Sie sind auf Seite 1von 11

Übersichtsarbeit · Review Article

Verhaltenstherapie Verhaltenstherapie 2003;13:264–274

Achtsamkeit («Mindfulness») als Therapieprinzip


in Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin
T. Heidenreicha J. Michalakb
a Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main,
b Arbeitseinheit für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Ruhr-Universität Bochum, Deutschland

Schlüsselwörter Key Words


Achtsamkeit ⋅ Kognitive Verhaltenstherapie ⋅ Mindfulness ⋅ Cognitive behaviour therapy ⋅
Stressverarbeitung Stress management

Zusammenfassung Summary
Unter Achtsamkeit («Mindfulness») wird eine besondere Mindfulness as a Treatment Principle in Behaviour
Form der Aufmerksamkeitslenkung verstanden: Den ak- Therapy
tuellen Erlebnisinhalten wird bewusst, im augenblick- ‘Mindfulness’ is defined as paying attention in a certain
lichen Moment und nicht wertend Aufmerksamkeit ge- way: on purpose, in the present moment and non-judge-
schenkt. Historisch wurden Achtsamkeitsübungen in der mentally. Historically, mindfulness practice was devel-
buddhistischen Meditationspraxis entwickelt. Achtsam- oped in Buddhist meditation practice. In the last two
keitsbasierte Elemente wurden im Laufe der letzten bei- decades, mindfulness-based elements were integrated
den Jahrzehnte verstärkt in verhaltenstherapeutische Be- into cognitive-behavioural treatment. In the present arti-
handlungsansätze integriert. Die vorliegende Arbeit stellt cle, mindfulness as a therapeutic principle is presented
das Prinzip der Achtsamkeit vor und zeigt Parallelen und and parallels and differences between cognitive-behav-
Unterschiede zwischen verhaltenstherapeutischen Be- ioural treatment approaches and mindfulness are out-
handlungsansätzen und Prinzipien der Achtsamkeit auf. lined. Several approaches of cognitive behaviour therapy
Verschiedene verhaltenstherapeutische bzw. verhaltens- and behaviour medicine that incorporate mindfulness-
medizinische Ansätze, die achtsamkeitsbasierte Elemen- based elements are discussed. These approaches include
te beinhalten, werden kurz beschrieben. Neben J. Kabat- ‘mindfulness-based stress reduction’ according to J.
Zinns Ansatz der «achtsamkeitsbasierten Stressreduk- Kabat-Zinn, ‘mindfulness-based cognitive therapy for de-
tion» werden die «achtsamkeitsbasierte kognitive Thera- pression’ according to Segal, M. Williams and J. Teas-
pie» zur Rückfallprophylaxe bei Depression von Z. Segal, dale, ‘dialectical behaviour therapy for borderline per-
M. Williams und J. Teasdale, die «dialektische Therapie sonality disorder’ according to M. Linehan as well as the
der Borderlinestörung» von M. Linehan sowie erste use of mindfulness-based elements in the treatment of
Ansätze zum Einsatz achtsamkeitsbasierter Elemente in substance abuse according to A. Marlatt. Empirical work
der Therapie der Substanzabhängigkeit von A. Marlatt supporting the efficacy of these approaches is reviewed.
vorgestellt. Der aktuelle Stand der empirischen Überprü- The article concludes with a discussion of further re-
fung dieser Ansätze wird diskutiert und ein Überblick zu search implications.
weiteren Forschungsfragen gegeben.

© 2003 S. Karger GmbH, Freiburg Dr. Thomas Heidenreich, Dipl.-Psych.


Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Fax +49 761 4 52 07 14 Accessible online at: Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II
E-mail Information@Karger.de www.karger.com/ver Heinrich-Hoffmann-Straße 10, D-60528 Frankfurt/M.
www.karger.com Tel. +49 69 6301-5005, Fax -5936
E-mail Heidenreich@em.uni-frankfurt.de
Einführung Achtsamkeitspraxis ist es, das Bewusstsein wieder in den
gegenwärtigen Augenblick zu holen und mit der aktuellen Tä-
Sei immer achtsam, wenn Du einatmest, und achtsam, wenn Du tigkeit in Übereinstimmung zu bringen (also beim Autofah-
ausatmest. Wenn Du tief einatmest, dann wisse «ich atme tief ren «nur» Auto zu fahren, d.h. den aktuellen Augenblick be-
ein», und wenn Du tief ausatmest, dann wisse «ich atme tief wusst wahrzunehmen, z.B. Körperhaltung, Geräusche, Emp-
aus». Wenn Du kurz einatmest, dann wisse «ich atme kurz ein», findungen). Absichtsvoll ist diese Haltung, weil Übende sich
und wenn Du kurz ausatmest, dann wisse «ich atme kurz aus». bewusst das Ziel setzen, diese Achtsamkeit möglichst in allen
Sutra des Bewußten Atmens, zit. nach Thich Nhat Hanh [2002] Lebenssituationen (angenehmen wie unangenehm scheinen-
den!) aufrechtzuerhalten, was angesichts der menschlichen
Die Entwicklung von Achtsamkeit ist ein zentrales Anliegen Neigung zu Selbstvergessenheit und gedanklichem Abschwei-
unterschiedlicher Meditationsansätze. Achtsamkeitsbasierte fen viel Geduld und beständiges Sich-wieder-Besinnen erfor-
Prinzipien werden in den letzten Jahren auch zunehmend in dert. Nicht wertend ist die Haltung, weil die auftretenden Be-
der Psychotherapie eingesetzt. Bereits frühe Studien belegen wusstseinsinhalte nicht kategorisiert (positiv oder negativ, an-
die Wirksamkeit von Meditation bei psychischen Störungen: genehm oder unangenehm), sondern einfach bewusst wahrge-
In ihrer Metaanalyse zur Wirksamkeit von Psychotherapie be- nommen werden sollen. Diese nicht wertende Haltung bezieht
richten Grawe et al. [1994] über insgesamt 15 Therapiestu- sich auch auf die Tendenz des Bewertens an sich (d.h. auch
dien, die Meditation als psychotherapeutisches Prinzip unter- der unvermeidliche Akt des Bewertens soll nicht bewertet
suchten (unter anderem bei der Behandlung von Angst- und werden).
Spannungszuständen, Schlafstörungen und Substanzabhängig- Eine zentrale Annahme achtsamkeitsbasierter Ansätze ist,
keit). Insgesamt war die methodische Qualität dieser Studien dass der Autopilotenmodus flexibles und situativ angemesse-
eher überdurchschnittlich und die Wirksamkeit meditativer nes Handeln erschwert, da er automatisierte und starre Verar-
Ansätze insbesondere im Hinblick auf die in der Regel kurze beitungs- und Reaktionsmuster begünstigt. In der Theorie
Interventionsdauer von ca. 10 Wochen/Sitzungen überra- wird (fehlende) Achtsamkeit in Verbindung gebracht mit un-
schend hoch. Die kleine Zahl dieser Therapiestudien belegt, günstigen Prozessen wie Rumination [Segal et al., 2002], «ex-
dass sich diese Ansätze eher am Rande des psychotherapeuti- periential avoidance» [Bach und Hayes, 2002; Hayes et al.,
schen Mainstream bewegten. In jüngster Zeit werden acht- 1999], ungünstigen metakognitiven Prozessen [Teasdale et al.,
samkeitsbasierte Verfahren zunehmend in verhaltensthera- 2002], einer Tendenz zur Aktivierung übergeneralisierter
peutische bzw. -medizinische Ansätze integriert und auf brei- autobiographischer Gedächtnisinhalte [Williams et al., 2000]
ter internationaler Ebene rezipiert. In der vorliegenden Ar- sowie einer reduzierten Habituation an unangenehme Stimuli
beit sollen diese neuen Entwicklungen dargestellt werden. [Breslin et al., 2002].
Zunächst wird das Prinzip der Achtsamkeit erläutert. Danach Bei der Achtsamkeitsmeditation lassen sich «formelle» und
werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu etablierten «informelle» Übungen unterscheiden [Kabat-Zinn, 1990;
verhaltenstherapeutischen Interventionen und Prinzipien dis- 1994]. Erstere bezeichnen Übungen der Achtsamkeit in allen
kutiert. Im Anschluss daran werden die wichtigsten Therapie- Körperpositionen (Sitzen, Gehen, Stehen, Liegen): Die Acht-
ansätze, die achtsamkeitsbasierte Elemente enthalten, vorge- samkeit wird jeweils auf das Erleben in der aktuellen Situa-
stellt. Abschließend werden eine kritische Einschätzung des tion gelegt. So sitzen Teilnehmer bei der in unterschiedlichen
aktuellen Forschungsstandes vorgenommen und Empfehlun- Ansätzen sehr wichtigen Atemmeditation aufrecht auf einem
gen für weitere wissenschaftliche Untersuchungen gegeben. Stuhl oder mit gekreuzten Beinen auf einem Sitzkissen am
Boden und versuchen so gut wie möglich, ihre Achtsamkeit
auf die Empfindungen beim Atmen zu richten. Schweift die
Das Prinzip der Achtsamkeit Aufmerksamkeit zu Gedanken, Emotionen oder Körperemp-
findungen ab (was unweigerlich auch geübten Praktizierenden
Kabat-Zinn [1990] charakterisiert Achtsamkeit als eine spezi- passiert), wird dies bewusst zur Kenntnis genommen und der
fische Form der Aufmerksamkeitslenkung: ‘present moment, Fokus der Achtsamkeit sanft zum Atem zurückgeführt. Wich-
on purpose and non-judgemental’. Unter Aufmerksamkeits- tig ist, immer wieder zu den Empfindungen des Atems zu-
lenkung auf den aktuellen Moment ist zu verstehen, im Kon- rückzukehren und dabei weiterhin akzeptierend und mitfüh-
takt mit dem gegenwärtigen Augenblick zu sein und nicht in lend mit sich umzugehen. Das Ziel besteht nicht darin, Atem,
Erinnerungen oder Zukunftsplanungen bzw. -grübeleien ge- Gedanken oder andere Bewusstseinsinhalte zu verändern
fangen zu sein. Es ist eine alltägliche Erfahrung, dass unser oder zu kontrollieren, sondern sich zu erlauben, im gegenwär-
Bewusstsein während einer bestimmten Handlung mit völlig tigen Augenblick zu sein und nur das Vorhandene bewusst
anderen Inhalten beschäftigt ist (z.B. bei der Fahrt zur Arbeit: wahrzunehmen. Segal et al. [2002] bezeichnen diese Haltung
«Heute kommt zuerst das Telefonat mit Y, dann die Dienstbe- als «being mode» im Gegensatz zum sonst meist vorhandenen
sprechung und schließlich …»). Kabat-Zinn [1990] spricht in «doing mode». Eine Einführung zur Achtsamkeit findet sich
diesem Zusammenhang vom «Autopilotenmodus». Ziel der bei Hanh [2002].

