek-
tik ein, einer Funktion, die sich also nicht darauf beschränkt, das In-
zestverbot durchzusetzen, sondern sich dem Subjekt auch als ge-
währende und schenkende Instanz, als Identifikationsmodell, in dem
sich Begehren und Gesetz im Einklang befinden, zu erkennen gibt.
Deshalb schreibt ihm Lacan die Funktion zu, das Subjekt über das
Imaginäre hinauszuführen. Das Über-Ich ist anders als die beiden er-
sten Bildungen im Realen des Triebes beheimatet und bringt so einen
triebhaften Import ins Spiel. Während Freud also dazu neigt, das
Über-Ich dem Ichideal überzustülpen, macht Lacan aus dem Über-Ich
indes einen spezifischen Ort, in dem sich das Reale des Triebes mit
dem imaginären Aspekt der Identifikation verknüpft.
Oder genauer: Das Über-Ich ist für Lacan nicht mehr der Ort des Ge-
setzes, sondern vielmehr seiner Pervertrierung. Das Über-Ich besitzt
die vampirhaften Züge eines Verfolgers; es verkörpert ein ebenso un-
veränderliches wie abstraktes Bild des Gesetzes. In diesem Sinne
hebt Lacan im Gegensatz zu Freud seine imaginären Eigenschaften
(“drohende Stimme«, »grimmiger Blick«, »böses Gesicht«) und seine
mütterliche Genese hervor.
Denn Freud selbst legt in der Definition des Über-Ichs, die in seiner
Theorie mit Schwierigkeiten beladen ist, eine seltsame Unentschie-
denheit an den Tag. Freuds klassische Formulierung, die aus ihm den
Erben des Ödipus macht, verträgt sich nicht mit jener anderen, wo-
nach im Über-Ich die Reinkultur des Todestriebes herrscht. Und zwar
deshalb nicht, weil im ersten Fall das Über-Ich eine normative Funk-
tion, auf die das ödipale Gesetz folgt, haben sollte, während es sich
im zweiten Fall in einem gleichsam extraterritorialen Ort situiert, wo
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84
das Gesetz keine Gültigkeit hat, im vorgesetzlichen Ort des Todestrie-
bes.
Lacan nimmt sich Freuds theoretischen Schwierigkeiten an; ausge-
hend von ihnen unternimmt er den Versuch einer strukturellen Ausar-
beitung dieser Begriffe. Das Über-Ich wird so nicht mehr als Erbe des
Ödipus konzipiert, sondern erhält Charakterzüge, die nicht mehr auf
dem durch Ödipus ermöglichten Einklang von Gesetz und Begehren
beruhen. Dies erlaubt uns, an einen für die Politik der Psychoanalyse
entscheidenden Punkt zu gelangen: Worin besteht die (politische?)
Ökonomie des Über-Ichs und in welcher Weise liegt sie dem Mecha-
nismus des Projektes der Kultur zugrunde?
Für Lacan handelt es sich um eine Ökonomie, die sich auf dem Wil-
len zum Geniessen gründet. Er greift also auf den Begriff des Genies-
sens zurück, um die von Freud zum Ausdruck gebrachte Beheima-
tung des Über-Ichs im Todestrieb zu denken. Durch die Einführung
dieses Begriffes versucht er sich aber gleichzeitig an Freuds Weg zu
halten, der sich mit der »Kehre« der Zwanzigerjahre dem Abgrund
dessen öffnete, was er das Jenseits des Lustprinzips nannte.

5.
GENIESSEN UND UNBEHAGEN

Was das Geniessen angeht, so ist es nützlich, sich die drei Hinsichten
zu vergegenwärtigen, unter denen Lacan dessen Struktur bestimmt.
Es handelt sich, schematisch gesprochen, um die folgenden Hinsich-
ten: um die drei Register des Imaginären, des Symbolischen und des
Realen, um die klinische Perspektive und um das Verhältnis von Sub-
jekt und Anderem.
Lacan ordnet das Geniessen dem Register des Realen zu, und zwar
insofern, als es einen Überschuss sowohl hinsichtlich des Symboli-
schen (es gehört nicht der Ordnung des Signifikanten an, lässt sich
nicht auf die Ebene des Sinnes reduzieren; es ist umgekehrt genau
das, was den Sinn aus den Angeln hebt) als auch hinsichtlich des
Imaginären (es fällt aus dem Gebiet der Identifikation, stellt gleich-
sam deren blinden Fleck dar) aufweist.
In klinischer Hinsicht betrifft der Begriff des Geniessens die Struktur
des Symptoms und des Phantasmas. Um es anders auszudrücken:
Das Geniessen ist das, was die unbewusste Verankerung des Sym-
85
ptoms im Phantasma verrät. Jenseits seiner metaphorischen Funktion
steht im Symptom etwas auf dem Spiel – etwas Reales –, was sich
nicht auf den Signifikanten reduzieren lässt. Dabei handelt es sich um
das, was Freud ausgehend von der Ausarbeitung des Begriffes des
Todestriebes als die (masochistische) Erogenität des Symptoms zu
fassen versucht.
Im Hinblick auf die Beziehung des Subjekts zum Anderen, wobei
mich diese Hinsicht hier besonders interessiert, entspricht das Ge-
niessen dem, was die Behandlung des Signifikanten aus dem Körper
entfernt, der sich so des Geniessens, um das er gebracht wird, be-
raubt fühlt (die Psychose, das psychosomatische Phänomen und das
Symptom sind drei Gegentendenzen zu diesem Entzug von Genies-
sen aus dem Körper, die drei verschiedenen Logiken entsprechen).
Was bedeutet das?
Es bedeutet, dass da, wo es Signifikanten gibt, ein direkter, unmittel-
barer Zugang zum Ding ausgeschlossen ist. Wo es Signifikanten gibt,
gibt es stets ein Loch im Realen. Der Eintritt des Subjekts in das Feld
des Anderen impliziert, dass es das Schicksal (allein in diesem Zu-
sammenhang macht es wirklich Sinn, von einem Schicksal des Sub-
jekts zu sprechen) eines Verlustes an Geniessen erleidet. In diesem
Sinne ist das Triebschicksal notwendig das Schicksal eines Verlustes,
weil es durch die Unterwerfung des Dinges (dem Ort einer mythi-
schen Urbefriedigung) unter das Gesetz des Signifikanten gekenn-
zeichnet ist. Nun wird verständlich, worauf Lacan seine Definition
des Unbehagens der Kultur gründet: die Logik, nach der die Aktion
des Signifikanten verlangt, ist die Logik des Jenseits des Lustprinzips,
weil, wie Lacan in L’envers de la psychanalyse deutlich zeigt, die Vor-
aussetzung für die Hervorbringung des Subjekts – für seinen Eintritt
in den sozialen Diskurs – an den Entzug von Geniessen gebunden
ist124.
Darin besteht Lacans Beitrag zur Freudschen Triebtheorie; der Trieb
beruht auf einer Organisation, die auf einen Verlust hinausläuft, weil
er eine konstitutive Leerstelle impliziert, eine Lücke – Freuds Ent-
deckung der erogenen Zone –, um die er kreist, ohne dass ein Objekt
die Kluft zu schliessen vermöchte. Deshalb behauptet Lacan eine
»wesenhafte Affinität zwischen dem Trieb und dem Bezirk des To-
des«. Es gibt da einen Verlust – den Verlust des Dinges*, der Verlust
einer vollkommenen, lückenlosen Befriedigung ohne Rest –@,t
der ia.at
urnie-
© info
86
mals wiedergutgemacht werden kann. Darin liegt, wenn man so will,
das Schicksal des Triebes, das notwendig in eine Sublimation mün-
det: es gibt streng genommen keinen Trieb, der nicht, wie Freud sa-
gen würde, »zielgehemmt« ist.
Dieser Verlust schreibt sich deshalb auf der Seite des Realen ein: es
handelt sich um einen Verlust an Geniessen. Aber ebenso auf der
Seite des Symbolischen, denn er impliziert die Unmöglichkeit des
Subjekts, wie eine Substanz in sich selbst zu ruhen und sich von ei-
nem Signifikanten repräsentieren zu lassen, der so zu einem Zeichen
würde (dies ist die Logik, welche die humanistisch-metaphysische
Konzeption des Subjekts beherrscht). Der Signifikant ist aber kein
Zeichen. Das Subjekt nämlich kann nur in einer Bewegung beständi-
ger Entfremdung, die es notwendig spaltet, von einem Signifikanten
für einen anderen Signifikanten repräsentiert werden.
Diesen doppelten Verlust finden wir in ein einzigartiges Schema ein-
geschrieben, das wir hier leicht modifiziert anführen125:

S1 S2

X fi

Wir haben es mit einer Graphik zu tun, die ich das Lacansche
Schema des Unbehagens in der Kultur zu nennen geneigt bin: auf der
einen Seite finden wir die Definition der letalen Auswirkung, die die
Intervention des Signifikanten auf das Subjekt hat – S1 und S2 spalten
das Subjekt und berauben es jedweder Möglichkeit, sich selbst zu re-
präsentieren –, und auf der anderen Seite treffen wir auf den Verlust
an Geniessen – gekennzeichnet durch das X, das sich jenseits der Po-
sition des Subjekts einschreibt – als reale Bedingung für den Eintritt
des Subjekts in das Feld des Anderen: in den Ort der Kastration, den
Lacan als (– j) algebraisierte.

87
6.
BEGEHREN UND UNBEHAGEN

Lacan gelangt allmählich zu einer Gleichsetzung von Unbehagen und


Begehren. Das Unbehagen ist das Begehren, wobei auch die Umkeh-
rung gilt: das Begehren ist das Unbehagen. Welches ist der Sinn dieser
Umkehrbarkeit, zu der uns, wie ich glaube, Lacan berechtigt? Worin
besteht das Unbehagen des Begehrens? Oder anders ausgedrückt:
Warum bedeutet begehren, Unbehagen zu empfinden?
Die Ethik der Psychoanalyse stellt sich dieser Schwierigkeit: das Be-
gehren beruht anders als das Geniessen auf einem Seinsmangel.
Nicht auf einem Objektmangel also, sondern auf einem Mangel an
Sein. Das Subjekt ist keine Substanz, sondern vielmehr ebendieser
Mangel an Substanz. Die ganze Frage auf die Spitze treibend, könnte
man sagen, dass das Begehren keine Eigenschaft, kein Prädikat des
Subjekts ist. Es ist nämlich nicht das Subjekt, das das Begehren mit
sich herumträgt, sondern gerade umgekehrt das Begehren, welches
das Subjekt trägt. Wie der Name schon sagt, ist es das Sub-jekt, das
dem Begehren unter-worfen ist.
Während das Programm der Psychoanalyse die Gleichsetzung von
Unbehagen und Begehren geltend macht und den Akzent auf die Be-
nennung des eigenen Begehrens von Seiten des Subjekts legt, wird
das Programm der Kultur, wie schon gesagt, von der durch das Über-
Ich organisierten Ökonomie des Geniessens reguliert. Es handelt sich
dabei um eine Ökonomie der Güter, die sich auf die Illusion gründet
(dies ist die ironische Zukunft der Kultur, die Freud nicht vorhersa-
gen konnte), dass es möglich ist, das Geniessen ohne Verlust zirkulie-
ren zu lassen.
Genau dem entspricht die Logik des Diskurses des Kapitalisten 126:

fi S2

S1 a

Das Objekt (a) des Geniessens scheint weniger als Beschränkung des
Verlustes an Geniessen (dies ist die Funktion des Supplements, die
ihm Lacan als plus-de-jouir*, als Mehr-Geniessen zuschreibt) und viel-
mehr als seine a-subjektive Vergegenwärtigung zu agieren. D.h.tur ia.at
also,
o@
© inf
88
dass es keine Grenze des Geniessens gibt, sondern allein seine Zirku-
lation in einer Ökonomie, welche die Unmöglichkeit des Realen nicht
kennt. Eine Ökonomie, wo präzise alles möglich ist (das ist die Funk-
tion des Marktes in der kapitalistischen Logik).
Die vom Über-Ich als sozialer Instanz organisierte Ökonomie des Ge-
niessens bewegt sich in dieser Logik: es handelt sich um eine Ökono-
mie, die derjenigen des Begehrens entgegengesetzt ist. Oder genauer:
Das Über-Ich reguliert auf gesellschaftlicher Ebene das, was Freud als
»Triebverzicht« bezeichnete: dieser Verzicht gibt jedoch einer Triebor-
ganisation Raum, der eine einzigartige Ökonomie eigen ist. Dieser
Mechanismus bewirkt, dass sich der Verzicht auf das Geniessen selbst
wieder in eine Form des Geniessens verwandelt: er produziert also
ein Geniessen, den Verzicht zu geniessen. Darin besteht die morali-
sche Essenz des Masochismus, die nichts anderes darstellt als die an-
dere Seite des kapitalistischen Diskurses (sie ist, mit Weber zu spre-
chen, die protestantische Wurzel des kapitalistischen Geistes). Der
Gewinn besteht in der Verleugnung des mit Begehren verbundenen
Unbehagens. Die Illusion besteht darin zu glauben – ganz so wie im
richtigen Diskurs des Kapitalisten –, es sei möglich, eine Trieborgani-
sation zu entwerfen, die auf keinen Verlust hinausläuft, so als könnte
der Mangel, der dem Begehren innewohnt, durch das Geniessen ge-
stopft werden (das ist auch das Programm der Perversion: eine Öko-
nomie des Geniessens zu entwerfen, die keinen Verlust erleidet; ist
also das Programm der Kultur strukturell pervers?).
Jacques-Alain Miller hat diesen Mechanismus mit einem Schema fol-
gendermassen dargestellt127:

Über-Ich T (Triebverzicht)

a
(a)

Dieses Schema zeigt sehr schön, wie der Verlust (a), anstatt als Ursa-
che für das Subjekt zu funktionieren, gleichsam in den Umlauf des
Recyclings eintritt, der es unmöglich macht, dass sich so etwas wie
ein Mangel konstituiert. Ein Umlauf zudem, der dem Über-Ich da-
durch, dass er es nährt, zugleich zu mehr Macht verhilft und aus ihm

89
den Schöpfer eines namenlosen, prä-ethischen Geniessens macht,
das sich ganz um die Identifikation mit jenem Ideal zentriert, das je-
des Prinzip der Subjektivierung und das unvermeidliche Unbehagen,
das es impliziert, zunichte macht.
Das hat eine Beseitigung des Mangels zur Folge, was aber auf gesell-
schaftlicher Ebene wiederum eine paradoxe Umkehrung der Entfrem-
dung einführt: im Diskurs des Kapitalisten, also dem Diskurs des
Über-Ichs, wird die Spaltung des Subjekts durch die Verwandlung des
Dinges in eine Ware, die die unendliche Wiederholung des Genies-
sens garantiert, ausgelöscht (Aufhebung der Entfremdung!).

.at
o@ turia
© inf
Der Vater jenseits des Ödipus

1.
FREUDS ZWEIDEUTIGKEIT

Ebenso wie für die Religion ist die Frage nach dem Vater auch für die
Psychoanalyse von entscheidender Bedeutung. Sowohl für Freud als
auch für den religiösen Diskurs – Lacan macht auf diesen Zusammen-
hang in L’envers de la psychanalyse aufmerksam – ist der Vater v.a.
derjenige, der es verdient, geliebt zu werden. Er ist der Vater der
Liebe.128 Der Gottvater der christlichen Theologie, der aus Liebe – in
der reinen Grundlosigkeit der Liebe – die Welt aus dem Nichts er-
schafft und sie im Sein erhält, wird so zum verschütteten Vorbild des
ödipalen Vaters, der dem Subjekt die idealen Insignien anbietet, mit
denen es sich identifizieren kann, um in der Ausübung seines eige-
nen phallischen Vermögens heimisch zu werden.
Die Frage nach dem Vater und seiner Funktion bleibt einer der zen-
tralen Punkte von Freuds Denken. Meine Hypothese ist, dass diese
Frage zwei gegensätzliche Wahrheiten zum Vorschein bringt, d.h.
zwei verschiedene und nicht leicht miteinander versöhnbare Versio-
nen des Vaters. Auf der einen Seite erhebt sich Freud in der Tat als
letzter grosser Moralist des Abendlandes, für den die Psychoanalyse
zu einer wahrhaftigen Übung des Verdachts wird, die den Vater de-
maskiert und in der Folge von Nietzsches Genealogie zu zeigen ver-
mag, dass alle Väter und alle Werte, zu denen auch Gott, der Wert der
Werte, der Vater der Väter, zu zählen ist, nichts anderes sind als ima-
ginäre Ausgeburten des Unbewussten, der menschlichen Subjekti-
vität. In dieser radikalen Zergliederung der religiösen Ideologie ist
selbst Gott nichts anderes als die Wirkung der neurotischen Idealisie-
rung des Vaters. Daher kommt es, dass die Religion auf eine »kollek-
tive Neurose«, auf die öffentliche Ausgestaltung eines privaten Sym-

91
ptoms reduziert wurde. Aus dieser Perspektive ist die Psychoanalyse
eine Art kritische Genealogie des Vaters, die sämtliche ideologische
Gehalte desselben enthüllt. Sie ist eine materialistische Kritik der
Ideologie des Vaters, eine an Nietzsche orientierte Praxis des Ver-
dachts, welche die Vorstellung, dass das Bewusstsein die ursprüngli-
che Grundlage des Subjekts sei, ebenso aus den Angeln hebt wie die,
dass das Feld der Werte ein ontologisches Fundament besitze. Grund-
lagen dieser Art sind nichts anderes als geschichtlich-materielle Pro-
dukte des Menschen. Die Idole erweisen sich als Marionetten, als »be-
helfsmässige« Scheinkonstruktionen, wie Freud einmal sagt, die dem
Menschen dazu dienen, der Angst vor seinem Elend zu entgehen.
Auf der anderen Seite konstruiert Freud jedoch eine Theorie, wo der
Bezug auf den Vater als unersetzbar und grundlegend bewahrt wird.
Es handelt sich hierbei um jene zentrale Bedeutung, die er der väter-
lichen Funktion im Ödipus zuerkennt.
Ebenso wie der Vater der jüdisch-christlichen Tradition ist er auch für
Freud der Vater der Vergebung und des Gesetzes; er ist es, der es
dem Subjekt ermöglicht, am Tisch des Anderen seinen Platz einzu-
nehmen. Es geht also um einen Vater der Liebe, der es versteht, Be-
gehren und Gesetz zu vereinen, um ein christliches Antlitz des Ande-
ren, das die Freudsche Ethik aber in anderer Hinsicht, wie bereits er-
wähnt, dem Untergang entgegenführt.129 Es ist genau diese
Zweideutigkeit, auf die uns Lacan aufmerksam macht, wo er uns sagt,
dass man »unrecht hätte, wollte man glauben, der Freudsche Mythos
von Ödipus liefe hier auf eine Theologie hinaus«.130
In Frage steht also die Gewährleistung des Begehrens, das der Vater
der Theologie verschafft und das der Freudsche Ödipus in der Defini-
tion des Vaters als Garant des Gesetzes erneut zu bestätigen scheint.
Das Ungleichgewicht des Begehrens, das Lacan freilich in Überein-
stimmung mit Freud als ein Strukturmerkmal begreift, beruht darauf,
dass die menschliche Sexualität mit dem hedonistischen Naturalismus
des Lustprinzips nicht in Einklang zu bringen ist. Es gibt da etwas im
Sexualtrieb, das sich einer Anpassung und einer vollständigen Befrie-
digung widersetzt. Es gibt da etwas am Geniessen, das sich der Uni-
versalität des ödipalen Gesetzes nicht einverleiben lässt. Es gibt da et-
was, das die geradlinige Logik des Lustprinzips aus den Angeln hebt.
Lacan hat das Freudsche Jenseits des Lustprinzips im Blick. Es besteht
urizua.at
für den Menschen keine Möglichkeit, das Gleichgewicht infdero@tLust
©
92
seinem Prinzip zu erheben. Es ist unmöglich, Eins mit dem Anderen
zu machen/werden. Dies ist der Sinn von Lacans berühmtem Apho-
rismus, wonach »es kein sexuelles Verhältnis gibt«, il rapport sexuel
n’existe pas. Was freilich nicht bedeutet, dass die Menschen kein se-
xuelles Verhältnis haben können. Gemeint ist damit vielmehr, dass sie
niemals ein »Verhältnis« realisieren, dass sie niemals Eins mit dem An-
deren machen werden, unabhängig davon, wie oft sie ein solches
Verhältnis haben. Das »es gibt kein sexuelles Verhältnis« überträgt,
wenn man so will, jene Differenz, die Lacan zuerst in den Gesetzen
der Sprache und des Sprechens entdeckte, auf die Ebene des Triebes.
Wobei es zu berücksichtigen gilt, dass selbst eine unendliche Verviel-
fältigung der Aussagen dennoch nie die Ebene des Aussagens zu
berühren vermag und also niemals imstande sein wird, sie erschöp-
fend zu repräsentieren.
In Freuds Reflexion auf den Vater lassen sich drei entscheidende Mo-
mente unterscheiden. In einem ersten Moment wird der ödipale Vater
aufgerichtet. Mit dem ödipalen Vater ist ein Vater gemeint, der Ge-
niessen und Gesetz voneinander trennt. In einem zweiten Moment
kommt die Gestalt des toten Vaters als Grundlage des Gesetzes ins
Spiel, wie Freud dies in Totem und Tabu näher ausführt. Diese Funk-
tion vermag er allein vor dem Hintergrund seiner Tötung, d.h. der
Tötung des Vaters des Geniessens zu erfüllen.
Der dritte Moment entspricht der Abfassung des Moses, der zugleich
eine wichtige Variation der zweiten Phase bildet: Moses bringt die
Gestalt des getöteten Vaters wieder ins Spiel, wobei er jedoch den
Akzent auf die Spaltung des Vaters, auf den gespaltenen Vater legt.

2.
DER ÖDIPALE VATER

Der ödipale Vater ist der Vater des Verbots, der das Begehren zum Le-
ben erweckt. Der theologische Charakter dieser Funktion wird von
Lacan da wieder aufgenommen, wo er, den Römerbrief des heiligen
Paulus zitierend, daran erinnert, dass das Gesetz für das Begehren
wesentlich ist.131 Der ödipale Vater ist der letztinstanzliche Garant des
Gesetzes. Er hat eine normative Funktion: das Gesetz mit dem Be-
gehren in Einklang zu bringen und so das Begehren zu gewährlei-

93
sten. Ein Gesetz für das Begehren. Darin besteht für Freud die ge-
setzgebende Rolle, die der Ödipus für das Subjekt spielt.
Einer der letzten Texte von Freud trägt bezeichnenderweise den Titel
Der Untergang des Ödipus. Und es versteht sich von selbst, dass eine
Strukturierung des Ödipus stattgefunden haben musste, damit von
seinem Untergang gesprochen werden kann.
Ich schlage deshalb vor, die Zeit der »Strukturierung« des Ödipus als
universelle Zeit und diejenige seines Unterganges als eine singuläre
Zeit zu begreifen. Das Universelle gehört, wie Lacan präzisieren wird,
zur Struktur. Die Universalität des Ödipus umfasst die Wirkung der
Untersagung und die Begrenzung des Geniessens, die die Gesetze
der Sprache und der Kultur dem Subjekt auferlegen. Es handelt sich
um eine primordiale Verpflichtung – so definiert sie Lacan schon in
Les complexes familiaux132 –, die jenen ursprünglichen Drang zur
Identifikation mit dem Ding* eindämmt, wodurch der Todestrieb be-
weist, dass er das Subjekt von Anfang an fest im Griff hat.
Für Freud ist der Untergang des Ödipus eine singuläre Zeit, die sich
nichtsdestoweniger in die universelle Zeit der dialektischen Vermitt-
lung mit dem Anderen einschreibt. Der Freudsche Untergang ist kein
Losreissen, kein Bruch mit dem Ödipus, sondern vielmehr dessen
Aufhebung*: Überwindung und zugleich Bewahrung des Ödipus.
Liebe und Hass des Subjekts gelten dem Vater. Hass, insofern er ein
Rivale ist, Liebe, insofern er ein Vorbild darstellt. Der Untergang ist
gemäss Freud präzise der Übergang vom Hass zur Liebe. Man über-
windet den Ödipus nicht, wenn man auf der Ebene der imaginären
Rivalität oder der schuldigmachenden Reue (jener Reue, die z.B. die
Söhne von Totem und Tabu nach dem Vatermord empfinden) ver-
bleibt. Ebenso wie für Hegel ist auch für Freud der Hass nicht dialek-
tisch und vermag keine Singularisierung der Universalität zu verwirk-
lichen. Vielmehr hält er die Subjektivität in einer lähmenden Spiegel-
bildlichkeit gefangen. Dies ist der blinde Fleck, in dem sich der Herr
in der Phänomenologie des Geistes befindet. In Totem und Tabu
nimmt diese Lähmung die imaginäre Form der Schuld an, insofern
sich der Tod des Vaters im Innern des Subjekts verdoppelt. Die
Schuld wird in der Tat zum Schatten des getöteten Vaters, der sich
über die Söhne breitet, sie überwältigt und der Reue überantwortet.
Der von Freud konzipierte Untergang ist ein Ausweg aus dem ima-
ginären Hass, aus dem Kampf auf Leben und Tod zwischen ia.at
@turund
© infoVater
94
Sohn. In ihm verwirklicht sich das Ichideal als Insignum des Subjekts,
das die väterliche Funktion nicht mehr nur als verneinend (als Agent
der Untersagung), sondern ebenfalls als Gabe und Anerkennung be-
greift. Das Ichideal geht ganz freudianisch aus der Liebe hervor, aus
der Identifikation mit dem Vater, der als Schenkender angenommen
wird. Dies ist die »theologische« Version des liebenden Vaters, auf die
sich Lacan in L’envers de la psychanalyse bezieht.
Der Vater von Freud ist deshalb ein dialektischer Vater. In der Vor-
rede zur Phänomenologie des Geistes beschwört Hegel im Gleichnis
des verlorenen Sohnes, der nach der Ablehnung und dem Bruch mit
dem Vater wieder zu ihm zurückzukehren versteht, das Wesen der
Dialektik. Dies ist ein erstes Wesensmerkmal der »theologischen« Ge-
stalt von Freuds Vater der Liebe. Wir können dieses Merkmal der Ver-
gebung, d.h. der Verwandlung von Gift in Balsam, von Dreck in
Gold, von Zerstörung in Versöhnung, dialektisch nennen.
Das zweite Merkmal von Freuds Vater der Liebe ist kartesianisch: die
Zeugenschaft. Der Gott von Descartes fungiert als ein der Weltord-
nung äusserer Zeuge, der aber diese Ordnung letztinstanzlich garan-
tiert. Damit enstpricht er dem, was Lacan »den Anderen des Anderen«
genannt hat, einem Blick ähnlich – dem Blick des Gottvaters –, der
die Existenz rechtfertigt und garantiert, der das Universum heimisch
macht, der das Seiende vom Zufall befreit und es einem notwendigen
Schematismus einfügt.
Freuds Vater der Liebe ist wie derjenige von Hegel und von Descartes
ein Anderer des Anderen. Ein Anderer, der jenseits des Anderen die
Ordnung des Anderen gewährleistet. In diesem Sinne behandelt La-
can in L’envers de la psychanalyse den Ödipus stets als »einen Traum
von Freud«133, d.h. präzise als den manifesten Schauplatz des Traums,
den es zu entziffern gilt. Lacan bemüht sich um eine symptomale
Lektüre von Freuds Ödipus. Es gibt da in der Tat eine skandalöse
Wahrheit, die die »theologische« Natur dieses Mythos subvertiert und
die Lacans Freud-Interpretation zum Vorschein bringt. Sehen wir zu,
um welche Wahrheit es sich handelt.
In Mythos von Ödipus eröffnet die Tötung des Vaters den Abgrund
des Geniessens, und zwar des Geniessens der Mutter in dem doppel-
ten Sinne, dass Ödipus Iokaste nicht weniger geniesst als Iokaste
Ödipus. Auf dem Spiel steht ein Geniessen, das das Gesetz auslöscht,
die universellen Grenzen desselben überschreitet und das Subjekt in

95
den Tod, in den Abgrund des Geniessens mitreisst. Dies ist folglich
die erste Version, die uns Freud vom Vater gibt: der Vater des Geset-
zes und der Liebe, der uns vor einem zerstörerischen Geniessen be-
wahrt. Aber wie schon gesagt, ist dies für Lacan bloss der manifeste
Schauplatz von Freuds Diskurs. Es handelt sich darum zu sehen, wel-
che unerhörte Wahrheit im ödipalen Vater haust.

3.
DER VATER DES GENIESSENS

Der ödipale Vater ist der Index eines Gesetzes, ohne welches das Be-
gehren vom Geniessen aufgesaugt würde, ohne welches es in der
zerstörerischen und mitunter tödlichen Strömung des Geniessens un-
terginge. Der ödipale Vater ist der Garant des Gesetzes, der – wie die
Lacansche Doktrin des Namens-des-Vaters, die Freuds Vaterbegriff
aufnimmt und in eine strenge Begrifflichkeit übertragt, näher ausführt
– in seiner normativen Funktion das Begehren der Mutter und dasje-
nige des Kindes gemäss dem Prinzip der Kastration und der Differenz
organisiert. Darin besteht wesentlich die Funktion, die der Name-des-
Vaters zu übernehmen hat: das Subjekt vom Begehren der Mutter zu
trennen. Wir haben es hier mit einer Trennung zu tun, die zwei ver-
schiedene Wirkungen zeitigt: auf der Seite des mütterlichen Begeh-
rens das Festschreiben einer Grenze, die auf einen Verlust verweist
(der Sohn wird nicht das Objekt ihres Phantasmas sein, wird nicht je-
ner Stöpsel sein, der ihre Kastration beseitigt), und auf der Seite des
Subjekts den Einschnitt einer Spaltung, die das Begehren mit einer
Unmöglichkeit schlägt (das Subjekt ist gespalten, fi, weil es das Be-
gehrte weder haben noch sich zu eigen machen kann und weil es
nicht der Phallus sein kann, der den Mangel des Anderen stopft).
Freuds Ausführungen zum Wesen des Vaters beschränken sich jedoch
nicht auf den ödipalen Vater der Liebe und des Gesetzes. In Totem
und Tabu stösst er nämlich jenseits des »theologischen« Vaters der
Liebe, der das Gesetz garantiert, auf den Vater der Urhorde, der tyran-
nisch über die Frauen verfügt und sie geniesst, auf jenen Vater also,
der ein Gesetz verkörpert, das keine Grenzen kennt. Der Vater ist
hier nicht der Signifikant, der sich – gemäss dem Gesetz der väterli-
chen Metapher – an die Stelle des mütterlichen Begehrens setzt und
ia.at
o@tur
© inf gestattet,
so die symbolisch-normative Organisation des Begehrens
96
sondern verkörpert einen schrankenlosen Drang nach Geniessen, der
den anderen nichts übriglässt. Er repräsentiert die rohe Gestalt desje-
nigen, der Reichtümer anhäuft und aufbegehrt, wo er gezwungen ist,
seine Güter zu teilen. Es gibt nur einen einzigen Mann, der sich aller
Frauen erfreut und der deshalb der Universalität des Gesetzes der Ka-
stration nicht unterworfen ist. Nur ein einziger. Dieser geniessende
Vater ist der unbewusste Mythos eines Gesetzes gegen das Gesetz, ei-
nes Gesetzes, welches das aller symbolischen Normierung feindliche
Geniessen befiehlt. Es handelt sich um die Tyrannei eines uneinge-
schränkten Geniessens, das absolut keine Grenzen kennt.
Lacans symptomale Lektüre von Freuds Ödipus kommt also zum
Schluss, dass sich die verborgene Wahrheit des ödipalen Vaters
gemäss der »Wiederkehr des Verdrängten« als der Vater der Urhorde
entpuppt. Es ist der mythische Vater des Geniessens, der das theolo-
gische Bild vom Vater der Liebe aus den Angeln hebt, indem er es
seiner zauberhaften Idealität beraubt. Wo der Ödipus-Mythos im Va-
ter als Ideal seine Erfüllung findet, da vollendet sich der Mythos von
der Urhorde in der Tötung des geniessenden Vaters, was die Errich-
tung des Gesetzes erlaubt. Im ersten Fall nimmt der Vater die Position
eines symbolischen Antagonisten hinsichtlich des Geniessens ein. Die
Tötung des Vaters reisst Ödipus nämlich in den Abgrund eines zerstö-
rerischen Geniessens. Im zweiten Fall ist es hingegen genau der Va-
termord, der das Geniessen bremst. Es ist der tote Vater, der die ima-
ginäre Rivalität unter den Söhnen in die Achtung vor dem Gesetz ver-
wandelt.
Dem Gesellschaftsvertrag – der sich also allein retroaktiv konstituiert
– liegt die Tötung des Vaters zugrunde. Er erlaubt jedoch nicht den
Zugang zum Geniessen der Mutter, sondern unterbricht vielmehr die
Tyrannei eines Geniessens ohne Gesetz.
In einem Abschnitt von L’envers de la psychanalyse spricht Lacan im
Hinblick auf den Mythos von Totem und Tabu in der Tat einmal von
der paradoxen Äquivalenz zwischen dem toten Vater und dem Ge-
niessen, und zwar in dem Sinne, dass der Vater strukturell bedingt ei-
nen Verlust, eine Begrenzung des Geniessens mit sich bringt. Das
symbolische Gesetz nämlich errichtet sich auf dem Grab des getöte-
ten Vaters. Der Vatermord eröffnet so nicht nur den Weg zum Genies-
sen, wie Lacan schon im Seminar VII über die Ethik der Psychoana-

97
lyse bemerkte, sondern führt vielmehr zu einer Erstarkung der Unter-
sagung zu geniessen.134
In Massenpsychologie und Ich-Analyse ging Freud in ziemlich rätsel-
hafter Weise von der mythischen Existenz einer ursprünglichen, ar-
chaischen Identifikation mit dem Vater aus, die der ödipalen Identifi-
kation vorherging. Eine absolut ursprüngliche Identifikation also,
eine Identifikation durch Verkörperung. Darin lässt sich eine Wieder-
aufnahme der Thematik der Homologie zwischen dem getöteten Va-
ter und dem Verlust an Geniessen erkennen, wie sie für Totem und
Tabu bestimmend war. Aus Lacanscher Sicht warf Freud in dieser
primären Identifikation mit dem Vater die Frage nach der Unterord-
nung des Geniessens unter die Gesetze der Sprache, unter die Aktion
des Signifikanten auf. Den Vater zu verkörpern bedeutet nämlich, die
Sprache zu verkörpern, das Geniessen zu negativieren, den Verlust,
die Leere des Seinsmangels in das Subjekt einzuführen. Nur vor dem
Hintergrund eines Verlustes an Geniessen, den die Universalität des
Signifikanten auferlegt, wird für das Subjekt die Konstruktion eines
singulären Geniessens möglich. Darin besteht zuletzt das Lacansche
Paradox des Phantasmas: einerseits wird es vom Gesetz des Signifi-
kanten hervorgebracht (von jener Negativierung des Geniessens, die
das Gesetz einführt) und andererseits ist es gleichsam aussergesetz-
lich, insofern das Geniessen wesentlich das ist, was sich ausserhalb
des Gesetzes ansiedelt, und lässt sich nicht auf den Signifikanten re-
duzieren. So wird das Phantasma zwar vom Ödipus und der Univer-
salität des Gesetzes der Kastration hervorgebracht. Zugleich aber ist
es eine Weise, jenen Verlust an Geniessen, den der Ödipus mit sich
bringt, wiederzuerlangen und zu kompensieren. Vor diesem Hinter-
grund lässt sich die Zweideutigkeit von Lacans Definition des Objek-
tes des Phantasmas, des Objekt (a) erklären. Er definiert es bald als
Leere und bald als Rest. Das Objekt (a) stellt insofern eine Leerstelle
dar, als es durch die Aushöhlung des Signifikanten produziert wird.
Das Objekt hat in der Psychoanalyse nur dann Gültigkeit, wenn es,
wie uns Freud gelehrt hat, verloren wurde. Zugleich aber verkörpert
es auch einen Rest, denn es ist allein vor dem Hintergrund dieses
Verlustes, dieser Entfernung des Geniessens vom Körper möglich,
den Verlust zu kompensieren bzw. zu ersetzen, indem sich genau im
Objekt (a) ein Mehr-Geniessen verdichtet, auf das das Subjekt nicht
.at
zu verzichten bereit ist. turia
© info@
98
Das Objekt (a) lässt sich als ein Vorsprung, als eine singuläre Erhe-
bung definieren, die nicht auf die Universalität des Signifikantenge-
setzes abgeplattet werden kann (dies ist auch die weibliche Position,
die sich, immer noch im Singular, dem Gesetz des phallischen Ge-
niessens als Nicht-Alles, als das, was sich nicht auf die Universalität
reduzieren lässt, widersetzt). Lacan behauptet im Grunde die Existenz
eines Begehrens, das an das Andere des Begehrens gebunden ist,
und insofern mit dem Anspruch auf Anerkennung (»Begehren des
Anderen«) zusammenfällt. Zugleich geht er aber von einem Begehren
aus, das als »absolute Bedingung« fungiert. So ist die uneinge-
schränkte Macht des Begehrens mit der uneingeschränkten Macht des
Objekt (a) identisch, das genau deshalb »Objekt-Ursache des Begeh-
rens« genannt wird. Ein anti-dialektisches und determinierendes Ob-
jekt, das sich ausserhalb der symbolischen Vermittlung befindet. Ein
einzigartiges, singuläres und, wie Lacan behauptet, zugleich losgelö-
stes Objekt, das die Aufhebung des Subjekts im universellen Gesetz
des Anderen scheitern lässt.

4.
JENSEITS DES ÖDIPUS

Der Moses von Freud ist ebenfalls der Vaterthematik gewidmet, dem
Vater seines Volkes, dem Vater der Tradition und dem Vater des Ge-
setzes.
Die Hypothese, die das Freudsche Werk leitet, besagt, dass Moses
nicht Einer ist. Moses, der Vater der hebräischen Religion des Mono-
theismus, ist vielmehr Zwei. Er ist gespalten. Es gibt da den ägypti-
schen Moses, den Gesetzgeber, der, rational und entschieden, eine
Art kosmologischen Monotheismus aufrechterhält, wonach das ganze
Universum um die Göttlichkeit der Sonne, die ihn mit Energie be-
strahlt, kreisen soll. Er ist der »Moses-Ikhnaton«, der die Vernunft des
Monotheismus gegen die politheistische Vervielfältigung der Religio-
nen und der Götter, die in Ägypten so verbreitet war, verteidigt.
Aber es gibt da auch den »Moses vom Sinai« und der Gesetzestafeln,
der sich Gottes Schweigen öffnet, den »inspirierten und obskurantisti-
schen« Moses, wie Lacan sagt.
Freud nun behauptet – ungeachtet der historisch-philologischen
Glaubwürdigkeit –, dass der ägyptische Moses von seinem Volk er-
99
mordert wurde. Und er sagt weiter, dass diese Tötung das Fundament
insbesondere der hebräischen Religion, in einem zweiten Schritt aber
auch der Passion Christi bildet, jenes äussersten Opfers – das Opfer
des Sohnes –, das dargebracht wird, um die Schuld mit dem ur-
sprünglichen Vater zu begleichen. Wie man sieht, entspricht diese Lo-
gik derjenigen von Totem und Tabu: die Tötung des Vaters führt zur
Errichtung eines Gesetzes, weil sie ein Schuldbewusstsein erzeugt.
Ausgehend von diesem »ursprünglichen Drama« entsteht der Gottva-
ter des Monotheismus. Es handelt sich dabei um eine paradoxe Ent-
stehung, weil der Gottvater sich aufgrund von Gottes Tod erzeugt.
Sowohl für Freud als auch für Lacan ist Gott tot (Dieu est mort, et
mort depuis toujours*, »Gott ist tot für uns, und er ist es seit jeher«135),
weil am Ursprung der Nicht-Ursprung des Verlustes des Dinges steht.
Es gibt da einen Verlust eines ursprünglichen Ursprungs. Darin be-
steht die Wirkung des Stosses*, den Freuds Moses bewirkt: er hinter-
fragt den Vater seines Volkes, den Ursprung seiner eigenen Ge-
schichte, um anstelle des Ursprungs auf die Teilung, die Spaltung zu
treffen, um die Grundlosigkeit, das Nicht-Eins, den Abgrund zu ent-
decken.136
Der von Moses verkörperte Ursprung teilt sich, erleidet eine Verschie-
bung, offenbart ein prismatisches Antlitz. Die Freudsche Rekonstruk-
tion landet durchaus nicht bei einem reinen, von den metaphori-
schen Überlagerungen unbeschadeten Ursprung, sondern bei einem
Verlust, bei einem Tod, einer ursprünglichen Leere, die, wie es Mas-
simo Cacciari auf den Punkt gebracht hat, »jedwede Handlung, die
ein Zentrum, einen Text, einen Ursprung wiederherzustellen ver-
sucht, zum Scheitern verurteilt«. Es handelt sich bei Freuds Moses also
um einen »vollkommen verzweifelten« Text, der die Geschichte des
Vaters als eine Trennung, Teilung und Versetzung beschreibt.137 Als
ein Sich-Verlieren, das sich anders als in Hegels Philosophie in keine
Identität verwandelt, und zwar deshalb nicht, weil es ein unmögli-
ches Unterfangen ist, vom Exil ins Vaterland heimzukehren und den
Traditionsverlauf bis an seinen Anfangspunkt zurückzuverfolgen. Der
Exodus ist in der Tat die Bedingung der Ek-sistenz. Darin liegt die
zentrale Bedeutung, welche die Freudsche Methode, die in der Tex-
tur des Moses zum Ausdruck kommt, der Kategorie der Entstellung*
beimisst, wobei »Entstellung« gemäss ihrer Wurzel weniger auf die
.at
Veränderung der Form (»Deformation«) als auf eine Ortsveränderung turia
© info@
100
(»Dislokation«, »Verschiebung«) verweist: »Es sollte nicht nur bedeuten:
in seiner Erscheinung verändern, sondern auch an eine andere Stelle
bringen, anderswohin verschieben«.138 Es ist bestimmt kein Zufall,
dass Freud diese Kategorie in der Traumdeutung einführte, um das
Wesen der Traumarbeit zu definieren, die auf der Tätigkeit der Zen-
sur beruht, die aber zugleich durch die Unmöglichkeit gekennzeich-
net ist, eine vollkommene Auslöschung des verdrängten Triebele-
mentes zu realisieren. Entstellung* meint Deformation und Disloka-
tion. Wir haben es hier mit einer metamorphotischen Bewegung der
Wahrheit zu tun, die, wenn auch verschoben/aufgeschoben
(differita), immer wieder an Orten auftaucht, die sich von denjenigen
unterschieden, aus denen sie ursprünglich fortgejagt wurde.
Genau diese Durchstreichung des Ursprungs, die folgerichtig aus der
Signifikantenlogik folgt und bei Freud in dieser neuen Version der
Entstellung* wiedergefunden werden kann, führt Lacan in L’envers de
la psychanalyse dazu, über ein mögliches Jenseits des Ödipus zu re-
flektieren.
Der ursprüngliche Vater ist seit Totem und Tabu und bis hin zum Mo-
ses stets der tote und getötete Vater. In diesem Sinne begreift Lacan
den Vater als von Anfang an kastriert.139 Dies ist die reale Dimension
des Vaters, die, wie Lacan präzisiert, an die Unmöglichkeit gebunden
ist, das Geniessen vor der Aktion des Signifikanten und der durch die
Sprache eingeführten Negativierung zu bewahren. An die Unmöglich-
keit, sich im Anderen vermöge einer wechselseitigen Vervollständi-
gung, die keinen Rest übrig lässt, zu verwirklichen.
Totem und Tabu und der Moses sind Texte, die sich gegenseitig
durchdringen. Der Kernpunkt dieser beweglichen Nähe ist das Bild
des toten Vaters, das die Religion mit der Psychoanalyse teilt (es ist
nicht Freud, sondern Lacan, der diese Wahrheit entdeckt): die Idee,
dass der Verlust ursprünglich und das Ding von Anfang an tot ist. Im
Freudschen Mythos der Urhorde, der dann auch den Moses durch-
quert, ist der Vatermord das primordiale Ereignis, das den Kult, das
Opfer und die Schuldgefühle, für die Religion allesamt entscheidende
Motive, gebiert. Vor dem Hintergrund eines Verlustes, einer ursprüng-
lichen Leere strukturieren sich die religiösen Riten. So befasst sich die
Psychoanalyse mit der Auswirkung des Signifikanten auf das Ding,
mit der Durchstreichung desselben, was zur Spaltung des Subjekts
führt. Damit zeigt sich, dass der Vatermord das Geniessen nicht be-

101
freit, sondern ihm umgekehrt eine symbolische Begrenzung auferlegt
(d.h. die Geburt des Freudschen Mythos vom Totem und vom Tabu).
Die Religion macht sich nach Lacan an der Leere des Dinges in einer
Weise zu schaffen, die er im Seminar über die Ethik der Psychoana-
lyse als eine Strategie der Verleugnung entlarvt. Die Verleugnung war
es nach Freud, die das religiöse Verhalten und die Zwangsneurose
gemein haben. Die Religion macht so den Begriff der Ursache gel-
tend, aber freilich nur als »Zweckursache«: es ist Gott, der dem
Schicksal des Subjekts die Richtung vorgibt und es gemäss einem Ge-
setz, das mit seinem eigenen Willen zusammenfällt, vorantreibt. Es
handelt sich um eine teleologische Ethik, in der sich die Handlung
des Subjekts am Ziel bemisst, das der göttliche Befehl auferlegt, und
sich dem Willen des Anderen anpasst.
Die Psychoanalyse verfolgt statt dessen das Ziel, sich dieser Leere an-
zunehmen: eine ethische Annahme, die in Freuds berühmtem Satz
Wo es war, soll Ich werden* widerhallt. In diesem Sinne vertritt die
Psychoanalyse einen Begriff der Ursache, der ganz an das Objekt (a)
gebunden bleibt: die materielle Ursache (»Stoffursache«). An jenes
Objekt also, welches das Begehren in den Netzen der Wiederholung
fixiert.

.at
o@ turia
© inf
Wahnsinn und Struktur

1.
DIE STRENGE DER PSYCHOSE

In den nordamerikanischen Vorträgen konstatierte Lacan bei sich


selbst die Strenge der Psychose140 – eine Feststellung, die den Wahn-
sinn paradoxerweise nicht auf der Seite des Chaos, des Mangels an
Denken oder der diskursiven Fragmentierung ansiedelt, sondern auf
der Seite der logischen Strenge. Wir haben es hier mit einer Strenge
zu tun, die bis zum Äussersten geht, bis an ihren äussersten Punkt,
wo, am Rande der Logik, die Alterität des Wahnsinns erscheint. Eben-
dieser Wahnsinn, dem Lacan Tribut zollt, ist der Wahnsinn eines Den-
kens, das die Wahrheit erreichen können will und das deshalb der
unmenschlichen Anstrengung gleichkommt, die Wahrheit zu sagen,
sie sagbar zu machen, obwohl es, wie Lacan behauptet, »unmöglich
ist, sie ganz zu nennen«.141
Die Strenge des Psychotikers, auf die Lacan selbst Anspruch erhebt,
entspricht also der tragischen Leidenschaft für die Wahrheit, für jene
Wahrheit, die sich dadurch, dass sie sich jeder Logik der Übereinstim-
mung von Wort und Gegenstand entzieht, nur in Gestalt des »Nicht-
Alles« zeigt, als Unmöglichkeit, die »Wahrheit über die Wahrheit« zu
verkünden. Die logische Strenge besteht entsprechend nicht darin,
aus diesem Nicht-Alles jene unaussprechbare Leere zu machen, deren
sich die Passion des Mystikers annimmt, sondern im Versuch ihrer
Mathematisierung. »Der Gewinn der Analyse besteht darin, aus dem
Loch ein Mathem gemacht zu haben, während die Mystik zuvor ihren
Beweis nur deshalb erbrachte, um aus ihm das Unsagbare zu ma-
chen.«142
Lacan hat deshalb durchaus keine negative Theologie im Sinn, weil
er das Reale (die dem Symbolischen innewohnende Leere) nicht in

103
das Reich des Unsagbaren verbannt. Vielmehr muss das Unsagbare
die Wissenschaft da befruchten können, wo es darum geht, die My-
stik des Schweigens in eine Logik des Unmöglichen zu verwandeln.
Der Wahnsinn lehrt mit der ihm eigenen Strenge, dass die Wahrheit
nicht in der adaequatio intellectus et rei liegt. Die Bemühungen des
Wahnsinnigen gehen umgekehrt gerade dahin, die Realität der eige-
nen Aussage anzupassen. Damit versucht er zu beweisen, dass seine
Aussage von der Realitätsprüfung unabhängig ist. Auf dieselben, im
eigentlichen Sinne logischen Bemühungen treffen wir auch in Freges
Schrift Über Sinn und Bedeutung und in den Logischen Untersuchun-
gen von Husserl, und zwar da, wo sie versuchen, die Bedeutung vom
Sinn zu lösen, den reinen, nicht-psychologischen, transzendentalen
und selbstbezüglichen Wert der Bedeutung von den semantischen
und naturalistischen Veränderungen des Bewusstseinslebens zu tren-
nen. Wenn also Lacan von der eigenen Strenge der Psychose spricht,
vereinigt er letztlich die Radikalität der psychotischen Aussage mit
derjenigen der Logik: eine theoretische und existenzielle Unangepas-
stheit des logischen Denkens, jener Kluft ähnlich, die das Leben des
Wahnsinnigen von der kanonischen Ordnung der Dinge, wie sie die
doxa aufstellt, trennt.
Lacans Beharren auf der zentralen Bedeutung des Mathems und der
logischen Formalisierung hat zum Ziel, diese unmögliche Konvergenz
zwischen Symbolischem und Realem zustande zu bringen und
Punkte von logischer Gewissheit zu konstruieren, die übertragen
werden können und deshalb in der Lage sind, die Praxis der Psycho-
analyse wirksam auszurichten. Die Strenge des Wahnsinns kann, wie
bei Rimbaud oder Joyce, den Weg des Schreibens/der Schrift (scrit-
tura) einschlagen. Es handelt sich darum, die Übung des Schrei-
bens/der Schrift mit Strenge bis an den Punkt der impasse voranzu-
treiben, bis zur äussersten Grenze. Diese Konsequenz führt Rimbaud
und Joyce auf verschiedene, wenn auch letztlich übereinstimmende
Art und Weise bis an jenen Punkt, an dem sich der Signifikant als
reine Marke zu erkennen gibt, als Spur, als ideogrammatische, ver-
buchstäblichte und absolut unentzifferbare Einschreibung, die sich
ausserhalb des Sinnes ansiedelt. Dergestalt wird der Automatismus ei-
ner Sprache sichtbar, die das psychologische Subjekt aus den Angeln
hebt und es auflöst. In diesem Sinn bedeutet die Schrift für Lacan
eine Reduktion des Signifikanten auf den Buchstaben: ia.at
turver-
© inder
fo@Sinn

104
schwindet in der asemantischen Marke des Buchstabens, wird von
ihm absorbiert und verschluckt. Das ist es auch, was Lacan am ideo-
grammatischen Buchstaben der Japanischen Sprache fasziniert, der
wie die logische Formalisierung das imaginäre Gleiten des Sinnes auf
ein Mindestmass – bis hin zu seiner Auslöschung – zu reduzieren ver-
mag. Darin liegt auch die äusserste Konsequenz von Lacans Denken,
jenseits der barocken Hülle, von der es umgeben ist: im Bestreben,
die Grundbegriffe der Psychoanalyse auf den Knochen zu reduzie-
ren, sie so weit als möglich zu vereinfachen und sie, weit entfernt
von jedweder Psychologisierung, mathematisch zu formalisieren. Da-
bei muss die Psychoanalyse aber nichtsdestoweniger bemüht sein,
die stets exzentrische Irreduzibilität des Singulären zu bewahren, d.h.
letztlich die Singularität des Subjekts als das, was stets ein Loch, eine
Leere hinterlässt und die Totalität der Formalisierung mit dem Effekt
einer Unvollständigkeit schlägt.

2.
VIER THESEN VON LACAN ZUM WAHNSINN

Derrida hat uns gezeigt, dass Freuds Brust von wenigstens zwei sich
widersprechenden Seelen bewohnt war: von der positivistisch-meta-
physischen Seele, die das Andere des Wahnsinns auf das Selbe der
Vernunft zu reduzieren versucht und die, wie Foucault in seiner Des-
cartes-Interpretation herausgestellt hat, die Abgründigkeit des Wahn-
sinns dadurch in das Gehege der Vernunft pfercht, dass sie den
Wahnsinn zum Objekt einer wissenschaftlichen Psychopathologie
macht. Und von jener anderen Seele, die ihn dazu drängt, sich in ein
Gebiet vorzuwagen, das, von der klassischen Vernunft der Philoso-
phie und der wissenschaftlichen Psychologie unbewohnt, durch die
radikale Alterität des Wahnsinns definiert wird. Diese letztere ist
Freuds antireduktionistische Seele, die sich jenseits von Positivismus
und Humanismus ansiedelt, die allen rationalistischen Kolonialismus
des Wahnsinns hinter sich lässt und die, wie Derrida schreibt, die ei-
genen Begriffe und die eigene Sprache dem Geheimnis des Wahn-
sinns anpasst und ihm eine unerhörte Hospitalität gewährt.143
Gemäss Derridas und Foucaults Urteil (von jenem Foucault, der
Wahnsinn und Gesellschaft verfasste) sind dies im wesentlichen die
beiden Seelen von Freud, die ihn hinsichtlich des abendländischen
105
Diskurses über den Wahnsinn in einer Grenzstellung – auf einer »Ran-
dung« – verorten: zugleich Versuch, den Wahnsinn in objektivieren-
den Kategorien einzusperren, und Rückkehr zum Wahnsinn, d.h.
Rückkehr zur abgründigen Dimension des Unbewussten, die den hu-
manistisch-aufklärerischen Subjektbegriff zugleich subvertiert und
übersteigt.
Im Verlaufe der folgenden Seiten werde ich versuchen, das Wesentli-
che des Lacanschen Diskurses über den Wahnsinn herauszuarbeiten,
indem ich nicht weniger als vier grundlegende Thesen formuliere, die
zum Ziel haben, Lacans Rückkehr zu Freud als einen Weg durch den
Wahnsinn hindurch zu erläutern und zusammenzufassen – vier The-
sen, die zugleich vier verschiedene Seelen des Lacanschen Diskurses
zutage fördern: die »exisistenzialistische Seele«, die ihn veranlasst, die
ethische Relevanz des Verhältnisses von Wahnsinn und Freiheit be-
sonders zu betonen; die »spinozistisch-hegelianische« Seele, welche
die universale Funktion des Symbolischen hervorhebt und den Wahn-
sinn als einen Widerspruch auffasst, der sich dieser versöhnenden
Funktion widersetzt; die »freudianisch-strukturalistische« Seele, wel-
che den Wahnsinn als hervorgebracht durch das fundamentale Feh-
len der signifikanten Intervention begreift, was damit zusammen-
hängt, dass der Signifikant des Namens-des-Vaters seine ödipale
Wirksamkeit nicht zu entfalten vermochte; und zuletzt die »nihilisti-
sche« Seele, die Lacan dahin führen wird, den Anderen als inkonsi-
stent zu konzipieren und den Wahnsinn als eine allgemeine Dimen-
sion der menschlichen Erfahrung zu begreifen.

