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Karin Meissner
Coburg University of Applied Sciences and Arts
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All content following this page was uploaded by Ernil Hansen on 07 November 2021.
„Worte sind das mächtigste Werkzeug, In dem geschilderten Open/hidden- punktur systematisch stärkere Wirkun-
über das ein Arzt verfügt.“ Paradigma stellt sich die Placebowirkung gen als Placebotabletten [25].
als Differenz zwischen dem reinen Medi-
So schreibt Bernard Lown in seinem kamenteneffekt (ohne Worte) und dem Noceboeffekte
bemerkenswerten Buch „Die verlorene kombinierten Effekt durch Pharmakon
Kunst des Heilens“ [23]. Doch wie im- und Kommunikation (mit Worten) dar. Betrachtet man das Wirkungs- und Ne-
mer in der Medizin gibt es zwei Seiten. Klassischerweise zeigt sich ein Placebo- benwirkungsprofil der drei Opioide in
Deshalb fährt er fort: „Worte können effekt nach der Gabe einer unwirksamen . Abb. 2, würden die meisten Ärzte wohl
allerdings – wie ein zweischneidiges Substanz in Arzneimittelzulassungsstu- das mittlere wählen: Bei guter analgeti-
Schwert – sowohl tief verletzen, als auch dien oder Placeboexperimenten. Je nach scher Wirkung sind die Nebenwirkungen
heilen.“ Eine Wirkung von Worten ist Wirksamkeit des Medikaments werden wie Übelkeit und Benommenheit ver-
die Erzeugung von Erwartungen, die 20–85 % der „Medikamentenwirkung“ gleichsweise gering. Es handelt sich aller-
die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten auch durch das Placebo erreicht [24]. dings um ein Placebo [1]. Dies zeigt, dass
dieser Erwartungen erhöht. Sie ist der So hatte eine als Schmerzmittel ange- der günstige Placeboeffekt nie allein zu
Hauptauslöser von positiven Placeboef- kündigte i. v.-Gabe von Kochsalzlösung bekommen ist, er wird immer vom nega-
fekten oder negativen Noceboeffekten dieselbe Wirkung wie die verdeckte Gabe tiven Bruder Nocebo begleitet. Regelmä-
[2, 12]. von 6 bis 8 mg Morphin [21]. Der anal- ßig steigen Patienten in der Placebogrup-
getische Placeboeffekt einer erwarteten pe aus Studien aus – wegen Nebenwir-
Placeboeffekte Schmerzlinderung nach entsprechenden kungen [16]. Placebos haben auch No-
Suggestionen geht mit angestiegenen En- cebowirkungen. Andererseits stammen
Wie wichtig unsere Worte bei der Be- dorphinspiegeln im Gehirn einher und in . Abb. 2 die gastrointestinalen Neben-
handlung von Patienten sind, macht fol- ist durch Naloxon blockierbar, das heißt, wirkungen von Oxycodon oder Tapenta-
gendes Beispiel deutlich (. Abb. 1): Nach er ist endorphinvermittelt [7]. Wir haben dol nur zum Teil von den Medikamenten
Gabe eines Schmerzmittels über eine In- Opiatrezeptoren nicht, weil es Opium selbst, zu etwa der Hälfte gehen sie auf die
fusion sinkt der Schmerz deutlich ab – gibt, sondern Opiate wirken, weil wir ein begleitende Ankündigung zurück. In den
wenn man es dem Patienten gesagt hat endogenes Endorphinsystem besitzen, klinischen Alltag übertragen führt das zu
(„open“, erwartet). Wenn das Schmerz- das unter anderem durch Vorstellungen der Erkenntnis, dass viele Nebenwirkun-
mittel von einem Infusomaten appliziert und Erwartungen aktiviert wird. Mit gen, unter denen Patienten zu leiden ha-
wird, ohne es anzukündigen („hidden“, Kommunikation und therapeutischen ben und die behandelt werden müssen,
unerwartet), ist die Wirkung ungleich ge- Ritualen imitieren wir nicht Arzneimit- gar nicht von einem Medikament oder
ringer [2]. telwirkungen, Medikamente nutzen in- einer Operation verursacht sind, sondern
Jede Behandlung sollte daher von nere Abläufe, die natürlicherweise durch von ihrer Darreichung, von uns Ärzten
Worten angekündigt und begleitet wer- soziale Signale und Kommunikation in also [31]. Wenn wir verantwortlich da-
den, die den erwarteten Nutzen beschrei- Gang gesetzt werden. für sind, können wir daran auch etwas
ben. Nur dann kann ein Medikament Placeboeffekte sind nicht auf medi- ändern.