Achtsamkeit in der Verhaltenstherapie Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 265


Unter «informeller» Übung der Achtsamkeit wird verstanden, Möglichst umfassende Wahrnehmung der Gegenwart
im Alltag die Dinge, die gerade getan werden, mit voller Be- Eine achtsame Haltung ist dadurch gekennzeichnet, möglichst
wusstheit zu tun [Kabat-Zinn, 1994]. Dies kann Alltagshand- offen gegenüber allen Erfahrungen des gegenwärtigen Augen-
lungen wie Abwaschen, Putzen, Treppensteigen, aber auch blicks zu sein (neben Gedanken, Gefühlen und Körperemp-
Arbeit oder Hobbys betreffen (d.h. beim Abwaschen «nur» findungen können hierzu auch Erinnerungen zählen). Sowohl
abzuwaschen und nicht an die Tasse Tee danach zu denken). angenehme als auch unangenehme Empfindungen sollen
Kabat-Zinn [1994] gibt eine sehr gut lesbare Übersicht zu mög- achtsam betrachtet werden, ohne sie verstärken oder festhal-
lichen Anwendungsfeldern informeller Achtsamkeitspraxis. ten bzw. vermeiden oder wegdrängen zu wollen. Parallelen
hierzu lassen sich besonders im Bereich der Behandlung von
Angststörungen finden. Bei der für viele Angststörungen als
Achtsamkeit und klassische Verhaltenstherapie Mittel der Wahl zu bezeichnenden in-vivo Reizkonfrontation
[Ruhmland und Margraf, 2001a,b,c] sollen die Patienten wäh-
Obwohl zwischen klassischen verhaltenstherapeutischen An- rend der Exposition mit der angstbesetzten Situation sowohl
sätzen und achtsamkeitsbasierten Prinzipien, die aus einer die Angst auslösenden äußeren Situationsmerkmale als auch
meditativen Tradition entwickelt wurden, zunächst deutliche Aspekte des inneren Erlebens (Befürchtungen, körperliche
Unterschiede zu bestehen scheinen, lassen sich dennoch auch Reaktionen) wahrnehmen, ohne sie zu vermeiden oder die
eine Reihe von Gemeinsamkeiten finden. Im Folgenden wer- Angst «deckeln» und unterdrücken zu wollen. Demgegenüber
den einzelne grundlegende Prinzipien achtsamkeitsbasierter kann eine kognitive Vermeidung (d.h. ein Abziehen der Auf-
Ansätze [siehe Kabat-Zinn, 1990] sowie Parallelen und Unter- merksamkeit von besonders Angst auslösenden Situations-
schiede zu verhaltenstherapeutischen Interventionen darge- oder Erlebnisaspekten) der Veränderung der Angst auslösen-
stellt. den Prozesse und Strukturen entgegenwirken und die Effekti-
vität der Expositionsbehandlung erheblich reduzieren [Foa
und Kozak, 1986; Fiegenbaum und Tuschen, 2000].
Willentlich gelenkte Aufmerksamkeit Auch über den Bereich der Angststörungen hinaus wird die
Achtsamkeitsbasierte Ansätze betonen die Notwendigkeit, Unterdrückung und Vermeidung unerwünschter Erfahrungen
den Autopilotenmodus zu durchbrechen, der durch ein unre- und Gedanken in den letzten Jahren zunehmend als bedeut-
flektiertes Verfangensein in automatisierten Verhaltens- und sam für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer
Erlebnismustern gekennzeichnet ist. Stattdessen soll die Auf- Störungen diskutiert. Dies gilt für unterschiedliche Störungen
merksamkeit gezielt auf die im Hier und Jetzt ablaufenden wie Depression [z.B. Beevers et al., 1999], Schlafstörungen
Erfahrungen gelenkt werden. Vergleichbar hiermit wird auch [Wegner et al., 1997] oder posttraumatische Belastungsstö-
in klassischen verhaltenstherapeutischen Interventionen ver- rung [Ehlers et al., 1998]. Besonders betonen Hayes et al.
sucht, eine Deautomatisierung ungünstiger Verhaltens- und [1996] die grundsätzliche ätiologische Bedeutung, die der Ver-
Erlebnisgewohnheiten zu erreichen. Dies wird bereits in der meidung von Erfahrungsaspekten (experiential avoidance)
Anfangsphase der Therapie durch die im Rahmen einer Pro- bei unterschiedlichen Verhaltensstörungen zukommen kann.
blemanalyse [z.B. Bartling et al., 1987; Schulte, 1996] ablau-
fende genaue Beschreibung des Problemverhaltens ange-
strebt. Patienten werden dabei dazu angehalten, in der kon- Sich nicht mit seinen Gedanken und Gefühlen identifizieren
kreten problematischen Situation ihr Erleben und Verhalten Im Rahmen achtsamkeitsbasierter Ansätze wird der gegen-
auf unterschiedlichen Ebenen (kognitiv, emotional, physiolo- wärtige Augenblick umfassend wahrgenommen. Gleichzeitig
gisch, motorisch) aufmerksam zu beobachten und mit Hilfe wird betont, dass sich der Achtsamkeit Übende nicht mit der
von Tagebuchaufzeichnungen zu notieren. Neben dem Infor- Situation identifizieren soll. Situationen, Gedanken, Gefühle
mationsgewinn für die weitere Therapieplanung dürfte eine und Körperempfindungen sollen als vorübergehende mentale
solche kontrollierte Informationsverarbeitung bereits durch Ereignisse achtsam wahrgenommen werden. Teasdale et al.
ihre deautomatisierende Funktion therapeutische Effekte [2002] bezeichnen diese Haltung als «decentering» oder «dis-
haben [Kanfer et al., 2000]. Darüber hinaus betonen Kanfer et identification». Gerade in kognitiven Ansätzen lassen sich
al. als wichtiges Prinzip ihres Selbstmanagement-Ansatzes, hierzu deutliche Parallelen finden. So wird in der kognitiven
dass Therapeuten ihre Patienten unterstützen sollen, patholo- Therapie der Depression nach Beck [1979] betont, dass Ge-
gische Automatismen durch kontrollierte Verarbeitungsme- danken nicht automatisch als Abbilder der Realität angese-
chanismen zu verändern. Eine gezielte Aufmerksamkeitsaus- hen, sondern hinsichtlich ihrer empirischen und hedonisti-
richtung ist nicht nur für die Selbstbeobachtung von ungünsti- schen Eigenschaften überprüft werden sollten. Teasdale et al.
gen Verhaltensweisen notwendig, sondern auch für die weite- [2002] weisen darauf hin, dass die Wirkung der klassischen
ren Veränderungsphasen in der Therapie zentral (z.B. beim kognitiven Therapie bei Depressionen möglicherweise weni-
Aufbau neuer und erweiterter Verhaltensspielräume oder bei ger auf der Veränderung dysfunktionaler Kognitionen beruht
der Evaluation der erreichten Veränderungen). als auf einer grundsätzlichen Veränderung der Haltung gegen-