3.
ERSTE THESE: WAHNSINN UND FREIHEIT

Im Vortrag über die psychische Kausalität finden wir bei Lacan eine
radikale Stellungnahme zur Wahrheit des Wahnsinns: »Und das Sein
des Menschen kann nicht nur nicht ohne den Wahnsinn begriffen
werden, sondern es wäre nicht das Sein des Menschen, trüge es nicht
in sich den Wahnsinn als Grenze seiner Freiheit.«144
Worin besteht die Bedeutung dieser These? Sie liegt v.a. darin, dass
für Lacan der Wahnsinn konstitutiv für die Subjektivität als solche ist.
Im Gegensatz zum Paradigma einer reduktionistischen Psychologie .at
turia
info@ Ver-
konzipiert er den Wahnsinn nicht als Entkräftung,©Verwirrung,
106
lust, Defekt, Funktionsstörung oder Entfremdung des Subjekts. Eben-
sowenig begreift er ihn als mögliches Schicksal des Menschen, als
eine negative Möglichkeit, die der conditio humana als solcher zu-
gehört, als ein fundamentales Scheitern der Existenz, wie er sich in
der Perspektive der phänomenologischen Psychologie von Jaspers
und Binswanger darstellt.145
Lacan ist hier wirklich radikal, weil er den Wahnsinn als eine zwin-
gende Definition der menschlichen Subjektivität, als notwendige Be-
dingung für das menschliche Sein betrachtet: »Der Mensch kann nicht
ohne den Wahnsinn begriffen werden«. Oder genauer: Er verbindet
den Wahnsinn mit der Freiheit; er bestimmt, anders gesagt, den
Wahnsinn als Ausdruck der Freiheit des Menschen. Freilich nicht im
naiven Sinne, dass der Wahnsinn mit der Befreiung zusammenfällt –
das wird die Perspektive sein, die in verschiedener Hinsicht von ge-
wissen Strömungen der Antipsychiatrie und insbesondere von De-
leuze und Guattari in ihrem gemeinsam verfassten Buch Anti-Ödipus
vertreten wird –, sondern vielmehr in dem Sinne, dass der konstitu-
tive Mangel der menschlichen Existenz die entscheidende Vorausset-
zung für die Freiheit des Menschen darstellt. Aus dieser Perspektive
ist der Wahnsinn weder mit einem Verlust an Subjektivität noch mit
einer minderwertigen Abweichung vom normalen Lebenspfad gleich-
zusetzen. Er kennzeichnet umgekehrt den Seinsgrund der Existenz
als solcher, der sich jeder definitiven ontologischen Klärung, jeder
Reduktion der von ihm ausgehenden Beunruhigung auf das täu-
schende Gleichgewicht einer repräsentativ organisierten Ordnung
des Bewusstseins entzieht.
Der Einfluss der Existentialanalytik, den Heideggers Sein und Zeit
und v.a. auch Sartres Das Sein und das Nichts auf diese These aus-
geübt haben, ist unleugbar: das Subjekt ist wahnsinnig, d.h. es ist
schwindelerregend frei; es ist nicht Herr seines Grundes, sondern of-
fenbart am Grunde der Existenz eine fundamentale Enteignung, die
es seit jeher aus dem sicheren Reich des Einen verbannt. Der Wahn-
sinn fällt insofern mit der Freiheit zusammen, als nur ein Subjekt, das
nicht der Grund seiner selbst ist, das kein ens causa sui, keine auf
sich selbst gründende Substanz ist, die Möglichkeit hat, die Erfahrung
der Freiheit zu machen. Die Abwesenheit jeder Existenzgrundlage
stellt in der Tat die strukturelle Voraussetzung für die Möglichkeit der
Freiheit dar, weil sie – um es mit jenen Begriffen zu sagen, die Lacan

107
später, im Verlaufe des Seminar XX, genauer herausarbeiten wird –
das Reich der Notwendigkeit von jenem des Zufalles trennt. Dies ist
die wichtige Lektion des Existenzialismus, die die Lacansche Interpre-
tation des Wahnsinns in Vortrag über die psychische Kausalität inspi-
rierte: der Wahnsinn offenbart den Menschen als grundsätzlich freies
Wesen, d.h. als ein von allem Grund freies und verlassenes Wesen in
der Welt. Genau in diesem Sinn ist die Gefahr des Wahnsinns also mit
dem schwindelerregenden Risiko der Freiheit identisch, mit dem Ri-
siko nämlich, mit Strenge und bis zu den äussersten Konsequenzen –
bis zur »Grenze«, schreibt Lacan – das Un-begründete, Grundlose, Zu-
fällige und Irreduzible der Freiheit einzulösen. Die Konsequenzen
sind: Vereinzelung, Verstossung, Marginalisierung, Meidung und Aus-
löschung, die Foucault allesamt in Wahnsinn und Geschichte heraus-
streicht als historisch-materielle Produkte der Ausschliessung des
Wahnsinnes aus dem homogenen und mit sich selbst identischen
Reich der Vernunft und ihres Anspruches auf Selbstbegründung.
Die Freiheit des Wahnsinnigen bedeutet, befreit zu sein vom Bedürf-
nis, das eigene Sein zu rechtfertigen, ein Bedürfnis, das nach Lacan
das Pathos des Neurotikers auszeichnet. Der Wahnsinnige verwirft
dieses Bedürfnis und befreit sich von diesem Pathos, indem er sich
aus den Maschen der Identifikation mit dem Ideal des Anderen löst,
auf die Rechtfertigung der eigenen Existenz verzichtet und sich in sei-
ner tragischen Freiheit bejaht.
In diesem allgemeinen theoretischen Rahmen von existenzialisti-
schem Zuschnitt begreift Lacan den Wahnsinn als eine ethische Wahl
des Subjekts. Eine Wahl, die das ganze Sein des Subjekts in Anspruch
nimmt (»jene unergründliche Entscheidung für das Sein«146); eine Ent-
scheidung, durch die sich das Subjekt den Gesetzen der Kultur und
dem Prinzip der symbolischen Vermittlung, auf dem diese beruhen,
widersetzt. Die vom Wahnsinn ausgeübte »Verführung des Seins«147
impliziert die Ablehnung »des Universellen, das in die Sprache einge-
schlossen ist« und isoliert präzise »die Bruchstelle, die das Individuum
im Netz der sozialen Ansammlungen besetzt«148: das Subjekt versucht
sich vom Anderen richtiggehend loszureissen, sich ihm zu entziehen
und die eigene Freiheit als etwas Absolutes geltend zu machen, in-
dem es sich dem symbolischen Tausch verweigert, den ihm der An-
dere auferlegt.
.at
o@ turia
© inf
108
Während Lacan mit der späteren Aufwertung des Automatismus des
Signifikanten die Stellung des Objektes, die vom psychotischen Sub-
jekt eingenommen wird, hervorheben wird, betont er in dieser ersten
These die Dimension der Gegenüberstellung von Subjekt und symbo-
lischem Gesetz, die der Wahnsinn aufweist. Mit der Rede von der »un-
ergründlichen Entscheidung des Seins« versieht Lacan die Wahl des
Wahnsinns mit den Konnotationen des Heidegger-Sartreschen Exi-
stenzialismus und setzt sie dem Opfercharakter des menschlichen Be-
gehrens entgegen.149 Wo Lacan diese These von der grundsätzlichen
Übereinstimmung von Wahnsinn und Freiheit formuliert, hat er
nichtsdestoweniger zum Ziel, den zutiefst menschlichen Charakter
der Erfahrung des Wahnsinns zu bewahren und den Wahnsinn all je-
nen brutalen Normalisierungspraktiken klinisch-juridischer und zoo-
logisch-nosographischer Klassifikation zu entziehen (darauf beruht
Lacans Kritik an der traditionellen Psychiatrie), in denen der Wahn-
sinnige seinen ethischen Status als Subjekt genau deshalb verliert,
weil ihm seine Entscheidungsfreiheit bestritten wird.150 So kommt es,
dass die konkreten Massnahmen zur Einschränkung, Absonderung
und Einfriedung des Wahnsinns schliesslich dazu führen, ihn aus dem
Register der subjektiven Freiheit auszuschliessen. Wie man sieht, ist
Lacans Perspektive in dieser Hinsicht der Foucaultschen Sicht keines-
wegs fremd: auf der Freiheit des Wahnsinnigen zu beharren, bedeutet
v.a., sich der Reduktion des Wahnsinns auf einen blossen pathologi-
schen Effekt einer deterministischen Kausalität zu widersetzen151, um
das Subjekt so davor zu bewahren, sich der Verantwortung zu entle-
digen, sich zu verdinglichen und zu einem Objekt der klinisch-wis-
senschaftlich-juridischen Manipulierbarkeit zu werden. Dies bedeutet
ebenfalls, es davor zu bewahren, dass es zu einem rechtlosen Subjekt
verkommt. Indem Lacan den Wahnsinn mit der Freiheit in Beziehung
setzt, betont er zugleich den ethischen und verantwortungsvollen
Charakter der Wahl, der »Entscheidung« des Subjekts für den Wahn-
sinn.152
Mit der Behauptung, dass der Wahnsinnige der freie Mensch sei, be-
kräftigt Lacan, dass der Wahnsinn konstitutiv für den Menschen ist.
Die Freiheit des Wahnsinnigen zurückzufordern, verlangt nach einer
Umkehrung des Urteils, das die klassische Vernunft dem Wahnsinn
angedeihen liess. In dieser Hinsicht folgt Lacan der Lektion von Mon-
taigne und von Pascal: der wahre Wahnsinn ist nicht derjenige der

109
Wahnsinnigen, sondern vielmehr der Wahnsinn jenes Denkens, das
beansprucht, mit sich selbst identisch und von allen Spuren der Alter-
ität gereinigt zu sein. Der wahrhaftige Wahnsinn besteht darin zu
denken, dass der Wahnsinn dem Menschen äusserlich sei; der wahre
Wahnsinn liegt in der Leugnung der Menschlichkeit des Wahnsinns.
In diesem Sinne wird das von Hegel vermittelte »Gesetz des Herzens«
für Lacan zur »allgemeinen Formel des Wahnsinns«, d.h. zum Index
für die (wahnhafte) Schwärmerei des Subjekts für sich selbst.153 La-
cans Ausführungen nehmen Ausgang von der Verkennungsfunktion,
die er als wesentliches Merkmal der imaginären Konstitution des Ichs
(moi) näher bestimmt, im Sinne eines »wahnhaften Glaubens«, der
grundlegend ist für die virtuelle Identität des Menschen mit sich
selbst. Noch einmal interessiert sich also Lacan dafür, den allgemein-
gültigen und universellen Charakter des Wahnsinns hervorzuheben,
weil die Verkennungsfunktion, die er dem Ich (moi) zuschreibt, nicht
nur besagt, dass sich das Ich immer als ein anderer sieht, dass es sich
für etwas anderes hält, als es ist.154 Viel wichtiger ist der Umstand,
dass es sich als eine ungeteilte Identität setzt, als ein blosser – und
zwar wahnhafter – Glaube an das eigene »ein Ich sein«. Die Verken-
nung von Seiten des Ichs ist wahnsinnig genau deshalb, weil es die
eigene Abhängigkeit vom Anderen verkennt und sich selbst dadurch,
dass es die Freudsche Subversion des Subjekts auf den Kopf stellt, als
»Herr im eigenen Hause« wähnt: »il se croit«, »es bildet sich was ein«,
»(...) das Subjekt hält sich für das, was es ist« (“Il ›se croit‹, le sujet se
croit en somme ce qu’il est«*).155
Der Wahnsinn lässt ein allgemeines Wesensmerkmal des Menschen
hervortreten, das im Drang, in der Leidenschaft für das eigene Bild
und im Haften an der idealen Konsistenz der eigenen Identität zum
Ausdruck kommt. Es handelt sich um den Drang nach dem Eins- und
Identischsein, der also das Sein des Menschen als solches betrifft, wo
umgekehrt die Tatsache, dass sich das Subjekt als Mangel, Spaltung,
»Sein-zum-Tode« anerkennt, die Möglichkeit einer Subversion des
Subjekts eröffnet, welche die trügerische (»schwärmerische«) Herr-
schaft des Ichs aus den Angeln hebt.
Der Wahnsinn des Menschen ist also nicht gleichbedeutend mit der
Vertiefung der für das Subjekt konstitutiven Spaltung, sondern viel-
mehr mit der äussersten Verleugnung derselben. Die Lacansche Um-
at
kehrung von Descartes bewirkt also mitunter folgendes: uria.
o@tWahn-
© infDer
110
sinn ist nicht die Unvernunft, die in bezug auf die Autorität der Ver-
nunft unvernünftige Äusserlichkeit der Wahnsinnigen (insanis, amen-
tes, dementes, wie sie Descartes nennt156); ganz im Gegenteil verbirgt
sich der Wahnsinn in der Vermessenheit des Ichs, sich für sich selbst
zu halten, der wahrhaftig wahnhafte Glaube daran, ein ungeteiltes
Eins zu sein. Der Wahnsinn, dieses Delirium der Identität, fällt präzise
mit dem Festhalten an der Identität zusammen, mit der Einbildung
des Ichs, nur »ich« selbst zu sein. In dieser ichhaften Gewissheit, in
dieser absoluten Gewissheit des Einen – Gewissheit des Selben, wel-
ches das Andere ausschliesst – kommt der rein narzisstische Charak-
ter des Wahnsinns des Ichs zum Vorschein. Die Feinheit von Lacans
Vortrag über die psychische Kausalität liegt darin, den Wahnsinn mit
der Einbildung der Vernunft, mit sich selbst identisch zu sein, gleich-
zusetzen und die Verkennungsfunktion des Ichs, das sich als sich
selbst gleich erkennt, als »allgemeine Formel für den Wahnsinn« zu
definieren. Der Ausschluss des Anderen, der hier angewandt wird, ist
– wie wir gleich sehen werden – für sich genommen die Ausschlies-
sung – die »Verwerfung«, wie Lacan später sagen wird – des Unbe-
wussten tout court, d.h. die Ausschliessung der Spaltung des Sub-
jekts. Darin besteht in der Tat das eigentümliche und klinische We-
sensmerkmal der Psychosen.
Die Auflehnung des Subjekts gegen die symbolischen Gesetze der
Kultur, gegen den Triebverzicht, den das Projekt der Zivilisation ihm
auferlegt, und gegen die Insignien der Identifikation, die der gemein-
schaftliche Andere für angemessen hält, bildet die Grundlage für die
vom Wahnsinnigen vollzogene Wahl der Freiheit. Anstatt nun aber
die Reflexionsachse hin zu den materiellen Verfahren der Einschrän-
kung, Normalisierung und Ausschliessung/Abtrennung des Wahn-
sinns zu verlagern, d.h. hin zum Wahnsinn als einem gesellschaftli-
chen Produkt, wie es in Foucaults Untersuchung zentrale Bedeutung
erlangt (eine Perspektive, die Lacan freilich nicht vernachlässigt, son-
dern vervollständigt, indem er die gesellschaftliche Dimension der
Krankheit mit der ethischen Dimension verbindet, d.h. mit der Ent-
scheidung des Subjekts für den Wahnsinn), wird sich Lacan in der
Folge bemühen, die Dramatik dieser Wahl der Freiheit aufzuzeigen,
die sich schliesslich ins Gegenteil ihrer ursprünglichen Absicht ver-
kehrt. Indem er das eigene Geniessen dem Gesetz des Anderen vor-
zieht und den Anderen als solchen ablehnt, indem er die vom Signifi-

111
kanten auferlegte Aporie umgeht, bestätigt der Wahnsinnige nichts
anderes als die Verdinglichung seiner Freiheit, als das beängstigende
Umschlagen der absoluten Freiheit in ein Leben, das dem Willen des
Anderen gänzlich unterworfen ist.
Wenn der Versuch einer Abtrennung (séparation) des Subjekts vom
Anderen auch auf dem Wert der Freiheit beruhen mag, den das Sub-
jekt dem Wahnsinn zuschreibt, so lehrt indessen die Behandlung der
Psychose, dass es im Wahnsinn zu keiner Begegnung mit der Freiheit
kommt, sondern dass das Subjekt nur auf die Fesseln des Anderen
trifft, die sich des Subjekts da umso stärker bemächtigen, wo es sich
weigert, sich mit diesem Anderen auf irgendeinen symbolischen Pakt
einzulassen.

4.
ZWEITE THESE: DER WAHNSINN ALS
AUSSCHLIESSUNG DES ANDEREN

Auf der einen Seite treffen wir also auf die »existenzialistische Seele«
Lacans, die ihn veranlasst, den Wahnsinn im Herz des menschlichen
Seins zu situieren. Die zweite Seele hingegen lässt ihn den Wahnsinn
als dramatischen Ausdruck einer Ausschliessung des Anderen begrei-
fen; eine anti-dialektische Ausschliessung des Anderen ohne Vermitt-
lungen, nicht im Sinne des spiegelbildlichen anderen (mit einem klei-
nen a), sondern v.a. des Anderen (mit einem grossen A) der symboli-
schen Intersubjektivität. Die Ausschliessung des Anderen – die für
sich genommen zugleich der Ausschluss des Unbewussten, d.h. der
subjektiven Spaltung ist – ist dergestalt für den Lacan des Seminar III
das eigentümliche und im eigentlichen Sinne klinische Wesensmerk-
mal der Psychose.157
Der Wahnsinn ist gleichbedeutend mit der Ausschliessung des sym-
bolischen Anderen im Namen einer imaginären Unmittelbarkeit des
mit sich selbst identischen Ichs. Die Verkennung verläuft vom Ich
zum Anderen; es handelt sich um die ichhafte Verkennung der Diffe-
renz vom Anderen. Der Wahnsinn entspricht in dieser Perspektive
nicht der Auflösung einer Identität, die nicht existiert (das Subjekt
nämlich ist strukturell gespalten), sondern vielmehr seinem Gegen-
teil, d.h. der Produktion einer monolithischen Identität – reine Iden- .at
turia
o@158
© inf
tität des Ichs ohne den Anderen, wahnsinnige Gewissheit – am
112
Platz des gespaltenen Subjekts. In dieser Feststellung liegt eine wei-
tere Möglichkeit, um die Lacansche Umkehrung von Descartes zu il-
lustrieren: es gibt keine ursprüngliche Identität, welche die Praxis des
rationalen Denkens leitet; der Wahnsinn ist keine Störung (Degrada-
tion, Degeneration, Funktionsstörung, Zersetzung) dieser Identität.
Seit seiner Dissertation zur Paranoia der Selbstbestrafung präzisiert
Lacan immer wieder, dass seine Konzeption des Wahnsinns sich we-
der auf »das Gefühl einer persönlichen Synthese (...) [gründet] noch
auf die psychologische Einheit, die das individuelle Bewusstsein stif-
tet«159, in dem Sinne, dass der Wahnsinn nicht als Zerstörung einer ur-
sprünglichen Identität des Subjekts, die sich als solche nie verwirk-
licht hat, betrachtet werden kann. Vielmehr steht der Wahnsinn für
eine Sinnerfahrung, die vom Überschuss gekennzeichnet ist und sich
also von jenem Sinnverlust unterscheidet, der nach dem Lacan von
Seminar XI den Eintritt des Subjekts in das Feld des Anderen beglei-
tet. Der Sinnüberschuss des Wahnsinns – für den Wahnsinnigen hat
alles Sinn, die Dimension des Nicht-Sinns wird, wie der Präsident
Schreber behauptet, aufgehoben – ist nicht das Ergebnis des Unge-
horsams des Subjekts gegenüber den (normativen) Gesetzen der
Sprache; er weist ganz im Gegenteil darauf hin, dass das sprechende
Subjekt von der Universalität der Sprache verschluckt wird. In der
Psychose betrifft die Aussage nämlich nicht das sprechende Subjekt,
sondern den Anderen. In diesem Sinn neigt das Wort des Psychoti-
kers zur Desubjektivierung. Die Gesetze der Sprache machen sich in
ihrem Reinzustand geltend. Die von aller Subjektivität entleerte Aus-
sage betrifft ausschliesslich den Anderen, so dass es also der Andere
ist, der den Platz des Subjekts des Aussagens (sujet de l’énonciation)
einnimmt. Es ist der Andere, der seine Nachrichten an das Subjekt
adressiert. In der verbalen Halluzination z.B. vernimmt das Subjekt
verschiedene Stimmen, wer aber durch die Stimmen spricht, ist nicht
das Subjekt, sondern der Andere.
Wie Lacan im Seminar III noch genauer ausführt, betrifft die grundle-
gende Störung, an welcher der Psychotiker leidet, eine tiefgehende
Veränderung der Dialektik der Sprache. Es ist nicht das Subjekt, das
spricht, sondern der Andere, der zum Subjekt spricht. Dem Wahnsin-
nigen ist also ein Sprechen eigen, das sich im Namen einer »negati-
ven Freiheit« der Anerkennung verweigert und einer wahnhaften
Sinnproduktion Platz macht, die nicht die geringste symbolische Ver-

113
ankerung im Anderen findet. Das Delirium entspricht in der Tat ei-
nem Sprechen, das in keine Dialektik mit dem Anderen eintritt, son-
dern sozusagen in sich selbst verschlossen bleibt. »Im Wahnsinn wel-
cher Art auch immer müssen wir einerseits die negative Freiheit eines
Sprechens anerkennen, das darauf verzichtet hat, sich anerkennen zu
lassen, also das, was wir ein Übertragungshindernis nennen, und an-
dererseits die Ausbildung eines einzigartigen Wahns – sei es nun fa-
belhaft, phantastisch oder kosmologisch, deutend, fordernd oder ide-
alistisch – das Subjekt in einer Sprache ohne Dialektik objektiviert.« 160
Die zentrale These, die Lacan im Verlaufe seiner Lehrtätigkeit in den
Fünfzigerjahren entwickelt, ist die, dass die Bedingung des Sprechens
der Anerkennung des Anderen bzw. in der Antwort des Anderen auf
das Sprechen des Subjekts liegt. Im selben Sinne ist es allein die Ein-
führung des Anderen, welche die symbolische Anerkennung des Be-
gehrens des Subjekts möglich macht. Die »Ausschliessung des Ande-
ren« hingegen hat den Einbruch eines imaginarisierten, endlosen, lee-
ren, anti-dialektischen Sprechens zur Folge, das genau deshalb
»darauf verzichtet hat, sich anerkennen zu lassen«, weil es auf dem
Ausschluss des Anderen beruht. In der Interpretation der Psychose,
die Lacan in Funktion und Feld und im Seminar III leistet, liegt die
Betonung in der Tat auf dem Ausschluss des Anderen im Sinne eines
Schnittes, eines Bruches, einer Durchtrennung des fundamentalen
Bandes, welches das Subjekt symbolisch an den Anderen bindet, wo-
nach also der Wahnsinnige derjenige ist, der dieses Band gewaltsam
kappt. Man sollte sich hier die paradoxe Überlagerung von Wahnsinn
und Wissenschaft in Erinnerung rufen, die Lacan in Funktion und
Feld hervorhebt161. Das Paradox des Wahnsinns ist dem Paradox der
Wissenschaft ähnlich, weil bei beiden die Singularität des Subjekts
letztlich in einer Hypostasierung der Universalität ausgelöscht wird.
Obwohl sie einander entgegengesetzt scheinen, lassen Wahnsinn und
Wissenschaft da eine beunruhigende Kontinuität erkennen, wo sie
zur Produktion der Entfremdung des Subjekts beitragen: der Wahn-
sinn trägt dazu bei, indem er die Vermittlung durch den Anderen aus-
schliesst, während die Wissenschaft die Vermittlung durch das Sub-
jekt im Namen seiner totalen Objektivierung ausschliesst. Beide
führen dazu, dass die symbolische Dialektik zwischen dem Subjekt
und dem Anderen unterbrochen wird – der Wahnsinn, weil er ein
turi a.at
Subjekt ohne Anderen affirmiert und den Anderen ausschliesst;
info@ die
©
114
Wissenschaft, indem sie einen Anderen ohne Subjekt affirmiert und
das Subjekt ausschliesst.
Im Wahnsinn hat das Sprechen auf die Anerkennung durch den An-
deren verzichtet. Dieser Bruch mit der Dialektik der Anerkennung hat
für den Wahnsinnigen die Einengung seines Lebenshorizontes auf
das tragische Spiegelspiel mit seiner wahnhaften Identität zur Folge.
Die subjektive Funktion des Sprechens – des Sprechens des Subjekts
des Unbewussten, des vollen Sprechens für den Lacan von Funktion
und Feld – verschwindet. Das Sprechen entleert sich genau in dem
Masse, wie das »narzisstische« Subjekt sich weigert, auch nur ein Frag-
ment seiner wahnhaften Identität dem Einfluss des Anderen zu über-
lassen. Das Sprechen löst sich immer mehr vom Begehren des Sub-
jekts und beginnt sich direkt des Ichs zu bemächtigen. Wenn sich das
Sprechen auf diese Weise entleert, wenn es auf die Vermittlung durch
den Anderen verzichtet, so wird sich das Ich in seiner schwärmeri-
schen Exaltation vermehrt mit sich selbst ausfüllen, um seinen Iden-
titätswahn aufrechtzuerhalten. Dergestalt fällt das Höchstmass an
Subjektivität und Freiheit, das der Wahnsinnige für sich in Anspruch
nimmt, mit einem Höchstmass an entfremdeter Universalisierung des
Subjekts, d.h. mit der grösstmöglichen Trennung von Singularität und
Universalität zusammen.
Was das Paradox der Wissenschaft anbelangt, so löst sich die Singula-
rität des Subjekts ebenfalls von der symbolischen Universalität des
Paktes mit dem Anderen. Das Subjekt droht zuletzt in einer Universa-
lität verschluckt zu werden, die in keiner humanisierenden Bezie-
hung mehr mit der Singularität des menschlichen Subjekts steht. Das
Subjekt wird zu einer blossen Maschine, die aufeinander folgende
Aussagen von sich gibt, die in keinem subjektiven Sprechen mehr
verankert sind. Wir haben es hier mit dem Paradox einer Sprache
ohne Subjekt zu tun. Der Wahnsinn verbindet sich somit mit jener
Wissenschaft, die ausgerechnet ihm das Bürgerrecht für das Land der
Vernunft bestreitet. In der Tat konstituiert sich die Wissenschaft auf-
grund einer Auslöschung des subjektiven Sprechens. Sie macht es zu-
nichte und reduziert es auf eine Störung des universellen Diskurses
der Wissenschaft. Sie verwirft es. Das Sprechen des Subjekts ver-
schwindet und wird durch die universalen Kategorisierungen des
wissenschaftlichen Geistes ersetzt, der freilich, um es mit dem Hus-
serl der Krisis zu sagen, der Verankerung in der Lebenswelt notwen-

115
dig verlustig geht. Die Singularität des Subjekts macht den universel-
len Protokollen der Wissenschaft Platz.
Durch die Überlagerung von Wahnsinn und Wissenschaft wird das
Paradox des Wahnsinns als das Paradox der totalen Unabhängigkeit
der Sprache vom subjektiven Sprechen konzipiert. Das kann, wie La-
can sagt, soweit gehen, dass in der Psychose – wie in der Wissen-
schaft – das Subjekt keinen Zugang mehr zur Funktion des Sprechens
hat, so dass es umgekehrt von der Sprache gesprochen und zu einem
Automaten im Feld der Sprache wird. Es ist nicht mehr das Subjekt,
das spricht; es ist vielmehr der Andere, von dem es gesprochen
wird.162
Das bedeutet folgendes: Während das neurotische Subjekt die Singu-
larität des eigenen Sprechens in einer dialektischen Spannung zur
Universalität der Sprache aufrechterhält, wird die Funktion des sub-
jektiven Sprechens beim Psychotiker indessen gleichsam von den rei-
nen und allgemeinen Gesetzen der Sprache überflutet, absorbiert und
zunichte gemacht in jenem Feld der Sprache, das zugleich das Feld
des Anderen ist. Die Entfremdung (aliénation) in den Gesetzen der
Sprache setzt sich in erdrückender Weise gegen die Trennung (sépa-
ration) des Subjekts vom Anderen durch. Es bleibt am Ende nur die
Entfremdung ohne Trennung.
Wie man sieht, ist die Perspektive, die Lacans Überlegungen hier be-
stimmt, in herausragender Weise dialektisch. Die Psychoanalyse ist
eine dialektische Erfahrung, welche die Aufgabe verfolgt, die Univer-
salität des Diskurses mit der Singularität des Subjekts zu versöhnen,
wobei der Wahnsinn für das Scheitern dieser Integration steht.
Diese Vorstellung von Wahnsinn als einem Verbissensein in die Sin-
gularität, die eine totale Entfremdung in der Universalität nach sich
zieht, steckt den allgemeinen theoretischen Rahmen des Seminar III
ab. Lacan geht daselbst davon aus, dass in der Psychose das Unbe-
wusste von aussen kommt und übersetzt damit die Freudsche An-
nahme, gemäss der das Unbewusste in den Psychosen »an der Ober-
fläche« sei. Was in der Psychose fehlt, ist in der Tat die symbolische
Wirksamkeit der Verdrängung. Deshalb kann Freud in seinem Kom-
mentar zum Fall des Präsidenten Schreber behaupten, dass »das in-
nerlich Aufgehobene von aussen wiederkehrt«. Diese Formulierung
veranschaulicht präzise die Wirkungen einer misslungenen Verdrän-
gung, und zwar deshalb, weil die Aufhebung, auf die i sich ia.at
@turhier
© nfoFreud
116
bezieht, kein mit der Verdrängung vergleichbarer Prozess ist. Es han-
delt sich nämlich nicht um eine Enstellung der Wahrheit als vielmehr
um das grundsätzliche Fehlen einer Einschreibung in das Symboli-
sche, um eine Verwerfung. Daraus wird Lacan seinen Begriff der
forclusion163 ableiten: in der Psychose »taucht im Realen wieder auf,
was verweigert wird in der symbolischen Ordnung«.164 Bezüglich die-
ses Unbewussten, das sozusagen von aussen wiederkehrt, bezüglich
dieses Unbewussten ohne Subjekt hat die strukturierende Markierung
durch die Verdrängung nicht stattgefunden. Die Veräusserlichung des
Unbewussten stellt sich als eine Form der absoluten Entfremdung
heraus. Das Subjekt des Unbewussten wird von einem Strudel von
imaginären Bedeutungen verschluckt, die nicht imstande sind, sich
gemäss den Gesetzen der Sprache zu ordnen: das Unbewusste be-
wohnt das Subjekt nicht im Sinne eines Diskurses des Anderen, son-
dern kehrt als verworfenes im Realen und also ausserhalb jeder Sym-
bolisierung wieder.165
Wie wir gleich sehen werden, gibt Lacan in Über eine Frage, die jeder
möglichen Behandlung der Psychose vorhergeht einen klaren
Überblick über eine Theorie, in deren Zentrum die Verwerfung
(forclusion) auf der Ebene des Anderen steht. Im Seminar III hin-
gegen ist der Schlüsselbegriff noch nicht derjenige der forclusion,
sondern vielmehr, wie wir gesehen haben, der Begriff der Ausschlies-
sung des Anderen. In den Mittelpunkt der psychotischen Erfahrung
stellt Lacan die Auflösung des Bandes zwischen dem Subjekt und
dem Anderen. Der Andere ist in jenem Sinn ausgeschlossen, dass es
für den Psychotiker unmöglich ist, aus dem narzisstischen Kreis, der
ihn im Bild seiner selbst, in seinem spiegelbildlichen Ebenbild ge-
fangenhält, auszubrechen. »Im wahren Sprechen ist der Andere das,
demgegenüber sie sich Anerkennung verschaffen. (...) Im wahren
Sprechen ist die Allokution die Antwort. (...) Im wahnsinnigen Spre-
chen ist der Andere wahrhaftig ausgeschlossen.«166 Dies bedeutet,
dass die vierfache Struktur, in der das Subjekt nicht nur von der ima-
ginären Beziehung durchquert wird, sondern sich auch in einer Be-
ziehung zum Anderen befindet, eine Art Symmetrisierung, eine Art
massgebender Verflachung erleidet, so dass sich das ganze Feld des
Subjekts auf eine Beziehung zu seinem eigenen Spiegelbild, das den
Ausschluss des Anderen mit sich bringt, reduziert. Dieser Umstand
wird von der berühmten Halluzination der »Sau!« bestätigt, an der

117
eine paranoische Frau leidet. In diesem Sinne »schliesst sich der
Schaltkreis über die beiden kleinen anderen – die ihr gegenüberste-
hende Marionette, die spricht und in der ihre eigene Botschaft wider-
hallt, und sie selbst, die als Ich/moi, immer ein anderer ist und durch
Anspielung spricht.«167
Die symbolisch-dialektische Dimension der Anerkennung wird so
überlagert von den Wirkungen des Bildes des anderen. Genau dies
zeigt sich in der Paranoia: der ideale andere wird zum verfolgenden
anderen, der jede Dialektik der Anerkennung unmöglich macht. An
die Stelle der symbolischen Funktion des Sprechens tritt die »ima-
ginäre Auflösung«, das Zerbröckeln der Weltordnung. In seiner sym-
bolischen Ausrichtung zunichte gemacht, kann das Sprechen direkt in
der Gestalt des halluzinatorischen Sprechens im Realen wiederkeh-
ren. Die Halluzination »Sau«, die von Lacan kommentiert wird, zeigt
sehr schön das Einbrechen des Signifikanten ins Reale. Es gilt hier
v.a. zwei Punkte hervorzuheben: einerseits wie das Subjekt, weit da-
von entfernt, die eigene Botschaft vom Anderen in umgekehrter
Form zu erhalten, im Realen, also gleichsam ausserhalb des Anderen
und der symbolischen Ordnung des Anderen, auf etwas stösst, das es
in seinem ganzen Sein betrifft und das sich enigmatisch an es adres-
siert; andererseits wie sich die sprechende Stimme dem Subjekt im
Sinn einer Stimme des anderen, als die Stimme des Anderen, der das
Subjekt destituiert, aufdrängt.
Die entscheidende theoretische Voraussetzung für die These, die Psy-
chose erfahre die Erscheinung in der äusseren Welt von etwas, das
nie symbolisert wurde, liegt in der Konzeption des Symbolischen als
eines Netzes, das die ganze Realität bedeckt (»es ist die ganze Rea-
lität, die von der Gesamtheit des Netzes der Sprache bedeckt wird«168).
Es handelt sich um eine Voraussetzung, die, wenn man so sagen
kann, eine gewisse Hegelianische Idealisierung des Symbolischen im-
pliziert, dergestalt dass sich der Wahnsinn im Subjekt als ein Effekt
des Scheiterns der dialektischen Versöhnung von Realem/Wirklichem
und Rationalem/Vernünftigem produziert, als ein Misslingen der Sym-
bolisierung, als das Produkt einer verfehlten Symbolisierung. »Im Ver-
hältnis des Subjekts zum Symbol gibt es die Möglichkeit einer ur-
sprünglichen Verwerfung, nämlich, dass etwas nicht symbolisiert ist,
das sich im Realen manifestieren wird.«169
.at
o@ turia
© inf
118
5.
DRITTE THESE: DIE »ÖDIPALE« THEORIE DES
WAHNSINNS

Was also aus der These der Psychose als Ausschliessung des Anderen
hervorgeht, ist eine gewisse begriffliche Zweideutigkeit zwischen
dem Anderen der Sprache und dem Anderen der intersubjektiven Be-
ziehung. »Der grosse Andere« ist, so behauptet Lacan im Verlaufe des
Seminar III, »der Andere der Intersubjektivität«.170 Diese Zweideutig-
keit in der Theorie geht auf Lacans Versuche in den frühen Fünfziger-
jahren zurück, die Rückkehr zu Freud mit der Wiederentdeckung der
dialektischen Verfassung der menschlichen Erfahrung zu verknüpfen.
Genau dieser dialektische Charakter der Erfahrung, wie er ausführlich
von Hegel erläutert und insbesondere von Kojève in seiner Relektüre
der Phänomenologie des Geistes herausgearbeitet wurde, wird näm-
lich beständig auf die Alterität des Anderen der intersubjektiven Be-
ziehung zurückgeführt.
In dem Masse aber, in dem Lacan der These über die Verwerfung und
die strukturierenden Funktion der väterlichen Metapher, die er voll-
ständig in Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psy-
chose vorhergeht formuliert, zentrale Bedeutung verleiht, erfolgt ein
epistemologischer Schnitt in bezug auf die Hypothese von dialek-
tisch-hegelscher Herkunft, die den Wahnsinn mit der Ausschliessung
des Anderen gleichsetzt. Betont wird von nun an die konstitutive
Mangelhaftigkeit des Anderen, das Fehlen eines grundlegenden Sig-
nifikanten im Anderen: das Fehlen des Namens-des-Vaters. Darin
liegt letztendlich der ganze Unterschied zwischen dem Seminar III
und Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose
vorhergeht. Die Spinozistisch-Hegelianische Seele Lacans macht
gleichsam der Freudianisch-Strukturalistischen Seele Platz. In der Per-
spektive der letzteren hängt die Definition des Funktionierens des
Subjekts in der Tat wesentlich davon ab, was strukturell im Anderen
geschieht, (»die Bedingung des Subjekts – schreibt er – hängt von
dem ab, was sich im Anderen abspielt«171), von einem Defekt, der den
Anderen betrifft, wobei »der Defekt, der die Psychose wesentlich be-
dingt und ihr eine Struktur gibt, die sie von der Neurose unterschei-
det, unserer Auffassung nach in einem Defekt dieses Registers und

119
dessen [besteht], was in ihm sich erfüllt, nämlich die Verwerfung des
Namens-des-Vaters am Platz des Anderen«.172
Jacques-Alain Miller173 hat in seiner meisterhaften Lektüre Lacans die-
sen Perspektivenwechsel, der genau dem theoretischen Übergang
von den Gesetzen des Sprechens (die an die dialektische Intersubjek-
tivität gebunden bleiben) zu den Gesetzen der Sprache (die an das
strukturelle Übergewicht des Signifikanten geknüpft sind) entspricht,
deutlich herausgestellt. Die Auswirkungen dieses Übergangs lassen
sich daran festmachen, dass die Funktion des Sprechens nun von der
Sprache abhängt. Der Begriff der Signifikantenkette stellt sich als zen-
tral heraus, und seine eigenständige Artikulation schränkt unvermeid-
lich die Funktion des Sprechens und die daraus folgende Definition
des Begehrens als ein Begehren nach Anerkennung in deren Bedeu-
tung ein (wie das Begehren des Subjekts vom Begehren des Anderen,
so hängt das Sprechen von der Antwort ab: diese beiden Dimensio-
nen – diejenige des Sprechens und der Antwort und diejenige des
Begehrens als Begehren des Anderen – sind gemäss Lacans früher
Lehre in einem einzigen Knoten miteinander verschlungen). In der
Signifikantenkette besitzt nicht mehr die dialektische Dimension des
Begehrens als Begehren des Anderen den Vorrang, sondern die Wir-
kung der konstitutiven Spaltung, die der Signifikant in das Subjekt
einführt, um es dadurch zu einem gebarrten, geteilten, gespaltenen
Subjekt zu machen, das durch eine Barre im Zentrum gekennzeichnet
(fi) und als Seinsmangel definiert wird, insofern es nichts anderes ist
als ein »Effekt des Signifikanten«.
Anders also als im Seminar III, wo Lacan noch die dialektische Funk-
tion des Sprechens und sein an den Ausschluss des Anderen gebun-
denes Scheitern im Wahnsinn hervorhebt, verschiebt sich die Per-
spektive, die er in Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung
der Psychose vorhergeht einnimmt, zugunsten der Gesetze der Spra-
che. Daher rührt auch die verursachende Rolle, die der Prozess der
Verwerfung für das Zustandekommen der väterlichen Metapher
spielt.
Ohne nun näher auf die klinischen Einzelheiten dieser Theorie einge-
hen zu wollen, lässt sich dennoch sagen, dass der Hauptpunkt der
Theorie der Verwerfung in der Existenz eines grundlegenden Signifi-
kanten liegt, eines sogenannten »Herren«-Signifikanten, dessen Nicht-
Einschreibung im Symbolischen (d.h. also dessen Verwerfung) ia.at
turdas
© info@
120
Subjekt der Wiederkehr ebendieses Signifikanten – eine Wiederkehr,
die zerstörerische Wirkungen auf das Subjekt und auf die symboli-
sche Ordnung der Welt hervorbringt – im Realen unmittelbar aus-
setzt. In diesem Sinn weist die Theorie der Verwerfung nicht nur auf
eine symbolische Abwesenheit hin, nämlich auf diejenige des Na-
mens-des-Vaters, sondern ebenso auf die Wirkungen dieser Abwe-
senheit, d.h. auf die Wiederkehr des verworfenen Signifikanten im
Realen, auf die Verwerfung des unnennbaren Objektes im Realen.174
Die symbolische Existenz des Namens-des-Vaters, die den wichtig-
sten Zugang zur Theorie der Verwerfung bildet, ist das, was eine
Kohärenz und Konsistenz der symbolischen Ordnung garantiert. Um
es anders zu sagen: Der Name-des-Vaters wird zu einem grundlegen-
den Signifikanten, der Menge der Signifikanten zugleich innerlich
und äusserlich und allein dazu imstande, ebendieser Menge eine Art
»unbezweifelbare« Stütze zu verleihen. Auf diese Weise schliesst sich
die symbolische Ordnung über sich selbst, indem sie gewissermassen
von einem Signifikanten versiegelt wird, der in Kartesianischer Ma-
nier die Ordnung der Menge als solche gewährleistet. Das also besagt
die These vom Namen-des-Vaters: er repräsentiert den Anderen des
Anderen, das, was im Anderen zugleich der Signifikant des Anderen
ist. Es ist deshalb weniger Hegel als Descartes, auf den wir uns hier
berufen könnten, und zwar präzise auf den Gott der Metaphysischen
Meditationen, der die Stabilität und die Existenz der Welt garantiert.
Lacan bestimmt den Namen-des-Vaters in der Tat näher als eine Art
Signifikant der Menge der Signifikanten. Als ein Signifikant, der dem
Ort des Anderen angehört, der aber in einer nicht unzweideutigen
Synchronie die Eigenschaft besitzt, diesen Ort als solchen zu bezeich-
nen. Der Andere erhält also genau deshalb eine eigene Konsistenz,
weil ein Signifikant existiert, der dadurch, dass er »im Anderen« ist,
zugleich »der Signifikant des Anderen als Ort des Gesetztes ist«.175 Der
Andere des Anderen also; jener Andere, der die Existenz des Anderen
garantiert.
Lacans zweiter und dritter These zum Wahnsinn liegt im wesentlichen
der Gedanke zugrunde, dass der Wahnsinn das Produkt eines Feh-
lens darstellt. Was fehlt, ist freilich nicht das Subjekt, sondern das
Symbolische. Das Symbolische hat das Reale nicht angemessen signi-
fikantisiert, die Durchstreichung des Dinges durch den Signifikanten
ist nicht restlos geglückt. In Frage steht also ein Scheitern, eine

121
Grenze des Symbolischen und des Signifikanten, der im Grunde das
Symbolische repräsentiert (der Name-des-Vaters). Die ontologische
Voraussetzung dieser Hypothese besagt, dass dies weniger von einem
strukturell bedingten und der symbolischen Ordnung inhärenten
Mangel abhängt – einem Mangel, der den Anderen als solchen kon-
stituiert – als von einer unvollkommenen Symbolisierung. Das Reale,
das in den seltsamen Gestalten eines metonymischen Gleitens ohne
Anhaltspunkte wiederkehrt und das die psychotische Erfahrung
kennzeichnet, ist in der Tat ein Reales, das nicht angemessen symbo-
lisiert wurde. Diese Hypothese geht deshalb von einem Versagen, ei-
ner Grenze des Symbolischen aus, auf die sich die Verwerfung des
väterlichen Signifikanten präzise bezieht. Diese ontologische Voraus-
setzung wird in der vierten These über den Wahnsinn umgekehrt
werden, in jener These, die sich weniger auf den Namen-des-Vaters
als auf das Objekt (a) stützt, weil in diesem Fall das Versagen gleich-
sam dem Symbolischen als solchem und nicht mehr seiner bloss un-
vollkommenen Ausführung anhaftet. Es ist das Symbolische, das
strukturell bedingt nicht das Vermögen besitzt, das ganze Reale zu
symbolisieren. In der ödipal-strukturellen Theorie der Psychose, wie
sie in Über eine Frage, die jeder Behandlung der Psychose vorhergeht
formuliert wird, ist es hingegen die verfehlte Einschreibung des mas-
sgebenden Signifikanten, die das Subjekt der Wiederkehr eines Rea-
len, das nicht gänzlich symbolisiert wurde, aussetzt. Die Theorie der
Verwerfung erhebt sich, wie man sieht, auf dem logischen Paradox
einer Abwesenheit, die eine Auflösung bewirkt. So zerbricht in der
Erfahrung des Präsidenten Schreber das vom Kartesianischen Gott –
von jenem Gott also, der die Welt in ihrem Innersten zusammenhält –
geordnete Universum unter den Schlägen eines wollüstigen, höhni-
schen und unzuverlässigen Gottes, der weit davon entfernt, die sym-
bolische Ordnung der Welt zu stützen, sie unwiederbringlich aus den
Angeln hebt.176
Die Wirkungen, die von der Verwerfung des Signifikanten des Na-
mens-des-Vaters und vom Zusammentreffen (das, wie Lacan genauer
bestimmt, »in symbolischer Entgegensetzung« geschehen muss) des
Subjekts mit diesem Signifikanten hervorgebracht wurden, bringen
aus einem ethischen Gesichtspunkt ebenso eine radikale Umkehrung
der existenzialistisch inspirierten These mit sich, der Wahnsinn sei
ia.at
identisch mit der Verteidigung der Freiheit des Subjekts. o@turder
infGemäss
©
122
Theorie der Verwerfung ist der Wahnsinnige keineswegs derjenige,
der die unbedingte Freiheit wählt, er ist alles andere als die äusserste
Verkörperung des freien Subjekts, das der Entfremdung durch den
Signifikanten zu entgehen vermochte. Es handelt sich bei ihm ganz
im Gegenteil um ein zum Sklaven, zum Objekt gewordenes Subjekt,
das vom Anderen, vom obszönen Geniessen des Anderen in Besitz
genommen wird. Weil die väterliche Metapher aufgrund der Verwer-
fung des Namens-des-Vaters ihre Wirkung nicht zu entfalten ver-
mochte, konnte das Geniessen des Anderen weder symbolisiert und
eingeschränkt noch auch lokalisiert werden. Weil die Verwerfung des
Signifikanten des Namens-des-Vaters ausblieb, organisiert sich das
Geniessen des Anderen nach keinem normativen Prinzip, nach kei-
nem Prinzip der Kastration, so dass das Subjekt dem Anderen auf Ge-
deih und Verderb ausgeliefert bleibt. Das Subjekt ist gegenüber dem
Anderen nicht frei – dies ist die »existenzialistische« These des Vortra-
ges über die psychische Kausalität –, sondern dem Anderen ausgelie-
fert. Wir haben es also mit einer spiegelbildlichen Umkehrung der ur-
sprünglichen These zu tun, die man in ihrem ganzen Wert nur dann
begreifen kann, wenn man den Übergang berücksichtigt, den Lacan
gestützt auf Freuds Schriften zur Psychose und auf Saussures Begrün-
dung der strukturalistischen Linguistik vollzieht, denn Freud und
Saussure sind sich letztlich darin einig, dass die Bedingung für den
Zugang des menschlichen Subjekts zur Realität auf einem ursprüngli-
chen Verlust des Dinges beruht. Für Freud handelt es sich präzise um
die Aktion einer Urverdrängung*, die das Ding*, das an das erste,
wenn auch mythische Befriedigungserlebnis* gebunden ist, von An-
fang an verloren sein lässt. Und für Saussure handelt es sich um jene
Bedingung, die dem sprechenden Wesen von der Sprache und ihren
Gesetzen auferlegt ist und die jeden unmittelbaren, direkten und
natürlichen Kontakt mit dem Ding unmöglich macht.
Eine andere strukturelle Wahrheit des Wahnsinns liegt also darin,
dass er die Abhängigkeit des Subjekts von einer Ordnung offenbart,
die sich ihm aufdrängt und die keine Selbstbestimmung des Subjekts
zulässt – wie es im humanistischen Rationalismus hingegen der Fall
ist –, sondern dessen radikale Fremdbestimmung zur Folge hat. Auf
der anderen Seite kommt es da zum Wahnsinn, wo das Subjekt ver-
sucht, sich dieser Fremdbestimmung, dieser falschen, nicht-identi-
schen, geteilten Genese des Subjekts zu widersetzen. Der so verstan-

123
dene Wahnsinn kehrt die Foucaultsche Perspektive um. Das Subjekt
des Wahnsinns ist für denjenigen Lacan, der über das Primat und die
Autonomie der symbolischen Ordnung reflektiert, das dem überich-
haften System des Benthamschen Panopticon unterworfene Subjekt
tout court. Der Psychotiker ist in der Tat das Subjekt, das sich dem
Blick des Anderen nie – nicht einmal für einen noch so kurzen Au-
genblick – zu entziehen vermag. Das lässt sich präzise in der Para-
noia erkennen, wo das Geniessen nicht das ist, was der Eingriff des
Anderen vom Körper des Subjekts abtrennt, sondern ganz im Gegen-
teil das, was, wie Lacan später präzisieren wird, im strengsten Sinne
mit dem Ort des Anderen identisch ist.177
Das Studium und die Behandlung der Psychosen führen Lacan zur
Einsicht in die Autonomie der symbolischen Ordnung. Die Psychosen
bieten das Material für eine klinische und existenzialistische Demon-
stration dieser These. Im Begriff des »automatisme mentale«, den La-
can De Clarembault entnimmt und für die eigenen Zwecke von jed-
wedem Organizismus oder Konstitutionalismus reinigt, erkennt er die
Charaktersitik der Psychose in einer Art Eklipse des Subjekts, das als
vom Spiel der Signifikanten beherrscht und bestimmt erscheint. Auch
hierbei handelt es sich um eine strukturelle Wahrheit, weil in den
Psychosen das zum Vorschein kommt, was in Wirklichkeit die Struk-
tur des Symbolischen als solche betrifft, d.h. die Abhängigkeit des
Menschen von einer Ordnung, die seiner Existenz vorhergeht, die
aber zugleich über ihn hinausgeht und ihn beherrscht. Und es ist prä-
zise diese Verselbständigung der Signifikantenkette, die sich im
Grunde für Lacan im Phänomen des mentalen Automatismus enthüllt:
Autonomie des Signifikanten, der das Subjekt nicht als Agent (agente)
bestimmt, der die Aktion ausführt, sondern als jemanden, der die Ak-
tion erleidet (agito).
Es gilt nichtsdestoweniger zu beachten, dass dieses losgelöste, auto-
nome, eingleisige und unvermittelte Funktionieren der symbolischen
Ordnung ein Effekt der Psychose selbst ist. Nicht etwa insofern, als es
sich bei ihr um eine Funktionsstörung irgendeines subjektiven Ver-
mögens handelt, sondern insofern, als sie das Verhältnis des Subjekts
zum Anderen betrifft. In der Psychose manifestiert sich die Autono-
mie der Ordnung der Signifikanten da in ihrer ganzen entfremdenden
Macht, wo der Andere als reiner, einer Maschine ähnlicher Signifikan-
tenprozess funktioniert, der nicht subjektiviert wurde, ia.at
turZei-
© inder
fo@kein

124
chen der Kastration und keinen konstitutiven Mangel aufweist. Dieser
Andere wird von der gesetzgebenden Vaterfigur verkörpert, die La-
can als beispielhaft für den Fall des Präsidenten Schreber heraus-
streicht und die geradezu dazu einlädt, diesen strukturellen Aspekt
des Anderen der Psychose zu dramatisieren: ein absoluter, unbeugsa-
mer und gebietender Anderer, dem nichts mangelt. So scheint die
Signifikantenkette für das psychotische Subjekt wie ein subjektloser
Automatismus zu funktionieren. Die Kette befindet sich in einem Un-
gleichgewicht, in dem der Andere überwiegt. Das Subjekt ist zu ei-
nem Automaten des Automaten des Anderen geworden und befindet
sich, überwältigt und entfremdet, in der Position reiner Verdingli-
chung, die Lacans grösstmögliche Entfernung zu allen anti-psychiatri-
schen Strömungen wenigstens in dieser Hinsicht klar erkennen lässt.
Die Geisteskrankheit existiert, auch wenn es sich dabei um eine
Krankheit des Anderen und nicht um ein Vermögen des Subjekts han-
delt.
Die Macht des Signifikanten ist also für Lacan eine »letale« Macht, ein
»Letalfaktor«.178 Der Eintritt des Subjekts in das Feld des Anderen im-
pliziert nämlich den Tod des Subjekts: symbolischer Tod, Entzug des
Geniessens aus dem Körper, ursprüngliche Brandmarkung, »konstitu-
ierende Spaltung«. Das Subjekt tritt in dieses Spiel, d.h. in das tödli-
che Spiel des Anderen »als Toter ein, spielt es aber als lebendiger«179,
wie Lacan sagt. Man tritt also in das Spiel des Begehrens als Toter ein.
Dem entspricht die erste Phase der Konstituierung des Subjekts, wie
sie Lacan im Seminar XI als logische Zeit der Entfremdung (aliéna-
tion) formalisiert; den Zuwachs an Sinn, der die Einschreibung in den
Anderen mit sich bringt, bezahlt das Subjekt mit einem unvermeidli-
chen Verlust an Sein. Es geschieht eine Aphanisis, ein Schwinden des
Subjekts genau da, wo der Signifikant es für einen anderen Signifi-
kanten repräsentiert. Aber wenn der Eintritt in das tödliche Spiel des
Anderen nur um den Preis der eigenen Mortifizierung erkauft werden
kann, nur dadurch, dass das Subjekt seinen Preis für die symbolische
Einschreibung dem Anderen entrichtet, kann es das Spiel mit dem
Anderen – das Spiel des eigenen Begehrens – dennoch nur als leben-
diges spielen. Dieser zweiten Phase entspricht die logische Zeit der
Trennung (séparation), die die Zeit der Entfremdung im Signifikanten
vervollständigt und die Trennung des Subjekts vom Anderen einführt,
die Loslösung von der Signifikantenkette, die das Subjekt dennoch

125
bedingt. Zwei Zeiten also, zwei Phasen, welche die Linearität der
psychobiologischen Entwicklung des lebendigen Organsimus durch-
brechen; der Tod folgt nicht auf das Leben, sondern man tritt nur als
Toter in das Spiel des Anderen ein, auch wenn man es zuletzt als Le-
bender spielen wird. Der Tod ist also die Bedingung für den Eintritt
in ein Spiel, das dem Lebenden obliegt. Allein um welchen Tod han-
delt es sich hier? Zuallererst um den Tod des Dinges*, um den Tod
des Geniessens des unmittelbaren, nicht durch das Symbolische ver-
mittelten Seins, um den Tod des natürlich Lebenden, das durch die
Verkörperung der Sprache als natürliches Lebewesen stirbt.
Wo siedelt sich hinsichtlich dieser beiden für das Subjekt konstituti-
ven Momente – die Phase der Entfremdung und die Phase der Tren-
nung – die Entscheidung des Subjekts für den Wahnsinn an? Für La-
can geht es in der Tat darum, das »Drama des Wahnsinns« in der
strukturellen Beziehung »des Menschen zum Signifikanten«180 zu er-
kennen.
Unter den vielen Definitionen dieser »Wahl des Wahnsinns«, die uns
Lacan überliefert hat, fällt nun insbesondere der Bezug auf die mora-
lische Dimension der Feigheit auf. Es fällt sogleich auf, dass die sub-
jektive Wahl des Wahnsinns für Lacan auf der Feigheit, also auf einer
moralischen Sünde des Subjekts gründet. Oder genauer: auf der Feig-
heit des Subjekts vor der Macht des Signifikanten, eines Subjekts, das
die vom Signifikanten auferlegte Spaltung verleugnet und die für das
Unbewusste konstitutive Spaltung ins Reale verbannt. Wir haben es
mit der Verkündigung einer nicht-dialektischen Freiheit zu tun, die,
wie wir schon gesehen haben, fatalerweise in die totale Unterwer-
fung (soggezione) unter das Geniessen des Anderen umschlägt. Die
Dramatik des Wahnsinns besteht darin, dass sich die ursprüngliche
Absicht in ihr Gegenteil verkehrt; die Differenz vom Anderen wird
weniger herbeigesehnt als verleugnet. Der Wahnsinn entspricht hier
mehr einem Festhalten am Einen als an der Begegnung mit der Alter-
ität des Anderen. Die Psychose ist für Lacan nun der Index ebendie-
ser Degradierung der Universalität des Wahnsinns auf eine bestimmte
Subjektposition, die sich durch eine radikale Verleugnung des Ande-
ren und seiner Gesetze auszeichnet. Die Psychose deutet in diesem
Sinn nicht auf das Geheimnis der Sprache des Anderen, sondern auf
die bis aufs äusserste gehende Verleugnung desselben: Ablehnung
.at
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© inf
126
jedweden Austausches zwischen Subjekt und Anderem, Verleugnung
der Existenz des Anderen.
Der Wahnsinnige verkörpert also weniger das Geheimnis des Ande-
ren bzw. des Diskurses des Anderen; er ist vielmehr derjenige, der
ihn radikal ablehnt. Dies macht seine tiefgehende Feigheit aus. Auf
diese Weise entmystifiziert Lacan die rhetorische Lobrede auf den
Wahnsinn, die ihn fälschlicherweise verherrlicht, weil sie in ihm bloss
den Ausdruck der Transzendenz des Subjekts erkennt. Vielmehr er-
scheint der Wahnsinnige als ein Subjekt, das in einer Falle gefangen
ist. Seine Verleugnung des Anderen verwandelt sich unvermeidlich in
eine Beziehung der totalen Knechtschaft gegenüber dem Anderen.
Die Entfremdung des Subjekts wird total. Das Subjekt wird eins mit
dem Anderen – die Entfremdung entspricht ja der ersten Phase der
Konstituierung des Subjekts, das sich auf der Verwirklichung einer
gewissen »Vereinigung mit dem Anderen« gründet. Es handelt sich da-
bei um eine einzigartige Vereinigung, weil das Subjekt, das sich nicht
vom Anderen trennt, in einer grundlegenden Mortifikation gefangen
bleibt. Daher rührt die ganze Bedeutung, die Lacan im Seminar XI
der Holophrase beimisst; er versteht darunter eine rhetorische Figur,
die der Metapher prinzipiell entgegengesetzt ist und die sich gera-
dezu anbietet, auf die Wirkung der Versteinerung und der Verfesti-
gung hinzuweisen, die eine Entfremdung (aliénation) ohne Tren-
nung (séparation) notwendig produziert. Das Subjekt wird nicht
mehr von einem Signifikanten für einen anderen Signifikanten reprä-
sentiert, sondern erstarrt in der monolithischen Identifikation mit ei-
nem einzigen Signifikanten. Dieser Exzess an Identifikation deutet
gleichsam auf die Schwierigkeit des psychotischen Subjekts, Zugang
zur Trennung, der zweiten Phase der logischen Zeit, zu erhalten, und
offenbart so die ganze Last, in die seine Verleugnung des Anderen
und seiner Gesetze mündet. Der Psychotiker möchte den vom sym-
bolischen Tausch geforderten Preis nicht bezahlen. Insofern beein-
haltet der von Lacan angezeigte Übergang von der Metapher zur Ho-
lophrase in grundlegender Weise einen Zustand des Eingesperrtseins,
in dem sich das psychotische Subjekt aufgrund seiner unbedingten
Ablehnung des Anderen zuletzt verliert. Anstelle einer signifikanten
Substitution – einer Substitution, deren Möglichkeit ursprünglich auf
der Durchstreichung des Dinges, als einer Wirkung der vom Anderen
eingeführten Symbolisierung, beruht – geschieht in der Holophrase

127
eine Art Zementierung der Identität des Ichs, eine Zementierung, die
jedwede Spaltung zu leugnen scheint. In diesem Sinn ist der Wahn-
sinnige nichts anderes als das verfolgte Subjekt, verfolgt von dem,
was im Symbolischen verleugnet wurde und nun im Realen wieder-
kehrt, wobei die Verfolgung durch den Anderen, die das Subjekt er-
leidet, auf das Fehlen seiner Trennung vom Anderen hindeutet.
Es ist wahr, der Wahnsinnige ist das verfolgte Subjekt, verfolgt vom
Anderen. Hier begegnen wir also einer anderen grundlegenden
strukturellen Wahrheit, die der Wahnsinn in dramatischer Weise ver-
körpert: Das Subjekt ist im Grunde immer ein vom Anderen verfolgtes
Subjekt, und zwar in dem Sinne, dass sein Sein auf unauslöschliche
Weise und von Anfang an durch die Aktion, durch die Spur des An-
deren affiziert, gezeichnet und markiert ist.
Dabei handelt es sich um eine Idee, die bereits in der phänomenolo-
gischen Ontologie von Sartres Das Sein und das Nichts hinsichtlich
der Bedeutung der Entfremdung, die er dem Blick des Anderen zu-
schreibt, eine besondere Ausarbeitung erfuhr. Der Andere beobachtet
mich immer. Der Blick des Anderen – ein von den Augen des ande-
ren, des Mitmenschen befreiter Blick – wird von Sartre als eine Art
ontologisches Apriori vorausgesetzt: zu existieren bedeutet, der Will-
kür des vom Anderen herrührenden Blickes unterworfen zu sein, be-
deutet, angeblickt zu sein – vergleichbar mit dem Zustand einer inne-
ren Blutung der Existenz, welche die substanzialistische Konzeption
des Subjekts unwiderruflich unterhöhlt, indem sie dasselbe strukturell
an die gleichsam materielle Äusserlichkeit des Anderen bindet. In
diesem Sinn lässt der Blick des Anderen den Status der subjektiven
Unterwerfung unter den Anderen klar erkennen. Für Sartre handelt es
sich um eine ursprüngliche, metamorphische Unterwerfung: der me-
dusierende Blick des Anderen verdinglicht, mortifiziert, macht die
Freiheit des Subjekts zunichte, indem er seine Transzendenz negiert
und seine Freiheit auf die amorphe Identität des An-sich reduziert.
Im Wahnsinn wird das Subjekt also v.a. verfolgt. Es wird im Realen
verfolgt vom Blick (und von der Stimme) des Anderen. In diesem
Sinn offenbart es eine weitere strukturelle Wahrheit: das Antlitz des
Anderen ist aufgrund struktureller Gründe das Antlitz eines Verfol-
gers. Das Sein des Subjekts liegt so in der Tat stets in den Händen des
Anderen. In diesem Sinn erhält das, was Sartre selbst zum Wahnsinn
vorbringt, sein volles Gewicht: in allen Psychosen zeigt ia.at
tur»ex-
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128
klusive Erfahrung, die durch Mythen eines grossen metaphysischen
Faktums wiedergegeben werden: das Entfremdungsfaktum. Ein
Wahnsinniger tut niemals etwas anderes, als die conditio humana auf
seine Weise zu reduzieren.«181 Das bedeutet in den Begriffen der Sar-
treschen Ontologie nichts anderes, als dass die Entfremdung zualler-
erst den Zustand des Subjekts bezeichnet, das dem Blick des Anderen
immer schon ausgesetzt ist. Indem er im Subjekt das Gefühl hervor-
bringt, verfolgt zu werden, entfaltet der Andere seine ganze Wirkung.

