Staatliche Steuerung
und gewerkschaftlicher
Pluralismus
Kollektive Arbeitsbeziehungen
in Belgien und Frankreich
ang-Uirich:
erung und gewerkschaftlicher Pluralismus : kollektive
mgen in ~elgien und Fran~reich I Wolfgang-Uirich
ufl.. - W1esoaden . Dt. Un1v.-Verl., 2000
cialwissenschaft)
44-4416-X
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Höchste inhaltliche und technische Qualität unserer Produkte ist unser Ziel. Bei der
Produktion und Verbreitung unserer Bücher wollen wir die Umwelt schonen. Dieses Buch
ist deshalb auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die Einschweiß-
folie besteht aus Polyäthylen und damit aus organischen Grundstoffen, die weder bei der
Herstellung noch bei der Verbrennung Schadstoffe freisetzen.
Mit der Thematik der vorliegenden Untersuchung hoffe ich aus verschiedenen Gründen, die
Aufmerksamkeit der Leser zu finden. Einmal sind Belgien und Frankreich Länder, deren
Arbeitsbeziehungen sich von denen der Bundesrepublik Deutschland erheblich unterscheiden.
Insofern gewährt die Thematik Einblicke in die Eigenart andersartiger Arbeitsbeziehungen.
Weiterhin kann die Untersuchung der Arbeitsbeziehungen Belgiens und Frankreichs auch für
diejenigen von Bedeutung sein, die an diesen Ländern grundsätzlich interessiert sind. Die
Besonderheiten der jeweiligen Länder treten nämlich in den Ergebnissen einer Untersuchung
der Arbeitsbeziehungen zumeist deutlich hervor. Die Kenntnis solcher Besonderheiten trägt
also zur Erklärung von Eigenarten in den Arbeitsbeziehungen bei und ermöglicht darüber
hinaus nähere Einblicke in Länder, an denen der Leser vor allem Interesse hat.
Die Besonderheiten der untersuchten Länder knüpfen meist an deren interne Differenzie-
rungen an. So liegt die Besonderheit Belgiens in seinen regionalen und sprachlich-kulturellen
Binnendifferenzierungen, in der Untergliederung in die Regionen Flandern, Wallonien und
Brüssel sowie in eine niederländisch-sprachige, französisch-sprachige und deutsch-sprachige
Gemeinschaft. Die Untersuchung dieser Binnendifferenzierung trägt zum näheren Verständ-
nis Belgiens bei und kann zudem noch erklären, warum die Arbeitsbeziehungen Belgiens
einen besonderen Verlauf nehmen. Hinzu kommt, daß die Binnendifferenzierung in große
Sprach- und Kulturgemeinschaften beständige Integrationsprobleme aufgibt. Die für dieses
Problem entwickelten Lösungswege können für diejenigen Leser interessant sein, die im
eigenen Land mit ähnlichen Integrationsproblemen konfrontiert werden.
Das Interesse an den Arbeitsbeziehungen Belgiens und Frankreichs kann sich auch aus der
Beobachtung einer Entwicklung ergeben, die häufig mit dem Begriff Globalisierung be-
schrieben wird. In dem Maße, in dem die Wahrscheinlichkeit für einen Transfer von Kapital
und Produktionsstätten über die Landesgrenzen hinweg wächst, stellt sich die Frage, ob und
in welchem Ausmaß negative Wirkungen eines solchen Transfers für die Arbeitnehmer
innerhalb eines einzelnen Landes überhaupt noch abgewendet oder auch nur eingeschrällkt
werden können. Innerhalb der Europäischen Union bestehen seit einigen Jahren erweiterte
Möglichkeiten für eine landesübergreifende Intervention und Gestaltung. Es ist jedoch
bekannt, daß die arbeits-und sozialpolitische Vereinheitlichung der wirtschaftlichen Koordi-
nation nur sehr zögernd folgt. Die Gründe hierfür liegen u.a. darin, daß es Eigenarten in den
Arbeitsbeziehungen einzelner Länder gibt, die sich gegenüber einer Vereinheitlichung als
besonders sperrig erwiesen haben. Hierzu zählt auch die Vereinheitlichung des Handeins von
Gewerkschaften mit unterschiedlichen Organisationsprinzipien. Innerhalb der Europäischen
Union gibt es neben Ländern, in denen eine Einheitsgewerkschaft dominiert, solche mit
mehreren bedeutenden Richtungsgewerkschaften. Zu diesen Ländern zählen Belgien und
Frankreich. Die Eigenarten der Arbeitsbeziehungen beider Länder sollen auch aus diesem
Grunde genau beschrieben und wenn möglich erklärt werden. Im Anschluß daran läßt sich
V
besser bestimmen, wie diese Eigenarten sich auf die Integration gewerkschaftlichen Handeins
auf europäischer Ebene auswirken.
Um die Untersuchung in der vorliegenden Form abschließen zu können, mußte ich zahlrei-
che Hürden nehmen. Als beständige Herausforderung erwiesen sich die niederländisch-
sprachigen Texte. Diese werden von mir mittlerweile zwar etwas schneller aber immer noch
mit einigen Mühen gelesen.
Eine weitere Schwierigkeit bestand zu Beginn der Untersuchung darin, Zugang zu den mir
bis dahin wenig bekannten Arbeitsbeziehungen Belgiens und Frankreichs zu finden. Jim van
Leernput von der Vrije Universiteit Brüssellegte mir nahe, daß einer Behandlung (fast) jeder
auf Belgien bezogenen Themenstellung eine Beschäftigung mit verzuiling vorauszugehen
habe. Patrick Hassenteufel, den ich am Institut de Recherehes Economiques et Sociales, Paris,
zu treffen das Glück hatte, gab mir wichtige Hinweise zu den Arbeitsbeziehungen Frank-
reichs. Für weitere Hilfestellungen im Fortgang der Untersuchung danke ich vor allem Patrick
Pasture vom Hoger Institut voor de Arbeid an der Katholieke Universiteit Leuven sowie
Professor Jacques Vilrokx von der Vrije Universiteit Brüssel.
Andreas Bemard beseitigte die Probleme, die bei der letzten Formatierung eines längeren
Manuskripts unerwartet auch dort auftreten, wo Programmanbieter einen zügigen Endspurt
versprechen. Silvia Ruppenthal gab viele Hinweise zum Manuskript, die ich dankbar
aufgegriffen habe.
Die vorliegende Fassung der Untersuchung ist die Überarbeitung und Erweiterung eines
Forschungsberichts für die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der ich hiermit fiir ihre
Unterstützung danke.
Wolfgang-Ulrich Prigge
VI
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ............................................................................................................... V
Inhaltsverzeichnis ............................................................................................ VII
Abbildungsverzeichnis ...................................................................................... XI
Abkürzungsverzeichnis .................................................................................. XIII
1 Staatliche Steuerung gewerkschaftlicher lnteressenvertretung.
Gewerkschaftspluralismus oder Vertretungsmonopol
überbetrieblicher Einheitsgewerkschaften ................................................. 1
1.1 Rechtliche Befugnisse gewerkschaftlicher Interessenvertretung.
Überlegungen am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland ................................. 3
1.1.1 Überbetriebliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer ....................................... ]
1.1.2 Betriebliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer ............................................ 14
1.2 Monopolistische Einheitsgewerkschaft oder Gewerkschaftspluralismus?
Die Perspektive des neokorporatistischen Ansatzes in der Verbandstheorie ......21
1.3 OffiZielle und inoffiZielle Zielsetzungen staatlicher Steuerung mit
intendierten und nicht-intendierten Handlungsfolgen ...........................................28
2 Nationale Arbeitsbeziehungen mit richtungsgewerkschaftlichem
Pluralismus. Die Auswahl geeigneter Länder .......................................... 35
2.1 Divergenz statt Konvergenz. Die Entwicklung nationaler
Arbeitsbeziehungen unter staatlichem Einfluß ...................................................... 35
2.2 Kontrast statt Divergenz. Die Auswahl geeigneter Untersuchungsbereiche........ 40
3 Belgien: Gesellschaftliche Ordnung, staatliche Regelung und
kollektive Arbeitsbeziehungen ................................................................... 43
3.1 Intra- und Interorganisationsbeziehungen zur Regelung sozialer Konflikte:
Verschränkte Versäulung als gesellschaftliches Ordnungsprinzip und
staatliche Gestaltungsaufgabe .................................................................................. 43
3.2 Kollektive Arbeitsbeziehungen: Die Akteure.......................................................... 55
3.2.1 Frühformen gewerkschaftlicher Organisation und Kooperation .......................... 55
3.2.2 Die Versäu1ung der Richtungsgewerkschaften ..................................................... 57
3.2.2.1 Die christlichen Gewerkschaften....................................................................... 57
3.2.2.2 Die sozialistischen Gewerkschaften .................................................................. 59
3.2.2.3 Die liberalen Gewerkschaften ........................................................................... 61
3.3 Kollektive Arbeitsbeziehungen im Rahmen staatlicher Regelung ........................ 64
VII
3.3.1 Der Vorrang der weltanschaulichen Dimension ................................................... 64
3.3.2 Der Sozialpakt.. ..................................................................................................... 67
3.3.3 Formen, Ebenen und Gremien der kollektiven Arbeitsbeziehungen .................... 70
3.3.3.1 Verhandlung, Beratung, Konzertierung ............................................................ 70
3.3.3.2 Betriebsebene, Branchenebene, Zentralebene ................................................... 72
3.3 .4 Vereinbarungen über Leistungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherung ........... 77
3.3.5 Kollektive Arbeitsbeziehungen und gewerkschaftliche Repräsentativität ........... 78
3.3.5.1 Befugnisse und Vorteile repräsentativer Gewerkschaften ................................ 80
3.3.5.2 Merkmale der Repräsentativität ........................................................................ 85
3.3.5.3 Repräsentativität und staatliche Zielsetzung ..................................................... 90
3.3.5.4 Kritik und Modifikation .................................................................................... 93
3.3.5.4.1 Die Interessenvertretung der gehobenen Angestellten (cadres) ................... 94
3.3.5.4.2 Die Interessenvertretung durch "unabhängige" Gewerkschaften ................. 97
3.3.6 Zusammenfassung ................................................................................................. 99
3.3. 7 Kooperation und Konzertierung in den fünfzigerund sechziger Jahren ............ 102
3.3. 7.1 Bedingungen zwischengewerkschaftlicher Kooperation ................................ 102
3.3. 7.2 Regionale Differenzierung und Konzertierung ............................................... 108
4 Gesellschaftliche Ordnung, staatliche Regelung und kollektive
Arbeitsbeziehungen im Wandel: Die Entwicklung seit den siebziger
Jahren ......................................................................................................... ll6
4.1 Gesellschaftliche Ordnung und staatliche Regelung ............................................ l16
4.1.1 Von den Säulen zu den politischen Konzernen. Veränderungen in den
säuleninternen Intra- und Interorganisationsbeziehungen .................................. 117
4.1.2 Sprachlich-kultureller Konflikt und organisatorische Differenzierung .............. 123
4.1.2.1 Politische Parteien und staatliche Ordnung ..................................................... 125
4.1.2.2 Gewerkschaftliche Organisation und zwischengewerkschaftliche
Beziehungen .................................................................................................... 12 7
4.2 Kollektive Arbeitsbeziehungen im Zeichen staatlicher Interventionen ............. 134
4.2.1 Tarifbeziehungen ................................................................................................ 135
4.2.1.1 Lohnpolitik und branchenübergreifende Zentralvereinbarungen .................... l36
4.2.1.2 Tarifautonomie, staatliche Intervention und staatliche Zielsetzung ................ 149
4.3 Zwischengewerkschaftliche Beziehungen und Mitgliedschaft in
Gewerkschaften ....................................................................................................... 156
VIII
4.3.1 Staatliche Interventionen und (richtungs-)gewerkschaftliche Reaktionen.
Programmatische Orientierungen und Stereotype .............................................. 157
4.3.2 Unterschiedliche Reaktionen auf staatliche Interventionen. Lobbyistische
Konzertierung oder Collective Bargaining ......................................................... 159
4.4 KooperationsdefiZite und gewerkschaftliche Akzeptanz ..................................... 165
4.5 Zusammenfassung. Interpretationen staatlicher Interventionen: OffiZielle
Zielsetzungen und paradoxe Handlungsfolgen oder inoffiZielle
Zielsetzungen und intendierte Handlungsfolgen? ................................................ 170
4.6 Ausblick am Ende der neunziger Jahre: Neuere Entwicklungen ....................... 174
4.6.1 Die sprachlich-kulturelle Konfliktlinie ............................................................... 175
4.6.2 Die weltanschauliche Konfliktlinie ..................................................................... l77
4.6.3 Neuere Entwicklungen in den Arbeitsbeziehungen ............................................ 179
5 Frankreich: Gesellschaftliche Ordnung, staatliche Regelung und
kollektive Arbeitsbeziehungen ................................................................. 186
5.1 Weltanschauliche Differenzierung ohne Versäulung ........................................... 186
5.2 Kollektive Arbeitsbeziehungen: Die Akteure........................................................ 189
5.2.1 Frühformen und Fortentwicklung gewerkschaftlicher Organisation .................. l89
5.2.2 Syndicalisme illa fran9aise- Eigenarten gewerkschaftlicher
Interessenvertretung ............................................................................................ 194
6 Kollektive Arbeitsbeziehungen im Zeichen staatlicher Regelung ........ 201
6.1 Kollektiven Arbeitsbeziehungen und gewerkschaftliche Repräsentativität ...... 201
6.1.1 Die Betriebsebene ............................................................................................... 20 I
6.1.2 Die Branchenebene ............................................................................................. 203
6.1.3 Sonstige Befugnisse repräsentativer Gewerkschaften ........................................ 209
6.2 Merkmale der Repräsentativität ............................................................................ 211
6.3 Repräsentativität und staatliche Zielsetzung ........................................................ 215
6.4 Zusammenfassung ................................................................................................... 220
7 Kollektive Arbeitsbeziehungen im Wandel. Entwicklungen im
Zeichen staatlicher Interventionen .......................................................... 223
7.1 Tarifbeziehungen ..................................................................................................... 223
7.2 Mitgliedschaft in Gewerkschaften ......................................................................... 229
7.3 Zusammenfassung: Staatliche Zielsetzung und neuere Entwicklungen ............ 239
7.4 Zwischengewerkschaftliche Beziehungen .............................................................. 243
IX
7 .4.1 Entwicklung wichtiger Grundorientierungen der
Gewerkschaftsföderationen: CGT-FO, CFDT, FEN .......................................... 246
7.4.2 Binnendifferenzierungen, Binnenstrukturen und
zwischengewerkschaftliche Beziehungen: CGT-FO, CFDT, FEN .................... 249
7.4.3 Versuche zwischengewerkschaftlicher Kooperation: Recomposition
Syndicale ............................................................................................................. 254
7.4.3.1 Recomposition Syndicale 1.............................................................................. 254
7.4.3.2 Recomposition Syndicale II ............................................................................ 260
7.5 Zusammenfassung. Interpretationen staatlicher Intervention: Offtzielle
Zielsetzung und paradoxe Handlungsfolgen oder inoffiZielle Zielsetzung
und intendierte Handlungsfolgen? ......................................................................... 277
8 Gesamtzusammenfassung ......................................................................... 280
9 Literaturverzeichnis .................•.......•...........................................•............ 295
9.1 Belgien ....................................................................................................................... 295
9.2 Frankreich ...••...................•....................................................................................... 304
9.3 Andere Länder, allgemeine und vergleichende Literatur....•............................... 314
X
Abbildungsverzeichnis
XI
Abkürzungsverzeichnis
Belgien
ABVV Algemeen Belgisch V akverbond
ACLVB Algemene Centrale der Liberale Yakbonden van Belgie
ACV Algemeen Christlijk Yakverbond
ACW Algemeen Christelijk Werkersverbond
seit 23.2.1985: Algemeen Christelijk W erknemersverbond
AI Accords Interprofessioneis
ANMC Alliance Nationale des Mutualites Chretiennes
AR Arrete-Royal
AVW Algemeen Christlijk Werknemersverbond
BB Belgisehe Boerenbond
BRC Bijzondere Raadgevende Commissies
CAO Collectieve Arbeidsovereenkomst
CAPAC Caisse Auxiliaire de Paiement des Allocations de Chornage
CBSU Confederation Beige des Syndicats Unifies
cc Caritas Catholica
CCE Conseil Centrale de l"Economie
CCI Comite Central Industrie!
CCT Conventions Collectives de Travail
CE Conseil d"Entreprise
CEC Central Economic Council
CEPIC Centre d'Etudes Politiques pour Independants et Cadres
CGSLB Confederation Generale des Syndicats Liberaux de Belgique
CGSP Centrale Generale des Services Publies
CGTB Confederation General du Travail de Belgique
CLS Comite de Ia Liberte Syndicale
CMB Centrale der Metaalbewerkers van Belgie
Centrale des Metallurgistes de Belgique
CNC Confederation Nationale des Cadres
CNE Centrale Nationale des Employes
CNT Conseil National du Travail
CNT Conference Nationale du Travail
CP Commissions Paritaires
XIII
CPBW Comite voor Bescherming en Preventie op het Werk
CPPT Comite pour Ia Protection et Ia Prevention du Travail
CRB Centtale Raad voor het Bedrijfsleven
csc Confederation des Syndicats Chretiens
CSHE Comite de Securite, Hygiene et d'Embellissement des Lieux de
Travail
CVGV Comite voor Veiligheid, Gezondheid en Verfraaing van de Werk-
plaatsen
CVP Christelijke Volkspartij
DS Delegation Syndicale
EIRR European International Relation Review
FC Front Commun
FDF Front Democratique des Francophones
FEBECOOP Federatie de Belgisehe Cooperaties
FGTB Federation Generale du Travail de Belgique
FNCC Federation Nationale des Cooperatives Chretiennes
IND Independents
IPA Interprofessioneel Akkord
KAJ Kristelijke Arbeiders Jeugd
KAV Kristelijke Arbeidersvrouwengilden
KB Koninklijk Besluit
KWB Katholieke WerkHeden Bonden (bis November 1977; seit-
her:Kristelijke WerknemersBeweging)
LBC Landelijke Bedienden Centrale
LCM Landsbond van Christelijke Mutuliteiten
LVCC Landelijk Verbond der Christelijken Cooperatieven
MIC Mouvement Chretien des Independants et des Cadres
MOC Mouvement Ouvrier Chretien
MSU Mouvement Syndicale Unifie
NAC Nationale Arbeidconferenties
NAR Nationale Arbeidsraad
NCMV Nationaal Christlijk Middenstandsverbond
NVK Nationaal Verbond voor Kaderpersoneel
NVSM Nationaal Verbond van de Sodalistische Mutualiteiten
OR Ondememingsraad
PC Paritaire Comites
XIV
PL Parti Liberal
PLP Parti de Ia Liberte et du Progn!s
PRL Parti Reformateur Liberal
PRLW Parti des Reformes et de Ia Liberte de Wallonie
PS Parti Socialiste
PSB Parti Socialiste Beige
PSC Parti Social Chretien
PVV Partij voor Vrijheid en Vooruitgang
SERB Sociaal-Economische Raad voor Brussel
SERV Sociaal-Economische Raad voor Viaanderen
SERW Sociaal-Economische Raad voor Wallonie
SETCA Syndicat des Employes Techniciens et Cadres
SGA Socialistische Gemeenschappelijke Actie
SGSP Syndicale Generale Unifie des Services Publies
SNEC Secretariat National de l'Enseignement Catholique
SLFP Syndicat Libre de Ia Fonction Publique
SP Socialistische Partij
UDB Union Democratique Beige
VA V akbondsafvaardiging
VKAJ Vrouwelijke Katholieke Arbeiders Jeugd
VLD Vlamse Liberale Demokraten - Partij van de Burger
VSOA Vrij Syndicat van het Openhaar Ambt
vu Volksunie
XV
Frankreich
B.I.T. Bureau International du Travail
BN Bureau National (CFDT)
CA Commission Administrative (CGT)
CAT Confederation Autonome du Travail
CCEO Centre Confederal d'Education Ouvriere (CGT)
CCN Comite Confederale Nationale (CGT, CGT-FO)
CESR Conseil Economique et Social Regional
CGSP Centrale Generale des Services Publiques
CE Commission Executive (CGT, CGT-FO, CFTC, CFDT)
CEE Communaute Economique Europenne
CEGT Conseil de l'Enseignement General et Technique (FEN)
CES Confederation Europeenne des Syndicats
CESL Confederation Europeenne des Syndicats Libres
CFDT Confederation Fran9aise Democratique du Travail
CFE-CGC Confederation Fran9aise de l'Encadrement - Confederation Generale
des Cadres
CFPC Centre Chretiens des Patrons et Dirigeants d'Entreprise Fran9aise
CFT Confederation Fran9aise du Travail
CFTC Confederation Fran9aise des Travailleurs Chretiens
CGC Confederation Generale des Cadres
CGCEF Confederation Generale des Cadres de l'Economie Fran9aise
CGPME Confederation Generale des Petites et Moyennes Entreprises
CGT Confederation Generale du Travail
CGT-FO Confederation Generale du Travail-Force Ouvriere
CGTU Confederation Generale du Travail Unitaire ( 1922-1936)
CHSCT Comite Hygiene Securite et Conditions de Travail
CHST Comite d'Hygiene de Securite et de Conditions de Travail
CISC Confederation Internationale des Syndicats Chretiens
CISL Confederation Internationale des Syndicats Libres
CNAS Caisse Nationale d'Action Syndicale (CFDT)
CNNC Commission Nationale de Ia Negociation Collective
CNPF Conseil National du Patronat Fran9ais
CNSF Confederation Nationale des Salaries de France
CNT Confederation Nationale du Travail
XVI
CRESST Centre de Recherehes en Seiences Sociales du Travail
cscc Commission Supeneure des Conventions Collectives
CSI Cartel des Syndicats Independants
CSL Confederation des Syndicats Libres
CTM Confederation des Travailleurs du Monde
FEN Federation de l'Education Nationale
FGAF Federation Generale Autornone des Fonctionnaires
FGE Federation Generale du Gaz et de l'Electricite (CFDT)
FGF Federation Generale des Fonctionnaires (CFTC)
FGMM Federation Generale de Ia Metallurgie et des Mines (CFDT)
FO Force Ouvriere
FSI Federation Syndicale Internationale
FSM Federation Syndicale Mondiale
IN SEE Institut National de Ia Statistique et des Etudes Economiques
ISERES Institut Syndical d'Etudes et de Recherehes Economiques et Sociales
JOC Jeunesse Ouvriere Chretienne
MRP Mouvement Republicain Populaire
OIT Organisation Internationale du Travail
PCF Parti Communiste Fran9ais
POF Parti Ouvrier Fran9ais
PSU Parti Socialiste Unifie
PUMSUD Pour un Mouvement Syndical Uni et Democratique
RPR Rassemblement pour Ia Republique
SGEN Syndicat General de l'Education Nationale (CFDT)
SMIC Salaire Minimum Interprofessionel de Croissance
SMIG Salaire Minimum Interprofessionel Garanti
SNCF Societe Nationale des Chemins de Fer Fran9ais
SNUDI Syndicat National Unifie des Directeurs et des Instituteurs (FO)
SNUI Syndicat National Unifie des Impöts (FEN)
SUD-PTT Solidaires, Unis et Democratiques, PTT
UA Unite et Action
UD Union Departementale
UIMM Union des Industries Metallurgiques et Minieres
UID Unite Independance et Democratie
XVII
Deutschland
XVIII
1 Staatliche Steuerung gewerkschaftlicher Interessenvertretung.
Gewerkschaftspluralismus oder Vertretungsmonopol überbetrieblicher
Einheitsgewerkschaften 1
In modernen Industriegesellschaften werden die Interessen einzelner zu einem erheblichen
Teil durch Verbände vertreten. Die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern
und ihren Verbänden werden durch Arbeitnehmerverbände, also durch Gewerkschaften,
aggregiert und organisiert.