266 Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 Heidenreich/Michalak


über Gedanken und Gefühlen, die die Autoren als «metacog- ditation keine Entspannungsmethode im engeren Sinne, denn
nitive awareness» bezeichnen. Diese Haltung ist dadurch ge- die Übenden sollen die aktuellen Empfindungen deutlich
kennzeichnet, dass Gedanken nicht als Aspekte des Selbst, wahrnehmen – auch wenn es sich dabei eher um Unruhe oder
sondern als mentale Ereignisse erfahren werden. andere unerwünschte Wahrnehmungen handelt. Das Prinzip
Explizit werden auch im kognitiven Modell der Zwangsstörung Achtsamkeit ist also dem Prinzip Entspannung gleichsam
von Salkovskis [1989] die negativen Auswirkungen einer Iden- übergeordnet. Dennoch sind einige Aspekte (Fokussierung
tifikation mit (Zwangs-)Gedanken ausgeführt. Demnach be- auf das körperliche Erleben, Rückzug von der sozialen Um-
kommen Zwangsgedanken ihre Angst bzw. «discomfort» auslö- welt für die Dauer der Übungen, Notwendigkeit regelmäßi-
sende Funktion durch eine spezifische Bedeutungszuschrei- ger Übung, Akzeptanz) durchaus vergleichbar.
bung. Werden die potenziellen Zwangsgedanken (z.B. «Ich
könnte meinen Mann mit einem Messer erstechen») nicht als
harmlose mentale Ereignisse, sondern als bedrohlich interpre- Euthyme Therapie
tiert («Wenn ich mich nicht kontrolliere, kann das wirklich ge- Starke Parallelen bestehen zwischen achtsamkeitsbasierten
schehen»; so genannte «thought-action-fusion»), so lösen sie Ansätzen und den im deutschen Sprachraum entwickelten eu-
Angst und Handlungsdruck aus (z.B. Bemühungen, den Ge- thymen Ansätzen [vgl. z.B. Lutz, 2000]: In der «kleinen Schule
danken zu unterdrücken, Entfernen der Messer aus der des Genießens» werden beispielsweise Genussregeln vorge-
Küche). Ziel der Therapie ist es, diese Bedeutungszuschreibung stellt, die unmittelbar mit den Prinzipien der Achtsamkeit
zu verändern, so dass der Zwangsgedanke dasselbe Gewicht korrespondieren («Genuss braucht Zeit», «Genuss geht nicht
wie der Gedanke «Das Gras ist grün» erhält [siehe Lakatos und nebenbei», «Ohne Erfahrung kein Genuss»). Auf der Ebene
Reinecker, 1999] und als ein lediglich mentales Ereignis wahr- einzelner Interventionen finden sich starke Ähnlichkeiten,
genommen werden kann. Im Unterschied zum kognitiven Vor- etwa zwischen der von Kabat-Zinn [1990] beschriebenen Ro-
gehen wird in achtsamkeitsbasierten Ansätzen eine «Disidenti- sinenübung und Essen mit Genuss im Rahmen des Genuss-
fication»-Haltung aber nicht nur gegenüber dysfunktionalen trainings. Im Gegensatz zum Genusstraining werden in acht-
Gedanken eingenommen, sondern gegenüber Gedanken und samkeitsbasierten Ansätzen jedoch nicht nur angenehme, son-
Erfahrungen insgesamt (positiven wie negativen). dern auch unangenehme und neutrale Erlebnisinhalte acht-
Ein weiteres bedeutsames Prinzip achtsamkeitsbasierter Ansät- sam wahrgenommen. Ziel ist es also nicht, das Angenehme
ze ist mit der beschriebenen Haltung gegenüber Gedanken und kurzfristig zu verstärken, sondern eine stärkere Freiheit von
Gefühlen eng verbunden: Gedanken und Gefühle müssen nicht Bewertungsprozessen zu erlangen.
unmittelbar handlungsleitend sein. Ich sollte mein Handeln da-
nach ausrichten, was gut und heilsam für mich und meine Um-
gebung ist, und mich von gegenwärtigen Gedanken und Gefüh- Unterschiede zwischen achtsamkeitsbasierten Ansätzen und
len nicht in meiner Handlungsfreiheit beeinträchtigen lassen. klassischer Verhaltenstherapie
Auch hierzu lassen sich verhaltenstherapeutische Parallelen fin- Neben den aufgeführten Gemeinsamkeiten gibt es allerdings
den. Beispielsweise wird beim Aufbau angenehmer Aktivitäten auch einige grundsätzliche Unterschiede und unterschiedliche
im Rahmen der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behand- Schwerpunktsetzungen zwischen achtsamkeitsbasierten An-
lung von Depressionen [Hautzinger et al., 2000] betont, dass es sätzen und klassischer Verhaltenstherapie. Achtsamkeitsba-
durchaus günstig sein kann, Aktivitäten auszuführen, auch sierte Ansätze sind als Erweiterungen klassischer verhaltens-
wenn sich der betreffende Patient nicht danach fühlt. Gleich- therapeutischer Ansätze zu verstehen. Sie sollen verhaltens-
zeitig wird er dazu angehalten, die Auswirkungen seiner Akti- therapeutische Programme mit nachgewiesener Wirksamkeit
vitäten zu beobachten und damit zu vergleichen, wie er sich ge- nicht grundsätzlich ersetzen. Ein zentraler Aspekt ist dabei si-
fühlt hätte, wenn er die Aktivität nicht ausgeführt hätte. cherlich die Dialektik zwischen Veränderung und Akzeptanz.
Während der Schwerpunkt verhaltenstherapeutischer Inter-
ventionen lange Zeit fast ausschließlich auf Veränderung (von
Entspannung Verhalten, Kognitionen, körperlichen Symptomen) lag, wird
Eine weitere Parallele zwischen Achtsamkeitsmeditation und in achtsamkeitsbasierten Ansätzen verstärkt das Prinzip der
verhaltenstherapeutischem Vorgehen lässt sich bei der Durch- Akzeptanz betont. Sowohl Hayes et al. [1999] als auch Line-
führung von Entspannungsverfahren ziehen: Diese werden in han [1994] weisen auf die Notwendigkeit hin, zwischen Din-
der Verhaltenstherapie bei einer Reihe von Störungen einge- gen zu unterscheiden, die verändert werden können und sol-
setzt [z.B. Störungen mit körperlichen Beschwerden; Rief und len (z.B. belastende Lebenssituationen), und Dingen, die ak-
Hiller, 1998]. Entspannungsverfahren ziehen die Aufmerk- zeptiert werden sollten (in der Regel innere Abläufe wie Ge-
samkeit von der Außenwelt ab und lenken sie auf innere Ab- danken und Gefühle). So ist die Entwicklung von Akzeptanz
läufe (z.B. An- und Entspannung der Muskeln bei der pro- ein grundlegendes Therapieprinzip achtsamkeitsbasierter An-
gressiven Muskelentspannung). Auch wenn Entspannung ein sätze und zeigt sich auch deutlich in der konkreten Ausgestal-
wichtiges Element bei der Meditation ist, ist Achtsamkeitsme- tung der Übungen. In der achtsamkeitsbasierten kognitiven

Achtsamkeit in der Verhaltenstherapie Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 267