6.
VIERTE THESE: DER UNIVERSALE CHARAKTER
DES WAHNSINNS

Der Wahnsinn hütet also nicht einfach das Geheimnis der Sprache
des Anderen, sondern ist jenes »Drama«, das in seiner ganzen tödli-
chen Macht – und zwar genau insofern, als er die Entfremdung ver-
leugnet – den strukturell entfremdenden Charakter der Sprache sehen
lässt, d.h. die Differenz zwischen Ding und Wort, die sich gegen den
Naturalismus und eine einfache Referenztheorie wendet. Der Signifi-
kant verweist für Lacan gemäss einem eindeutigen Schema nämlich
nicht auf das Ding, sondern tötet es vielmehr, streicht es durch. Die
Existenz des Signifikanten entzieht dem »parlêtre«182 unwiederbring-
lich das Ding und öffnet damit ein Loch in der Realität. Lacans leiten-
der Gedanke vom Primat der symbolischen Ordnung enthält genau
diese zentrale These: der Signifikant tötet das Ding, macht das Ding
unmöglich, macht es von Anfang zu einem verlorenen, als solchem
unzugänglichen und auffindbaren Ding. Er macht es immer und übe-
rall zu einem anderen Ding, zu einem Unding, zu einer A-chose*.
Darin besteht im Grunde der ganze Unterschied, der zwischen Lacan
und Heidegger verläuft: die Sprache ist für Lacan nicht an erster Stelle
»Wohnen«, »Haus«, Lichtung*, jener Ort also, der das Seiende beher-
bergt und der mit dem Ort der Gabe und des Ereignisses des Seins
zusammenfällt, sondern sie ist v.a. eine »Mauer«, eine Absperrung, ein
Schnitt im Fleisch des Geniessens und in der Konsistenz des Seins.
Der Wahnsinn als allgemeines Wesensmerkmal, als Essenz des Men-
schen, wie es im Vortrag über die psychische Kausalität heisst, wird
von Lacan im Hinblick auf diesen Verlust der Nähe zum Ding, der
Nähe zum Einen, in dieser Ferne, in diesem Exil wieder aufgenom-
129
men – einem Exil, das auf der notwendigen Entfernung des »parlêtre«
von diesem Ort gründet, in dem Sein und Geniessen unmöglich zu-
sammenfallen und in dem es nicht minder unmöglich ist, mit dem
Anderen Eins zu sein oder mit ihm Eins zu machen/werden. Auf
diese Weise wird dem Wahnsinn also sein universeller Charakter
zurückerstattet: »Das Geheimnis der universellen Behandlung des
Wahnsinns besteht darin, dass die Referenz immer leer ist«.183 Die
Leere nimmt den Platz des Dinges ein, und der menschliche Wahn-
sinn reflektiert diese Abwesenheit des Dinges als eine von der Spra-
che auferlegte Bedingung, die nichtsdestotrotz die symbolische Mög-
lichkeit der Metapher und der Metonymie möglich macht. Umgekehrt
weist die Psychose im eigentlichen Sinn auf eine beständige Präsenz
des Dinges hin, das für sie nicht verloren ist, auf ein ständiges Beses-
sensein vom Ding, auf eine ohrenbetäubende Nähe zu ihm, auf ein
Geniessen, das ihr nicht entzogen wurde. Wenn also der Wahnsinn
auf die unaufhebbare Kluft zwischen Sprechen und Ding hindeutet –
eine Kluft, welche die menschlichen Wahngebilde zu reduzieren su-
chen –, so ist die Psychose vielmehr Ausdruck eines Misstrauens
gegen den Anderen vor dem Hintergrund der »Gewissheit des Din-
ges«.184
Das Seminar VII, das der Ethik der Psychoanalyse gewidmet ist, mar-
kiert aus dieser Perspektive einen entscheidenden Moment jener
Spannung, die Lacans Denken innewohnt. Die Figur, die im Zentrum
dieses Seminars thront, ist genau das Ding*, das Lacan ausgehend
von Freud, zu dem er auf dem Umweg über Heidegger zurückkehrt,
wieder aufnimmt. Das Ding ist eine Extimität (une extimité*), das
»was wir als den zentralen Ort, die intime Exteriorität beschreiben«185,
jenes »äusserste Intime, das zugleich ausgeschlossene Intimität« 186 ist;
es ist das, was das Begehren des Subjekts genau da verursacht, wo es
sich entzieht, wo es, vom Signifikanten durchgestrichen, verschwin-
det und so zu einer Leere wird, die das Begehren zum Leben er-
weckt. Die zentrale Bedeutung, die Lacan dem Ding in diesem Semi-
nar als »Nicht-Sinn«, »Extimität«, »absolut Anderes«, »Anderes Ding« bei-
misst, veranlasst ihn, das Feld des Anderen mit einer Grenze zu
zeichnen, mit einer Barre, mit einem Loch, einer Inkonsistenz. Mit
dem Seminar VII dringt er bis zu jenem Punkt vor, wo er nicht mehr
allein über die Funktion der symbolischen Gewähr, die der Andere
.at
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130
des Namens-des-Vaters stiftet, reflektiert, sondern in verstärktem
Masse über den Mangel im Anderen.
Der Signifikant entfaltet seine Wirkung nicht in bezug auf ein Reales,
das ihm ontologisch, im Sinne einer präsignifikanten, präsymboli-
schen Realität, vorhergeht, denn das Reale lässt sich nur als Effekt
dieser Aktion des Signifikanten begreifen, als ein Produkt des Signifi-
kanten, das allerdings nicht derselben Ordnung wie der Signifikant
angehört. Dies bedeutet also, dass das Ding nicht der – ursprüngli-
che, noumenische – Grund ist, auf dem sich der Signifikant ein-
schreibt, sondern das »was vom ursprünglichen Realen – in einer
Gleichzeitigkeit, die entscheidend ist – am Signifikanten leidet«. 187
Lacans vierte und letzte These über den Wahnsinn nimmt Ausgang
von dieser Arbeit an der Extimität des Dinges*. Genau in ihr wird das
anfängliche Thema vom allgemeinen Charakter des Wahnsinns, den
die ödipale Theorie des Namens-des-Vaters zugunsten der Idee einer
symbolischen Ordnung, die von einem Anderen des Anderen gestützt
wird (der Name-des-Vaters als Signifikant im Anderen ist der Signifi-
kant des Anderen), abgeschwächt hat, wieder aufgenommen und
weiter entwickelt.
Im Mittelpunkt steht die Aussage, der Wahn sei das menschliche We-
sensmerkmal par excellence. Alle Menschen sind wahnsinnig! Diese
Aussage ist gleichbedeutend mit der Idee einer verallgemeinerten
und universellen Verwerfung.188 Mit dieser Formulierung rät Miller
dazu, das Denken des späten Lacan um das Jenseits des Ödipus und
um den strukturell mangelhaften Charakter des Namens-des-Vaters zu
zentrieren, d.h. um die Idee, dass die symbolische Ordnung durch
ein reales und irreduzibles Loch markiert ist, das in ihrer Mitte klafft:
»was die Verallgemeinerung der Verwerfung mit sich bringt (...), ist,
dass es für das Subjekt, und zwar nicht nur im psychotischen Subjekt,
sondern in allen Subjekten, etwas Namen-loses, etwas Unbenennba-
res gibt«.189
Worin also besteht der Sinn dieses universellen Charakters des Wahn-
sinns und dieser Verallgemeinerung der Verwerfung, den Lacan
während der Siebzigerjahre v.a. in seinen Seminaren zur Topologie
mit Vehemenz vertritt, wenn nicht in der Hervorhebung dieses »Na-
men-Losen«? Worin anders als in dieser Anstössigkeit des Realen, die-
ser Unmöglichkeit, dass der Mythos des Vaters – der ödipale Mythos,
der Mythos des symbolischen Gesetzes, das sich mit dem Realen des

131
Geniessens versöhnt – das Reale vollständig symboliseren kann, wie
das noch für Hegel der Fall war?
Aus dem Begriff der verallgemeinerten Verwerfung gewinnt Miller die
Hypothese eines »verallgemeinerten Wahnsinns«, einer »universellen
Klinik des Wahnsinns«. Alle Menschen sind nämlich nebst dem, dass
sie dem Tode geweiht sind, auch noch wahnsinnig! Alle Menschen
schlagen sich in der Tat mit dem Realen herum, mit dem nicht-sigini-
kantisierten190 Realen, mit jenem Loch, welches das Reale im Symboli-
schen öffnet, mit dem Realen als Rest der Signifikantisierung, mit dem
Realen als unauslöschlicher Spur des Dinges. Alle Menschen sind
wahnsinnig, weil alle Menschen, die den Gesetzen der Sprache unter-
worfen sind, durch eine Kluft vom Ding getrennt sind, weil sie die
Kluft zwischen Wort und Ding, den Spalt zwischen Signifikant und
Zeichen (insofern das Zeichen gemäss der klassischen Lehre unmit-
telbar und in eindeutiger Weise auf das Ding verweist) nicht zu
schliessen vermögen. Die Sprache produziert Wirkungen, die das
Sein negativieren, und untersagt jedwede Begegnung mit dem Ding,
die nicht durch die Sprache selbst vermittelt ist. Auf dieser Einsicht
gründet die von Kojève praktizierte Hegel-Lektüre und das struktura-
listische Unternehmen in der Linguistik. Die Sprache bedeutet den
»Mord an der Sache«, wie Hegel sagt, den Tod des Dinges, sie impli-
ziert den Verlust des Dinges als Inhalt, Referent oder Bedeutung. Der
Signifikant ist deshalb kein Zeichen, weil er auf kein Ding verweist –
das als solches immer schon verloren ist –, sondern nur auf andere
Signifikanten. Das Gesetz der Signifikantenkette bewirkt in der Tat,
dass die Bedeutung ein Effekt der Verkettung der Signifikanten ist
und nicht der Inhalt, auf den der Signifikant verweist.
Wo Miller ausgehend von Lacan den universellen Charakter des
Wahnsinns theoretisiert, geht es ihm genau darum hervorzuheben,
wie die Sprache alle Repräsentationen jedweden ontologischen Inhal-
tes entleert, und zwar genau deshalb, weil der Signifikant auf kein
Ding verweist, weil die blosse Existenz des Signifikanten das Ding
seines Seins beraubt und eine Leere anstelle des Signifikates einführt.
Das Interessante an dieser Lacanschen Kehre besteht darin, dass der
universelle Charakter des Wahnsinns und die Verallgemeinerung der
Verwerfung in einer tiefgreifenden Neubestimmung des Status des
Anderen konvergieren. Er ist zu einem Anderen geworden, der von
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einem Mangel, von einer Inkonsistenz, von einer strukturell turia
© info@beding-
132
ten Unvollständigkeit gezeichnet ist. Zu einem Anderen, der sich
nicht mehr als ein Garant des Anderen aufschwingt, weil im Grunde,
wie Lacan schreibt, der Andere des Anderen nicht existiert191. Es gibt
keinen Anderen des Anderen in dem Sinne, dass sich die symboli-
sche Ordnung nicht auf einen Signifikanten des Anderen stützen
kann, der für den Anderen eine Art ontologische Stütze bildet, die
dem Feld der Sprache gleichsam äusserlich ist; in dem Sinne also,
dass es im Anderen etwas gibt, das nicht der Ordnung des Signifikan-
ten angehört und das genau dem entspricht, was der Signifikant nicht
zu signifikantisieren vermag. Wir haben es hier mit jenem Rest zu
tun, der nach der assimilierenden Operation des Signifikanten übrig-
bleibt, mit dem Residuum des Dinges, mit dem Überbleibsel dessen,
was durch die Aktion des Symbols nicht absorbiert, nicht einverleibt
wurde. Dieses Reale – das, was nach der Operation des Signifikanten
vom Ding übrigbleibt – durchlöchert das Symbolische und offenbart,
dass »nicht alles Signifikant ist«.
Die Verallgemeinerung der Verwerfung impliziert präzise, dass das
Reale nicht vollständig im Signifikanten aufgehoben werden kann,
d.h. es gibt immer etwas Reales, das der signifikanten Behandlung
durch den Anderen widersteht, wobei dieser Rest nicht von der Un-
wirksamkeit der symbolischen Ordnung, von einer Grenze der sym-
bolischen Funktion abhängt (dies war im Grunde die Annahme, wel-
che für die zweite und dritte These Lacan leitend war), sondern viel-
mehr von einem Mangel, welcher der symbolischen Ordnung als
solcher innewohnt. Dies bedeutet, dass es einen strukturell bedingten
Mangel im Anderen gibt; Lacan gennzeichnet den Anderen deshalb
mit einer Barre: (¶). Womit er zugleich eine Algebraisierung des Man-
gels, der Inkonsistenz und der Inexistenz des Anderen in die Wege
leitet.192
Wie Jacques-Alain Miller unterstreicht, sind also alle Menschen genau
deshalb wahnsinnig, weil sie sich mit dieser doppelten, strukturell
bedingten Unmöglichkeit des Signifikanten herumschlagen: mit der
Unmöglichkeit, sich selbst zu bedeuten, und mit der Unmöglichkeit,
das Reale in erschöpfender Weise im Signifikanten aufzuheben. Der
Wahnsinn ist in der Tat ein Versuch, das zu bezeichnen oder zu sym-
bolisieren, was sich aufgrund der Struktur notwendig jeder Symboli-
sierung widersetzt. Der Wahn ist nichts anderes als der Versuch, da
Sinn einzuführen, wo er fehlt. Es ist eine spezifisch menschliche Hal-

133
193
tung, den Nicht-Sinn wieder mit dem Sinn zusammenzuführen. Es
war dieser Umstand, der Freud dazu führte, die Philosophie der Para-
noia anzunähern und umgekehrt die Paranoia der Philosophie. Diese
vierte und letzte Lacansche Version des Wahnsinns impliziert also
eine Theorie, die nicht mehr den Heroismus der absoluten Freiheit
(»jene unergründliche Entscheidung für das Sein«), noch die anti-dia-
lektische Ausschliessung des Anderen der Anerkennung und ebenso-
wenig den ödipalen Wert, den die Logik des Signifikanten dem Na-
men-des-Vaters beimisst (der Andere des Anderen), ins Zentrum
rückt. Entscheidende Bedeutung erlangt vielmehr die Grenze der
symbolischen Ordnung selbst, die Tatsache, dass nicht alles Signifi-
kant ist, die Unvollkommenheit der Struktur, die dem Realen inne-
wohnende Exzentrizität, die Inexistenz des Anderen des Anderen.
Die negativierende Wirkung des Signifikanten, die nach Lacan mit
der Wirkung der Freudschen und also von jedem psychologisch-evo-
lutionistischen Überrest befreiten Kastration zusammenfällt, ist im
Unterschied zu den Hypothesen, die er im Seminar III und im Auf-
satz Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose
vorausgeht entfaltet, nicht mehr in der Lage, das Reale des Genies-
sens vollständig im Symbolischen aufzuheben. Das Netz der Signifi-
kanten umfasst nicht mehr restlos das ganze Sein. Es ist zu klein. Es
bleibt stets ein Rest an Sein, der nicht symbolisiert werden kann. Da-
bei handelt es sich präzise um ein Stück Sein, das seit jeher und für
immer verloren ist. Es ist niemand anders als der Andere, der diesen
Verlust verursacht hat. Aber es ist ebenso im Anderen, wo das Subjekt
genau das suchen wird, was der Andere zu einem verlorenen ge-
macht hat. Und es ist ebenfalls im Anderen, wo das Subjekt jenes un-
wiederbringlich verlorene Stück Sein finden möchte, das es selbst ist.
Der Andere, der fehlt, ist nicht mehr der Andere der Psychose, ist
nicht mehr der fehlende Andere des grundlegenden Signifikanten des
Namens-des-Vaters, der verworfen wurde, sondern ist der Andere als
solcher. Der Andere als Signifikantensystem ist nämlich kein vollstän-
diger, ganzheitlicher, konsistenter Anderer. Der Andere erscheint viel-
mehr als gebarrt, als schwindend und unvollständig; ihm mangelt
kein Signifikant, sondern der Mangel konstituiert ihn als signifikante
Ordnung. Diese Perspektive schliesst eine völlige Überarbeitung je-
ner Klinik ein, die sich auf den unversöhnlichen Gegensatz von Ver- .at
turia
nfo@Wert
werfung und Verdrängung gründet, insofern sie immer © imehr auf
134
die Feststellung legt, dass kein subjektiver Ersatz den Mangel des An-
deren zu stopfen vermag.194 Und zwar in dem Sinne, dass die Psy-
chose nicht so sehr von einer Mangelhaftigkeit des Symbolischen
herrührt, sondern von der prinzipiellen Unmöglichkeit, das dem Sym-
bolischen innewohnende Loch zu stopfen, letztlich also von der Man-
gelhaftigkeit dessen, was versucht, sich an die Stelle des grundlegen-
den Mangels der Struktur zu setzen.
Die Idee eines universellen und strukturellen Charakters der Verwer-
fung bringt einen klaren Bruch mit der ödipalen Konzeption des
Wahnsinns mit sich. Die strukturierende Funktion, die vom symboli-
schen Vater ausgeübt wird, wird vor dem Hintergrund einer Kausa-
lität – der Kausalität des Dinges –, die niemals ganz vom Signifikan-
ten beherrscht werden kann, problematisch. Deshalb wird ebendiese
Funktion des Namens-des-Vaters unterhöhlt und vervielfältigt: der Va-
ter verliert seine Funktion als fundamentaler, semantischer Operator
des Anderen, weil er dessen Konsistenz gewährleistet, und beginnt
sich zu verflüssigen, fällt auseinander und büsst seine mythische Ein-
heit ein, wobei er sich zugleich auf die blosse Funktion eines Ersatzes
reduziert, dessen Stelle von »irgendeiner Sache«195 eingenommen wer-
den kann. In diesem Sinn schreibt sich der Wahnsinn nicht mehr im
Register des abwesenden Gesetzes ein, im Fehlen der ödipalen Regel;
vielmehr wird er zu einem universellen Wesensmerkmal, weil »das
Reale nicht alles ausmacht, sich nicht schliesst«.196
Es ist nicht mehr der Signifikant, dem im Hinblick auf die Trägheit
des Geniessens etwas mangelt, sondern es ist das Reale des Genies-
sens, das niemals restlos im Signifikanten aufgehoben werden kann.
So setzt die Sprache dem Realen des Geniessens zwar Grenzen, kann
aber keine Gewähr leisten für den Namen-des-Vaters. Folglich gibt es
nicht einfach einen verworfenen Signifikanten (der im Realen wieder-
kehrt), sondern es gibt Reales, das verworfen wurde. Die »nihilistische«
Ausrichtung der letzten Reflexionen von Lacan über den Wahnsinn
hat darin ihr Grundmuster: es geht nicht darum, den sozialen Ande-
ren für den Wahnsinn des Subjekts verantwortlich zu machen, son-
dern vielmehr darum, den Wahnsinn als wesentlich zum Subjekt
gehörig zu betrachten, als äusserste Grenze seiner Freiheit und als
Ausdruck einer Heterogeneität zwischen Signifikant und Geniessen.
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© inf
Das gespaltene Subjekt zwischen
Singularität und Universalität
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Subjekt und Entfremdung:
Lacan zwischen Hegel und Sartre

1.
DAS FADENKNÄUEL: IST DIE PSYCHOANALYSE
EINE DIALEKTIK?

Wir können sowohl Lacan als auch Sartre in der Hegel-Reanaissance


verorten, welche die französische Philosophie der Dreissigerjahre –
ihre Hauptvertreter waren Alexandre Kojève, Alexandre Koyré, Jean
Hyppolite und Jean Wahl – tiefgreifend geprägt hat. Lacan und Sartre
lesen Hegel via Kojèves Hegel-Lektüre, und Kojève seinerseits liest
Hegel wesentlich via den Heidegger von Sein und Zeit, der bekannt-
lich einer der bedeutendsten Bezugspunkte in Lacans und Sartres
Werk darstellt.
Wie man sieht, handelt es sich um ein Geflecht von Durch- und
Übergängen. Zu Anfang müssen wir deshalb versuchen, die Fäden zu
entwirren. Versuchen wir zuerst einmal zu sehen, wie Kojèves Hegel-
Lektionen von Lacan verarbeitet werden.
Lacans Schriften und Seminare sind voller Bezüge auf Hegel: »Dialek-
tik«, »Entfremdung«, »Aufhebung«*, »Verneinung«*, »Anerkennung«,
»Herr-Knecht«, »schöne Seele«, »List der Vernunft«, »dialektische Um-
kehrung«, »Gesetz des Herzens«... Es geht darum, den Status ihrer
Wiederaufnahme in Lacan zu befragen, die, wie er selber erklärt,
keine »Systemgefolgschaft«197 impliziert. Das ist im übrigen auch die
Grundhaltung von Kojève (ebenso wie von Hyppolite und von
Wahl): die Trennung eines tragisch-dialektischen Hegels von einem
logisch-systematischen Hegel; die Vorliebe für die Phänomenologie
des Geistes und für die Jugendwerke gegenüber der Wissenschaft der
Logik, die Herausarbeitung eines tragisch-existentiellen Kerns aus ei-
ner mystisch-metaphysischen Hülle, die Bevorzugung der dialekti-
139
schen Bewegung gegenüber der allumfassenden Konstitution eines
absoluten Wissens als Ergebnis des Systems.
Beginnen wir also mit der Dialektik und stellen wir uns eine wesent-
liche Frage: Ist die Psychoanalyse, so wie Lacan ihren Status in seiner
»Rückkehr zu Freud« bestimmt, eine Dialektik?
Unter den Philosophen gehören v.a. Hyppolite und Ricoeur zu denje-
nigen, die sich bemüht haben, diese Frage positiv zu beantworten,
indem sie Freud in eine Hegelsche Perspektive integrierten.198 Für Ri-
ceour wie auch für Hyppolite ist die Psychoanalyse »eine Dialektik«,
eine Dialektik des Sinnes, eine hermeneutische Dialektik. Der Ablauf
der Analyse ist der Ablauf einer Offenbarung, eines Wiederfindens;
es handelt sich darum, die Wahrheit des Subjekts, die von all jenen
imaginären Fiktionen zugleich verhüllt und gefangen ist, wiederzu-
finden. Das Unbewusste – als vergessene Wahrheit des Subjekts –
wird auf das reduziert, was das Subjekt von sich nicht weiss, auf das,
was das Subjekt nicht als sein eigen anerkennen will. Das Unbe-
wusste ist nichts vom Bewusstsein Verschiedenes, sondern es ist ein-
fach das, was das Bewusstsein noch nicht von sich weiss. Indem Ri-
ceour diese Richtung einschlägt, bestimmt er das Bewusstsein als
eine wahrhaft »ethische Aufgabe«; als die Aufgabe, das wiederzuerlan-
gen, was es von sich entfernt hat, als Aufgabe, seinen Text wieder zu
vernähen.199
Wir finden dieses Modell in der gleichen Form bei Hegel wieder, wie
uns Hyppolites Lektüre sehr klar zeigt: der Weg des Bewusstseins in
der Phänomenologie des Geistes ist ein teleologischer Weg, der sich
als vorwärtsschreitende Erhebung des Bewusstseins hin zu einem ab-
soluten Wissen zu erkennen gibt.200 Die Erfahrung ist für Hegel jener
Begriff, durch den sich diese Erhebung, die in der Logik der Aufhe-
bung* gründet, als dialektisch offenbart; die Wahrheit lässt sich nur
als Tod der Gewissheit, als Aufhebung/Überwindung der falschen
Evidenz der Gewissheit erlangen. Der Irrtum der Gewissheit ist der
Wahrheit nicht etwa äusserlich, sondern bereitet ihre Ankunft vor.
Der Irrtum ist ein Teil der Wahrheit. Die Wahrheit fällt mit dem Irren
des Bewusstseins zusammen, das, um Zugang zur eigenen Wahrheit
zu erhalten, den Weg des »Zweifels und der Verzweiflung« durchlau-
fen muss. Der Zugang zur Wahrheit impliziert in der Tat den Tod der
Gewissheit, das »Festhalten des Todes«, den Leidensweg des Negati-
a.at
ven, die »Zerrissenheit des Zweifels«, wie Hegel sagt. info@turi
©
140
Die Dialektik ist also nichts anderes als die Bewegung der Erfahrung
in ihrer immerwährenden Oszillation zwischen Gewissheit und Wahr-
heit, eine Bewegung, die das Bewusstsein dahin führt, sich wiederzu-
finden, nachdem es sich verloren hatte, zu sich zurückzukehren,
nachdem es sich entfernt hatte.
Die Dialektik ist eine Odysse. Die Rückkehr, der Wiederbeginn, die
Versöhnung machen ihr Zentrum aus. Eine Rückkehr ist nur als ab-
schliessende Zeit möglich, die einen Bruch, der in einem ursprüngli-
chen Moment gesetzt wurde, wieder zusammenfügt, so dass die Zeit,
welche die dialektische Konstrukion eröffnet, in Wirklichkeit keines-
wegs dialektisch ist. Bei ihr handelt es sich um die anti-dialektische
Zeit des Bruchs, der Trennung, der Entzweiung. Sie ist die Zeit des
unglücklichen Bewusstseins. Zeit der Uneinigkeit – des Mangels –
und des Begehrens. Das Bewusstsein ist unglücklich, weil es vom
Sein entfernt ist, nach dem es trachtet. Das Unglücklichsein ist nichts
anderes als diese Passion für die Entfernung: Entfernung des Subjekts
von der eigenen Wahrheit, Nicht-Vereinigung diesseits der Vereini-
gung, Begehren nach Ganzheit und beständige Wahrnehmung des ei-
genen Mangels.
Hinsichtlich des unglücklichen Bewusstseins gestaltet sich die Dialek-
tik als eine Therapeutik des Unglücklichseins, die vermittels des Be-
griffes agiert und die Entzweiung des Bewusstseins dadurch heilt,
dass sie es zur logisch-synthetischen Funktion der Vernunft* erzieht.
Die Dialektik lässt sich hier, wie man sieht, auf ein schwindelerre-
gendes Vorhaben ein: nämlich das Bewusstsein vor seiner Trennung
zu bewahren, indem sie ihm zeigt, dass es das, was es in Wirklichkeit
bereits in sich enthält, nicht ausserhalb von sich zu suchen braucht;
dass das Allgemeine das eigene Sein nicht transzendiert, sondern ihm
immanent ist. Die Dialektik lehrt also, dass man vom Unglücklichsein
wieder genesen kann.
Im Gegensatz zur pädagogischen Therapeutik der Hegelschen Dia-
lektik tritt Lacan dafür ein, dass sich der Freudsche Begriff des Unbe-
hagens nicht auf das Unglücklichsein des Bewusstseins reduzieren
lässt. Vom Freudschen Unbehagen nämlich genest man nicht. Im
Gegensatz dazu hängt das Unglücklichsein des Bewusstseins bei He-
gel einzig von einem Wissen ab, das sich noch nicht gänzlich entfal-
tet hat.201

141
Und dennoch weiss Hegel sehr wohl, dass »Gott tot ist«, dass, wie La-
can sagt, das Grab Christi wie auch dasjenige von Moses leer ist. Dass
es also, in anderen Worten, keinen Ursprung gibt – z.B. einen Natur-
zustand –, zu dem man zurückkehren und aus dem man schöpfen
könnte. In der Tat impliziert auch das Hegelsche Symbolische ebenso
wie das Lacansche den Tod Gottes in dem Sinne, dass etwas verloren
ist, damit es Symbol, Wort und Sprache gibt. Verloren ist für Hegel
die klassisch-hellenistische Utopie der unmittelbaren Harmonie zwi-
schen Natur und Gott, die von der Schellingschen Romantik wieder
ins Spiel gebracht wurde; verloren ist für ihn die Idee eines ursprüng-
lichen Gutes, das der Arbeit des Begriffs vorhergeht.202
Was man verloren hat, kann im Grunde nicht wiedererlangt werden.
Der logische Mythos des dialektischen Denkens besteht jedoch – in
dieser Hinsicht ganz im Gegensatz zum psychoanalytischen Denken
– darin, dass der Verlust, ebenso wie die Beleidigung und die Sünde,
immer wieder beglichen werden kann. Das ist die Treue Hegels ge-
genüber Jesus. Die Dialektik gestaltet sich hier wie ein wahrhaftiger
Sündenerlass. In diesem Sinn repräsentiert sie eine Mystik der Verge-
bung. »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun...«, sagt das
Evangelium. Auf diese Weise führt die Dialektik das Tun auf das Wis-
sen zurück; sie heilt das Bewusstsein vom Unglücklichsein und be-
freit es von der Sünde, nicht zu wissen, was es tut.
Für Hegel also ist die Trennung bloss eine vorübergehende Set-
zung/Position des Subjekts. Im absoluten Geist gibt es keine Tren-
nung, das Subjekt findet daselbst seine vollkommene Verwirklichung.
Als Vernunft erkennt es sich als eins mit dem Realen. So behauptet er
in der Einführung zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philo-
sophie, dass »die Verdoppelung, die Entfremdung« dem Geist nur
dazu dient, »sich selbst finden zu können, zu sich selbst kommen zu
können«.203
Es ist dieser versöhnliche, teleologische Ausgang, der Lacan zur kriti-
schen Bemerkung bewegt, die er in Subversion des Subjekts und Dia-
lektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten entwickelt: bei der
Hegelschen Dialektik, so sagt er, handelt es sich um eine versöhnli-
che Dialektik, in welcher der Punkt der höchsten Suturierung durch
den Geist als Vereinigung des Symbolischem und des Realem gebil-
det wird. Das Subjekt ist daselbst absolut, »vollendet in der Identität
.at
mit sich selbst«.204 turia
© info@
142
2.
SARTRE VERSUS HEGEL

Die Gründe, die Lacan v.a. in den Sechzigerjahren dazu bewogen,


die Hegelsche Dialektik im Sinn einer konvergenten Dialektik – als
Versöhnung und Aufhebung der Negativität – mit Bestimmtheit zu
verabschieden, finden sich in gewisser Hinsicht schon in Sartres Kri-
tik an Hegel, wie er sie v.a. in Das Sein und das Nichts sehr präzise
formuliert.
Der Ausgangspunkt von Sartres Überlegungen zum Subjekt bildet das
unglückliche Bewusstsein von Hegel. Das Sartresche Für-sich ist
nämlich nichts anderes als eine Neuformulierung von Hegels un-
glücklichem Bewusstsein, das dessen Struktur indes radikal neu be-
stimmt. Anders als der Hegelsche Weg des Bewusstseins führt derje-
nige von Sartre nicht zur Unterdrückung seines endlichen Status und
seines Seinsmangels (manque d’être*).
In der Tat, das Bewusstsein »könnte das An-sich nicht erreichen, ohne
sich als Für-sich zu verlieren. Es ist deshalb von Natur aus unglückli-
ches Bewusstsein ohne mögliche Überschreitung des Unglückszu-
standes«.205
Das Unglücklichsein ist keine Übergangsphase mehr auf dem Weg
des Selbstbewusstseins zum absoluten Wissen, sondern vielmehr die
Seinsbedingung der Existenz als Seinsmangel. Die Teleologie der Sar-
teschen Subjektivität ist deshalb – anders als die Hegelsche – zur Un-
vollständigkeit vorherbestimmt; es handelt sich bei ihr um eine nega-
tive, verstümmelte Teleologie. Der Mensch ist auf der Suche nach
dem Unmöglichen; er ist das Begehren zu sein (désir d’etre*), das Be-
gehren, Gott zu sein als synkretistische Einheit von An-sich und Für-
sich, von Sein und Existenz.
»So ist die Passion des Menschen die Umkehrung der Passion Christi, denn der
Mensch geht als Mensch zugrunde, damit Gott geboren werde. Aber die
Gottesidee ist widersprüchlich, und wir gehen umsonst zugrunde; der Mensch
ist eine nutzlose Passion.«206

Zwischen Sartre und Hegel befindet sich Heidegger und Sein und
Zeit. Weder bei Sartre noch bei Heidegger fällt die Existenz mit einer
Setzung des Absoluten zusammen; es gibt überhaupt keine ontologi-
sche Konsistenz der Existenz. Das ist genau das, was Sartre von Hei-
degger lernt: die Existenz ist Transzendenz, ist ein Heraus-gehen,

143
eine Öffnung ausgehend von der Tatsache – die für Sarte »primitiv et
absurde«*207 ist –, dass sie das eigene Sein nicht selbst gesetzt hat,
sondern sich in einer ursprünglichen und nicht entzifferbaren – sinn-
losen – Geworfenheit wiederfindet.
Es gibt also kein Fundament der Existenz, oder besser: die Existenz
existiert »sans être son propre fondement«*.208 Die Existenz ist kein An-
sich, kein Sein. Sartre bemüht sich, den Begriff des Subjekts von
demjenigen der Substanz zu lösen. Im Gegensatz dazu besteht das
metaphysische Laster Hegels genau darin, die Differenz des Subjekts
als Setzung der Identität der Substanz zu begreifen, d.h. das Für-sich
als Setzung des An-sich, als Verdoppelung, als Entzweiung einer Ein-
heit, die zuerst kommt, von der also angenommen wird, dass sie als
ontologisches Substrat, auf dem der ganze Prozess gründet, am An-
fang steht. Dergestalt entfaltet das Hegelsche Für-sich also eine Iden-
tität, die sich am Ende dadurch wieder zusammensetzt, dass sie sich
wiederfindet. In diesem Sinne behauptet Hegel im Vorwort zur
Phänomenologie des Geistes, dass es sich beim Absoluten um ein »Er-
gebnis« handelt, um ein Ergebnis also, das als letzte und endgültige
Überwindung aller Gegensätze zu verstehen ist.
Wie wir gesehen haben, finden sich auch in Sartre, wenigstens termi-
nologisch, die Begriffe von An-sich und Für-sich. Das Sartresche An-
sich betrifft jedoch keineswegs den Begriff des Subjekts; das An-sich
ist bei Sartre mit einem blossen Realen identisch, das sich jeder Be-
deutung entzieht.209 So ist also die Differenz in Das Sein und das
Nichts kein Effekt der Entwicklung des dialektischen Prozesses (in
dem die Substanz zum Subjekt wird), sondern verläuft gleichsam zwi-
schen dem An-sich und dem Für-sich, indem sie eine Kluft aushöhlt
und eine Irreduzibilität definiert, welche die dialektische Idee einer
fortlaufenden Einverleibung der Differenz in der Identität durch-
löchert.
Das An-sich ist vom Für-sich verschieden; es bildet einen Gegensatz,
einen Widerstand hinsichtlich der Bemühung des Für-sich um Signifi-
kation. Das Für-sich ist in der Weise des Nicht-Seins das, was es ist;
Nicht-Zusammenfallen (avant-à-soi-même*), Seinsverfehlen, bestän-
dige Selbstaufhebung auf dem Weg zu den eigenen Möglichkeiten.
Im Gegensatz dazu ist das An-sich reine Identität, reines tautologi-
sches Zusammenfallen mit sich selbst: Präsenz ohne Leerstellen.
.at
o@ turia
© inf
144
Das Für-sich vom An-sich auf so radikale Weise zu trennen, wie Sar-
tre dies tut, kommt der Subversion der metaphysischen Idee gleich,
wonach sich das Subjekt auf den Begriff der Substanz zu gründen
hat. Das Für-sich, die Existenz, ist weniger ein Sein als vielmehr eine
»décompression d’etre«*. Umgekehrt ist das Hegelsche Subjekt präzise
ein Substanz-Subjekt, wo sich die Alterität in seiner Immamenz auf-
löst, wo der Andere, wie Levinas sagen würde, auf das Selbe redu-
ziert wird. Wie wir gesehen haben, ist also das Irren des Bewusst-
seins, das dem Zusammenbruch seiner eigenen Gewissheiten bei-
wohnt, ein Zweckgerichtetes Irren; es handelt sich um eine
Teleologie der Versöhnung.
In Das Sein und das Nichts erkennt Sartre Hegel das Verdienst zu, das
Hindernis des Solipsismus auf entschiedene Weise überwunden zu
haben, als er in der Phänomenologie des Geistes auf die Struktur der
gegenseitigen und gegensätzlichen Abhängigkeit von Subjekt und
Anderem stiess:
»Hegels geniale Intuition ist hier also, dass er mich in meinem Sein vom Ande-
ren abhängen macht. Ich bin, sagt er, ein Fürsichsein, das durch einen Ande-
ren für sich ist.«210

Dennoch vergisst Hegel – in dieser Hinsicht dem Vorhaben einer Phi-


losophie des Absoluten treu – da, wo er die existenielle, konkrete,
kontingente Individualität den verganzheitlichenden Mustern der Ver-
nunft einpasst, dass sich das Einzelne nicht auf das Allgemeine redu-
zieren lässt.
Die Hegelsche Dialektik mündet so gemäss Sartres Urteil in einen
zweifachen Optimismus: in einen epistemologischen Optimismus, in-
sofern das Sein des Singulären dazu neigt, in der abstrakten Universa-
lität des Begriffes, eines Wissens, das sich als absolut setzt und das
der irreduziblen Anstössigkeit der Bewusstseinsvielfalt ausweicht, zu
verschwinden.211 Und in einen ontologischen Optimismus, der den
epistemologischen Optimismus da verdoppelt, wo er die Aufhebung
der Vielfalt der Existenzen im logischen Monismus eines vollkommen
wiedervernähten Ganzen zu sehen gibt, d.h. da, wo er das Ich in ei-
ner Bewegung, die Lacan aufgrund der abschliessenden Beseitigung
der Spaltung und des Mangels mit Recht als »versöhnend« bezeich-
nete, restlos dem Anderen einverleibt.

145
3.
DAS BEGEHREN IST DAS BEGEHREN DES ANDEREN

Wo er zur Konstruktion einer Subjekttheorie gelangt, die entschieden


auf metaphysische Anleihen einer ontologischen Äquivalenz zwi-
schen Subjekt und Substanz verzichtet, befindet sich Lacan auf Sartres
Seite gegen Hegel. V.a. Lacan wird diesen Einschnitt zwischen Subjekt
und Substanz in dem Sinne vertiefen, dass er die Position der Unter-
werfung des Subjekts unter die Instanz des Signifikanten heraus-
streicht, d.h. dass er v.a. die Einwirkung der Struktur auf das Subjekt
zu denken erlaubt. Wohingegen Sartre auf der Freiheit insistieren
wird, die nicht so sehr als ontologische Eigenschaft eines substantiell
kompakten und eigenmächtigen Subjekts, sondern vielmehr als un-
umgängliches Schicksal der Existenz übernommen wird, als Bindung
– »Verurteilung« – der Existenz an die eigene Abgründigkeit mit dem
Ziel, die absolute Hetereogeneität der menschlichen Realität bezüg-
lich jedes ontologischen Substanzialismus – in einem Vorhaben, das
zugleich dasjenige von Lacan ist – zu radikalisieren.
Dennoch macht sich Lacan in den Fünfzigerjahren dank der Vermitt-
lung von Kojève Hegels Idee der Begierde als Anspruch auf Anerken-
nung bzw. des Begehrens als Begehren des Anderen zu eigen.
In diesen Jahren gelangt Lacan gar dahin, die Arbeit der Analyse als
eine Praxis der »Aufhebung der Entfremdung«212 zu definieren und so
dem »humanistischen« Missverständis einer »historischen« Natur der
Entfremdung Vorschub zu leisten, die der Mensch hinter sich zu las-
sen vermöchte, sofern es ihm gelingen sollte, das eigene Wesen – wie
der junge Marx in den Manuskripten von 1844 erklärte – zu emanzi-
pieren.
In den Sechzigerjahren, insbesondere im Seminar XI, das den Vier
Grundbegriffen der Psychoanalyse gewidmet ist, distanziert er sich
klar von jener Perspektive und führt die Entfremdung als einen Pro-
zess ein, der das Subjekt als solches hervorbringt. Die Hypothese einer
Befreiung aus der Entfremdung verliert aber ihren ganzen Sinn, wenn
ja letztere nichts anderes ist als das Zeichen der Einwirkung des Sig-
nifikanten auf die Position des Subjekts. In diesem Zugang wird die
Entfremdung von Lacan auf der Seite des Symbolischen situiert, als
das, was darauf hinweist, dass das Subjekt »vom Signifikanten affiziert
wurde«.213 .at
o@ turia
© inf
146
Wie schon erwähnt, konzipiert Lacan jedoch die Entfremdung in ei-
ner ersten Phase als imaginäre Bewegung, durch die sich das Subjekt
ausgehend vom Anderen, von der Anerkennung des Anderen konsti-
tuiert. Im Vordergrund steht hier das Imaginäre. Das spezifische Ob-
jekt des Vorhabens einer strengen Ausarbeitung der Psychoanalyse
und ihrer epistemologischen Neubegründung, die Lacan in den
Dreissiger- und Vierzigerjahren unternimmt, ist die Imago, gefasst als
Vermögen der Gestaltung, als das, was in den Bann zieht und ge-
fangennimmt. Lacan spricht diesbezüglich von einer »gestaltbilden-
den« Einwirkung des Bildes.214
Es ist das Problem der Identifikation, das in diesen Jahren das Haup-
tinterese Lacans ausmacht, ein Problem, das er bei Freud findet, be-
sonders in der Einführung in den Narzissmus und in Massenpsycho-
logie und Ich-Analyse. Es handelt sich um die Frage, inwieweit die
unbewusste Aufnahme eines Bildes des anderen die Position des
Subjekts in ihrem Innern verändert. Die Identifikation ist in der Tat
das, was in das Subjekt eine Alterität einführt, die letzteres zu einem
anderen macht, es als verschieden/anders von sich begründet. Dies
ist genau die Position, die Lacan dem moi als einem Aggregat, als ei-
ner Konstellation von Identifikationen zuschreibt, die sich vom Sub-
jekt des Unbewussten (je) unterscheidet.
Die imaginäre Konstitution des Ichs strukturiert sich nach Lacan im
Spiegelstadium, dessen Ausarbeitung stark unter dem Einfluss Hegels
steht. Die imaginäre Entfremdung, die sich in diesem Stadium artiku-
liert, organisiert sich um die dialektische Zeitlichkeit, die Hegel im
Kapitel über das »Selbstbewusstsein« in der Phänomenologie des Gei-
stes entwirft. Lacan liest Hegel jedoch – wie wir schon gesagt haben –
via Kojève. Wir müssen deshalb einen Umweg über Hegel oder bes-
ser: über den Hegelkommentar von Kojève einschlagen, um zur La-
canschen Begründung des Spiegelstadiums zu gelangen.
Gehen wir erneut von Hegel aus. Was sagt er über das Begehren? Das
Begehren führt ihn zu den folgenden vier Thesen:

1. Zur These, dass die Struktur des Begehrens nicht mit derjenigen
des Bedürfnisses, der Begierde* identisch ist, weil letztere eine nega-
tive Tätigkeit impliziert, die sich auf das Gebiet der Objekte be-
schränkt, während sich das Begehren auf ein anderes Subjekt, auf die
subjektive Alterität bezieht.

147
2. Zur These, dass die menschliche Welt ein Feld ist, das vom Be-
gehren als einem Tun vorgezeichnet ist, das nicht auf eine einseitige
Negation, sondern auf die Intersubjektivität zielt; das menschliche
Begehren – jenes Begehren, das Kojève als »anthropogenetisch« defi-
niert – ist das Begehren, vom anderen Selbstbewusstsein anerkannt
zu werden. Oder anders gesagt: das menschliche Begehren ist ein
Anspruch auf Anerkennung. Deshalb »wäre das einseitige Tun
unnütz«.215 Für Hegel ist die Verdoppelung, die Entzweiung in der Tat
ein wesentliches Moment für das Wiederfinden seiner selbst, für die
Konstitution des Subjekts als solches. Dies ist also die Bewegung des
Begehrens: das Selbstbewusstsein kann sich als das, was es ist, nur
vermittels des Anderen, nur vermittels des Begehrens des Anderen
anerkennen.

3. Die Intersubjektivität artikuliert sich auf konflikthafte Weise, ei-


nem Dilemma ähnlich, weil nur eines der beiden Subjekte vom ande-
ren seine Anerkennung bekommen wird, während das anerkennende
Bewusstsein seinerseits nicht anerkannt werden kann. Die Dialektik
der Anerkennung ist deshalb zu einer ursprünglichen Asymmetrie
vorherbestimmt: das ist die antagonistische Seite eines solchen Zu-
sammentreffens, wo beide Selbstbewusstseine je den Tod des ande-
ren zum Ziel haben. Eines von ihnen wird der Herr und das andere
der Knecht sein.

4. Diese Dialektik führt schliesslich zu einer Versöhnung. Die tra-


gisch-konflikthafte Ungleichheit, welche die imaginäre Beziehung
zwischen den Selbstbewusstseinen regelt, wird in dieser Beziehung
in den symbolischen Formen, in denen sich das Leben des Geistes
objektiviert, aufgehoben.216

Was macht nun Kojève mit Hegel?217 Es muss v.a. gesagt werden, dass
Kojève im allgemeinen eine Radikalisierung der dialektischen Negati-
vität mit Blick auf Heidegger ins Werk setzt, indem er Hegel einige
Motive der Existentialanalytik von Sein und Zeit aufpfropft. Meiner
Meinung nach handelt sich hierbei insbesondere um zwei theoretisch
gewichtige Punkte, die Kojève bei Hegel hervorhebt:

1. Der Status des Subjekts, der menschlichen Realität, entspricht kei-


ner einfachen Präsenz, keinem An-sich. Das Sein des Menschen ist
ia.at
nichts einfach Gegebenes oder bloss Vorhandenes.©Esiist o@tur
nfHeidegger,
148
der in Sein und Zeit gezeigt hat, dass das Dasein nicht in der Weise
des Seienden ist, sondern in der Weise einer nie ruhenden Zeitlich-
keit. Das Dasein als Geworfenheit in die Welt ist in der Tat nicht der
Grund seiner selbst. Im Gegenteil ist es, wie später auch Sartre wie-
derholen wird, eine beständige Differenz von sich selbst, ein Nicht-
Zusammenfallen, ein Sein, das nicht das ist, was es ist, sondern das,
was es nicht ist.

2. Es ist das Begehren, das diese Gespaltenheit des Subjekts und


seine Heterogeneität in bezug auf das Sein der Dinge manifest wer-
den lässt. Der Mensch ist also Begehren; er ist Begehren, vom Ande-
ren anerkannt zu werden. Aber anders als bei Hegel ist das Begehren
für Kojève – der durch die Heideggersche Idee der Abgründigkeit des
Daseins hindurchgegangen ist – wesentlich Sorge, die Sorge um diese
Leere, die sich danach sehnt, gestopft zu werden. Das Begehren ist
diese Leere (“eine unwirkliche Leere«, wie Kojève sagt), die es zu ei-
nem anderen Begehren drängt, weil sie von keinem Objekt ausgefüllt
werden kann. Deshalb ist das Begehren des Menschen nichts anderes
als das Begehren, das Begehren des Anderen zu sein, d.h. das Begeh-
ren, begehrt zu werden: es ist – wie Lacan sagen wird – das Begeh-
ren des Anderen. Für Kojève ist deshalb die Geschichte der Subjekte
die »Geschichte unserer begehrten Begehren«.

In seinem Kommentar zu Hegel neigt Kojève dazu, das Moment der


irreduziblen Mangelhaftigkeit zu betonen, die dem Begehren inne-
wohnt, die antidialektische, intransitive, absolute Natur des Begeh-
rens, wie man sagen könnte. Und es ist genau dieser irreduzible
Aspekt des Mangels, den Lacan im Spiegelstadium artikuliert.
Was ist nun genau das Spiegelstadium? Für Lacan ist es ein erstes Mo-
ment, eine erste Phase des Subjektivierungsprozesses des Menschen.
Lacan spricht von einem carrefour structural*218, der ein wesentliches
Moment in der Geschichte des Subjekts bezeichnet – eine Ge-
schichte, die nichts anderes als die Geschichte der wiederholten
Identifikationen ist, durch die sich das Subjekt produziert.
Zwischen sechs und achtzehn Monaten ist zu beobachten, wie das
Kind frohlockend auf das eigene Bild – das es als eigenes anerkennt
– antwortet. Es geht um das, was Hegel als Ursprung, als jenen
Punkt, der das Selbstbewusstsein bildet und konstituiert, definieren
würde: das Kind erkennt sich im Bild, das ihm der Spiegel zurück-
149
wirft, es identifiziert sich mit einem Bild, das es lernt, als sein eigenes
anzuerkennen. Der Hegelsche Aspekt dieser Konstruktion ist evident:
das Ich konstituiert sich nicht als eine synthetisch-vereinheitlichende
Operation des Bewusstseins (denken wir z.B. an die Funktion, die
bei Kant das Ich-denke annimmt, dessen Aufgabe darin besteht, »alle
meine Vorstellungen begleiten zu können«, um ihnen Einheitt zu ge-
währen), sondern es findet seine Einheit und Identität nur dank dem
Beitrag des Anderen. Es steht hier etwas auf dem Spiel, was Hegel
bestens begriffen hat, d.h. die strukturelle Abhängigkeit des Ichs vom
Anderen, was Lacan dazu drängen wird, eine Art paranoischer Kon-
stitution des Ichs zu thematisieren.
Lacan jedoch führt in die Hegelsche Zeitlichkeit der Dialektik der An-
erkennung – durch eine persönliche Relektüre des Kojève-Kommen-
tars – zwei fundamentale antidialektische Bruchstellen ein:
Einen synchronischen Bruch: Im Spiegelstadium, schreibt Lacan,
»schlägt sich das Ich (je) in einer ursprünglichen Form nieder«.219
Diese Form ist das Idealich i(a), das gänzlich aus narzisstischem Stoff
gemacht ist. Von dieser Gestalt* gefangen, schreibt sich das Ich in
eine »fiktive Linie« ein. Es handelt sich beim Ich also um einen Ort der
Verkennung.
Das Problem besteht darin, dass diese Vereinheitlichung des Subjekts
– im Idealbild – in einem Augenblick geschieht, da das Kind in einem
Seinszustand der Zerstückelung lebt und seiner noch nicht mächtig
ist. Die motorische Ohnmächtigkeit, die Abhängigkeit von der
Ernährung und die Unfähigkeit zu sprechen situieren das Kind dies-
seits dieses Idealbildes, das sich deshalb als ein wahrhaftiges Trugbild
definieren lässt, das eine Reifung vorwegnimmt, eine Vervollkomm-
nung, eine Vollständigekit, die sich noch keineswegs konstituiert hat.
Ein solches Bild ist in der Tat, wie Lacan selbst sagt, »eher bestim-
mend als bestimmt«.220
Das, was unwiderruflich mit dem dialektischen Schema einer restlo-
sen Anerkennung bricht, ist also dieser Widerspruch zwischen der
»ursprünglichen Diskordanz«, in der sich das Subjekt in den Monaten
nach der Geburt befindet (“spezifische Vorzeitigkeit der menschli-
chen Geburt«), und der imaginären Antizipation einer illusorischen
Vollkommenheit (die evolutionistisch gesehen an die vorzeitige Rei-
fung des Sehsinnes geknüpft ist). Es finden sich also in einer parado-
at
uria.
nfo@t
xen Gleichzeitigkeit auf der einen Seite auflösende undizerstückelnde
©
150
Tendenzen und auf der anderen eine Einheit, die gleichsam allzu
früh ankommt, die sich deshalb nur imaginär verwirklicht und das
Subjekt in einem Ideal entfremdet und gefangen hält.
Einen diachronischen Bruch: Das Spiegelstadium ermöglicht die An-
erkennung, es individualisiert und vereinheitlicht. Aber – und das ist
der zweite tragische Widerspruch – diese Einheit, in der sich das Sub-
jekt erkennt, ist eine »entfremdete Einheit«.221
Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Kluft, die sich zwischen dem
Jenseits und dem Diesseits des Spiegelbildes auftut, unüberwindlich
ist. Es bedeutet, dass das Subjekt nicht mehr mit dem Idealbild von
sich, das ihm der Spiegel zurückwirft, wird zusammenfallen können.
Die Geschichte der Menschen ist so die Geschichte einer unmögli-
chen Rückkehr zu dieser Identität. Diese Spreizung findet sich bei
Hegel nicht. Sie findet sich bei Lacan. Genau darin besteht Lacans Ei-
gentümlichkeit gegenüber Hegel. Es handelt sich jedoch um etwas,
das auch Sartre in denselben Jahren begriffen hatte: die Vorstellung
von sich selbst impliziert die Unmöglichkeit, sich als das zu begrei-
fen, was man ist. Genau da, wo sich das Subjekt als »Objekt« der Er-
kenntnis setzt, verliert es sich in der Tat, löscht es sich als Subjekt
aus. Das Sartresche Bewusstsein ist nichts anderes als die Unmöglich-
keit der Identität mit sich selbst. Es ist in der Weise der Distanz von
sich selbst. Es gibt da einen Zwischenraum von Nichts, der es un-
möglich macht, dass es mit sich selbst zusammenfallen kann. 222
Bei Lacan wird dieser Zwischenraum – der sich bei Sartre innerhalb
des Bewusstsein ansiedelt – zur Unmöglichkeit für das Subjekt, sich
sein Bild wieder anzueignen: »Das Ich ist nie etwas anderes als die
Hälfte des Subjekts, oder besser: diejenige Hälfte, die es verliert, in-
dem sie es wiederfindet«.223
Das Spiegelstadium entspricht also jenem Drama, welches das sub-
jektive Ungenügen in einer imaginären und bezaubernden Antizipa-
tion der narzisstisch-idealen Vollkommenheit suturiert, einer Vollkom-
menheit, in der sich das Subjekt nichtsdestoweniger entfremdet, inso-
fern es seinerseits dazu verdammt sein wird, nicht mehr mit jenem
Bild zusammenzufallen. All das wird von Lacan im Gleichnis des
Blinden und des Gelähmten suggestiv repräsentiert. Der Gelähmte ist
in seinem ungeschickten Zappeln das »Zuerst« der Spiegelerfahrung.
Er findet seine Einheit nur in der faszinierenden und bezaubernden
Unbeweglichkeit des Blickes des Blinden. Ein Blick ohne Leben, ein

151
hypnotischer Blick, der die Spaltung des Gelähmten gleichsam in sich
aufsaugt und sie in eine ideale und zugleich unmögliche Einheit ver-
wandelt, in eine leblose, entfremdete Statue.224

4.
DIE HEGELSCHE UND DIE LACANSCHE
ENTFREMDUNG

Die Entfremdung ist bei Hegel nur in Beziehung auf den Begriff des
Subjekts denkbar. Hegels Problem besteht darin, die Substanz als
Subjekt225, d.h. das Absolute als Subjekt in einer nie ruhenden Bewe-
gung, in einer symbolischen Historisierung zu denken. Das »Schisma«
– wie Jean Wahl sagt – des An-sich, der Ungeteiltheit der Substanz
liegt in der Ankunft der Entfremdung, in jenem Moment, in dem sich
die Identität veräussert und als Anderes setzt, in dem die Substanz als
Subjekt ist; in dem sie ausser sich, im Anderen ihrer selbst entfremdet
ist.
Es gibt also ein Wesen (das An-sich), das sich in einem zweiten
Schritt auflöst, sich veräussert und sich in der geschichtlich-symboli-
schen Objektivierung manifestiert.
Es kommt zu einer Wende. Lacan gibt der Entfremdung eine andere
Bedeutung, als sie noch in der Hegelschen Dialektik besass. Die Aus-
arbeitung des Begriffes der Entfremdung, die sich im Seminar XI fin-
det, bezeugt es. Die Lacansche Entfremdung impliziert nämlich kei-
neswegs die Idee der Substanz – des Subjekts als Substanz –, sondern
ist die denkbar radikalste Art und Weise, dieselbe zu beseitigen. Die
Lacansche Entfremdung versucht, das Abhängigkeitsverhältnis zwi-
schen dem Subjekt und dem Signifikanten zu beschreiben. Die Ar-
beit, die Lacan an Hegel vollführt, besteht darin, aus der Entfremdung
nicht mehr eine Position des Subjekts, sondern ein verursachendes
Moment zu machen, eine Modalität der Verursachung des Subjekts.
Bei Hegel gehört die Ursache dem Subjekt an; es ist das Subjekt, das
– als Substanz – die Ursache seines eigenen Seins, seines eigenen
Werdens ist. Das Hegelsche Subjekt steht für das Moment der Verdop-
pelung der Einheit der Substanz: das Für-sich-Werden des An-sich. Es
gibt also eine Objekt-Substanz, die das ontologische Vermögen, zum
Anderen seiner ihrerzu werden, in sich enthält und sich als (teleologi-
ia.at
o@tur
© inf
sche) Ursache des ganzen dialektischen Prozesses setzt.
152
Für Lacan indessen kann »kein Subjekt die Ursache seiner selbst sein«;
der Andere ist vielmehr der Ausgangspunkt, der Andere ist für das
Subjekt »der Ort seiner signifikanten Verursachung«.226 Die Entfrem-
dung wird also zur Funktion, die der Signifikant auf das Subjekt aus-
übt und die Lacan als »letal« definiert. Insofern das Subjekt von einem
Signifikanten für einen anderen Signifikanten repräsentiert wird, ver-
schwindet es, löscht es sich (Lacan nimmt hier die aphanisis von Jo-
nes auf) genau da aus, wo es repräsentiert wird. Die Entfremdung ist
die Wirkung, die der Andere auf das Subjekt ausübt, und nicht wie
bei Hegel die Position der Subjekt-Substanz, die sich im Anderen
setzt.
Bei Lacan ist deshalb nicht die Subjekt-Substanz ursprünglich, die
dann in einer zweiten Phase ihr eigenes Wesen veräussert, sondern
der Andere. Es ist der Andere – als Feld der Sprache –, der dem Sub-
jekt vorhergeht und auf den das Subjekt als immer schon daseiendes,
als irreduzibles Aussen stösst. Wir haben es also nicht mit einem Sub-
jekt zu tun, das sich im Anderen entfremdet, sondern vielmehr mit
dem Anderen, der das Sein des Subjekts in einem Feld struktureller
Entfremdung determiniert. In diesem Sinne ist auch der Sartresche
Existenzialismus eine Form des Hegelianismus, da nämlich, wo Sartre
die Existenz als Vermögen der néantisation* definiert. Bei Sartre ist es
das Sein des Für-sich, welches das Nichts ins Sein einführt, welches
also in anderen Worten das Sein des An-sich negativiert, indem es
dasselbe in der eigenen Bewegung der Transzendenz übersteigt. Für
Lacan hingegen ist es der Andere, der das Subjekt negativiert. Die La-
cansche Entfremdung impliziert so eine Verurteilung; das Subjekt ist
dazu verurteilt zu verschwinden, insofern es vom Signifikanten affi-
ziert und gleichsam in die Ketten der Signifikantenordnung gelegt
wird. Im Gegensatz dazu besitzt das Subjekt für Hegel die ontologi-
sche Priorität vor dem Signifikanten. Der Signifikant veräussert, ob-
jektiviert und manifestiert das Sein der Substanz und der Idee im
Symbolischen, wobei es aber die Subjekt-Substanz ist, welche die
Grundstruktur des Prozesses konstituiert. Es ist vielmehr die Subjekt-
Substanz, die die Matrize des Prozesses konstituiert. Man kann so sa-
gen, dass sich das Hegelsche Subjekt im Signifikanten verwirklicht,
wohingegen das Lacansche sich unter dem Signifikanten auslöscht.
Es findet sich bei Lacan ein logischer Einschnitt gegenüber der hegel-

153
schen Entfremdung; der Signifikant besitzt die Priorität gegenüber
dem Subjekt.227
Ebensowenig ist das Hegelsche Symbolische mit demjenigen von La-
can identisch. Das Hegelsche Symbolische ist metaphysisch. Für He-
gel sind das Endliche und seine geschichtlichen Gestalten gemäss ei-
ner entschieden »theologischen« (wie Derrida sagen würde) Auffas-
sung des Zeichens Signifikanten des Absoluten. Hegels Philosophie
des Geistes (d.h. diejenige Philosophie, die in den Gestalten und
Hervorbringungen des Geistes die mehr oder minder angemessene
Manifestation des Absoluten erkennt) ist nichts anderes als eine Theo-
logie des Zeichens, die auf der wechselseitigen Entsprechung von Sig-
nifikat und Signifikant (von Innen und Aussen) gründet. Wie Hegel in
der Einleitung der Philosophie des Rechts sagt: das Signifikat pulsiert
in seinen signifikanten Hervorbringungen, es ist ihr Puls. Das Hegel-
sche Symbolische ist die geschichtliche Niederschrift des Unendli-
chen, des Willens des Weltgeistes*. Es handelt sich bei ihm um eine
geschlossene Ganzheit, in der das Allgemeine und das Einzelne
wechselseitig ineinander aufgehen, ohne dass dabei ein Rest übrig-
bleibt. Das Reale wird gänzlich im Signifikat absorbiert, das Reale
und das Symbolische entsprechen sich vollkommen. Genau das ist
der Sinn der berühmten Hegelschen Aussage, gemäss der »vernünftig
ist, was auch wirklich, und das wirklich, was vernünftig ist«.
Bei Lacan hingegen siedelt sich das Symbolische ausserhalb der Me-
taphysik des Zeichens an. Signifikat und Signifikant befinden sich
nicht in wechselseitiger, punktueller Übereinstimmung, weil das Sig-
nifikat kein An-sich, kein »Ding« ist. Lacan sprengt die metaphysische
Vorstellung, dass es sich beim Signifikat um ein Seiendes handelt.
Das Signifikat ist nur innerhalb der Signifikantenkette denkbar. Diese
Feststellung kommt der Auflösung eines jeden theologischen Dualis-
mus gleich, weil das Signifikat in seiner immanenten Beziehung mit
dieser Kette und nicht mehr in einem Punkt, an einer Stelle, in einem
einzelnen Glied denkbar ist. Das Signifikat, sagt Lacan im Drängen
des Buchstabens, persistiert in keinem einzelnen Glied der Kette, son-
dern insistiert.
Oder genauer: Die Insistenz des Signifikats produziert sich als Effekt
der Signifikation, die sich durch die signifikante Verkettung herstellt
und die notwendig auf eine andere Signifikation verweist. Wir haben
es also mit einer Inkonsistenz des Signifikats zu tun. iBei Hegel ia.at
@turhin-
© nfo
154
gegen ist alles vom Sinn durchdrungen. Bei Lacan ist es im Grunde
nicht weit her mit dem Sinn: es gibt da weder Sinn im Sein noch im
Signifikanten. Das ist die unheimliche Wahrheit, die sich in der Me-
lancholie zeigt, die ausgehend von einer Auflösung des Signifikanten
jenen »Existenzschmerz« hochkommen lässt, jenen stummen und un-
durchsichtigen Grund des Seins, den schon Schopenhauer und Nietz-
sche im Rückgriff auf die Wahrheit der griechischen Tragödie der Ver-
gessenheit zu entreissen suchten.
Auf dem Grunde des Symbolischen findet sich diese Leere, dieser Ab-
grund, dieses stumme Reale. In diesem Sinn besitzt das Symbolische
bei Lacan, anders als bei Hegel, keine ontologische Stütze, es gibt
nichts ausserhalb des Symbolischen, das dessen Sein garantierte. Es
gibt »keinen Anderen des Anderen«, wie Lacan sagt. Als S(¶) lässt sich
diese Abwesenheit eines ontologischen Grundes, die das Symboli-
sche charakterisiert, in Form eines Mathems schreiben. Genauer: was
im Anderen fehlt – die Barre weist nämlich darauf hin, dass dem An-
deren etwas mangelt –, ist der phallische Signifikant, jener Signifi-
kant, der den Mangel zu stopfen vermag. Dieser Signifikant – der
phallische – fehlt. Er gibt sich also als Signifikant des Mangels selbst,
insofern er das konstitutive Fehlen des Signifikanten anzeigt. Eben
deshalb ist der Andere bei Lacan ein durchgestrichener Anderer, ein
Nicht-Alles. Hegel konnte nicht bis hierhin gelangen; in seinem Sy-
stem ist der Andere mit einer Fülle identisch und hat keine Löcher, er
ist ein Alles. Symbolisches und Reales spiegeln sich wechselseitig
und geben der dialektischen Identität Raum. Lacan hingegen beharrt
auf der Unmöglichkeit dieser Identität, so dass Symbolisches und
Reales nicht zur Deckung gelangen. Es gibt da etwas an Realem, das
in bezug auf das Netz der Sprache überschüssig bleibt. Es handelt
sich hierbei um das, was Lacan als das Objekt (a) formalisiert, d.h.
um die pièce de resistance eines Realen, das sich nie gänzlich mit den
Gesetzen der Signifikanten in Übereinstimmung bringen lässt. Ort ei-
ner Trägheit und einer Wiederholung – das ist eine Bedeutung, die
Lacan dem Realen verleiht: »Das Reale wäre hier das, was stets an
derselben Stelle wiederkehrt«228 –, der die Stellung des Subjekts orien-
tiert und der Lacan dahin bringt, den »dialektischen« Status, den er –
via Hegel und Kojève – dem Begehren anfangs verlieh, neu zu über-
denken.