Die Interessenvertretung durch Gewerkschaften kann danach unterschieden werden, ob die
Interessen bestimmter Arbeitnehmer durch eine einzige oder durch mehrere Gewerkschaften
vertreten werden.
Die Gewerkschaften können ihre Vertretungsbereiche von einander abgrenzen und auf
bestimmte Teilgruppen der Arbeitnehmer beschränken. Sie vertreten dann also beispielsweise
als einzige die Interessen der Arbeitnehmer eines bestimmten Territoriums, einer bestimmten
Berufsgruppe oder einer bestimmten Branche. Die Gewerkschaft kann die Interessenvertre-
tung fiir diese Teilgruppen monopolisieren. Sie ist dann zwar nicht die einzige Gewerkschaft
überhaupt, aber sie ist die einzige Gewerkschaft, der sich die einzelnen Arbeitnehmer dieser
Teilgruppen anschließen können oder nicht.
Es ist aber auch möglich, daß mehrere Gewerkschaften die Interessenvertretung der seihen
Arbeitnehmer eines Territoriums, einer Berufsgruppe oder eine Branche beanspruchen. In
diesem Fall spricht man von Gewerkschaftspluralismus. Der einzelne Arbeitnehmer hat dann
eine Entscheidung nicht nur darüber zu treffen, ob er einer Gewerkschaft beitritt oder nicht,
sondern auch darüber, welcher Gewerkschaft er die Aufgabe der Interessenvertretung
überträgt.
Der Entscheidung über die Auswahl einer bestimmten Gewerkschaft können unterschiedli-
che Kalküle zugrunde liegen. Die Entscheidung kann an bestimmte ideologische Präferenzen
anknüpfen, ihr können materielle Kostenkalküle zugrunde liegen, sie kann auch Überlegun-
gen folgen, welche an den besonderen Status einer bestimmten Berufsgruppe anknüpfen. So
kann eine Gewerkschaft etwa deshalb bevorzugt werden, weil ihre Orientierung im Einklang
mit einer christlichen oder sozialistischen Weltanschauung steht, der auch der einzelne
Arbeitnehmer nahesteht Eine Gewerkschaft kann aber auch deshalb Mitglieder anziehen,
weil sie eine wirksamere Interessenvertretung leistet als andere Gewerkschaften oder weil sie
eine gleich gute Interessenvertretung mit niedrigeren Mitgliedschaftsbeiträgen verbindet.
1 In dieser Untersuchung werden englisch-, französisch- und niederländischsprachige Zitate verwendet. Die
Zitate werden nicht in die deutsche Sprache übersetzt. Lediglich bei einigen niederländisch-sprachigen
Ausdrücken, deren deutsche Bedeutung nicht aus dem Kontext erschlossen werden kann, wird eine deutsche
Übersetzung hinzugefügt.
Auch kann einer Gewerkschaft der Vorzug gegeben werden, weil sie die Interessen der
Angestellten oder Beamten besonders berücksichtigt und für diese Statusgruppen Vorteile
erzielt, die andere Gewerkschaften fiir diese Teilgruppen nicht erzielen können und wollen.
Eine Entscheidung fiir eine bestimmte Gewerkschaft kann dadurch erfolgen, daß die Ar-
beitnehmer die Mitgliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft aufnehmen. Sie kann aber
auch dadurch erfolgen, daß bei Wahlen, an denen alle Arbeitnehmer teilnehmen, diejenigen
Kandidaten die Stimmen der Arbeitnehmer erhalten, die sich einer bestimmten Gewerkschaft
zuordnen, während andere Kandidaten nicht gewählt werden. Eine solche Wahlentscheidung
kann unabhängig von der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft getroffen werden, weil auch
Nicht-Mitglieder wahlberechtigt sind und Wahlentscheidungen nicht mit den Entscheidungen
fiir die Aufnahme und Beibehaltung von Mitgliedschatten übereinstimmen müssen.
Bieten mehrere Gewerkschaften die Möglichkeit an, die Interessenvertretung derselben
Arbeitnehmer vorzunehmen, so muß zunächst entschieden werden, ob alle Gewerkschaften,
die fiir eine Interessenvertretung der Arbeitnehmer in Frage kommen, diese Aufgabe auch
wahrnehmen dürfen oder ob eine Auswahl derjenigen Verbände getroffen werden soll, die zur
Interessenvertretung befugt sind. Eine solche Auswahl kann durch den einzelnen Arbeitgeber
vorgenommen werden. Die Regelungen über die Auswahl vertretungsberechtigter Gewerk-
schaften können aber auch Bestandteil von Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbänden sein. Ferner können solche Regelungen Gegenstand rechtlicher
Normierung sein, also vom Gesetzgeber oder der Rechtsprechung getroffen werden.
Die Auswahl vertretungsberechtigter Gewerkschaften kann also etwa dadurch erfolgen, daß
die Arbeitgeber sich weigern, mit bestimmten Gewerkschaften in Verhandlungen zu treten,
ihnen also die Anerkennung versagen. Die Auswahl kann auch dadurch erfolgen, daß der
Staat die Kompetenz zur Interessenvertretung an Bedingungen knüpft, die er vorgibt und die
nur ein Teil der Gewerkschaften erfiillen.
Die Arbeitgeber und der Staat können den Gewerkschaften grundsätzlich die Berechtigung
zur Interessenvertretung erteilen oder versagen. Sie können aber auch versuchen, auf die
Kalküle der Arbeitnehmer Einfluß zu nehmen, indem sie bestimmte Gewerkschaften instand
setzen, ihren potentiellen Mitgliedern oder Wählern Vorteile zu gewähren, die ihnen andere
Gewerkschaften nicht bieten können. Sie wirken auf die Entscheidungskalküle potentieller
Mitglieder ein, indem sie auf die Qualität und die Kosten des Leistungsangebots der Verbände
Einfluß nehmen.
2
1.1 Rechtliche Befugnisse gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Überlegungen am
Beispiel der Bundesrepublik Deutschland
2 ,,Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden,
ist fiir jedermann und fiir alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern
suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig".
3 Abs.l: "Tarifvertragsparteien sind Gewerkschaften, einzelne Arbeitgeber sowie Vereinigungen von Arbeitge-
bern".
3
Wird zwischen verschiedenen Vorbedingungen unterschieden, je nachdem, welchen Zweck
die Gewerkschaften zu erfüllen haben oder werden die seihen Vorbedingungen genannt?
Eine besondere Bedeutung für die Formulierung von Kriterien, mit denen tariffähige
Gewerkschaften von anderen Koalitionen unterschieden werden, hat die Vorstellung von
einer "Gleichgewichtslage der sozialen Gegenspieler" (Oetker 1999: 819). Nach Ansicht der
Rechtsprechung können ,,nur Druck und Gegendruck ... einen gerechten Ausgleich verbür-
gen" (Oetker 1999: 820). Die Kriterien, mit denen tariffähige Gewerkschaften bestimmt
werden sollen, haben sich somit dem Prinzip der "Waffengleichheit" (Oetker 1999: 8204) zu
fügen.
Als tariffähige Gewerkschaften kommen aus diesem Grunde nur privatrechtliche, auf Dauer
angelegte Vereinigungen in Frage, die vom Gegner (Arbeitgeber) unabhängig sind. Diese
Vereinigungen müssen ferner bereit und in der Lage sein, Tarifverträge abzuschließen.
Letzteres setzt voraus, daß die als tariffähige Gewerkschaften anerkannten Koalitionen über
eine "soziale Mächtigkeit" bzw. "Druckausübungsfähigkeit" (Oetker 1999: 8145) verfügen.
Diese Druckausübungsfahigkeit verlangt das Bundesarbeitsgericht also deshalb, weil es der
Meinung ist, daß die Tarifpartner ihre im öffentlichen Interesse liegenden Aufgaben eines
sozialen Ausgleichs nur dann wirkungsvoll wahrnehmen können, wenn sie prinzipiell gleiche
Durchsetzungschancen haben. Dieses wiederum setzt Ressourcen voraus, welche beiden
Parteien die Möglichkeit eröffnen, einander unter Druck zu setzen. Nur tariffahige Gewerk-
schaften können Tarifschutz und Streikschutz gewähren. Wie Sachse betont " ... machen sich
nicht tariffähige Organisationen, die einen Streik durch finanzielle Leistungen an ihre
Mitglieder unterstützen sogar schadensersatzpflichtig" (1985: 120).
Die weitergehende Frage ist nun allerdings, wie dieses Merkmal der Druckausübungsfahig-
keit operationalisiert wird. Wie müssen Koalitionen der Arbeitnehmer beschaffen sein, damit
sie wirkungsvoll Druck ausüben können und damit als tariffahige Gewerkschaften Anerken-
nung finden?
Das BAG hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1968 solche Vereinigungen von Arbeit-
nehmern zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als tariffähig bestimmt, " ...
welche die tariflichen Aufgaben einer Koalition sinnvoll, d.h. durch einen im Rahmen der
Rechtsordnung sich haltenden wirkungsvollen Druck und Gegendruck erfüllen, um die
Gegenseite zur Aufnahme von Tarifverhandlungen und zum Abschluß von Tarifverträgen
veranlassen zu können" (Dütz 1996: 2386). Woran erkennt man nun allerdings, daß eine
Koalition hierzu in der Lage ist?
Die Rechtsprechung hat sich in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten darum bemüht,
die Anforderungen an "mächtige" Gewerkschaften zu spezifizieren:
4
Im Jahr 1985 wurde dem Arbeitnehmerverband land- und ernährungswissenschaftlicher
Berufe (ALES) im Christlichen Gewer~schaftsbund auf Betreiben der Gewerkschaft Handel,
Banken und Versicherungen (HBV) die Gewerkschaftseigenschaft zunächst vorenthalten,
weil es ihm angeblich an der erforderlichen Mächtigkeit fehlte. Die Ressourcen der Arbeit-
nehmervereinigung (Organisationsgrad, Beitragsaufkommen, Verwaltungsstab) reichten
angeblich nicht aus, um eine Durchsetzungsfähigkeit zu begründen. Das Bundesarbeitsgericht
(BAG) als letzte Instanz billigte dem Verband allerdings die "soziale Mächtigkeit" und damit
die Tariffähigkeit mit der Begründung zu, daß er bereits eine Reihe von Tarifverträgen
abgeschlossen habe. Bei diesen vom ALES abgeschlossenen Tarifverträgen handelte es sich
zwar lediglich um Anschlußtarifverträge, die mit Tarifverträgen identisch waren, die bereits
von anderen Gewerkschaften abgeschlossenen worden waren. Diese Anschlußtarifverträge
seien aber- so das BAG - nicht ohne weiteres als "Gefälligkeitstarifverträge" oder "Scheinta-
rifverträge" anzusehen. Die Inhaltsgleichheit der Anschlußtarifverträge mit den zuvor
abgeschlossenen Tarifverträgen sei vielmehr darauf zurückzuführen, daß der Arbeitgeber ein
reales Interesse an gleichlautenden Tarifverträgen habe. Demzufolge habe die betreffende
Koalition ihre Durchsetzungsfähigkeit unter Beweis gestellt, auch wenn ihre Organisations-
struktur zunächst nicht darauf hinwies.
Diese Entscheidung wurde im Jahre 1986 bekräftigt. Die Koalitionen müssen, sofern ihre
Organisationsstruktur nicht eindeutig auf eine Druckausübungsfähigkeit schließen läßt, eine
faktische tarifvertragliche Kompetenz nachweisen können, um als tarifvertragsfähig anerkannt
zu werden. Allerdings kann diese auch durch Anschlußtarifverträge nachgewiesen werden.
"Zum Abschluß von Anschlußtarifverträgen wird eine Prüfung darüber für erforderlich
gehalten, ob die Arbeitnehmervereinigung von der Arbeitgeber-Seite ernst genommen wurde,
ob der Abschluß von Anschlußtarifverträgen ausgehandelt wurde oder ob er einem Diktat der
Arbeitgeber-Seite entspringt" (Dütz 1996: 2387).
In einer Entscheidung aus dem Jahre 1990 hatte das BAG über die Tariffähigkeit der
Christlichen Gewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie (CGBCE) zu befinden (vergl.: Neue
Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht 1990: 623-625). Diese Arbeitnehmervereinigung
verfügte über mehr als 20 000 Mitglieder, beschäftigte 19 hauptamtliche Gewerkschafts-
sekretäre und unterhielt zahlreiche Verwaltungsstellen. Sie hatte bei Betriebsratswahlen bis zu
165 Mandate ( 1981) errungen und stellte in mehreren Betrieben den Betriebsratsvorsitzenden.
Ihre Mitglieder besetzten einige Aufsichtsratspositionen. Die CGBCE bot ihren Mitgliedern
umfangreiche Serviceleistungen an. Ein Antrag dieser Arbeitnehmervereinigung, als
Gewerkschaft anerkannt zu werden, war 1978 durch das BAG abgewiesen worden. 1982
wurde ein erneuter Antrag vom Landesarbeitsgericht zurückgewiesen, nachdem ihm zunächst
stattgegeben worden war. Die darauf folgende Rechtsbeschwerde wies das BAG zurück. In
seiner Begründung rekurrierte das BAG auf die fehlende Durchsetzungsfähigkeit der
Arbeitnehmervereinigung. Es sei zwar zu beachten, daß die CGBCE schon mehr als 30
Anschlußtarifverträge und einige Firmentarifverträge abgeschlossen habe. Dieses reiche aber
5
nicht aus, um eine Durchsetzungsfähigkeit fiir gewährleistet zu halten und eine Anerkennung
als tariffähige Gewerkschaft auszusprechen. Es wurde beanstandet, daß die CGBCE nicht
habe darlegen können, ob und in welcher Weise sie an den tariflichen Regelungsprozessen
jeweils aktiv teilgenommen habe. Die organisatorische Ausstattung der Ar-
beitnehmervereinigung allein wurde nicht fiir ausreichend gehalten, um eine Durchsetzungs-
fähigkeit und eine damit verbundene Anerkennung als tariffähige Gewerkschaft zu begrün-
den.
Damit wurde das Prinzip der "Prüfungsbedürftigkeit von Anschlußtarifverträgen" (Dütz
1996: 2387) bestätigt. "Deswegen ist zu ermitteln, aufgrund welcher Umstände es zum
Abschluß von Tarifverträgen gekommen ist und welcher Zweck mit ihnen verfolgt wurde"
(Dütz 1996: 2388). Für den Fall, daß eine Koalition überhaupt noch keine Tarifverträge
abgeschlossen hat, kann auch eine "effiziente Organisationsstruktur" (Kempen!Zachert 1997:
458) auf eine entsprechende Druckausübungsfähigkeit schließen lassen. Allerdings ist auch
diese im Einzelfall vor dem Hintergrund gegebener Umweltbedingungen zu prüfen. "Ent-
scheidend ist immer eine Einzelfallbeurteilung, bei der alle Kriterien zu beachten und im
Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu würdigen sind" (Kempen!Zachert 1997: 457). Hieraus
ergibt sich allerdings, daß zuverlässige Prognosen über den Ausgang der Entscheidungen der
Arbeitsgerichte schwerfallen.
Im Jahre 1996 wurde der "Gewerkschaft der Kraftfahrer Deutschlands (GKD)" vom ArbG
und vom LAG Berlin die Tariffähigkeit und damit die Gewerkschaftseigenschaft abgespro-
chen, weil sie weder an Tarifverträgen beteiligt war, noch Strukturmerkmale aufwies, die eine
Druckausübungsfähigkeit hätten gewährleisten können (vergl.: AuR 1996: 242f. und AuR
1997: 38f.).
In der Begründung dieser Entscheidung wies die Rechtsprechung darauf hin, daß es not-
wendig sei, neben "rein voluntativen Kriterien" (AuR 1996: 243) auch "das tatsächliche
Kriterium der Durchsetzungskraft" (AuR 1996: 243) zu verwenden, weil an die Tariffähigkeit
und an die damit untrennbar verbundene Gewerkschaftseigenschaft von Rechts wegen eine
Vielzahl weiterer Rechtsfolgen geknüpft sind" (AuR 1996: 243). Auch aus diesem Grunde
gelte es " ... einer ,Inflation der Gewerkschaften' entgegenzutreten" (AuR 1996: 243). Das
Erfordernis der "Durchsetzungskraft" läßt - so die Rechtsprechung -
" ... den Grundrechtsschutz fiir Koalitionen nicht leerlaufen und verhindert auch
nicht das Hochkommen neuer Gewerkschaften und erschwert dies auch nicht
übermäßig. Es ist nicht erkennbar, daß sich die von der GKD angesprochene ab-
wartende Haltung vieler Arbeitnehmer nicht durch ein entsprechendes attraktives
Leistungsangebot und eine effektive Vertretung spezifischer Interessen von Kraft-
fahrern überwinden ließe" (AuR 1997: 38).
6
sein will, muß sich dann durch die Betätigung fiir ihre Mitglieder ... die , Tauglichkeit' als
Tarifvertragspartei erarbeiten; auch wenn Durchsetzungsfähigkeit und Leistungskraft, d.h.
Gegenmächtigkeit, vorausgesetzt werden, bleiben Bildung und Betätigung von Koalitionen
frei" ( 1997: 453).
Die Beurteilungen dieser Rechtsprechung in der arbeitsrechtlichen Literatur sind unter-
schiedlich. Während einige Kommentatoren die Handhabung der Bestimmung gewerkschaft-
licher Vertretungsrechte begrüßen, üben andere harsche Kritik an der "Mächtigkeitstheorie".
Zunächst wird bezweifelt, daß die Zielsetzung einer "Gleichgewichtslage der sozialen
Gegenspieler" (Oetker 1999: 819) so exakt bestimmbar ist, daß Kriterien der Selektion von
Organisationen auf diese Zielsetzung bezogen werden könnten. Weiterhin wird diskutiert, ob
die Druckausübungsfähigkeit ein geeignetes Kriterium ist, um Tarifvertragsfähigkeit zu
bestimmen. Ebenso wird in Zweifel gezogen, ob es richtig ist, die Kriterien, die zur Bestim-
mung der Tarifvertragsfähigkeit herangezogen werden, beizubehalten, wenn darüber
entschieden wird, ob den tarifvertragsfähigen Gewerkschaften weitere Funktionen übertragen
werden sollen.