oder eine andere Behandlung die volle kamentöse Behandlungen beschränkt. Auch Noceboeffekte sind nicht auf
Wirkung entfalten. Diese Wirkung von Auch Scheinoperationen oder andere medikamentöse Behandlungen be-
in der Zukunft Erwartetem oder in der Interventionen generieren starke Place- schränkt. In einer Studie an 50 Pati-
Vergangenheit Gelerntem (Konditio- boeffekte [17]. In einer systematischen enten mit chronischem Rückenschmerz
nierung) ist als Placeboeffekt bekannt Übersicht zur Migräneprophylaxe zeig- erhielt vor einem Beinbeugetest eine
[2]. ten Scheinoperationen und Scheinaku- Gruppe die Information, dass der Test
zu einer leichten Schmerzzunahme füh-
K
Arzneimitteltherapie
4
mit Worten
Schmerzstärke (NRS)
ohne Worte
2
Metamizol i.v.
1
0
−1 0 1 2 3 4 Zeit (h)
Abb. 1 8 Schmerzreduktion nach erwarteter oder unerwarteter i.v.-Gabe Abb. 2 8 Wirksamkeit und Nebenwirkungen dreier starker Analgetika.
von Metamizol. NRS Numerische Rating-Skala. (Adaptiert nach [2]) Links ist die analgetische Wirkung als Anteil der Patienten mit einer Reduk-
tion des Schmerzniveaus auf unter 30 % gezeigt, daneben der Anteil der Pa-
tienten mit gastrointestinalen (Übelkeit, Obstipation) und neurologischen
Nebenwirkungen (Benommenheit, Kopfschmerz). NW Nebenwirkungen;
Oxy Oxycodon; Tap Tapentadol; X Placebo. (Adaptiert nach [1]; Abbildung
aus Der Anaesthesist 2014; 63:816)
ren könne, die andere Gruppe, dass der wie Rötung, Schwellung und Schmerz der Erwartung und dem Auftreten von
Test keinen Einfluss auf die Schmerzen sind die Leukozyten und ihre Zytokine, Übelkeit nach Chemotherapie [6].
habe. Die Gruppe mit der negativen deren Aktivierung auch psychoneu-
Information gab stärkere Schmerzen
während des Tests an und führte weni-
roimmunologisch erfolgen kann. Dass
Noceboeffekte nicht nur das Wohlbefin- »interferiert
Der Noceboeffekt
auch mit der
ger Beinbeugungen durch [26]. den ein bisschen einschränken, sondern
richtig gefährlich sein können, zeigt ein Medikamentenwirkung
»Nocebowirkung
Die Symptome durch
sind keine
Fallbericht über einen Suizidversuch
mit 29 Tabletten eines Antidepressi- Der Noceboeffekt generiert aber nicht
vums. Nach der Stabilisierung des stark nur Nebenwirkungen, er interferiert
eingebildeten Symptome beeinträchtigten Patienten stellte sich auch mit der Medikamentenwirkung und
heraus, dass er an die Tabletten im Rah- kann so die Wirksamkeit einschränken
Die Symptome durch Nocebowirkung men einer Studie gekommen war, deren oder ins Gegenteil verkehren [31]. Die
sind keine eingebildeten Symptome, Entblindung ihn in der Placebogruppe schmerzstillende Wirkung von Opia-
sondern genauso echt. Nach Lumbal- identifizierte [16]. ten konnte durch die Ankündigung, es
punktion entwickelte die Hälfte der Pa- Jedes Symptom kann durch ein handle sich um den Opiatantagonis-
tienten Kopfschmerzen, wenn sie über falsches Sprechen darüber auch ausgelöst ten Naloxon, aufgehoben werden [3].