155
5.
DIE OBJEKT-URSACHE DES BEGEHRENS

Lacan hat sich – wir haben es gesehen – die Hegelsche Idee des Be-
gehrens als Begehren nach Anerkennung, als Begehren des Anderen
zu eigen gemacht. Diesbezüglich liegt der Akzent auf der Irreduzibi-
lität des Begehrens auf das Bedürfnis. Das Begehren geht nicht auf
Objekte – es existiert buchstäblich kein Objekt des Begehrens, wie
Freud sagt –, sondern auf das Begehren des Anderen; als solches ist
es Begehren des Begehrens des Anderen. Daher rührt der »bedin-
gungslose« Charakter des Begehrens, das in bezug auf jedes mögliche
Befriedigungsobjekt immer in einem Überschuss ek-sistiert. Das Be-
gehren ist unbedingt, weil es im manque-à-être* verwurzelt ist, weil
es sich also um kein Begehren nach Etwas, sondern um ein Begehren
zu sein handelt.
Hier befindet sich Lacan auf Sartres Seite. In Das Sein und das Nichts
definiert Sartre den Status des Für-sich in der Tat als »verleugneten
Mangel«, als manque d’être*, der immer schon désir d’être*, d.h. Ne-
gation des eigenen Mangels ist.
»Die menschliche Realität ist dauerendes Überschreiten auf eine Koinzidenz
mit sich hin, die niemals gegeben ist. (...). In diesem Sinn ist der zweite karte-
sianische Gottesbeweis zwingend: das unvollkommene Sein überschreitet sich
zum vollkommenen Sein hin; das Sein, das Grund nur seines Nichts ist, über-
schreitet sich zum Sein hin, das Grund seines Seins ist.«229

Lacan und Sartre denken das Begehren gegen Hegel als in seinem ei-
genen Wesen unmöglich. Es ist für das Für-sich unmöglich, sich als
Einheit von Sein und Existenz zu konstituieren und Gott zu sein wie
der Mythos, der diese Einheit repräsentiert, ebenso wie es unmöglich
ist, ein Objekt zu finden, das die Kluft des Begehrens zu schliessen
vermöchte, das also imstande wäre, den strukturellen Einschnitt, den
der Signfikant im Subjekt einführt, wieder zu vernähen. Bei Hegel
hingegen verwirklicht sich das Begehren in der Vernunft als Anerken-
nung des Anderen im Sinne einer Setzung des Subjekts; ohne Reste
übrig zu lassen, hebt es sich in der Anerkennung des Eins- und Iden-
tischseins mit der Allgemeinheit der Vernunft auf. Darin besteht die
grosse Aufgabe, die Hegel der Dialektik zuweist: den Mangel aufzu-
heben, die Spaltung zu kitten, die Differenz auf die Identität zurück-
zuführen. Aber gegen Hegel – so sagt Lacan – geht es darum, »an Ort .at
turia
und Stelle der Sprünge eines idealen Fortschritts die info@
© Verwandlungen
156
230
eines Verfehlens anzuzeigen« . Der Mangel des Subjekts kann sich
keinesfalls in einer abschliessenden Versöhnung auflösen, weil es
sich bei ihm um einen Seinsmangel des Subjekts handelt; sein Schick-
sal ist aufgrund der Bewegung des Begehrens dasjenige einer Meta-
morphose, wie Lacan behauptet. Hier ist es, wo wir auf die Lacan-
sche Formel des Begehrens als »Metonymie des manque d’être*« tref-
fen und wo wir die Barre, die das Subjekt furcht und es teilt (fi),
anzusiedeln haben.
Analog dazu ist der Mangel im Sinne eines »existentiellen« Mangels
für Sartre kein vorübergehender Seinszustand, kein Hegelscher vor-
läufiger Zustand auf dem Weg des Bewusstseins zu sich selbst, son-
dern die ontologische Wurzel der Existenz. Existieren bedeutet nichts
anderes als des Seins zu ermangeln. Das Begehren bleibt also – inso-
fern es sich an den Anderen richtet, d.h. als Begehren nach Anerken-
nung – dialektisch, wenn es auch nicht zur Gänze dialektisch ist. Bei
Lacan geschieht diese Wiederaufnahme der dialektischen Natur des
Begehrens dadurch, dass er den Begriff des Objekt (a) als »Objekt-Ur-
sache des Begehrens« einführt, auch wenn schon das Beharren auf
dem »paradoxen«, »erratischen«, »exzentrischen« Charakter des Begeh-
rens genügt hätte, um das Lacansche Begehren vom Hegelschen zu
unterscheiden. Dennoch trifft Lacan mit dem Begriff der Objekt-Ursa-
che des Begehrens ins Herz des »humanistischen« Bildes vom Begeh-
ren, d.h. er unterläuft die Idee, wonach das Begehren gleichsam
vom Subjekt getragen wird und dem Vektor einer Intentionalität folgt,
d.h. teleologisch nach vorne gerichtet ist.
Bereits Sartre revidiert diese Konzeption des Begehrens grundlegend.
Als Begehren zu sein erscheint das Begehren als das, was das Subjekt
trägt, was es zu einer »immer angezeigten und immer unmöglichen« 231
Ganzheit vorherbestimmt: eine Passion, die die Intentionalität mit ei-
nem Ziel verbindet, das weniger vom Subjekt gewählt als vielmehr
von der Struktur des Begehrens determiniert wird, die die Möglich-
keit des Subjekts, sich zu entwerfen, durchkreuzt.
Dennoch bleibt die Subjektivität bei Sartre aufgrund des désir d’être*
auch weiterhin teleologisch orientiert; Gott konstituiert den – wenn
auch unmöglichen – Fluchtpunkt des Begehrens. Das Begehren setzt
das Subjekt in Bewegung, indem es dasselbe vorwärts treibt. Es hält
das Subjekt als Streben nach jener – »immer angezeigten« – Seinsganz-
heit von An-sich und Für-sich, von Sein und Existenz, die in Wirklich-
157
keit immer ausser Reichweite bleibt, in Bewegung. Es handelt sich
um eine negative, immer aufgeschobene Teleologie: das Begehren ist
zum Scheitern vorherbestimmt.
Nebst dem, dass Lacan diesen »unmöglichen« Charakter des Begeh-
rens wieder aufnimmt, radikalisert er auch den Status der Unterwer-
fung des Subjekts unter das Begehren, d.h. er zeigt auf, dass – im
Sinne der teleologischen und »humanistischen« Intentionalität – kein
Subjekt des Begehrens existiert, sondern allein eine Unterwerfung
unter das Begehren. Das Subjekt ist dem Begehren unterworfen. In
diesem Sinne befindet sich das Objekt nicht vor dem Begehren. Es
schreibt sich vielmehr als Objekt-Ursache hinter seinem Rücken, links
vom Vektor des Begehrens (a  fi), ein. Deshalb funktioniert das Ob-
jekt, das immer verloren ist, weil es seit jeher dem Signifikanten un-
terworfen ist, als Ursache, die die Bewegung des Subjekts orientiert.
Auf diese Art und Weise überdenkt Lacan den Freudschen Hinweis
auf die Unzerstöbarkeit des Begehrens. Er integriert ebendiese Zer-
störbarkeit in die Logik des Phantasmas (fi£a), das sich im Objekt (a)
artikuliert.
Lacan hat dieses Objekt einmal als osbjet*232 gekennzeichnet, um auf
seine Exzentrizität hinsichtlich des Signifikanten hinzuweisen. Es ist
in dieser Schreibweise in der Tat etwas vorhanden, das als Knochen
agiert, das der Signifikantenbehandlung Widerstand entgegensetzt.
Genau deshalb bemisst Lacan die Grenze des philosophischen Dis-
kurses als eines Diskurses über den Sinn, dem der Zugang zum Feld
des Realen versperrt ist, an diesem Knochen-Objekt. Das Objekt (a)
ist also das ausserphilosophische Objekt par excellence, das einem
Gebiet angehört, das von der Philosophie vernachlässigt (»délaissé«*)
und in schlechten Ruf gebracht wurde (»décrié«*)233. Hier findet die
Psychoanalyse ihre Bestimmung, indem sie in einzigartiger Weise ver-
sucht, die Annahme des Objekts (a) als Objekt-Ursache des Begeh-
rens, als Ursächlichkeit, die nach einer Bewegung der Subjektivie-
rung verlangt, ins Werk zu setzen – nicht ein absolutes Wissen, son-
dern eine Ethik des Begehrens.

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o@ turia
© inf
Die Konstitution des Subjekts

1.
DREI PERSPEKTIVEN

Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, die Problematik der
Subjektivität bei Lacan im Rückgriff auf die Begriffe des Universellen
und des Singulären zu analysieren.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Singularität und Universa-
lität gehört der Geschichte der abendländischen Philosophie an. Wir
könnten auch sagen, dass die abendländische Philosophie als solche
mit dieser Frage geboren wird: Wie lässt sich der Zusammenhang
denken zwischen dem, was individuell und vielfältig ist, und dem,
was dem Feld einer idealen Universalität angehört? Wie muss das Ver-
hältnis zwischen dem Einen (die Universalität) und der einzelnen Dif-
ferenz (die Singularität), zwischen der Welt der idealen Formen und
derjenigen der kontingenten Existenz gedacht werden (das ist die
grosse Aufgabe, die sich Platon stellt)?
Lacan gelangt zu dieser Frage in einer ersten Phase wesentlich durch
Hegel und in einer zweiten Phase durch die Erfahrung des Struktura-
lismus.
Wir dringen zum Kern des Problems vor, wenn wir uns eine einlei-
tende, aber nichtsdestoweniger zentrale Frage stellen: Was genau
meinen wir, wenn wir aus einer Lacanschen Perspektive vom Univer-
sellen und vom Singulären sprechen? Wir meinen das folgende: Wie
schreibt sich das Verhältnis zwischen der Subjektivität und dem An-
deren? Oder anders gefragt: Wie tritt ein Subjekt, d.h. eine Singularität
in das Feld des Anderen ein, wie bewegt es sich darin und welche
Bewegungsspielräume hat es in dem Moment, da es das Feld des An-
deren, d.h. das Feld des Universellen betritt? Und wie definiert das

159
Subjekt seine eigene Singularität, wenn sie sich nur im Verhältnis zur
Universalität des Anderen bestimmt?
Es ist vielleicht möglich, wenn auch in einer unvermeidlich schema-
tischen Weise, drei verschiedene Perspektiven auszumachen, in de-
nen das Verhältnis zwischen Universalität und Singularität konzipiert
wurde und die den Horizont des Lacanschen Diskurses wesentlich
mitprägten:

1) Die Perspektive der Aufhebung/Integration von Universalität und


Singularität. Darin besteht die dialektisch-hegelsche Lösung. Das Sin-
guläre/Einzelne wird im Universellen/Allgemeinen absorbiert, wobei
diese Lösung einer progressiven, ganzheitlichen Versöhnung Raum
gibt.

2) Die Perspektive der Unassimilierbarkeit von Singularität und Uni-


versalität. Dies ist die existenzialitisch-negative Auflösung (Schopen-
hauer, Kierkegaard, Nietzsche, Sartre...) der dialektischen Aufhe-
bung/Integration. Das Singuläre/Einzelne findet keinen Platz im
Universellen/Allgemeinen, sondern sträubt sich gegen das Univer-
selle/ Allgemeine.

3) Die Perspektive der Determination der Singularität durch die Uni-


versalität. Darin besteht die strukturalistische Annahme. Das Sin-
guläre wird von der Bewegung (“ohne Subjekt«, wie Althusser präzi-
siert) der Struktur als materialistische Deklination des Universellen
determiniert.

Wir haben es hier also mit den drei möglichen Logiken des Verhält-
nisses zwischen Universalität und Singularität zu tun: mit der Aufhe-
bung/Integration (Universalität/Singularität), mit der Unassimilier-
barkeit (Singularität ohne bzw. gegen Universalität) und mit der De-
termination (Universalität ohne bzw. gegen Singularität). Auf diesem
Grund errichtet Lacan seine Subjekttheorie, und zwar so, dass er sich
nicht für eine dieser drei Hypothesen entscheidet, sondern mit äus-
serster Strenge eine komplexe Überschneidung aller drei Hypothe-
sen, eine wechselseitige topologische Verknotung ins Werk setzt.

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160
2.
EIN UMWEG ÜBER SARTRE

Nehmen wir einen Text von Sartre: L’universale singolare234. Es han-


delt sich um einen Vortrag zu einem internationalen Kierkeegard-
Kongress, der vom 21.-23. April 1964 in Paris stattfand – in einem
Jahr, in dem Lacan sein Seminar XI über Die vier Grundbegriffe der
Psychoanalyse hält und sich mit dem zentralen Problem der Verursa-
chung des Subjekts befasst, das, wenn er es auch mit anderen Mitteln
zu bewältigen suchte, ebenfalls das theoretische Zentrum von Sartres
Denken bildet.
L’universale singolare ist eine Lektüre Kierkegaards. Wir treffen so
auf eine komplexe Abfolge von Texten: Sartre liest Kierkegaard, und
wir lesen Sartre, den Leser von Kierkegaard, um Lacan besser zu ver-
stehen, um in die Problematik der Spannung zwischen Singularität
und Universalität, die Lacans Subjektkonzeption antreibt, einzudrin-
gen. Wir wollen deshalb Sartres Text noch einmal lesen, wobei wir
uns gegenwärtig halten, dass wir einen Zugang zu Lacan im Blick ha-
ben, der uns erlauben soll, die Essenz der Subjektproblematik zu de-
finieren, d.h. das, was das Subjekt in seiner Singularität konstituiert.

Fassen wir die wichtigsten Punkte zusammen, zu denen Sartres Lek-


türe gelangt:

1) Das Lebewesen, dessen singuläre Irreduzibilität Kierkegaard ver-


körpert, lässt sich nicht in den universellen Strukturen des Begriffes
absorbieren. Oder besser: Gefangen in diesen Strukturen, wird das
singuläre Lebewesen notwendig zu »einem Toten«. Kierkegaard zu
denken, bedeutet also, die Heterogeneität zwischen Existenz und
Formalisierung zu denken, bedeutet das zu denken, was die objektiv-
rationale Sprache des wissenschaftlichen Diskurses nicht zu fassen
vermag: die singuläre Differenz als solche, die Unüberwindbarkeit
der Ungleichheit zwischen der Ganzheit der Universalität und der
Singularität. In diesem Sinne bleibt Kierkegaard für das Denken »bis
hinein in seinen Tod lebendig«, insofern er zeigt, dass nur »die sub-
jektive Wahrheit existiert«235, wohingegen der Hegelianismus eine voll-
kommene Aufhebung/Integration des Seins (des Singulären) in den
Netzen des Wissens (des Universellen) zum Ziel hat. In diesem Sinne
ist der Hegelianismus für Sartre durch einen doppelten und fatalen
Optimismus gekennzeichnet. Durch einen ontologischen Optimis-
161
mus: Der Skandal der Vielfalt der Bewusstseine wird im ontologi-
schen Monismus der Idee aufgehoben. Und durch einen epistemolo-
gischen Optimismus: Die Heterogeneität von Wissen und Existenz
wird in der logischen Definition ihrer wechselseitigen Entsprechung
überwunden.

2) Das Absolute durchdringt ganz das Relative, das vielfältige, un-


gleiche und diskontinuierliche Feld der Existenz. Es handelt sich um
ein »verzeitlichtes, wenn auch übergeschichtliches«236 Absolutes. Darin
besteht der von Sartres Kierkegaard repräsentierte Skandal: »der be-
stürzende Skandal dessen, was wir die Übergeschichtlichkeit des ge-
schichtlichen Menschen nennen könnten«.237
Wie gibt sich das Eins des Absoluten im Feld der Geschichte? Allein
in der Form der Übergeschichtlichkeit. Und das Übergeschichtliche
ist nichts anderes als das Auftauchen der subjektiven Zeitlichkeit in
der universellen Dimension der Geschichte. Oder genauer: Das Über-
geschichtliche, d.h. die historialisation individual* ist das, was die
Geschichte durchlöchert, was die Geschichte mit Löchern versieht238.
Wenn die Geschichte vom Anderen gemacht wird, besteht die über-
geschichtliche Absolutheit des Singulären darin, etwas aus dem zu
machen, was der Andere im Sinne hat, mit mir zu machen, und mit
mir machen wird. Das Problem des Subjektes wird also in folgendem
bestehten: »Ich habe das Ereignis zu sein, das mir von aussen wider-
fährt«239. Singulär wird also die Wiederaufnahme der universellen De-
terminationen sein, die das geschichtliche Feld, in dem sich die Sin-
gularität befindet, definiert haben.

3) So bildet sich der Platz des Subjekts heraus. Nicht als blosses Uni-
kum (darin liegt Kierkegaards Grenze), als unbegrenzte Freiheit, be-
ständige Möglichkeit der Wahl, sondern vielmehr als gegebene, wenn
auch immer wieder neu sich ergebende Einschliessung des Subjekts
(seiner individuellen Geschichtlichkeit) in den offenen Horizont (He-
gel, der den Subjektivismus von Kierkegaard korrigiert) der universel-
len Geschichtlichkeit (historicité*), die die Subjekte nicht bloss um-
gibt, sondern sie durchquert und damit auch determiniert.
Das Subjekt ist eine singuläre Universalität, d.h. eine Bewegung, die
sich ausgehend von der »radikalsten Zufälligkeit«240 (dem entspricht
die Bedeutungslosigkeit der Ursprünge, von der Nietzsche spricht)
t
»zu einem Sinn hin, den es am Anfang nicht hatte«241, aufhebt. ria.a
© in fo@tu Dies
162
impliziert eine doppelte Zeitlichkeit in der Konstitution des Subjekts:
die Zeit der Universalisierung des Singulären (die Zeit der Determi-
nation durch den Anderen, durch die Verursachung, durch die
strenge Konditionierung) und die Zeit der Singularisierung des Uni-
versellen (die Zeit, in dem das Subjekt in die Geschichte und in das
Feld des Anderen, des übergeschichtlichen Lochs der Geschichte, der
»choix originel de soi«*, eintritt).

Es gilt also diese paradoxe Dualität des Verhältnisses zwischen Uni-


versalität und Singularität so, wie sie Sartre unter Rückgriff auf Kier-
kegaard artikuliert, zu bewahren: das Singuläre zeichnet sich hin-
sichtlich des Universellen einerseits durch eine ihm eigene Unbezüg-
lichkeit aus, dadurch also, dass es sich nicht dialektisieren lässt (das
Singuläre ist das, was in die geschichtliche Kontinuität des Universel-
len ein Loch, eine Diskontinuität, einen Bruch, eine Beschädigung
einführt), wobei es andererseits immer notwendig in das Universelle
einbegriffen ist.
Man mag hier an einen präzisen Punkt von Lacans Diskurs denken,
wo das Singuläre als Höhlung, Mangel, »Weniger« in seiner ganzen
Bedeutung aufscheint, d.h. da, wo er das Subjekt als »Diskontinuität
im Realen«242 bestimmt. Das Subjekt wird also nicht zur Gänze in der
universellen Kontinuität der historischen Zeitlichkeit absorbiert. Es ist
kein historisiertes Eins, keine reine Potenzialität, die sich kontinuier-
lich entfaltet. Das Subjekt verkörpert vielmehr das Fehlen der Konti-
nuität, einen Bruch, eine Beschädigung der universellen Kontinuität
der historischen Zeitlichkeit. Es ist eben eine Diskontinuität im Rea-
len, ein Riss, der dem universellen Feld der Geschichte innewohnt.
Dasselbe Echo widerhallt mit unerhörter Nähe auch in einem Sartre-
schen Text wie Cahiers pour une morale, wo der Ort des Subjekts
dem (Hegelschen) Ort der geschichtlichen Universalität entzogen
wird, und zwar deshalb, weil die Geschichte kein homogenes Netz –
keine ganze Ganzheit – bildet, die sich das Singuläre restlos ein-
verleibt, sondern vielmehr »eine ideale, ständig durch das diskontinu-
ierliche Reale durchbrochene Kontinuität«, wo das Singuläre, das
nichtsdestoweniger vom Universellen durchquert wird, jenseits des
Universellen ist, sich zerstreut und einen unumkehrbaren und »un-
wiederbringlichen Verlust« darstellt, der die Konsistenz der Universa-
lität ausfransen lässt.243

163
3.
LACAN ZWISCHEN UNIVERSALITÄT UND
SINGULARITÄT

Wo siedelt sich Lacans Subjekt an? Ist es möglich, es in dieser Span-


nung zwischen Universalität und Singularität zu denken? Hilft uns
diese Spannung, die Logik seiner Ökonomie genauer zu bestimmen?
Die Universalität ist das Feld der Neutralität, und die Ontologie ist in
diesem Sinne sein Ort par excellence. Es gibt da kein Subjekt, es gibt
da keine Singularität, es gibt da keine Diskontiunität in der ontologi-
schen Bestimmung des Seins (darin besteht die radikale Kritik von
Levinas am ontologischen Denken, wie er sie in Totalität und Unend-
lichkeit entwickelt), sondern bloss allgemeine Bestimmungen des
Seins des Seienden. Die Universalität ist deshalb der Ort der Unbe-
stimmtheit. Deshalb hat Lacan jener Frage, die ihm von Jacques-Alain
Miller zu Beginn seines Seminar XI gestellt wurde und die er in der
Sitzung vom 29. Januar 1964 wieder aufnahm, entsprechende Bedeu-
tung beigemessen: die Frage nach der Ontologie.
Lacan präzisiert, dass es in seiner Konzeption der Psychoanalyse kei-
nen Platz für eine wie auch immer geartete Ontologie gibt. Der Status
des Unbewussten ist nicht ontologisch, sondern präontologisch, d.h.
ethisch, weil es sich auf die subjektive Singularität gründet244. Und
dennoch verweist Lacan beständig auf die Dimension der Universa-
lität. Man könnte den ganzen Lacan in der Tat im Hinblick auf diese
Spannung zwischen dem Universellen und dem Singulären neu le-
sen. Auf die Spannung zwischen der logisch-universellen Struktur des
Mathems und der irreduziblen Singularität der Ethik, zwischen dem
Anderen als universellem Feld der Signifikanten und der ausser-signi-
fikanten Singularität des Objektes, zwischen der Universalität des An-
spruches und der Besonderheit des Mangels, zwischen der Universa-
lität des Begehrens als Begehren nach Anerkennung und der Singula-
rität des Geniessens, zwischen der Universalität der Sprache und dem
einzelnen Sprechen, zwischen der strukturellen und unveränderli-
chen Logik der Diskurse und dem Platz, den sie der Singularität des
Subjektes, das nicht auf die Macht der Signifikanten reduziert werden
kann, lassen, demjenigen Platz, den Lacan Objekt (a) nennt.
Nehmen wir jedoch die Frage aus einem anderen Gesichtspunkt in
at
Angriff: aus dem Gesichtspunkt der Freiheit. Das Problem der t
o@ uria.
Freiheit
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164
ist nämlich jenes Problem, das der Frage nach der Subjektivierung zu-
grunde liegt, durch die Lacan das Sartre-Kierkegaardsche Problem
der Singularisierung des Universellen zum Ausdruck bringt.
Wie also kann ein Subjekt, das durch eine Alterität verursacht wurde,
diese Ursache, von der es durchquert wird und die es ihn Wirklich-
keit determiniert, subjektivieren? Oder anders: Was bedeutet es, ein
Subjekt zu sein, wenn die Stelle des Subjekts nichts anderes als eine
Wirkung des Signifikanten ist, wenn es also das Produkt einer Kette
darstellt, die es verursacht?
Schon Freud hatte den Kern der Frage bestens begriffen, wo er sei-
nen berühmten Satz Wo es war, soll Ich werden* formulierte. Was ist
dieses Werden*? Worauf bezieht es sich, wenn nicht auf eine Kausa-
lität, die der ethischen Bewegung des Imperativs, des Sollens* vorher-
geht und sie zugleich begründet. Kurz und gut, es gibt da also ein Wo
(dove), das vor dem Sollen (dovere) kommt, und es gibt ein Werden,
das auf eine ausser-subjektive Kausalität zurückgeführt wird, die der
Bewegung der vorwärtsgerichteten Historisierung vorhergeht. Das
versucht uns Lacan zu sagen, wo er den Begriff der Bürde ins Zen-
trum seiner Relektüre von Freuds Wo es war rückt. Freuds Satz führt
uns nämlich zum »Paradox eines Imperativs, der sich mit der Bürde
meiner eigenen Ursächlichkeit auflädt«.245
Es gilt also, die Spannung zwischen dem fi als einem verursachten
Subjekt – determiniert von der Universalität des Signifikanten und ge-
zeichnet von der absoluten Einzigartigkeit der Objekt-Ursache des
Begehrens –, und dem fi als der Möglichkeit der Subjektivierung ge-
nauer zu betrachten. Dies ist eine entscheidende Perspektive, in der
Lacan das Spannungsverhältnis zwischen Singularität und Universa-
lität ansiedelt.
Zwei philosophische Bezugnahmen stellen sich hier als fundamental
für die Position heraus, die Lacan der Freiheit vorzubehalten scheint.
Ein Hinweis betrifft Heidegger und der andere Nietzsche. Der erste
bezieht sich insbesondere auf Heideggers Text Vom Wesen der Wahr-
heit und der andere auf Nietzsches Thema der ewigen Wiederkehr.
Diese beiden Autoren stehen Lacan deshalb nahe, weil sie das Pro-
blem der Freiheit nicht ausgehend von der Macht des Willens oder
der Schöpfungskraft des Subjektes stellen, sondern ausgehend von
einer ursprünglichen Entmachtung. Wie die Lacansche Lektüre von
Freuds Satz Wo es war* zeigt, hat die Freiheit in der Tat weniger mit

165
einer Behauptung als mit der Übernahme einer Bürde zu tun. Mit der
Übernahme der Freiheit des Seins bei Heidegger (die Freiheit ist
keine ontologische Eigenschaft des Daseins, das Dasein hängt umge-
kehrt von der Freiheit des Seins ab) und mit der Aufbürdung der
sinn- und grundlosen Kontingenz bei Nietzsche (»Bedeutungslosig-
keit der Ursprünge«), die die Existenz in ihrer Singularität, in ihrer
Einzigartigkeit, in ihrem beständigen Werden verkörpert. Es geht also
darum, weniger die Freiheit (dies wäre im Grunde die Perspektive ei-
nes naiven Existenzialismus) als vielmehr die Kausalität/Ursache als
solche zu übernehmen; weniger die Freiheit als das Fehlen der Frei-
heit, nicht so sehr die Freiheit als vielmehr die Abgründigkeit, die sie
impliziert. An der Wurzel der Freiheit stossen wir sowohl bei Nietz-
sche als auch bei Heidegger auf etwas, das nicht im geringsten den
Charakter der Freiheit besitzt, sondern eher einem Angekettetsein, ei-
nem Gefesselt- und Angebundensein gleicht. Die Freiheit radikal zu
bedenken, bedeutet, sich weniger die freie Wahl der Möglichkeiten
als den strukturell determinierten Horizont dieser Möglichkeiten zu
vergegenwärtigen. Die Freiheit steht eher in Beziehung mit der Un-
möglichkeit als mit der Möglichkeit... Das versuchen Nietzsche und
Heidegger zum Ausdruck zu bringen, wo sie die Freiheit auf die
Übernahme von einem Etwas (dem Werden, der Offenheit des Seins)
zurückführen, das dem Feld der subjektiven Intentionalität vorher-
geht.
Als Jacques-Alain Miller sein Seminar Cause e consentement betitelte
(1987-88), hatte er im Sinn, genau diese entscheidende Stelle des Pro-
blems der Freiheit erneut zu durchqueren. Das consentement bezieht
sich nicht auf ein Subjekt, das seine Unabhängigkeit vom Anderen
verkündet und seinen reinen Schöpferwillen ausruft, sondern auf ein
Subjekt, das auf radikale Weise die Ursache annimmt, die es determi-
niert. Das Problem ist also wiederum: Was bedeutet es, eine Ursache
anzunehmen, die uns in Wirklichkeit determiniert? Was heisst es z.B.,
die ewige Wiederkehr anzunehmen, wenn wir notwendig in den Ho-
rizont der Wiederholung einbegriffen sind? Was bedeutet es, frei zu
sein, wenn man von der Aktion der Ursache markiert ist? Hinsichtlich
der Frage nach der Identifikation lässt sich das Problem folgender-
massen artikulieren: Was ist das Subjekt, wenn es wesentlich vom
Bild des anderen verursacht wird, wenn es also das Bild ist, das über
.at
die Macht verfügt, das Subjekt zu gestalten...? turia
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166
Für Lacan situiert sich das Problem der Freiheit im Hinblick auf den
Zusammenhang von Subjekt und Struktur, von Singularität und Uni-
versalität oder, um noch genauer zu sein, von Begehren und Wille zu
geniessen, von der Bewegtheit des subjektiven Begehrens und der
Trägheit des Objekts (a)... Genau darin besteht der paradoxe Punkt
des Begehrens: das Begehren bringt das Subjekt, die subjektive Sin-
gularität zum Ausdruck, aber nur insofern, als es dasselbe an das Ob-
jekt kettet, das es verursacht, an die Objekt-Ursache des Begehrens.
Es handelt sich um zwei zeitliche Einschnitte, auf die wir, zumindest
auf einer logischen Ebene, bei Sartres Kierkegaard-Lektüre gestossen
sind: Die Zeit der Universalisierung des Singulären (die Ankettung an
die Ursache) und die Zeit der Singularisierung des Universellen (die
Subjektivierung).

4.
DIALEKTIK, HERMENEUTIK UND DIE TRÄGHEIT
DES SINGULÄREN

Lacans Subjekt ist ein Subjekt, das jeder Möglichkeit entbehrt, mit
sich selbst zu koinzidieren. Es ist ein singulärer Mangel, der im Feld
der Universalität nicht dialektisch zu werden vermag. In diesem
Sinne weist es über die Identifikation mit dem Herrensignifikanten
(S1), über diese Operation der anonymen Verfestigung des Subjekts
hinaus. In der Identifikation gibt es in der Tat keine Subjektivierung;
es findet gerade umgekehrt eine Vernichtung der Subjektivierung
statt. Wir könnten diesen Sachverhalt auch folgendermassen um-
schreiben: Subjektivierung versus Identifizierung. Die idealisierende
Identifikation mit dem Meistersignifikanten produziert den Effekt ei-
ner Versteinerung und Holophrasierung des Subjekts. So gesehen ist
es durchaus angebracht, sie als eine heimtückische Form des Besitzes
zu begreifen.
Die Analyse arbeitet solchen Identifikationen entgegen. Sie löst das I
(das Ideal) von (a) (der Objekt-Ursache des Begehrens). Sie ist nichts
anderes als eine Art umgekehrte Hypnose.
Sie entklebt anstatt zu verkleben. Denn es ist nicht auf dem Weg der
Identifikation, wodurch das Subjekt seine Singularität gewinnt. Die
Identität des Subjekts kann keine blosse Wirkung der Identifikation
sein. Wir müssen vielmehr zwischen der Differenzierung (Singula-
167
rität) und der Vereinheitlichung (Universalität) unterscheiden. Das
Subjekt der Psychoanalyse ist kein vereinheitlichtes Subjekt. Es grün-
det sich nicht auf die Vereinheitlichung. Vielmehr ist es ein Nicht-
Eins. Der Punkt, der auf jeden Fall hervorgehoben werden muss, ist,
dass dieses Nicht-Eins einen Unterschied macht.
Das Einswerden, so wie es Lacan im Seminar IX (1961-62), das dem
Thema der Identifikation gewidmet ist, konzipiert, bewegt sich ge-
nau in diese Richtung. Nicht in die Richtung der Vereinheitlichung,
sondern in die der Differenzierung. Denn wenn es das Idealbild ist,
das dem Subjekt eine Konsistenz verleiht und seine Spaltung vernäht,
so muss die Subjektivierung weniger auf dieser als auf der Seite des
Objekts situiert werden, das als Ursache des Begehrens den ethischen
Imperativ befördert, den Freud prägte: Wo es war, soll Ich werden*,
d.h. die Subjektivierung, die Determination des Subjekts als Singula-
rität muss sich auf der Seite der Ursache abspielen.
In Funktion und Feld baut Lacan noch an einer dialektisch-herme-
neutischen Theorie der Analyse. »Dialektisch« deshalb, weil der Mit-
telpunkt der Beziehung zum Anderen durch das Begehren als Begeh-
ren nach Anerkennung determiniert wird. Der Andere, der die Posi-
tion des Analytikers einnimmt, wird in seiner symbolischen Funktion
als Vermittler auf den Plan gerufen, um diese Anerkennung möglich
zu machen. Hier müssen Universalität und Singularität zu einer wech-
selseitigen Integration ohne Reste zusammenfinden. Oder besser: Die
eigentliche Aufgabe der Analyse besteht darin, das Singuläre zu uni-
versalisieren, das Singuläre (das als solches an das Imaginäre des
Subjekts gebunden ist) zur Universalität des Symbolischen und seiner
Gesetze, insbesondere zur Universalität des ödipalen Gesetzes zu er-
heben.
»Hermeneutisch« deshalb, weil die Freudsche Dimension der Ursache
durch diejenige des Sinnes ersetzt wird. Es ist nicht die Ursache, son-
dern der Sinn, der als Ursache fungiert. Dies ist die These, die Jac-
ques-Alain Miller in Cause e consentement entwickelt. Diese Erset-
zung ist gleichbedeutend mit einer Verkennung der zentralen Bedeu-
tung, die Freud dem Trauma beimass, dem unassimilierbaren Realen
des Traumas, das dadurch nämlich in jener hermeneutischen Bewegt-
heit von Entbergung und Verbergung, die Lacan Heideggers Begriff
der aletheia entnimmt, vom Sinn verschlungen wird.
.at
o@ turia
© inf
168
Was das Subjekt verursacht, ist der Sinn, der verdrängte Sinn, den das
Subjekt nicht gänzlich zu beherrschen vermag. Was das Subjekt ver-
ursacht, ist der Sinn, der dem Subjekt entgeht.
Der Horizont, in den Lacan die Praxis der Psychoanalyse einschreibt,
ist also derjenige der Macht des Sprechens. Es ist das Sprechen, das
die ununterbrochene Kontinuität der Subjektivierung rekonstruiert
und dadurch das Sein des Subjekts realisiert. Es gibt einen tiefgehen-
den Zusammenhang zwischen der geschichtlichen Dimension und
der hermeneutischen Dimension. Die geschichtliche Aufhebung wird
von Lacan nämlich v.a. als die Wiederherstellung des Textes verstan-
den. So gesehen ist das Unbewusste jenes »zensurierte Kapitel« unse-
rer Geschichte, das die analytische Interpretation ausgehend von den
übriggebliebenen Spuren wiederfinden muss. Der hermeneutische
Charakter des Sinnes schliesst in der Tat die Evidenz, die einfältige
und gleichsam griffbereite Fülle aus. Es ist geradezu so, dass der Sinn
entflieht und den Text transzendiert. Es öffnet sich dergestalt eine ei-
gentliche Geographie des verlorenen Sinnes und seiner Spuren. Die
von der Verdrängung ausgelöschte Schrift hinterlässt ihre unauslösch-
liche Wahrheit im Text des Subjekts. »Denkmäler« (der Leib und seine
Zeichen), »Archivdokumente« (zugeschichtete Erinnerungen), »seman-
tische Entwicklung« (die Signifikanten, die das Leben leiteten) und
»Traditionen« (die Geschichten, die das Schicksal des Subjekts festge-
schrieben haben) begrenzen das Feld des subjektiven Textes, den die
analytische Deutung in all seinen Artikulationen wiederherstellen
müssen wird.246
Die Arbeit der Analyse als Praxis der Wahrheit hat also zum Ziel, den
»eingekerkerten Sinn« zu befreien und ihn ans reine Licht zu heben.
Der Platz des Traumas in der Ätiologie wird von der Verdrängung des
Sinnes (als einer symbolischen Operation, die immer mit der Wahr-
heit zu tun hat) besetzt und zersetzt. So wird das Symptom gänzlich
in eine sprachliche Tatsache aufgelöst und auf die rhetorische Figur
der Metapher zurückgeführt, die bloss darauf wartet, von der Inter-
pretation entziffert zu werden.
Dieses Geflecht aus geschichtlicher Dialektik und Hermeneutik prägt
in diesem Zeitabschnitt die Grundintention, die Lacans Freud-Relek-
türe leitet. Es handelt sich um eine Relektüre, die sich in gewisser
Hinsicht noch immer innerhalb der auf Dilthey zurückgehenden Po-
lemik gegen die Entgegensetzung von Geistes- und Naturwissen-

169
schaften ansiedelt, von einer Logik des Sinnes, der dem Feld des
menschlichen Lebens innewohnt, und einer Logik der Ursächlichkeit,
die die Existenzweisen des Lebens der Natur determiniert. Aber in
Wirklichkeit bilden Hegel und Heidegger Lacans wesentliche Bezugs-
punkte. In ihrer Kreuzung versucht er sich zwischen Intervention sur
le transfert (1951) und Funktion und Feld (1953). Im erstgenannten
Text ist Lacan explizit. Wir können daraus zwei Behauptungen ablei-
ten:

1) Die Psychoanalyse ist eine Dialektik.

2) Ihre (Hegelsche) Aufgabe besteht darin, das singuläre Subjekt in


der Universalität aufzuheben, wobei diese Aufhebung sowohl auf
dem Weg der Identifikation als auch auf demjenigen der Historisie-
rung stattfindet.

Diese beiden Thesen bilden Berührungspunkte zwischen Lacan und


Hegel. Das Singuläre, das dem symbolischen Feld der Universalität
äusserlich bleibt, definiert die Position eines unglücklichen Bewusst-
seins, das dazu verurteilt ist, Gefangener seiner Spaltung zu sein. Die
Psychoanalyse ist eine Dialektik, weil sie darauf abzielt, das Singuläre
und das Universelle zusammenzufügen, um so dem Subjekt einen
lückenlosen Zugang zum Feld des Anderen zu ermöglichen, d.h. eine
Überwindung des unglücklichen Bewusstseins. Diese Zusammenfü-
gung (die in ihrer Zweideutigkeit nicht umhin kann, eine Theologie
heraufzubeschwören) stellt sich her durch das Bild des anderen im
Spiegelstadium (als strukturelles Moment, welches das Subjekt als
solches konstituiert) und durch die subjektive Wiederaneignung der
eigenen Historisierung entlang der »archäologisch-textuellen« Arbeit
der Analyse. Die Integration über den Weg der Identifikation führt
das Subjekt dazu, gemäss einem gänzlich dialektischen Vorgang, wo
die Objektivierung im Bild auf eine symbolische Anerkennung durch
die »Universalität der Sprache«247 vorbereitet, sich selbst wiederzufin-
den. Die geschichtliche Aufhebung, wie sie ausführlich in Funktion
und Feld entwickelt wird, betrifft hingegen die Wiederherstellung der
geschichtlichen Kontinuität des Subjekts, die vom unbewussten Sinn,
der dem Feld des Subjekts äusserlich bleibt, durchbrochen wurde. In
dieser Weise wird, wie wir eben gezeigt haben, das Unbewusste als
ein »zensuriertes Kapitel« konzipiert, das die lineare Kontinuität des
ia.at
o@tur
© infdie Vorstel-
subjektiven Textes unterbricht. Im Zentrum steht deshalb
170
lung eines Subjekts als Text, das buchstäblich durch die Überlage-
rung von »Seiten« (Seiten der »Scham und des Ruhms«) gebildet wird,
welche von den geschichtlichen Stigmata seines Abenteuers erzählen.
Im Begriff der »primären Historisierung« verschweisst Lacan in der Tat
Hegel mit Heidegger und findet so den Punkt, an dem sich die sin-
guläre Geschichtlichkeit in der universellen Geschichtlichkeit nicht
aufheben lässt. Mit dem Begriff der primären Historisierung realisiert
Lacan im Grunde, und zwar auf Hegelianische Weise, d.h. gemäss ei-
ner dialektischen Zeitlichkeit, den Heideggerschen Begriff des her-
meneutischen Zirkels; schon in Sein und Zeit wird nämlich die her-
meneutische Zirkularität als eine geschichtliche Kreisbewegung kon-
struiert. Der Begriff der primären Historisierung weist darauf hin,
dass all das, was sich für das Subjekt zuträgt, immer in der Form des
Sinnes und nicht in der rohen Form des Traumas oder des physikali-
schen Kausalität geschieht. In der Form eines Sinnes, der gänzlich
durch die subjektive Zeitlichkeit durchquert wird und der deshalb
unmöglich auf den Biologismus der Reifung der Instinkte zurückge-
führt werden kann.
Jacques-Alain Miller hat sehr deutlich im Begriff der »Kontinuität« den
»Herrensignifikanten« von Funktion und Feld herausgearbeitet.248 Das
Feld der Kontinuität ist in der Tat das Feld der Universalität; das Sin-
guläre hat nichts anderes zum Ziel als die Vervollständigung seiner
»aktuellen Historisierung« durch ein Wiedererlangen des ausgelösch-
ten Textes des Unbewussten. Wir haben es hier also mit einer Arbeit
der textuellen und geschichtlichen Wiedervernähung zu tun, mit ei-
ner Wiedereinschreibung der subjektiven Singularität in das ge-
schichtlich-universelle Gewebe des Symbolischen, mit einer Arbeit,
die notwendig in Widerspruch steht zu Lacans späteren Definitionen
von Subjektivität, wo er, wie schon gesehen, dessen Struktur als eine
»Diskontinuität im Realen« beschreibt, was in Gegensatz zu jedweder
Vorstellung von Einheit steht.

171
5.
VON DER DIALEKTIK DES BEGEHRENS ZUR
SUBVERSION DES SUBJEKTS

In der Spannung zwischen Singularität und Universalität, die den


Raum des Subjekts konstituiert, markiert das Seminar VII über die
Ethik der Psychoanalyse eine entscheidende »Kehre«: von der Herme-
neutik zur Ethik, von der Dialektik zur Struktur, vom Signifikanten
zum Nicht-alles-ist-Signifikant, von der Universalität-Singularität zu ei-
ner Singularität, die sich der Universalität nicht einverleiben lässt,
aber von ihr nichtsdestoweniger determiniert wird. Von Hegel zu
Kierkegaard (von der Universalität/Singularität zur Singularität ohne
bzw. gegen die Universalität), wobei dieser Übergang aber auf dem
Umweg über den Strukturalismus (die Universalität determiniert die
Singularität) zu erfolgen hat.
In der Ethik der Psychoanalyse vermag die Entzifferung des Sinnes
das nicht gänzlich zu durchleuchten, was sich, obwohl es im Inner-
sten des Subjekts zu Hause ist, als ihm vollkommen äusserlich her-
ausstellt, d.h. das, was Lacan als das Reale des Dinges* konzipierte.
Die Sinngebung ist nicht imstande, das Feld des Dinges zu bedecken.
Es gibt da einen Rest des Dinges, der ausserhalb des Sinnes und aus-
serhalb des Signifikanten verbleibt. Es handelt sich dabei um das Ob-
jekt (a), um einen Rest an Singularität, der sich gegen die universel-
len Gesetze der Signifikantisierung erhebt: das Objekt (a) versus der
Andere, das Singuläre versus das Universelle.
Kontinuität/Diskontinuität, Universalität/Singularität, Sinn/Ursache,
Eins/Differenz, Identifikation/Subjektivierung, Subjekt und Anderer
scheinen nun, anstatt auf ihre dialektische Aufhebung und wechsel-
seitige Integration zu drängen, sich voneinander zu lösen und sich als
antinomische Gegensätze zu präsentieren. Was diese Auflösung ver-
ursacht und zugleich die Wirkung derselben darstellt, nennen wir im
Grund das Reale. In diesem Sinne ist der wesentliche Ort des Realen
derjenige der Barre von Saussures Algorithmus: S/s. Eine Barre, die
nicht zuordnet, sondern trennt, die keine Reziprozität zum Ausdruck
bringt, sondern vielmehr die radikale Unmöglichkeit eines Verhältnis-
ses. Wie man sieht, ist dies eine Weise zu sagen, dass das sexuelle
Verhältnis nicht existiert, que le rapport sexuel n’existe pas.
.at
o@ turia
© inf
172
Es gibt da also etwas Singuläres, das sich nicht mit der Universalität
vereint und sogar deren Kontinuität unterbricht. Es gibt da etwas, was
in der dialektischen Aufhebung einen Rest bildet. Ein Kierkegaard-
sches Element, eine singuläre Geschichtlichkeit, die in der universel-
len Geschichtlichkeit nicht aufgeht und durch die Maschen der He-
gelschen Logik des absoluten Wissens fällt. Diese irreduzible Diffe-
renz ist das Objekt (a) im Sinne eines subjektiven »Abkömmlings« des
Dinges, im Sinne dessen, was von der Universalität des Dinges als
singulärer Rest übrigbleibt.
Wie Jacques-Alain Miller hervorgehoben hat, wird Lacan in der Folge
genau aus diesem Grund die Frage nach dem Ende der Analyse nicht
mehr in Begriffen einer geschichtlichen Realisierung des Subjekts,
sondern vielmehr als dessen Destitution aufwerfen. Nicht mehr als
Wiederherstellung der Kontinuität, sondern als definitiver Abschied
von aller Kontinuität. Vor dem Hintergrund dieses Gegensatzes von
Suturierung der Kontinuität und Verlust derselben wird die Logik der
1964 eingeführten Verursachung des Subjekts verständlich, die Lacan
in der doppelten Zeitlichkeit von Entfremdung und Trennung konzi-
piert.
Lacans Problem deckt sich hier im Grunde mit Sartres Frage, die er in
denselben Jahren Kierkegaard stellte: Wie produziert sich die subjek-
tive Singularität angesichts dessen, dass das Subjekt von einer Ursa-
che verursacht wird, über die es nicht verfügt? Wiederum treffen wir
auf die Frage nach der Freiheit. Lacan nimmt sie im Seminar XI aus
der Perspektive der Trennung in Angriff. Die Trennung ist die Abtren-
nung des Subjekts von der Signifikantenkette. Für Lacan kann die
Trennung nur innerhalb der Entfremdung stattfinden. Trennung be-
sagt, dass das Subjekt versucht, aus der identifikatorischen Passion
gegenüber dem Anderen herauszufinden. Das »Werde, der du bist!«
von Nietzsche treibt das Subjekt in diese Richtung: auf dem Spiel
steht nicht mehr die Anpassung an einen idealen Wert (Kant), son-
dern die Annahme des eigenen Schicksals, das am Ursprung festge-
schrieben steht. Auf dieselbe Weise hatte Spinoza mit der Entdeckung
der »Universalität des Signifikanten«249 nichts anderes als eine radikale
Neubegründung der Ethik im Sinn, die sich nicht metaphysisch auf
Werte, noch auf eine erste Ursache und ebensowenig auf einen letz-
ten Zweck abstützt, sondern allein auf die Annahme des Gesetzes der
Substanz, auf die Notwendigkeit der Substanz. Es geht darum, das

173
Gesetz der Substanz sein zu lassen, d.h. das notwendige Schicksal,
das dieses Gesetz enthält, zu übernehmen (dies ist das Amor fati von
Nietzsche).
Das Gesetz der Substanz anzunehmen bedeutet in Lacanschen Begrif-
fen, sich den überspannten Fixierungen und Identifikationen des
Narzissmus zu entziehen, um Zugang zu einem Geniessen zu erhal-
ten, das von keinem Befehl des Über-Ichs bedroht wird. Was die
Analyse ausmerzen muss, ist die Passion (der Identifikation) für/mit
dem Anderen. Und zwar v.a. deshalb, weil der Andere nicht existiert,
d.h. weil er die vom Subjekt an ihn gerichtete Frage, was es wirklich
sei, nicht zu beantworten vermag.
Die Universalität (nicht die ontologische, sondern die geschichtliche
und durch die Äusserlichkeit des Signifikanten materiell determinierte
Universalität) ist also derjenige Begriff, von dem Lacan ausgeht, um
die Struktur zu denken. Die Universalität ist der Andere. Das dem Sig-
nifikanten unterworfene Subjekt ist das in die Universalität eingefügte
Subjekt. Für Lacan gibt es in der Tat kein Subjekt, das nicht in einer
konstitutiven Beziehung zur Struktur steht. Darin besteht die Kehre,
die er insbesondere ausgehend vom Seminar XI vollzieht und die
sich gegen die ursprüngliche Idee der Psychoanalyse als einer Sub-
jektdialektik wendet.
Man muss Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im
Freudschen Unbewussten lesen, um zu sehen, wie Lacan seine konti-
nuierliche Loslösung von Hegel bewerkstelligt, die freilich nicht als
ein einfacher und gleichsam äusserlicher Bruch vonstatten geht (La-
can ist nicht Kierkegaard), sondern sich gemäss einer Topologie ent-
wickelt. Um es anders zu sagen: Lacan tritt sosehr in die Hegelsche
Logik ein (aus der er, wie wir nicht vergessen dürfen, mitunter die
tiefgreifende Idee der Aktion des Signifikanten, der gegenüber der
Unmittelbarkeit des immer schon verlorenen Dinges eine letale Wir-
kung entfaltet, gewinnt), dass er nur hinausgelangt, indem er tiefer in
sie eindringt.
Wir können die Frage, die diesen Text leitet, folgendermassen über-
setzen: Wie ist es möglich, das Subjekt zu denken, wenn es kein Sub-
jekt ohne Struktur gibt?
Die Dialektik berührt das Begehren. Lacan spricht in der Tat von ei-
ner Dialektik des Begehrens. Es gehört zum Begehren, sich an den
ia.at
Anderen zu richten, und genau darin ist es dialektisch, o@turdes-
infgenau
©
174
halb, weil es Begehren des Anderen ist. Darin besteht seine singulär-
universelle Tragweite. Es gehört dem Subjekt an, zugleich aber auch
dem Anderen. Es ist diese fundamentale Abhängigkeit des Subjekts
vom Anderen, die Sartre in Das Sein und das Nichts als einen der ent-
scheidenden Punkte der dialektisch-hegelschen Artikulation der In-
tersubjektivität erkannte. Die dialektische Intersubjektivität bezeich-
net keine laterale Abhängigkeit zwischen Subjekten, sondern eine
konstitutive, frontale und wesentlich wechselseitige Abhängigkeit.
Das Subjekt ist ein solches nur aufgrund einer Beziehung zum Ande-
ren, die sich als eine Beziehung des Gegensatzes und der Differenz
beschreiben lässt. In diesem Sinne »kommt das Begehren vom Ande-
ren«, wie Lacan behauptet. Es ist nämlich Begehren nach Anerken-
nung, Begehren des Anderen, dessen Formulierung eine vollkom-
mene Umkehrbarkeit impliziert, die soweit geht, die singuläre Diffe-
renz in der universellen Vermittlung des Anderen zunichte zu
machen. Darin hat die Dialektik des Begehrens immer noch eine He-
gelsche Grundstruktur.
Für Lacan freilich muss die Dialektik des Begehrens mit der Subver-
sion des Subjekts, der er Priorität einräumt, in Übereinstimmung ge-
bracht werden. Vor diesem Hintergrund wird auch der Titel verständ-
lich: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens... Die Sub-
version des Subjekts kommt zuerst und verweist auf den Umstand,
dass das Subjekt durch die Struktur determiniert wird. Was das Sub-
jekt subvertiert, ist die Determination, welche die Aktion des Signifi-
kanten auf es ausübt. Genau darin besteht der Übergang von Hegel
zum Strukturalismus. Wo die Dialektik des Begehrens die Lebendig-
keit des Subjekts, das sich in der Universalität des Lebendigen befin-
det, in den Vordergrund rückt, da bezeichnet die Subversion den Ein-
tritt des Subjekts in das Feld des Signifikanten, das, strukturell be-
dingt, seine Mortifizierung impliziert.
»Das Subjekt anderersets tritt in das Spiel als ›Toter‹ ein, spielt es aber
als Lebendiger.«250 Was sagt uns hier Lacan? Auf welches Spiel spielt er
an? Welches Spiel spielt das Subjekt, nachdem es als Toter in dasselbe
eingetreten ist (ein seltsames Spiel, in dem der Tod dem Leben vor-
hergeht)? Dieses Spiel ist das Spiel der Signfikanten. Das Subjekt tritt
in eine universelle Ordnung von Regeln ein, die es determinieren:
das Feld des Anderen. Als Toter einzutreten bedeutet, dass das Sub-
jekt für den Eintritt den Preis eines Verlustes entrichten muss: Verlust

175
des Geniessens. Der Eintritt in das Feld des Anderen impliziert den
Tod des Dinges. Es handelt sich dabei um die Zeit der Entfremdung,
wobei das Ding gleichsam das singulärste Singuläre des Subjekts aus-
macht, eine Art singuläre Absolutheit. Die Entleerung des Dinges, das
den Verlust des Ursprungs bedeutet, den Verlust des Grundes und der
Zwecke, verweist auf die letale Macht des Signifikanten. Indem das
Ding am Signifikanten leidet, entleert es sich und wird zu einem Un-
ding. Zu einer Leere, zum Punkt der Extimität, der sich ins Zentrum
des Subjekts als eine Art äusseres Zentrum einschreibt. Darin besteht
das Gesetz der Universalität, das Gesetz des Symbolischen, darin
nämlich, dass ein Verlust an Geniessen stattfindet, dass sich das Sub-
jekt vom Geniessen gelöst hat.
Vermöge dieser Topologie vermag Lacan das zu konzeptualisieren,
was ausser Reichweite des dialektischen Diskurses bleiben musste. In
Subversion des Subjektes lassen sich präzise drei Punkte ausmachen,
die den topologischen Einschnitt kennzeichnen, den Lacan am He-
gelschen Diskurs vornimmt.
Erster Punkt: Die Dialektik wird als »permanenter Revisionismus«251
betrachtet, wobei die Wahrheit des Prozesses beständig vom Wissen
absorbiert wird. Die Dialektik ist nichts anderes als eine Art und
Weise, die Macht des Wissens über die Existenz, über die singuläre
Trägheit der Existenz zum Ausdruck zu bringen. Beständige Absor-
bierung der Differenz des Geniessens als singuläres und in der Uni-
versalität der symbolischen Gestalten des Wissens diskontinuierliches
Element. Wir haben es hier mit einer Bewegung zu tun, bei der Lacan
paradoxerweise gerade die »Permanenz«, die Abwesenheit von Ris-
sen, die Stabilisierung und die Revision hervorhebt, die den ge-
schichtlichen Fortschritt vor jedem möglichen detotalisierenden Ein-
bruch bewahren.
Zweiter Punkt: Die Dialektik wird als eine »konvergente Dialektik« be-
trachtet.252 Nach Lacan zielt die mächtige, von Hegel ins Spiel ge-
brachte Logik letztlich darauf ab, eine geschichtlich-ontologische
Identität zwischen Realem und Symbolischem herzustellen. Zu sagen,
das Wirkliche sei vernünftig und umgekehrt, bedeutet, eine vollkom-
mene und zirkuläre Überlagerung von Universalität und Singularität
zu postulieren. Diese Konvergenz ist ein konsequentes Ergebnis – für
Lacan das entscheidende Ergebnis – von Hegels System. Die Wunden
at
uria.
des Geistes werden so unsichtbar geschlossen, ohne i
© nfo@tzu hin-
Narben

176
terlassen. Ohne irgendwelche Reste übrigzulassen. Im Gegensatz
dazu lassen sich Reales und Symbolisches unmöglich zur Deckung
bringen. Es gibt da stets eine Narbe (das Objekt [a]), das sich nicht
zudecken lässt und das dem Subjekt umgekehrt die Möglichkeit bie-
tet, sich als singuläres wiederzufinden (ebenso wie die Narbe, die
Odysseus am Bein trägt, der alten Amme seine wahre Identität ver-
rät), und zwar nicht durch den Signifikanten, sondern durch jenen
aussersignifikanten Punkt des Geniessens, der in den Gestalten des
Objekts (a) erscheint.
Dritter Punkt: Die Dialektik betrachtet die Wahrheit als eine Potentia-
lität, die sich entfaltet. D.h. für Hegel »ist das Wahre das Ganze«. Die
Wahrheit ist eine Teleologie. Das Subjekt ist das Substrat dieses Pro-
zesses. Die Wahrheit der Dialektik ist ein Noch-nicht des Bewusst-
seins, das sich, in Übereinstimmung mit dem Rhythmus einer vor-
wärtsschreitenden Askese, hin zum absoluten Wissen bewegt. In die-
sem Sinne lässt sich Hegels unglückliches Bewusstsein – dessen
Gespaltenheit vorläufig und dazu vorherbestimmt ist, aufgehoben zu
werden – nicht mit Freuds Unbehagen in der Kultur zur Übereinstim-
mung bringen, weil bei Freud die Spaltung strukturell ist und unmög-
lich beseitigt werden kann. Dies ist in der Tat eine Weise, die nicht-
dialektische Heterogeneität zwischen Singularität und Universalität
zum Ausdruck zu bringen. Sowohl bei Freud als auch bei Lacan ist
das Singuläre nicht so in der Universalität enthalten, als wäre es bei
ihr zu Hause, sondern kann nur um den Preis einer fundamentalen
und unumkehrbaren Spaltung erlangt werden. Dies führt Lacan dazu,
die Universalität in Begriffen der Struktur zu denken. Lacans Univer-
salität ist nicht die teleologisch-anthropologische Allgemeinheit von
Hegel, sondern vielmehr die Universalität der Struktur, die vom Men-
schen absieht.
Der Gegensatz zwischen Universalität und Singularität wird also in
Subversion des Subjekts im Hinblick auf das determinierende Primat
der Universalität (Strukturalismus) reformuliert. Lacan verbündet sich
hier mit Althusser gegen Sartre. Die singuläre Geschichtlichkeit wird
zum Produkt der universellen Synchronie der Struktur. Aber ange-
sichts dessen, dass Lacan die dialektische Perspektive der Aufhebung
des Singulären in der Universalität überwunden hat, beschränkt er
sich nicht auf die einseitige Option für die Universalität. Er führt in
die Verursachung des Subjekts vielmehr ein zweites Moment ein: die-

177
jenige Zeit, in der das Singuläre der Universalität entgeht und sie
durchlöchert. Es handelt sich um die Zeit, die Sartre als Auftauchen
der subjektiven Zeitlichkeit (der historialisation*) in der geschichtli-
chen Kontinuität der Universalität bezeichnete. Es handelt sich um
die Zeit, in der das lebendige Subjekt mit eigener Initiative im tödli-
chen Spiel der Signifikanten mitspielt. Es ist dies die Zeit der Subjek-
tivierung, die Zeit der Trennung vom Anderen. An dieser Stelle kön-
nen wir die Frage nach der subjektiven Freiheit wieder einführen.
Was gilt es mit dem Verlust zu machen? Wie ist es möglich, im Verlust
des Geniessens zu verharren, ohne sich als Subjekt des Begehrens
aufzuheben?