Oetker beanstandet, daß es das Bundesarbeitsgericht offenlasse, "welche Anforderungen an
eine Gleichgewichtslage zu stellen sind" (1999: 820). Das Ziel einer gerechten tariflichen
Ordnung könne nur "... durch eine erweiterte Inhaltskontrolle der Tarifvereinbarungen
verwirklicht werden, nicht durch Versuche, einen sozialen Mechanismus einzurichten .... Man
kann kein künstliches Machtgleichgewicht schaffen, sondern lediglich nachträglich einzelnen
Vereinbarungen~ wegen des fehlenden Machtgleichgewichts ~die Wirksamkeit absprechen"
(Oetker 1999: 821). Die Kritiker der Rechtsprechung melden ferner Zweifel daran an, ob ein
freier Wettbewerb zwischen den Koalitionen infolge eines weniger restriktiven Gewerk-
schaftsbegriffs tatsächlich nachteilige Veränderungen fiir das Tarifsystem zur Folge hätte.
Solche nachteiligen Folgen seien in den einzelnen Fällen, in denen kleinen Koalitionen die
Tariffähigkeit zuerkannt worden sei, nicht zu erkennen gewesen. Deshalb liege es nahe, " ...
zunächst die Auswirkungen der freien Konkurrenz von Gewerkschaften abzuwarten, solange
sich nicht empirisch nachweisbar die konkrete Gefahr funktionsstörender Fehlentwicklungen
abzeichnet" (Hemmen 1988: 115f.).
Das Merkmal der Druckausübungsfähigkeit zur Bestimmung von Tarifvertragsfähigkeit
wird vor allem deshalb in Frage gestellt, weil es - so Oetker - die positive Koalitionsfreiheit
verletze, "... da es kleineren und neugegründeten Gewerkschaften unverhältnismäßig
erschwere, überhaupt Mitglieder zu gewinnen und zu halten" (1999: 818). Es sei eben fiir eine
Koalition kaum möglich, sich den Status einer tariffähigen Gewerkschaft zu "erarbeiten"
(Kempen!Zachert 1997: 453), wenn es ihr rechtlich untersagt sei, erfolgreiche Tarifverhand-
lungen zu fuhren und damit diejenigen Leistungen zu erbringen, deren Beurteilung fiir eine
Entscheidung über die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaften von herausragender Bedeutung
seien. Der restriktiven Rechtsprechung im Sinne des BAG wird also entgegengehalten, daß
sie den Koalitionspluralismus beseitige, weil sie dafiir sorge, daß die typische und wesentliche
7
Koalitionsfunktion, nämlich der Abschluß von Tarifverträgen, nur noch von wenigen großen
Vereinigungen ausgeübt werden könne (Hemmen 1988: 21 und 118). Mit" ... der Aufstellung
einer Zulassungsvoraussetzung tritt an die Stelle des Wettbewerbs der Gewerkschaften um
den Arbeitnehmer die Ausschaltung des Konkurrenten durch den Richter" (Hemmen 1988:
115).
Lapidar formuliert Gamillscheg: "Bei dem Gedanken, eine Behörde würde eine gewerk-
schaftliche Neugründung verbieten, würde sich jedermann vor Abscheu schütteln. Von der
Neugründung zu verlangen, daß sie von Anfang an groß und stark ist, kommt indessen einem
solchen Verbot in der Wirkung durchaus gleich" ( 1982: I 02).
Während also einige Kommentatoren davor warnen, daß mit dem Hinweis auf die Ein-
schränkung der Koalitionsfreiheit durch die Rechtsprechung "Ideen des Liberalismus von
Pluralismus und Wettbewerb auf die Koalitionsfreiheit ... und auf das ,untaugliche Objekt'
Gewerkschaft ... übertragen (werden)" (Zachert 1986: 325, vergl. auch Kittner 1988: 336),
fordern andere Kommentatoren Pluralismus und Wettbewerb im Interesse einer Durchsetzung
verfassungsrechtlicher und ordnungspolitischer Grundsätze (vergl. vor allem: Hemmen 1988
sowie Eitel 1989 und Bruhn 1993).
Die Auseinandersetzung über die rechtliche Behandlung der Gewerkschaften erstreckt sich
weiterhin auf die Berechtigung zur Übernahme weiterer Funktionen durch diese Berufsver-
bände. Ob und in welchem Umfang diese Funktionen übernommen werden können, entschei-
det ebenfalls darüber, welche Anziehungskraft die Berufsverbände auf die Mitglieder haben.
Die Möglichkeit einer Koalition, sich den Status einer tarifvertragsfahigen Gewerkschaft zu
erarbeiten, ist auch abhängig davon, ob sie berechtigt ist, diese Funktionen zu erfüllen und
den Arbeitnehmern entsprechende Dienstleistungen anzubieten.
Die Gesetzgebung und die Rechtsprechung haben eine Reihe weiterer Aufgaben der Inter-
essenvertretung exklusiv auf die tarifvertragsfähigen Gewerkschaften übertragen. Die
Ausübung dieser Funktionen ist also auch davon abhängig, daß die Berufsverbände als
tarifvertragsfähig anerkannt worden sind. Es handelt sich um sogenannte "sekundäre
Gewerkschaftsrechte" (Oetker 1999: 819). Dieses sind Aufgaben der Interessenvertretung, die
aus den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes, aus den verschiedenen Mitbestim-
mungsgesetzen, aus dem Arbeitsgerichtsgesetz, dem Sozialgerichtsgesetz, den Personalver-
tretungsgesetzen und dem Arbeitsförderungsgesetz resultieren (vergl. im einzelnen hierzu:
Kempen!Zachert 1997: 470).
Kempen!Zachert finden in der Literatur überwiegend Zustimmung, wenn sie dem Gesetz-
geber und der Rechtsprechung die Absicht unterstellen, einen einheitlichen Gewerkschaftsbe-
griff zu Grunde legen zu wollen. "Wenn immer der Gesetzgeber in anderen Gesetzen von
Gewerkschaften spricht, ist davon auszugehen, daß er mit diesen Normen auch meint, was er
sagt" (1997: 470). Der Gesetzgeber verlangt von den Verbänden, die auf der Grundlage dieser
Gesetze weitere Funktionen der Interessenvertretung ausüben, daß sie tarifvertragsfähig sind,
ohne daß es sich um Aufgaben handelt, die in einem direkten Bezug zur Verhandlung und
8
zum Abschluß von Tarifverträgen stehen, also etwa Druckausübungsfähigkeit voraussetzen.
Allerdings stößt diese Absicht des Gesetzgebers auf Widerspruch. Oetker spricht wiederholt
vom "Dogma der Einheitlichkeit des Gewerkschaftsbegriffs" (1999: 764fT.) und hält die
Übertragung der Voraussetzungen für die Tariffähigkeit auf andere Funktionen für "metho-
disch fragwürdig" (1999: 764).
Buchner macht bereits 1979 darauf aufmerksam, daß die Vorstellung von der Einheitlich-
keit des Gewerkschaftsbegriffs in einer Zeit entwickelt und durchgesetzt wurde, als die
Bestimmungsmerkmale für die Tariffähigkeit weniger voraussetzungsvoll waren. In dem
Ausmaß, in dem die Anforderungen an die Tariffähigkeit - insbesondere durch die Anforde-
rung der Druckausübungsfähigkeit - verschärft wurden, vermindert sich nach Meinung
Buchners die Berechtigung, die Tariffähigkeit weiterhin als notwendige Voraussetzung für
die Übernahme weiterer Funktionen der Interessenvertretung zu bestimmen.
"Bei einer lediglich vom Tarifrecht her bedingten Änderung der Anforderungen
an den Gewerkschaftsbegriff i.S. des § 2 TVG wäre aber zu prüfen, ob es dem
Anliegen und der Zwecksetzung der übrigen arbeitsrechtlichen Gesetze noch ent-
spricht, den Adressatenkreis der dort geregelten Kompetenzen automatisch in
gleicher Weise zu verändern" (Buchner 1979: 63).
Gamillscheg hat ebenfalls bereits früh (1982) seine Ablehnung des einheitlichen Gewerk-
schaftsbegriffs zum Ausdruck gebracht: "Meines Erachtens liegt einer der Fehler der
herrschenden Meinung darin, daß sie den Gewerkschaftsbegriff überall einheitlich auslegen
will" (1982: 114). Statt dessen fordert auch er,"... Begriffe nach dem Kontext, in dem sie sich
befinden, verschieden zu definieren" (Gamillscheg 1982: 114). Es gelte also nach Funktions-
bereichen zu unterscheiden, in denen sich die Mächtigkeitstheorie gegebenenfalls - zumindest
in modifizierter und präzisierter Form - zugrunde legen lasse und Funktionsbereichen, in
denen dies nicht der Fall sei (Gamillscheg 1982: 114f.; vergl. hieran anschließend auch Eitel
1989: 219fT.).
In gleicher Weise postuliert Konzen wenig später: "Das BAG sollte den einheitlichen
Gewerkschaftsbegriff aufgeben" (1984: 137). Statt dessen befürwortet auch er eine Ausrich-
tung des Gewerkschaftsbegriffs auf den jeweiligen Normzweck Er begründet dieses mit der
unterschiedlichen Zielsetzung der jeweiligen Rechtsnormen, in denen der Begriff der
Gewerkschaft Anwendung findet.
9
In diesem Sinne plädiert in neuerer Zeit auch Dütz dafür, " ... daß entgegen der bisherigen
Rechtsprechung ... der Gewerkschaftsbegriff für die verschiedenen Sozialbereiche unter-
schiedlich, nämlich gesetzesspezifisch und damit funktionstypisch unterschiedlich bestimmt
werden muß, also ggf. verschieden insbes. für das Tarifrecht, das Betriebsverfassungsrecht,
die Mitbestimmungsgesetze, das Arbeitsgerichtsverfahren usw." (1996: 2390).
Rieble macht darüber hinaus auf eine Inkonsistenz aufmerksam, welche die Einheitlichkeit
des Gewerkschaftsbegriffs seiner Meinung nach ebenfalls in Frage stellt: Bei der gesetzlichen
Regelung der Prozeßvertretungsbefugnis nach § 11 ArbGG sind
" ... in erster Instanz ... nach Abs. I neben den Gewerkschaften ausdrücklich auch
,Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zweckset-
zung' vertretungsbefugt In zweiter Instanz ist auf Arbeitnehmerseite die Vertre-
tungsbefugnis auf ,Gewerkschaften' und damit nach h.M. auftariffähige Gewerk-
schaft beschränkt. Mit der Mindermeinung sehe ich dafür keinen Grund. Tariffa-
higkeit kann man nur für Streitigkeiten verlangen, bei denen Tarifverträge streit-
entscheidend sind ..." (1996: 567).
Ein einheitlicher Gewerkschaftsbegriff verhindert also, daß den nicht tariffähigen Koalitio-
nen wichtige Vertretungsaufgaben übertragen werden, obwohl sie diese eigentlich wahrneh-
men könnten. Solange ihre Tarifvertragsfähigkeit nicht belegt ist, wird die Kompetenz dieser
Koalitionen zur Wahrnehmung der anderen Funktionen nicht geprüft. Es wird einfach
vorausgesetzt, daß sie nicht über diese Kompetenz verfügen.
Die zum Teil scharfe Ablehnung des einheitlichen Gewerkschaftsbegriffs in der arbeits-
rechtlichen Literatur resultiert auch aus den Wirkungen, welche diese rechtlichen Normierun-
gen auf den Koalitionspluralismus haben: Die Möglichkeiten für eine Koalition, sich den
Status einer tarifvertragsfähigen Gewerkschaft zu erarbeiten, werden nämlich weiter er-
schwert, wenn es den (nicht tarifvertragsfähigen) Koalitionen nicht nur untersagt ist,
Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen, sondern ihnen auch weitere Vertretungsbe-
fugnisse verwehrt werden.
Rieble wirft dem BAG vor, es greife " ... unzulässigerweise in den Koalitionswettwerb ein"
(1996: 561). Kleinere Koalitionen würden
Damit werde auch - so Rieble - " ... in das Recht einer jeden Koalition eingegriffen, ihren
Koalitionszweck autonom festzulegen. Selbst eine starke Gewerkschaft oder ein großer
Arbeitgeberverband wird für die Entscheidung, nicht mehr am Tarifsystem teilzunehmen, mit
dem Entzug anderer Funktionen bestraft" (1996: 562). Fast zwingend erscheint der daran
10
anschließende Befund: "Verfassungsrechtlich allein zulässig ist ein ausdifferenziertes
Anforderungsprofil: Eine Gesamtschau, die alle Koalitionsbefugnisse in einen Topf wirft, darf
es nicht geben" ( 1996: 562).
In Übereinstimmung hiermit fragt Buchner:
"Wenn einem nicht mächtigen Verband neben der Teilnahme an der Tarifpolitik
auch die arbeitsgerichtliche und betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsbefug-
nis entzogen wird, bleibt ihm kaum ein werbewirksamer Tätigkeitsbereich. Wer-
den Verband und Mitglieder dann nicht überfordert, wenn sie den Aufstieg in die
höhere Klasse der Gewerkschaften nur durch ,eindrucksvolle Selbstdarstellung'
und ,Überzeugungskraft in der Vertretung ihres Programms' erreichen sollen?"
( 1979: 69f.).
"Auf der einen Seite, die etablierten ,mächtigen' Großverbände, allen voran die
DGB-Gewerkschaften, denen - unabhängig von ihrer konkreten Situation - alle
vom Gesetz eingeräumten Gewerkschaftsrechte zugestanden werden; auf der an-
deren Seite die kleineren Verbände, denen unter Hinweis auf ihre fehlende
,Mächtigkeit' nicht nur die Tariffähigkeit, sondern auch die anderen gewerk-
schaftlichen Funktionen, nämlich insbesondere gewerkschaftliche Rechte in der
Betriebsverfassung und die Prozeßvertretung ihrer Mitglieder vor den Landesar-
beitsgerichten vorenthalten werden" (1989: 23).
II
zusammengeschlossen sind, keine Tarifvertragsfähigkeit attestiert wird. Sobald der beabsich-
tigte Zusammenschluß einzelner DGB-Gewerkschaften mit der DAG erfolgt ist, wird sich das
Vertretungsmonopol auch auf die Interessenvertretung der Angestellten beziehen 6 .
Die Gewerkschaften mit einheitsgewerkschaftlichem Vertretungsanspruch, die ihren
Rekrutierungsbereich nach dem Industrieverbandsprinzip abstecken oder gar Multibranchen-
gewerkschaften bilden, werden begünstigt. Minoritäre Arbeitnehmerverbände mit einem
anderen ideologischen Zuschnitt werden ebenso benachteiligt wie Gewerkschaften, die sich
nur an bestimmte Berufsgruppen richten.
Für Kempen/Zachert besteht die Zielsetzung der rechtlichen Normierungen in erster Linie
darin, starke Gewerkschaften zu gewährleisten, die im Rahmen der Tarifautonomie den
Schutz der abhängig Beschäftigten ermöglichen. Die Autoren gestehen zwar zu, " ... daß die
Bildung weiterer Gewerkschaften durch ein Verlangen nach Mächtigkeit ebenso wie nach
weiteren Tariffähigkeitsvoraussetzungen erschwert wird." Diese Einschränkung ergibt sich
ihrer Meinung nach aber " ... notwendig aus Sinn und Aufgaben der Tarifautonomie. Diese
wäre nämlich in Frage gestellt, würde man an ihr jegliche Arbeitnehmervereinigung teilneh-
men lassen, unabhängig davon, ob diese stark und leistungsfähig, unabhängig und bereit ist,
zur Durchsetzung der Interessen ihrer Mitglieder notfalls auch zu streiken" (Kempen/Zachert
1997: 453).
Die Aufgabe der Rechtsprechung bestehe in der Vermeidung eines fiir die Tarifautonomie
nachteiligen Gewerkschaftspluralismus. "Ein Gewerkschaftspluralismus, der das Zustande-
kommen von Tarifverträgen überhaupt bzw. von fiir die Arbeitnehmer akzeptablen Tarifver-
trägen verhindert, ist sinnlos und nicht von Art. 9 Abs. 3 GG und dem Tarifvertragsgesetz
gewollt, weil er den Schutz der Arbeitnehmer als Grund fiir die Garantie des tarifautonomen
Verfahrens in Frage stellt" (Kempen/Zachert 1997: 453).
Die Gegner der Rechtsprechung machen demgegenüber darauf aufmerksam, daß eben keine
Definition "akzeptabler Tarifverträge" vorgenommen werde, die sachgerechte Entscheidun-
gen über die Vertretungskompetenz bestimmter Verbände ermögliche. Vielmehr werde
einfach unterstellt, daß infolge der rechtlich favorisierten Selektionsmechanismen "akzeptable
Tarifverträge" erzielt würden, während dies unter pluralistischen Voraussetzungen nicht der
Fall sei .. Der- nicht näher präzisierte- Status quo dient der Rechtfertigung von Selektionen.
Diese erfolgen zu Lasten von Verbänden, die noch nicht etabliert sind. Jede Veränderung der
6 vergl. hierzu die Angaben über den Zusammenschluß zwischen der Deutschen Postgewerkschaft (DPG). der
Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV). der IG Medien, der Gewerkschaft Öffentliche
Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) sowie der Deutschen Angestelltengewerkschaft zur Vereinigten
Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di). In der Politischen Plattform dieser Gewerkschaft wird als Zielsetzung
dieser Gewerkschaft u.a. genannt: "Schluß mit der gewerkschaftlichen Konkurrenz". Hierzu wird wörtlich
ausgeführt: "Wir wollen aufgrund der veränderten Bedingungen in Wirtschaft und Gesellschaft durch eine
Neustrukturierung Konkurrenz um die Zuständigkeit für die gewerkschaftliche Arbeit und um die Mitglieder
ausschalten bzw. minimieren ... " (ÖTV 1998).
12
tarifpolitischen Konfiguration wird als Verschlechterung angesehen und zu verhindem
versucht.
Es schließt sich allerdings die Frage an, ob die Begünstigung bzw. die Benachteiligung
bestimmter Verbände tatsächlich eine notwendige Folge der angegebenen Zielsetzung
("Garantie des tarifautonomen Verfahrens" bzw. "Gleichgewichtslage der sozialen Gegen-
spieler" (Oetker 1999: 819)) ist oder ob nicht weitere Zielsetzungen genannt werden müssen,
um die Eigenart der rechtlichen Normierungen erklären zu können. Es stellt sich also die
Frage, ob die Benachteiligung nicht tariffähiger Koalitionen aus der Notwendigkeit resultiert,
die Tarif-autonomie aufrecht zu erhalten, oder ob nicht vielmehr andere als die genannten
Zielsetzungen im Vordergrund stehen.
Solche Zielsetzungen werden in der Literatur genannt, wenn - in Abgrenzung zu den
angegebenen "offiziellen Zielsetzungen" - auf andere "ordnungspolitische" bzw. "rechtspoli-
tische" Zielsetzungen hingewiesen wird, die "inoffiziell" das staatliche Handeln leiten. Es
wird dann angenommen, daß der Staat neben seinen offiziellen Zielsetzungen weitere
Zielsetzungen verfolgt, welche die rechtlichen Normierungen erklären können.
Konzen unterstreicht in diesem Sinne die " ... ordnungspolitische Wirkung des einheitlichen,
von der Tariffähigkeit geprägten Gewerkschaftsbegriffs" (1984: 137). Diese ist " ... die
Privilegierung der etablierten Gewerkschaften". Diese Wirkung wird erzielt, weil die
Gesetzgebung und die Rechtsprechung offensichtlich bestrebt seien, " ... dem rechtspolitischen
Wunsch nach einer Einheitsgewerkschaft normativen Rückhalt zu geben" (Konzen 1984.
138).
Konzen unterstellt damit eine rechtspolitische Intention (Begünstigung etablierter Einheits-
gewerkschaften), die sich als inoffizielle Zielsetzung von der offiziellen Zielsetzung (Garantie
des tarifautonomen Verfahrens) unterscheiden läßt. Offensichtlich lassen sich von den
Zielsetzungen, mit denen der Staat seine rechtlichen Normierungen offiziell begründet, andere
Zielsetzungen trennen, die der Staat ebenfalls - vielleicht sogar vorrangig - seinem Handeln
zugrunde legt.
Auch Buchner sieht im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum einheitlichen Ge-
werkschaftsbegriff die Rechtsprechung des BAG nur bedingt in Einklang mit den von ihr
behaupteten "ordnungspolitischen Aspekten" und hält Überlegungen für naheliegend, die auf
andere Zielsetzungen hinweisen: "Das Bundesarbeitsgericht könnte viel Unbehagen gegen
seine These abbauen, wenn es deutlicher machen würde, wie sich die bessere Ordnung durch
bloße Vorenthaltung der Tariffähigkeit nach seiner Ansicht konkret verwirklichen soll.