Therapie zur Rückfallprophylaxe bei Depression [Segal et al. Achtsamkeitsbezogene Interventionen
2002; siehe unten] werden dysfunktionale Kognitionen bei- in der Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin
spielsweise nicht mehr gezielt verändert, sondern eine achtsa-
me und akzeptierende Haltung gegenüber Gedanken geför- In diesem Abschnitt werden die aus unserer Sicht wichtigsten
dert, was verbunden mit Disidentifikation eine Fortsetzung verhaltenstherapeutischen bzw. -medizinischen Ansätze kurz
der Depressionsspirale verhindern und längerfristig zu einem vorgestellt, die explizit achtsamkeitsbasierte Elemente enthal-
spontanen Auflösen der Gedanken, auch ohne gezielte Bemü- ten. Auf welche Weise und mit welchem Gewicht Achtsam-
hungen, führen soll. Breslin et al. [2002, S. 291f.] bemerken keitsprinzipien in die Behandlung integriert sind, ist unter-
hierzu: «Das Vorgehen, negative Gedanken nicht zu disputie- schiedlich: Während Kabat-Zinn [1990] mit seiner «Mindful-
ren, sondern sie stattdessen wahrzunehmen, nicht persönlich ness-based stress reduction» einen verhaltensmedizinisch
zu nehmen und ihre flüchtige Natur zu erkennen, ist ein Pro- fundierten Ansatz vorlegte, der fast ausschließlich achtsam-
zess, der Achtsamkeit von traditionellen kognitiv-behaviora- keitsbasierte Interventionen einsetzt, beruht die «Mindful-
len Strategien unterscheidet» (Übers.: T.H. & J.M.). ness-based cognitive therapy for depression» von Segal et al.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Verhaltensthe- [2002] zwar primär auf achtsamkeitsbasierten Elementen
rapie und achtsamkeitsbasierten Ansätzen besteht in der sensu Kabat-Zinn [1990], integriert aber gleichzeitig klassi-
Rolle, die dem Körper zukommt. Auch in der klassischen Ver- sche kognitive Interventionen. In der «dialektischen Verhal-
haltenstherapie wird in Verhaltensanalyse und Therapie- tenstherapie» von Linehan [1993a,b] ist Achtsamkeit ein we-
durchführung explizit auf physiologische Prozesse Bezug ge- sentlicher Bestandteil des Fertigkeitstrainings, allerdings ohne
nommen. Körperliche Vorgänge bleiben allerdings entweder formelle Meditationsübungen. Schließlich wurde in der Sucht-
nur das Ziel therapeutischer Interventionen (z.B. bei Entspan- behandlung von Marlatt [1994] vorgeschlagen, achtsamkeits-
nungsverfahren zur Reduktion von Stress und körperlichen basierte Elemente zu verwenden.
Symptomen), oder sie stellen Informationsquellen dar, die im
Rahmen der Problemanalyse oder der Durchführung von
Interventionen (z.B. Erfragen von physiologischen Sympto- Kabat-Zinn: Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR)
men bei Reizkonfrontation) genutzt werden. In achtsamkeits- Ein sehr populärer achtsamkeitsbasierter Ansatz für Patien-
basierten Ansätzen kommt dem Körper eine wesentlich zen- ten mit psychischen und körperlichen Störungen geht auf
tralere Rolle zu. Entscheidend ist dabei die achtsame Wahr- Kabat-Zinn [1990] zurück: An mehr als 240 Orten in den
nehmung des körperlichen Erlebens. Die Übenden sollen ler- USA und in Europa werden derzeit MBSR-Programme
nen, nicht in ihren Gedanken zu leben, sondern die durchgeführt [Bishop, 2002]. Die Behandlung ist im Gegen-
Achtsamkeit auf den Körper als Ganzes auszudehnen und aus satz zum Gros verhaltenstherapeutischer Interventionen nicht
diesem körperlichen Erleben heraus zu leben. Diesem «im auf spezifische Störungsbilder zugeschnitten, sondern wird bei
Kontakt sein mit dem Körper» wird bereits eine therapeuti- vielen verschiedenen körperlichen Krankheiten und psychi-
sche Funktion an sich zugesprochen; es stellt ein grundlegen- schen Störungen durchgeführt. Kabat-Zinn [1990] zählt sei-
des Ziel achtsamkeitsbasierter Ansätze dar. Durch diese Hal- nen Ansatz zu den verhaltensmedizinischen Interventionen,
tung soll ermöglicht werden, Emotionen umfassend zu verar- betont jedoch die buddhistische Tradition der eingesetzten
beiten, ohne wichtige Aspekte emotionaler Schemata [d.h. die Behandlungsstrategien.
körperlichen Aspekte; siehe Teasdale, 1999c] abzuspalten Das Programm wird in Gruppen von bis zu 30 Patienten
[Teasdale, 1999a, Segal et al., 2002, S. 139]. Darüber hinaus durchgeführt [vgl. auch Santorelli, 1999] und umfasst 8 wö-
erlaubt diese Haltung, die «Weisheit des Körpers» [Kabat- chentliche Sitzungen von ca. 2 Stunden Dauer sowie einen
Zinn, 1990] für das eigene Handeln zu nutzen. «Tag der Achtsamkeit». Neben den Gruppensitzungen wird
Abschließend soll darauf verwiesen werden, dass in der Ver- die Bedeutung von Hausaufgaben betont: Von den Teilneh-
haltenstherapie zwar Konstrukte verwendet werden, die Pa- merInnen wird erwartet, an 6 von 7 Tagen bis zu eine Stunde
rallelen zum Prinzip Achtsamkeit haben, z.B. das Konzept der Übungen durchzuführen. In den ersten Gruppensitzungen
kontrollierten Informationsverarbeitung aus der kognitiven wird – als formelle Übung – der so genannte Body-Scan ein-
Psychologie [vgl. Fisk et al., 1987; Wells und Matthews, 1994]. geübt. Dabei werden die einzelnen Körperteile aufmerksam
Achtsamkeit ist jedoch nicht mit kontrollierter Informations- nacheinander wahrgenommen, wobei auf alle Empfindungen
verarbeitung gleichzusetzen. Informationen können kontrol- – oder Nicht-Empfindungen – geachtet werden soll. Gleich-
liert (d.h. bewusst, unter Gebrauch von kognitiven zeitig werden informelle Übungen betont, d.h. zunächst eine
Ressourcen) verarbeitet werden, ohne dass das für die Acht- Routineaktivität des Tages (z.B. Zähneputzen, duschen, sau-
samkeit charakteristische bewusste Erleben der Hier-und- gen) mit voller Achtsamkeit zu tun.
Jetzt-Qualität damit verbunden wäre. Darüber hinaus ist eine In den nächsten Sitzungen werden Übungen aus dem Hatha-
tiefe Achtsamkeit nicht durch die intentionale und willentli- Yoga (formelle Übung) sowie Achtsamkeit auf angenehme
che Anstrengung der kontrollierten Verarbeitung gekenn- und unangenehme Ereignisse (informelle Übung) eingeführt.
zeichnet, sondern wird als ein «Im-Fluss-Sein» erlebt. Im weiteren Verlauf des Programms nimmt die Atemmedita-

268 Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 Heidenreich/Michalak


tion eine besonders wichtige Rolle ein. Neben den Elementen kognitiv-behavioralen Interventionen bei generalisierter
der Achtsamkeitsmeditation werden wesentliche Grundlagen Angststörung (ES = 1,43 Prä-Post / ES = 1,23 Prä-Katamnese
der Stressforschung vermittelt. Jede Sitzung hat einen The- bis zu 6 Monaten). Für die 3-Jahres-Katamnese ergibt sich
menschwerpunkt, in dem wesentliche Achtsamkeitsprinzipien eine Effektstärke von 0,85. In den von Ruhmland und Mar-
verdeutlicht werden. Beispielsweise wird in Sitzung 2 das graf [2001b] ausgewerteten Studien hatte keine Arbeit einen
Thema «kreatives Reagieren auf Lebenssituationen» ins Zen- ähnlich langen Katamnesezeitraum. Die Interpretation dieser
trum gestellt und mit der bereits ausgeführten Autopiloten- Befunde wird jedoch dadurch erschwert, dass einige Patienten
Haltung kontrastiert. Den Abschluss des Programms bilden gleichzeitig medikamentös behandelt wurden. Kristeller und
Strategien, um die eingeübten Techniken auch längerfristig in Hallett [1999] untersuchten die Auswirkungen eines MBSR-
den Alltag zu integrieren. Prgramms auf Binge Eating Disorder und konnten eine Re-
Zur MBSR liegt eine Reihe empirischer Studien vor. In zwei duktion sowohl der Binge-Eating-Frequenz als auch der
randomisierten, kontrollierten Studien konnte gezeigt wer- Angst und Depression, die mit dieser Störung einhergehen,
den, dass MBSR in Stichproben der Allgemeinbevölkerung zu nachweisen.
einer Verminderung von Stress, Angst und Dysphorie führt Mittlerweile liegen zu achtsamkeitsbasierten Therapieansät-
[Astin, 1997; Shapiro et al., 1998]. Allerdings wurden in keiner zen auch drei Übersichtsarbeiten vor [Bishop, 2002; Grossman
der Studien aktive Kontrollbedingungen eingesetzt, so dass et al., im Druck; Baer, 2003], wobei die letzten beiden Über-
unspezifische Faktoren (z.B. Behandlungserwartungen) eine sichtsarbeiten quantitative metaanalytische Methodik verwen-
bedeutsame Rolle gespielt haben könnten. Eine kontrollierte, den. Alle drei kommen zu vergleichbaren Schlussfolgerungen:
randomisierte Studie an Patienten mit verschiedenen Krebs- Es gibt konsistente Nachweise für die Wirksamkeit achtsam-
erkrankungen stammt von Speca et al. [2000]. Die Autoren keitsbasierter Ansätze mit Effektstärken im mittleren Bereich
konnten zeigen, dass Patienten, die das MBSR-Programm (Baer: 0,59; Grossman et al.: 0,50). Bei der Bewertung dieser
durchlaufen hatten, verglichen mit Kontrollen deutliche Re- Effektstärken sollte jedoch beachtet werden, dass sie auf
duktionen in negativer Stimmung und der Stressbelastung heterogenen Stichproben mit teilweise relativ niedrigen Aus-
aufwiesen. Darüber hinaus fand sich ein Zusammenhang zwi- gangswerten basieren. Dies dürfte im Vergleich mit stärker
schen der Zeit, die die Patienten übten, und der Belastungsre- kontrollierten Wirksamkeitsstudien zu eher niedrigen Effekt-
duktion. Kabat-Zinn et al. [1998] konnten in einer weiteren stärkeschätzungen geführt haben. Darüber hinaus wird in die-
kontrollierten Studie zeigen, dass MBSR einen positiven Ein- sen drei Arbeiten die methodische Qualität der bisherigen
fluss auf die Rückbildung der Psoriasis-Symptomatik bei Pa- Studien als nicht zufriedenstellend eingeschätzt (z.B. keine
tienten hat, die sich einer Phototherapie oder Photochemo- aktiv behandelte Kontrollgruppe, keine Kontrolle der Auswir-
therapie unterziehen. Neben diesen kontrollierten Studien lie- kungen paralleler Behandlungen).
gen mehrere empirische Studien ohne Kontrollgruppe zu ver-
schiedenen Störungsbereichen vor: Bei Patienten mit
chronischen Schmerzen zeigten sich sowohl kurzfristig [Kabat- Segal, Williams und Teasdale: Mindfulness-Based Cognitive
Zinn et al., 1985] als auch in einer 4-Jahres-Katamnese Therapy for Depression (MBCT)
[Kabat-Zinn et al., 1987] Reduktionen psychischer Belastung Im Gegensatz zur MBSR handelt es sich bei der MBCT um
und funktionaler Einschränkungen. Eine Studie untersuchte einen stark auf psychologischer Theoriebildung basierenden
die Auswirkungen von MBSR auf Patienten mit Fibromyalgie Ansatz, der darüber hinaus störungsspezifisch (und sogar
[Kaplan et al., 1993] und fand bedeutsame Veränderungen innerhalb einer Störung phasenspezifisch) ist: Die MBCT
psychischer Symptome. Diese Studie ist jedoch kritisch zu be- wurde entwickelt, um die Rückfallwahrscheinlichkeit von Pa-
werten, da die statistischen Analysen nur unzureichend darge- tienten mit rezidivierenden depressiven Störungen zu senken.
stellt werden. Bei generalisierter Angststörung und Panikstö- Der Hintergrund für diese Bemühungen waren Hinweise, dass
rung zeigten sich signifikante Reduktionen der Symptome Patienten trotz erfolgreicher pharmakologischer und/oder
zwischen dem Beginn und dem Ende der MBSR-Behandlung psychologischer Behandlung einer depressiven Episode ein
[Kabat-Zinn et al., 1992], und diese Veränderungen blieben hohes Rückfallrisiko haben [Judd, 1997; Westen und Morri-
über einen Zeitraum von 3 Jahren weitgehend stabil [Miller et son, 2001]. Im Gegensatz zur akuten Behandlung der Depres-
al., 1995]. Die von uns analog zu Ruhmland und Margraf sion existieren bisher nur wenige Ansätze zur Rückfallpro-
[2001b] berechneten Prä-Post-Effektstärken (ES) lagen in der phylaxe. In ihrem Versuch, eine wirksame kognitiv-behaviora-
Studie von Kabat-Zinn et al. [1992], in der die Daten für Pa- le Intervention zur Senkung der Rückfallwahrscheinlichkeit
tienten mit generalisierter Angststörung und für Patienten mit von Patienten mit depressiven Störungen zu entwickeln, be-
Panikstörung gemeinsam berichtet werden, z.B. für das Beck- schäftigten sich Segal, Williams und Teasdale intensiv mit
Angstinventar als Maß für die Hauptsymptomatik bei ES = achtsamkeitsbasierten Interventionsstrategien. Hintergrund
0,98 und verbesserten sich bis zur 3-Monats-Katamnese noch waren theoretische Analysen [Teasdale et al., 1995] zu mög-
weiter (ES = 1,14). Diese Effekte sind kleiner als die in den 13 lichen Mechanismen depressiver Rückfälle: Es wird angenom-
von Ruhmland und Margraf [2001b] berichteten Studien zu men, dass depressive Episoden dazu führen, dass negative Ge-