6.
DER SINGULÄRE ÜBERREST DER OBLITERATION

Nehmen wir den Faden dieser beiden Zeiten unter Rückgriff auf die
Dialektik zwischen Bedürfnis, Anspruch und Begehren, wie sie Lacan
auf einer Seite von Die Bedeutung des Phallus entwickelt, wieder auf.
Diese Dialektik ist eine Artikulation des Universell-Besonderen, die
jedoch mit der versöhnenden Logik des dialektischen Denkens
bricht, indem sie von der Determination einer Singularität ausgeht,
die nicht gänzlich in der Universalität des Signifikanten aufgeht, oder
besser: die diese Universalität gleichsam sprengt.
Lacan situiert das Bedürfnis bekanntlich auf der Seite der Besonder-
heit und Singulärität und den Anspruch auf der Seite des Universa-
lität. Der Anspruch ist universell, weil es die Not »der grossen Bedürf-
nisse«, wie sich Freud ausdrückte, in Signifikanten übersetzt. Es gibt
da also eine doppelte Universalität: die Universalität der signifikanten
Ordnung als solche, die der Ordnung des Anderen entspricht, und
die Universalität des Anspruchs, die in ihrem Grunde nie an eine Be-
sonderheit geknüpft ist, sondern stets »Anspruch auf eine Anwesen-
heit und auf eine Abwesenheit« ist. Ein Anspruch auf Liebe, ein An-
spruch auf den Anderen im Sinne des Genitivus subjectivus. Oder an-
ders gesagt: Es ist das Subjekt, das im Anspruch nach dem Anderen
verlangt. Das wesentliche Privileg, welches das Subjekt dem Anderen
zuschreibt, besteht also in der Macht der Antwort, oder besser: darin,
sich der Anrufung des Subjekts nach Belieben auch entziehen zu a.at
o@ turi
© inf
178
können. Lacan definiert deshalb die Macht des Anderen als »Macht
der Privation«, der die Signifikation des Subjekts ausgeliefert ist.
Es ist also die symbolische Dialektik zwischen Anwesenheit und Ab-
wesenheit (d.h. der Umstand, dass der Andere zwischen An- und Ab-
wesenheit oszillieren kann), die die symbolische Artikulation des An-
spruches ermöglicht. Allein, wo befindet sich hier der Platz des Be-
gehrens? Das Begehren, so schreibt Lacan, erscheint »jenseits« der
Universalität des Anspruches, entlang dem Rand eines singulären und
irreduziblen Mangels, der dem entspricht, was sich schon in der Be-
sonderheit des Bedürfnisses vergegenwärtigte. Wo Lacan den Aus-
druck »Besonderheit« gebraucht, macht er dies mit offensichtlicher
Bezugnahme auf Hegel. Bei Hegel wird das Besondere bekanntlich
im Allgemeinen »aufgehoben«. Es verschwindet in der Entwicklungs-
logik des Ganzen, der Ganzheit des Allgemeinen. Bei Lacan hingegen
wird der besondere Mangel, der sich anfänglich in der realen Not des
Bedürfnisses verkörpert, nicht gänzlich durch seine unumgängliche
Unterwerfung unter das allgemeine Gesetz des Signifikanten ver-
neint, sondern taucht jenseits des Anspruchs in der absolut sin-
gulären Form des Restes wieder auf, eines Restes, der sich im Innern
des Anspruchs selbst aushöhlt. Diese Negativität der Besonderheit –
in einer ersten Phase begraben unter der Universalität des Anspruchs
– erscheint so wieder in Gestalt einer fundamentalen Unvereinbarkeit
von Begehren und Anspruch oder, wenn man lieber will, in Form ei-
nes Restes – eines »Überbleibsels der Obliteration«253, wie Lacan
schreibt –, der genau im Innern des Anspruchs wieder zum Vorschein
kommt, wobei er zugleich auf das Jenseits desselben verweist. Dies
besagt, dass die Auslöschung des Besonderen und Singulären durch
die signifikante Universalität nie vollkommen gelingt. Man könnte
dasselbe auch folgendermassen sagen: Nicht das ganze Begehren
lässt sich in der universellen Dialektik der Anerkennung auflösen.
Die Durchstreichung des Dinges* hinterlässt immer einen Rest. Das
Objekt (a) ist in der Tat das, was in der Ökonomie des Subjekts die
vom Signifikanten aufgerissene Leere im Subjekt und den Rest, den
diese Operation der Entleerung notwendig hervorbringt, miteinander
verknüpft.
Für Lacan ist das Begehren in der Tat eine »absolute Bedingung«. Es
ist singulär, singulär strukturiert vom Phantasma, wobei es ein absolut
subjektives, nicht universalisierbares Objekt impliziert, sofern es sich

179
präzise vermöge jenes Objektes von der Signifikantenkette zu tren-
nen vermag.
Im Seminar VII über die Ethik schreibt Lacan: »Der Wunsch* hat nicht
den Charakter eines allgemeinen, sondern, im Gegenteil, des partiku-
larsten Gesetzes – wenn auch gilt, dass solche Partikularität bei ei-
nem jeden Menschenwesen anzutreffen ist.«254 Das besagt nichts an-
deres, als dass das Begehren, sofern es im Feld des Anderen ge-
fangen ist, universell ist, das aber das Begehren allein in einem
absolut singulären Akt angenommen werden kann.
Das tödliche Spiel der Signfikanten zu spielen bedeutet, die Ursache
des Dinges als sein eigen anzunehmen. Es bedeutet, den Verlust, den
die Universalität in das Subjekt einführt, in einer Kompensation durch
das Objekt (a), in dem sich das Geniessen verdichtet, zu singularisie-
ren.
Singularisierung des Universellen: auf diese Weise versuchte Sartre in
seiner Kierkegaard-Lektüre das Subjekt zur Sprache zu bringen; dies
bedeutet, das tödliche Spiel der Signfikanten mitzuspielen. Denn es
ist nicht auf der Seite der Identifikation, wo sich das Subjekt singula-
risiert, sondern auf der Seite des Objektes als Übrigbleibsel des Din-
ges: Punkt einer absoluten Singularität, den man, wie Lacan behaup-
tet, »bei jedem Menschenwesen antrifft«; einzigartige Narbe, die es
dem Subjekt erlaubt, sich von der imaginären Illusion des Eins-Ma-
chens oder Eins-Seins mit dem Anderen zu lösen.

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Das Ding und die Wahrheit:
Heidegger durchqueren

1.
LACAN ALS LESER HEIDEGGERS

Bekanntlich besteht eines der heikelsten Probleme der Heidegger-In-


terpretation darin, die Bedeutung der sogenannten »Kehre«* zu be-
stimmen, die Heidegger selbst im Brief über den Humanismus255 ins
Spiel brachte. Damit rückt die Seinsproblematik, die er in Wirklich-
keit schon seit der Einführung zu Sein und Zeit als Grundfrage be-
trachtete, in den Mittelpunkt. Es geht um den Übergang – nichts an-
deres meint die »Kehre« – von der Frage nach dem Dasein, der im
Grunde Sein und Zeit gewidmet ist, zur Frage nach dem Sein, die
aber in gewissem Sinne schon von Anfang an wesentlich war, um die
Stellung des Daseins* selbst zu artikulieren. Dazusein bedeutet in der
Tat, in der Erschlossenheit des Seins zu sein; es ist das Sein, das sich
dem Dasein zuschickt und es bestimmt; es ist das Sein, das den Hori-
zont an Möglichkeiten definiert, in dem sich das Dasein befindet.
Die anthropologische Problematik, die anfänglich einen Grossteil von
Sein und Zeit auszumachen schien, zentriert sich so neu um eine on-
tologische Fragestellung. Letztere ist in den Augen Heideggers in
Wirklichkeit nichts anderes als der Versuch, die grundlegende Auf-
gabe genau zu umreissen, die schon die Existentialanalytik von Sein
und Zeit bestimmte. Die Frage, die ihn interessiert, ist nicht die Frage
nach dem Dasein, sondern diejenige nach dem Sein. Daher rührt die
radikale Kluft, die Heidegger von den Strömungen der Existenzphilo-
sophie trennt. Daher rührt ebenso seine Polemik gegen den Sartre-
schen Existenzialismus, wie er sie im Brief über den Humanismus als
Antwort auf die Behauptungen vorbrachte, die der französische Phi-
181
losoph in Der Existenzialismus ist ein Humanismus aufstellte. Wir
befinden uns nicht etwa, wie Sartre meint, auf der Ebene, wo »es nur
Menschen gibt«256; wir sind auf der Ebene des Seins; wir kommen
dank der Erschlossenheit des Seins zur Ek-sistenz. Sartre und der Exi-
stenzialismus, die für Heidegger Produkte der geschichtlich-epocha-
len Bewegung der Metaphysik darstellen, lassen nach ihm das Sein in
Vergessenheit geraten. In diesem Sinne situiert sich der Existenzialis-
mus als Humanismus, d.h. als Philosophie vom Menschen, gänzlich
innerhalb dieser Bewegung der Metaphysik, die sich zugleich als eine
Geschichte der Seinsvergessenheit präsentiert.
Aufgrund dieser problematischen Entwicklung des Heideggerschen
Denkens scheint seine Rezeption in der französischen Philosophie
von zwei verschiedenen Haltungen geprägt: In den Dreissiger- und
Vierzigerjahren wird Heideggers gesamtes Denken im wesentlichen
mit der Fragestellung von Sein und Zeit identifiziert. Sartre, Levinas,
Kojève und Merleau-Ponty praktizieren, wenn auch auf je verschie-
dene Weise, eine Heidegger-Lektüre, die dazu neigt, das existentielle
Thema des Daseins* und seiner ontologischen Strukturen gegenüber
der Wahrheit des Seins zu bevorzugen. In den Jahren, die auf die
»Kehre« folgen, macht sich indessen eine neue Heidegger-Lektüre be-
merkbar (ich denke hier v.a. an diejenige von Derrida), die zwischen
Heideggers Fragestellung und den Anliegen der verschiedenen Exi-
stenzphilosophien unterscheidet. Es handelt sich um eine Lektüre,
die jene Elemente, die sich im sogenannten »zweiten« Heidegger fin-
den und die gleichsam dazu auffordern, über den Humanismus hin-
auszugehen, gegenüber der Daseinsanalytik von Sein und Zeit privi-
legiert.257
Der Versuch, Jacques Lacan als Leser von Heidegger in diesem Kon-
text zu verorten, ist alles andere als einfach. Insbesondere deshalb,
weil sich Lacans Heidegger-Lektüre an keinem philosophisch-theore-
tischen Interesse orientiert: Lacan ist in keinster Weise darum
bemüht, sich in eine philosophische querelle zu verstricken und sich
z.B. mit dem Problem eines »ersten« und eines »zweiten« Heidegger zu
beschäftigen... Statt dessen ist es aufschlussreich, die Aufmerksamkeit
auf Heideggers Präsenz – wobei sogleich hinzugefügt werden muss:
die Präsenz sowohl von jenem Heidegger, der Sein und Zeit verfasst
hat, als auch vom Autor der »Kehre« – in den Texten und Seminaren
von Lacan zu lenken. Eine Präsenz, welche die Entwicklung ia.at
turvon
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182
Lacans Denken stets begleitet und auf die man v.a. an den neuralgi-
schen Punkten seiner Theorie trifft.
In der Tat orientiert sich Lacans Heidegger-Lektüre wie im übrigen
jede Lektüre, die er jedem anderen Autor angedeihen lässt, weder an
einer Logik des Verstehens* – die polemische Haltung Lacans gegen-
über dieser Logik ist wohlbekannt –, noch an der Logik einer reinen
philologischen Bespiegelung oder einer hermeneutischen Logik. La-
can bringt vielmehr eine Lektürepraxis zur Anwendung, die den phi-
losophischen Text, auf den sie sich bezieht, als solchen verwandelt:
d.h. sie führt in den Text, den sie behandelt, Verschiebungen ein, die
sowohl den Absichten des Autors als auch denjenigen des Textes zu-
widerlaufen.
Man denke z.B. an Lacans Descartes-Lektüre, die er im Seminar IX,
das der Thematik der Identifikation gewidmet ist, entfaltet 258. Lacan
gewinnt aus dem Text von Descartes die Idee – die im übrigen in je-
nem Text tatsächlich präsent ist – von einem Gott als einer Alterität,
der die symbolische Kohärenz der Welt dadurch ermöglicht, dass er
sich zu ihrem ontologischen Garanten macht. Er stösst also auf etwas,
das Descartes Gott nennt und das sich einzig in Form eines Über-
schusses in das cogito einschreibt – die Idee von Gott weist in der Tat
über das cogito hinaus, weil sie, insofern sie unendlich ist, nicht aus
dem cogito selbst stammen kann –, das aber nichtsdestoweniger als
symbolisches und regulatives Prinzip funktioniert und der Welt er-
laubt, ihre Ordnung aufrechzuerhalten.
Jenseits der Intention von Descartes‹ Text schält Lacan ausgehend
von diesem entscheidenden Punkt der Kartesischen Argumentation –
ausgehend von der Notwendigkeit Gottes –, ein logisches Element
heraus, das für seine eigene Theoretisierung des sogenannten »einzi-
gen Zuges«, des trait unaire, massgebend sein wird. Damit nämlich
das Subjekt eins sein kann, damit es als jenes bestimmte Subjekt
identifizierbar ist und sich als Differenz erkennen kann, ist ein Ande-
rer notwendig, der ihm die symbolische Möglichkeit der Identifika-
tion verschafft. Die Möglichkeit, eins und also ein Subjekt zu sein,
verdankt das Subjekt dem Anderen, mit dem es sich symbolisch iden-
tifiziert.
Wie man also sieht, wird der Kartesianische Text entlang gewisser
Nähte aufgetrennt, die ihm fremd sind. Diese Verschiebung, die in-
nerhalb des Textes erfolgt, bringt freilich stets eine Oszillation zum

183
Vorschein, die der Kartesianischen Meditation eigen ist. Um es anders
zu sagen: Lacan entdeckt einen Descartes gegen Descartes; er liest
denjenigen Descartes, der das cogito und das durch den Primat des
Bewusstseins gekennzeichnete Denken theoretisiert, gegen jenen
»anderen« Descartes, der genau in diesen durch das cogito gebildeten
Rahmen ein Element einführt (die Idee von Gott), das seine Herr-
schaft unterminiert.
Die Interpretation, die Lacan Descartes angedeihen lässt, ist beispiel-
haft für den Gebrauch, den er von philosophischen Texten im allge-
meinen macht. Er liest auf eine bestimme Weise, die den Text, an
dem sie sich zu schaffen macht, zugleich verwandelt. Es handelt sich
nun darum zu sehen, worin genau die Operation besteht, die Lacan
gegenüber Heidegger ausführt.
Zweifellos klingt in Lacan auch da, wo er Heidegger liest, das in den
Fünfziger- und Sechzigerjahren in Frankreich dominante intellektu-
elle Klima nach. Dieses Klima ist von einer Krise des existenzia-
listisch-historistischen Paradigmas und vom Aufkommen antihumani-
stischer Strömungen geprägt, die nicht zuletzt auf die Verbreitung ei-
nes Heidegger nach der »Kehre« zurückgehen und die zudem den
bevorstehenden Erfolg des Strukturalismus ankündigen. Dennoch
zeigt Lacan bei verschiedenen Gelegenheiten, dass ihm der ethisch-
existentielle Kern von Sein und Zeit sehr wohl gegenwärtig ist, insbe-
sondere da, wo er ihn als einen wesentlichen Ort neu überdenkt, der
es ihm gestattet, zu einer Theorie des Subjekts zu gelangen.
Wie das Dasein von Heidegger ist auch das Lacansche Subjekt jedwe-
der Substanzialität beraubt. Es lässt sich deshalb am ehesten als Spal-
tung, Teilung, Nicht-Idendität definieren. Während aber das Heideg-
gersche Denken insbesondere nach der »Kehre« immer nachdrückli-
cher darauf aufmerksam macht, dass der Subjektbegriff immer schon
von der metaphysischen Ratio kontaminiert ist, fährt Lacan unbeirrt
damit fort, sich mit dem Subjekt zu beschäftigen, und hält an der Sub-
jektproblematik als der Grundfrage der psychoanalytischen Theorie
und Praxis fest.
An diesem Punkt lässt sich vielleicht die Originalität und die, wenn
man so sagen kann, »philosophische« Einzigartigkeit von Lacan be-
messen. Sie besteht genau darin, jene beiden begrifflichen Linien zu-
sammenzuhalten, die das zeitgenössische philosophische Denken
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seinerzeit dominierten: die Linie von dialektisch-phänomenologi-
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184
scher Herkunft, die durch die einflussreiche Vermittlung von Kojève
in den Sartreschen Existenzialismus überging, und jene andere Linie
von Heideggerscher Provenienz, die sich in die Linguistik von Saus-
sure und in den Strukturalismus integrierte. Während der ersten Rich-
tung die Vorstellung entgeht, dass die Struktur das Subjekt massgeb-
lich affiziert – in dieser Perspektive existiert ein Subjekt ohne Struktur
–, fehlt der zweiten Richtung genau der Begriff des Subjekts – es exi-
stiert eine Struktur ohne Subjekt –. Allein vor dem Hintergrund dieser
doppelten impasse werden Lacans theoretische Anstrengungen ver-
ständlich, ein Denken zu artikulieren, das imstande ist, den Ort des
Subjekts in seiner Einschreibung in der Struktur zu bestimmen. Sein
Denken ist nichts anderes als der Versuch, Subjekt und Struktur zu-
sammenzudenken, das Subjekt als ein in die Struktur eingeschriebe-
nes Subjekt zu denken.
Inwieweit bewegt sich Heidegger im Horizont der Frage, die Lacan
stellt, d.h. im Horizont der Frage nach einer logischen Inklusion von
Subjekt und Struktur? In welchem Masse trägt Heidegger der »Auf-
pfropfung« des Subjekts in die Struktur Rechnung? Inwieweit vermag
die Seinsfrage* die Vorstellung – die Lacans Vorstellung sein wird – ei-
nes Subjekts hervorzubringen, das »endlich in Frage steht«?

2.
DER HEIDEGGER VON LACAN

Ich werde versuchen, ausgehend von der folgenden Hypothese ei-


nige Aspekte der komplexen Beziehung aufzuzeigen, die Lacan mit
Heidegger unterhält: Lacan versucht sich in einer Verschiebung des
Heideggerschen Textes, die sich als eine Verschiebung von der Her-
meneutik zur Ethik definieren lässt, dem ähnlich, was man eine »Ethi-
sierung« der Hermeneutik nennen könnte, ein Überdenken der Her-
meneutik im Lichte der Ethik. Das soll nicht bedeuten, Lacan sei ge-
genüber dem »Hermeneutiker« Heidegger unempfindlich, demjenigen
Heidegger also, für den die Sprache den konstitutiven und unüber-
steigbaren Horizont des Menschen bildet und der die Sprache als
Haus des Seins beschreibt; es ist unvermeidlich, dass jede Tätigkeit,
die um den Sinn kreist, allein in dieser konstitutiven Erschlossenheit
stattfinden kann.
185
Die Grundthese freilich, die diesen Bemerkungen über Lacan-Hei-
degger zugrunde liegt, ist die, dass Lacan dessen Schriften deshalb
durchquert, um – nicht ohne paradoxe Wirkungen – in Heidegger
selbst eines Heidegger zu gedenken, der sich jenseits der Hermeneu-
tik ansiedelt. Eines Heidegger, der die Logik der Hermeneutik – zu
deren Ausarbeitung er selbst wesentlich beiträgt, indem er ihr eine
strenge Begrifflichkeit zur Verfügung stellt – einer ethischen Verwin-
dung unterzieht. Daher rührt das Thema des Seins-zum-Tode, das in
Lacan präsent ist und das er als ethischen Kern von Heideggers Ver-
such begreift, das humanistisch-metaphysische Menschenbild zu
überwinden. Und hiervon nimmt ebenso die Lacansche Wiederauf-
nahme der Sprachthematik Ausgang, jener Sprache, die für das Sein
des Daseins wesentlich ist. Und allein vor diesem Hintergrund wird
auch verständlich, wie Lacan von der Heideggerschen Konzeption
der Sprache als Horizont und als Erschlossenheit des Seins, in der das
Seiende erscheint, zu jener Signifikantenlogik gelangt, die von der
Einschreibung des Subjekts in die Sprache Rechenschaft ablegt. Sie
tut dies ausgehend von jenem Schnitt, von jener Spaltung, die der
Signifikant am Subjekt vollführt. Dies ist eine Dimension, die, wie
man sieht, in der Heideggerschen Reflexion über die Sprache fehlt
und die deutlich die Differenz zwischen einem Denken kennzeichnet
(jenem von Heidegger), das sich ganz dem Versuch hingibt, die
Seinsfrage zu denken, und einem anderen Denken (jenem von La-
can), das sich unter Beibehaltung einer ontologischen Fragestellung –
die wesentlich entlang der Sprache verläuft – weiterhin auf das Sub-
jekt bezieht, insofern das Subjekt einen irreduziblen Mangel in das
Innere der Struktur einführt. Dieser Bezug auf die subjektive Dimen-
sion ist entscheidend, um den Übergang von einem hermeneutischen
zu einem ethischen Horizont zu begreifen. Entscheidend deshalb,
weil das Reale des Subjekts, wie wir noch sehen werden, nicht die
Bewegung des Sinns betrifft, die das Spiel der Interpretation inner-
halb des immer offenen Horizontes, der es enthält, hervorbringt. Viel-
mehr betrifft es die ethische Stellung des Subjekts als eines solchen in
bezug auf das eigene Begehren.

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186
3.
JENSEITS DER REPRÄSENTATION

Wenn man sich an die weite und etwas ungenaue Definition von
Hermeneutik hält, wonach sie jener philosophischen Haltung ent-
spricht, die sich insbesondere mit einer auf den Sinn abzielenden Be-
wegung der Interpretation befasst, so ist die Hermeneutik nichts an-
deres als eine Logik des Sinnes. Wobei es sich freilich um einen Sinn
handelt, der keine einfache Gegebenheit ist und dessen Fülle unmög-
lich in irgendeiner Präsenz erfasst werden kann, weil er sich allein in
einer Abweichung, in einer Differenz offenbart. Der Sinn kann in der
Tat nicht erschöpfend entziffert oder interpretiert werden, weil die
Unmöglichkeit, zu einer endgültigen Bestimmung desselben zu ge-
langen, zur Logik des Sinnes selbst gehört. Nichts anderes besagt Hei-
deggers Definition der Wahrheit als aletheia, als Un-Verborgenheit.
Durch diese Definition versucht Heidegger die Husserlsche Epoché
innerhalb der Seinsfrage neu zu situieren259: die Seinsvergessenheit
gehört dem Schicksal des Seins als solchem an. In diesem Sinne ent-
birgt sich das Sein nur, insofern es sich zugleich entzieht. 260 Allein,
wie hat man diesen Entzug zu verstehen, wie lässt sich das lethe von
aletheia fassen?
Heidegger scheint zwischen zwei entgegengesetzten Antworten zu
oszillieren: auf der einen Seite – und dies ist die hermeneutische
Richtung – scheint er den Entzug als konstitutive Eigenschaft des Sin-
nes zu betrachten. Auf der anderen Seite scheint er in ebendiesem
Entzug ein Jenseits – oder ein Diesseits – des Sinnes zu entdecken;
etwas also, das der Ordnung des Unrepräsentierbaren angehört, der
Ordnung dessen, was sich ausserhalb des Sinnes ansiedelt.
Für Heidegger gibt es in der Tat etwas am Sein und an der Wahrheit
des Seins, was sich nicht repräsentieren lässt. Die ontologische Diffe-
renz ist das, was diese Unrepräsentierbarkeit hütet; sie ist das, was
die Differenz zwischen Sein und Seiendem bewahrt. Das Seinspro-
blem beschränkt sich deshalb auf die folgende Zweideutigkeit: das
Sein ist nichts ohne das Seiende – nichtsdestoweniger ist es aber im
Seienden nirgends anzutreffen und kann in ihm nicht repräsentiert
werden. Dieses Unrepräsentierbare lässt sich also im Ausgang von
Heidegger selbst in zwei verschiedenen Hinsichten denken. In her-
meneutischer Hinsicht wird es als eine Art transzendentaler Bedin-

187
gung der Repräsentation begriffen, d.h. es stellt eine Grenze des Sin-
nes dar, die zugleich zur Bedingung der Möglichkeit ebendieses Sin-
nes wird. Es handelt sich deshalb nicht um etwas, das sich ausserhalb
des Sinnes ansiedelt (in einer hermeneutischen Logik existiert näm-
lich streng genommen nichts ausserhalb des Sinnes, d.h. nichts, was
dem Zirkel des Sinnes äusserlich ist), sondern um das, was die Erfah-
rung des Sinnes möglich macht. Insofern die Metaphysik nichts ande-
res als die Geschichte der Seinsvergessenheit ist, die als epochale Be-
wegung das Abendland charakterisiert, reduziert sie das Sein auf die
Repräsentation/die Vorstellung, ohne zu begreifen, dass die Reprä-
sentation/Vorstellung eine ontische Bestimmung ist, die notwendig
eine der Welt vorhergehende Erschlossenheit voraussetzt, eine Lich-
tung*, die einen Sinnhorizont eröffnet. Genau auf dieser Unmöglich-
keit, aus dem konstituierten Horizont der Welt als Horizont (des Vor-
verständnisses) des Sinnes herauszutreten, gründet sich die Vorstel-
lung von einem hermeneutischen Zirkel.
Eine andere Möglichkeit besteht hingegen darin, das Unrepräsentier-
bare nicht mehr als Bedingung der Sichtbarkeit (so wie das, was man
nicht sieht, die Bedingung dessen ist, was man sieht), sondern als
blinden Fleck der Sichtbarkeit selbst zu konzipieren. Als etwas also,
das nicht mehr dem Feld des Sinnes angehört und das vielmehr et-
was vom Sinn radikal Verschiedenes oder, wenn man so will, die
Grenze des Sinnes vergegenwärtigt. Bei Heidegger lässt sich etwas
Ähnliches im Begriff des Ereignisses* finden, den er v.a. im letzten
Teil seines Werkes entwickelt. Das Sein ist nichts jenseits des Ereig-
nisses. Oder anders gesagt: Das Ereignis ist kein Zeichen, kein Hin-
weis auf etwas anderes, auf eine causa efficiens, auf ein erstes Sein,
auf eine ens causa sui. Vielmehr zerstört es die Vorstellung, dass es
ein Sein jenseits des Seins, das sich im Ereignis entbirgt, geben kann.
In diesem Sinn behauptet Heidegger, dass »das Sein im Ereignis ver-
schwindet«.261 Diese Aussage ist Ausdruck einer nihilistischen Per-
spektive, die sich in jedem Versuch wiederfindet (dies ist die zentrale
These von Gianni Vattimo262), im Zeichen von Nietzsche alle Grün-
dungsansprüche und jede ontologische Logik, die an den Begriff des
Grundes gebunden bleibt, zu überwinden.
Die Logik des Zeichens beruht auf der hermeneutischen Unterschei-
dung zwischen einem latentem und einem manifestem Inhalt, wobei
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das Manifeste die latente Präsenz eines Sinnes anzeigt. Die turia
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188
scheint also eine Abwesenheit zu enthalten – den Sinn –, der sich in
einer zweiten Phase vermittels der Aktivität der Entzifferung ver-
gegenwärtigen lässt.
Nun gut, das Ereignis des Seins scheint, in einem radikalen Sinn ver-
standen, diese zeichenhafte Artikulation des Sinnes in Frage zu stel-
len, und zwar insofern, als es kein erstes und grundlegendes Signifi-
kat gibt, das sich unter dem Signifikant befindet, ebensowenig wie
eine erste Ursache, ein Ursprung oder ein Grund existiert, der das Er-
eignis gleichsam ontologisch stützt. Genau das versucht Heidegger
zum Ausdruck zu bringen, wo er in einem mit Zeit und Sein betitel-
ten Vortrag behauptet, es gelte die Vorstellung von einem Sein als
Grund »fahren zu lassen«.263 Nachdem er gezeigt hat, dass es unmög-
lich ist, dem Sinnhorizont der Sprache zu entgehen, scheint Heideg-
ger gewissermassen den Gedanken einzuführen, es gebe etwas, dass
sich nicht auf den Sinn reduzieren lässt, das durch die Maschen des
Sinnes fällt und das dem Sinn widersteht (man muss sich dabei jen-
seits des blossen Wortspieles vergegenwärtigen, dass Heidegger kei-
neswegs die Frage nach dem Sein des Sinnes, sondern diejenige nach
dem Sinn des Seins stellt, d.h. er befragt sich nicht an erster Stelle
über den Status des Sinnes, sondern über den Status des Seins).
Das Unrepräsentierbare scheint aus dem Rahmen der hermeneuti-
schen Dialektik zwischen Verborgenheit und Erscheinung herauszu-
fallen. Wo das Phänomen erscheint, im selben Augenblick, in dem es
das Licht des Sinns erblickt, löscht sich etwas aus, geht etwas verlo-
ren. Das Sein verschwindet im Ereignis; das Signifikat verschwindet
im Signifikanten. Es gibt also kein ursprüngliches Signifikat. Lacan
würde sagen, es gibt keinen Anderen des Anderen. Genau auf diesen
blinden Fleck, auf diesen äussersten Rand des Sinnes – in einer Art
extrahermeneutischem Territorium – verweist das Heideggersche
Gleichnis vom Sein, das im Ereignis verschwindet.
Lacan erkennt Heidegger das Verdienst zu, meisterhaft gezeigt zu ha-
ben, dass es die Wahrheit ist – die Wahrheit des Seins, die Wahrheit
der Sprache –, die den Menschen in Anspruch nimmt und ihn in
ihrem Horizont einbehält, und nicht etwa umgekehrt. Der Mensch
wohnt im Haus des Seins, das für Heidegger mit dem Haus der Spra-
che zusammenfällt. Es ist also nicht der Mensch, der spricht. Es ist
nicht der Mensch, der die Sprache gebraucht. Das genaue Gegenteil
ist wahr: »Denn der Mensch ist nur Mensch, insofern er dem Zu-

189
spruch der Sprache zugesagt, für die Sprache, sie zu sprechen, ge-
braucht ist«.264 Es ist das Symbol, wie Lacan in den Fusstapfen von
Heidegger behaupten wird, das den Menschen zum Menschen
macht.265 Das Heideggersche Wohnen ist in der Tat ein Wohnen in der
Wahrheit des Seins, ein Wohnen im Haus des Seins. Das Lebewesen,
so wird Lacan ganz im Stile Heideggers behaupten, »unterscheidet
sich dadurch von den anderen, dass es die Sprache bewohnt«.266 Aber
mehr noch als Heidegger wird Lacan auf einem Etwas beharren, das
aus dem Netz des Sinnes fällt. Gleich nachdem er behauptet hat, das
Freudsche Subjekt wohne im Sinn, beeilt er sich hinzuzufügen, »nir-
gendwo, unter keinem Zeichen, erfolgt die Niederschrift des Ge-
schlechts von einer (signifikativen) Beziehung her«.267 Dies bedeutet
nichts anderes, als dass die Realität des Geschlechtes nie gänzlich auf
die Realität des Sinns reduziert werden kann.
Bei Lacan zielt das ganze Denken, das sich um das Register des Rea-
len dreht, darauf ab, das zu isolieren, was der Ordnung des Sinnes
widersteht. Auf diese ihm eigene Weise versucht er Freuds Aus-
führungen zum Todestrieb neu zu überdenken, wobei er zugleich be-
strebt ist, den Todestrieb aus der theoretischen Isolierung, in die ihn
die post-freudianische Psychoanalyse fallen liess, zu befreien und ihn
wieder in den Mittelpunkt der psychoanalytischen Erfahrung zu
rücken.
Nur innerhalb gewisser Grenzen kann die Psychoanalyse in eine her-
meneutische Logik integriert werden. Es gibt freilich eine hermeneu-
tische Seite der Psychoanalyse – sie beschäftigt sich mit dem Sinn
und mit der Interpretation, die den Sinn durch die Einwirkung des
Signifikanten in Bewegung setzt und erhält –, aber es ist dennoch
nicht zu übersehen, dass die Psychoanalyse mit der hermeneutischen
Begrifflichkeit bricht. Die Psychoanalyse lässt sich in der Tat nicht auf
eine Theorie des Sinnes oder der Interpretation zurückführen, weil
sie genau darauf abzielt, den blinden Fleck des Sinnes, die Grenze
der semantischen Interpretation zu fassen.
Die hermeneutische »Ebene« der Psychoanalyse wird durch die Vor-
stellung gebildet, die Bildungen des Unbewussten seien mit Sinnpro-
dukten identisch und könnten als solche entziffert werden. Und den-
noch, so bemerkt Lacan, »kann eine entzifferte Mitteilung ihr Rätsel
bewahren«.268 Das Symptom kann deshalb nur annäherungsweise als
at
uria.
eine Sinnbildung begriffen werden. Es ist wahr, dass i
© nfo@int Funk-
Lacan

190
tion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse
das Symptom in hermeneutischer Manier als »Signifikant eines aus
dem Bewusstsein verdrängten Signifikats«269 definiert und somit jener
berühmten Artikulation des Symptoms in der rhetorischen Figur der
Metapher Raum gibt. Es ist hierbei wesentlich zu beachten, dass La-
can genau in diesem Kontext auf Heideggers Bestimmung der Wahr-
heit als aletheia, als Un-Verborgenheit zurückgreift. Dies impliziert,
dass genau da, wo etwas verborgen, verdeckt und vergessen wird,
sich nichtsdestoweniger etwas zeigt und sich in den symbolisch-ima-
ginären Sinngestalten offenbart. Aufgrund dieses »entbergenden« Cha-
rakters, der ihr eigen ist, kann die Wahrheit deshalb nicht mehr als
Gegenstand einer Adäquation betrachtet werden. Sie muss umge-
kehrt als etwas gedacht werden, das der Dimension des Ereignisses
angehört und das sich immer nur gibt, indem es sich entzieht. Aus
diesem Grund ist Heideggers Wahrheit als aletheia der Wahrheit der
Psychoanalyse sehr nah. Die Bildungen des Unbewussten bringen
die Wahrheit des Begehrens genau da zum Vorschein, wo sie der Ver-
gessenheit anheimfällt. Lacan ist im übrigen bezüglich dieser Affinität
sehr explizit:
»Wir finden, wenn wir uns aufschliessen dem Verständnis der Weise, in der
Martin Heidegger uns im Wort aletheia das Spiel der Wahrheit darstellt, nichts
anderes als ein Geheimnis wieder, in das diese ihre Freunde stets eingeweiht
hat, und durch welches diese wissen, dass sie sich ihnen, wo sie sich verbirgt,
am wahrhaftigsten darstellt.«270

Aus diesem Gesichtspunkt folgt der Lacan der Fünfzigerjahre der


Lehre Heideggers: die Verdrängung ist nicht die Verdrängung einer
Sache, sondern die einer Wahrheit.271 Dies bedeutet nichts anderes,
als die Wahrheit ins Exil zu schicken. Freud hat uns aber nichtsdesto-
weniger gelehrt, dass die Verdrängung und die Wiederkehr des Ver-
drängten als zwei miteinander verflochtene Bewegungen aufgefasst
werden müssen, die sich gegenseitig bedingen. Wenn also die Ver-
drängung gleichbedeutend mit einer Verbannung der Wahrheit ins
Exil ist, so ist die Arbeit der Psychoanalyse – eine Arbeit, die sich
hauptsächlich mit der Wiederkehr des Verdrängten befasst – mit dem
Versuch identisch, jene Wahrheit, die es von sich ausgeschlossen hat,
wieder in das Subjekt zu integrieren. Auf diese Weise kann Lacan aus
der Psychoanalyse eine Praxis der Wahrheit machen; eine Praxis der
Entbergung der Wahrheit. Das Symptom eignet sich zu einer Heideg-

191
gerschen Lektüre: es stellt den Ort dar, wo sich die Wahrheit zeigt, in-
dem sie sich zugleich entzieht, wo sich die Wahrheit gibt, indem sie
sich verbirgt.
Und dennoch gibt es einen Aspekt des Symptoms, der sich keines-
wegs auf diese symbolisch-imaginäre und hermeneutische Dimen-
sion des Sinnes reduzieren lässt. Und genau auf diesen Aspekt be-
zieht sich Lacan, wo er behauptet, dass jede Mitteilung auch nach ih-
rer Interpretation etwas Rätselhaftes bewahrt.
Freud hatte nach der metapsychologischen »Wende« der Zwanziger-
jahre versucht, das zu denken, was sich am Symptom der Arbeit der
Interpretation widersetzt und sich allein in der Trägheit einer beharr-
lichen Wiederholung, die im Todestrieb verankert ist, zeigt. Darauf ist
die neue Definition des Symptoms zurückzuführen, das nun nicht
mehr im begrifflichen Rahmen des Lustprinzips* gefasst werden kann.
Die anfängliche Idee von Freud bestand in folgendem: das Symptom
ist das, was einer verdrängten Treibregung ermöglicht, die eigene Be-
friedigung auf dem Umweg einer Ersatzbildung zu erhalten. Das Sym-
ptom wird nun neu als etwas gedacht, was diesen Rahmen subver-
tiert, und zwar insofern, als es auf eine Neigung zur Wiederholung ei-
nes Leidens hinweist, eine Neigung, die man sich nicht anders
erklären kann als durch die Annahme einer anderen Logik, die sich
nicht mehr auf die hedonistisch-biologische Logik des Lustprinzipes
reduzieren lässt. Freud versuchte diesen Umstand durch die Anerken-
nung einer Lust im Leiden, die einer ursprünglichen masochistischen
Disposition des psychischen Apparates entsprechen sollte, zu be-
gründen.272
Lacan gewinnt aus Freuds Ausführungen den Begriff des Geniessens,
der jouissance*, der es ihm ermöglicht, die opake Seite des Sym-
ptoms herauszuarbeiten, die dem Sinn widersteht. Das Geniessen ist
in der Tat ein Antagonist des Sinnes (es wird aus »dem Sinn ausge-
stossen«, wie Lacan sagt273), der sich von der Interpretation nicht ent-
ziffern lässt und sich ihr schweigsam widersetzt.274 Dabei handelt es
sich um eine Dimension, die innerhalb einer hermeneutischen Begrif-
flichkeit, die je nach Strategie dazu neigt, die Alterität des Realen –
die Exzentrizität des Geniessens – auf die Bewegung des Sinnes
zurückzuführen, ungedacht bleibt.

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192
4.
DIE WAHRHEIT, DIE LEERE, DIE URSACHE:
DAS RÄTSEL DES DINGES*

Die Geschichte der Metaphysik ist für Heidegger die Geschichte jener
Wahrheit, die auf das Bild, auf eine blosse Vorstellung reduziert
wurde: »Dass überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen
der Neuzeit aus«.275
Das metaphysische Weltbild verbirgt, dass der Mensch auf die Spra-
che angewiesen ist. In Lacanschen Begriffen bedeutet dies, dass sich
die Metaphysik auf der Achse a-à des Schema L 276 ansiedeln lässt, auf
der Achse des Imaginären also, die dazu neigt, die radikale Alterität
des Anderen auszuschliessen. Die zum Bilde gewordene Welt ist die
Welt der wissenschaftlichen Praxis und der Technologie, die als Voll-
endung der abendländischen Metaphysik das Sein auf eine Vorstel-
lung des Subjekts reduziert, in der es als wertend-vorstellendes Sub-
jekt, als reiner Wille zur Macht sich seiner selbst vergewissert.
Heideggers Fragen zielt auf das ab, was sich jenseits der Vorstellung
und der Repräsentation, jenseits der Reduktion der Welt auf eine Vor-
stellung befindet, und weist so starke Assonanzen mit Lacans Versuch
auf, die Reduktion der Psychoanalyse – die sich geschichtlich insbe-
sondere in der Ich-Psychologie vollendet – auf eine blosse Theorie
der subjektiven Anpassung zu überwinden. Er verwahrt sich da-
gegen, aus der Psychoanalyse eine psychologistische Theorie zu ma-
chen, die Freuds Erkenntnisse in den Wind schlägt und die Vorstel-
lung eines Ichs als Herrschaftsprinzip und als Herrschaftsanspruch ins
Zentrum rückt, eines Ichs, dessen gänzlich imaginäre Beschaffenheit
sie verkennt.
In einem kurzen Aufsatz mit dem Titel Das Ding277, dem Lacan eine
Sitzung des Seminars über Die Ethik der Psychoanalyse von 1960 wid-
met, versucht Heidegger, sich durch die Reflexion über einen Krug
dieser Grenze der Metaphysik zu nähern.
Die Metaphysik lässt das Sein nicht sein; sie reduziert es auf die Vor-
stellung eines vorstellenden Subjekts. Heidegger indessen unter-
nimmt hier den Versuch, das »Wesen« des Dinges zu befragen, das
Dingsein des Dinges jenseits seines Vorgestelltseins für ein Subjekt
oder, was dasselbe bedeutet, jenseits seiner Reduktion auf ein Ob-
jekt, auf die blosse Vorhandenheit eines Seienden.

193
Was den Krug zum Krug macht – dies ist der Punkt, zu dem Heideg-
ger im wesentlichen gelangt –, ist nicht die Materie, aus welcher der
Krug gefertigt ist, sondern vielmehr das Nichts, die Leere, die er fasst.
Oder vielmehr: es ist nicht der Krug, der das Nichts fasst, sondern es
ist das Nichts, das dem Krug ermöglicht, sein Wesen als Ding zu er-
füllen. Das Wesen des Kruges, das meint hier: zu fassen und zu
schenken.
Die Leere des Kruges gibt bei Heidegger dem Spiel des Sinnes Raum.
Darauf aufbauend konstruiert er das Geviert* von Erde und Himmel,
von Göttlichen und Sterblichen. Das Ding ist ein solches nur inso-
fern, als es in sich das vereinigt, was notwendig aus dem Gesichtsfeld
des metaphysischen Blickes herausfällt. Das Ding ist Ding nur inner-
halb der Einfalt der Vier, die in ihrer wechselseitigen Entsprechung
das Phänomen der »Welt« konstituieren.
Heidegger versucht hier zu zeigen, dass das Denken der Metaphysik
die grundlegende Einheit des Weltphänomens, die in der ontologi-
schen Differenz bewahrt wird, nicht zu fassen vermag, weil es der
Vorhandenheit des Seienden verhaftet bleibt. Für Heidegger ist der
Krug aber kein bloss Seiendes, sondern in ihm erscheint die Vorstel-
lung eines Nichts – einer Leere –, die sich als »Hülle« und als
»Schleier« der Wahrheit des Seins entbirgt. Es ist das Nichts, das in sei-
ner radikalen Alterität hinsichtlich des Seienden auf das verweist, was
vom Seienden unterschieden ist, auf das Andere des Seienden. Es ist
das Nichts, das die ontologische Differenz zwischen Sein und Seien-
dem aufrechterhält. So ist es das Nichts, die Leere, die es dem Krug
erlaubt, zu seinem Wesen zu finden.
Unter der Bedingung, dass es das Seiende gibt, gibt es folglich auch
die Wahrheit des Seins, die sich in dem zeigt, was vom Seienden un-
terschieden ist, im Anderen des Seienden, in der Leere des Kruges.
Heidegger streift hier den äussersten Rand der Metaphysik, denjeni-
gen Punkt, an dem der die Metaphysik bestimmende Gedanke, dass
das Sein selbst vorhanden ist und auf das Seiende reduziert werden
kann, zerbricht. Das Nichts ist nicht die blosse Negation des Seien-
den, sondern ist, wie Heidegger geschrieben hat, »das Sein selbst«. 278
Der Ort des Heideggerschen Dinges ist also der Ort des Gevierts.
Diese seine Zugehörigkeit zur Erschlossenheit, zur Lichtung* des
Seins bewahrt das Seiende vor einer Reduktion auf ein bloss Vorhan-
t
ria.a
denes. Dies ist die tiefe Wahrheit, welche die Sprache
© fo@tu Nur
inenthält.
194
dank der Sprache – dank ihrer symbolischen Erschlossenheit –
kommt der Mensch als Mensch zur Welt. In diesem präzisen Sinne
kann man sagen, dass die Sprache mit der Wahrheit des Seins übe-
reinkommt.
Das Heideggersche Symbolische ist »kosmologisch«; die Sprache ist
v.a. ein Haus, das es zu bewohnen gilt. Der Mensch ist in eine Ord-
nung eingeschlossen, die ihn zugleich überragt. Diese Ordnung, die
Ordnung der Wahrheit des Seins, verfügt ihn in eine Erschlossenheit,
die seine Subjektivität übersteigt, und die von der Sprache gleichsam
gehütet wird. Für Heidegger ist es nämlich die Sprache als Haus des
Seins, die es dem Menschen ermöglicht, im Horizont des Sinnes zu
wohnen. Die Wahrheit ist die Wahrheit des Seins und der Sprache als
Ort, in dem das Sein selbst verweilt. Das Dasein, das in der Erschlos-
senheit des Seins ist, hält sich also notwendig in der Wahrheit auf: die
Wahrheit des Daseins entspricht seiner Zugehörigkeit zu einer ande-
ren Ordnung, zu einer Ordnung des Anderen, die ihn in ihren Hori-
zont einschliesst.
Trotzdem geht Heidegger dem besonderen Verhältnis zwischen dem
Subjekt und dem Feld des Anderen, das sich ausgehend von diesem
Eingeschlossensein des Subjekts in der Wahrheit des Seins artikuliert,
nicht weiter auf den Grund. Lacan hingegen versucht, dieses Verhält-
nis als konstitutiv für die Subjektivität als solche zu begreifen, für das,
was er die »Stellung des Subjekts« nennt. Er beschreibt es als doppelte
Bewegung von Entfremdung (aliénation) und Trennung (sépara-
tion), die, wie er insbesondere im Seminar XI ausführt, das Verhältnis
von Subjekt und Anderem zu artikulieren sucht.279 Es geht ihm darum
zu zeigen, wie das Subjekt, das vom Signifikanten affiziert und also
vom Anderen insofern konstituiert bzw. produziert wird, als es von
einem Signifikanten für einen anderen Signifikanten repräsentiert
wird, sich nichtsdestotrotz von ihm abzugrenzen vermag und wie es
diese Beziehung zum Anderen subjektiv zu bestimmen vermag.
Die erste Phase dieser Konstituierung ist diejenige der Entfremdung,
jene Phase, in der das Subjekt strukturell an den Anderen gebunden
ist, in der es also unter der Einwirkung des Signifikanten, der es da-
durch aushöhlt, dass er es in einer ihm vorhergehenden Kette reprä-
sentiert, seine Konsistenz verliert. Der Eintritt des Subjekts in das Feld
des Sinnes findet nur um den Preis eines Verlustes an Sein statt. Die
zweite Phase ist diejenige der Trennung, in der das Subjekt seine ei-

195
gene subjektive Position dadurch findet, dass es sich vom Anderen,
von dem es strukturell abhängig ist, zugleich löst.
Wie man sieht, stimmt Lacan mit Heidegger darin überein, der Spra-
che, die den Subjektbegriff jeglichen substanzialistischen Inhaltes ent-
ledigt, den Primat über das Subjekt einzuräumen. Er lässt das Subjekt
von einer Ordnung abhängig sein, die es antizipiert und bestimmt.
Aber anders als Heidegger ist das Feld der Sprache für Lacan das Feld
des Signifikanten, wobei sich der Signifikant insbesondere als das
gibt, was das Subjekt spaltet, indem es dasselbe an eine Ordnung
kettet, an die Ordnung des Anderen. Das Subjekt konstituiert sich da-
durch, dass es sich in der gleichsam materiellen Äusserlichkeit der
Sprache entfremdet. Die Ordnung des Signifikanten ist deshalb nicht
die Heideggersche Ordnung der Wahrheit des Seins, sondern eine »le-
tale« Ordnung, die dem Subjekt einen Verlust und einen Verzicht auf
das »mythische«, unbeschränkte und vollkommene Geniessen aufer-
legt: der Eintritt in das Feld des Anderen bringt in der Tat eine Be-
schränkung des Geniessens mit sich, insofern sich ein nicht zu stop-
fender Mangel in das Subjekt einschreibt.
Nichtsdestoweniger erschöpft sich seine Existenz nicht in der Unter-
werfung, zu der das Subjekt »verdammt« ist. Das Subjekt versucht zu-
gleich, sich ungeachtet seiner Abhängigkeit von der signifikanten
Ordnung vom Anderen zu trennen, was ihm ermöglicht, sein Begeh-
ren als eigenes anzunehmen und es zu benennen. Die Trennung vom
Anderen definiert in anderen Worten das Subjekt als Ort einer irredu-
ziblen Differenz.
Der Lacansche Andere ist also nicht der mythisch-theologische An-
dere, ist kein »dunkler Ort« – es handelt sich nicht um den archetypi-
schen Anderen von Jung –, sondern vielmehr die strukturelle Ge-
schichtlichkeit oder Zeitlichkeit, in welcher sich das Subjekt konstitu-
iert. Es handelt sich weniger um einen neutralen und unpersönlichen
Ort als vielmehr um »die ganze Geschichte der Aszendenz der realen
anderen, die die Nennung der signifikanten Anderen in die Zeitge-
nossenschaft des Subjekts einschliesst«.280
Der Andere von Lacan ist, wie Marx sagen würde, geschichtlich de-
terminiert. Er enthält die verursachende Materialität des Signifikanten,
welche die Position des Subjekts in einer ursprünglichen Entfrem-
dung als eine Position der Unterwerfung produziert. Man könnte
.at
gleichsam sagen, dass der Andere von Lacan die Erfahrung turia
© info@des Nihi-
196
lismus bis zum Äussersten durchlebt; es handelt sich um einen säku-
larisierten, de-ontologisierten Anderen, der eine Theorie der Subjekti-
vität und der gesellschaftlichen Bande oder, wenn man lieber will,
der strukturellen Sozialität des Subjekts impliziert, und zwar genau
da, wo Lacan behauptet, dass der Mensch präzise von dem abhängt,
was sich im Feld des Anderen zuträgt.
Aber kehren wir nun wieder zum Krug zurück, um jenem anderen
Weg zu folgen, den Lacan einschlägt und der sich vom Heidegger-
schen unterscheidet. Bei Lacan wird diese Leere – die Leere des Kru-
ges – zu einer materiellen Ursache, so dass es nicht mehr das für Hei-
degger charakteristische, meditierende Sagen ist, das die Leere streift,
sondern das Begehren, das vom Trieb »angetrieben« wird. Oder ge-
nauer: Diese Leere ist für Lacan nicht der Ort des Sinns, sondern der
des Realen. Es ist das Loch des Realen des Subjekts. Jenes Loch der
Politik, verstanden als Ort, in dem die Signifikanten das Reale des
Subjekts in einzelne diskursive Sequenzen281 aufteilen, das die Meta-
physik zu stopfen sich bemüht, wie Lacan in bezug auf Heidegger
einmal geschrieben hat.282 Es ist das Loch des Todes und der sexuel-
len Realität. Die Metaphysik stopft es: sie ist jene Bewegung, die be-
strebt ist, das Reale des Subjekts, d.h. das Ding* als das, was »den
ganzen Weg des Subjekts« bestimmt, zu verdecken. Aus diesem Ge-
sichtspunkt wendet sich die Ethik der Psychoanalyse gegen die Be-
wegung der Metaphysik. Sie lässt das Loch des Realen offen. Oder
vielmehr, wie Heidegger sagen würde, sie wohnt in ihm, bewohnt es.
Sie bewohnt den Überschuss des Begehrens, der durch kein Objekt
befriedigt werden kann. Sie bewohnt die Intransitivität und die Unbe-
dingtheit des Begehrens. Zu wohnen bedeutet schon bei Heidegger
etwas anderes als ein blosses Sich-Befinden, ein blosses Sich-Aufhal-
ten in einem Ort, der sich anschickt, das Wohnen selbst möglich zu
machen. Zu wohnen bedeutet im wesentlichen, herauszugehen, zu
ek-sistieren, unbehaust und grund-los zu sein.
Um es noch genauer zu sagen: Dieses Loch, diese »Leere im Innern
des Realen« ruft bei Lacan das Rätsel des Dinges* auf den Plan.
Worum handelt es sich? Worin unterscheidet sich das Lacansche Ding
vom Heideggerschen, und worin besteht seine Eigentümlichkeit?
Das Seminar VII, das der Ethik der Psychoanalyse283 gewidmet ist, hat
mitunter genau das Verhältnis zwischen dem Realen des Dinges und
der Funktion des Signifikanten zum Gegenstand. Das Ding* ist ein

197
Begriff, den Lacan Freuds Text entnimmt (insbesondere dem Ent-
wurf), wobei er versucht, seine Funktion zu artikulieren, die bei
Freud nur skizzenhaft bestimmt wurde.
Das Ding* ist etwas, das eine Spur in das Subjekt einschreibt: die my-
thische Spur einer ursprünglichen Befriedigung. Eine Spur, die nicht
den Ursprung, sondern vielmehr die Durchstreichung jeden Ur-
sprungs bedeutet. Der Ursprung ist in der Tat insofern immer schon
verloren, als er sich nicht anders denn als Signifikant, nicht anders
denn als vom Signifikanten gebarrt geben kann. Eine Spur also, die
wir uns so vorzustellen haben, dass sie sich genau da durchstreicht,
wo sie sich zugleich schreibt. Ein Signifikat, das von Anfang an in die
Ordnung des Signifikanten eingefügt, das aber als Signifikat dennoch
verloren ist. Ein Ursprung des Signifikanten, der sich im selben Ge-
stus, in dem er sich hervorbringt, zugleich auslöscht. Es ist nämlich
die Einwirkung des Signifikanten, die das Ding seines ursprünglichen
Inhaltes entleert und jener Barre unterwirft, die Freud Urverdrän-
gung* nannte.
Das Ding, verstanden als verlorenes Ding, als vom Signifikant durch-
gestrichener Ursprung, schafft jedoch nicht wie bei Heidegger Platz
für eine Mystik des Nichts, sondern für eine Theorie des Triebes und
des Begehrens. Die Leere des Dinges* darf nicht mit einer trägen oder
statischen Leere verwechselt werden. Sie muss umgekehrt als verur-
sachende Leere, als eine Leere, die die Funktion der Ursache ausübt,
verstanden werden. Sie entspricht der materiellen Ursache des Be-
gehrens, jener Position, die Lacan dem Objekt (a), der Objekt-Ursa-
che des Begehrens zuschreibt.
»Materielle Ursache« bedeutet, dass sich das Ding*, dessen partielle
Verkörperung das Objekt (a) darstellt, im Rückgriff auf die berühmte
Aristotelische Klassifikation nicht begreifen lässt, also weder als
causa efficiens, d.h. als Wirkursache (es ist ausgeschlossen, dass das
Ding ein Ursprung ist), noch als causa formalis, d.h. als Formursache
(es ist ausgeschlossen, dass das Ding der Ordnung der Essenz an-
gehört), und ebensowenig als causa finalis, d.h. als Zweckursache
(es ist ausgeschlossen, dass das Ding irgendeine Teleologie einführt).
Die Vorstellung einer Leere, die zur Ursache wird, die Vorstellung ei-
ner verursachenden Leere also, wie sie im Seminar über Die Ethik der
Psychoanalyse konzipiert wird, wird in der Folge im Rahmen des Se-
.at
o@ turia
© inf
198
minar XI da wieder aufgenommen, wo von der Trieborganisation die
Rede ist.
Eine strukturelle Voraussetzung dieser Organisation besteht in der Tat
darin, dass es ein Loch, eine Leere gibt – Freud sprach in diesem Zu-
sammenhang von einer erogenen Zone –, um die sich die Bewegung
des Triebes organisiert.
Die Einführung einer Leere, eines Mangels, eines Weniger in die Trie-
borganisation erlaubt, die sogenannte »Zufälligkeit«, von der Freud
sprach, genauer zu präzisieren. Ist das Objekt nicht genau »das Varia-
belste am Triebe«?284 Lacan präzisiert: das Objekt bezeichnet nicht
etwa jenen Punkt, über dem sich der Trieb wieder zu schliessen ver-
mag. Das Objekt als solches impliziert vielmehr die Präsenz eines
Mangels, eines Hohlraumes, einer Leere, und zwar jener Leere, die
sich im Körper öffnet, weil aufgrund der Einwirkung des Signifikan-
ten das Ding* verloren wird. Jener Leere, die sich in den Randzonen,
d.h. in den erogenen Zonen ansiedelt. Es ist z.B. der Verlust der
Brust, der den Oraltrieb strukturiert. Das Objekt (a) ist also dieses
Loch, um das der Trieb kreist, wie Lacan sagt.
Man erkennt also die unterschiedlichen Gesichtspunkte, mit denen
Heidegger beziehungsweise Lacan die Leere des Kruges umkreisen.
Aus Heideggers Perspektive stellt sich diesbezüglich das Problem der
ontologischen Differenz als Herz der Seinsfrage*, wohingegen sich
Lacans Perspektive um eine Theorie der Objekt-Ursache des Begeh-
rens und der Trieborganisation dreht. Bei Heidegger bleibt in der Tat
kein Platz für das Begehren. Ich glaube fast, dass er diesen Ausdruck
nie gebraucht.
Lacan hingegen gewinnt aus der Leere die Position des Subjekts, die
insofern, als sie vom Signifikanten gekennzeichnet ist, dem ursprüng-
lichen Gesetz der Kastration unterworfen ist und auf einen Verlust an
Geniessen hinausläuft. Es handelt sich dabei um ein Gesetz, das von
der Sprache auferlegt wird, um ein Gesetz, dessen Präsenz des Na-
mens und des Sprechens notwendig einen Mord an der Sache, einen
Verlust des Dinges impliziert.