Solange eine solche Verdeutlichung nicht gelingt, kann der Vorwurf, daß nur den bestehenden
Koalitionen Flankenschutz gewährt werde, nicht ausbleiben" (Buchner 1979: 64f.). Der
Vorwurfhat durch die nachfolgende Entwicklung zusätzliche Nahrung bekommen.
Immer dann, wenn die Normierungen (Mittel) nicht stringent auf die Zielsetzungen bezo-
gen werden können und auch andere als die verwendeten Normierungen zur Zielverwirkli-
chung eingesetzt werden könnten, liegt der Vorwurf nahe, daß weitere inoffizielle Zielsetzun-
13
gen verfolgt werden. Die vorhandenen Normierungen entsprechen dann eher diesen inoffizi-
ellen Zielsetzungen als den offiziellen. Während die inoffiziellen Zielsetzungen nur mit den
vorhandenen Normierungen erreicht werden können, ist zumindest ungewiß, ob die verwen-
deten Normierungen tatsächlich geeignet sind, die offiziellen Zielsetzungen zu erreichen.
Bleiben gar Korrekturen der Normierungen aus, obwohl - auf die offiziellen Zielsetzungen
bezogene- nicht-intendierte bzw. sogar paradoxe Wirkungen festgestellt werden, ist erst recht
zu vermuten, daß nicht die offiziellen sondern vielmehr die inoffiziellen Zielsetzungen
angestrebt werden. Im vorliegenden Zusammenhang wäre die Gewährleistung der Tarifauto-
nomie als offizielle Zielsetzung, die Begünstigung der etablierten Gewerkschaften des DGB
und der DAG und die Benachteiligung der nicht als tariffähig anerkannten Koalitionen
hingegen als inoffizielle Zielsetzung anzusehen.
14
Bereits im Personalvertretungs- und Betriebsverfassungsrecht der Bundesrepublik
Deutschland von 1952 wurde festgelegt, daß die Wahlvorschläge für die Personalrats- und
Betriebsratswahlen bei einer Gruppenwahl (Arbeiter und Angestellte wählen getrennt) von
jeweils einem Zehntel der Gruppenangehörigen bzw. bei einer Gemeinschaftswahl von
Arbeitern und Angestellten von einem Zehntel der insgesamt Beschäftigten unterzeichnet sein
müssen. Gleichberechtigt mit diesem relativen Unterschriftenquorum war ein absolutes Unter-
schriftenquorum. Dieses beinhaltete, daß für die Unterzeichnung eines Wahlvorschlags für
eine Gruppe 50 Unterschriften der wahlberechtigten Gruppenangehörigen bzw. 100 Unter-
schriften der insgesamt Beschäftigten vorgelegt werden mußten. Diese Bestimmungen
wurden in das Betriebsverfassungsgesetz übernommen. Mit dieser Regelung sollte - so die
offizielle Zielsetzung- ausgeschlossen werden, daß bei den Wahlen eine Stimmenzersplitte-
rung durch sehr kleine Gruppierungen erfolgte (vergl.: Heither 1990: !Off.).
Bereits 1982 erwirkte der Deutsche Postverband im DBB, daß das Bundesverfassungsge-
richt zu den diskriminierenden Wirkungen der Bestimmungen über Unterschriftenquaren im
Personalvertretungsgesetz Stellung bezog. Das Bundesverfassungsgericht entschied, daß die
entsprechenden Bestimmungen nichtig seien. Es war der Meinung, daß die diskriminierenden
Wirkungen der rechtlichen Bestimmungen- auch im Vergleich zu den Parlamentswahlen- zu
stark seien und damit Bewerber ausgeschlossen würden, denen die Teilnahme an der Wahl
eigentlich nicht vorenthalten werden dürfe. Aus dieser Entscheidung resultierte nach der
Meinung der Mehrheit der Kommentatoren ein Handlungsbedarffür den Gesetzgeber.
Die Gegner der bestehenden gesetzlichen Regelung zu den Unterschriftenquaren machten
in den öffentlichen Informationssitzungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom
23. 4. 19867 und vom 28.9. 1988 8 anhand von Einzelbeispielen deutlich, daß diese gesetzli-
chen Regelungen eingesetzt wurden, um die Tätigkeit kleinerer Gewerkschaften im Betrieb zu
behindern. In den Ausschußsitzungen wurde auf Fälle hingewiesen, in denen verhindert
wurde, daß Vertreter kleinerer Gewerkschaften die erforderliche Anzahl von Unterschriften
erbringen konnten. Die Vorwürfe bestanden konkret darin, daß in Betrieben und Verwaltun-
gen mit einem hohen Organisationsgrad von DGB-Gewerkschaften versucht werde, die
Aufstellung von konkurrierenden Listen " ... durch das Einsammeln von möglichst bis zu 100
Prozent der Stimmen der Wahlberechtigten von vornherein zu unterbinden" (Koch 1986:
99/6; ebenso: Konitzer 1986: 99/8, Klein 1986: 99/9 und 99/11 passim sowie Ausschuß für
Arbeit und Sozialordnung 1988: 48/44 passim\
' zum Entwurf eines Gesetzes zur Verstärkung der Minderheitenrechte in den Betrieben und Verwaltungen
' zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, über Sprecherausschüsse der
leitenden Angestellten und zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung
' Koch gehörte als Vertreter des CGB, Konitzer als Vertreter der DAG und Klein als Vertreter des DBB dem
Ausschuß an.
15
Wie Schwegler zu Recht bedauerte, liegt keine "seriöse empirische Studie" ( 1988: 31 10)
vor, so daß über das Ausmaß und die Verbreitung solcher Praktiken keine repräsentativen
Angaben möglich sind.
Die Kritik an den rechtlichen Bestimmungen und den daran anschließenden mißbräuchli-
chen Praktiken beanstandete weiterhin, daß das Unterschriftenquorum gegen den Grundsatz
der Chancengleichheit und gegen Art. 9 Abs.3 GG verstoße, "weil es anerkannte Gewerk-
schaften in ihrer Betätigung beeinträchtige und den Koalitionspluralismus gefährde" (vergl.:
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Beschluß des Zweiten Senats 1985: 376).
Von Vertretern kleinerer Berufsverbände außerhalb des DGB wurde in den erwähnten
Ausschußsitzungen auch beanstandet, daß in den gesetzlichen Bestimmungen zur Besetzung
des Wahlvorstands kein Minderheitenschutz fiir kleinere Verbände enthalten sei. Diese hatten
bei den Wahlen zu den Betrieb- und Personalräten keine Kontrollmöglichkeiten, weil sie nicht
dem Wahlvorstand angehörten. Die geltenden Bestimmungen zur Besetzung des Wahlvor-
stands legten lediglich fest, daß der Wahlvorstand durch den Betriebsrat zu bestellen sei und
aus drei Wahlberechtigten zu bestehen habe(§ 16 BetrVG).
Hieraus ergab sich angeblich, daß die Wahlvorstände häufig ausschließlich mit Vertretern
einer einzigen und zwar zumeist einer im DGB föderierten Gewerkschaft besetzt wurden.
Nach Ansicht einiger Vertreter von Berufsverbänden außerhalb des DGB ergaben sich hieraus
Möglichkeiten, Vertretern kleinerer Verbände eigentlich notwendige Kontrollmöglichkeiten
vorzuenthalten. "Wer den Wahlvorstand stellt, der hat die Wahl gewonnen" (Klein 1986:
99/115).
Eine Ungleichbehandlung verschiedener Verbände resultierte auch aus den be-
triebsverfassungsrechtlichen Normen, welche die Zusammensetzung des Betriebsausschusses
und der weiteren Ausschüsse des Betriebsrats sowie die Freistellung von Betriebs-
ratsmitgliedern regelten.
Die Ausschüsse bestanden aus einem Vorsitzenden, dessen Stellvertreter und weiteren
Ausschußmitgliedern, deren Anzahl sich nach der Größe des Betriebsrats richtete. Die
Auswahl der Ausschußmitglieder und der freizustellenden Mitglieder wurde durch den
Betriebsrat wahrgenommen. Während der Betriebsrat insgesamt nach den Bestimmungen der
Verhältniswahl zusammengesetzt wurde, erfolgte die Besetzung der Ausschüsse und die
Auswahl der freigestellten Betriebsratsmitglieder nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl.
Die Ungleichbehandlung verschiedener Berufsverbände resultierte vor allem aus der
Inkonsistenz der Wahlverfahren. Die Vertreter der Berufsverbände, die nicht dem DGB
angehörten, wiesen auf eine Reihe von Betrieben hin, in denen die Mehrheit der Betriebsrats-
mitglieder die gesetzlich gegebene Möglichkeit wahrgenommen hatte, bei der Besetzung der
Ausschüsse und bei den Freistellungen ausschließlich Mitglieder der im Betriebsrat mehrheit-
16
lieh vertretenen DGB-Gewerkschaft zu berücksichtigen (Koch 1986: 991112 mit mehreren
Beispielen). Zugespitzt formulierte Kern: " ... eine Kombination von Verhältniswahlrecht
zunächst und Mehrheitswahlrecht dann bedeutet die Diktatur der 51 Prozent" (1988: 99142 11 ).
Die Diskussion über die Wahlverfahren für die Besetzung der Ausschüsse und die Frei-
stellung von Betriebsratsmitgliedern zeigt, daß die jeweiligen Zielsetzungen mit unterschied-
lichen Effektivitätsvorstellungen gerechtfertigt wurden. Aus den unterschiedlichen Vorstel-
lungen resultierten Konzepte zur Normierung der Wahlverfahren, die eine einheitliche oder
eine pluralistische Vertretungsform favorisierten.
Auf der einen Seite wurde der Status quo einer nach dem Mehrheitswahlrecht verfahrenden
Selektion der Ausschußmitglieder und der Freistellungen damit gerechtfertigt, daß eine
effektive Interessenvertretung der Arbeitnehmer nur erfolgen könne, wenn sie einheitlich, d.h.
durch eine einzige Gewerkschaft wahrgenommen werde. Dies sei - so wurde weiter angeführt
- nur auf der Grundlage eines Mehrheitswahlverfahrens möglich. Die Anwendung des
Verhältniswahlrechts hingegen übertrage fälschlicherweise Vorstellungen aus dem politischen
System auf die betriebliche Wirklichkeit und begünstige damit einen Zustand, der zur
"Spaltung" (Peiseler 1987: 279f.), "Parlamentarisierung" (Hanau 1986: 99186) bzw. "Zwangs-
Fraktionierung" (Muhr 1986: 99181) der Betriebsratstätigkeit führe. Der Pluralismus führte
angeblich zu Effektivitätsdefiziten.
Auf der anderen Seite wurde auf die negativen Folgen der diskriminierenden Wirkung
dieser Bestimmungen für diejenigen Gewerkschaften hingewiesen, deren Listen zwar bis zu
50 Prozent der Betriebsratsmitglieder entstammen, die aber weder in den Ausschüssen
vertreten waren noch Freistellungen in Anspruch nehmen konnten. Es wurde beanstandet, daß
die gesetzlichen Bestimmungen nicht mit den Geboten von Demokratisierung und Minder-
heitenschutz vereinbar seien. Vor allem wurde aber geltend gemacht, daß die Argumentation
zugunsten des Status quo der gesetzlichen Regelung eine Effektivitätsvorstellung betriebli-
cher Interessenvertretung übernehme, die einseitig an den Vorstellungen der in DGB-
Gewerkschaften organisierten Mehrheit der Belegschaftsangehörigen orientiert sei. Dem sei
aber eine andere Vorstellung von "effektiver" Interessenvertretung gegenüberzustellen.
So setze sich der Betriebsrat von Daimler-Benz Untertürkheim aus Vertretern von drei
gewerkschaftlichen Gruppierungen zusammen (IG Metall I Plakat-Gruppe I Christliche
Gewerkschaft). Die Vertreter der Liste der IG Metall hätten die Mehrheit der Sitze inne
(vergl.: Rathgeb 1986: 48199). Abweichend von den gesetzlichen Bestimmungen, die eine
Mehrheitwahl vorsehen, werde die Sitzverteilung in den Ausschüssen nach den relativen
Anteilen der Gruppierungen im Betriebsrat vorgenommen. Eine solche Sitzverteilung führe
aber nicht etwa zu einer Effektivitätseinbuße der Interessenvertretung. Vielmehr habe die
nunmehr gegebene größere Transparenz und wechselseitige Kontrollmöglichkeit häufig zu
17
"besseren und effektiveren Ergebnissen für die Belegschaft" (Rathgeb 1986: 481130) geführt
als die Interessenvertretung durch Betriebsratsmitglieder einer einzigen Gewerkschaft. Die
Interessenvielfalt und Interessendivergenz innerhalb der Belegschaft etwa bei der Regelung
von Arbeitszeitproblemen oder bei Fragen der Umweltbelastung im Betrieb werde durch
pluralistisch besetzte Betriebsausschüsse eher berücksichtigt als durch eine vom Mehrheits-
wahlrecht begünstigte gewerkschaftseinheitliche Interessenvertretung.
In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß wiederum die offizielle Zielsetzung
rechtlicher Normierungen nicht vorbehaltlos übernommen wurde. Vielmehr wurde darauf
hingewiesen, daß die Effektivitätsvorstellungen, die sich mit der offiziellen Zielsetzung
verbanden, relativiert und anderen Vorstellungen wirkungsvoller Interessenvertretung
gegenübergestellt werden können. Auch in diesem Zusammenhang liegt die Vermutung nahe,
daß die Adaption einer bestimmten Effektivitätsvorstellung als offizielle Zielsetzung
verbergen soll, daß mit dieser Zielsetzung eine weitere inoffizielle Zielsetzung verbunden
wird. Diese besteht darin, bestimmte Gewerkschaften (hier die DGB-Gewerkschaften) zu
begünstigen.
Für diese Annahme spricht weiterhin, daß eine gesetzliche Korrektur dieser Verfahren
durch eine christlich-liberale Regierungskoalition vorgenommen wurde. Diese fühlte sich in
einem weitaus geringerem Ausmaß den DGB-Gewerkschaften verbunden als dies bei den
vorherigen Regierungen der Fall war. Die inoffizielle Zielsetzung bestand nun darin, die als
unberechtigt angesehenen Privilegien der DGB-Gewerkschaften abzubauen. Aus diesem
Grunde war man bereit, eine andere Effektivitätsvorstellung zu akzeptieren.
Das Betriebsverfassungsrecht wurde mit Beginn des Jahres 1989 in einigen Punkten geän-
dert. Diese Änderungen betrafen vor allem die Rechte von Minderheiten.
Ein Wahlvorschlag zum Betriebsrat bedurfte nunmehr nur noch der Unterzeichnung von
einem Zwanzigstel der wahlberechtigten Gruppenangehörigen oder - bei Gemeinschaftswahl
- der wahlberechtigten Arbeitnehmer insgesamt (relatives Unterschriftenquorum). Das
absolute Unterschriftenquorum wurde um die Hälfte gesenkt (50 Stützungsunterschriften).
Hinzu kam, daß alle im Betrieb vertretenen Gewerkschaften ein eigenes Wahlvorschlagsrecht
erhielten. Damit entfiel die Anforderung, Stützungsunterschriften zu erbringen, für diejenigen
Arbeitnehmervereinigungen, die als (tariffähige) Gewerkschaft anerkannt worden waren. Die
ungleiche Behandlung von Berufsverbänden der Arbeitnehmer wurde aufgehoben, soweit sie
(tariffähige) Gewerkschaften betraf. Nicht als Gewerkschaft anerkannte Berufsverbände
hingegen hatten weiterhin Stützungsunterschriften vorzulegen 12 •
12 vergl. hierzu: Koch 1999 (340): " ... bei Einreichung der Vorschlagsliste einer christlichen Gewerkschaft fiir
eine Betriebsratswahl ohne Stützungsunterschriften, wie durch das Änderungsgesetz von 1989 vorgesehen,
wird die Liste vom Wahlvorstand mit der Begründung zurückgewiesen, die einreichende Organisation sei
keine Gewerkschaft".
18
Tariffahige Gewerkschaften wurden gleichgestellt. Für nicht tariffahige Koalitionen wurde
die Teilnahme an den Wahlen erleichtert, allerdings wurde ihnen weiterhin eine Gleichbe-
handlung mit den tariffahigen Gewerkschaften versagt, auch, wenn sie auf der betrieblichen
Ebene zahlreiche Mitglieder und Wähler gefunden hatten.
Majorisierungen von kleinen tariffahigen Gewerkschaften waren nun nicht mehr möglich,
Majorisierungen von Koalitionen, die nicht als Gewerkschaften anerkannt worden waren,
wurden erschwert, da letztere eine geringere Anzahl an Stützungsunterschriften vorlegen
mußten.
Nach den Bestimmungen des novellierten Betriebsverfassungsgesetzes konnte nunmehr
auch jede im Betrieb vertretene tariffahige Gewerkschaft einen im Betrieb beschäftigten
Beauftragten in den Wahlvorstand entsenden.
Die gesetzlichen Bestimmungen von 1989 berücksichtigten das Interesse von Minderhei-
tengruppen bei Freistellungen und bei der Besetzung von Betriebsausschüssen, indem diese
nunmehr nach den Grundsätzen der Verhältniswahl vorgenommen werden mußten 13 • Die
Berücksichtigung erfolgte anteilsgemäß. Majorisierungen als Folge von Wahlrechtsbestim-
mungen entfielen damit.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die rechtlichen Bestimmungen des Be-
triebsverfassungsgesetzes weiterhin zwischen den Berufsverbänden unterschieden, denen eine
Gewerkschaftseigenschaft zuerkannt wurde und anderen Berufsverbänden, die keine solche
Anerkennung erfuhren. Die Unterschiede in der rechtlichen Behandlung von Verbänden mit
Gewerkschaftseigenschaft wurden eingeebnet. Tariffähige Gewerkschaften waren "gleicher"
geworden, die Diskriminierung nicht tariffahiger Gewerkschaften wurde zwar nicht aufgeho-
ben, die Hürden für eine Teilnahme an der Interessenvertretung wurden aber gesenkt.
In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß den Veränderungen der Normierungen
offensichtlich wiederum inoffizielle Zielsetzungen zugrunde lagen. Die Veränderungen
resultierten nicht aus offensichtlichen Defiziten der Interessenvertretung sondern daraus, daß
die inoffizielle Zielsetzung bestand, die Machtverteilung zwischen den Berufsverbänden zu
verändern. Dies wurde mit Hilfe von nahestehenden politischen Parteien erreicht.
Im Rahmen der Auseinandersetzung um Merkmale zur Bestimmung und Selektion tarif-
vertragsfahiger Gewerkschaften gibt Gamillscheg einen weiteren wichtigen Hinweis. Er
bezieht sich auf die Beziehungen zwischen dem Staat als demjenigen Akteur, der die
Selektionskriterien definiert und anwendet und den Verbänden, die durch diese Selektions-
kriterien begünstigt oder benachteiligt werden. Gamillscheg betont, daß durch die staatliche
Normsetzung im Bereich der Interessenvertretung " ... die Machtstrukturen weiter befestigt
13 Allerdings wird über die Arbeitsteilung innerhalb des Betriebsrats weiterhin mit Mehrheit entschieden (vergl.
Heither 1990: 16).
19
werden" (1982: 102). Hierdurch allerdings " ... gerät der Staat in Gefahr, seine Neutralität
gegenüber den sozialen Gewalten zu verlieren" (1982: I 02).
Dieser Aussage liegt zunächst die Feststellung zugrunde, daß der Staat mit der Unterschei-
dung von Verbänden, die er als Gewerkschaften anerkennt und solchen Verbänden, denen er
diesen Status vorenthält, ein Steuerungsinstrument in der Hand hält. Mit diesem Instrument
kann der Staat seine Vorstellungen darüber realisieren, wie Akteure beschaffen sein müssen,
um sich für eine Teilnahme an der Gestaltung der kollektiven Arbeitsbeziehungen zu
qualifizieren.
Der Hinweis auf die "Gefährdung der staatlichen Neutralität" wird mit der Vermutung
verknüpft, daß der Staat seine Selektionskriterien so definiert, daß bestimmte Verbände
bevorzugt oder benachteiligt werden, ohne daß sich die auf diese Weise erzielten Ergebnisse
im Einklang mit den Zielsetzungen befinden müssen, die der Staat offiziell als Begründung
für seine Normierungen angibt.