Achtsamkeit in der Verhaltenstherapie Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 269


danken- und Gefühlszustände auch nach Abklingen der ak- te für die Teilnehmer waren das Erlernen neuer Fertigkeiten
tuellen Depression leicht aktiviert werden können. Als Dreh- sowie einer insgesamt akzeptierenden Grundhaltung.
und Angelpunkt für das Rückfallgeschehen gelten Zustände
mit moderat gedrückter Stimmung, in denen negative Gedan-
ken reaktiviert werden. Kommt es zu einer immer festeren Linehan: Dialektische Therapie der Borderlinestörung (DBT)
Etablierung dieser Denk- und Fühlweisen, ist ein Rückfall in Im Gegensatz zu den beiden bisher vorgestellten Behand-
eine depressive Episode zu erwarten. Gelingt es hingegen, die lungsprogrammen, die Achtsamkeitsprinzipien ins Zentrum
negativen Gedankenmuster frühzeitig zu unterbrechen, der Behandlung stellen, stehen in der DBT nach Linehan
kommt es nicht zu einem Rückfall. Als wesentliches Ziel der [1993a,b] achtsamkeitsbasierte Aspekte neben anderen Be-
MBCT formulieren Segal et al. [2002, S. 75] in Übereinstim- handlungselementen. Besonders interessant an diesem Ansatz
mung mit Kabat-Zinn [1990]: «Die zentrale Fertigkeit, die das ist, dass achtsamkeitsbasierte Aspekte auch in der Behand-
MBCT-Programm vermitteln möchte, ist die Fähigkeit, bei lung akut schwer gestörter Borderlinepatienten eingesetzt
drohendem Rückfall Geisteszustände zu erkennen und loszu- werden. Die Behandlung wird dabei aufgeteilt in Einzelthera-
lassen, die durch selbstaufrechterhaltende Muster grübleri- pie (vor allem zur Bearbeitung akuter Krisen und Traumata)
scher negativer Gedanken gekennzeichnet sind» (Übers.: T.H. und Gruppentherapie zum Erlernen neuer Fertigkeiten (Skills
& J.M.). Training). Achtsamkeit steht am Beginn des Fertigkeitstrai-
Das MBCT-Programm umfasst ebenso wie die MBSR 8 Sit- nings [Linehan, 1993b] und umfasst mehrere Aspekte: Beob-
zungen, die in wöchentlichem Abstand durchgeführt werden. achten im Sinne aufmerksamer Betrachtung von Ereignissen,
Die Gruppengröße liegt jedoch bei maximal 12 Patienten. Die Emotionen und anderen Verhaltensreaktionen – auch wenn
Patienten müssen mindestens eine depressive Episode erlebt diese belastend sind. Diese Fertigkeit erfordert eine innere
haben, dürfen jedoch bei Behandlungsbeginn nicht akut de- Distanz zu den Ereignissen. Der Gegensatz hierzu ist in Ver-
pressiv sein. In den Sitzungen werden jeweils einzelne acht- meidungsstrategien und passiven Versuchen der Emotions-
samkeitsbezogene Elemente eingeübt. Die eingesetzten Me- kontrolle zu sehen. Beschreiben bezeichnet das verbale Be-
thoden entsprechen denen der MBSR (z.B. Body-Scan, Atem- nennen von Ereignissen und persönlichen Reaktionen. Darü-
meditation). Darüber hinaus werden jeweils einzelne Themen ber hinaus betont Linehan [1993b], analog zu Kabat-Zinn, die
schwerpunktmäßig behandelt: Zum Beispiel in der ersten Sit- Wichtigkeit, eine nicht wertende Haltung einzunehmen sowie
zung das Phänomen des Autopiloten. Während der Behand- die Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu verankern.
lungsfokus in den ersten Sitzungen auf dem Erlernen und der Im Skills Training Manual [Linehan, 1993b] wird die Imple-
Einübung von Achtsamkeit liegt, kommen im zweiten Teil des mentierung der Achtsamkeit in die Therapie ausführlich vor-
Programms auch klassische kognitive Interventionen (Psycho- gestellt. Wie in den anderen Ansätzen wird dies im Gruppen-
edukation zur Depression, Bedeutung von und Umgang mit setting eingeübt. Konkrete Übungen beziehen sich beispiels-
automatischen Gedanken etc.) zum Einsatz. weise darauf, körperliche Empfindungen achtsam wahrzuneh-
Zur MBCT liegen derzeit erste empirische Ergebnisse vor: Te- men (auf einem Stuhl sitzen, die Hand auf einer kalten
asdale et al. [2000] berichten über eine randomisierte, kontrol- Oberfläche haben etc.) oder eine veränderte Beziehung zu
lierte Studie, in der insgesamt 145 Patienten mit Treatment As Gedanken und Gefühlen herzustellen (z.B. die Vorstellung,
Usual (TAU) oder zusätzlich MBCT über insgesamt 8 Sitzun- der Geist sei ein Fließband, auf dem Gedanken und Gefühle
gen behandelt wurden. Die Ergebnisse belegen, dass die mit vorbeikommen und beobachtet werden). Eine besondere Be-
MBCT behandelte Gruppe über einen Zeitraum von insge- deutung wird auch dem Prinzip «Gedanken als Gedanken er-
samt 60 Wochen 50% weniger Rückfälle aufwies als die TAU- kennen» beigemessen (a.a.O., S. 67).
Gruppe. Interessanterweise fand sich dieser Zusammenhang Obwohl eine Reihe von positiven empirischen Befunden zum
jedoch ausschließlich bei Patienten, die bereits drei oder mehr Einsatz der DBT bei Borderlinestörungen vorliegt [vgl. Koer-
depressive Episoden erlebt hatten (77% der Stichprobe). ner und Dimeff, 2000], ist es aufgrund der Komplexität der Be-
Williams et al. [2000] konnten zeigen, dass MBCT in derselben handlung nicht möglich, den Beitrag der achtsamkeitsbasierten
Stichprobe zu einer Reduktion des übergenerellen autobiogra- Prinzipien am Gesamtbehandlungserfolg abzuschätzen.
phischen Gedächtnisses führt, das bei Depressiven beobacht-
bar ist und als ätiologisch relevant erachtet wird [Williams,
1996]. Dieser Befund stützt die Annahme, dass durch MBCT A. Marlatt: Achtsamkeit in der Behandlung
wesentliche Faktoren beeinflusst werden können, die für das von Abhängigkeiten
erneute Auftreten depressiver Episoden prädisponieren. Darü- Alan Marlatt, der mit seinen Arbeiten zum Rückfallgesche-
ber hinaus legten Mason und Hargreaves [2001] eine Studie hen bei Alkoholabhängigkeit [Marlatt und Gordon, 1985]
zur Explikation von Wirkmechanismen der MBCT basierend einen wesentlichen Beitrag zur Suchtforschung geleistet hat,
auf derselben Stichprobe vor. Patienten wurden über ihre Er- schlägt vor, achtsamkeitsbasierte Prinzipien in der Behand-
fahrungen mit dem Programm interviewt und die Antworten lung von Abhängigkeit zu berücksichtigen [Marlatt, 1994].
mittels eines Kategoriensystems analysiert. Wesentliche Punk- Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Beobachtung,