199
5.
DAS PROBLEM DES SUBJEKTS UND
DAS SEIN-ZUM-TODE

Heidegger erfasst die Signifikantenordnung nur zur Hälfte. Es fehlt


bei ihm in der Tat der Bezug auf das Subjekt, eine Kategorie, die in
seinen Augen unauslöschlich und schicksalshaft von der metaphysi-
schen Ratio kontaminiert ist. Bei Lacan schliesst die Logik des Signifi-
kanten statt dessen das Subjekt ein. Genau dieser Subjektbegriff ist
es, der Lacan vom Strukturalismus trennt. Lacan hört nicht auf, die
Frage nach dem Subjekt zu stellen, obwohl er nicht ausschliesst, dass
das Subjekt im Feld des Anderen zur Welt kommt, dass also das Sub-
jekt der verursachenden Einwirkung des Signifikanten unterworfen
ist. Das entscheidende Problem bleibt für ihn jedoch, wie das Verhält-
nis zwischen Subjekt und Signifikant zu denken ist. Heideggers
Grundfrage ist indes die Seinsfrage. Nach Sein und Zeit scheint sein
Interesse für die Frage nach dem Subjekt nachzulassen. Die Metaphy-
sik-Kritik wird ganz eins mit der Kritik an der Anthropologie, insofern
es sich bei ihr um die moderne Wissenschaft des Subjekts handelt. In
den Zollikoner Seminaren, die sich an ein Publikum von Ärzten und
Psychiatern richten, spezifiziert sich die Kritik an der Anthropologie
als Kritik an der Psychologie, die Heidegger als moderne Version des
anthropologischen Diskurses und der Verdinglichung der menschli-
chen Realität, die sie befördert, begreift; und zwar insofern, als sie
die menschliche Realität auf ein »Objekt«, auf eine in sich geschlos-
sene, solipsistische und abstrakte Substanz reduziert.285
Ganz anders der Begriff des Daseins*. Er bricht mit dieser monolithi-
schen und gleichsam autotrophischen Auffassung von Subjektivität.
Darin besteht Heideggers Verdienst, das ihm schon Sartre in einem
unvergesslichen Aufsatz, der dem phänomenologischen Begriff der
Intentionalität des Bewusstseins gewidmet war 286, zuerkannte: der Be-
griff des Daseins als In-der-Welt-sein verabschiedet sich definitiv von
jedweder substanzialistischen Vorstellung von Subjektivität. Zu exi-
stieren bedeutet in der Tat, ausser sich zu sein, auszubrechen, über
sich hinauszugehen, sich dem Anderen zu öffnen.
Die harte Anklage, die Heidegger gegen den humanistisch-metaphy-
sischen Anthropologismus erhebt, ist wohl dafür verantwortlich, dass
er das Problem der Subjektivität nicht radikal genug artikulierte. ia.at
turSub-
o@
© inf
200
jekt und Subjektivität bleiben für ihn Worte der Metaphysik. Und den-
noch: Die Destruktion des »metaphysischen« Begriffes von Subjekti-
vität, die Heidegger vollführt, erweist sich auch für uns als unver-
zichtbar. Eine Destruktion, die in Sein und Zeit mit der Ersetzung des
Subjektbegriffes durch das Dasein* beginnt und die sich in der De-
maskierung der metaphysischen Subjektivität als Selbstbestimmung
des Willens – als »Wille zum Willen« –, der sich in der vollkommenen
Durchsetzung des Humanismus als Grund des Seienden setzt, vollen-
det. Es handelt sich dabei um einen Prozess, der sich nach Heidegger
bekanntlich von Descartes zu Nietzsche erstreckt.287
Lacan befindet sich diesbezüglich ganz auf der Linie Heideggers.
Kant und Sade werden zum bedeutendsten Ausdruck des humani-
stisch-metaphysischen Mythos vom Subjekt als Wille zum Willen. Es
geht um das Drama eines Begehrens, das sich gegen das Gesetz wen-
det (Sade), beziehungsweise um das Drama eines Gesetzes ohne Be-
gehren (Kant), das das Subjekt als imaginäre Instanz konstituiert (es
wird zur Beute einer narzisstischen Identifikation mit dem Idealich),
die von einer »ungestümen Leidenschaft, der Realität das eigene Bild
aufzudrücken«288 beherrscht wird.
Und wiederum von Heidegger, wenn auch mit sehr persönlichen Mo-
difikationen, übernimmt Lacan die Annahme, der Ort des Daseins
siedle sich jenseits des metaphysischen Phantasmas der Subjektivität
als Wille zum Willen an. Heidegger hat dieses Jenseits insbesondere
da vor Augen, wo er in Sein und Zeit den Begriff des Sein-zum-Tode*
artikuliert. Lacan bezieht sich in verschiedenen Momenten seines
Werkes explizit auf diesen Begriff; er erkennt in ihm die Möglichkeit,
das Subjekt jenseits der humanistisch-metaphysischen Vorstellung
von Subjektivität zu denken.
In Sein und Zeit hat sich Heidegger das nicht nur ontologisch-exi-
stentiale, sondern überdies auch ethisch-existentielle Problem ge-
stellt, wie es möglich ist, das Subjekt aus jener Dimension der Ver-
kennung und des öffentlichen Geredes, die das Subjekt der »Herr-
schaft« des Man* unterwirft, herauszuführen. Das Man umschreibt
den Herrschaftsbereich einer anonymen, unpersönlichen Autorität,
welche die Besonderheit des Subjekts im imaginären Umfeld der
wechselseitigen Einfühlung einebnet. Das Subjekt identifiziert sich
auf diffuse Weise mit dem Man, was aufgrund der Art und Weise, in
der sich diese Identifikation vollzieht, deutlich an jene Logik erinnert,

201
die Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse analysiert. Es han-
delt sich um eine Logik der Massen, bei der jeder Versuch, sich auf
den Begriff des Subjekts zu berufen, zum Scheitern verurteilt ist. Die-
ser Begriff scheint in der Tat vollkommen überschattet von der Kate-
gorie eines entfremdeten »Kollektivs«, dessen Bewegungen durch je-
nes imaginäre Gesetz geregelt werden, das die Alterität des Anderen
auslöscht.
Das Sein-zum-Tode oder, besser noch, die sogenannte »vorlaufende
Entschlossenheit«, durch die das Dasein den Tod übernimmt, wider-
setzt sich dieser Logik, insofern sie, wie Lacan sagen würde, eine
Subjektivierung, d.h. eine subjektive Differenzierung der Existenz im-
pliziert. Die imaginäre Spiegelbildlichkeit des »Man« wird gebrochen,
indem das Dasein das Reale des Todes auf sich nimmt und also sym-
bolisiert.
Allein wie ist es möglich, den eigenen Tod, wie Heidegger behauptet,
zu übernehmen, wenn der Tod genau das ist, was sich nicht fassen
und bestimmen lässt, wenn also der Tod genau das ist, was unmög-
lich übernommen werden kann?
In der Lacanschen Lektüre des Seins-zum-Tode wird dies zur ent-
scheidenden Frage, weil er daraus die Idee gewinnt, dass die »Subjek-
tivierung des eigenen Todes« am Ende der Analyse dem Subjekt die
Möglichkeit eröffnet, aus der narzisstisch-imaginären Identifikation
mit dem eigenen Ich und aus der Unterordnung unter das Ichideal
herauszufinden.
»Hier findet die Analyse zu ihrem idealen Abschluss, einem Abschluss, in dem
das Subjekt, nachdem es die Ursprünge seines Ichs in einer imaginären Re-
gression wiedergefunden hat, das Ende der Analyse erreicht: das heisst die
Subjektivierung des eigenen Todes.«289

Den eigenen Tod zu übernehmen, bedeutet für Heidegger zugleich


die Möglichkeit, die eigene irreduzible Singularität – das eigene Reale
– auf sich zu nehmen, und zwar insofern, als der Tod nicht eine unter
vielen Möglichkeiten, sondern »die eigenste Möglichkeit« des Daseins
ist, die alle anderen ermöglicht. In diesem Sinne darf der Tod nicht
mit jenem Ereignis verwechselt werden, das dem Leben ein Ende
setzt, so als handelte es sich bloss um ein biologisch-naturalistisches
(und, wie Heidegger sagen würde, »ontisches«) Vorkommnis, wie es
z.B. im medizinisch-wissenschaftlichen Diskurs zur Sprache kommt.
Der Tod ist nicht die äusserste Grenze der Existenz; ernist ia.at
@turdas,
© i fonicht
202
was sich dem Dasein hinzufügt. Ebensowenig lässt er sich als etwas
begreifen, was sich ausserhalb der Existenz befindet, gleichsam an je-
nem Punkt, an dem sich das Dasein unausweichlich in eine Sache, in
die Trägheit reiner Faktizität verwandelt. Der Tod situiert sich viel-
mehr im Innern der Existenz. Der Tod transzendiert das Subjekt
nicht, sondern ist ihm immanent und schreibt sich radikal in sein
Sein ein.290
Ausgehend von dieser ontologischen Zugehörigkeit des Todes zum
Leben definiert Heidegger den Tod als »schlechthinnige Daseinsun-
möglichkeit« und überdies als »die eigenste, unbezügliche, unüber-
holbare Möglichkeit« des Daseins.291 Der Tod ist das entscheidende
Zeichen der Endlichkeit und Zeitlichkeit, des Seinkönnens und des
Möglichseins des Daseins, wodurch es sich vom bloss vorhandenen
Seienden unterscheidet. Für Heidegger ist der Tod von einer äusserli-
chen, zufälligen und anonymen Eventualität deshalb gänzlich ver-
schieden, weil er sich im Herzen des Subjekts als eine beständige
Möglichkeit seines jeweiligen Seins einnistet.
Der Tod also ist stets gleichbedeutend mit der Möglichkeit »meines
Todes«. Das Vorlaufen in den Tod ist niemals anonym, sondern ist
umgekehrt das, was das Dasein aus der beschützenden Neutralität
des alltäglichen Seins, aus der täuschenden Unbekümmertheit des
»Man« reisst, indem es dasselbe der eigenen Jeweiligkeit, der eigenen
Singularität überantwortet.
Es bleibt indes das Problem, was es bedeutet, das zu über- und vor-
wegzunehmen, was weder über- noch vorweggenommen werden
kann. Der Tod tritt nämlich zufällig ein. Er ist blind, hat keine ratio.
Dem Sterben ist überhaupt keine Ordnung eigen. Und dennoch ist er
unvermeidlich: es ist unmöglich, dem Tod zu entkommen. In diesem
Sinn definiert ihn Heidegger als die Unmöglichkeit des Daseins. Hei-
degger behauptet jedoch im Gegensatz zu Sartre nicht – und das ist
der entscheidende Punkt –, dass der Tod die Unmöglichkeit der Mög-
lichkeiten ist. Er bestimmt den Tod umgekehrt als »die Möglichkeit
des Nicht-mehr-dasein-könnens«, als »die Möglichkeit der Daseinsun-
möglichkeit«.292 Was bedeutet das? Was bedeutet es, den Tod als Mög-
lichkeit der Unmöglichkeit zu begreifen? Und ist es möglich, den Tod
in einer einzigartigen Bewegung vorlaufend zu übernehmen?
Weit davon entfernt, den endgültigen und unumkehrbaren Abschluss
des Lebens darzustellen, darf der Tod nicht mit einer ontischen Gege-

203
benheit verwechselt werden. Er verkörpert eine stets gegenwärtige
Unmöglichkeit – es ist unmöglich, den Tod als solchen zu transzen-
dieren. Er ist die Unmöglichkeit jedweder Möglichkeit. Dennoch be-
stimmt Heidegger den Tod genau insofern, als das Dasein in ihn vor-
läuft, als es ihn vorwegnimmt, als Erschlossenheit, was ihm reichlich
harsche und nicht gänzlich unberechtigte Kritik mitunter von Sarte
und Levinas einträgt.293
Lacan wird versuchen, diese paradoxe Verkehrung von Unmöglich-
keit in Möglichkeit da wieder aufzunehmen, wo er die Arbeit der
Analyse als Versuch einer »Subjektivierung des eigenen Todes«, als
Subjektivierung dessen, dem das Subjekt unterworfen ist, definiert.
Lacan macht sich also die Heideggersche Paradoxie der ethischen
Übernahme-Vorwegnahme von etwas, das sich jeder Bewegung der
Subjektivierung widersetzt, zu eigen. Wie also lässt sich etwas subjek-
tivieren, was das Dasein seiner selbst beraubt und auf ein Nichts re-
duziert, indem es dasselbe unwiederbringlich dem Nichts und der
Trägheit der Materie überlässt? Wie kann etwas subjektiviert werden,
was notwendig eine De-subjektivierung mit sich bringt?
Heidegger und Lacan sind wohl im Begriffe, dasselbe zu denken:
dass nämlich die ethische Verfassung des Daseins impliziert, die ei-
gene Grundlosigkeit, d.h. die Unmöglichkeit, sich selbst als eine Art
selbstidentischer Substanz zu konzipieren, zu übernehmen. In ande-
ren Worten, sie impliziert die Konfrontation mit einer Grenze, mit ei-
nem Mangel, der sich unmöglich suturieren lässt, weil er nicht ein-
fach akzidentiell und vorübergehend ist, sondern sich im Herzen des
Seins einschreibt. Der Tod ist der Index dieses Mangels und dieser
Grenze. Deshalb bedeutet die Übernahme des Todes, seine »Vorweg-
nahme«, wie Heidegger sagt, keineswegs die Negation seiner irredu-
ziblen Alterität – jene Alterität, die Lacan als absolute Herrschaft über
den Tod definiert –, so als wäre es möglich, sie in der Bewegung der
Selbstbehauptung des Willens einzuschreiben. Die Übernahme des
eigenen Todes kommt vielmehr dem Versuch gleich, das eigene Le-
ben im Hinblick auf jenes »undurchdringliche Rätsel« des eigenen
Seins zu führen, im Hinblick auf die eigene Grundlosigkeit, die der
Tod, d.h. die Unmöglichkeit des Todes, nicht aufhört, in ihrer nack-
ten Faktizität zu signieren.
Es ist diese Rückwendung des Subjekts hin zu einer Wiederholung
ia.at
seiner Faktizität, die es gestattet, sich der Möglichkeitizu o@turdas
nföffnen,
©
204
eigene Begehren zu subjektivieren, wie Lacan sagen würde. Dies ist
im übrigen ebenfalls eine mögliche Lektüre von Freuds berühmtem
Satz, auf den Lacan bekanntlich immer wieder zurückkam: Wo es war,
soll ich werden*. Ich (Je*) als Subjekt soll da werden, wo ich gewesen
bin, am Ort meiner Faktizität, meiner Grundlosigkeit, um ebendiesen
Ort zu subjektivieren. Wie man also sieht, handelt es sich um die
Gründung einer Ethik, die sich jenseits jedweder Hermeneutik ansie-
delt, weil nicht der Sinn, sondern der Mangel an Sinn, die Sinnlosig-
keit auf dem Spiel steht. Es geht darum, etwas zu übernehmen, das,
obwohl es mit unserer Existenz zusammenfällt, dennoch eine Posi-
tion der Alterität beibehält und für den Sinn unzugänglich bleibt. Es
geht darum, den namenlosen Ort dessen, was man war, durch eine
Benennung zu subjektivieren, darum also, daraus einen Ort der Mög-
lichkeit und einer singulären und einzigartigen Benennung (significa-
zione) zu machen.
Die Ursache, die Begegnung,
die Spur294

1.
DER REGEN

In einem seiner letzten und im übrigen sehr anregenden Texte mit


dem Titel Le courant souterrain du matérialisme de la rencontre295
führt uns Louis Althusser mit einer wirkungsvollen Metapher in die
Dimension der Zufälligkeit dessen ein, was er eine »Begegnung«
nennt. Es handelt sich dabei um die Metapher des Regens.
»Il pleut«, »es regnet«, mit diesem Satz hebt Althussers Text an.296 Es
regnet, und im Regen, der auf die Erde fällt, wiederholt sich eine Art
ewiger Wiederkehr des Gleichen. Es regnet und regnet. Eine mono-
tone Gleichheit drängt sich auf durch die Präsenz von winzigen und
in Wirklichkeit gänzlich voneinander verschiedenen Regentropfen,
deren Schicksal unabwendbar vom senkrechten Fall gekennzeichnet
scheint. Im Fallen der Tropfen scheint die reine Notwendigkeit eines
Naturfaktums über die unvorhersehbare und unberechenbare Dimen-
sion des Zufalls zu triumphieren. Die Verantwortung des subjektiven
Sollens (des Kantischen Sollens*) überlässt dem unabwendbaren
Schicksal der Naturnotwendigkeit (dem Kantischen Müssen*) ihren
Platz.
Im antiken Atomismus antizipiert der Regen als Ausdruck des vertika-
len Falls von voneinander getrennten Atomen die Reduktion der Welt
auf ein Element. Darin besteht das grosse Problem der abendländi-
schen Philosophie: die archè, das erste und irreduzible Element des
Seins zu bestimmen. Das Universum wird auf die Einheit eines Ele-
mentes reduziert und ausgehend davon als eine Zusammensetzung
konzipiert, die auf einer unendlichen Vervielfältigung desselben Ele-.at
a
@turi
infozurückzu-
mentes beruht. Und wie Althusser ausführt, ist es©darauf
206
führen, dass die Metapher des Regens eine zentrale Rolle in der ato-
mistischen und epikureischen Vorstellung der Welt spielt.
Der Regen von Leukipp und von Demokrit besteht in einem vertika-
len Fall von elementaren Seinsteilchen, der zugleich notwendig, de-
subjektiviert, gleichsam maschinell und jedem Sinnanspruch gegen-
über taub ist – ein Fall, aus dem notwendig das Sein der Welt ent-
springt. Das Universum als solches wird als ein grosser und
gleichsam metaphysischer Regen konzipiert, der aus einer Art dem
Atom innewohnender Notwendigkeit hervorgeht. Dieses Universum
der reinen Atome, dieses paradoxerweise eleatische Universum des
Atomismus ist freilich das Universum der Regel ohne Ausnahme, eine
Welt, die jegliche Freiheit im Namen eines reinen Determinismus der
Elemente leugnet. Es existiert weder ein Subjekt, noch eine Ethik,
noch Verantwortung, sondern einzig die Atome, die, in keinem
durchgängigen Zusammenhang miteinander stehend, gemeinsam in
die Leere fallen.
Nach Althusser scheint vor dem mechanistischen Hintergrund der ro-
hen und dummen Notwendigkeit der Welt, die dem antiken Atomis-
mus angehört, bei Epikur zum ersten Mal die der Begegnung eigene
Dimension des Zufalls auf. D.h. mit anderen Worten, dass sich bei
Epikur eine andere Version der Metapher des Regens zu erkennen
gibt, und zwar eine Version, die weit davon entfernt, das aleatorische
Element des Zufalls, der Freiheit und der Unbestimmtheit des ethi-
schen Subjekts auszuschliessen, es in die Überlegungen miteinbe-
zieht.
Während sich nämlich im mechanischen Regen des Atomismus eine
Notwendigkeit affirmierte, die allen Zufall von Anfang an ausschloss
(einer Lobrede auf die Notwendigkeit gleich, welche die rein eleati-
sche und parmenideische Grundlage der atomistischen Lehre sichtbar
machte), da tritt mit Epikur indes jene Zufälligkeit in den Vorder-
grund, die sich präzise im Umfeld jener materiellen Notwendigkeit zu
zeigen vermag, die sie auszuschliessen schien.
Der Regen von Epikur und von Lukrez hat nichts mehr mit dem ato-
mistischen Regen zu tun. Die Epikureische Wendung des Atomismus
bringt, wie schon erwähnt, eine andere Konzeption des Ereignisses
mit sich. Was die Epikureische Physik bewegt, ist nicht mehr ein on-
tologischer (die Reduktion des Nicht-Seins auf das Sein des Elemen-
tes), sondern ein ethischer Anspruch in einem herausragenden Sinne.

207
Es handelt sich darum, in das homogene und mechanische Univer-
sum des Atomismus die gar nicht homogene und konstitutiv exzentri-
sche Dimension der Subjektivität, der subjektiven Differenz und der
Zufälligkeit der Begegnung einzuführen. Diese Dimension entspricht
dem, was Lukrez dazu bewegt, dem Epikureischen Umfeld den Be-
griff des clinamen aufzupropfen, dem Althusser Text eine zentrale
Bedeutung beimisst. Es geht dabei um eine »déviation infinitési-
male«*297, um eine unendlich kleine Abweichung, welche die mono-
tone und notwendige Wiederholung jenes Falls, in dem die Atome in
die Leere stürzen, unterbricht und so eine Begegnung, eine
Berührung der Atome untereinander möglich macht. Der atomistische
Parallelismus wird von Epikur in dieser grundlegenden Hinsicht kor-
rigiert: Die Idee von parallelen Linien wird von der Vorstellung der
stets latenten Möglichkeit einer Überschneidung der Atome unterein-
ander abgelöst. Es verhält sich also nicht so, dass das notwendige
Fallen die Möglichkeit einer zufälligen Begegnung ausschliesst, son-
dern es ist umgekehrt gerade die Notwendigkeit, welche die Möglich-
keit der Begegnung impliziert. Deshalb können wir, wie Althusser
schreibt, »in der Abweichung, welche das clinamen produziert, die
Existenz der menschlichen Freiheit selbst in der Welt der Notwendig-
keit« 298 erkennen.

2.
DIE ABWEICHUNG

Für Althusser konstituiert die Abweichung die Grundstruktur für die


absolute Zufälligkeit der Begegnung. Aber wie soll man diese Abwei-
chung näher verstehen? Oder anders gefragt, welche Art von Ethik
lässt sich aus der Theorie des clinamen ableiten?
Der Strukturalismus läuft mit seinem einhelligen Loblied auf die Not-
wendigkeit der Struktur Gefahr, die Aleatorik der Begegnung nicht
mehr begreifen zu können. Alles scheint schon vorherbestimmt und
eingeschrieben in das transzendentale Gesetz der Struktur. Es ist ge-
nau dieser Umstand, den Althusser z.B. in der marxistischen Theorie
der Entstehung der Produktionsweise, wie sie in Die Situation der Ar-
beiterklassen von Engels erläutert wird, hervorhebt. Diese Theorie
schliesst die Begegnung aus, weil der Formalismus der Struktur von .at
turia
der Leere als einer notwendigen Bedingung für jede info@
© aleatorische Be-
208
299
gegnung nichts wissen will . Im voraus die Erfüllung der Geschichte
nach den Gesetzen der Struktur zu bestimmen, bedeutet in der Tat,
die Zufälligkeit der Begegnung von Anfang an aus dem Gesichtskreis
zu verbannen.
Das notwendige Fallen – das Regnen – der Atome schliesst freilich
jene Begegnung aus, die einzig durch eine Kluft möglich gemacht
wird, die sich innerhalb der Homogeneität dieses Fallens zu produ-
zieren vermag. Das clinamen, die Abweichung, führt also in die Wie-
derholung des Gleichen die Möglichkeit und das aleatorische Risiko
der Überraschung ein. Das clinamen definiert mit Worten, die sich in
grosser Nähe zur Lacanschen Theorie der Begegnung befinden, wie
er sie im Seminar XI erläutert, die Bedeutung des subjektiven Faktors
in der seriellen Wiederholung der Notwendigkeit, und zwar eines
subjektiven Faktors, der imstande ist, das Unberechenbare zu erzeu-
gen, ein X, das sich jenseits der seriellen Wiederholung ansiedelt. Die
Begegnung als Effekt der Abweichung ist nach Lacan das, was mit
der homogenen Serialität des automaton bricht. Es handelt sich dabei
genauer um das, was eine Bruchstelle der Signifikantenkette anzeigt,
um den Einbruch des Realen, das sich der symbolischen Ordnung
nicht einverleiben lässt.
Die ungewöhnliche Annäherung von Epikur und Heidegger, die Al-
thusser wagt, offenbart an dieser Stelle ihr ganzes Gewicht.300 Sowohl
bei Epikur als auch bei Heidegger wird die ontologische Logik (für
Heidegger die Onto-theo-logik) von einem kritischen und radikalen
Fragen affiziert, das zeigt, wie der Seinsgrund des Seienden im Rück-
griff auf den Begriff der einfachen Präsenz, auf das also, was Heideg-
ger Vorhandenheit nannte, nicht hinreichend begriffen werden kann.
Vielmehr ist es die Vorstellung des Grundes und der Gründung selbst,
die dem Prozess einer unumkehrbaren Unterhöhlung unterworfen ist.
Während diese Unterhöhlung bei Heidegger dadurch zum Ausdruck
kommt, dass er gegenüber jedweder Verseiendlichung – und sei es
auch eine Vereinheitlichung im Sinne des ens causa sui – auf dem ex-
zentrischen Wesen des Seins beharrt, da lässt sich bei Epikur hin-
gegen der Ursprung der Welt ausmachen, ein Ursprung, der durch
das unaufhörliche Fallen der Atome ins Nichts, das weder Anfang
noch Ende kennt, gekennzeichnet ist.
Die Heideggersche Vorstellung, dass sich das Sein im Ereignis auflöst,
dass also weder die Ursache noch das Ziel der Welt wesentlich sind,
209
sondern das Ereignis des es gibt* als solches, das Ereignis einer Offen-
heit, einer »pulsion originelle de l’Être«, »eines ursprünglichen Seins-
triebes«, wird also in der Behauptung Epikurs vorweggenommen, wo-
nach kein Sinn existiert, welcher dem Sein der Welt vorhergeht. So-
wohl für Heidegger als auch für Epikur offenbart sich das Sein der
Welt als Ereignis, das von einer grundlegenden Zufälligkeit gekenn-
zeichnet ist, weil sich niemals ein Sein gibt, das als Grund des Sich-
Ereignens des Seins fungiert. Es ist vielmehr die Abweichung als sol-
che, die, wie Althusser schreibt, in ihrer Ursprünglichkeit gedacht
werden muss, und zwar nicht im Sinne einer Abweichung von einer
Norm oder Vorschrift oder gar von einem Ursprung, sondern im
Sinne einer Dislokation, einer Ver-ortung, einer Verschiebung und ei-
ner Übertragung, die den Ursprung auslöscht. Wir haben es mit einer
Abweichung zu tun, die nichts mit einem Vorfall oder gar Unfall ge-
mein hat, sondern am ehesten als Definition des Ereignisses selbst
begriffen werden kann, und zwar des Ereignisses als Begegnung, als
Auftauchen des Zufalls, der den repetitiven und homogenen Ablauf
der Naturgesetze durchbricht.
Der Gegensatz, den Lacan zwischen dem Gesetz und der Ursache,
zwischen den Aristotelischen Kategorien des automaton und der ty-
che einführt, schliesst an diese Konzeption der Begegnung an. 301
Für Lacan bringt die psychoanalytische Subversion des Subjekts näm-
lich die Vorstellung einer Kausalität mit sich, die sich nicht auf dieje-
nige der mechanischen Ordnung, die dem wissenschaftlichen Diskurs
eigen ist, reduzieren lässt. Was die Wissenschaft anbelangt, so beruht
die Ursache-Wirkung-Beziehung auf einer linearen Konzeption der
Zeit: unter Voraussetzung einer gewissen Anordnung von Ursachen
stellt sich notwendig eine bestimmte Art von Wirkungen ein. Die
Kausalität erhält so das Wesen eines wahren Gesetzes. Es gibt keine
Kluft zwischen der Ursache und ihren Wirkungen, sondern nur eine
Beziehung der Proportionalität, in dem Sinne, dass die Wirkung in ei-
nem proportionalen Verhältnis zur Kraft der Ursache steht, die sie
hervorbrachte. Das Gesetz von Aktion und Reaktion setzt in der Tat
voraus, dass die Ursache und die Wirkung dieselbe zeitliche Dimen-
sion teilen. Das Sein der Aktion kann sich nicht geben, ohne das Sein
der Reaktion zu implizieren: »Wenn ein Körper am Boden zerschellt,
so ist seine Masse nicht Ursache für das, was an lebendiger Kraft auf
.at
ihn zurückwirkt. Seine Masse ist vielmehr dieser rückwirkenden turia
© info@ Kraft
210
integriert, die seinen Zusammenhalt auflöst. Da ist keine Kluft, oder
erst am Ende«302.
Der Körper, der zu Boden fällt und zerbricht, gehorcht notwendig
dem physikalischen Gesetz der Gravitation, wobei keine Möglichkeit
besteht, die Zeit der Ursache von der Zeit der sie hervorbringenden
Wirkung zu trennen. Zwischen den beiden Zeiten existiert ein Ver-
hältnis von Determination und Kontinuität. Die Psychoanalyse macht
im Gegensatz dazu einen anderen Begriff von Ursache geltend. Bei
der Ursache, die im Feld der Psychoanalyse agiert, handelt es sich um
eine Ursache, die sich dem Gesetz widersetzt, insofern sie eine Dis-
kontinuität impliziert, eine Kluft, einen Spalt zwischen der Ursache
und ihren Wirkungen. Es steht eine Ursache auf dem Spiel, die, weit
davon entfernt, die Abweichung auszuschliessen, um Althussers
Worte zu benutzen, sie für ihr eigenes Funktionieren braucht. Die
Zeitlichkeit, die für die psychoanalytische Erfahrung des Subjekts
massgebend ist, ist nämlich keine lineare Zeitlichkeit; die Zeit der Ur-
sache geht derjenigen der Wirkung im Sinne des Determinismus nicht
vorher. Lacan insistiert vielmehr auf dem, was die Ursache von der
Wirkung trennt. Zwischen dem Sein der ersteren und dem Sein der
letzteren gibt es durchaus keine Kontinuität, sondern eine Art »Hap-
pern«.303 »Ein Anecken, Misslingen, ein Knick. Im gesprochenen wie
im geschriebenen Satz kommt etwas ins Straucheln. Freud ist magne-
tisiert, und er sucht in diesen Erscheinungen das Unbewusste. Hier
drängt ein anderes darauf, sich zu realisieren – es scheint intentional
zu sein, sicher, aber von eigenartiger Zeitlichkeit. Was sich in dieser
Kluft produziert, im vollen Wortsinn von sich produzieren, stellt sich
dar als Trouvaille. So zuerst begegenet Freud in seinen Forschungen
dem, was sich im Unbewussten zuträgt.«304
Den Begriff der Überraschung führt Lacan im Seminar XI präzise in
diesem Kontext ein: alle Bildungen des Unbewussten (Versprecher,
Witz, Symptom, Fehlhandlung) bewirken im Subjekt einen Überra-
schungseffekt. Sie funktionieren wie rätselhafte Symbolisierungen,
die das Subjekt mit etwas von sich selbst konfrontieren, was die Ver-
drängung aus dem Feld der Intentionalität des Bewusstsein verbannt
hat. Die Überraschung ist jener Effekt, der diese Begegnung mit et-
was Fremden, das uns insofern betrifft, als es unser Nächstes und In-
timstes ist, begleitet. In diesem Sinne wird die Negativität der Bildun-
gen des Unbewussten (wobei die Herrschaft des Ichs, das sie impli-

211
zieren, zerbricht) von Lacan in dialektischen Begriffen konzipiert: die
Fehlhandlung, der Traum, das Symptom und der Witz weisen nicht
einfach auf das hin, was keinen Sinn hat, sondern auf einen Wegfall
des Sinnes (des Ichs), der einen anderen Sinn offenbart – eine
Schwierigkeit, die nicht als ein Hindernis, sondern als die Art und
Weise begriffen werden muss, in der sich das Unbewusste als solches
zeigt. Wir finden hier jenes Gewicht wieder, das Althusser mit Bezug
auf Epikur der Abweichung als Bedingung für das Zustandekommen
einer Begegnung beimass. Für Lacan wird die Abweichung präzise zu
jener Dimension der Überraschung, der Trouvaille, in der sich das
Subjekt von einer Intention »übergangen fühlt«305, die sich genau im
Straucheln der Intentionalität des Ichs manifestiert.

3.
WIEDERHOLUNG UND ZUFALL

Die Theorie der Begegnung verlangt danach, die Beziehung zwi-


schen Notwendigkeit und Zufall neu zu überdenken. Die zentrale Be-
deutung, die der Abweichung als Bedingung der Möglichkeit der Be-
gegnung zukommt, subvertiert die Vorstellung eines einfachen und
äusserlichen Gegensatzes zwischen Notwendigkeit und Zufall. Viel-
mehr wird es darum gehen, die wechselseitige Verschlingung dieser
beiden Begriffe topologisch zu fassen, und zwar in dem Sinne, dass
der Zufall nicht auf eine Ausnahme von der Regel reduziert werden
kann, sondern dazu nötigt, »die Notwendigkeit als das Notwendig-
Werden der Begegnung mit dem Zufälligen«306 zu denken. So wird
sich also der Sinn der Geschichte allein in der Zeitlichkeit des après-
coup – so lautet die Lacansche Übersetzung der Freudschen
Nachträglichkeit – konstituieren lassen, ausgehend von den tatsächli-
chen Begegnungen, sie mögen nun »glücklich oder katastrophal«
sein, die sich für ein Subjekt de facto ereignet haben. Wir treffen hier
auf die klassische Lacansche Vorstellung der Historisierung, wie sie
Lacan in Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der
Psychoanalyse näher erläutert. Sie stellt die dem Subjekt eigenste
Möglichkeit dar, die eigenen vergangenen Begegnungen anzuneh-
men.
In der Lacanschen Subjekttheorie finden so zwei auf den ersten Blick .at
turia
nfo@Seite
sich ausschliessende Denkweisen zusammen: auf der © ieinen ein
212
Subjektdenken von dialektisch-existenzialistischer Herkunft, welches
darauf beharrt, dass sich die Einzigartigkeit des Subjekts nicht auf die
Universalität des Diskurses reduzieren lässt, und auf der anderen
Seite ein Denken von strukturalistischem Zuschnitt, das den Primat
und die Eigenständigkeit der symbolischen Ordnung im Sinne dessen
betont, was gemäss reinen Gesetzen und einer transindividuellen
Kombinatorik das Sein des Subjekts bestimmt. Die Besonderheit von
Lacans Position besteht nun darin, in der Verschlingung dieser beiden
Motive eine stringente Definition zu entdecken: es kann weder
darum gehen, eine strukturelle Theorie zu produzieren, die das Sub-
jekt unterdrückt, noch darum, die bösen Geister des Strukturalismus
dadurch auszutreiben, dass man sich auf das humanistische Ideal ei-
nes Subjekts beruft, das im täuschenden Traum der Selbstbeherr-
schung weiterhin sich selbst affirmiert. Demgegenüber scheint Lacans
theoretischer Ansatz darum bemüht, die Instanz des Subjekts und die
Instanz der Struktur in einer wechselseitigen Spannung zu erhalten.
Den Begriff des Subjekts und denjenigen der Struktur zusammenzu-
denken, bedeutet einerseits – da wo die Instanz der Struktur, d.h. die
Autonomie der symbolischen Ordnung, hervorgehoben wird –, auf
eine Desubstanzialiserung des Subjekts hinzuarbeiten, auf einen kla-
ren Unterschied zwischen dem Begriff des Subjekts und demjenigen
der Substanz, die in der philosophischen Tradition gemeinhin mitein-
ander in Verbindung gebracht wurden. Das Ergebnis dieser Unter-
scheidung besteht hauptsächlich in der Mathematisierung des
Subjekts im Sinne eines gespaltenen Subjekts (fi): ein gespaltenes
Subjekt, d.h. ein Subjekt bar jeglicher Substanzialität, das vom Signifi-
kanten bestimmt wird und insofern als Signifikanteneffekt, als Wir-
kung der vom Signifikanten hervorgebrachten Mortifizierung begrif-
fen werden muss. Auf der anderen Seite – wo die Betonung auf der
einzigartigen Instanz des Subjekts zu liegen kommt, das nicht auf die
Universalität des Diskures reduziert werden kann – besteht die Wir-
kung darin, dass die Struktur unvollständig gemacht wird, dass eine
radikale Deontologisierung des Ortes des Anderen stattfindet. Wenn
es wahr ist, dass das Subjekt durch die Signifikantenkette bestimmt
wird – so dass es mit einem Signifikanteneffekt zusammenfällt und
sich also, wie Lacan nicht aufhören wird zu behaupten, auf der Seite
des Signifikats, das vom Signifikanten hervorgebracht wird, ansiedelt
–, so ist ebenso wahr, dass das Subjekt einen Punkt innerhalb des

213
symbolischen Systems markiert, der sich durch eine Kluft auszeich-
net. Das Subjekt wird durch das symbolische System bestimmt, ist
aber zugleich von diesem System strukturell ausgeschlossen. Es stellt
ein Loch in der symbolischen Ordnung dar. Dieser zweite Status des
Subjekts – das Subjekt beschränkt sich nicht auf einen Signifikats-Ef-
fekt des Signifikanten, weil es zugleich das ist, was vom Signifikanten
radikal ausgeschlossen wird und sich als eine der Signifikantenkette
innewohnende Kluft artikuliert – weist auf den Umstand hin, dass auf
die einzigartige Dimension der Subjektivität unmöglich verzichtet
werden kann. Denn die der Signifikantenkette inhärierende Notwen-
digkeit wird nie dahin gelangen, die Zufälligkeit des Subjekts zu um-
fassen, in dem Sinne, dass auch die unendliche Vervielfältigung der
signifikanten Bestimmungen eines Subjekts niemals das definieren
werden können, was ein Subjekt ist, weil sich das Subjekt in seinem
Sein jedwedem Versuch, es erschöpfend zu bestimmen, entzieht. Auf
diese Art und Weise versucht Lacan, sich den Sartreschen Begriff des
Subjekts wieder anzueigenen, der das Subjekt als dasjenige Sein be-
stimmt, was sich nur negativ definieren lässt, als dasjenige Sein, das
nie mit dem zusammenfällt, was es ist, sondern immer das ist, was es
nicht ist.
Dieser zweite Status des Subjekts – das Subjekt nicht als Effekt des
Signifikanten, sondern als Kluft, Loch, Leere, als Ausschliessung von
der Signifikantenkette – macht die Einzigartigkeit von Lacans Struktu-
ralismus aus. Die Struktur wird dabei als eine Menge von Signifikan-
ten konzipiert, als eine transindividuelle Kombinatorik von Signifi-
kanten, die zugleich vom Subjekt gelöchert ist, das sich als ein Etwas
herausstellt, was als solches nicht auf diese Menge zurückgeführt
werden kann. Lacan erkannte dies in Variantes de la cure-type als
eine dem Sprechen innewohnende Paradoxie: selbst die unendliche
Vervielfältigung der Aussagen vermag die Bewegung des Aussagens
nie erschöpfend zu behandeln.
Der Gegensatz zwischen Gesetz und Ursache, zwischen der Konti-
nuität des Gesetzes und der Kluft der Ursache bringt uns präzise zu
diesem zweiten Status des Subjekts zurück. Zu Beginn von Seminar
XI verdoppelt sich dieser Gegensatz in denjenigen zwischen automa-
ton und tyche. Die Logik dieses Gegensatzes ist das Resultat von La-
cans Lektüre des fünften Buches der Physik von Aristoteles. Aristote-
ia.at
les unterscheidet darin zwei Arten von Kausalität. Bei ider o@tur
nfersten han-
©
214
delt es sich um die Kausalität des automaton, die sich gänzlich auf
den Begriff der Notwendigkeit gründet. Aufgrund dieser Beschaffen-
heit der Kausalität als Gleichmässigkeit und Regelmässigkeit verweist
das automaton auf die Dimension des Gesetzes. Sie ist das Gesetz.
Die Psychoanalyse jedoch lässt sich nie auf einen reinen Determinis-
mus reduzieren, weil sie das Subjekt nicht unter der Last eines Geset-
zes begräbt, so als würde das Subjekt gänzlich von einem Gesetz her-
vorgebracht. Die Psychoanalyse beruht in der Tat auf der Überzeu-
gung, dass sich das Gesetz nie von den störenden Unterbrechungen
der Ursache trennen lässt.
Die zweite Kausalität wird von Aristoteles als eine eigentliche Abwei-
chung beschrieben. Mit dem Begriff der tyche steht für Lacan eine Di-
mension auf dem Spiel, die dem Determismus der Ursache-Wirkung-
Beziehung der wissenschaftlichen Gesetzmässigkeit fremd ist. Wo das
Gesetz sein Fundament im Prinzip des automaton hat, da verwirk-
licht sich die Ursache als tyche. Während sich also die Wirkung im
Determinismus der Gesetzmässigkeit direkt aus der Ursache herleiten
lässt – gemäss dem physikalischen Gesetz, wonach ein proportiona-
les Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung besteht –, impliziert die
Ursache als solche, d.h. insofern sie vom Gesetz verschieden ist, ei-
nen Sprung, einen Widerspruch, eine Kluft. Die tyche weist darauf
hin, dass die Begegnung nur in der Dimension des Zufalls, als Ab-
weichung von der Kombinatorik des automaton stattfinden kann.
Die Kluft zwischen der Ursache und ihrer Wirkung – eine Kluft, auf
der die ganze psychoanalytische Behandlung beruht – bestimmt den
Begriff des Subjekts näher als etwas, das vom symbolischen System
ausgeschlossen ist. Wenn Lacan auf der Trennung von tyche und au-
tomaton insistiert, so macht er dies in der Tat mit der Absicht, mit
dem formalen Universalismus der Struktur zu brechen, indem er die
Dimension der Subjektivität als Singularität, als Unterbrechung der
Wiederholung, als Überschuss und Ek-sistenz hervorhebt.
Die »Begegnung« siedelt sich gemäss Lacan wie auch gemäss dem
aleatorischen Materialismus von Althusser auf der Ebene des Zufalls
an. Es handelt sich dabei um einen Zufall, der die Oberfläche der
Notwendigkeit durchbricht. Mit der Unterscheidung von automaton
und tyche verfolgen sie das Ziel, die Dimension der Kontinuität, der
Objektivität und der Gleichmässigkeit des Gesetzes von derjenigen
des Zufalls, der Subjektivität und der Ursache abzulösen.

215
Die Überraschung der tyche gewinnt die Oberhand über die ewige
Wiederkehr des Gleichen, die das Wesen des automaton ausmacht.
Die Signifikantenkette wird von etwas durcheinandergebracht, das
sich ihr nicht einverleiben lässt: es ist das Subjekt als Leerstelle, als
Trauma des Realen, als Abweichung. Aus diesem Grund empfiehlt La-
can den Aristotelischen Begriff der tyche mit »Begegnung mit dem
Realen« zu übersetzen. Das Reale ist in der Tat »jenseits des automa-
ton, der Wiederkehr, des Wiedererscheinens, des Insistierens der Zei-
chen, auf die wir durch das Lustprinzip verpflichtet sind. Das Reale
liegt stets hinter dem automaton«.307
Die Funktion der tyche, d.h. die Begenung mit dem Realen, führt La-
can dazu, den Status der Wiederholung neu zu überdenken, weil das
Reale im Sinne einer Begegnung eine Rückkehr zum »Ursprung der
analytischen Erfahrung« impliziert, d.h. zum Trauma als einer Erfah-
rung des Realen, das sich nicht assimilieren lässt.308 Die Wiederholung
verweist nicht mehr auf die Insistenz der Signifikantenkette – wie
dies in Das Drängen des Buchtsabens im Unbewussten oder die Ver-
nunft seit Freud noch der Fall war –, sondern lenkt die Aufmerksam-
keit auf das, was über diese Kette hinausgeht. Während Lacans
Bemühungen von Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache
in der Psychoanalyse bis hin zu Das Drängen des Buchstabens in der
Tat dahin gingen, die Wiederholung als Mechanismus der symboli-
schen Ordnung zu begreifen, wobei er in ihr den reinen Ausdruck
ebendieser Ordnung erkannte, hebt er nun, im Seminar XI, den
neuen Status nicht nur des Subjekts, sondern auch der Wiederholung
selbst hervor. Die Wiederholung ist nicht mehr als blosse Wiederho-
lung der Signifikanten – als eine Wiederholung der Zeichen – konzi-
piert, sondern als Wiederholung des Realen, d.h. als eine Begegnung
mit etwas, das von der symbolischen Ordnung gänzlich ausgeschlos-
sen wurde, als Wiederholung einer von Anfang an verfehlten Begeg-
nung, als Wiederholung eines Realen, das sich dem Symbolischen
nicht einverleiben lässt.
In gewisser Hinsicht scheint die Wiederholung – wie die klinische Er-
fahrung im übrigen in dramatischer Weise beweist – den Zufall per
definitionem auszuschliessen. Sie gehört dem Register der reinen
Notwendigkeit an. Die Wiederholung deutet auf die Rückkehr – die
immer an denselben Ort zurückkehrt – von etwas, was nicht symboli-
a.at
siert wurde. Wo es der Symbolisierung nicht gelang, i den
nfo @turi
Wiederho-
©
216
lungszwang durch den Signifikanten zu filtern, hört er nicht auf, das
Subjekt zu beherrschen. »Was man nicht durcharbeitet, wiederholt
sich«, wie Freud sagte. Die Notwendigkeit der Wiederholung stellt
sich als Wiederkehr des Gleichen heraus, die jede Differenz aus-
löscht. Die Wiederholung hört nicht auf, sich zu schreiben. Sie hört
nicht auf, das Gleiche zu schreiben. Genau dies ist die Formel für die
Notwendigkeit, die Lacan im Seminar XX einführt: das was nicht auf-
hört, sich zu schreiben.
Wir müssen also zwischen zwei verschiedenen Formen der Wieder-
holung unterscheiden: zwischen der realen Form der Wiederholung,
wonach das, was sich wiederholt, der Ordnung des Traumas, des
Überschusses, des Unberechenbaren angehört, und der symbolischen
Form der Wiederholung, die Lacan ausgehend von Funktion und
Feld als signifikante Wiederholung, als Insistieren des Signifikanten,
als Ausdruck der Historisierung des Subjekts begreift. In der realen
Form der Wiederholung steht nicht so sehr die Symbolisierung im
Vordergrund, so als ginge es darum, die Leerstelle, die im Text des
Bewusstseins klafft, aufzuheben und die Kontinuität im geschichtli-
chen Leben des Subjekts wiederherzustellen. Der Akzent liegt viel-
mehr auf der Kluft, auf jenem Punkt, an dem das Trauma plötzlich
auftaucht und den homogenen Verlauf der Signifikanten durchbricht.
Während in der symbolischen Form der Wiederholung das Erforder-
nis, die Kontinuität der subjektiven Entwicklung, die geschichtliche
Kontinuität des subjektiven Textes herzustellen, an erster Stelle steht,
so ist es in der realen Form der Wiederholung hingegen der dem
Subjekt innewohnende Mangel – seine ursprüngliche Spaltung –, der
danach strebt, in Gestalt einer radikalen Ausschliessung des Subjekts
von dem, was es immer schon verloren hat, wiederzukehren. In die-
sem Sinne ist für Lacan jede wahrhafte Begegnung stets eine verfehlte
Begegnung, weil sie das Subjekt immer wieder zu dem, was es un-
umgänglich – wie Freud lehrt – an eigenem Sein verloren hat, in Be-
ziehung setzt.
Wie schon erwähnt, wird der symbolische Aspekt der Wiederholung
in Funktion und Feld von Lacan auf die Spitze getrieben: der linearen
Zeitlichkeit, wie sie den evolutionistischen Theorien eigen ist, und
der natürlichen Zeit der sogenannten psychologischen Entwicklung
setzt er in Funktion und Feld die geschichtliche Zeit der Symbolisie-
rung entgegen. Deshalb benutzt er den grundlegenden Beitrag von

217
Heidegger und von Sartre für die Definition der zeitlichen Struktur.
Während die Zeit der psychologischen Entwicklung vorwärts gerich-
tet ist, gemäss dem Modell einer kontinuierlichen Reifung von der
Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft hin, kehrt die ge-
schichtliche Zeit diese Perspektive gerade um: die geschichtliche Zeit
verläuft – wie Heidegger in Sein und Zeit, aber auch Sartre an ver-
schiedenen Stellen gezeigt hat – von der Zukunft zur Vergangenheit,
in dem Sinne, dass das Subjekt in der ihm eigenen Bewegung nichts
anderes macht, als die eigene Vergangenheit ausgehend von seiner
Protention, von seinem Vorwärtsgerichtetsein (Transzendenz, Ent-
wurf, Ek-sistenz) zu symbolisieren. Diese Bewegung der Historisie-
rung des Subjekts ist genau das, was Lacan als Versuch definiert, »die
Kontingenz des Vergangenen neu zu ordnen, indem es ihr den Sinn
einer zukünftigen Notwendigkeit gibt«.309 Die psychoanalytische Ver-
wirklichung des Subjekts findet in der Tat nur insofern statt, als das
Subjekt imstande ist, die eigene Vergangenheit nach dem Modell ei-
ner retroaktiven Bewegung wiederaufzunehmen, welche die Behaup-
tung gestattet, dass »was sich in meiner Geschichte verwirklicht (...),
das zweite Futur (futur antérieur) dessen ist, was ich für das werde
gewesen sein, was zu werden ich im Begriff stehe«.310
Das Aufeinanderfolgen von Vorher und Nachher, von Vergangenheit
und Zukunft wird so von einer anderen Konzeption von Zeitlichkeit
überwunden, die stets ein vermittelndes Subjekt voraussetzt, ein Sub-
jekt also, das den vergangenen Ereignissen im Lichte dessen Bedeu-
tung verleiht, was es noch zu sein hat. Ein Subjekt, das seine eigene
Vergangenheit nur insofern annimmt, als es sein Sein in die Zukunft
entwirft. In diesem Sinn ist das, was ich gewesen bin, weder eine tote
Vergangenheit, noch eine Vorherbestimmung, der ich nicht zu entrin-
nen vermag, sondern ist meine Offenheit für die kontingenten Mög-
lichkeiten der Zukunft, die ebendieser Zukunft den Sinn eines einzig-
artigen Schicksals verleiht. Deshalb kann Lacan schreiben, »ich bin
das nur gewesen, um das zu werden, was ich sein kann«.311
Was wiederholt sich indessen in der realen Form der Wiederholung?
Eine verfehlte Begegnung, wie Lacan erläutert. Also nicht das Spiel
des automaton und ebensowenig die Erfahrung einer gelungenen
Begegnung, einer libidinösen Befriedigung. In diesem Sinn, so führt
Lacan weiter aus, wird die tyche im Gegensatz zum automaton nicht
.at
vom Lustprinzip beherrscht. Die Wiederholung ist nicht turia
© infdie
o@Wieder-
218
holung eines positiven und hedonistischen Befriedigungserlebnisses;
die Wiederholung ist vielmehr strukturell an das Jenseits des Lustprin-
zips gebunden, sie ist die Wiederholung eines Geniessens, das im
Subjekt eine unauslöschbare Spur hinterlassen hat. Was sich in der
Wiederholung wiederholt, ist also nicht die Wiederaneignung des
Objektes, sondern seine Extimität, seine innere Transzendenz, sein
Immer-schon-Verlorensein. In diesem Sinn erscheint die Wiederho-
lung als die einzig mögliche Form, sich des verlorenen Objektes zu
erinnern, insofern sie nichts anderes ist als die Wirkung seiner Spur.
Man hat es also nicht mit der Befriedigung des Objektes zu tun, son-
dern vielmehr mit seinem »Verfehlen«, wie Lacan erläutert. In diesem
Sinn fällt das, was sich wiederholt, mit dem zusammen, was sich ent-
zieht. Die Wiederholung wiederholt nämlich die Erfahrung eines Ent-
zuges. Nichts anderes versucht im Grunde Althusser zu sagen, wo er
den deterministischen Materialismus aus den Angeln hebt, indem er
aufzeigt, wie die Notwendigkeit der Struktur paradoxerweise von der
Aleatorität des Zufalls determiniert wird.
Die Wiederholung impliziert die Wiederkehr des Gleichen an den im-
mer gleichen Ort, wobei sie diese Wiederkehr je nach Art der zufälli-
gen Begegnung mit dem verfehlten Objekt immer wieder neu gestal-
tet. Die Wiederholung erschöpft sich also nicht in ihrer symbolischen
Dimension. Sie enthält vielmehr die Vorstellung des Unbewussten
nicht als geschichtliches Gedächtnis, d.h. als ein Gedächtnis der Zei-
chen, welche die Spuren der Begegnungen mit dem Anderen hinter-
lassen haben, sondern als Trieb, ein Geniessen zu wiederholen, das
sich nicht auf den Signifikanten reduzieren lässt. Die symbolische Ge-
schichtlichkeit des Subjekts stellt keinen angemessenen Begriff mehr
dar, um dieser neuen Dimension des Unbewussten Rechnung zu tra-
gen. Ganz im Gegenteil wird es sich für Lacan darum handeln, die-
selbe Funktion des Signifikanten neu zu artikulieren, denn die sub-
jektive Fixierung auf ein verlorenes Geniessen zeigt, dass das Subjekt
nicht so sehr an den Signifikanten, sondern an einen Buchstaben, an
eine Markierung, an eine Spur des Geniessens gebunden ist. Dies ist
im Grunde die These, die Freud in den Drei Abhandlungen zur Se-
xualtheorie entwickelt: das Subjekt ist von einem »Bedürfnis nach
Wiederholung« eines Befriedigungserlebnisses beseelt, welches, ob-
wohl mythisch, verloren und unerreichbar, das Subjekt nichtsdesto-
weniger dazu treibt, ständig nach ihm suchen.312

219
4.
DIE LACANSCHE APOLOGIE DES REGENS

Der Signifikant höhlt das Subjekt aus: die Universalität der signifikan-
ten Wirkung auf das Subjekt bewirkt, dass es mortifiziert wird, dass
es einen Verlust an Geniessen erleidet, dass seine natürliche Leben-
digkeit von einem Symbol gebarrt wird. Anders als der Signifikant
höhlt der Buchstabe, so wie sein Status von Lacan in den Siebziger-
jahren definiert wird, das Subjekt nicht aus, indem er es seines Ge-
niessens gänzlich beraubt, sondern gräbt sich in es ein. Welches ist
also die Funktion des Buchstabens? Worin besteht der Wert der Un-
terscheidung zwischen der Funktion des Signifikanten und derjeni-
gen des Buchstabens? Wo liegt der Unterschied zwischen der Aus-
höhlung des Subjekts, die dem Signifikanten, und der Eingrabung
desselben, die dem Buchstaben eigen ist?
Diese Frage bildet den Gegenstand der Apologie des Regens, die sich
in Lituraterra313 findet. Ebenso wie Althusser gebraucht auch Lacan
die Metapher des Regens, um die aleatorische Dimension der Begeg-
nung zu definieren. Allein, um welche Begegnung handelt es sich bei
Lacan? Nicht um die Begegnung von Atomen, sondern um die Begeg-
nung zwischen dem Signifikanten und dem Geniessen und um das
Subjekt, das aus dieser Begegnung hervorgeht.
Auf der Heimkehr von seiner Japan-Reise kann Lacan aus der Warte
des Flugzeugs die Landschaft der sibirischen Ebene, die gespenstisch
leer ist, genau beobachten. Nichts erscheint da: kein Zeichen, keine
menschliche Präsenz, keine symbolische Einrichtung. Er sieht nur die
unbegrenzte und trostlose Ausdehnung des Nichts. Nur das »Gefun-
kel des Wassers«; das Fliessen des Wassers und die Wirkung der Was-
serspur, die sich in die Erde gräbt.
Am Anfang von Lacans Apologie des Regens treffen wir auf den
Schleier des Anderen, die Wolke des Signifikanten, die Wolke der
Sprache. Die Wolke also ist der Ort des Anderen; sie erscheint als die
Menge des Anderen, als derjenige Ort, der alle signifikanten Bestim-
mungen enthält, die das Subjekt betreffen und sein Schicksal bestim-
men. Aus der Wolke des Signifikanten fällt der Regen. Aus der Wolke
des Signifikanten fällt der Regen des Signifikats und des Geniessens.
Das Signifikat und das Geniessen sind nichts anderes als die beiden
at
uria.
Wirkungen derselben signifikanten Aktion. Aus der Wolke destSignifi-
o@
© inf
220
kanten regnet es das Subjekt als Effekt des Signifikanten im zweifa-
chen Sinne: als Signifikat und als Geniessen. Der Regen fällt auf die
Erde, wobei sein Niederprasseln eine Spur hinterlässt, die Erde furcht
und sich in sie eingräbt. Mit dieser Thematik befassen sich die absch-
liessenden Seiten von Lacans Apologie. Diese Eingrabung verweist
nicht mehr auf die symbolische Funktion des Signifikanten – der Sig-
nifikant repräsentiert das Subjekt für einen anderen Signifikanten –,
sondern verweist auf die Funktion des Buchstabens. Während der
Signifikant das Geniessen aus dem Körper des Subjekts verbannt,
gräbt sich der Buchstabe in den Körper des Subjekts ein, um ihn zu
markieren und zu ritzen. Die Singularität scheint nicht im Himmel der
Wolke des Anderen, sondern in der Furchung der Erde auf – in der
Wirkung des Buchstabens, die der Regen hinterlässt. Die Abwei-
chung als Marke der Singularität, der Einzigartigkeit, als unberechen-
bare Möglichkeit der Begegnung geschieht allein da, wo Regen und
Erde aufeinanderprallen. Die Singularität also wird von jener absolut
unwiederholbaren Wirkung bestimmt, die der Regen da produziert,
wo er am Ende seines Fluges auf die Erde prallt. Die Erde wird von
verschiedenen Spuren gefurcht, von unwiederholbaren Zeichen, die
dieser Begegnung an der Grenze – an der Küste – von Signifikat und
Geniessen entspringen. Die Erde scheint von der Universalität des
Signifikanten abzuhängen, aber das, was sie in Wirklichkeit furcht
und aushöhlt, ist das einzigartige und singuläre Zeichen, das die uni-
versale Funktion des Signifikanten zunichte macht: es ist der Buch-
stabe.
Der Buchstabe gräbt sich ein, höhlt die Erde aus und furcht sie. Die
Spur, die dabei entsteht, ist nichts anderes als das Subjekt, als ein
Subjekt, das nie mit dem Ort des Anderen identisch ist. Der Buch-
stabe als Spur trennt den einzigartigen Ort des Subjekts vom univer-
salen Ort des Anderen. In diesem Sinn realisiert sich der Buchstabe
allein im absolut singulären Gestus der Kalligraphie, welcher der ab-
strakten und universalen Beschaffenheit des Alphabets entgegenge-
setzt ist. Dies ist der paradigmatische Wert, der Lacan dem orientalen
Ideogramm als einer Schreibweise beimisst, die, obwohl sie jedwe-
den imaginären Wert des Zeichens vernachlässigt, vom Gestus, der es
geschrieben hat, nicht absehen kann. Der Buchstabe ist Gestus, Akt,
Aushöhlung der Erde, eine Schrift, in der, wie Lacan schreibt, »die
Singularität der Hand das Universelle auslöscht«. Ihr Status ist zu-

221
gleich derjenige des absoluten Zufalls und der absoluten Einzigartig-
keit, wobei wir auch hinzufügen sollten: der absoluten Notwendig-
keit. Und zwar deshalb, weil die Zufälligkeit des Buchstabens das ist,
was im Subjekt zur Wiederholung reizt, zur Wiederholung der Mar-
kierung, der einzigartigen und singulären Begegnung mit dem Realen
des Geniessens. Am Rande des Buchstabens verflechten sich so die
Notwendigkeit der Wiederholung und die Zufälligkeit der Begeg-
nung. Und genau darin besteht eigentlich der Ausgang des psycho-
analytischen Weges: in einer absoluten Zufälligkeit dem eigenen
Schicksal als dem zu begegnen, was schon festgeschrieben ist. Dem
eigenen und einzigartigen Buchstaben zu begegnen.