Rieble vermittelt eine ähnlichen Einschätzung, wenn er fordert: "Der Staat hat sich im
Kollektivwettbewerb neutral zu verhalten und darf sich nicht vom Streben nach großen
Verbänden, etwa Einheitsgewerkschaften, leiten lassen" (1996: 562). Auch dieser Forderung
liegt die Annahme zugrunde, daß eher inoffizielle als offizielle Zielsetzungen das staatliche
Handeln leiten: "Die Arbeitsrechtsordnung darf sich nicht von einer gewünschten ,Markt-
struktur' der Koalitionen, nicht vom Streben nach starken Einheitsgewerkschaften leiten
lassen" (Rieble 1996: 562).
Solche Hinweise auf eine "Gefährdung der staatlichen Neutralität" liegen nahe, wenn man
sich vor Augen führt, in welchem Umfang der Gesetzgeber und die Rechtsprechung den
Vorstellungen der DGB-Gewerkschaften gefolgt sind, als es darum ging, kleinere Verbände
von der Interessenvertretung dadurch auszuschließen, daß ihnen eine Druckausübungsfähig-
keit abgesprochen wurde. Hinweise auf eine "Gefährdung der staatlichen Neutralität" ergeben
sich auch daraus, daß Veränderungen im Betriebsverfassungrecht, welche die Benachteiligun-
gen kleinerer - vor allem christlicher - Gewerkschaften aufgehoben haben, von einer
christlich-liberalen Regierungskoalition durchgesetzt wurden.
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht, ob eine solche "Gefährdung der staatli-
chen Neutralität" eher der einen oder der anderen politischen Richtung vorzuwerfen ist oder
ob sich hieraus berechtigte oder unberechtigte Benachteiligungen bestimmter Akteure
ergeben. Entscheidend ist vielmehr, daß es ratsam erscheint, in dieser Untersuchung eine
Perspektive zu wählen, die zwischen offiziellen und inoffiziellen staatlichen Zielsetzungen
unterscheidet und die es deshalb möglich macht, offizielle Begründungen staatlicher
Normierungen zu relativieren. Entscheidend ist weiterhin, daß auf dieser Grundlage die
Kontinuität und der Wandel staatlicher Normierungen besser interpretiert werden können als
dies der Fall ist, wenn solche Normierungen nur auf offizielle Zielsetzungen bezogen werden.
Die Interpretation der Handlungsfolgen als nicht-intendierte oder sogar paradoxe Handlungs-
20
folge wird auf diese Weise ebenso in Zweifel gezogen wie die Behauptung der Priorität von
offiziellen Zielsetzungen.
Diese Zusammenhänge sollen später noch einmal aufgegriffen werden.
21
zeitlichen Synchronisationsf!ihigkeit sowie einer höheren Konsensmobilisierungs-
kapazität bezüglich spezifischer Akteure und komplexer Aufgabenstellungen aus-
zeichnet" (Gotsch 1984: 69).
Von besonderer Bedeutung fiir die neo-korporatistische Politikform ist die beanspruchte
Steigerung der Integrationsleistung durch die "Vergesellschaftung der staatlichen Integrati-
onspolitik". Im Rahmen der neo-korporatistische Politikform besteht "die Bereitschaft und
Fähigkeit der Interessenorganisationen zur eigenkontrollierten Implementation staatlicher
Integrationsproblematik (im Gegensatz zu einem bloßen Forderungs-, Pressions- und
Konkurrenzverhalten)" (Gotsch 1984: 75). Das Gelingen "der neokorporatistischen Funktio-
nalisierung der Autonomie von Interessenorganisationen" (Gotsch 1984: 76) setzt die
erfolgreiche "organisationsinterne ,Inpflichtnahme"' (Gotsch 1984: 76) voraus. Interessenor-
ganisationen funktionieren in diesem Sinne, wenn organisationsstrukturelle Voraussetzungen
erfiillt sind, die einen weitreichenden "Organisationsumfang" sowie eine entsprechende
"Verpflichtungsfähigkeit" gewährleisten. Die Interessenorganisationen müssen die Möglich-
keit "zur internen Verpflichtung und Selbstkontrolle" (Gotsch 1984: 76) bieten.
Überbetriebliche Einheitsgewerkschaften erfahren deshalb innerhalb der neo-
korporatistischen Konzeption eine entscheidende Aufwertung. Dieser Konzeption folgend
wird davon ausgegangen, daß "die integrative Orientierung von Interessenorganisationen mit
dem Umfang des sozialen, sachlichen und zeitlichen Operationsfeldes [steigt], da hierzu
entgegengesetzt die Möglichkeiten der Kostenexternalisierung auf Dritte sinken und ent-
sprechend ein organisatorisches Selbstinteresse an erhöhten Integrationsleistungen intensiviert
wird" (Gotsch 1984: 76). Überbetriebliche (nach dem Industrieverbandsprinzip strukturierte)
Einheitsgewerkschaften haben einen Rekrutierungs- und Vertretungsbereich, der ihnen - so
die These - verantwortliches Handeln dringend nahelegt, weil es schon auf Grund ihres
Umfangs kaum noch Möglichkeiten gibt, andere Akteure fiir eigenes unverantwortliches
Handeln zahlen zu lassen. Überbetriebliche Einheitsgewerkschaften sind auch
" ... auf Grund ihrer größeren Heterogenität sowie eines größeren Imperativs zur
Aggregation und Transformation verschiedener Teilinteressen in eine einheitliche
Gesamtstrategie mehr als andere gewerkschaftliche Organisationsformen zu einer
verantwortlichen Systempolitik und der Internalisierung gesamtökonomischer
Wachstums- und Konjunkturerfordernisse bereit" (Gotsch 1984: 76).
"Je größer ein Kollektiv ist ... ", formuliert auch Wolfgang Streeck, " ... desto weniger kann
es die Kosten der Realisierung seiner Interessen auf die Gesellschaft abladen, ohne selber
betroffen zu sein ... "(1983: 195).
Verantwortlichen überbetrieblichen Einheitsgewerkschaften stellt Gotsch "fragmentierte
gewerkschaftliche Formen der Interessenvertretung" gegenüber. Strukturbedingt neigen
letztere - nach Ansicht der Vertreter des neo-korporatistischen Ansatzes - "... stärker zu
partikularistisch orientierter Interessenvertretung, da die Diskrepanz zwischen partikularem
Interesse und Kollektivgut-Ebene größer ausfällt" (Gotsch 1984: 76).
22
Die besonderen Vorteile überbetrieblicher Einheitsgewerkschaften zeigen sich dieser
Meinung zufolge bei der Durchsetzung wirtschaftlichen und sozialen Wandels, "nicht nur
weil Industriegewerkschaften von wirtschaftlichem Wandel organisatorisch weniger Schaden
nehmen, sondern auch weil ihre übrigen Mitglieder zu denjenigen gehören, die als Lohnemp-
fänger oder Steuerzahler für eine Konservierung unwirtschaftlich gewordener Strukturen
aufzukommen hätten" (Streeck 1979: 209). Damit wird eine "interessenpo1itische Blockade"
mit wirtschaftlich dysfunktionalen Folgen unwahrscheinlich (Streeck 1982: 20 und 1984:
139ff.).
Die Vorteile überbetrieblicher Einheitsgewerkschaften führen dazu, daß der Staat sich
bereit erklärt, die Organisationsstrukturen dieser Gewerkschaften zu stabilisieren. Hierzu wird
den Verbänden im Neo-Korporatismus gleichsam ein public status verliehen (vergl. zum
folgenden vor allem: Schmitter 1985, Streeck/Schmitter 1985 und Offe 1981). Die Verbände
werden in ihren Bemühungen unterstützt, die Bestandsprobleme zu lösen, die sich aus der
Kollektivgutproblematik freiwilliger Organisationen ergeben (Rationalitätsparadoxie). Indem
der Staat durch organisationssichernde Maßnahmen free-riding und free-booting weniger
rentabel erscheinen läßt, trägt er dazu bei, den Organisationsumfang und damit den Geltungs-
bereich verhandlicher Normierungen zu erweitern. Die angestrebte Vergesellschaftung der
staatlichen Integrationsproblematik erstreckt sich auf einen größeren und in der Regel
zunehmend heterogenen Personenkreis, von dem ohne staatliche Mithilfe ein Teil den
Verbänden fern bliebe.
Zusätzlich zu solchen auf die Organisationssicherung bezogenen Hilfen leistet der Staat
einen weiteren Beitrag zur Stabilisierung der (neo-korporatistisch gesteuerten) Verbände,
indem er die Berechtigung zur Ausübung wichtiger Verbandsfunktionen von Voraussetzun-
gen abhängig macht, die nur diejenigen Verbände erfüllen, welche vom Staat protegiert
werden. In der Regel sind dies überbetriebliche Einheitsgewerkschaften. Diese Verbände
werden auf diese Weise vor konkurrierenden Verbänden geschützt.
Die Erfüllung des neo-korporatistischen Programms führt letztlich zu einer monopolisti-
schen Interessenvertretung. Einander überschneidende Rekrutierungsbereiche werden
eliminiert, die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in Interessenverbänden zum Teil erheblich
eingeschränkt, die Neugründung von Verbänden erschwert ("monopolistic representation,
elimination of overlapping domains, and quasi-voluntary membership"). Die Mitglieder
bleiben "without ... effective choice between competing organizations, or a reasonable chance
to create rival ones" (Schmitter 1983: 913). Die Einschränkung der Konkurrenz zwischen den
Verbänden erleichtert nicht nur die Mitgliederrekrutierung, sondern auch die Oligarchisierung
der privilegierten Verbände. Korrekturen der Oligarchisierung im Interesse der Mitglieder
erscheinen entbehrlich: "Neo-corporatist Ieaders can be largely freed from constraint of
inducing members to contribute and, hence, from the need to conform closely to members
preferences" (Schmitter 1983: 914).
23
Eine Oligarchisierung der Verbandsstrukturen mit "strategisch-taktischen Freiheitsgraden"
für die Gewerkschaftsführung (Scharpf 1978: 580) wird mit der Notwendigkeit "effektiver",
d.h. kompromißfähiger Verhandlungsstrukturen gerechtfertigt.
Die kritische Auseinandersetzung mit dem neo-korporatistischen Ansatz bezieht sich
nachdrücklich auf dessen These, der gemäß sich überbetriebliche Einheitsgewerkschaften als
"große" Organisationen unweigerlich durch eine stärkere Verantwortlichkeit gegenüber der
Allgemeinheit auszeichneten.
"Größe" ist aber, wie Offe betont (1984: 243) " ... eine durchaus zweischneidige Bedingung
für "Verantwortlichkeit". Mit zunehmender Größe (und zunehmenden Ressourcen) nimmt
zwar die Anzahl deljenigen Akteure ab, denen man Schaden zufügen kann. Auf der anderen
Seite steigt aber auch die Möglichkeit, daß man sich den verbliebenen anderen gegenüber " ...
ohne selbst Schaden zu nehmen, tatsächlich ,rücksichtslos' verhalten kann" (Offe 1984:
243f.).
Bei genauer Betrachtung ergibt sich weiterhin, daß die von neo-korporatistischen Pro-
blemlösungen nachteilig betroffenen Akteure tatsächlich kaum von denen zu unterscheiden
sind, die von neo-korporatistischen Arragements zunächst begünstigt werden. Der große
Organisationsumfang verhindert nicht die Kostenexternalisierung. Bevorzugte und benachtei-
ligte Akteure rücken in ihren jeweiligen Rollen in dem Maße zusammen, in dem sich der
Umfang der Organisationen ausdehnt. Sind es in den frühen Ausführungen neo-
korporatistischer Darstellungen zunächst noch "dritte" Personen, also Nicht-Mitglieder, auf
die inkorporierte Akteure ihre "Kosten" abwälzen können, so werden daraus bald Funktio-
nen, Rollen oder Interessenlagen deljenigen Akteure, die zunächst begünstigt erscheinen.
Schmitter konzediert die Möglichkeit einer Benachteiligung von "pensioners, pedestrians,
taxpayers, motorists, sufferers from pollution, payers of insurance premiums, television
watchers, hospital patients (1982: 271)" und räumt weiterhin ein, neo-korporatistische
Arrangements " ... may produce negative externalities for excluded interests in the form of
higher prices, restricted access, unemployment, pollution ..." (Schmitter 1983: 918). Offe
( 1981: 129) registriert die Benachteiligungsmöglichkeiten von "consumers" durch neo-
korporatistische Arrangements. Aus zunächst vorteilhaft erscheinenden Ergebnissen neo-
korporatistischer Arrangements können für die seihen Personen Danaer-Geschenke werden.
Die Vergrößerung des Verbandsumfangs durch die staatliche Favorisierung überbetriebli-
cher Einheitsgewerkschaften bringt weitere Nachteile mit sich. Die Ziele der Effektivität und
der Legitimität der Interessenvertretung geraten miteinander in Konflikt. Die Heterogenität
der Mitglieder führt dazu, daß die Großorganisationen die Fähigkeit vermissen lassen, eine
"interne ,Kultur der Reziprozität' zu pflegen und im Bedarfsfalle zu aktivieren" (Offe 1984:
244). Verbandstypische Solidarnormen weichen zunehmend individualistischen Rentabilitäts-
kalkülen, welche durch die Mechanismen staatlicher Organisationssicherung noch gefordert
werden. Die neo-korporatistische Steuerungsformen geraten in die Nähe der staatlich-
rechtlichen Autoritätsausübung, und das, ohne demokratietheoretisch akzeptable Legitimati-
24
onsgrundlagen vorweisen zu können. Damit entfällt ein weiterer Vorteil der verbandsförmi-
gen Interessenorganisation.
Die Kritik an den Folgen der neo-korporatischen Steuerungsform wird also häufig mit dem
Hinweis auf ihre reale Selektivität verbunden (vergl. Streeck 1987: 482ff. und Esser 1982:
257ff.). Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß die tatsächlichen Vorteile dieser
Steuerungsform nur auf Kosten von Dritten (Akteuren oder Rollenträgern) wahrgenommen
werden können.
Die Kritik richtet sich allerdings nur gegen die neo-korporatistische Steuerungsform als
solche. Sie wendet sich nicht gegen die Mechanismen und Strukturformen, die diese Steue-
rungsform im einzelnen konstituieren. So bleibt auch die einheitsgewerkschaftlich-
monopolistische Strukturform von der Kritik verschont, obwohl sie zu den tragenden Säulen
dieser Politikform zählt.
Die Kritiker des neo-korporatistischen Ansatzes diskutieren zunächst nicht, ob und inwie-
weit Alternativen zur überbetrieblichen Einheitsgewerkschaft durch eine Pluralisierung der
Organisationsformen erwogen werden können. Vielmehr wird einer noch stärkeren staatlichen
Steuerung das Wort geredet. Offe thematisiert zwar die selektiven Segmentationswirkungen
eines neo-korporatistischen Beschäftigungspakts, wenn er darauf hinweist, daß eine Integra-
tion der Arbeitslosen und Arbeitssuchenden hierdurch nicht gelingt. Folgerichtige Gedanken
an die Möglichkeit einer "Gewährung von Organisationshilfen für diejenigen [Verbände,
W.P.], die (wie die Arbeitslosen) zur Ausbildung eigener Organe funktionaler Repräsentation
typischerweise nicht in der Lage sind" (Offe 1984: 255) führt Offe nicht weiter. Solche
Regelungen machten seiner Ansicht nach eine noch stärkere "Verfaßtheit" des Verhand-
lungssystems erforderlich, wodurch den neo-korporatistischen Arrangements "die Flexibilität
ihrer parakonstitutionellen Einigungsfähigkeit wieder verloren ginge" (Offe 1984: 255).
Mit der gleichen Argumentation verwirft zunächst auch Schmitter ähnliche Bestrebungen,
bislang unzureichend vertretene Interessen durch Organisationshilfen besser zur Geltung zu
bringen. Die spezifische neo-korporatistische Interaktions- und Kooperationsform stoße an
ihre Grenzen, wenn sich zu viele Akteure an ihr beteiligten:
Durch die bisherigen Ausführungen entsteht zunächst der Eindruck, daß Korrekturen an der
einheitsgewerkschaftlich-monopolistischen Interessenvertretungsform in Form einer
Pluralisierung offensichtlich verworfen werden, ohne daß die entsprechenden Alternativen
einer ernsthaften Prüfung unterzogen werden.
Letztlich steht aber zur Debatte, ob die Interessenvermittlung und Interessenvertretung
intraorganisatorisch - also innerhalb einer überbetrieblichen Einheitsgewerkschaft - erfolgen
25
soll oder ob ein interorganisatorischer Interessenausgleich vorgenommen werden soll, der an
eine vorhergehende BündeJung der Interessen durch mehrere Organisationen anschließt.
Überlegungen zu alternativen Regelungen organisierter Interessenvertretung stellen Streeck
und Schrnitter (1985) an, wenn sie private Interessenregierungen (private interest govern-
ments) gegenüber dem Markt, dem Staat und der Gemeinschaft als eigenständige Rege-
lungsform abgrenzen und legitimieren. Die Autoren gehen nicht mehr selbstverständlich
davon aus, daß eine Kostenexternalisierung als Folge von neo-korporatistischen Vereinbarun-
gen am ehesten vermieden werden kann, wenn überbetriebliche Einheitsgewerkschaften an
den Vereinbarungen beteiligt werden. Als Alternative zu Einheitsgewerkschaften, in denen
ein intraorganisatorischer Interessenausgleich zu leisten ist, wird der interorganisatorische
Interessenausgleich zwischen Verbänden angesehen, die über einen kleineren Rekrutierungs-
und Vertretungsbereich verfiigen. Ein Interessenausgleich
Die Normierungen des Staates können also danach unterschieden werden, ob sie einen
inter- oder einen intraorganisatorischen Interessensausgleich anstreben, ob sie also so gefaßt
werden, daß lediglich überbetriebliche Einheitsgewerkschaften mit der (monopolistischen)
Interessenvertretung betraut werden oder ob mehreren gewerkschaftlichen Akteuren Interes-
senvertretungsbefugnisse übertragen werden, so daß von einem Gewerkschaftspluralismus
gesprochen werden kann.
Den gewerkschaftlichen Akteuren können unter den Bedingungen des Gewerkschaftsplura-
lismus Regelungen für den zwischenorganisatorischen Interessenausgleich an die Hand
gegeben werden. Die interorganisatorische Konzertierung erscheint dann als äquivalente
Regelungsform neben dem innerorganisatorischen Interessenausgleich, wie er durch die
besondere Förderung von umfassenden Einheitsgewerkschaften nahegelegt wird.
Die Entscheidung für den inter- oder den intraorganisatorischen Interessenausgleich ma-
chen Streeck/Schrnitter u.a. davon abhängig, welches Ausmaß an Interessenheterogenität die
Organisationen intern bewältigen können. Hierbei ist es nicht in erster Linie die Anzahl der
Akteure, welche die Schwierigkeit des Interessenausgleichs bedingt, sondern das Ausmaß, in
dem die Interessen inhaltlich divergieren. Von besonderer Bedeutung für pluralistisch
verfaßte Systeme ist die Eignung der Koordinationsmechanismen, die zum Interessenaus-
gleich zur Verfiigung gestellt werden.
Die Selektion vertretungsberechtigter Akteure und die - rechtlich präformierte - Koordina-
tion ihrer Handlungen entscheiden mit über den Erfolg des Interessenausgleichs. Keiner der
beiden Lösungswege kann von vorn herein für sich in Anspruch nehmen, dem anderen
prinzipiell überlegen zu sein. Selbst die Flexibilität und die Kompromißfähigkeit beim
26
Interessenausgleich zwischen Staat und Verbänden müssen nicht unbedingt abnehmen, wenn
die Anzahl der am Interessenausgleich beteiligten Akteure zunimmt. Ein solcher Zusammen-
hang eignet sich allenfalls dazu, als Hypothese für verbandsförmige Interessenvertretung zu
dienen. Er kann aber nicht ungeprüft übernommen und zur grundsätzlichen Ablehnung
pluralistischer Organisationsformen verwendet werden.
Die Bedeutung, welche die rechtlichen Regelungen insgesamt für den Erfolg der Interes-
senvermittlung haben, fordert besonders dazu auf, die beabsichtigten Wirkungen und
(möglicherweise) nichtintendierten Nebenfolgen zu beachten, die von der jeweiligen Form
des Interessenausgleichs ausgehen. Die Auftnerksamkeit hat hierbei zunächst den rechtlichen
Interventionen zu gelten, welche der Unterstützung überbetrieblicher Einheitsgewerkschaften
dienen sollen: "What are the Iimits, and possible unintended side-effects, of the authoritative
structuring of, and the award of public status to, organized interest groups in a democratic
society?" (Streeck/Schmitter 1985: 21).
Sobald der zwischenorganisatorische Interessenausgleich als funktional äquivalente Lö-
sungsform diskutiert wird, stellt sich die Frage nach der Beschaffenheit der Regelungen, die
diesen Interessenausgleich steuern oder zumindest flankieren sollen.
Wenn mehrere kollektive Akteure an der Interessenvertretung beteiligt werden, ergibt sich
das Problem, ob und in welcher Form der Staat versuchen soll, die Auswahl der teilnahmebe-
rechtigten kollektiven Akteure zu beeinflussen und ihre Interaktionen in ihrem Verlauf zu
steuern.