270 Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 Heidenreich/Michalak


dass abhängiges Verhalten damit verbunden ist, den aktuellen keitsbasierter Interventionen. Für die kommenden Jahre hal-
Zustand nicht akzeptieren zu können [Marlatt, 1994, S. 175f]: ten wir zwei Forschungsschwerpunkte für bedeutsam: Auf der
«Zwischen einzelnen «Schüssen» erfährt der Abhängige das einen Seite sollte eine weitere konzeptuelle Einbettung acht-
Hier und Jetzt als weniger wünschenswert, als irgendwie so samkeitsbasierter Ansätze in den Korpus allgemein- und kli-
kaputt, dass es nur durch den nächsten Schuss repariert wer- nisch-psychologischer Theorien angestrebt werden, z.B. im
den kann. Die übliche Realität verblasst verglichen mit dem Hinblick auf das Verständnis der Wirkmechanismen, wobei
«Kick», den der Schuss bereitstellt. Das Ergebnis davon ist, eine besondere Bedeutung auch im Umgang mit den buddhis-
dass der abhängige Geist auf die Zukunft fixiert und unfähig tischen Wurzeln achtsamkeitsbasierter Ansätze liegt. Auf der
ist, das Hier und Jetzt zu akzeptieren» (Übers.: T.H. & J.M.). anderen Seite steht die Weiterentwicklung störungsspezifi-
Marlatt schlägt als ein Behandlungsprinzip vor, Achtsamkeit scher, achtsamkeitsbasierter, kognitiv-verhaltenstherapeuti-
zu üben, d.h. die Patienten anzuhalten, sich der ablaufenden scher Interventionen und deren empirische Überprüfung.
Gedanken und Gefühle bewusst zu werden, sie zu akzeptieren Diese beiden Bereiche, «konzeptuelle Aspekte» sowie
und das Leben von Moment zu Moment zu erleben. Dement- «klinische Forschungsaufgaben» sollen im Folgenden erörtert
sprechend sollen keine Versuche unternommen werden, inne- werden.
re Abläufe (wie z.B. Craving) zu kontrollieren. Das Prinzip,
die spontane Veränderlichkeit auch von Empfindungen wie Konzeptuelle Aspekte
Craving oder Spannungen zu erleben, bezeichnet Marlatt als Die Integration achtsamkeitsbasierter Elemente in die kogni-
«urge surfing». Eine wesentliche Strategie ist für Marlatt, mit tiv-verhaltenstherapeutische Behandlung wirft bereits vom
dem Bedürfnis, die Substanz zu sich zu nehmen (Craving), Ansatz her Fragen auf, da Prinzipien aus zwei Traditionen mit
umzugehen: «Achtsames Gewahrsein des Dranges kann ohne unterschiedlichen Werten und Menschenbildern aufeinander
die Notwendigkeit bestehen, achtlos dem Drang nachzuge- treffen.
ben. Craving und Drang sind nicht dauerhaft (impermanent); Aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Perspektive ist Acht-
sie entstehen und vergehen wie konditionierte Reaktionen» samkeit derzeit nur unzureichend expliziert und operationali-
[Marlatt, 1994, S. 180]. Eine wichtige Rolle spielen achtsam- siert. Insbesondere fehlen reliable und valide Messinstrumen-
keitsbezogene Ansätze auch bei einem Rückfall (lapse) und te sowie eine klare Einordnung in psychologische Theorien.
um ein Abgleiten in einen vollständigen Rückfall (relapse) zu Bishop [2002, S. 74] bemerkt in diesem Zusammenhang: «Un-
verhindern. glücklicherweise wurden die Definitionskriterien von Acht-
Breslin et al. [2002] legten ein Informationsverarbeitungsmo- samkeit bisher nicht wesentlich über unspezifische Beschrei-
dell des Rückfallgeschehens bei Substanzabhängigkeit vor, bungen des Konstrukts hinausentwickelt.» Erst in jüngster
das explizit Achtsamkeitsprinzipien berücksichtigt. Rückfälle Zeit wurden Arbeiten vorgelegt, die eine operationale Erfas-
resultieren demnach aus zwei Prozessen: In einem vorbewuss- sung der Achtsamkeit anstreben [Brown und Ryan, 2003].
ten Prozess werden substanzbezogene Gedanken aktiviert; Auch im deutschsprachigen Raum liegt mittlerweile ein Ver-
der zweite Prozess läuft bewusst ab (z.B. Selbstwirksamkeits- such vor, Achtsamkeit mit Hilfe eines Fragebogens zu erfas-
erwartung). Eine Ergänzung verhaltenstherapeutischer Prinzi- sen [Buchheld, 2000]. Erste Analysen konnten nachweisen,
pien durch Achtsamkeitsstrategien sollte insbesondere inter- dass sich Achtsamkeit mit diesem Fragebogen reliabel erfas-
nale auslösende Faktoren stärker berücksichtigen. Breslin et sen lässt; hinreichend Hinweise auf die Konstruktvalidität lie-
al. [2002, S. 292] bemerken hierzu: «Die wesentliche Neuig- gen jedoch noch nicht vor. Zu einem vertieften Verständnis
keit von Achtsamkeit im Abhängigkeitsbereich liegt darin, af- psychologischer Mechanismen der Achtsamkeit könnten da-
fektive Auslöser im Gegensatz zu direkten, alkohol- und dro- rüber hinaus allgemeinpsychologische Arbeiten zur Aufmerk-
genbezogenen Reizen in der Umwelt zu fokussieren.» samkeit bzw. zur Inhibition elaborativer sekundärer Prozesse
Obwohl unseres Wissens bisher keine empirischen Arbeiten [vgl. Bishop, 2002] sowie zur Metakognition [Teasdale,
zur Implementierung achtsamkeitsbasierter Prinzipien in der 1999a,b] beitragen. Es liegen Studien vor, die die Auswirkun-
Therapie von Abhängigen vorliegen, könnten diese Überle- gen von Meditation auf verschiedene psychologische Varia-
gungen die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung blen untersuchen [z.B. Brown et al., 1984, zu Wahrnehmungs-
von Abhängigkeitsstörungen befruchten. schwellen; Tloczynski et al., 2000, zu optischen Täuschungen].
Aus der Perspektive der meditativen buddhistischen Tradi-
tion, in der achtsamkeitsbasierte Übungen entwickelt wurden,
Diskussion wird im Gegensatz zum Anspruch der empirischen Psycholo-
gie auf Explikation und Operationalisierung von Konstrukten
In den letzten Jahren wurden achtsamkeitsbasierte Elemente bewusst eine große Zurückhaltung gegenüber ontologisieren-
mit Erfolg versprechenden Aussichten in der kognitiven Ver- den Definitionen und Versuchen der begrifflichen Analyse
haltenstherapie eingesetzt. Diese Integration umfasst sowohl meditativer Erfahrungen geübt [Hanh, 2002; Suzuki, 2001].
theoretische Analysen [z.B. Teasdale et al., 1995, 2002; Breslin Diese Zurückhaltung liegt vor allem darin begründet, dass in
et al., 2002] als auch die empirische Überprüfung achtsam- der meditativen Tradition der Wert der unmittelbaren achtsa-