.at
o@ turia
© inf
Der Name als Schicksal im Werk
von Antoni Tàpies

1.
DIE ERZWUNGENE WAHL

»Wesen ist, was gewesen ist«, behauptet Hegel in der Wissenschaft der
Logik.
Das Wesen des Subjekts, so könnten wir mit Lacan sagen, steht in ei-
nem Verhältnis zu den Bestimmungen des Anderen. Ein Subjekt
hängt in seinem Sein von dem ab, was sich im Anderen abspielt.314 So
ist das Wesen nach Freud die Vergangenheit, es ist das Infantile im
Sinne einer Macht, welche die Libidoökonomie des Subjekts und sei-
ner grundlegenden Identifikationen bestimmt und fixiert.
Aber wenn das Subjekt in seinem Sein tatsächlich von dem abhängt,
was sich im Anderen abspielt, so stellt sich die Frage, wie die Dimen-
sion der Wahl als subjektive Wahl weiterhin gedacht werden soll. Das
heisst: Worin besteht die subjektive Wahl gegenüber den Bestimmun-
gen des Anderen? Oder anders: Was und wie kann man überhaupt
wählen, wenn man in seiner Struktur vom Anderen konstituiert wird?
Was hat man unter einer Wahl zu verstehen, die auf einer Fremdbe-
stimmung beruht, unter einer kontingenten Wahl also, die nichtsde-
stoweniger eine radikale Notwendigkeit durchquert?
Wir wollen hier den Werdegang des Subjekts und das Werk von
Tàpies befragen, um besser zu verstehen, inwiefern die grundle-
gende Artikulation der Bestimmung des Anderen und der erzwunge-
nen Wahl des Subjekts letztlich für die Frage nach der Subjektivierung
selbst entscheidend ist.
Antoni Tàpies ist einer der grössten lebenden Maler. Sein Werk ent-
wickelt sich seit den Fünfzigerjahren und hat auch heute noch nichts
von seiner Lebendigkeit eingebüsst. Neben Fautrier, Pollock, Burri
223
und anderen ist er einer der bedeutendsten Vertreter der sogenannten
»Art Informel«. V.a. die bekanntesten Werke von Tàpies bieten sich
dem Betrachter gleichsam als Mauern dar; Riesengemälde, meist in
einer Farbe gehalten, die sich als wahrhaftiges, von Graffiti, Einrit-
zungen, Zeichen, Markierungen und Abdrücken durchquertes Mauer-
werk präsentieren.

2.
DURCHQUEREN DES SPIEGELS

Die erste Phase von Tàpies‹ künstlerischer Suche ist vom Thema des
Selbstportraits bestimmt. Der Schaffenskampf, so schreibt er in der
Autobiographie, war der Versuch, »wirklich alles aufs Papier zu brin-
gen: den vollen Ausdruck des Blickes, Konturen, die mir wirklicher
zu sein schienen als die äussere Realität, voll von rätselhafter Viel-
deutigkeit, von Widersprüchen, die sich erst dort, tief im Innern, auf-
lösten, von undurchdringlicher Dunkelheit, strahlender Helle...«.315
Die figürliche Darstellung bleibt noch die vorherrschende Ausdrucks-
weise, die Tàpies in der Zeit zwischen 1943 und 1953, als er zwi-
schen Zwanzig und Dreissig war, benutzte. Der Blick bildet den Mit-
telpunkt des Werkes, das, was »realer als die Realität« ist. Das Werk
hält sich im narzisstischen Bezirk der Spiegelbildlichkeit. Es funktio-
niert als Spiegel. Das Subjekt realisiert sich in dieser Hypnose; als
würde es aufgesaugt, steht es im Banne der suggestiven Intensität sei-
nes eigenen Blickes. Das Schaffen erscheint als der Versuch, den
Blick seines Geheimnisses zu berauben, als ein Drang, die unmögli-
che Identität zwischen dem Blick und seiner Repräsentation zu ver-
wirklichen. Aber es ist genau diese Unmöglichkeit, das Herz des Sub-
jekts durch die »undurchdringliche Dunkelheit« und die »strahlende
Helle« des Blickes zu erreichen, die Tàpies dazu führen wird, eine Art
Durchqueren des Spiegels316 durchzuführen, um zu diesem »realer als
die Realität« diesseits der verführerischen Spiegelungen des Ichs zu
gelangen. Das Ergebnis dieser Durchquerung des Bildes kündigt sich
in einem entscheidenden Werk von 1950 an, das den Titel Selbstpor-
trait (fig.1) trägt. Immer noch erscheint darin das Antlitz des Künst-
lers, die Besessenheit vom Blick, seine hypnotische und medusie-
rende Macht, aber neben diesem imaginären Motiv deutet die Hand a.at
@turi
fodurch
© in
des Künstlers auf eine Inschrift auf einem Blatt Papier, das die
224
Self-Portrait. 1950
Badewanne, 1986

.at
o@turia
© inf
Kopf, 1989
Initiale T., welche die Form eines Kreuzes annimmt, auf den Namen
Tàpies verweist.
Dieses T. – der Anfangsbuchstabe des Namens des Subjekts –, das zu
einem Kreuz wird, wird zentrale Bedeutung in Tàpies Werk erlangen.
Es handelt sich v.a. um ein Element – um einen Buchstaben –, der
die imaginäre Reziprozität des Spiegels durchkreuzt. Dieses ge-
kreuzte T. deutet nämlich auf eine andere Art und Weise, das Sein
des Subjekts zu erreichen. Nicht mehr vermöge des narzisstisch-ver-
führerischen Idealichs, sondern vielmehr vermöge eines Buchsta-
bens, der das Subjekt auf seine elementarste Einschreibung reduziert.
Es handelt sich also in dieser Erscheinung des Eigennamens nicht um
eine einfache Unterschrift, um jene Signatur des Autors, die in den
Schriften von Tàpies Gegenstand von Ironie ist und die erlaubt, dass
sich das Werk in ein fetischistisches Tauschobjekt verwandelt. Die
Präsenz des Eigennamens »Tàpies« ist nicht die Signatur des Autors,
die das Werk zu einem Fetisch macht, sondern eröffnet jenseits des
Spiegels eine Möglichkeit, das Sein des Subjekts und das Wesen des
Werkes selbst zu verstehen. Was sich hier verwirklicht, ist eine we-
sentliche Reduktion des Subjekts auf einen Buchstaben. Es handelt
sich hinsichtlich der imaginären Signatur des Autors um eine »autre
signature*«.317
Das in ein Kreuz umgewandelte T. präfiguriert vielmehr eine Auslö-
schung des Ichs und seiner trügerischen Herrschaft. Dieses T. ist der
Ort einer Verkörperung des Buchstabens, einer Markierung, einer
grundlegenden Einschreibung. Eine Verkörperung, die sich von die-
sem Zeitpunkt in Tàpies‹ Werk immer inständiger wiederholen wird:
A, T, Kreuz, X und die Abdrücke der Füsse sind Buchstaben, Markie-
rungen, die zwar auf das Subjekt anspielen, aber nur da, wo sie, in
Form einer Beharrlichkeit des Gleichen, einer Wiederholung des
Identischen darauf anspielend, es auslöschen und es buchstäblich
einmauern.
Das Kreuz wird zugleich zum Ort des Subjekts und zum Ort seines
Verschwindens. Es ist das einschneidende Zeichen in einem herausra-
genden Sinne, weil es die Besonderheit des Subjekts vergegenwärtigt,
aber freilich nur da, wo sich letzteres auslöscht. Darin besteht die
ganze Zweideutigkeit von Tàpies Kreuz: Präsenz und Abwesenheit,
Signatur und Verschwinden des Subjekts. In diesem Sinne gibt es da
at
etwas in bezug auf die religiöse Tradition Exzentrisches uria.
o@tTàpies.
© infbei
228
Sein Kreuz ist nicht mehr einfach nur dasjenige von Christus, sondern
wird zum Kreuz des Subjekts. Zu jenem Kreuz also, das dadurch,
dass es das Ich zum Verschwinden bringt, jenseits des Spiegels auf
die Kondition des Seins des Subjekts verweist. Jenes Kreuz, welches
das verkörpert, was vom Subjekt übrigbleibt, nachdem es all seiner
narzisstischen Repräsentationen entledigt wurde. Das Kreuz in der
Badewanne (1986) (fig.2) hat vor diesem Hintergrund beispielhaften
Charakter. Am Ort des Subjekts, einer Badewanne, erscheint das, was
das Subjekt auslöscht, das, was es zum Verschwinden bringt, was es
aber in der wesentlichen Reduktion auf den Buchstaben zugleich an
ebendiesen bindet. Es erscheint ein hölzernes Kreuz, das zugleich ein
X darstellt. Auf dasselbe trifft man auch in einer Skulptur, die den Ti-
tel Kopf (1989) (fig.3) trägt, wo sich das Antlitz des Künstlers, auch
des letzten narzisstischen Wertes entkleidet, als verbundenes, durch-
gestrichenes, mortifiziertes, eingemummtes Antlitz bar jeden Blickes
zu erkennen gibt.Wobei es aber wiederum mit dem selben Kreuz, mit
dem selben X, gekennzeichnet ist.
Das Kreuz also vollbringt die Reduktion des Subjekts auf den Buch-
staben und auf seine bestimmende Macht, wobei es aber zugleich ein
Produkt des Schöpfungssaktes ist: es ist nichts anderes als der Buch-
stabe im Sinne eines Kennzeichens, aber auch im Sinne einer subjek-
tiven Erfindung. Es verweist überdies auf die Verwandlung des sub-
jektiven Leidens in ein Mathem. Das Kreuz, das das Subjekt auf einen
Buchstaben reduziert und es kennzeichnet, es auslöscht, bewegt sich
auf das X des Rätsels zu. Ein X, das zum Mathem wird, Schrift eines
Schicksals, das dadurch, wie wir gleich sehen werden, dass es sich im
Werk verkörpert, vom Anderen erkannt und anerkannt werden kann.
Aber dieser Übergang vom Spiegel zur voranschreitenden Einmaue-
rung des Ichs, vom narzisstischen Ebenbild zum Buchstaben und zur
Macht der Kennzeichnung, wird sich nur am Ende eines Experiments
vollkommen realisieren, das Tàpies in einen Ort jenseits der reprä-
sentativen Darstellung führen wird. Es handelt sich bei diesem Über-
gang, wie Tàpies in seiner Autobiographie schreiben wird, um einen
wahrhaftigen »Sprung ins Nichts«. Der Spiegel zerbricht. Der Buch-
stabe verkörpert sich in einer für Tàpies selbst undenkbaren Form.

229
3.
DER STOSS* DES WERKES

Das Kunstwerk ist ein solches nur, wenn es, wie Heidegger behaup-
tete, eine Welt zu öffnen versteht. Dieses Offene bedeutet eine Art
Kollaps der schon gebildeten Welt. Damit das Werk seine Funktion
auszuüben und eine andere Welt zu öffnen vermag, ist es notwendig,
dass die Beziehung zur schon vorhandenen Welt aufgehoben wird.
Diese Aufhebung lässt sich nicht mehr als Ergebnis einer methodi-
schen Einstellung des Denkens begreifen, wie dies in Kartesianischer
Manier noch bei der Husserlschen Epoché der Fall war, sondern ist
vielmehr eine unvorhergesehene Begegnung, ein Zufall, der ein-
schlägt. Ein Stoss*, um einen Schlüsselbegriff von Heideggers Aufsatz
Der Ursprung des Kunstwerkes zu gebrauchen, der dieser Problematik
gewidmet ist.318
Genau darin besteht die Funktion des Werkes als Ding: mit der heim-
lichen Dimension der abbildmässigen Spiegelung zu brechen, um das
zum Vorschein zu bringen, was die kanonische Ordnung der Reprä-
sentation in Unordnung bringt und sogar aus den Angeln hebt. Es ist
zugleich das, was nach Lacan das Wesentliche der Erfahrung der Ana-
morphose ausmacht: Die anamorphotische Funktion des Werkes liegt
in der Vergegenwärtigung dessen, was die symbolisch-imaginäre Di-
mension der Repräsentation durchlöchert. In den Gesandten von
Holbein bewirkt das »retroaktive« Eindringen des Totenschädels eine
Destrukturierung des gesamten Werkes. Das Auftauchen des Realen
stösst gleichsam gegen die symbolisch-imaginäre Ordnung des Wer-
kes und offenbart so die ganze Zufälligkeit und Gebrechlichkeit des
Werkes. In diesem Sinne ist die Begegnung mit dem Werk niemals ir-
gendeine Begegnung. Sie entspricht, wie Tàpies schreibt, der Begeg-
nung mit »dem Eisen, das sich dem Fleisch einbrennt«319, der Begeg-
nung mit einem Ereignis, das »eine reale Spur hinterlässt«.320 Wir ha-
ben es hier präzise mit dem zu tun, was Tàpies als die
paradoxerweise pädagogische Funktion des Werkes bestimmt: den
Betrachter »hinter das letzte Tor« geleiten zu können. Meiner Meinung
nach wird sein Beharren auf der sozialen Aufgabe des Werkes allein
vor diesem Hintergrund verständlich: vom Schlafe aufzuwecken, die
Begegnung mit dem Realen ins Werk zu setzen, den Traum an Stelle
at
des Schlafes ohne Traum hervorzubringen, im Subjekt einent»Choc«
o@ uria.
© inf
230
zu produzieren, der das gewöhnliche Band mit der eigenen Welt
durchtrennt.321
Daher rührt der von Tàpies aufgestellte Gegensatz zwischen dem
Werk, das sich sub specie aeternitatis dem Ideal des Schönen opfert,
und demjenigen, das sich im Ereignis des Stosses* oder, in Lacanschen
Begriffen, in der tyche der Begegnung verwirklicht. Deshalb lässt sich
das Kunstwerk nie auf eine blosse Spiegelung der Wirklichkeit redu-
zieren, noch auf sonst irgendeine Repräsentation der Realität. Das
Kunstwerk bedeutet vielmehr einen Bruch, der Einfall des Zufalls,
eine »Begegnung«, einen »Choc«, eine »Überraschung«, einen »Kon-
trast«.322 Eine Art von »Elektrizität« unterscheidet das Werk von einem
Nicht-Werk.323 Deshalb kann Tàpies behaupten, dass der Wert des
Kunstwerkes an sich »nichts« ist, weil das Werk, wenn es denn ein
solches ist, vielmehr als ein »Sprungbrett« erscheint, als eine neue Of-
fenheit/Öffnung (apertura) gegenüber der Begegnung mit dem Rea-
len324.
Die kontingente Dimension der tyche, des Stosses*, die dem Werk ei-
gen ist, wird von Tàpies als ein »Sprung in die Leere« beschrieben. Ein
Sprung in die Leere, »a corps perdu«325, der mit den Idealvorstellungen
der Akademie, der Ästhetik und des Humanismus bricht 326: die tyche
reisst das Subjekt, wie Lacan behauptet, von der gewöhnlichen Ord-
nung der Repräsentation los. Darin besteht auch die allgemeine Be-
dingung, die nach Heidegger für jedes Kunstwerk Gültigkeit bean-
sprucht: das Ereignis einer Offenheit/Öffnung geschehen zu lassen,
eine unvorhergesehene, unerhörte, unberechenbare Öffnung auf eine
andere Welt zu sein. Lacan beharrt auf dieser Einsicht auf seine
Weise, indem er den Schöpfungscharakter des Werkes hervorhebt:
die creatio ex nihilio, die Schöpfung aus dem Nichts. Diese creatio ist
die Bedingung der Ek-sistenz, des Risses, des Begehrens nach ande-
rem, nach autre chose. »Die Leere zu bilden« (fare il vuoto), behauptet
Tàpies im Rückgriff auf Lao-Tsu, ist die grundlegende Voraussetzung
für die Schöpfung. Vor diesem Hintergrund lässt sich begreifen, wes-
halb Lacan im Seminar VII der Dimension der Leere im künstleri-
schen Schaffen zentrale Bedeutung beimisst. Die Lacansche Ästhetik
stützt sich nämlich auf den Begriff der Leere als Bedingung der
Schöpfung, oder besser: als Bedingung der subjektiven Sublimation,
die es vermag, in einer ihr eigenen Bewegung die Leere des Dinges
zu streifen und sie in Schaffenskraft umzuwandeln.

231
Die Dimension der Begegnung mit dem Werk ist also die der reinen
Kontingenz, der reinen Begegnung jenseits der seriellen Wiederho-
lung des automaton. Hier nun treffen wir auf die andere Seite der
Medaille. Der Stoss* von Tàpies bedeutet, einer Kontingenz gegen-
über zu stehen, die, wie wir noch sehen werden, gänzlich auf der
Notwendigkeit beruht: die Notwendigkeit der Vergangenheit, der
Wiederholung des Gleichen, einer wiederkehrenden Identität. Die
Notwendigkeit des Schicksals, die Notwendigkeit des Schicksals des
Namens.

4.
»SELTSAMES SCHICKSAL, FESTGESCHRIEBEN
IN MEINEM NAMEN«

Worauf also stösst Tàpies jenseits des Spiegels?


Seine künstlerische Produktion konzentrierte sich seit 1953 auf den
Umgang mit der Materie. Dieser Übergang vom Bild zur Materie ist
entscheidend. Den Massstab bildet nicht mehr das Repäsentieren son-
dern das Zeigen. Das Werk offenbart so immer deutlicher seinen Sta-
tus als reines Objekt, das auf nichts weiter als auf sich selbst verweist.
Oder besser: Das Werk von Tàpies scheint eine Alternative zu den
beiden geschichtlich vorherrschenden Formen der abstrakten Kunst
darzustellen, die auf dem Primat der Farbe bzw. der Form beruht.
Weder die Farbe noch die Form bilden den Mittelpunkt von Tàpies
Arbeit. Dieser wird vielmehr von der Textur (trama) konstituiert. Die
Textur ist weder mit der Farbe noch mit der Form identisch. Tàpies
spricht von ihr als »drittem Aspekt von Gestaltung«.327 Die Textur ent-
spricht nicht nur dem allgemeinen Prinzip der abstrakten Kunst, d.h.
demjenigen Prinzip, das jede auf einer Repräsentation beruhende Be-
deutung kastriert328 und die Repräsentation auf ein reines Zeigen re-
duziert. Sie führt die Idee eines Realen ein, das jenseits von Farbe
und Form (jenseits von Bild und Signifikant) die Bedingungen der
Möglichkeit der Farbe und der Form bestimmt. In diesem Sinne bildet
die Textur, zu der Tàpies zu gelangen bemüht ist, jene grundlegende
Leere, die der Taoismus als wahres Herz des Seins und als jene Be-
dingung konzipiert, die die Vervielfältigung der Repräsentationen
und Aktion des Symbols ermöglicht. Das Werk kastriert die imaginäre t
ria.a
o@tudrän-
© inf
Bedeutung, entzieht sich aber zugleich der auf Eindeutigkeit
232
genden Macht des Signifikanten. Es entspricht weder dem Primat der
Farbe noch demjenigen der geometrischen Konstruktion, welche die
analytische Strömung der abstrakten Kunst dominiert.
Die erste Behauptung, welche die zentrale Bedeutung der Farbe her-
vorhebt, beansprucht, die Macht des Signifikanten vermöge des rei-
nen und von jeder Bedeutung losgelösten Abbildes, vermöge der von
jedem Formalismus des Signifikanten weit entfernten Expressivität
der Farbe zu überwinden. Man denke diesbezüglich nur an das Werk
von Kandinsky oder an das von Rothko. Die zweite Behauptung,
welche die entscheidende Bedeutung der Form betont, hat umge-
kehrt den Anspruch, das Abbild gänzlich auf die geometrische Uni-
versalität des Signifikanten, auf die Vorherrschaft der analytischen
Geometrisierung gegenüber jedweder Expressivität subjektiven Cha-
rakters zu reduzieren. Man denke hier auch an das in dieser Hinsicht
paradigmatische Werk von Mondrian (das nicht zufällig mit der
Strenge von Wittgentseins Tractatus zu vergleichen ist)329 oder an Ma-
levic.
Aber worin besteht nun jenseits von Farbe und Form die Textur von
Tàpies?
In etwas gewaltsamer Manier könnte man vielleicht sagen, die Textur
von Tàpies ist eine Art und Weise, die Essenz als das, was einmal ge-
wesen ist, zum Ausdruck zu bringen. Die Textur ist Ausdruck dessen,
was Hegel einmal folgendermassen beschrieb: Wesen ist, was gewe-
sen ist*. Sie ist eine Art und Weise – die persönliche Art und Weise
von Tàpies –, das Reale darzustellen. Weder die imaginäre Kraft der
Farbe noch die symbolische der geometrischen Konstruktion. Bei der
Textur steht das Reale des Subjekts auf dem Spiel, und zwar in dem
Sinne, dass es auf das deutet, was sich jenseits der Abbildung und
des Signifikanten als etwas nicht weiter Reduzierbares darstellt: die
Matrize der Farbe und der Form, was aber, wie gesehen, zugleich be-
deutet: weder Farbe noch Form. Die Textur erweist sich als das, was
das Bild und den Signifikanten stützt – und was auf nichts anderes als
auf sich selbst reduziert werden kann. Für Heidegger ist dies die Di-
mension der Erde*, der Grund des Öffnens einer neuen Welt*, wie sie
im Kunstwerk stattfindet.330 Auf dieselbe Dimension stösst man auch
bei Piero Manzoni, in der Serie seiner ausserordentlichen »Achro-
mes«331, in der er, das Werk kontinuierlich seiner symbolischen und
imaginären Eigenschaften entkleidend, zuletzt dahin gelangte, einen

233
Nullpunkt der Stütze, der Abwesenheit von Farbe und Form – eben
das Achrom – herauszuarbeiten, der als entscheidende materielle Un-
terlage des Kunstwerkes dient.
Aber schauen wir nun genauer, wie Tàpies zu dieser radikalen Di-
mension der Erfahrung gelangt, wie er diesem »dritten plastischen
Aspekt« der künstlerischen Schöpfung begegnet.
»Später«, so schreibt er, kam »die Stunde der Einsamkeit«.332 Das
Gemälde wird jäh zu »einem Kampfplatz, wo sich die Verletzungen
unendlich vervielfältigen«.333 Die Überwindung der Darstellung, der
narzisstischen Besessenheit vom Blick, das Durchqueren des Spie-
gels, all das erfüllt sich in diesem mythischen Augenblick. Etwas –
»ein überraschendes Phänomen« – führt gegenüber der Vergangenheit
eine Art Kluft, einen »qualitativen Sprung« ein. »Alles zergeht in einem
gleichförmigen Brei. Das Auge nimmt die Unterschiede nicht mehr
wahr. Was einst ein glühendes Kochen war, verwandelt sich nun in
ein unbewegliches Schweigen«. Er fährt fort: »Dann, eines Tages,
habe ich versucht, unmittelbar aus dem Schweigen zu schöpfen (..).
Ich habe mich der Notwendigkeit unterworfen, die jeden tiefen
Kampf leitet (...)«.334
Der Versuch, unmittelbar aus dem Schweigen zu schöpfen, impliziert
also zuerst einmal die Unterwerfung unter eine fundamentale Not-
wendigkeit. Dieses Gespanntsein auf ein Schweigen und diese Unter-
werfung unter die Notwendigkeit bringen den entscheidenden Stoss*
hervor. Etwas Unerhörtes und zugleich Altbekanntes taucht auf. Ge-
nau das ist die für das Subjekt entscheidende Begegnung: »Zu meiner
Überraschung stellte ich eines Tages fest, dass sich meine Bilder in
Mauern verwandelt hatten«. Die Bilder hatten sich also überraschen-
derweise in Mauern verwandelt. Von jetzt an wird nichts mehr sein
wie früher. Die erfolgte Begegnung ist genau jene, die sich im Selbst-
portrait von 1950 in der Verwandlung des T. von »Tàpies« in ein
Kreuz verbarg. In der Muttersprache von Tàpies, dem Katalanischen,
bedeutet »Tàpies« nichts anderes als »Mauer«. Das Werk, das sich in
eine Mauer verwandelt, verwirklicht also genau diese fundamentale
Begegnung des Subjekts mit dem eigenen Realen. Mit dem asemanti-
schen Realen des Buchstabens. Das Werk ist Ausdruck einer entschei-
denden tyche: die Begegnung, wie Tàpies schreibt, ist »das seltsame
Schicksal, festgeschrieben in meinem Namen«.335 Wesen ist, was gewe-
at
uria.
sen ist*. Aber diese Realisierung des Namens betontianders
© nfo@tals bei
234
Joyce den Willen des Ichs. Tàpies ist nicht psychotisch. Aber diese
Realisierung des Namens befreit das Subjekt anders als im Falle von
Joyce nicht vom Unbewussten, sondern bringt vielmehr die Dimen-
sion der trouvaille in ihrer reinsten Form zum Ausdruck. Tàpies trifft
darin auf das Gleiche, auf sein Wesen, auf das Brandmal seines Na-
mens, aber er trifft es nur als Anderes. Seine Entscheidung darf nicht
mit derjenigen von Joyce verwechselt werden, der sich einen Namen
machte, weil er in seinem Namen jenseits eines Willensentschlusses
und jenseits einer hermeneutischen Sinnsuche seinem Schicksal be-
gegnete. Tàpies‹ trouvaille hingegen produziert sich als eine Bildung
des Unbewussten. Die Überraschung dieser Begegnung bringt in der
Tat jede hermeneutische Sinnsuche aus dem Gleichgewicht. Was we-
der ausgesprochen noch gesucht werden kann, wird geschrieben.
Tàpies findet allein in der Dimension der Überraschung die Entschei-
dung wieder, die er getroffen hat. Er nimmt erst in einem ethischen
après coup das an, was der Andere aus ihm gemacht hat. Wo Joyce
bestrebt ist, sich ausgehend von einer methodischen Willensübung,
die kein Unbewusstes toleriert, einen Namen zu machen, begegnet
Tàpies in der Überraschung des Unbewussten dem, was schon gewe-
sen ist.

5.
SIGNIFIKANTE ERWEITERUNG UND REDUKTION

Im Werk von Tàpies agiert eine Dialektik zwischen der Erweiterung


und der Reduktion des Signifikanten. Der Bezug auf dieses Be-
griffspaar – signifikante Erweiterung und Reduktion – greift auf die
Ausführungen von Jacques-Alain Miller in Das Partner-Symptom
zurück, wo er diesen Begriffen zentrale Bedeutung beimass.
Nach Miller vermag die Anordnung der Analyse eine signifikante Er-
weiterung hervorzubringen, wenn sie die der Sprache innewohnende
Beschwörungsmacht für ihre Gunsten zu nutzen versteht. Nichtsde-
stoweniger muss diese Erweiterung der abschliessenden Handlung
einer Reduktion unterworfen werden. Worum handelt es sich bei der
psychoanalytischen Handlung der Reduktion? Es handelt sich um das
Subjekt und also, wie Miller präzisiert, um eine Reduktion des »sub-
jektiven Epos’«336, wobei diese abschliessende Reduktion die »Kon-
stante« ist, welche die Wiederholung kennzeichnet und den S1, den
235
Herrensignifikanten, der dem Schicksal des Subjekts die Richtung
vorgab, zum Vorschein bringen können muss.337
In Tàpies Poetik der Mauer treffen wir auf eine besondere Version
dieser Dialektik zwischen signifikanter Erweiterung und Reduktion.
Auf der einen Seite offenbart die Materie eine unendliche Reihe von
Bedeutungen, aber auf der anderen zielt die Anstrengung des Künst-
lers allein darauf ab, das Wesentliche der Materie, die Textur, wie wir
gesehen haben, d.h. die Leere, die Stütze der Repräsentationen, »das
unbewegliche Schweigen« des Seins als letzte Struktur der Materie zu
fassen.
In Comunication sur le mur erweist sich die Mauer zuallererst als ein
unendlicher Quell an Sinn. Es ist eine Art von radikaler Verdichtung*
am Werk. Die Mauer wird zur Matrize eines unendlichen Wucherns
von Sinn. Eine aussergewöhnliche Reihe von »Eingebungen« entsprin-
gen der Mauer: »Loslösung, Klausur; Klagemauern, Gefängnismauern;
Zeugnisse des Verfliessens der Zeit, glatte, ruhige Oberflächen, ge-
quälte, alte, hinfällige Oberflächen; Spuren von menschlichen Ab-
drücken, von Gegenständen, von den Naturgewalten; Gefühl des
Kampfes, der Anstrengung, der Zerstörung, der Naturkatastrophe
oder des Aufbaus, der Schöpfung, des Gleichgewichtes; Trümmer der
Liebe, des Schmerzes, des Ekels, der Unordnung; romantische Gau-
kelei der Ruinen; Zufluss von organischer Materie, anregende For-
men von natürlichen Rhythmen und der spontanen Bewegung der
Materie; Sinn der Landschaft, Suggestion der grundlegenden Einheit
aller Dinge; verallgemeinerte Materie, Behauptung und Aufwertung
des Erdgrundes; Möglichkeit verschiedener Distribution und Kombi-
nation von grossen Massen, Gefühl des Stürzens, des Versinkens, der
Ausdehnung, der Konzentration; Ablehnung der Welt, innere Be-
trachtung, Vernichtung der Leidenschaften, Schweigen, Tod; Risse,
Folterungen, zerrissene Körper, menschliche Überreste; Äquivalenz
der Töne, Schmisse, Abkratzungen, Ausschabungen, Feuersalven,
Schläge, Hämmern, Schreie, durch den Weltraum widerhallende
Echos; Meditation über ein kosmisches Thema, Reflexion dank der
Kontemplation der Erde, des Magmas, der Lava, der Asche; Schlacht-
feld, Garten, Spielfeld, vergängliches Schicksal...«.338
In einer anderen Hinsicht ist die Mauer jedoch in ihrer schweigsamen
Präsenz die äusserste Reduktion dieser signifikanten Erweiterung. Sie
at
uria.
verkörpert ein Reales, das die symbolisch-imaginäre i
© nfo@t
Repräsentation

236
unterbindet, das sinnlose Schweigen des Realen. Nicht etwa ein
Schweigen, das das Subjekt der tödlichen Spirale des Todestriebes
überlässt, sondern ein solches, das aus dem Schaffen hervorgeht. Ein
Schweigen also, das die schöpferische Arbeit herausschält und gestal-
tet, und nicht ein Schweigen, das dem künstlerischen Akt ent-
gegengesetzt ist.
Das Subjekt findet so den eigenen Namen jenseits des Portraits, der
Hypnose des Ichs und des vom Spiegel zurückgeworfenen Abbildes
wieder. Es findet ihn wieder als Schicksal. Es stösst auf den eigenen
Namen als unumgängliche Mauer. Dem entspricht das, was in der
psychoanalytischen Praxis als Wiederholung bekannt ist: etwas, was
sich nicht umgehen lässt, was sich nicht hintergehen lässt, etwas, was
nicht aufhört, sich zu schreiben.
Die Passe von Tàpies erfolgt in der Tat in einer zweifachen Reduk-
tion. Die erste verläuft von der narzisstischen Repräsentation des Ichs
zur Mauer, von der Reziprozität des Portraits zur radikalen Asymme-
trie der Mauer, kurz und gut, vom Spiegel zur Mauer. Die zweite
Phase besteht darin, dass er aus der Mauer die Markierung der Be-
gegnung mit dem eigenen Schicksal macht, mit dem eigenen Wesen,
das von Anfang an festgeschrieben stand. Das Subjekt begegnet dem
Schicksal des eigenen Namens. Die Wiederholung erreicht hier ihren
äussersten Punkt. Die künstlerische Erfindung bzw. Schöpfung ge-
staltet sich als eine creatio ex nihilo, die sich nichtsdestoweniger als
die Verwirklichung dessen erweist, was immer schon festgeschrieben
stand. In diesem Sinne kann der Name des Subjekts, der auf dessen
ursprüngliche Entfremdung im Feld des Anderen verweist, vom Sub-
jekt selbst als Eigenname, d.h. als Marke, Buchstabe, Merkmal der
konstituierenden und besonderen Identifikation wieder aufgenom-
men werden.
»Das bist du!« Auf diese Weise formuliert Lacan den Ausgang der Ana-
lyse in den abschliessenden Bemerkungen zum Spiegelstadium. Du
bist Tàpies. Du bist das, was du gewesen bist. Es handelt sich im
Grunde um eine bestimmte Weise des Umganges mit der Subjekt-
spaltung, die nicht zum neurotischen Kult des reinen Seinsver-
fehlens/Seinsmangels führt, sondern zu einer Art Wiedereinsetzung
des Subjekts. Anstatt sich in dem zum neuen Kultobjekt (zu einem
unabschliessbaren Verschwinden) erhobenen Mangel zu verlieren,
bringt das »Das bist du!« eine andere Logik des Subjekts zum

237
Vorschein, die der herrschenden Tendenz des nostalgischen Abge-
sangs auf den Mangel zuwiderläuft. Lacan kennzeichnet sie als »Iden-
tifikation mit dem eigenen Symptom«. Die Annahme der Kastration
hat hier nichts mehr mit einer Apologie der Nicht-Identität des Sub-
jekts zu tun, sondern eher mit dem Zustandekommen der Identität als
Identifikation mit dem eigenen Symptom. Es handelt sich um ein be-
sonderes Geflecht von Kontingenz und Notwendigkeit: Anders als
beim Durchqueren des Phantasmas, das eine Erleichterung der Not-
wendigkeit der Wiederholung und das Entspringen eines neues Zu-
falles mit sich bringt, steht in der Identifikation mit dem Symptom als
möglichem Ausgang aus der Analyse eine Art einzigartiger Identität
zwischen dem Zufall und der Notwendigkeit im Vordergrund. Es geht
um eine kontingente Annahme der eigenen Notwendigkeit 339. Dies ist
in anderen Worten gleichbedeutend damit, das zu wollen, was gewe-
sen ist: eine Mauer zu sein, ein Kreuz zu sein, Tàpies zu sein. Iden-
tität von Sein und Wort, wie Lacan sagen würde340.

.at
o@ turia
© inf
ANMERKUNGEN

1
Das Sternchen (*) bedeutet je nachdem Deutsch bzw. Französisch im Origi-
nal. [A.d.Ü.]
2
Vgl. M. HEIDEGGER, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, Frankfurt:
Klostermann 1963.
3
S. FREUD, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse,
in: Studienausgabe, Band I, hrsg. von A. Mitscherlich, A. Richards und J. Stra-
chey, Frankfurt: Fischer 1969, S. 537
4
J. LACAN, Seminar I, Freuds Technische Schriften, Weinheim: Quadriga 1990,
S. 209
5
J. LACAN, Seminar III, Die Psychosen, Weinheim: Quadriga 1997, S. 49-50
6
Im Italienischen wird im Gegensatz zum Deutschen nicht zwischen Begeh-
ren und Begierde unterschieden. Die italienische Übersetzung der Hegelschen
»Begierde«, wie sie im Kapitel Herrschaft und Knechtschaft der Phänomenolo-
gie des Geistes entfaltet wird, lautet entsprechend »desiderio«. Lacan nun hat es
vermocht, den Freudschen Begriff des »Wunsches« (den er, da im Französi-
schen ein entsprechendes Wort fehlt, mit »désir« wiedergab) und den Hegel-
schen Begriff der »Begierde« (der in der französischen wie auch in der italieni-
schen Sprache ebenfalls mit »désir« bzw. »desiderio« übersetzt wird) zu »versöh-
nen«. Um die Dinge nicht unnötig durch philologische Erwägungen zu
komplizieren, werde ich im folgenden – ganz in Entsprechung zum italieni-
schen Original – Hegels »Begierde« mit »Begehren« übersetzen, wo der Zusam-
menhang nicht nach anderen Massnahmen verlangt. [A.d.Ü.]
7
J. LACAN, Seminar I, zit., S. 182
8
J. LACAN, L’agressivité en psychanalyse, in: Ecrits, Paris: Seuil 1966, S. 117.
Lacans Ecrits sind bedauerlicherweise nicht vollständig ins Deutsche über-
setzt. Wo ich also im folgenden die Ecrits ohne weitere Erläuterungen zitiere,
tue ich dies, weil keine deutsche Übertragung vorliegt und ich also gezwun-
gen war, direkt aus dem Französischen zu übersetzen. [A.d.Ü.]
9
Wo also das Spiegelstadium auf eine »primäre Identifikation [verweist], die
das Subjekt als mit sich selbst rivalisierend strukturiert«, da »transzendiert das
Subjekt« in der ödipalen Identifikation, als deren Produkt sich das Ichideal
herausstellt, »die für die erste Identifizierung konstitutive Agressivität«. Vgl. J.
LACAN, Ecrits, zit., S. 117.
10
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, in: Schriften I, Weinheim: Quadriga 1991, S. 118
11
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 108
12
Der Begriff der »symbolischen Befriedigung« als das, was der Zugang zum
Begehren nach Anerkennung eröffnet, findet sich sehr schön bei J.A. MILLER
ausgeführt. Vgl. z.B. Silet (1994-95), unveröffentlichtes Seminar, gehalten an
der Abteilung für Psychoanalyse der Universität von Paris VIII; zu finden in:
La Psicoanalisi, n. 20, Roma: Astrolabio 1996, Sitzung vom 25.1.1995, S. 190-
223. Die theoretische Grundlegung dieses Begriffes findet man in klarer Her-
ausarbeitung in: A. KOJEVE, Hegel, Kommentar zur Phänomenologie des Gei-
stes, Frankfurt: Fischer 1988, S. 20-47.
13
A. KOJEVE, Hegel, zit., S. 24

239
14
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 79
15
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 83
16
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 84-85
17
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 92
18
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 98
19
Vgl. J.A. MILLER, Cause e consentement (1987-88). Unveröffentlichtes Semi-
nar, gehalten an der Abteilung für Psychoanalyse der Universität von Paris
VIII. Vgl. insbesondere die Sitzung vom 28.1.88.
20
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 101
21
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 96
22
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 95
23
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 95
24
Vgl. M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 325 ff.:
Ȇbernahme der Geworfenheit aber bedeutet, das Dasein in dem, wie es je
schon war, eigentlich sein. Die Übernahme der Geworfenheit ist aber nur so
möglich, dass das zukünftige Dasein sein eigenstes »wie es je schon war«, das
heisst sein »Gewesen«, sein kann. Nur sofern Dasein überhaupt ist als ich bin-
gewesen, kann es zukünftig auf sich selbst so zukommen, dass es zurück-
kommt. Eigentlich zukünftig ist das Dasein eigentlich gewesen. Das Vorlaufen
in die äusserste und eigenste Möglichkeit ist das verstehende Zurückkommen
auf das eigenste Gewesen. Dasein kann nur eigentlich gewesen sein, sofern es
zukünftig ist. Die Gewesenheit entspringt in gewisser Weise der Zukunft.«
25
Die Historisierung der Tatsachen impliziert immer eine primäre Historisie-
rung, weil für den Menschen, der die Sprache bewohnt, die Dinge immer und
notwendig innerhalb des Sprachuniversums geschehen. Dieses wechselseitige
Bedingungsverhältnis zwischen Tatsache und Sinn ist das, was Lacan in Funk-
tion und Feld »primäre Historisierung« nennt. Diesbezüglich bleibt Sein und
Zeit von Heidegger grundlegend. Vgl. hierzu insbesondere das fünfte Kapitel,
Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, S. 372-403.
26
J. LACAN, La chose freudienne, in: Ecrits, zit., S. 427
27
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, zit., S. 101
28
J. LACAN, Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, in:
Schriften I, Weinheim: Quadriga 1991, S. 213
29
J. LACAN, Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, zit., S.
234
30
Bei Sartre inhäriert der Mangel »der menschlichen Wirklichkeit« nicht in akzi-
dentieller, sondern in ontologischer Hinsicht, weil das Wesen des Subjekts als
solches mit einem Seinsmangel, einem Mangel an Sein, dem manque d’être* ia.at
o@tur
© infimmer nach
identisch ist. Das Subjekt als Seinsmangel, das nichtsdestotrotz

240
dem Sein, das es nicht ist, strebt, indem es den Mangel, den es mit sich her-
umträgt, leugnet. In diesem Sinne ist das Begehren des Menschen – das im
Mangel wurzelt – der Drang nach der Verwirklichung eines Seins, das den
Mangel beseitigt. Es ist buchstäblich ein désir d’être, ein Begehren zu sein.
Vgl. J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, Reinbeck: Rowohlt 1993, insbeson-
dere den zweiten Teil: Das Für-sich-sein. Die Übereinstimmung zwischen Sar-
tre (manque d’être) und Lacan (manque à être) bezüglich des Begriffes des
Mangels besteht darin, dass beide den Begriff des Subjekts aller substanzia-
listischen Konnotationen entledigen. Beide machen einen Subjektbegriff gel-
tend, der auf den Begriff der Substanz verzichtet und sich statt dessen auf
denjenigen des Mangels gründet.
31
J. LACAN, Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, zit., S.
227
32
J. LACAN, Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, zit., S.
215
33
J. LACAN, Die Bedeutung des Phallus, in: Schriften II, Weinheim: Quadriga
1991, S. 126
34
S. FREUD, Die Traumdeutung, in: Studienausgabe, hrsg. von A. Mitscher-
lich, A. Richards, J. Stratchey, Band II, Frankfurt: Fischer 1972, S. 538
35
J. LACAN, Die Bedeutung des Phallus, zit., S. 127
36
J. LACAN, Die Bedeutung des Phallus, zit., S. 127
37
Vgl. J. LACAN, Die Bedeutung des Phallus, zit., S. 127
38
Der klinische Fall der Anorexie macht nach Lacan deutlich, bis an welchen
äussersten Rand diese Dialektik des Verlangens nach Liebe führen kann: an-
statt die Befriedigung des Bedürfnisses zu akzeptieren, das kein Liebeszeichen
des Anderen ist, zieht es die anorektische Person vor, Hungers zu sterben. Auf
der anderen Seite kann die Versagung der Liebe auch zu anderen Arten von
Kompensation wie z.B. der bulimischen führen, wo die Befriedigung des Be-
dürfnisses die versagte Liebesgabe kompensiert: »Jedes Mal, wenn eine Versa-
gung der Liebe stattfindet, wird diese durch die Bedürfnisbefriedigung kom-
pensiert. Da die Mutter dem Kind fehlt, klammert es sich an die Brust, wobei
sich diese Brust für es in das bedeutendste Ding verwandelt. Solange es die-
selbe im Mund hat und sich an ihr stillt, kann es nicht von der Mutter getrennt
werden, weil sie es allein genährt, beruhigt und befriedigt sein lässt. Die Be-
dürfnisbefriedigung ist hier die Kompensation der Versagung der Liebe« (Vgl.
J. LACAN, Séminaire IV, zit., S. 174-75). Es sei mir erlaubt, an dieser Stelle auf
meine beiden Bücher L’ultima cena: anoressia e bulimia, Milano: Bruno Mon-
dadori 1997, und Il corpo ostaggio (hrsg. von mir), Rom: Borla 1998, zu ver-
weisen. In beiden Büchern versuche ich, die Theorie und Klinik der anorek-
tisch-bulimischen Problematik mit Lacanschen Hilfsmitteln zu erklären.
39
Vgl. zu dieser Thematik den hervorragenden Aufsatz von A. ZENONI, Lo sta-
tuto del fallo dal Seminario IV alla Significazione del fallo, in: Studi di psico-
analisi, Annali della Sezione Clinica di Milano, n. 1, Milano: Vita Felice 1999,
S. 5-25.
40
Vgl. J. LACAN, Die Bedeutung des Phallus, zit., S. 130.
41
Vgl. J. LACAN, Die Bedeutung des Phallus, zit., S. 127.
42
Vgl. J. LACAN, Die Bedeutung des Phallus, zit., S. 127.
43
Vgl. diesbezüglich z.B. J. LACAN, Die Ausrichtung der Kur und die Prinzi-
pien ihrer Macht, zit., 221-236.