Es stellt sich weiterhin die Frage, welche Zielsetzungen der Staat überhaupt verfolgt, wenn
er in die Arbeitsbeziehungen interveniert.
Welche Zielsetzungen werden offiziell genannt? Welche weiteren Zielsetzungen, die die
Normierungen der Arbeitsbeziehungen ebenfalls bestimmen, verfolgt der Staat gegebenen-
falls zusätzlich oder eigentlich?
Weiterhin ist zu fragen, ob die rechtlichen Normierungen den staatlichen Zielsetzungen
dienen oder ob sie nicht-intendierte oder sogar paradoxe Wirkungen haben.
Die zentrale Form der staatlichen Intervention in die Mechanismen des Interessenaus-
gleichs ist die Selektion der vertretungsberechtigten Akteure. Hinzu kommt die rechtliche
Konfiguration der zwischenorganisatorischen Beziehungen.
Die Lösung des Problems der Selektion vertretungsberechtigter Gewerkschaften bereitet
bereits Schwierigkeiten, wenn eine ,,mächtige" Einheitsgewerkschaften vorhanden ist, die
eine monopolistische Interessenvertretung anstrebt und die gegenüber kleineren Konkurrenten
abgeschottet werden soll. Erheblich schwieriger werden die Selektionen, wenn " ... mehr oder
weniger gleich starke Verbände um den Vorrang bei der Interessenwahrnehmung der
Arbeitnehmer miteinander ringen" (Gamillscheg 1982: 102). Solche Konturen der Arbeitsbe-
ziehungen erlauben es nicht, daß die staatliche Steuerung eine monopolistische Form der
Interessenvertretung begünstigt und andere Gewerkschaften wegen ihrer vermeintlichen
"Ohnmacht" aussortiert. Vielmehr müssen Kriterien gefunden werden, welche die Koexistenz
27
von zumindest zwei Gewerkschaftsverbänden ermöglicht. Gleichzeitig darf nicht ausge-
schlossen werden, daß die Vertretungsberechtigung nicht allen Gewerkschaften in gleichem
Umfang übertragen wird und daß einzelne Gewerkschaften sogar von jeglicher Vertretungs-
berechtigung ausgeschlossen werden.
Ein Gewerkschaftspluralismus stellt besondere Anforderungen an die rechtlichen Normie-
rungen, weil Merkmale der Selektion gefunden werden müssen, welche die Koexistenz
mehrerer Gewerkschaften sicherstellen, ohne damit eine schrankenlose Vertretungsberechti-
gung zu ermöglichen. Ferner muß erwogen werden, ob und in welcher Form der zwischenge-
werkschaftliche Interessenausgleich einer staatlicher Normierung unterworfen werden soll.
1.3 OffiZielle und inoffiZielle Zielsetzungen staatlicher Steuerung mit intendierten und
nicht-intendierten Handlungsfolgen
Die Bestimmung von "Druckausübungsfähigkeit" bzw. "Mächtigkeit" als Grundlage für die
Selektion tariffähiger Gewerkschaften erscheint zunächst als ein Spezifikum der Arbeitsbe-
ziehungen der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings werden auch in anderen Ländern
ähnliche Selektionen vorgenommen. "Eine Umschau in andere Rechtsordnungen zeigt, daß
das Merkmal der Mächtigkeit andernorts unter dem Begriff ,Repräsentativität' in Erscheinung
tritt" (Eitel 1989: 24). Der Begriff der Repräsentativität dient der Bezeichnung der formalen
Vertretungskompetenz von Interessenverbänden auf der Grundlage von rechtlichen Normie-
rungen. Die Repräsentativität ist das Ergebnis eines staatlichen Auswahlverfahrens, das die
Bevollmächtigung zur Interessenvertretung auf der Grundlage rechtlich präzisierter Kriterien
regelt, " ... un titre de legitimite ou d'authenticite de Ia representation syndicale, dont !es
criteres sont definis par !'Etat" (Morin 1988: 30 14). Die Bestimmung der Repräsentativität von
Interessenverbänden erfolgt zwar nicht in jedem Systemen der Arbeitsbeziehungen mit
Gewerkschaftspluralismus 15 , sie wird aber in den meisten System für notwendig gehalten. Die
Bestimmung der Repräsentativität baut einerseits auf der tatsächlichen Pluralität gewerk-
schaftlicher Interessenvertretung auf, andererseits dient sie auch der Korrektur der Folgen, die
durch eine Vielfalt der Interessenvertretung entstehen könnten. Sie erfolgt, " ... pour corriger
!es exces du pluralisme (Souriac-Rothschild 1996: 446 16).
Die Bestimmung von "Druckausübungsfähigkeit" bzw. "Mächtigkeit" ist ein deutscher
Sonderweg zur Bestimmung von Repräsentativität. Es handelt sich um ein Verfahren, das
dazu führt, daß die Interessenvertretung der Arbeitnehmer vor allem von überbetrieblichen
14 Die Bestimmung von Repräsentativität wird darüber hinaus wegen ihrer weitreichenden Folgen zu einem
Steuerungsinstrument, das über den engen Bereich der Arbeitsbeziehungen hinausragt: ,,... Ia notion de
representativite a ete etendue en dehors de Ia sphi:re du travail, devenant une technique generale de gestion
sociale" (Rosanvallon 1987: 109).
15 vergl. etwa fiir die Arbeitsbeziehungen in Portugal: Barreto (1992: 470)
16 vergl. auch Lyon-Caen 1986: 34f.
28
Einheitsgewerkschaften übernommen wird. Die Ansätze zu einem Gewerkschaftspluralismus
können sich nicht entfalten.
Zur Begründung dafür, daß in der Bundesrepublik Deutschland die "Druckausübungsfähig-
keit" bzw. ,,Mächtigkeit" als Selektionsmerkmal für die Vertretungsberechtigung Bedeutung
erhält, wird zunächst auf die offizielle Zielsetzung der staatlichen Konfiguration der Tarifau-
tonomie hingewiesen. Erörterungen über die Leistungsfähigkeit alternativer Regelungsformen
auf dem Wege eines Gewerkschaftspluralismus werden weitgehend zurückgestellt. Dieses
Defizit kann auf "inoffizielle" Interessen des Staates zurückgefiihrt werden, die ebenfalls -
vielleicht sogar vorrangig - für die Auswahl der Selektionskriterien von Bedeutung sind. Die
Auswahl und Bestimmung des Selektionsmerkmals ,,Druckausübungsfähigkeit" bzw.
"Mächtigkeit" ergibt sich demzufolge nicht in erster Linie aus der offiziellen Zielsetzung,
Tarifautonomie zu gewährleisten, sondern zumindest auch aus der inoffiziellen Zielsetzung,
bestimmte Gewerkschaften bei der Organisationssicherung zu unterstützen und anderen
Gewerkschaften diese Unterstützung vorzuenthalten.
Für Gesellschaften, in denen andere Selektionskriterien zugrunde gelegt werden, stellen
sich ähnliche Fragen: Es stellt sich einmal die Frage nach den offiziellen Zielsetzungen,
welche die Selektion "repräsentativer" Gewerkschaften legitimieren, zum anderen stellt sich
die Frage nach den inoffiziellen Zielsetzungen, welche bestimmten Selektionen ebenso
zugrunde liegen.
Die Ermittlung von offiziellen und inoffiziellen Zielsetzungen staatlichen Handeins in den
Arbeitsbeziehungen steht im Mittelpunkt des Interesses dieser Untersuchung. Ferner
interessieren die Normierungen, mit denen diese Zielsetzungen durchgesetzt werden und die
Wirkungen, die der Einsatz bestimmter Normierungen auf die Arbeitsbeziehungen hat.
Die Untersuchung soll sich vor allem auf diejenigen Länder beziehen, in denen besondere
Anforderungen an die Konfiguration staatlicher Normierungen gestellt werden, weil es sich
um Länder handelt, in denen mehrere Gewerkschaften ähnlicher Größe koexistieren, also
Gewerkschaftspluralismus vorliegt.
Hierbei muß zunächst Beachtung finden, nach welchen Merkmalen die Gewerkschaften
verschiedener Länder voneinander unterschieden werden können. Es soll eine Unterscheidung
getroffen werden zwischen den Systemen von Arbeitsbeziehungen, in denen die Organisation
der verschiedenen Gewerkschaften letztlich auf politisch-weltanschaulichen Organisati-
onsprinzipien beruht und solchen Systemen, in denen arbeitsmarktbezogene Organisati-
onsprinzipien eine Unterscheidung zwischen den Gewerkschaften begründen, ohne daß sie
durch politisch-weltanschauliche Organisationsprinzipien überformt werden.
In beiden Systemen erfolgt zwar auch eine Unterteilung der Gewerkschaften nach arbeits-
marktbezogenen Kriterien. Es gibt in beiden Systemen unterschiedliche Berufs- oder
Industriegewerkschaften, unterschiedliche Standesorganisationen, vielleicht sogar überfachli-
che allgemeine Gewerkschaften. In beiden Systemen schließen sich diese unterschiedlichen
Gewerkschaften in Gewerkschaftsföderationen zusammen. Allerdings erfolgt dieser Zusam-
29
menschluß in manchen Ländern auf der Grundlage politisch-weltanschaulicher Organisati-
onsprinzipien, während in anderen Ländern keine unterschiedlichen politisch-
weltanschaulichen Richtungen bestehen, welche die Grundlage für den Zusammenschluß der
zunächst arbeitsmarktbezogen differenzierten Gewerkschaften bilden.
Dementsprechend werden in dieser Untersuchung die Formen des Gewerkschaftspluralis-
mus, die auf einer richtungsgewerkschaftlichen Differenzierung beruhen, von den Formen des
Gewerkschaftspluralismus unterschieden, denen eine solche Differenzierung nicht zugrunde
liegt. So kennen z.B. Frankreich und Belgien die politisch-weltanschauliche Differenzierung
als übergeordnetes Organisationsprinzip, in Großbritannien hingegen sind politisch-
weltanschauliche Unterschiede für die Differenzierung des Gewerkschaftswesens nicht
erheblich.
Der Grund für die Unterscheidung von zwei unterschiedlichen Systemen des Gewerk-
schaftspluralismus liegt darin, daß die Anhindung der Arbeitsbeziehungen an den Staat eine
besondere Bedeutung gewinnt, sobald in einer Gesellschaft für die Bildung von Gewerk-
schaften politisch - weltanschauliche Differenzierungen konstitutiv sind. Insbesondere steht in
diesen Gesellschaften das staatliche Neutralitätsgebot, auf das bereits hingewiesen wurde, vor
einer Bewährungsprobe. Es ist in besonderer Weise der Verletzungsgefahr ausgesetzt.
Gewerkschaften, die durch ihre politisch-weltanschauliche Orientierung geprägt sind,
haben nämlich andere Konstitutionsbedingungen als Gewerkschaften, die sich rein arbcits-
marktbezogen konstituieren. Politisch-weltanschauliche Orientierungen bringen in der Regel
nicht nur Gewerkschaften hervor, sondern auch politische Parteien gleicher oder ähnlicher
Orientierung. Hieraus ergeben sich wechselseitige Affinitäten und Abhängigkeiten, die sich
auch in staatlichem Handeln niederschlagen.
Gewerkschaftliches Handeln steht in Systemen der Arbeitsbeziehungen, die eine richtungs-
gewerkschaftliche Differenzierung aufweisen, in einer besonderen Beziehung zum Staat und
den Akteuren, die den Staat bilden und vertreten. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit
einer Beeinflussung des Staates durch die Gewerkschaften ebenso wie die Wahrscheinlichkeit
einer Beeinflussung der Gewerkschaften durch den Staat.
Es kann weiterhin angenommen werden, daß die Ziele und Mittel, die Gegenstand der
wechselseitigen Beeinflussung von Staat und Gewerkschaften sind, in Systemen mit rich-
tungsgewerkschaftlicher Differenzierung von den jeweiligen partikularen Wertorientierungen
abhängen, die der gemeinsamen weltanschaulichen Orientierung zugrunde liegen.
Hiermit sind also nicht etwa grundsätzliche Vorgaben und Förderungen gemeint, die
Gewerkschaften durch einen Staat erfahren, der auf bestimmte ideologische Positionen
ausgerichtet ist, also etwa die grundsätzlich Begünstigung von Gewerkschaften durch
sozialdemokratisch geführte Regierungen. Vielmehr geht es um spezifische Inhalte, welche
die politischen Parteien und Regierungen gegenüber den Gewerkschaften und die Gewerk-
schaften gegenüber den politischen Parteien und den Regierungen durchsetzen wollen - also
etwa um die Akzeptanz lohnpolitischer Richtlinien oder um die Gestaltung bestimmter
30
Normen der Arbeits- und Sozialgesetzgebung im Sinne von Leitbildern einer christlichen
Familienpolitik oder um eine bestimmte Konzeption von Humanisierung der Arbeit.
Es kann weiterhin angenommen werden, daß bereits die Definition von Repräsentativität in
den Zusammenhang der wechselseitigen Beeinflussung von Staat und Verbänden eingebun-
den ist. Die mit der Bestimmung von Repräsentativität verbundenen Selektionen und
Befestigungen gewerkschaftlicher Organisation sind die Grundlagen für die Einflußnahme
des Staates auf die Gewerkschaften und der Gewerkschaften auf den Staat. Die Art der
Bestimmung von Repräsentativität ist deshalb vor dem Hintergrund bestimmter offizieller und
inoffizieller Zielsetzungen zu interpretieren, die durchgesetzt werden sollen, indem bestimm-
ten Gewerkschaften eine über die Repräsentativität vermittelte Vertretungskompetenz und
Befestigung zuerkannt bzw. vorenthalten wird.
Das Thema dieser Untersuchung sind damit die Beziehungen zwischen dem Staat und den
Gewerkschaften in Systemen der Arbeitsbeziehungen, die durch einen richtungsgewerk-
schatilich bestimmten Pluralismus gekennzeichnet sind.
Es wird zunächst davon ausgegangen, daß gewerkschaftliches Handeln staatlichen Normie-
rungen unterliegt, die Zielsetzungen folgen, die der Staat als offiziell hervorhebt. Um aber die
Wirkungen staatlichen Handeins auf die Arbeitsbeziehungen erkennen und erklären zu
können, gilt es zu berücksichtigen, daß neben den offiziellen staatlichen Zielsetzungen auch
inoffizielle Zielsetzungen bestehen. Die Wirkungen, die im Hinblick auf offizielle Zielsetzun-
gen als nicht-intendierte oder sogar paradoxe Wirkungen erscheinen, können durchaus im
Einklang mit inoffiziellen Zielsetzungen stehen. Ist dieses der Fall, könnte (eine zunächst
überraschende) Kontinuität nicht-intendierter Wirkungen damit erklärt werden, daß diese
Wirkungen im Einklang mit diesen inoffiziellen Zielsetzungen stehen und aus diesem Grunde
nicht korrigiert werden.
Es ist also ratsam, zwischen den Zielsetzungen zu unterscheiden, welche der Staat als
beabsichtigte Zielsetzungen offiziell angibt und den Zielsetzungen, welche staatlichem
Handeln als inoffizielle Zielsetzungen unterliegen. Oft gelten diese inoffiziellen Zielsetzun-
gen als "wahre" Absichten, die sich hinter den offiziellen Zielsetzungen verbergen.
Weiterhin soll - wie bereits angedeutet- eine Unterscheidung der Folgen staatlichen Han-
deins vorgenommen werden. Es kann unterschieden werden zwischen solchen Handlungsfol-
gen, die als intendierte Handlungsfolgen bestimmter Zielsetzungen angesehen werden können
und solchen Handlungsfolgen, die in Bezug auf die jeweilige Zielsetzung nicht-intendiert
sind. Nebenbei können Zielsetzungen selbstverständlich ohne Handlungsfolgen bleiben, weil
sie nicht beachtet werden.
Nicht-intendierte Handlungsfolgen lassen sich weiterhin unterscheiden in Handlungsfolgen,
welche den Zielsetzungen nicht entsprechen, ohne ihnen zu widersprechen und Handlungs-
folgen, welche den Zielsetzungen nicht nur nicht entsprechen, sondern sogar widersprechen.
Letztere werden als "paradoxe Handlungsfolgen" bezeichnet.
31
Paradoxe Handlungsfolgen sind also nicht-intendierte Handlungsfolgen, die im Wider-
spruch zur offiziellen oder inoffiziellen Zielsetzung stehen. Das Ziel wird nicht nur verfehlt,
es rückt sogar in weitere Ferne, weil sich bestimmte - in diesem Sinne also paradoxe -
Handlungsfolgen einstellen.
In der Auseinandersetzung mit nicht-intendierten Handlungsfolgen wird in der Literatur vor
allem danach gefragt, warum solche Handlungsfolgen auftreten. Hierbei wird erörtert, welche
Mittel zur Realisierung bestimmter Zielsetzungen ergriffen werden und wie diese Mittel auf
die Motivationen derjenigen Akteure wirken, deren Handlungen zielgerecht beeinflußt
werden sollen. Davon, ob eine Beeinflussung im Sinne der Zielsetzungen gelingt, ist es in
erster Linie abhängig, ob die Handlungsfolgen den Zielsetzungen entsprechen oder nicht. Wie
Hennen (1990: 79ff.) zeigt, ergeben sich bei der Umsetzung von Zielsetzungen in Handlungs-
folgen regelmäßig dadurch Probleme, daß die Motivationen der Akteure nicht in der Weise
beeinflußt werden können wie zunächst beabsichtigt. Es ergeben sich Schwierigkeiten, weil
die zur Durchsetzung der Zielsetzungen verwendeten Mittel ihre Wirkungen dadurch
verfehlen, daß sich oft - ohne daß es von den Akteuren bemerkt wird - neue Motivationen
herausbilden. An diesen neuen Motivationen zielen die Mittel zur Zielerreichung vorbei, weil
sie auf andere inzwischen überholte Motivationen hin ausgerichtet sind.
Nicht-intendierte Handlungsfolgen können sich auch dadurch ergeben, daß innerhalb
bestimmter Organisationen verschiedene Akteursgruppen - also etwa Leitungen und Mitglie-
der - unterschiedliche Motivationen haben, die Instrumente der Zielsetzung aber nur eine der
beiden Motivationsformen erreichen 17 .
Mit solchen Überlegungen wird also versucht, die nicht-intendierten Handlungsfolgen
damit zu erklären, daß sich die Motivationen der Akteure verändern oder voneinander
unterscheiden. Im Unterschied dazu soll in dieser Untersuchung in erster Linie darauf
geachtet werden, ob die nicht-intendierten Handlungsfolgen vielleicht anderen als den
offiziell genannten Zielsetzungen entsprechen. Solche Überlegungen berücksichtigen, daß die
erstellte Diagnose nicht-intendierter Handlungsfolgen häufig nur vorläufig richtig ist. Die
Doppelbödigkeit der Zielsetzungen - die Unterscheidung zwischen offiziellen und nicht-
offiziellen Zielsetzungen - kann zu dem Ergebnis führen, daß die Einordnung von Handlungs-
folgen als ausschließlich nicht-intendiert korrigiert werden muß, weil Handlungsfolgen, die
für offizielle Zielsetzungen als nicht-intendierte Handlungsfolgen anzusehen sind, als
intendierte Handlungsfolgen inoffizieller Zielsetzungen gelten können.
An die Diagnose von nicht-intendierten Handlungsfolgen schließen sich also Bemühungen
an, solche Zielsetzungen aufzuspüren, die als inoffizielle Zielsetzungen "hinter" den offiziel-
len Zielsetzungen stehen. Es gibt also eine Rationalitätsvermutung, welche dazu führt, daß die
17 Dies ist im Zusammenhang dieser Untersuchung beispielsweise der Fall, wenn in Frankreich die staatlichen
Subventionen von der Gewerkschaftsleitung begrüßt werden, die Mitglieder aber solche Subventionen als
Ausdruck "politisierter" Arbeitsbeziehungen ablehnen und der Organisation den Rücken kehren.
32
Untersuchung des Zusammenhangs nicht mit der Diagnose und (vorläufigen) Erklärung der
nicht-intendierten oder gar paradoxen Handlungsfolgen abgebrochen wird. Vielmehr werden
den Akteuren inoffizielle Zielsetzungen zugeordnet, welche die Mittelwahl als rational und
die Handlungsfolgen als intendiert erscheinen lassen.
Die Unterscheidung von offiziellen und nicht-offiziellen Zielsetzungen hat auch Folgen für
die Wahrscheinlichkeit einer Korrektur der Mittel, die dazu dienen sollen, daß die entspre-
chenden Ziele erreicht werden. Mittelkorrekturen infolge perzipierter nicht-intendierter
Handlungsfolgen sind eher wahrscheinlich, wenn nur offizielle Zielsetzungen vorliegen, die
demzufolge als verfehlt gelten können.