Achtsamkeit in der Verhaltenstherapie Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 271


men Erfahrung besonders betont wird. Sprachliche Konzepte Inwiefern können achtsamkeitsbasierte Ansätze vor einer
sind demnach immer nur Hilfsmittel, um diesen achtsamen psychotherapeutischen Behandlung Aufschaukelungsprozesse
und gesammelten Zustand zu fördern. Eine sprachliche Fixie- unterbrechen und damit eine Chronifizierung und Exazerba-
rung des Erfahrenen birgt somit die Gefahr, die achtsame und tion von Beschwerden verhindern? Aspekte wie geringe
offene Wahrnehmung des Erfahrenen zu behindern. Das mit metakognitive Awareness, experiental avoidance und Gedan-
der Achtsamkeitsübung eigentlich Gemeinte liegt demnach kenunterdrückung werden in neueren Ätiologietheorien bei
immer jenseits der sprachlichen Ebene. Auch Hayes et al. unterschiedlichen psychischen Störungen als bedeutsam dis-
[1999] haben auf die Schwierigkeit hingewiesen, unmittelbar kutiert. Deswegen liegt es nahe, die Effektivität achtsamkeits-
erfahrungsbezogene Aspekte sprachlich abzubilden. Hayes et basierter Ansätze für solche Störungen zu überprüfen. Bei-
al. [2001] erweiterten diese Überlegungen in ihrer «relational spielsweise sollte in einer randomisierten, kontrollierten Stu-
frame theory» zu einem allgemeinen Modell sprachlichen und die untersucht werden, ob eine achtsamkeitsbasierte Therapie
nichtsprachlichen menschlichen Verhaltens, das unter ande- bei z.B. Schlafstörungen zu einer stärkeren Verbesserung –
rem die Rolle verbaler Prozesse für die Ausbildung psychi- oder z.B. zu niedrigeren Dropout-Raten – führt als empirisch
scher Störungen herausarbeitet. gut abgesicherte Therapiestrategien. Es sollte auch geprüft
Eine weitere, bisher nur unzureichend geklärte Frage ist der werden, inwieweit eine Verschränkung achtsamkeitsbasierter
Umgang mit den religiösen/spirituellen Grundlagen der Acht- Prinzipien mit klassischen, eher auf aktive Problembewälti-
samkeitsmeditation. Verschiedene Autoren bewerten die spi- gung bezogenen Behandlungselementen, wirksam sein könn-
rituellen Aspekte der Achtsamkeitsmeditation sehr unter- te. Besondere Aufmerksamkeit sollte auch potenziellen kon-
schiedlich: Segal et al. [2002] begreifen Achtsamkeit im We- fundierenden Faktoren wie Selbstselektion geschenkt werden:
sentlichen als wert- und traditionsneutrale psychologische Bishop [2002] argumentiert, dass achtsamkeitsbasierte Thera-
Strategie, die zur Behandlung psychischer Störungen flexibel pien lediglich bei einer Subgruppe von Patienten wirksam sein
eingesetzt werden kann. Marlatt betont die Verwurzelung in könnten und bedeutsame Effekte möglicherweise auf Erwar-
buddhistischen Prinzipien, wobei zentrale Elemente der bud- tungsprozesse zurückzuführen seien: «Es ist durchaus mög-
dhistischen Lehre benannt (z.B. die «vier edlen Wahrheiten») lich, dass die Effektivität dieses Ansatzes mehr mit der Art
und in die Behandlung integriert werden. Kabat-Zinn [1990] von Menschen zu tun hat, die sich dadurch angezogen fühlt,
empfiehlt zwar, die Patienten bei der MBSR nicht durch zu als mit dem Ansatz selbst» [Bishop, 2002, S. 76]. Gleichzeitig
viel buddhistische Hintergründe zu erschrecken, doch stellt sollten auf der Basis der skizzierten psychologischen Grundle-
sich insgesamt die Frage, inwieweit die religiös-spirituelle gung der Achtsamkeit plausible Wirkmechanismen untersucht
Dimension der Meditation, die in den ursprünglichen bud- werden. Beispiele in dieser Richtung sind die Ansätze von
dhistischen und anderen meditativen Ansätzen zentral ist, Breslin et al. [2002] und Teasdale [1999a,b,c].
auch in den therapeutischen Bereich integriert werden kann
und soll [siehe auch Miller, 1999] und inwieweit ein Verzicht
auf solche Aspekte das Potential achtsamkeitsbasierter An- Ausblick
sätze einschränkt. Die religiös-spirituelle Dimension ist dabei
aus unserer Sicht nicht notwendig auf buddhistische/östliche Aufgrund theoretischer Erwägungen und empirischer Befun-
Spiritualität beschränkt, sondern kann auch christliche/west- de erscheinen uns achtsamkeitsbasierte Ansätze Erfolg ver-
liche Zugangswege beinhalten [Kopp, 2002; Enomiya-Lassalle, sprechend im Hinblick auf eine weitere Verbesserung kogni-
1992]. tiv-behavioraler Behandlungskonzepte. Über diese konzep-
tuellen und anwendungsorientierten Erwägungen hinaus
Klinische Forschungsaufgaben erscheinen uns auch noch grundlegendere Aspekte von
Neben den skizzierten konzeptuellen Aspekten lassen sich Bedeutung zu sein: Die Überwindung der «Einseitigkeit»
konkrete Forschungsaufgaben formulieren, die für eine weite- früherer, ausschließlich veränderungsorientierter verhaltens-
re Integration achtsamkeitsbasierter Ansätze in die kognitive therapeutischer Ansätze in Richtung auf eine ausgewogenere
Verhaltenstherapie von Bedeutung sind. Für die weitere Ent- Balance zwischen Veränderung und Akzeptanz [vgl. Linehan,
wicklung störungsspezifischer achtsamkeitsbasierter kognitiv- 1994] stellt einen notwendigen Perspektivwechsel dar. Darü-
verhaltenstherapeutischer Interventionen sind zunächst me- ber stellt Achtsamkeit mit der Betonung der Wichtigkeit der
thodisch anspruchsvolle Studien (randomisierte Studien mit Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks und der Einbezie-
aktiven Kontrollbedingungen) notwendig, um abschätzen zu hung des körperlichen Erlebens in erster Linie ein Lebens-
können, ob achtsamkeitsbasierte Behandlungsstrategien bei prinzip dar und erst in zweiter Linie eine therapeutische
einzelnen Störungen und in einzelnen Störungsphasen (Prä- Strategie (‘Mindfulness is a way of life rather than a short-
vention, Akutphase vs. Rezidivprophylaxe) gleich effektiv term therapy that will “cure” whatever has “gone wrong” with
oder sogar effektiver als herkömmliche kognitiv-verhaltens- the person.’ Segal et al. [2002, S. 261]) – eine Tatsache, die
therapeutische Ansätze sind. Einen wichtigen Einsatzbereich vor allem präventive Konzepte vielversprechend erscheinen
achtsamkeitsbasierter Ansätze sehen wir in der Prävention: lässt.