diese Nebenwirkung aufgeklärt waren, oder verstärkt werden. In Untersuchun- Zahnärzte, die Lachgas als Mittel ankün-
dagegen nur jeder Zehnte, wenn nicht gen über das Auftreten einer sexuellen digten, das „die Körperempfindlichkeit“
darüber gesprochen worden war [8]. Dysfunktion nach Gabe von Betarezep- erhöht, machten den analgetischen Ef-
Bei Studien über Nebenwirkungen von torblockern wurden Erektionsstörungen fekt zunichte. Nach Ankündigung als
Mobiltelefonen traten bei zwei Dritteln bei 3 bzw. 8 % der Männer gefunden stimulierendes Medikament stieg nach
der Probanden Kopfschmerzen auf, be- – wenn man ihnen gesagt hatte: „Hier Gabe eines Muskelrelaxans nicht nur
vor überhaupt die Geräte eingeschaltet bekommen Sie ein Medikament für Ihr die empfundene Anspannung an statt
waren [30]. Bei derartigem erwartungs- Herz.“ Nach der Ankündigung „Hier abzusinken, auch die erreichten Plasma-
bedingtem Kopfschmerz sind dieselben bekommen sie einen Betablocker.“ wa- spiegel waren niedriger als bei korrekter
Hirnareale aktiv wie bei „echtem“ Kopf- ren es 16 bzw. 13 %. Wenn hinzugefügt Ankündigung als Muskelrelaxans [11].
schmerz [20]. Unser Hirn kann die wurde: „. . . der könnte als seltene Neben- Noceboeffekte haben neben der spe-
beiden Ursachen nicht unterscheiden. wirkung Erektionsstörungen zur Folge zifischen Auswirkung, dass nämlich die
In der Endstrecke ist eine Entzündung haben“, waren es 31 bzw. 32 %, zehnmal Erwartung eines bestimmten Symptoms
identisch, egal ob sie durch Bakterien so viele, allein abhängig von der Art der dieses auch hervorruft, auch generalisier-
in einer Wunde oder durch eine Er- Ankündigung [5, 29]. Eine systemati- te Wirkungen. Dabei entstehen durch
wartungshaltung ausgelöst wurde. Ver- sche Übersichtsarbeit mit Metaanalyse die negative Erwartungshaltung Angst,
antwortlich für Entzündungssymptome fand eine robuste Assoziation zwischen Stress und eine pessimistische Einstel-
lung, die die Gesundheit insgesamt be- Anwendung von Placebos kamente, die bei dieser Indikation keine
einträchtigen [31]. Die Erwartungen be- spezifische Wirksamkeit haben, wie An-
stimmen nach Herzchirurgie das Aus- Nach aktuellen Erhebungen ist die klini- tibiotika bei Viruserkrankungen, Vitami-
maß der Behinderung, die Lebensqua- sche Anwendung von Placebos bei nie- ne oder homöopathische Mittel [22]. Als
lität und das Auftreten von Depressio- dergelassenen Ärzten im Gegensatz zu Grund wird angegeben, einen psycholo-
nen [18]. Die Prognose nach Herzin- Klinikärzten sehr verbreitet: 88 % der All- gischen Effekt erreichen zu wollen oder
farkt hängt stark von den Erwartungen gemeinärzte in Deutschland setzen sie auf Drängen einem Patienten eine Be-
ab [28]. Eine negative Erwartungshaltung ein. Nur 46 % der Allgemeinärzte und handlung anbieten zu können. Ein weite-
kann zudem zu einer Vermeidungshal- 24 % der Internisten verwenden dabei rer Grund sind „schwierige Situationen“.
tung führen, durch die eventuell eine not- „echte“ Placebos, das heißt unwirksa- Die Bundesärztekammer weist in der
wendige Behandlung verzögert oder gar me Substanzen wie NaCl-Lösung oder Stellungnahme „Placebos in der Medi-
verweigert wird [32]. zuckerhaltige Kapseln, 65 % der Allge- zin“ auf eine ethische und rechtliche Pro-
meinärzte und 45 % der Internisten dage- blematik hin: die grundsätzliche Pflicht,
gen „unechte“ Placebos, das heißt Medi- wenn verfügbar, eine wirksame Thera-
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Arzneimitteltherapie