241
44
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim: Quad-
riga 1996. Der besondere Status dieses Seminars lässt sich auch schon daran
erkennen, dass es das einzige war, das Lacan eigenhändig niederschrieb.
45
Was die »zwei« Freud betrifft, so siehe auch J. LACAN, Le Séminaire XVII,
L’envers de la psychoanalyse, Paris: Seuil 1991.
46
Vgl. J. LACAN, Ecrits, zit., S. 851.
47
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 73-74
48
J. LACAN, Seminar VII, zit, S, 146
49
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 151
50
»Extimität« ist ein von Lacan erfundener Ausdruck, um den paradoxen Status
des Dinges im Hinblick auf das Feld der Sprache und auf das Sein des Sub-
jekts zu beschreiben. In diesem Ausdruck verdichten sich zugleich die grösste
Intimität und die radikalste Äusserlichkeit. Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S.
171 oder auch S. 89, wo es heisst: »Dieses das Ding* ist nämlich im Mittel-
punkt just in dem Sinne, dass es ein ausgeschlossenes ist. D.h., dass es in
Wirklichkeit als ein Aussen gesetzt werden muss, dieses das Ding*, dieser
prähistorische Andere, der unmöglich zu vergessen ist, der, wie Freud be-
hauptet, eine notwendige erste Setzung ist, in Form von etwas, das entfrem-
det* ist, aber eben durchaus im Mittelpunkt dieses Ichs ist (...).« Es war J.A.
MILLER, der die zentrale Bedeutung des Begriffes der »Extimität« für das Semi-
nar VII hervorhob. Vgl. Extimité (1986-87), unveröffentlichtes Seminar, gehal-
ten an der Abteilung für Psychoanalyse der Universität Paris VIII.
51
J. LACAN, Seminar VII, Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim: Quadriga
1996, S.151
52
J. LACAN, Le Séminaire IV, zit., S. 15
53
Die Sprache, so behauptet Lacan, »belässt das Ding im Aussen und umkreist
es«. Vgl. J. LACAN, Conferenze sull’etica della psicoanalisi, in: La Psicoanalisi,
n. 16, Roma: Astrolabio 1994, S. 33.
54
Vgl. zu dieser Thematik A. ZENONI, Il corpo e il linguaggio nella psicoana-
lisi, Milano: Bruno Monadori 1999.
55
Was die Nähe von Lacans Begriff des Mehr-Geniessens zum Marxschen Be-
griff des Mehrwertes angeht, so siehe die wertvollen Betrachtungen von D.
COSENZA, Sintomo, struttura e discorso. Lacan versus Marx., in: Lacan e la fi-
losofia (hrsg. von D. COSENZA und mir), Milano: Arcipelago 1992, S. 99-122,
und ebenfalls Lacan da Heidegger a Marx, in: Quaderni Milanesi di psicoana-
lisi, n. 2, Mailand 1994, S. 36-41.
56
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 139.
57
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 67.
58
Das bezeugt der ursprüngliche Charakter des Masochismus, der – gemäss
Freud – das Subjekt dazu drängt, im Leiden sein eigentliches Triebziel zu fin-
den. In einer ersten Phase hat Freud den Masochismus freilich noch innerhalb
des Lustprinzips angesiedelt und ihn auf einen gehemmten Sadismus zurück-
geführt, der sich gegen das Subjekt wendet. Vgl. S. FREUD, Das ökonomische
Problem des Masochismus, in: Studienausgabe, Band III, zit., S. 339 ff.
59
Vgl. ENZO PACI, Sulla concezione psicoanalitica dell‘angoscia, in: Archivio
di filosofia, n. 41, 1952.
60
Obwohl Freud seine Triebtheorie stets als »dualistisch« präsentierte, macht
t
sein Beharren, der Triebbewegung eine strukturell »konservative« Natur zuzu-
ria.a
@tubeide
sprechen, die Idee einer »Dualität« umso problematischer. © inSo fodass
242
Triebarten – Lebenstrieb und Todestrieb – zuletzt darin übereinkommen, dass
sie »im strengsten Sinne konservativ sind, indem sie die Wiederherstellung ei-
nes durch die Entstehung des Lebens gestörten Zustandes anstreben«. Vgl. S.
FREUD, Das Ich und das Es, zit., S. 307.
61
Vgl. J. LACAN, Seminar XI, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Wein-
heim: Quadriga 1987, S. 219-224.
62
Vgl. S. FREUD, Das ökonomische Problem des Masochismus, in: Studienaus-
gabe, Band III, zit., S. 343.
63
S. FREUD, Die endliche und die unendliche Analyse, in: Studienausgabe, Er-
gänzungsband, zit., S. 509
64
Bis zu den Jahren der »Kehre« hatte Freud den Masochsimus ausgehend vom
Sadismus in der Tat als eine Art Introversion des aggressiven Triebes konzi-
piert. In anderen Worten: Der Masochismus wurde aus einem ursprünglich
gedachten Sadismus abgeleitet. Vgl. S. FREUD, Ein Kind wir geschlagen, in:
Studienausgabe, Band VI, zit.
65
J. LACAN, Schriften I, zit., S. 122
66
Vgl. J. LACAN, Intorno alla psicoanalisi nei suoi rapporti con la realtà, in:
Scilicet, Milano: Feltrinelli 1977, S. 58.
67
Vgl. S. FREUD, Das ökonomische Problem des Masochismus, zit., S. 347-48.
68
Vgl. J. LACAN, Il sintomo, in: La Psicoanalisi, n. 2, Roma: Astrolabio 1987, S.
29.
69
Vgl. J. DERRIDA, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt: Suhrkamp
1979.
70
Dies ist die Position von Fornari. Vgl. F. FORNARI, Genitalità e cultura, Mi-
lano: Feltrinelli 1975, und La lezione freudiana, Milano: Feltrinelli 1983.
71
Diese Position vertritt Contri. Vgl. G. CONTRI, Leggi, Milano: Jaca Book
1989. (Es sei hier nur am Rande bemerkt. dass GIACOMO CONTRI der offizi-
elle italienische Übersetzer von Lacans Scritti ist. [A.d.Ü.])
72
Vgl. G. CONTRI, Lexikon psicoanalitico und ebenso Enciclopedia, Milano:
Edizioni Sipiel 1987, S. 41.
73
Von grosser Bedeutung scheinen mir diesbezüglich einige Texte von J.A.
MILLER, die man zugleich lesen sollte. Vgl. Schede di lettura, in: J. LACAN, Il
mito individuale del nevrotico, Astrolabio, Roma 1986, und E(x), in: La Psico-
analisi, n. 5, Roma: Astrolabio 1989.
74
S. FREUD, Jenseits des Lustprinzips, in: Studienausgabe, Band III, zit., S. 233
75
J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 209
76
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 66
77
Vgl. L. ALTHUSSER, Das Kapital lesen, Band I, Reinbeck: Rowohlt 1972, S.
17. Zentral sind Althussers Überlegungen zum Begriff der Kausalität, die er im
Ausgang von Spinozas Ausführungen zum Verhältnis zwischen der Substanz
und ihren Ausdrucksweisen, die sich in der Ethik finden, neu überdenkt. Ent-
scheidend an diesem Bezug ist, dass er bei Spinoza die Konzeptualisierung
des Begriffes der Ursache findet, die es ihm gestattet, »den Begriff der Auswir-
kung einer Struktur auf ihre Elemente« zu definieren, ein Begriff, der dann bei
Marx massgebende Bedeutung erlangt. Es handelt sich um eine Kausalität, die
nicht mehr gemäss den metaphysischen Modellen, wie sie von Descartes und
Leibniz (Mechanismus) oder von Hegel (idealistischer Expressivismus) ent-
worfen wurden, funktioniert, sondern zu Lacans Modell einer strukturellen
Abhängigkeit des Subjekts vom Feld des Anderen hinführt. Althusser bezieht

243
sich in der Tat da auf den vom jungen J.A. MILLER in seiner eigenen Lacan-
Lektüre geprägten Begriff der metonymischen Kausalität, wo er hinsichtlich
dieser neuen Form der Kausalität auf Marx verweist, bei dem sie von allen on-
tologischen Mythen des Ursprungs und des Zweckes befreit und also im-
stande ist, die Position des Subjekts in der Struktur materialistisch zu definie-
ren.
78
Vgl. hierzu den wichtigen Aufsatz von DOMENICO COSENZA mit dem Titel
Sintomo, struttura e discorso: Lacan versus Marx, in: Lacan e la filosofia: sog-
getto, struttura e interpretazione, Noeuds 6, Milano 1992.
79
J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, Reinbeck: Rowohlt 1993, S. 662
80
S. FREUD, Das ökonomische Problem des Masochismus, zit., S. 346
81
S. FREUD, Das ökonomische Problem des Masochismus, zit., S. 345-46
82
Vgl. S. FREUD, Das ökonomische Problem des Masochismus, zit., S. 353.
83
J. LACAN, Schriften III, zit., S. 325
84
Vgl. C. VEREECKEN, La melanconia è una malattia dell’ideale dell’io, in:
Freudiana, n. 3, Milano: Shakespeare & Company 1983.
85
J. LACAN, L’agressivité en psychanalyse, zit., S. 116
86
Lacan erkennt die Verflechtung von Narzissmus und Todestrieb in der
menschlichen Leidenschaft für die »Ganzheit« wieder. Vgl. J. LACAN, Propos
sur la causalité, in: Ecrits, zit. S. 186.
87
Vgl. J. LACAN, Die Bedeutung des Phallus, in: Schriften II, zit., S. 119 ff.
88
Vgl. J. LACAN, L’agressivité en psychanalyse, zit., S. 117.
89
J.B. PONTALIS, Zusammenfassende Wiedergabe der Seminare IV-VI von Jac-
ques Lacan, Wien: Turia + Kant 1999, S. 99
90
J. LACAN, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud-
schen Unbewussten, in: Schriften II, zit., S. 201
91
J. LACAN, Seminar I, zit., S. 182
92
Vgl. S. FREUD, Dostojewski und die Vatertötung, in: Studienausgabe, Band
X, zit.
93
Vgl. J.B. PONTALIS, Zusammenfassende Wiedergabe der Seminare IV-VI von
Jacques Lacan, zit., S. 152.
94
S. FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Studienausgabe, Band
IX, zit., S. 119
95
Vgl. C. VEREECKEN, La melanconia è una malattia dell’ideale dell’io, zit.,
und Dal sintomo al segno, in: La Psicoanalisi, n. 4., Roma: Astrolabio 1989.
96
J. LACAN, Il desiderio e la sua interpretazione, in: La Psicoanalisi, n.5,
Roma: Astrolabio 1989, S. 97
97
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 383.
98
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 18-20.
99
Vgl. zu dieser Entsprechung und zum teleologisch-naturalistischen Charakter
der Aristotelischen Ethik die aufschlussreichen Ausführungen von M. VE-
GETTI, L’etica degli antichi, Bari 1990, S. 159-214.
100
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 100.
101
Vgl. S. FREUD, Das Ich und das Es, in: Studienausgabe, Band III, zit., S.
302.
102
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 88
103
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 9
104
Dies ist, wenn man so will, die Moral des Über-Ichs, das nicht anders kann t
ria.a
fo@tu wo-
als sich in den imaginären Formen der Vorschrift Geltung zu verschaffen,
© in
244
bei deren Ökonomie, wie Freud in Das Unbehagen in der Kultur gezeigt hat,
von einer zirkulären Verstärkung der Aufopferung bestimmt ist (“je mehr, de-
sto mehr«). Im letzten Abschnitt der Bemerkung zum Vortrag von Daniel Lag-
ache gilt es Lacan ernst zu nehmen, wo er die Ethik der Psychoanalyse derje-
nigen des Über-Ichs entgegensetzt. Erstere ist vom Begehren geleitet, letztere
vom Terror, die eine beruht auf dem Schweigen des Subjekts, die andere auf
einer »Stimme«, deren einzige Autorität darin besteht, eine »drohende Stimme«
zu sein.
105
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 28
106
Ich erlaube mir, an dieser Stelle auf ein Buch von mir zu verweisen, das
sich mit dieser Thematik auseinandersetzt: M. RECALCATI, Il vuoto e il resto. Il
problema del reale in J. Lacan, Milano: CUEM 1993.
107
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 67.
108
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 258
109
Das Signifikat ist entsprechend nicht einfach etwas, was sich unter dem Sig-
nifikanten befindet (der Signifikant ist nicht wie im Saussureschen Algorith-
mus bloss die andere Seite des Signifikats). Es wird vielmehr durch die Artiku-
lation der Signifikanten produziert. Die Leerheit des Signifikanten, sein reines
Differenzsein, liegt darin, dass er weder ein Signifikat übersetzt, noch sich
gemäss einer referentialistischen Logik auf die Gegenstände bezieht. Statt des-
sen verweist er bloss auf andere Signifikanten. Es gibt deshalb kein Signifikat
hinter dem Signifikanten, ebenso wenig wie es ein ursprüngliches, sich gleich-
sam selbtverursachendes Sein hinter dem Ereignis gibt (“Das Sein verschwin-
det im Ereignis«, wie Heidegger in seinem Vortrag Zeit und Sein sagt). Hier
also stossen wir auf einen Punkt, an dem sich Lacan und Heidegger wirklich
treffen: Die Heideggersche Barre, unter der das Sein verschwindet, und die
Barre, mit der Lacan das Subjekt und den Anderen durchstreicht, stehen für
den Verlust des Ursprungs als Bedingung für den Zugang zum Feld der Spra-
che. Die Lacansche Reflexion über den Freudschen Begriff der Verdrängung
enthält zwischen den Zeilen in der Tat dieses entscheidende philosophische
Problem: Ist es weiterhin möglich, eine transzendentale Verfasstheit der Erfah-
rung zu postulieren angesicht dessen, dass die Vorstellung eines Fundamentes
und der Transzendentalität selbst tot ist? Was es an »Ursprünglichem« in der
Verdrängung gibt, ist nämlich nichts anderes als der Verlust des Dinges, der
gewissermassen die Zeit der Historisierung und der Metaphorisierung vorweg-
nimmt, indem er deren Bedingung der Möglichkeit konstituiert.
110
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 151.
111
J. LACAN, Seminar VII,zit., S. 146
112
M. HEIDEGGER, Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Neske
1994, S. 157-180.
113
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 188
114
Im ersten Teil der Grammatologie kommt Derrida der Lacanschen Defini-
tion des Dinges als immer schon verlorener Ursprung, Grund, Gegenstand
sehr nahe: »Man ahnt bereits, dass ein Ursprung, dessen Struktur als Signifi-
kant des Signifikanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Hervorbrin-
gung selbst hinwegrafft und auslöscht. Das Signifikat fungiert darin seit je als
Signifikant.« Vgl. J. DERRIDA, Grammatologie, Frankfurt: Fischer 1993.
115
Vgl. J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 186 und S. 203.
116
J. LACAN, L’agressivité en psychanalyse, zit., S. 116

245
117
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 374
118
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 362.
119
Vgl. J. LACAN, La terza, in: La psicoanalisi, n. 12, Roma: Astrolabio 1993, S.
34.
120
J.A. MILLER, Programmi, in: Usi dell’interpretazione edipica in psicoanalisi,
Atti del II convegno del Campo freudiano in Italia, Roma: Astrolabio 1989, S.
101-125.
121
J. LACAN, Seminar VII, zit., S, 374
122
Dies geschieht z.B. explizit am Anfang von Seminar VIII, das dem Problem
der Übertragung, des Transfert, gewidmet ist. Vgl. Seminar VIII, Paris: Seuil
1991.
123
S. FREUD, Das Ich und das Es, zit., S. 319
124
Lacan schuldet diese Einsicht Marx und seinem Begriff des Mehrwertes. Es
ist nämlich Marx, der entdeckt, wie jede Ökonomie des Geniessens schicksals-
haft zum Verlust bestimmt ist. Es ist Marx, der vor Freud die Logik des Jenseits
des Lustprinzips erkennt; er begreift sie vor Freud als eine strukturelle Logik,
deren spezifisches Gewicht er aber da wieder verspielt, wo er daraus die hi-
storische Wirkung eines besonderes Produktionssystems –desjenigen des Ka-
pitalismus – macht.
125
Vgl. J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 208.
126
Diesen »fünften« Diskurs (neben dem Diskurs des Meisters, der Universität,
der Hysterie und der Analyse) präsentierte Lacan in einem Vortrag, den er 12.
Mai 1972 unter dem Titel Du discours psychanalytique an der Universität von
Mailand hielt. [A.d.Ü.]
127
J.A. MILLER, Le banquet des analystes (1989-90), unveröffentlichtes Seminar,
gehalten an der Abteilung für Psychoanalyse der Universität von Paris VIII.
Vgl. die Sitzung vom 4.4.1990.
128
Vgl. J. LACAN, Le Séminaire XVII. L’envers de la psychanalyse, Paris: Seuil
1991, S. 138.
129
Die beiden Freudschen Begriffe des Über-Ichs und des Ichideals können als
die beiden Abkömmlinge dieser gegensätzlichen Darstellungen des Vaters be-
trachtet werden: das Über-Ich repräsentiert den ideologischen und imaginären
Charakter der väterlichen Funktion, während das Ichideal – insofern sich das
Subjekt symbolisch mit dem Vater identifiziert – eine befriedende und gesetz-
gebende Funktion auf das Subjekt ausübt.
130
J. LACAN, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Unbewus-
sten, in: Schriften II, zit., S. 188
131
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 104. Vgl. diesbezüglich auch den schö-
nen Aufsatz von A. DI CIACCIA, Théologie et psychanalyse, in: Quarto, n. 52,
Bruxelles 1993.
132
Vgl. J. LACAN, Les complexes familiaux, Paris: Navarin 1984, S. 68.
133
J. LACAN, Séminaire XVII, zit., S. 135
134
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 212.
135
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 215
136
S. FREUD, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Studien-
ausgabe, Band IX, zit., S 501: »Zu den bekannten Zweiheiten dieser Ge-
schichte – zwei Volksmassen, die zur Bildung der Nation zusammentreten,
zwei Reiche, in die diese Nation zerfällt, zwei Gottesnamen in den Quellen- ia.at
o@tur die
© inf
schriften der Bibel – fügen wir zwei neue hinzu: Zwei Religionsstiftungen,

246
erste durch die andere verdrängt und später doch siegreich hinter ihr zum
Vorschein gekommen, zwei Religionsstifter, die beide mit dem gleichen Na-
men Moses benannt werden und deren Persönlichkeiten wir voneinander zu
sondern haben.«
137
M. CACCIARI, Icone della Legge, Milano: Adelphi 1985, S. 142-144
138
S. FREUD, Der Mann Moses und die monotheitische Religion, zit., S. 493
139
Vgl. J. LACAN, Le Séminaire, zit., S. 115.
140
»La psychose est un essai de rigueur. En ce sens, je dirais que je suis psy-
chotique. Je suis psychotique pour la seule raison que j’ai toujours essayé
d’être rigoreux.« Vgl. J. LACAN, Conférence et entretiens, Yale University, in:
Scilicet, n. 6/7, Paris: Seuil 1976, S. 6.
141
J. LACAN, Radiophone. Television, Weinheim: Quadriga 1988, S. 61
142
J. LACAN, Lo Stordito, in: Scilicet, Milano: Feltrinelli 1977, S. 383
143
Dies ist das zwiespältige Urteil, auf dem Derridas Interpretation von Freud
als »Tür« und »Schliesser« gründet, als »Eingangspforte« und »Bewahrer«, als
Nachgeborener einer Epoche und als Vorfahre einer anderen, wie sie Derrida
aus Foucaults Freud-Interpretation von Wahnsinn und Gesellschaft, Eine Ge-
schichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft gewinnt. Vgl. hierzu »Gerecht
sein gegenüber Freud«, Die Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Psycho-
analyse in J. DERRIDA, Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, Frankfurt:
Suhrkamp 1998, S. 71. Es handelt sich also um die zweifache und zweifach
geteilte Eigentümlichkeit des Freudschen Werkes: die Spaltung zwischen
»Freud, dem Psychologen der Evolution, und Freud, dem Psychologen der in-
dividuellen Geschichte«, zwischen »Freud, der mit der Psychologie bricht« und
»Freud, der sich dem Wahnsinn gegenüber gastfreundlich zeigt«, vgl. J. DER-
RIDA, zit., S. 107.
144
J. LACAN, Vortrag über die psychische Kausalität, in: Schriften III, Wein-
heim: Quadriga 1994, S. 153
145
Die phänomenologische Psychiatrie konzipiert die Existenz des Wahnsinni-
gen in der Tat als eine verfehlte Existenz, die sich nicht verstehen lässt, als
Scheitern des existentiellen Entwurfes. Ich beschränke mich darauf, aus der
Fülle der möglichen Bezugnahmen einen Hinweis auszuwählen und weise auf
das berühmte Buch von L. BINSWANGER mit dem Titel Formen missglückten
Daseins, Heidelberg: Asanger 1992, hin. Lacans These über die Freiheit des
Wahnsinns impliziert meiner Meinung nach schon eine kritische Haltung ge-
genüber gewissen theoretischen Annahmen der phänomenologischen Psy-
chiatrie, obwohl er ihre entscheidende Rolle in der Ablehung des Reduktionis-
mus in der Psychiatrie anerkennt. Die theoretische und praktische impasse, in
der sich die phänomenologische Psychiatrie nach Lacan v.a. befindet, hängt
mit der Zurückweisung der Kategorie der Kausalität in den wissenschaftlich-
naturalistischen Diskurs und mit der Ablehnung des Freudschen Unbewussten
als einer »objektivierenden« Theorie zusammen, deren Konzeptualisierungen
sie unvermeidlich noch im Umfeld eines bewusstseinsmässig-intentionalen
Subjektverständnisses verortet.
146
J. LACAN, Vortrag über die psychische Kausalität, zit., S. 154
147
J. LACAN, Vortrag über die psychische Kausalität, zit., S. 153
148
J. LACAN, Fonctions de la psychanalyse en criminologie, in: Ecrits, S. 118
und 132

247
149
Dies ist eine Perspektive, die mit einem gewissen Nachdruck von De-
leuze und Guattari wieder ins Spiel gebracht wird, da wo sie im Anti-Ödi-
pus den Triebkörper als irreduzibel auf irgendein (ödipales) Prinzip der
»Territorialisierung«, das von der Repression des sozialen Diskurses befoh-
len wird, begreifen.
150
Schon der Bezug als solcher auf die ethische Dimension siedelt Lacans
Reflexion über den Wahnsinn in einem Gebiet an, das von demjenigen
der traditionellen Psychiatrie, die den Wahnsinnigen als defizitäres Sub-
jekt begreift, verschieden ist. Für Lacan ist der Psychotiker v.a. ein ethi-
sches Subjekt. Gegen das organisch-wissenschaftliche Paradigma der
Fehlfunktion – der Psychose als Fehlfunktion des Subjekts – macht Lacan
jene wesentliche Voraussetzung geltend, auf der die Freudsche Behand-
lung gründet: die Geisteskrankheit ist nicht der Ausdruck einer bestimm-
ten Fehlfunktion des Subjekts, sondern offenbart vielmehr die Struktur des
Subjekts als eines solchen. Es mag genügen, an die paradigmatische Funk-
tion zu denken, die Freud der Perversion zuweist, nicht um ihren abwei-
chenden Charakter an den Pranger zu stellen, sondern um in skandalöser
Weise ihren Wert auf das sogenannt normale Funktionieren der menschli-
chen Sexualität auszudehnen. Mit Freud begreift die Psychoanalyse also
das »fehlerhafte Funktionieren«, das die Bildungen der Psychopathologie
charakterisiert, als Offenbarung der strukturellen Wahrheit des Subjekts.
Weit davon entfernt, die psychopathologische Wirkung irgendeiner Un-
reife, psychischen Schwäche usw. des Subjekts zu sein, zeigt uns Lacan
am Beispiel der Hysterie die strukturelle Wahrheit des Begehrens als Be-
gehrens nach anderem und Begehren des Anderen auf. So offenbart die
Melancholie, weit davon entfernt, eine blosse Störung der Laune oder der
Affektivität zu sein, die strukturelle Wahrheit unseres Seins als abgefallene
und ausgestossene Subjekte, die wir unwiederbringlich dem rücksichtslo-
sen Spiel des Zufalls ausgeliefert sind. Der Melancholiker erleidet in der
Tat keine Störungen seiner Laune oder seiner Gefühle, wie es die klassi-
sche Psychiatrie gerne hätte, sondern begegnet in der ihm eigenen Stim-
mung* einer strukturellen Wahrheit des Subjekts – dem »Leiden an der
Existenz« –, das unsere Befindlichkeit des Verlassenseins, der Hilflosigkeit,
der Détresse*, in der sich das Subjekt in bezug auf den Anderen befindet,
widerspiegelt. Der Freudsche Ausdruck der Hilflosigkeit* weist hin auf ein
Sein ohne jede Stütze, ohne Halt im Anderen, auf die Wehrlosigkeit, auf
die ursprüngliche Dimension eines Subjekts, das vollkommen verlassen
ist. Dieses Verhältnis zwischen dem Wahnsinn und der Struktur des Sub-
jekts, das sich schon bei Freud findet, erlaubt der Psychoanalyse, auf eine
klinische Klassifikation in den rohen Begriffen einer Zoologie, d.h. einer
desubjektivierenden Klassifikation zu verzichten, und gestattet es, die Di-
mension der »Geisteskrankheit« in einer engen Beziehung zur Struktur der
Subjektivität als solcher zu sehen. Vgl. zu diesen Themen den schon zi-
tierten Text Fonctions de la psychanalyse en crominologie, wo Lacan dar-
auf insistiert, die »ganze Verantwortung des Subjekts« zu erhalten, um zu
verhindern, dass das Subjekt »entmenschlicht« wird.
151
Dies ist das Zentrum der von Lacan in Vortrag über die psychische Kau-
salität entwickelten Kritik, die sich gegen den Organo-Dynamismus von a.at
Henry Ey wendet, dessen ethische Konklusion dahin führt, @turi
fo»Geistes-
© indie
248
krankheiten« als »Beleidigungen und Fesseln der Freiheit« zu bezeichnen. Vgl.
Vortrag über die psychische Kausalität, zit., S. 131-132.
152
Eine Wahl, deren paradoxer Charakter einem nicht entgehen sollte, weil
nach Lacan folgendes gilt: »Verrückt wird nicht, wer will.« Vgl. Vortrag über
die psychische Kausalität, zit., S. 153.
153
Die Gestalt des »Gesetztes des Herzens« entnahm Lacan der Phänomenolo-
gie des Geistes von Hegel, und zwar jenem Teil, welcher der »Vernunft« gewid-
met ist. Vgl. F.W. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, in: Werkausgabe, Band
3, Frankfurt: Suhrkamp 1976, S. 275 ff. Vgl. J. LACAN, Vortrag über die psychi-
sche Kausalität, zit., S. 148.
154
Lacan bezieht sich diesbezüglich auf jene Seiten von Descartes, die Gegen-
stand der sich überkreuzenden Kommentare von Foucault und Derrida sein
werden, da wo er daran erinnert, wie Descartes an der Vorstellung des Wahn-
sinns in dem Sinne festhält, dass der Wahnsinnige sich für etwas anderes hält,
als er ist: »die, die sich in Gold und Purpur gekleidet glauben«. Vgl. J. LACAN,
Vortrag über die psychische Kausalität, zit., S. 146.
155
In diesem Sinne, so führt Lacan näher aus, gilt, »dass, wenn ein Mensch, der
sich für einen König hält, wahnsinnig ist, ein König, der sich für einen König
hält, es nicht weniger ist.« Vgl. Vortrag über die psychische Kausalität, S. 146-
147.
156
Vgl. Descartes, Meditationen über die erste Philosophie. Es gilt hier insbe-
sondere den Zusammenhang zwischen der Krankheit (amentes) und dem Ver-
lust des Rechtssubjekts (dementes), das sich davon ableitet, zu beachten.
Diese Ableitung steht im Zentrum von Lacans Kritik an Descartes, die er in
Fonctions de la psychanalyse en criminologie entwickelt.
157
Vgl. J. LACAN, Seminar III, Die Psychosen, Weinheim: Quadriga 1997, S. 65.
Eine Herausarbeitung des Begriffes der »Ausschliessung des Anderen« im Rah-
men des Seminars III findet sich in D. VEGETIS, Deux axiomatiques des psy-
choses, »Ornicar?«, n. 44, S. 52-64.
158
Wie die Klinik der Psychosen zeigt, ist die eigenste Dimension der psycho-
tischen Subjektivität nicht diejenige des Chaos‘, sondern diejenige der Gewis-
sheit. Jener Gewissheit, die sich mit dem Delirium vereint: der wahnsinnigen
Gewissheit, deren allgemeine Grundlage Lacan, wie wir gesehen haben, im
imaginären Glauben des Ich an sich selbst entdeckt. Der Zweifel, das Fragen,
die Ungewissheit sind Existenz- und Denkweisen, die der Psychose fremd
sind. Der Paranoiker, der Erotomane und der Melancholiker werfen Licht auf
diese absolute Gewissheit in der Psychose. Verfolgt zu werden (Paranoia), ge-
liebt zu werden (Erotomanie), verstossen zu werden (Melancholie) sind Postu-
late, die sich ausserhalb des Diskurses bewegen. Es handelt sich dabei um ab-
solute Gestalten der Gewissheit, die bar aller Dialektik sind.
159
Vgl. J. LACAN, Della psicosi paranoica nei suoi rapporti con la personalità,
Torino: Einaudi 1980, S. 231.
160
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, in: Schriften I, zit., S. 121. Ich habe die deutsche Übersetzung, die
mir an dieser Stelle etwas ungenau scheint, leicht modifiziert: Lacan spricht
hier von Dialektik, so dass es angebracht ist, »reconnaître« mit »anerkennen«
(und nicht mit »erkennen« wie in der deutschen Standardübersetzung) wieder-
zugeben. Anders als im Deutschen, das zwischen »erkennen« und »anerken-
nen« klar unterscheidet, lässt sich im Italienischen die Zweideutigkeit des fran-

249
zösischen Terminus durch die Übersetzung mit »riconoscere« problemlos er-
halten. Recalcatis Text stützt sich aber offensichtlich eher auf die Bedeutung
von »anerkennen« als bloss von »erkennen«, was mich, abgesehen von prinzi-
piellen Erwägungen, zusätzlich bewog, die deutsche Übersetzung zugunsten
dieser Nuance leicht zu modifizieren. [A.d.Ü].
161
Vgl. J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens, zit., S. 123.
162
Funktion und Feld des Sprechens, zit., S. 123.
163
»Forclusion« ist Lacans Übersetzung der Freudschen »Verwerfung«. [A.d.Ü.]
164
J. LACAN, Seminar III, zit., S. 20
165
Wie die akustische Halluzination zeigt, kehrt das Unbewusste wieder in
Form einer Antwort des Anderen, die der subjektiven Allokution vorhergeht.
Das Unbewusste ist in diesem Fall der Andere, der das Subjekt vorwegnimmt.
Oder aber es zeigt sich in der Abwesenheit jener Steppunkte (point de capi-
ton), d.h. in jenen semantischen Überkreuzungen, wo sich Signifikant und
Signifikat aneinander heften, um einer metaphorischen Verdichtung Raum zu
geben. Wo die väterliche Metapher fehlt, fehlt nach Lacan zugleich jene Be-
dingung, welche die Existenz von Metaphern erst ermöglicht. Dies ist die
These, die Lacan nur in seiner Schrift Über eine Frage, die jeder möglichen Be-
handlung der Psychose vorhergeht näher ausführt.
166
J. LACAN, Seminar III, zit., S. 63-65
167
J. LACAN, Seminar III, zit., S. 64
168
J. LACAN, Seminar III, zit., S. 42
169
J. LACAN, Seminar III, zit., S. 98. Daraus folgt, »dass die Psychose in einem
Loch besteht, einem Mangel auf der Ebene des Signifikanten«. Vgl. hierzu Se-
minar III, zit., S. 238.
170
J. LACAN, Seminar III, zit., S. 89
171
J. LACAN, Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose
vorhergeht, in: Schriften II, zit., S. 81
172
J. LACAN, Schriften II, zit., S. 108
173
Die genaue und strenge Unterscheidung der massgebenden Übergänge, die
den Lacanschen Denkweg gekennzeichnet haben, schulden wir der ausserge-
wöhnlichen Lektüre, die Jacques-Alain Miller Lacan gewidmet hat. Ausgehend
von dieser nun schon zwanzig Jahre andauernden Lektüre, die Miller in Form
der jährlichen Seminare im Fachbereich für Psychoanalyse an der Universität
von Paris VIII durchführt und deren Ergebnisse grösstenteils noch unpubli-
ziert sind, findet der italienische Leser ein wertvolles Destillat Schede di let-
ture, in: J. LACAN, Il mito individuale del nevrotico, Roma: Astrolabio 1989,
und Logiche della vita amorosa, Roma: Astrolabio 1997. Der grundlegende Be-
zugstext, der eine genaue Vorstellung über die Ausrichtung der Millerschen
Lacan-Lektüre gibt, bleibt meiner Meinung nach J.A. MILLER, D’un autre La-
can, »Ornicar?«, 28, 1984, S. 49-57, dt. in J. A. MILLER u.a., Von einem anderen
Lacan, Wo Es war 5, Wien: Turia + Kant, 1994.
174
J. LACAN, Schriften II, zit., S. 67
175
J. LACAN, Schriften II, zit., S. 116
176
In diesem Sinn ist Schrebers Verhältnis zu Gott keineswegs mit jenem Ver-
hältnis vergleichbar, das ein Mystiker mit der Transzendenz des Anderen hat.
Obwohl Gott für Schreber der absolut Andere ist, ist er ein Anderer, der eine
Form der Vereinigung mit dem Subjekt hervorbringt, die nicht durch Glückse-
.at
o@ turia
© inf
250
ligkeit, sondern durch »Gier und Überdruss« geprägt ist. Vgl. J. LACAN, Schrif-
ten II, zit., S. 109.
177
Vgl. J. LACAN, Présentation aux Mémorie d‘un névropathe, »Cahiers pour
l’analyse«, 5, 1966, pp. 69-72.
178
J. LACAN, Seminar XI, zit. S. 224
179
J. LACAN, Schriften II, zit., S. 84
180
J. LACAN, Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung vorhergeht, in:
Schriften II, zit., S. 107
181
J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, Reinbeck: Rowohlt 1993, S. 654
182
Recalacti übernimmt hier einen Ausdruck von Lacan, der darauf hindeuten
soll, dass das Sein (être) des Menschen in seinem Sprechen (parler) besteht,
so dass mit »parlêtre« nichts anderes gemeint ist als der Mensch als sprechen-
des Wesen. Der Mensch ist nur, insofern er spricht. Aber gerade da, wo er
spricht, ist er nicht. [A.d.Ü]
183
Diese These wird von J.A. MILLER in origineller Weise entfaltet in La psy-
chose dans le texte de Lacan, in: La psychose dans le texte, Paris: Navarin 1989,
S. 131-141, und in Clinique ironique, »La Cause freudienne«, 23, 1993, S. 7-13.
184
Vgl. J. LACAN, Problèmes cruciaux pour la psychanalyse (1964-1965), Sit-
zung vom 19. Mai 1965 (unveröffentlicht).
185
Vgl. J. LACAN, Seminar VII, Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim 1996, S.
171.
186
Vgl. J. LACAN, Conferenza sull’etica della psicoanalisi, »La psicoanalisi«, 16,
p.21.
187
J. LACAN, Seminar VII, S. 146
188
Diese These von J.A. MILLER wird insbesondere in den abschliessenden Sit-
zungen von Ce qui fait insigne (1986-87), einem unveröffentlichten Seminar
(1986-87), gehalten an der Abteilung für Psychoanalyse der Universität von
Paris VIII, näher ausgeführt. Eine gedrängte Zusammenfassung findet sich in
J.A. MILLER, Forclusion généralisé, »Cahier«, Psychose, Logique, Regard, 1,
1993, S. 4-8.
189
J.A. MILLER, Forclusion généralisé, zit., S. 7.
190
»Signifikantisierung« ist eine Neologismus, den Lacan eingeführt hat. Die
»Signifikantisierung« lässt sich als Analogiebildung zur Signifikation begreifen
(Signifikat – Signifikation), wobei der Akzent hier freilich weniger auf dem
Signifikat als auf dem Signifikanten liegt (Signifikant – Signifikantisierung).
[A.d.Ü.]
191
Vgl. J. LACAN, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im
Freudschen Unbewussten, in: Schriften II, zit., S. 188: »Es gibt keinen Anderen
des Anderen.«
192
Vgl. J. LACAN, Schriften II, zit., S. 195.
193
Im psychotischen Wahn scheint sich diese Verbindung freilich im Verfol-
gungswahn zu verwirklichen: der Sinn verfolgt, weil er im Übermass vorhan-
den ist, weil es zu viel davon hat, weil er überall ist (die andere Seite der Me-
daille wird perfekt von der Melancholie illsutriert, für die nichts Sinn hat!).
Während in der Neurose die Abwehr vor dem Realen die Form seiner Signifi-
kantisierung in den Begriffen einer Signifikantisierung des Geniessens an-
nimmt, hat das Wort in der Psychose nicht die Funktion, das Ding gleichsam
zu töten, sondern ist das Ding selbst, so dass – und genau das illustriert die

251
paranoische Psychose exemplarisch – die Wirklichkeit zum Zeichen wird. Vgl.
Seminar III, zit., S. 15 ff.
194
Die ganze Joyce-Interpretation, die Lacan im Verlaufe des Seminars Le sint-
home (1974-1975) erarbeitet, und die immensen Arbeiten zur Topologie, die
Gegenstand seiner späten Seminare war, insbesondere von RSI (1975-1976),
haben genau die verschiedenen Möglichkeiten des Subjekts zum Thema, sich
an den Mangel der symbolischen Ordnung – der nicht mehr bloss der Psy-
chose vorbehalten ist, sondern im Grunde alle menschlichen Wesen betrifft,
insofern der Andere des Anderen, der durch den Namen-des-Vaters in der
ödipalen Theorie der väterlichen Metapher noch aufrechterhalten wurde,
nicht existiert – zu setzen.
195
Vgl. J. LACAN, La terza, in: La Psicoanalisi, n.12, 1993, S. 18.
196
J. LACAN, La terza, zit., S. 29
197
J. LACAN, Die Stellung des Unbewussten, in: Schriften II, zit., S. 215
198
Vgl. hierzu z.B. J. HYPPOLITE, Philosophie et Psychanalyse, in: Figures de la
pensée philosophique, vol. I, Paris: Presses Universitaires de France 1971; P. RI-
COEUR, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt: Suhr-
kamp1993. Es muss daran erinnert werden, dass Lacans Denken genau von
dieser Äquivalenz von Psychoanalyse und Dialektik ausgeht: »Die Psychoana-
lyse ist eine dialektische Erfahrung.« Vgl. J. LACAN, Intervention sur le trans-
fert, in: Ecrits, zit., S. 216.
199
Vgl. P. RICOEUR, Das Bewusste und das Unbewusste, in: Der Konflikt der
Interpretationen I, München 1973.
200
Vgl. J. HYPPOLITE, Genèse et structure de la phénoménologie de l’esprit de
Hegel, 2 Bände, Paris: Aubier 1946.
201
J. LACAN, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud-
schen Unbewussten, in: Schriften II, zit., S. 172: »Wer sieht nicht, was das un-
glückliche Bewusstsein, das man – so profiliert es bei Hegel auch erscheinen
mag – erst einmal nicht anders denn als Suspendierung eines Wissens be-
schreiben muss, von dem Unbehagen in der Kultur trennt (...).«
202
Es ist in der Tat Hegel, dem Lacan unter diesem Blickwinkel die Einsicht in
den utopischen Charakter und die falsche Evidenz der Unmittelbarkeit ver-
dankt. Überdies lehrt er ihn, dass die Erscheinung des Symbols – der Sprache
– notwendig den Verlust des »unmittelbaren« Kontaktes mit der Sache impli-
ziert.
203
G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werk-
ausgabe, Band 18, FRankfurt: Suhrkamp 1978, S. 42
204
J. LACAN, Schriften II, zit., S. 171
205
J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, zit., S. 191
206
J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, zit., S. 1054
207
J.P. SARTRE, Les carnets de la drôle de guerre, Paris: Gallimard 1983, S. 139
208
J.P. SARTRE, Les carnets de la drôle de guerre, zit., S. 138
209
An-sich und Für-sich schliesen sich in Wirklichkeit nicht gegenseitig aus;
das An-sich betrifft das Für-sich, das dennoch in der Form der Transzendenz,
der Trennung von sich etc. existiert. Die Faktizität (facticité*) ist ein Residuum
des An-sich, das sich im Für-sich befindet; als Faktizität des eigenen Körpers,
der eigenen Geburt, des eigenen Für-Andere-Seins, des eigenen Todes. In die-
sem Sinne bezieht sich Sartre auf die Faktizität und auf die Transzendenz als t
einer »doppelten Beschaffenheit« des Für-sich, das einerseits durch ein ria.a
tuunauf-
© in fo@
252
hebbares An-sich gekennzeichnet ist und das sich andererseits im Hinblick auf
die eigenen Möglichkeiten selbst aufzuheben versucht.
210
J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, zit., S. 432
211
J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, zit., S. 435 ff.
212
J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psycho-
analyse, in: Schriften I, zit., S. 149
213
Vgl. J. LACAN, Il Seminario VI. Il desiderio e la sua interpretazione, in: La
psicoanalisi, n. 5, Roma: Astrolabio 1989, S. 88.
214
J. LACAN, Vortrag über die psychische Kausalität, in: Schriften III, zit., S.
163 ff.
215
G.W.F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, Werkausgabe Band 3, Frank-
furt: Suhrkamp 1976, S. 147
216
Die Anerkennung geht also für Hegel nur in eine Richtung. Der Konflikt
zwischen den Selbstbewusstseinen spielt sich wesentlich im Imaginären, in
der zerstörerischen Aggressivität ab. In Totem und Tabu von Freud stösst man
auf dieselbe Problematik: am Anfang steht der Hass, der Wille, den anderen
zu zerstören. Aber der Tod des anderen führt nirgendwohin. Der andere wird
am Leben erhalten, um die Anerkennung zu gewährleisten. So auferlegt der
Vater der Urhorde den Söhnen sein Gesetz und zwingt sie, ihn als Herrn an-
zuerkennen. Dies ist die zweite Phase der Dialektik von Herr und Knecht. Die
dritte Phase ist die Phase der Arbeit des Knechtes, wo er sich dank seiner Ar-
beit in der Welt widerspiegelt und in der Objektivität das Zeichen der eigenen
Subjektivität wiederfindet. Die Arbeit – als symbolische Produktion – bewahrt
vor dem Sado-Masochismus. Sie erlaubt, aus dem »schlechten Unendlichen«
des Konfliktes auszubrechen (“entweder verneine ich dich, oder du verneinst
mich«). Die Arbeit ist eine Form der Dialektik. Das Begehren findet hier sein
Prinzip, indem es sich einem Gesetz unterordnet. In diesem Sinne anerkennt
Lacan in der dritten Phase der Dialektik von Herr und Knecht den Ort des
Symbolischen, den Ort des ödipalen Gesetzes und der Metaphorisierung. Ein
Geniessen ohne Gesetz, wie es dem Herren eigen ist, ist zerstörerisch. Dies ist
Hegels Begierde*. Es ist notwendig, dem Geniessen eine Grenze zu setzen. Für
Hegel wie auch für Freud fällt diese Grenze mit der Arbeit zusammen. Hegel
definiert sie als »gehemmte Begierde« und als »aufgehobenes Verschwinden«.
Freud wird sie als Ort der Sublimation charakterisieren, als Aktivität der Meta-
phorisierung, die dem Begehren ein normatives Prinzip darbietet.
217
Alexandre Kojève ist neben Alexandre Koyré, Jean Hyppolite und Jean
Wahl einer der bedeutendsten Vertreter der französischen reniassance hégéli-
enne* der Zwanziger- und Dreissigerjahre. Von 1933 bis 1939 hält er an der
Ecole des Hautes Etudes seine berühmten Lektionen über Hegel. Vgl. A. KO-
JEVE, Hegel, Frankfurt: Suhrkamp 1988.
218
Vgl. J. LACAN, L’agressivité en psychanalyse, zit., S. 113.
219
J. LACAN, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: Schriften I,
zit., S. 64
220
J. LACAN, Schriften I, zit., S. 64
221
J. LACAN, Seminar II, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der
Psychoanalyse, Weinheim: Quadriga 1991, S. 67
222
Vgl. J.P. SARTRE, Die Transzendenz des Ich, Reinbeck: Rowohlt 1994. Das
ist für Sartre der unlösbare Widerspruch, der das thetisch-reflexive Bewusst-
sein umgibt. Insofern das Bewusstsein sich selbst als Objekt der Reflexion

253
setzt, verliert es sich notwendig in seiner Einheit; es teilt sich in ein reflektie-
rendes und ein reflektiertes Bewusstsein. Diese Entzweiung mündet in die
Unmöglichkeit, seiner selbst habhaft zu werden.
223
J. LACAN, Variantes de la cure-type, zit., S. 346
224
J. LACAN, Seminar II, zit., S. 68: »Die subjektive Hälfte vor der Erfahrung
des Spiegels, das ist der Lahme, der sich nicht allein fortbewegen kann, es sei
denn in unkoordinierter und ungeschickter Weise. Was ihn beherrscht, ist das
Bild des Ich, das blind ist und das ihn trägt. Entgegen dem Anschein, und das
ist das ganze Problem der Dialektik, ist es nicht, wie Platon glaubt, der Herr,
der das Pferd reitet, d.h. den Sklaven, sondern umgekehrt. Und der Lahme,
von dem aus sich diese Perspektive herstellt, kann sich mit seiner Einheit nur
in der Faszination identifizieren, in der fundamentalen Unbeweglichkeit,
durch welche er dem Blick entspricht, in dem er gefangen ist, dem blinden
Blick.«
225
Vgl. G.W.F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, zit., S. 23.
226
J. LACAN, Die Stellung des Unbewussten, in: Schriften II, zit., S. 219
227
Vgl. J. LACAN, Die Stellung des Unbewussten, in: Schriften II, zit., S. 218.
Dies ist, wenn man so will, Lacans Parrizid an Hegel. Wie J.A. Miller im Semi-
nar XI zur Sprache brachte, ist »die Entfremdung bei einem Subjekt, das seiner
Definition nach geboren ist in einem, konstituiert durch und ausgerichtet auf
ein Feld, das ihm äusserlich ist, radikal von der Entfremdung eines Selbstbe-
wusstseins unterschieden«. Vgl. Seminar XI, zit., S. 226.
228
J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 56
229
J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, zit., S. 189-90
230
J. LACAN, Die Stellung des Unbewussten, in: Schriften II, zit., S. 216
231
J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, zit., S. 1064
232
Vgl. J. LACAN, Le sinthôme, unveröffentlichtes Seminar, Sitzung vom 13.
April 1976.
233
J. LACAN, Le Séminaire VIII, Le transfert, Paris: Seuil 1991, S. 176
234
Vgl. J.P. SARTRE, L’universale singolare, in: L’universale singolare. Saggi fi-
losofici e politici dopo la »Critique«, Milano: Il Saggiatore 1969, S. 135-164.- Der
Text wurde ursprünglich abgedruckt in: Kierkegaard vivant, Paris: Gallimard
1966, und später ebenfalls in: J.P. SARTRE, Situations IX, Paris: Gallimard
1972. Ich bin leider gezwungen, aus der italienischen Übersetzung zu zitieren,
weil eine deutsche Übersetzung noch nicht existiert und das französische Ori-
ginal nicht aufzutreiben war. [A.d.Ü.]
235
J.P. SARTRE, L’universale singolare, zit. S. 144
236
J.P. SARTRE, L’universale singolare, zit., S. 145
237
J.P. SARTRE, L’universale singolare, zit., S. 142
238
Vgl. J.P. SARTRE, L’universale singolare, zit., S. 141.
239
J.P. SARTRE, L’universale singolare, zit., S. 163
240
J.P. SARTRE, L’universale singolare, zit., S. 163
241
J.P. SARTRE, L’universale singolare, zit., S. 155
242
J. LACAN, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud-
schen Unbewussten, in: Schriften II, zit., S. 175
243
Vgl. J.P. SARTRE, Cahiers pour une morale, Paris: Gallimard 1983, S. 33 u.
38.
244
Vgl. J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 35 ff. t
245
J. LACAN, Die Wissenschaft und die Wahrheit, in: Schriften II,fzit., ria.a
tu243
o@S.
© in
254
246
Vgl. J. LACAN, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psy-
choanalyse, zit., S. 98-99.
247
Vgl. J. LACAN, Das Spiegelbild als Bildner der Ichfunktion, in: Schriften I,
zit., S. 64.
248
J.A. MILLER, Cause e consentement (1987-88), unveröffentlichtes Seminar,
gehalten an der Abteilung für Psychoanalyse der Universität von Paris VIII.
Vgl. insbesondere die Sitzung vom 20.1.88.
249
Vgl. J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 289.
250
J. LACAN, Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose
vorausgeht, zit., S. 84
251
J. LACAN, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud-
schen Unbewussten, zit., S, 171
252
J. LACAN, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud-
schen Unbewussten, zit., S. 800
253
J. LACAN, Die Bedeutung des Phallus, zit., S. 127
254
J. LACAN, Seminar VII, zit., S. 33
255
M. HEIDEGGER, Brief über den Humanismus, in: Wegmarken, Frankfurt:
Klostermann 1996, S. 313 ff.
256
J.P. SARTRE, Ist der Existenzialismus ein Humanismus?, in: Drei Essays,
Frankfurt: Ullstein 1971, S. 16
257
Ich verweise hier auf den Beitrag von E. ROUDINESCO, Vibrant hommage
de Jacques Lacan à Martin Heidegger, der sich im Sammelband Lacan avec les
philosophes, Paris: Albin Michel 1991, befindet, insbesondere auf die Seiten
225-226, auf denen sich eine synthetische Rekonstruktion des kulturellen und
philosophischen Kontextes dieser Rezeption findet.
258
Vgl. J. LACAN, Le Séminaire. L’identification (unveröffentlicht). Was diesen
Punkt anbelangt, siehe auch P.A. ROVATTI, La posta in gioco, Mailand: Bom-
piani 1987, S. 53-55.
259
Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Der Spruch des Anaximander, in: Holzwege,
Frankfurt am Main: Klostermann 1963, S. 296 ff.
260
Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Holzwege, zit., S. 311.
261
Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, Tü-
bingen: Niemeyer 1988, S. 22.
262
Vgl. hierzu insbesondere GIANNI VATTIMO, Il soggetto e la maschera, Mai-
land: Bompiani 1974; Le avventure della differenza, Mailand: Laterza 1980
oder Al di là del soggetto, Mailand: Bompiani 1985, auf Deutsch erschienen als
Jenseits vom Subjekt, Wien: Passagen 1986.
263
MARTIN HEIDEGGER, Zur Sache des Denkens, zit., S. 22. Genau dies defi-
niert Vattimo auf seine Weise als die nihilistische »Berufung« der Hermeneutik.
Vgl. GIANNI VATTIMO, L’etica dell’interpretazione, Turin: Rosenberg & Sel-
lier 1989.
264
M. HEIDEGGER, Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, Stutt-
gart: Neske 1993, S. 196.
265
»Der Mensch spricht also, aber er tut es, weil das Symbol ihn zum Men-
schen gemacht hat.« (J. LACAN, Schriften I, zit., S. 117) Dasselbe widerhallt
auch in Heideggers Aussage, wonach »die Sprache spricht«. »Wir sprechen von
der Sprache im ständigen Anschein, nur über die Sprache zu sprechen,
während wir bereits aus der Sprache her, in ihr selbst, ihr Wesen, uns sagen
lassen.« (M. HEIDEGGER, Unterwegs zur Sprache, zit., S. 191)

255
266
Diese Behauptung findet sich in Lacans Einleitung zur deutschen Ausgabe
der Schriften, deren Inhalte er dann in einem Vortrag am Kongress der Ecole
Freudienne de Paris im November 1973 wieder aufgenommen hat. Dieser Vor-
trag ist abgedruckt in La psicoanalisi, n. 3., Roma: Astrolabio 1988.
267
J. LACAN, Schriften II, zit., S. 8
268
J. LACAN, Schriften II, S. 7
269
J. LACAN, Schriften I, S. 122
270
J. LACAN, Das Seminar über E.A. Poes »Der entwendete Brief«, in: Schriften I,
S. 20
271
Vgl. J. LACAN, Intervista, in: La Psicoanalisi, n. 10, Roma: Astrolabio 1991,
S. 12.
272
Dies ist der Punkt, auf den sich der gesamte letzte Teil der Freudschen
Theorie konzentriert, die in der Einführung des Todestriebes* in der zweiten
Topik und der daraus folgenden Behauptung eines »ursprünglichen« Maso-
chismus kulminiert.
273
Vgl. JACQUES LACAN, Le Séminaire XXII. R.S.I. (unveröffentlicht); Sitzung
vom 11. März 1975.
274
Es sei hier am Rande darauf hingewiesen, dass Lacan die Unterscheidung
dieser beiden Arten von Symptom durch eine unterschiedliche Schreibweise
kennzeichnete. Das symptome entspricht jenem Aspekt des Symptoms, das
sich auf ein Sinnproblem reduzieren lässt; das sinthome hingegen bezeichnet
jene reale Seite des Symptoms, an dem jede Interpretation notwendig schei-
tern muss. [A.d.Ü]
275
M. HEIDEGGER, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, Frankfurt 1963, S. 83
276
Lacan kommt auf das Schema L bei verschiedenen Gelegenheiten zu spre-
chen. Vgl. hierzu insbesondere Schriften I, zit., S. 53, Schriften II, zit., S. 81
und ebenfalls das Seminar II, zit., S. 142 und S. 310. [A.d.Ü.]
277
M. HEIDEGGER, Das Ding, in: Beiträge und Aufsätze, Stuttgart: Neske 1994,
S. 157 ff.
278
M. HEIDEGGER, Holzwege, zit., S 104
279
Vgl. J. LACAN, Seminar XI, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Wein-
heim: Quadriga 1987, S. 213-242.
280
J. LACAN, Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose
vorhergeht, in: Schriften II, zit., S. 84
281
Was ich hier Politik genannt habe, ist in Wirklichkeit eine mögliche Defini-
tion von »Diskurs«, wie ihn Lacan im Séminaire XVII. L’envers de la psychana-
lyse entwickelt. Eine Definition von Politik lässt sich bei Lacan grundsätzlich
von einer Logik der Diskurse und ihrer entsprechenden Strategien ableiten.
282
Vgl. J. LACAN, Intervento, in: La psicoanalisi, n. 3, zit., S. 24.
283
J. LACAN, Seminar VII, Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim: Quadriga
1996
284
S. FREUD, Triebe und Triebschicksale, in: Studienausgabe, Band III, zit., S.
86
285
Vgl. M HEIDEGGER, Zollikoner Seminare, Herausgegeben von Medard
Boss, Frankfurt: Klostermann 1994.
286
Vgl. J.P. SARTRE, Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls, in:
Die Transzendenz des Ego, Reinbeck: Rowohlt 1982.
ia.at
287
Vgl. M. HEIDEGGER, Nietzsche, 2 Bände, Pfullingen: Neske 1989. [A.d.Ü]
288
o@tur
J. LACAN, L’agressivité en psychanalyse, zit., S. 117 © inf
256
289
J. LACAN, Variantes de la cure-type, in: Ecrits, zit., S. 349
290
Auf diesen Sachverhalt stösst Freud, wo er in seiner »Kehre« der Zwanziger-
jahre auf die Annahme des Todestriebes* als das, was ins Subjekt eine Zu-
gehörigkeit zum Tod einschreibt, zurückgreift. Der Tod ist dem Leben imma-
nent.
291
Vgl. M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 250.
292
M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, zit., S. 250
293
Vgl. z.B. J.P. SARTRE, Das Sein und das Nichts, Reinbek: Rowohlt 1993, S.
753 ff.
294
Dieses Kapitel nimmt Ausgang von der Kontamnation eines Textes von Al-
thusser (Le courant souterrain du matérialisme de la rencontre) mit einem
Aufsatz von Lacan (Lituraterra). Beide Autoren benutzen darin die Metapher
des Regens, um sich der aletorischen, d.h. der vom Zufall abhängigen Di-
mension der Begegnung zu nähern.
295
Vgl. L. ALTHUSSER, Le courant souterrain du matérialisme de la rencontre,
in: Écrits philosophiques et politiques, Tome I, Paris: Stock/Imec, S. 539-576.
296
J. ALTHUSSER, Écrits philosophiques et politiques, zit., S. 539
297
»Un atome ›dévie‹ de sa chute à pic dans le vide, et, rompant de manière
quasi nulle le parallélisme sur un point, provoque une rencontre avec l’atome
voisin et de rencontre en rencontre un carambolage, et la naissance d’un
monde.« Vgl. L. ALTHUSSER, Écrits philosophiques et politiques, zit., S. 541.
298
L. ALTHUSSER, Écrits philosophiques et politiques, zit., S. 540
299
L. ALTHUSSER, Écrits philosophiques et politiques, zit., S. 542 ff. Darin be-
steht das Risiko, das Althusser, nicht zuletzt auch gemäss seiner Selbstkritik, in
seiner Konzeption der Struktur als »Prozess ohne Subjekt«, auf dem ja be-
kanntlich seine »strukturalistische« Rückkehr zu Marx (in Texten wie z.B. Das
Kapital lesen) gründet, geltend macht.
300
L. ALTHUSSER, Écrits philosophiques et politiques, zit., S. 541
301
J. LACAN, Seminar XI, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Wein-
heim: Quadriga 1987, S. 26-34 und S. 59-70.
302
J. LACAN, Seminar XI, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, zit., S. 28
303
J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 28
304
J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 31
305
J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 31
306
L. ALTHUSSER, Écrits philosophiques et politiques, zit., S. 566: »la nécéssité
comme le devenir-nécéssaire de la rencontre de contingents«.
307
J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 60
308
J. LACAN, Seminar XI, zit., S. 61
309
J. LACAN, Schriften I, zit., S. 95
310
J. LACAN, Schriften I, zit., S. 143
311
J. LACAN, Schriften I, zit., S. 89
312
Ich erlaube mir an dieser Stelle, auf einen Aufsatz von mir zu verweisen:
Fissazione e ripetizione. Per una rilettura die Tre saggi sulla teoria sessuale di
Sigmund Freud, in: Studi di psicoanalisi, Annali della Sezione Clinica di Mi-
lano, numero 1, Milano: La Vite felice 1999, S. 127-140.
313
Vgl. J. LACAN, Lituraterra, in: La Psicoanalisi, n.20, Roma: Astrolabio 1996,
S. 16.
314
Vgl. J. LACAN, Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psy-
chose vorausgeht, in: Schriften II, zit., S. 81

257
315
A. TAPIES, Erinnerungen, Fragment einer Autobiographie, Band I, St. Gal-
len: Erker 1988, S. 206.
316
Vgl. A. TÀPIES, Comunication sur le mur, in: La pratique de l’art, Paris: fo-
lio essais 1997, S. 210.
317
G. RAILLARD, La syllabe noire de Tàpies, Paris: André Dimanche Editeur
1994, S. 13
318
Vgl. M. HEIDEGGER, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, Frank-
furt: Klostermann 1963, S. 7-68.
319
A. TÀPIES, La tradition et ses ennemies dans l’art actuel, in: La pratique de
l’art, zit., S. 106
320
A. TÀPIES, Un art pour les riches?, in: La pratique de l’art, zit., S. 196
321
A. TÀPIES, Declarations, in: La pratique de l’art, zit., S. 76
322
A. TÀPIES, La vocation et la forme, in: La pratique de l’art, zit., S. 54, und
Un art pour les riches?, in: La pratique de l’art, S. 194-95
323
A. TÀPIES, Declarations, zit., S. 82
324
A. TÀPIES, Declarations, zit., S. 82. In diesem Sinne kann Tàpies schreiben,
dass im allgemeinen der Drang des künstlerischen Schaffens »das Begehren
nach einer anderen Seinsform« offenbart. Ebenda, S. 77.
325
A. TÀPIES, La vocation et la forme, zit., S. 62
326
A. TÀPIES, La vocation et la forme, zit., S. 61
327
A. TÀPIES, Erinnerungen, zit., Band II, S. 176
328
Dies ist die Hauptidee, die J.A. Millers Überlegungen zur abstrakten Kunst
in einem zeitgenössischen Rahmen leitet. Vgl. das unveröffentlichte Seminar
von J.A. MILLER, Silet, gehalten an der Abteilung für Psychoanalyse der Uni-
versität von Paris VIII (1994-95), insbesondere die Sitzung vom 12.7.95.
329
Cgl. G. PIANA, Lettura del Tractatus logico-philosophicus di Wittgenstein, Il
Saggiatore, Mailand 1979.
330
Bei Heidegger ist die Spannung zwischen Welt und Erde konstitutiv für das
Kunstwerk als solches. Wenn der Wert des Werkes als Welt sich im Vermögen
manifestiert, neue Bedeutungen hervorzubringen, so liegt der Wert des Wer-
kes als Erde in der materiellen Textur des Werkes im Sinne dessen, was dieser
neuen Sinnproduktion gleichsam als Unterlage dient.
331
Es ist kein Zufall, dass die Dimension der Mauer auch für das Werk von
Piero Manzoni zentral ist, v.a. in der Periode der »Achromes« (1957-63). Das
farblose Ding – eben das »Achrome« – drängt sich in Manzonis Werk als reines
Zurschaustellen des Seins des Werkes auf, das auf nichts anderes verweist als
auf die Textur, das es grundlegend und immanent konstituiert. Vgl zu diesen
Themen G. CELANT, Piero Manzoni, Milano: Prearo 1975.
332
A. TÀPIES, Comunication sur le mur, zit. S. 209
333
A. TÀPIES, Comunication sur le mur, zit., S. 210
334
A. TÀPIES, Comunication sur le mur, zit, S. 210
335
A. TÀPIES, Comunication sur le mur, zit., S. 212. Vgl. auch A. TÀPIES, Au-
tobiografia, zit., S. 233-34. Es lohnt sich vielleicht, an dieser Stelle darauf hin-
zuweisen, dass sich die beständige Präsenz des Fussabdruckes (eines Fusses
oder zweier Füsse) im Werk von Tàpies ebenfalls im Bereich einer wesentli-
chen Wiederholung des Buchstabens situiert: Gemäss der katalanischen Spra-
che bedeutet Ta-piès mitunter auch »Fuss« bzw. »Füsse«. Auch der Familienmy-
thos hinsichtlich der Geburt des kleinen Antonin, der gemäss der Erzählung
tur ia.at
o@
© inf
258
der Mutter mit den Füssen voran zur Welt gekommen ist, hängt mit der Macht
des Buchstabens zusammen.... Vgl. A. TÀPIES, Autobiografia, zit., S. 31.
336
J.A. MILLER, Le partner-symptom, unveröffentlichtes Seminar, gehalten an
der Abteilung für Psychoanalyse der Universität Paris VIII (1997-98), Sitzung
vom 29.4.98.
337
J.A. MILLER, Le partner-symptome, zit., Sitzung vom 29.4.98.
338
J.A. MILLER, Le partner-symptome, zit., Sitzung vom 6.5.98.
339
A. TÀPIES, Comunication sur le mur, zit., S. 212-13
340
Vgl. zu dieser »Alternative« zwischen dem Ende der Analyse als Durchque-
ren des Phantasmas bzw. als Identifikation mit dem Symptom und zu dieser je
verschiedenen Verknotung von Notwendigkeit und Kontingenz, die sich in in
den beiden Möglichkeiten ergibt, J.A. MILLER, Des semblants dans la relation
entre les sexes, in: La cause freudienne, n. 36, 1997, S. 7-16.
.at
o@turia
© inf
NACHWORT DES ÜBERSETZERS

Bei vielen der in diesem Buch enthaltenen Texte handelt es sich nicht
nur um deutsche Erstübersetzungen, sondern zugleich um Erstveröf-
fentlichungen in deutscher Sprache. Einige Beiträge sind bereits in
verschiedenen Sammelbänden, Büchern und Zeitschriften in Italien
erschienen, wurden aber für die deutsche Übersetzung vom Autor
neu überarbeitet, umgeschrieben und auf die anderen Kapitel, die ex-
klusiv für diesen Band geschrieben wurden, abgestimmt. Wie der Ti-
tel schon anzeigt (“Der Stein des Anstosses. Lacan und das Jenseits
des Lustprinzips”), wurden vom Autor Texte ausgewählt, die Lacans
“Rückkehr zu Freud” ausgehend von seiner “Kehre”, dem Seminar
VII über die Ethik der Psychoanalyse von 1950/60, dokumentieren
und diesen Weg selbst immer wieder neu beschreiten. Die Auswahl
erfolgte in Übereinstimmung mit dem Übersetzer, der dem Autor an
dieser Stelle für seine Hilfe bei Übersetzungsproblemen und für das
Zurverfügungstellen seiner umfangreichen Privatbibliothek möchte.

René Scheu

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