272 Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 Heidenreich/Michalak


Literatur
Astin JA: Stress reduction through mindfulness medi- Hayes SC, Strosahl KD, Wilson KG: Acceptance and Mason O, Hargreaves I: A qualitative study of mind-
tation. Effects on psychological symptomatology, sense Commitment Therapy. An Experiential Approach to fulness-based cognitive therapy for depression. Br J
of control, and spiritual experiences. Psychother Behavior Change. New York, Guilford, 1999. Med Psychol 2001;74:197–212.
Psychosom 1997;66:97–106. Hayes SC, Roche B, Barnes-Holmes D: Relational Miller WR (ed): Integrating Spirituality into Treat-
Bach P, Hayes SC: The use of acceptance and commit- Frame Theory: A Post-Skinnerian Account of Human ment. Resources for Practitioners. Washington, Ameri-
ment therapy to prevent the rehospitalization of Language and Cognition. Hingham, Kluwer, 2001. can Psychological Association, 1999.
psychotic patients: A randomized controlled trial. J Judd LL: The clinical course of unipolar major depres- Miller JJ, Fletcher K, Kabat-Zinn J: Three-year follow-
Consult Clin Psychol 2002;70:1129–1139. sive disorders. Arch Gen Psychiatry 1997;54:989–991. up and clinical implications of a mindfulness medita-
Baer R: Mindfulness training as a clinical intervention: Kabat-Zinn J: Full catastrophe living. New York, tion-based stress reduction intervention in the treat-
A conceptual and empirical review. Clin Psychol-Sci Pr Delta, 1990. ment of anxiety disorders. Gen Hosp Psychiatry 1995;
2003;10:125–143. Kabat-Zinn J: Wherever You Go There You Are. 17:192–200.
Bartling G, Echelmeyer L, Engberding M, Krause R: Mindfulness Meditation in Everyday Life. New York, Rief W, Hiller W: Somatisierungsstörungen und Hypo-
Problemanalyse im therapeutischen Prozeß, ed. 2. Hyperion, 1994. chondrie. Göttingen, Hogrefe, 1998.
Stuttgart, Kohlhammer, 1987. Kabat-Zinn J, Lipworth L, Burney R: The clinical use Ruhmland M, Margraf J: Effektivität psychologischer
Beck AT: Wahrnehmung der Wirklichkeit und Neuro- of mindfulness meditation for the self-regulation of Therapien von spezifischen Phobien und Zwangsstö-
se. Kognitive Psychotherapie emotionaler Störungen. chronic pain. J Behav Med 1985;8:163–189. rungen: Meta-Analysen auf Störungsebene. Verhal-
München, Pfeiffer, 1979. Kabat-Zinn J, Lipworth L, Burney R, Sellers W: Four- tenstherapie 2001a;11:14–26.
Beevers CG, Wenzlaff TM, Hayes AM, Scott WD: De- year follow-up of a meditation-based program for the Ruhmland M, Margraf J: Effektivität psychologischer
pression and the ironic effects of thought suppression: self-regulation of chronic pain: Treatment outcomes Therapien von generalisierter Angststörung und sozia-
Therapeutic strategies for improving mental control. and compliance. Clin J Pain 1987;2:159–173. ler Phobie: Meta-Analysen auf Störungsebene. Verhal-
Clin Psychol-Sci Pr 1999;6:133–148. Kabat-Zinn J, Massion AO, Kristeller J, Peterson LG, tenstherapie 2001b;11:27–40.
Bishop SR: What do we really know about mindful- Fletcher KE, Pbert L, Lenderking WR, Santorelli SF: Ruhmland M, Margraf J: Effektivität psychologischer
ness-based stress reduction? Psychosom Med 2002;64: Effectiveness of a meditation-based stress reduction Therapie von Panik und Agoraphobie: Meta-Analysen
71–84. program in the treatment of anxiety disorders. Am J auf Störungsebene. Verhaltenstherapie 2001c;11:41–53.
Breslin FC, Zack M, McMain S: An information-pro- Psychiatry 1992;149:936–943. Salkovskis PM: Cognitive behavioural factors and the
cessing analysis of mindfulness: Implications for relap- Kabat-Zinn HJ, Wheeler E, Light T, Skillings A, persistence of intrusive thoughts in obsessional pro-
se prevention in the treatment of substance abuse. Clin Scharf MJ, Cropley TG, Hosmer D, Bernhard JD: In- blems. Behav Res Ther 1989;27:677–682.
Psychol-Sci Pr 2002;9:275–299. fluence of a mindfulness meditation-based stress re- Santorelli SF: Heal Thy Self: Lessons on Mindfulness
Brown D, Forte M, Dysart M: Visual sensitivity and duction intervention on rates of skin clearing in pa- in Medicine. Boston, Random House, 1999.
mindfulness meditation. Percept Mot Skills 1984;58: tients with moderate to severe psoriasis undergoing Schulte D: Therapieplanung. Göttingen, Hogrefe,
775–784. phototherapy (UVB) and photochemotherapy 1996.
Brown K, Ryan R: The benefits of being present: (PUVA). Psychosom Med 1998;60:625–632. Segal Z, Williams M, Teasdale J: Mindfulness-Based
Mindfulness and its role in psychological well-being. J Kanfer FH, Reinecker H, Schmelzer D: Selbstmanage- Cognitive Therapy for Depression: A New Approach
Pers Soc Psychol 2003;84:822–848. ment-Therapie, ed 3. Berlin, Springer, 2000. to Preventing Relapse. New York, Guilford, 2002.
Buchheld N: Achtsamkeit in Vipassana-Meditation Kaplan KH, Goldenberg DL, Galvin-Nadeau M: The Shapiro SL, Schwartz GE, Bonner G: Effects on mind-
und Psychotherapie. Die Entwicklung des «Freiburger impact of a meditation-based stress reduction program fulness-based stress reduction on medical and preme-
Fragebogens zu Achtsamkeit». Frankfurt, Peter Lang, on fibromyalgia. Gen Hosp Psychiatry 1993;15:284– dical students. J Behav Med 1998;21:581–599.
2000. 289. Speca M, Carlson LE, Goodey E, Angen M: A rando-
Ehlers A, Mayou RA, Bryant B: Psychological predic- Koerner K, Dimeff L: Further data on dialectical beha- mized, wait-list controlled clinical trial: The effect of a
tors of chronic posttraumatic stress disorder after vior therapy. Clin Psychol-Sci Pr 2000;7:104–113. mindfulness meditation-based stress reduction pro-
motor vehicle accidents. J Abnorm Psychol 1998;107: Kopp J: Schneeflocken fallen in die Sonne: Christuser- gram on mood and symptoms of stress in cancer outpa-
508–519. fahrung auf dem Zen-Weg. Anweiler, Plöger, 2002. tients. Psychosom Med 2000;62:613–622.
Enomiya-Lassalle HM: Der Versenkungsweg, ZEN- Kristeller JL, Hallett CB: An exploratory study of a Suzuki S: Zen-Geist, Anfänger-Geist. Berlin, Theseus,
Meditation und christliche Mystik. Stuttgart, Herder, meditation-based intervention for binge eating disor- 2001.
1992. der. J Health Psychol 1999;4:357–363. Teasdale JD, Segal Z, Williams JM: How does cogniti-
Fiegenbaum W, Tuschen B: Reizkonfrontation; in Mar- Lakatos A, Reinecker H: Kognitive Verhaltensthera- ve therapy prevent depressive relapse and why should
graf J (Hrsg): Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band pie bei Zwangsstörungen. Ein Therapiemanual. Göt- attentional control (mindfulness) training help? Behav
1. Berlin, Springer, 2000, pp 413–426. tingen, Hogrefe, 1999. Res Ther 1995;33:25–39.
Fisk AD, Ackerman PJ, Schneider W: Automatic and Linehan MM: Cognitive-Behavioral Treatment of Bor- Teasdale JD: Emotional processing, three modes of
controlled processing theory and its application to derline Personality Disorder. New York, Guilford, mind and the prevention of relapse in depression.
human factors problems; in Hancock PA (ed): Human 1993a. Behav Res Ther 1999a;37:53–77.
Factors Psychology. Amsterdam, Elsevier, 1987, pp Linehan MM: Skills Training Manual for Treating Bor- Teasdale JD: Metacognition, mindfulness, and the mo-
159–197. derline Personality Disorder. New York, Guilford, dification of mood disorders. Clin Psychol Psychoth
Foa EB, Kozak MJ: Emotional processing of fear: Ex- 1993b. 1999b;6:146–155.
posure to corrective information. Psychol Bull 1986; Linehan MM: Acceptance and change: The central di- Teasdale JD: Multi-level theories of cognition-emotion
99:20–35. alectic in psychotherapy; in Hayes SC, Jacobson NS, relations; in Dalgleish T, Power M (eds): Handbook of
Grawe K, Donati R, Bernauer F: Psychotherapie im Follette VM, Dougher MJ (eds): Acceptance and Cognition and Emotion. Chichester, Wiley, 1999c, pp
Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttin- Change: Content and Context in Psychotherapy. Reno, 665–681.
gen, Hogrefe, 1994. Context Press, 1994, pp 73–86. Teasdale JD, Segal ZV, Williams JM, Ridgeway VA,
Grossman P, Niemann L, Schmidt S, Walach H: Mind- Lutz R: Euthyme Therapie; in Margraf J (Hrsg): Lehr- Soulsby JM, Lau MA: Prevention of relapse/recurren-
fulness-based stress reduction and health benefits: A buch der Verhaltenstherapie. Band 1: Grundlagen, Di- ce in major depression by mindfulness-based cognitive
meta-analysis. J Psychosom Res (in press). agnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen. Berlin, therapy. J Consult Clin Psychol 2000;68:615–623.
Hanh TN: Das Wunder der Achtsamkeit. Berlin, The- Springer, 2000, pp 447–463. Teasdale JD, Moore RG, Hayhurst H, Pope M, Willi-
seus, 2002. Marlatt A: Addiction, mindfulness, and acceptance; in ams S, Segal ZV: Metacognitive awareness and preven-
Hautzinger M, Stark W, Treiber R: Kognitive Verhal- Hayes SC, Jacobson NS, Follette VM, Dougher MJ tion of relapse in depression: Empirical evidence. J
tenstherapie bei Depressionen, ed. 5. Weinheim, Beltz, (eds): Acceptance and Change: Content and Context Consult Clin Psychol 2002;70:275–287.
2000. in Psychotherapy. Reno, Context Press, 1994, pp 175– Tloczynski J, Santucci A, Astor-Stetson E: Perception
Hayes SC, Wilson KG, Gifford EV, Follette VM, Stro- 197. of visual illusions by novice and longer-term medita-
sahl K: Experiential avoidance and behavioral disor- Marlatt A, Gordon JR: Relapse prevention: Mainte- tors. Percept Mot Skills 2000;91:1021–1026.
ders: A functional dimensional approach to diagnosis nance Strategies in the Treatment of Addictive Beha- Wegner DM, Broome A, Blumberg S: Ironic effects of
and treatment. J Consult Clin Psychol 1996;64:1152– viors. New York, Guilford Press, 1985. trying to relax under stress. Behav Res Ther 1997;35:
1168. 11–21.

Achtsamkeit in der Verhaltenstherapie Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 273


Wells A, Mattews G: Attention and Emotion. A Clini- Williams JMG: Autobiographical memory in depres- Williams JM, Teasdale JD, Segal ZV, Soulsby J: Mind-
cal Perspective. Hove, Lawrence Erlbaum, 1994. sion; in Rubin D (ed): Remembering Our Past: Studies fulness-based cognitive therapy reduces overgeneral
Westen D, Morrison K: A multidimensional meta-ana- in Autobiographical Memory. Cambridge, Cambridge autobiographical memory in formerly depressed pa-
lysis of treatment for depression, panic, and generali- University Press, 1996, pp 244–267. tients. J Abnorm Psychol 2000;109:150–155.
zed anxiety disorder: A empirical examination of the
status of empirically supported therapies. J Consult
Clin Psychol 2001;69:875–899.

274 Verhaltenstherapie 2003;13:264–274 Heidenreich/Michalak

Das könnte Ihnen auch gefallen