Bestehen hingegen - möglicherweise sogar vorrangige - inoffizielle Zielsetzungen, richtet
sich die Wahrscheinlichkeit von Mittelkorrekturen danach, ob die nicht-intendierten Hand-
lungsfolgen den inoffiziellen Zielsetzungen entsprechen oder nicht.
Erweisen sich aber bestimmte Handlungsfolgen als nicht-intendiert im Sinne nachrangiger
offizieller und als intendiert im Sinne vorrangiger inoffizieller Zielsetzungen ist davon
auszugehen, daß keine Korrektur erfolgt. Die scheinbare Paradoxie entspricht tatsächlichen
Absichten und wird nicht nur toleriert sondern akzeptiert. Die Korrekturen der verwendeten
Mittel sind besonders wahrscheinlich, wenn die Handlungsfolgen nicht nur für die offiziellen
Zielsetzungen sondern auch für nicht-offizielle Zielsetzungen als nicht-intendiert angesehen
werden müssen.
33
Diese Zusammenhänge können folgendennaßen veranschaulicht werden:
Fall 1: Bewertung der Handlungsfolgen als intendiert bzw. nicht-intendiert erfolgt in
Abhängigkeit von der Zielsetzung. Es erfolgt keine Korrektur der Mittel, wenn die inoffizielle
Zielsetzung Vorrang hat. Hat die offizielle Zielsetzung Vorrang, erfolgt eine Korrektur.
Zielsetzungen
(offiziell)
~ Nonniorung
(Mittel)
----~ Handlungsfolgen
(nicht-intendierte)
(intendierte)
.......................................................................................················
.............
•······················
Zielsetzungen
(inoffiziell)
Zielsetzungen
(offiziell)
(nicht-intendierte)
Nonnierung _ _ _ __
Handlungsfolgen
(Mittel) (nicht-intendierte)
.-~~---~-
...............
Zielsetzungen
(inoffiziell)
34
2 Nationale Arbeitsbeziehungen mit richtungsgewerkschaftlichem
Pluralismus. Die Auswahl geeigneter Länder
Durch eine Beschränkung der Untersuchung auf die Arbeitsbeziehungen von Ländern mit
einem Pluralismus verschiedener Richtungsgewerkschaften wird die Auswahl geeigneter
Länder zwar erheblich eingeschränkt, sie erübrigt sich aber nicht. Es stellt sich die Frage,
welche Länder sich für eine Untersuchung der Arbeitsbeziehungen eignen, um die themati-
sierten Prcblemstellungen vergleichend zu behandeln.
18 vergl. zur Einstufung als /'exceptionfran,aise Rehfeldt 1997: 77; ebenso Goetschy/Rozenblatt 1992: 404 ff.,
mit Einschränkungen auch Amadieu 1995: 345 mit Bezug aufRojot; ebenso Rosaovalion 1988: 25.
35
mit der Betonung von Ausnahmen eine Konvergenz der anderen Arbeitsbeziehungssysteme
zu unterstellen?
Tatsächlich fällt auf, daß sich manche Autoren in letzter Zeit eine auffallende Zurückhal-
tung gegenüber Aussagen auferlegen, mit denen auf Konvergenzen in den Arbeitsbeziehun-
gen hingewiesen wird. So betonen Hyman (1994) und Traxler (1995) übereinstimmend, daß
häufig mit Stichworten wie Globalisierung oder Internationalisierung bezeichnete Anglei-
chungen in den Rahmenbedingungen nationaler Arbeitsbeziehungen nicht zu stärkeren
Ähnlichkeiten geführt hätten, sondern vielmehr unterschiedliche nationale Antworten auf
ähnliche Herausforderungen gegeben worden seien.
Im Unterschied zu den Hypothesen über eine zunehmende Vereinheitlichung der nationalen
Arbeitsbeziehungen, wie sie etwa aus dem post-fordistischen Regulationsmodell abgeleitet
werden können, hätten Untersuchungen der empirischen Realität ergeben, "... that the
dynamics of contemporary capitalist production are on the contrary uneven, contingent, and
contradictory" (Hyman 1994: 21). Die Beobachtung von Divergenz, Kontingenz und
Widersprüchlichkeil korrigiert die Annahmen über eine zunehmende Konvergenz.
Der institutionelle Wandel und damit auch die Chancen für eine Annäherung der Systeme
werden durch die Grenzen limitiert, die durch die historischen Eigenarten gegeben sind.
"There is space for the persistence ofnational idiosyncrasies; and specific historical inheritan-
ces condition the pace and direction of institutional change... . The obstacles to plausible
generalization are immense. The 1990s, like the 1980s, will be marked by fundamental
ambiguity" (1994: 21).
Hyman distanziert sich auch dadurch von Konvergenzthesen über die Entwicklung der
nationalen Arbeitsbeziehungen, daß er der Behauptung widerspricht, die Krise der Gewerk-
schaften europäischer Länder zeige sich übereinstimmend in sinkenden Mitgliederzahlen und
Organisationsgraden. Tatsächlich - so betont Hyman - unterscheidet sich die Entwicklung
zwischen den europäischen Ländern in dieser Hinsicht erheblich. Sinkenden Organisations-
graden- wie etwa in Frankreich- stehen stabile hohe Organisationsgrade in den nordeuropäi-
schen Ländern sowie in Belgien gegenüber. Die Organisationsgrade der Gewerkschaften
europäischer Länder haben sich nicht auf niedrigem Niveau aneinander angeglichen.
Vielmehr sind die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern größer geworden. Nicht
Konvergenz sondern Divergenz ist der Befund:
,,A few decades ago, union density rates in different western European countries
ranges between roughly 30 and 60 percent; today, the range is from under 10 to
almost 90 percent.. .. In this respect at least, divergence rather than convergence is
obviously the underlying trend" (Hyman 1994: l 0).
Traxler widerspricht ebenfalls der These von einer zunehmenden Angleichung der natio-
nalen Arbeitsbeziehungssysteme. Die Eigenarten der nationaler Arbeitsbeziehungssysteme
zeigten sich heute noch deutlicher als fiüher. Somit könne nicht davon ausgegangen werden,
daß eine immer einheitlicher werdende Wirtschaftsumwelt die nationalen Strukturen
36
bestimme und fiir Konvergenz sorge: " ... it is not convergence but rather divergence that has
been the prevailing trend in industrial relations. This continued divergence of labour market
institutions - despite increasing economic internalization - underlines that it is not possible to
mechanically derive propositions on the development of labour market instituions from
changes in their economic context" (1995: 9). Im Widerspruch zum klassischen Erklärungs-
modell von Dunlop (1958) ist - Traxler zufolge - nicht davon auszugehen, daß einem
principle of isomorphism entsprochen werde und sich die Arbeitsbeziehungen gleichförmig
auf die Veränderungen in der Umwelt der Systeme ausrichten.
Mit der Ablehnung einer solchen - man könnte sagen kontingenztheoretisch inspirierten -
Konvergenzthese verlagert sich die Aufmerksamkeit auf die Suche nach den Gründen fiir die
anhaltenden Divergenzen der nationalen Systeme und fiir ihre kontinuierlichen Eigenständig-
keiten und Eigenarten.
Den Überlegungen einer fortgeschrittenen Systemtheorie folgend (vergl. Luhrnann: 1985
und Baraldi/Corsi/Esposito 1998: 163) plädiert Traxler dafiir, daß das Prinzip der Selbstrefe-
renz sozialer Systeme zur Veranschaulichung nationaler Besonderheiten herangezogen
werden sollte. Die Institutionen, welche die Arbeitsbeziehungen konfigurieren, richten sich
offensichtlich nicht auf übereinstimmende Umweltbedingungen aus, sondern bewahren ihre
Eigenständigkeit. Welche Regelungsmechanismen und Kernelemente aber bedingen diese
Selbstreferenz? Die Aufmerksamkeit gilt den "governance mechanisms in their own right
that co-process the direction of adaptive processes" (Traxler 1995: 9) bzw. dem "key element
of self-reference of industrial relations" (Traxler 1995: 15).
Für Traxler liegt der Schlüssel zur Erklärung nationaler Besonderheiten in den jeweiligen
Organisationsfähigkeiten (organizational capacities) der Verbände von Kapital und Arbeit:
"Differences in organizing capacities provide industrial relations with distinct abilities to cope
with given problems at the associationallevel. The differences in the feasible range of options
give rise, in turn, to continued divergence in the development of industrial relations"
( 1995: 16). Die Bedeutung und die Attraktivität, die die Verbände fiir den Staat haben, besteht
in erster Linie darin, daß die Verbände bei ihren Mitgliedern fiir diejenigen Normen Zustim-
mung suchen und finden, die in Übereinstimmung mit dem Staat konzipiert wurden. Um
diesem Anspruch zu genügen, müssen die Verbände in der Lage sein, in erheblichem Maße
Mitglieder zu rekurrieren und an sich zu binden. Sie müssen über eine hinreichende Organi-
sationsfähigkeit verfiigen. Diese Organisationsfähigkeit aber können die Verbände nur
erlangen, wenn es ihnen gelingt, das Kollektivgutproblem freiwilliger Organisationen einer
Lösung zuzufiihren. Die Verbände müssen mit der bekannten Problematik zurechtkommen,
daß sich individuelle Beitragsleistungen fiir Mitglieder großer freiwilliger Organisationen, die
kollektive Güter erwirtschaften, nicht mehr zu lohnen scheinen und deshalb fiir rational
handelnde Akteure der Free-Rider-Status naheliegt
37
Die kollektiven Akteure können bekanntlich versuchen, dem Kollektivgutproblem aus
eigener Kraft zu begegnen, indem sie den potentiellen Mitgliedern positive selektive Anreize
bieten.
In der Regel nimmt der Staat durch Rechtsnormen Einfluß darauf, in welchem Ausmaß sich
Kollektivgutprobleme stellen und welche Lösungsmöglichkeiten sich gegebenfalls ergeben.
Der Staat konfiguriert die Organisationsfähigkeit und bietet Möglichkeiten zur Organisations-
sicherung. Er kann Verfahren der Organisationssicherung wie den closed shop erlauben oder
verbieten. Er kann ein bestimmtes Güterangebot selbst offerieren und es dadurch aus dem
Leistungskatalog der freiwilligen Verbände eliminieren. Er kann aber auch darauf verzichten,
den Verbänden in dieser Weise die Möglichkeit zu entziehen, selektive Anreize zu bieten. Der
Staat kann weiterhin durch seine Steuergesetzgebung den tatsächlichen Kostenaufwand ftir
Mitgliedsbeiträge reduzieren. Auf diese Weise und andere Weise beeinflußt er die Organisati-
onsfähigkeit der kollektiven Akteure.
Die Bedeutung solcher staatlicher Leistungsbeiträge zur Organisationsfähigkeit kollektiver
Akteure wird in einer Zeit, in der schwindende Konzessionsspielräume es den Verbänden
überhaupt schwer machen, fiir ihre Mitglieder Güter zu erwirtschaften, noch stärker: " ... state-
sponsered representational and organizational privileges tend to gain in importance as a
source of the associations' organizing capacity" (Traxler 1995: 17).
Der Schlüssel zur Erklärung inter-nationaler Divergenzen bzw. nationaler Besonderheiten
in den Arbeitsbeziehungen liegt hiernach in der je spezifischen staatlichen Konfiguration der
Organisationsfähigkeit kollektiver Akteure, insbesondere in der rechtlichen Normierung von
Maßnahmen zur Organisationssicherung, mit denen die kollektiven Akteure ihre Organisati-
onsprobleme zu lösen versuchen.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Organisationsfähigkeit der kollektiven Akteure
tatsächlich ein geeigneter Ansatzpunkt ist, um nationale Eigenständigkeilen und inter-
nationale Divergenzen der Arbeitsbeziehungssysteme zu erklären oder ob eine solche
Problemstellung nicht vielmehr zu Äquivokationen verleitet, die der jeweiligen nationalen
Eigenart der Arbeitsbeziehungen nicht gerecht werden.
Die Möglichkeiten einer Einsicht in die nationalen Besonderheiten von Gewerkschaften
und Arbeitgeberverbände werden in gewisser Weise eingeschränkt, wenn solche Verbände
einfach als Organisationen angesehen werden, deren Rekrutierungsprobleme und Mitglied-
schaftsbeziehungen übereinstimmend durch die Kollektivgutproblematik bestimmt werden.
Eine nähere Analyse kultureller Eigenarten nationaler Arbeitsbeziehungen zeigt nämlich, daß
die Diagnose einer Kollektivgutproblematik ein bestimmtes Verbands- bzw. Organisations-
verständnis voraussetzt, das nicht allen Gewerkschaften aller Länder a priori unterstellt
werden darf. Die Kollektivgutproblematik erfährt in unterschiedlichen Ländern nicht nur sehr
verschiedene Lösungen. Die universelle Diagnose dieser Problematik setzt vielmehr voraus,
daß ftir verschiedene Länder übereinstimmende Definitionen von Mitgliedschaft und
Engagement in "freiwilligen" Organisationen zugrunde gelegt werden können, und daß auch
38
die prinzipielle Akzeptanz von selektiven Anreizen in verschiedenen Ländern vorausgesetzt
werden kann. Tatsächlich ist dies nicht der Fall: Gleiche Organisationsgrade werden in
unterschiedlichen Länder verschieden bewertet, je nachdem welche Funktionsbestimmungen
Gewerkschaften haben und welche Auffassungen von Mitgliedschaft zugrunde gelegt werden.
Ebenso werden selektive Anreize, die in einem Land als "normale" Inhalte eines regulären
Leistungsangebots erscheinen, in einem anderen Land als Ausdruck einer verwerflichen
gewerkschaftlichen "Simonie" angesehen. Insofern werden andere Wege der Organisationssi-
cherung beschritten. Es geht dann u.U. nicht darum, möglichst viele Mitglieder zu rekrutieren,
um ein Kollektivgutproblem zu lösen, sondern darum, den Gewerkschaften - mit staatlicher
Unterstützung - einen verläßlichen Stamm von Mitarbeitern zu sichern und die Arbeitnehmer
gegebenenfalls nur noch als Wähler an die Gewerkschaften zu binden.
Die französischen Gewerkschaften jedenfalls scheinen sich einer Kollektivgutproblematik
kaum bewußt zu sein, denn
" ... rien ne favorise leur existence dans les entreprises. L' etonnant est plutöt que
subsiste encore une presence syndicale dans le secteur prive, si on observe que, de
surcroit, Ies syndicats fran9ais s'inscrivent pleinement et plus qu'it I' etranger dans
Ia logique parfaitement decrite par Marcus Olson: distribuant des avantages col-
lectifs plus que des services individuels, aucun des beneficiaires de leur action n'a
interet a en acquitter le prix par le paiement d'une cotisation, Ia simple signature
d'une carte d'adhesion, voire meme le depöt d'un bulletin devote" (Adam 1998:
!08).
Die nationalen Besonderheiten der Arbeitsbeziehungen lassen sich - so soll hier angenom-
men werden - eher erfassen, wenn die Beziehungen zwischen den Arbeitnehmern und den
Gewerkschaften ebenso wie die Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und dem Staat
auf ihre kulturelle Besonderheit zurückgeführt werden. Gleichzeitig müssen die staatlichen
Regelungen der nationalen Arbeitsbeziehungen grundsätzlich und umfassend ins Visier
genommen werden und nicht nur Lösungswege für eine den Organisationen aller Länder
unterstellte Kollektivgutproblematik miteinander verglichen werden.
Zusätzlich zur rechtlichen Konfiguration der gewerkschaftlichen Organisationsfähigkeit
muß also etwa auch die jeweilige staatliche Beeinflussung des Verlauf von Kollektivver-
handlungen beachtet werden, um eine nationale Eigenständigkeil zu identifizieren und zu
begründen. Weiterhin ist von Bedeutung, welche Beziehungen zwischen den Verbänden und
dem Staat bzw. den verschiedenen Akteuren des politisch-administrativen Systems bestehen.
Mit dem Vorsatz, die jeweiligen staatlichen Regelungen gewerkschaftlichen Handeins in
dieser Weise umfassend zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, wird an die Bedeu-
tung angeknüpft, die den jeweiligen Regelungen für die Kontinuität der nationalen Besonder-
heiten in den Arbeitsbeziehungen zugesprochen wird.
Weiterhin wird davon ausgegangen, daß in allen modernen Arbeitsbeziehungssystemen
eine Normierung durch den Staat erfolgt- und sei es nur in der Form, daß der Staat festlegt,
39
auf welche Weise er die Arbeitsbeziehungen voluntaristisch "freisetzt", wo und wie er also
die Grenzen zwischen staatlicher (Nicht-) Intervention und kollektiver Handlungsfreiheit zu
ziehen beabsichtigt. Modeme Arbeitsbeziehungen finden überall eine "structure iuridique"
(Cointepas 1992: 250f.) vor, welche den Rahmen fiir das kollektive Handeln abgibt und damit
die nationale Besonderheit kollektiven Handeins konfiguriert und bis zu einem gewissen Grad
auch konserviert.
Die nationale Eigenart der Arbeitsbeziehungen und damit auch die inter-nationale Diver-
genz werden also in dieser Untersuchung auf die jeweilige staatliche Einflußnahme bezogen.
Diese Eigenart manifestiert sich in erster Linie in den rechtlichen Regelungen der Arbeitsbe-
ziehungen, insbesondere in der Selektion vertretungsfähiger gewerkschaftlicher Akteure
sowie in der Beeinflussung der intra-organisatorischen Führungs- und Mitgliedschaftsbezie-
hungen sowie der inter-organisatorischen Verhandlungsstrukturen.
40
Der Vorsatz besteht also darin, die strukturelle Gemeinsamkeit Gewerkschaftspluralismus
in kontrastierenden Umwelten aufzusuchen, um Befunde, die trotzdem auf Übereinstimmun-
gen hindeuten, über die ausgewählten Länder hinaus generalisieren zu können. Das Ziel ist
also die Diagnose von Gemeinsamkeiten richtungsgewerkschaftlich strukturierter Arbeitsbe-
ziehungssysteme, die infolge kontrastierender Strukturdaten und Rahmenbedingungen
zunächst wenig wahrscheinlich sind und die möglicherweise auf weitere Länder mit einem
richtungsgewerkschaftlichen Pluralismus übertragen werden können.
Auf der Grundlage dieser Überlegungen sollen im folgenden Belgien und Frankreich in die
Untersuchung einbezogen werden.
In beiden EU-Ländern dominiert zwar eine richtungsgewerkschaftliche Organisationsforrn,
ansonsten bestehen aber wichtige Unterschiede zwischen diesen Ländern: Belgien gehört mit
etwas mehr als 10 Millionen Einwohnern (1997: 10.181.000) zu den kleineren EU-Ländern,
während Frankreich mit mehr als 58 Millionen Einwohnern zu den größeren EU-Ländern
(1997: 58.608.071) zählt (OECD 1999a). Entsprechende Unterschiede bestehen bei der
Anzahl der Erwerbspersonen und der Erwerbstätigen beider Länder. Im Jahre 1997 standen
4.310.000 Erwerbspersonen in Belgien 25.696.000 Erwerbspersonen in Frankreich gegen-
über. Es können ferner 3.719.000 Erwerbstätige in Belgien 22.016.000 Erwerbstätigen in
Frankreich gegenüber gestellt werden (OECD 1999b).
Weiterhin bestehen erhebliche Unterschiede im Bruttoinlandsprodukt (BIP) beider Länder
(Im Jahr 1998: Belgien: 245,9 Milliarden$; Frankreich: 1.299,8 Milliarden$), während das
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung in Belgien höher ist als in Frankreich
(Belgien: 24.097 Milliarden$; Frankreich: 22.091 Milliarden$, OECD !999c).
Das Haushaltsdefizit (% BIP) Belgiens lag lange Zeit weit über dem Frankreichs. Inzwi-
schen konnte das Haushaltsdefizit Belgiens gesenkt werden, während dasjenige Frankreichs
stieg und mittlerweile über dem Belgiens liegt. (Belgien: 1990: 6,9% BIP; 1997: 1,8% BIP;
Frankreich: 1990: 1,5% BIP; 1997:3,3% BIP 1\
Beachtung findet vor allem die hohe Staatsverschuldung Belgiens. Diese liegt weit über der
Staatsverschuldung Frankreichs. Die Staatsverschuldung betrug in Belgien mit Beginn der
achtziger Jahre I 00% des BIP. Sie erreichte Ende der achtziger Jahre einen Wert von über
130% des BIP. Dieser hohe Wert wurde lange Zeit nicht unterschritten, erst die Angaben für
1997 wiesen einen niedrigeren Wert aus (1982: 102,4% BIP; 1987: 131,8% BIP; 1992:
134,4% BIP; 1997: 121,2% BIP; 1998: 116,2% BIP 20 ). Demgegenüber liegt die Staatsver-
schuldung Frankreichs sehr viel niedriger (1990: 27,4%; 1997: 44,3% BIP 21 ).
19 Angaben für Belgien: Van Ruysseveldt!Visser 1996: 378ff. und Royaume de Belgique Tresorerie 1999; für
Frankreich: Van Ruysseveldt!Visser 1996: 378ff. und INSEE 1999.
20 Zusammenstellung der Angaben nach: Verly 1993: 24; Debaere 1993: 10 und Royaume de Belgique
Tresorerie 1999.
21 Angaben nach: INSEE 1999.
41
Die Beachtung, die diese Angaben finden, resultiert vor allem daraus, daß sich die 15 EU-
Staaten im Europäischen Unionsvertrag (Maastrichter Vertrag) von 1992 bestimmten
Konvergenzkriterien unterworfen haben. Hierzu gehören ein Haushaltsdefizit, das 3% des BIP
nicht überschreitet und eine Staatsverschuldung, die höchstens einen Betrag von 60% des BIP
erreicht. Während also Frankreichs Staatsverschuldung dem Maastricht-Kriterium entspricht,
übertrifft die Staatsverschuldung Belgiens das Maastricht-Kriterium erheblich. Hieraus
ergaben sich Anforderungen an die Begrenzung der Höhe der Wirtschafts- und Sozialabga-
ben, die auch lohnpolitische Interventionen der belgiseben Regierung erforderlich erscheinen
ließen.
Erhebliche Unterschiede weisen beide Länder auch in bezug auf eine zentrale Kennziffer
aus dem Bereich der Arbeitsbeziehungen auf. Obwohl Frankreich die sechsfache Anzahl an
abhängig beschäftigten Personen aufweist, gibt es dort weniger gewerkschaftlich organisierte
Arbeitnehmer als in Frankreich. Entsprechend große Unterschiede weisen die Netto-
Organisationsgrade beider Länder auf: Während in Belgien mehr als die Hälfte der beschäf-
tigten Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert ist, ist es in Frankreich seit Beginn der
neunziger Jahre nicht einmal mehr jeder Zehnte. Während der gewerkschaftliche Organisati-
onsgrad in Belgien seit vielen Jahren fast konstant ist, sinkt der gewerkschaftliche Organisati-
onsgrad in Frankreich fortlaufend. In den achtziger Jahren hat sich der gewerkschaftliche
Organisationsgrad in Frankreich halbiert (1982: 16,5%; 1992: 8,8%) (vergl. hierzu vor allem
Labbe 1996: 132).
In dieser Untersuchung liegt der Schwerpunkt auf der Analyse der Formen und Wirkungen
der staatlichen Steuerung der Arbeitsbeziehungen unter besonderer Berücksichtigung der
Intra- und (zwischengewerkschaftlichen) Interorganisationsbeziehungen in zwei Ländern.
Diese Länder weisen bei den zentralen Merkmalen der Wirtschaftsbedingungen und Arbeits-
beziehungen erhebliche Unterschiede auf, stimmen aber in dem hier fokussierten Struktur-
merkmal ,,richtungsgewerkschaftlicher Pluralismus" überein. Ergeben sich weitere Überein-
stimmungen können sie mit dem hier hervorgehobenen Strukturmerkmal in Zusammenhang
gebracht werden. Es besteht zumindest die Erwartung, auf diese Weise auf Eigenarten
aufmerksam zu werden, die auch in anderen Ländern mit richtungsgewerkschaftlicher
Orientierung vorzufinden sind.
Besondere Beachtung finden sollen hierbei - wie bereits betont - nicht-intendierte oder
sogar paradoxe Handlungsfolgen offizieller staatlicher Zielsetzungen. Damit wird die Absicht
verbunden, diese Handlungsfolgen auf inoffizielle Zielsetzungen staatlichen Handeins
zurückzuführen. Auch von den Zusammenhängen zwischen solchen Zielsetzungen, Steue-
rungsformen und Handlungsfolgen kann angenommen werden, daß sie unter den Bedingun-
gen eines richtungsgewerkschaftlichen Pluralismus Eigenarten aufweisen, die in anderen
Ländern mit ähnlicher Gewerkschaftsstruktur ebenfalls auftreten.
42
3 Belgien: Gesellschaftliche Ordnung, staatliche Regelung und kollektive
Arbeitsbeziehungen
Zunächst sollen einige Besonderheiten des Staats- und Gesellschaftsaufbaus in Belgien
vorgestellt werden. Diese bilden den Rahmen für die Darstellung der kollektiven Akteure der
Arbeitsbeziehungen und für die daran anschließende Darstellung der Zielsetzungen, Instru-
mente und Wirkungen der staatlichen Interventionen in die kollektiven Arbeitsbeziehungen.
" Fast 60% der Bevölkerung Belgiens sprechen niederländisch als erste Sprache, 40% französisch und nur 0,6%
deutsch (vergl. Rochtus 1998:4). Im Rahmen dieser Untersuchung kann die deutschsprachige Gemeinschaft
weitgehend vernachlässigt werden.
43
"In Belgien leben .. .10 Millionen Menschen in zwei völlig verschiedenen kultu-
rellen Networks: Sie lesen nicht dieselbe Zeitung, sie schauen nicht dasselbe
Fernsehprogramm, sie wählen andere Parteien, bei Fernsehinterviews werden
Belgier von Belgiern synchronisiert oder mit Untertiteln gezeigt, im Parlament
wird simultan gedolmetscht ... Belgien ist mit der Schweiz der einzige europäi-
sche Staat, dessen Gebiet zwei gleich stark vertretene Sprach- und Kulturräume
umfaßt" (Koecke 1994: 8).
"... Belgie op drie zeer antagonistische confliktlijnen leeft, die samen een zeer
ontplofbaar conflictfeld vormen: de levenbeschouwelijke tegenstellingen tussen
katholiken en vrijzinnigen (or minder scherp antiklerikalen); de sociaal-
economische tegenstellingen tussen het patronaat en de arbeidersklasse en niet in
het minst ook de tegenstellingen tussen Vlamingen en Franstaligen, in een aantal
kwesties ontwikkelend samen met Brussel" (Dewachter 1992: 107).
Kennzeichnend für die belgisehe Integrationsproblematik ist, daß die genannten Differen-
zierungen die Grundlage für latente Konflikte bilden, die sich aber zu verschiedenen Zeiten in
unterschiedlicher Intensität manifestieren.
Der weltanschauliche, der industrielle und der sprachlich-kulturelle Konflikt durchkreuzen
das Land. Die Konfliktregelung ist nicht immer gleich erfolgreich. Ihr Erfolg ist vor allem
abhängig von den gesellschaftlichen Randbedingungen, welche die jeweilige Konfliktrege-
lung erleichtern oder erschweren.
Die besonderen Anforderungen an eine Regelung gesellschaftlicher Konflikte in Belgien
ergeben sich auch aus der Inkongruenz der Differenzierungs- und Konfliktlinien. Sie
tangieren die Akteure je nach ihrer besonderen räumlichen und sozialen Betroffenheit. Die
verschiedenen sozialen Rollen, die an die gesellschaftlichen Differenzierungsformen
anschließen, sind in unterschiedlicher Weise miteinander verbunden. Die Belgier sind selbst-
verständlich nicht gleichzeitig entweder nur Arbeitnehmer und Flamen und kirchlich
gebunden oder Arbeitgeber und Einwohner Walloniens und ohne kirchliche Bindung.
Die Betroffenheit durch gesellschaftliche Differenzierungen kann vielmehr zu je spezifi-
schen Interessenkongruenzen oder Inkongruenzen fiihren. Als Flame kann man ebenso wie als
Wallone kirchlich gebunden oder ungebunden, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer sein.
Es gibt zwar unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten dafür, daß bestimmte Rollen gleich-
zeitig auftreten, prinzipiell aber sind keine Rollenkombinationen ausgeschlossen. Demzufolge
ergeben sich unterschiedliche Formen von Konfliktbetroffenheit und Konfliktgegnerschaft.
Diese Komplexität erweist sich als Risiko aber auch als Chance für eine effiziente und dauer-
hafte Konfliktregelung.
44
Für das Verständnis der Regelung gesellschaftlicher Konflikte in Belgien ist es notwendig
zu berücksichtigen, daß in Belgien Säulen bestehen, die Staat und Gesellschaft stützen.
Der Beginn der Versäulung Belgiens wird gemeinhin auf die besondere gesellschaftliche
Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts zurückgeführt. Die Versäulung wird in Zusammen-
hang gebracht mit den damaligen Bemühungen der katholischen Kirche, angesichts eines
durch die Industrialisierung ausgelösten sozialen Wandels- undangesichtsvon gesellschaftli-
cher Modemisierung und Säkularisierung - einen eigenen Einflußbereich zu konservieren.
Die Abgrenzungsbemühungen der katholischen Kirche waren in gewisser Weise defensiv23 .
Die katholische Kirche war nicht mehr die einzige Grundorientierung, die gesellschaftlichen
Interessen eine weltanschauliche Prägung gab. Nachdem die soziale Entwicklung dazu
geführt hatte, daß die katholische Weltanschauung nicht mehr alle Lebensbereiche dominierte
und statt dessen der industrielle Konflikt die Gesellschaft zu strukturieren drohte, versuchte
die katholische Kirche, für sich einen gesellschaftlichen Einflußbereich abzustecken, für den
weiterhin katholische Wertvorstellungen bestimmend bleiben sollten. Hierzu mußten
Organisationsformen gebildet werden, welche die Akteure mit der gemeinsamen katholischen
Weltanschauung in ihren spezifischen Rollen und Interessenlagen differenziert zusammen-
faßten24.
Weiterhin mußte eine übergreifende Verbindung zwischen den spezifischen Organisationen
hergestellt werden, durch die der übergreifende Einfluß der besonderen Weltanschauung
sichergestellt werden konnte. Diese besondere Differenzierung und Integration sollte durch
Versäulung (verzuiling) erreicht werden.
Die Vertreter der anderen weltanschaulichen Grundorientierungen beantworteten den
Organisationsaufbau der katholischen Kirche mit eigenen Organisationsbildungen, durch die
sie ihrerseits bestimmte Rollen und Lebenslagen differenziert erfassen und ihrer Weltan-
schauung zuordnen wollten. Von den Akteuren mit nicht-kirchlichen weltanschaulichen
Orientierungen, den Sozialisten und Liberalen, gingen also ebenfalls Bemühungen aus, die
Gesellschaft organisatorisch zu gestalten. Diese Orientierungen bildeten "parallele, jedoch
23 Vanderstraeten weist weiterhin darauf hin, daß die Bemühungen um die Wiederherstellung gesellschaftlichen
Einflusses mit einer "katholischen Bewegung" verbunden waren. Diese stand unter dem Banner des auf den
heiligen Stuhl bezogenen "Ultramontanismus" (I 999: 299), also einer "religiösen Protestbewegung ... nicht
nur in Konflikt mit dem modernen Staat, sondern auch mit allen Exponenten der Modernität: Mit dem
Liberalismus. dem Sozialismus, den Freimaurern, der Demokratie". (1999: 299). Die " ... zunehmenden
ideologischen Spannungen bildeten das Sprungbrett ftir den .Vereins-Katholizismus', ftir die Bildung einer
katholischen Säule .... Der ultramontane Leitspruch ,omnia instaurare in Christo', jedes Gebiet des Lebens
nach katholischen Prinzipien einzurichten, wurde tatsächlich umgesetzt". Der "Vereins-Katholizismus" erhielt
die Rückendeckung der katholischen Hierarchie (Klerus und Adel) und fand tatkräftige Unterstützung durch
die Religiosen ( 1999: 300).
24 als katholische Wähler und Gewählter, als katholische Erwerbstätige, als katholische Lehrende und Lernende,
als katholische Konsumenten, als katholische Rentner etc.
45
konkurrierende Säulen" (Vanderstraeten 1999: 300). So standen mehrere "Gemeinschaften-
innerhalb-der-Gesellschaft" (Vanderstraeten 1999: 300).
Wichtig ist, daß sich die kirchlichen und nicht-kirchlichen Organisationsbemühungen nicht
auf Rollen und Interessenlagen beschränkten, die sich an die jeweilige weltanschauliche
Bindung anschlossen, sondern daß die Organisation umfassend war. Die katholische Kirche
zog sich also ebensowenig auf karitative Tätigkeitsfelder zurück wie sich die sozialistische
Orientierung auf die Organisation von Interessen der Arbeiter in ihrer Produzentenrolle, also
auf Gewerkschaftsgründungen, beschränkte. Vielmehr wurden Säulen gebildet, die eine
umfassende Integration und Organisation auf weltanschaulicher Grundlage gewährleisteten.
Die katholische Säule enthielt auch christlich-katholische Gewerkschaften, die sozialisti-
sche Säule enthielt auch spezifische karitative und konsumentenorientierte Verbände.
So war auch die Gründung von Richtungsgewerkschaften in Belgien Ausdruck des Bestre-
bens der katholischen Kirche, den Arbeitnehmern eine Mitgliedschaft in eigenständigen
christlich-katholischen Richtungsgewerkschaften zu ermöglichen. Christlich-katholische
Richtungsgewerkschaften entstanden im Zuge der Ausdifferenzierung eines eigenen weltan-
schaulich fundierten Lebens- und Organisationsbereichs katholischer Arbeitnehmer " ... en vue
de proteger ses propres interets religieux, moraux et socio-economiques" (Lehouck 1984:
710). Die ersten christlichen Gewerkschaften waren auch namentlich anti-sozialistische
Gewerkschaften, wie der Antisocialistische katoenbewerkersbond bzw. Ligue antisocialiste
des ouvriers du coton, der 1886 in Gand gegründet wurde (vergl. Ministere de l'Emploi et du
Travail 1993: 14). 1904 wurde ein Generalsekretariat der belgischen christlichen Berufsge-
werkschaften eingerichtet, im Jahre 1923 nahmen die christlichen Gewerkschaften den
Namen Algemeen Christlijk Vakverbond bzw. Corifederation des Syndicats Chrt!tiens
(ACV/CSC) an.
Die heute unter der Bezeichnung Algemeen Belgisch Vakverbond bzw. Federation Gene-
rale du Travail de Belgique (ABVV/FGTB) f6derierten sozialistischen Gewerkschaften
entstanden 1898 als Gewerkschaftsausschuß der 1885 gegründeten belgischen Arbeiterpartei.
Sie waren bis 1937 organisatorisch in diese politischen Parteien eingebunden. Erst nach 1945
fanden sie als Zusammenschluß kommunistischer und sozialistischer Arbeitnehmerverbände
zu ihrer jetzigen Organisationsform.
Seit 1891 gibt es in Belgien liberale Gewerkschaften. Ihre jetzige Bezeichnung Algemene
Centrate der Liberale Vakbonden va Belgie bzw. Corifederation Generale des Syndicats
Liberaux de Belgique (ACLVB/CGSLB) erhielten sie 1930 (vergl. Vilrokx/van Leemput
1992: 357).
Die Eigenart des gesellschaftlichen Ordnungsprinzips der Versäulung besteht darin, daß die
Differenzierung in eine katholische, sozialistische oder liberale Weltanschauung zum
dominierenden Merkmal der Sozialstruktur aufgewertet wird. Durch Versäulung erfolgt
zunächst eine vertikale Segmentierung entlang weltanschaulicher Orientierungen, unter der
auch die anderen genannten gesellschaftlichen Differenzierungs- und Konfliktlinien subsu-
46
miert werden. Die Inter-Organisationsbeziehungen innerhalb der Säule beruhen auf gemein-
samen Weltanschaungen. Interessenunterschiede, die etwa aus der unterschiedlichen Verfü-
gungsmöglichkeit über die Produktionsmittel resultieren oder die an die unterschiedliche
sprachlich-kulturelle Eigenart anknüpfen, erhalten eine nachrangige Bedeutung. Sie müssen
sich dem dominierenden weltanschaulichen Gliederungsprinzip unterordnen (vergl. Helle-
mans 1988: 43ff.; Huyse 1987; van den Brande 1987: 95ff.).
In den Begriffsbestimmungen von verzuiling wird die Besonderheit der Ausdifferenzierung
spezifischer Organisationen innerhalb der Säule ebenso betont wie die Integration dieser
Organisationen auf weltanschaulicher Grundlage. Hellemans definiert:
"Onder een zuil verstaan we een netwerk van organisalies op meerdere leefgebie-
den od domeinen ... , die een daaronderliggende gemeenschappelijke subcultuur
meervorm verleent en een scherpere identiteit geeft" (Hellemans 1985: 326f.).
Für Huyse bedeutet verzui/ing zunächst die Verflechtung differenziert organisierter Le-
bensbereichen auf weltanschaulicher Grundlage: " ... de vervlechting van levensbeschouwing
aan de ene kant en politiek, belangenbehartiging, ontspanning, cultuur en sport aan de andere
kant" ( 1987: 12). Der weltanschauliche Zusammenhang muß lebendig bleiben. Zur verzuiling
gehört für Huyse das beständige Streben nach einer internen Integration der ausdifferenzierten
Organisationen: " ... hun bestendig, zij het nied altijd succesrijk, zoeken naar interne samen-
hang" (1987: 17).
Weiterhin gehört für ihn zur verzui/ing die Eigenständigkeil und freiwillige Isolierung der
verschiedenen Organisations- und Funktionsbereiche voneinande~ 5 •
Die Säule kann für sich stehen. Sie ist auf die anderen Säulen nicht angewiesen.
Obwohl die Säulen auf ihre Eigenständigkeil und Abgrenzung bedacht sind, streben sie
nach Ausdehnung. Sie streben danach, möglichst viele Lebensbereiche zu erfassen. Säulen
sind expansiv. Sie " ... streven naar zo groot mogelijke reikwijdte" (Huyse 1987: 16). Es wird
versucht, den Menschen in all seinen Rollen und Funktionen zu erfassen und weltanschaulich
zu binden: "Elke man en vrouw, joug en oud, die naar onze beweging komt, moet bij ons alles
vinden wat hif ofzij nodig heeft" (Huyse 1987: 16).
Die Darstellungen von Frühformen der Versäulung in Belgien betonen die besonderen Aus-
wirkungen der Säulenbildung für die Regelung sozialer Konflikte.
Die Säulenbildung hat- so Huyse (1987: 3lf.)- dazu beigetragen, daß der Klassenkonflikt
in Belgien nicht eskaliert ist. Jede Säule hat eigene Arbeitnehmerorganisationen ausgebildet
und dadurch verhindert, daß eine klassenkämpferisch orientierte sozialistische "Einheitsge-
werkschaft" die Auseinandersetzung mit dem Kapital alleine führte. Gleichzeitig ist -
het zelfgekozen isolement in eigen scholen, ziekenhuisen, vakbonden, politieke partij, jeugdbewegingen,
wek- en dagbladen, sportclubs, cultuurverenigungen, bibliotbeken" (Huyse 1987: 14).
47
insbesondere in der katholischen Säule - eine klassenübergreifende Integration der latent
antagonistischen Interessenlagen von Kapital und Arbeit erfolgt. Strukturell hat die Zusam-
menfassung gegensätzlicher Interessen unter dem Dach einer Säule zur Konfliktregelung
beigetragen. Weiterhin - so Huyse - ist es auch der kooperationsorientierten katholischen
Soziallehre zuzuschreiben, daß der Klassenkampf reguliert und domestiziert wurde.
Dieser Gedankengang läßt sich noch weiterfuhren: Durch die Ausdifferenzierung einer
katholischen Säule ergibt sich nicht nur eine De-Eskalation des Klassenkonflikts durch die
Spaltung der Arbeitnehmerinteressenvertretung und die Möglichkeit der säuleninternen
Interessenkoordination von Kapital und Arbeit. Der Vorrang des weltanschaulichen Differen-
zierungsmerkmals als gesellschaftlichem Ordnungsprinzip ermöglicht auch spezifische
Koalitionsbildungen, die zunächst nicht naheliegen. Die Sozialisten betrachten sich angesichts
der Ausdifferenzierung einer weltanschaulichen Interessendifferenzierung auf katholischer
Grundlage auch als Akteure mit einer nicht-kirchlichen (freisinnigen) Orientierung und
entdecken hierin eine wichtige Gemeinsamkeit mit liberalen Akteuren, die ansonsten in ihrer
Mehrheit sicherlich eine andere sozio-ökonomische Interessenlage haben und vertreten. Auf
der Grundlage ihres "freisinnigen" Vertrauensverhältnis erfahren die Sozialisten eine
Akzeptanz und Aufwertung durch die Liberalen, die ihnen ansonsten nicht zu Teil geworden
wäre: " ... de vertrouwenrelaties die sommige socialistische en liberale leiders met elkaar
onderhielden in het kader van de vrijmetselarij [Freimaurerei, W.P.] bevorderde de acceptatie
van de eerstgenoemden" (Blockmans 1997: 2). Auch eine solche Koalitionsbildung kann dazu
beitragen, den Klassenkonflikt zu entschärfen.
Allerdings kann die umfassende Regelung sozialer Konflikte nicht dem Ordnungsprinzip
der Versäulung allein überlassen bleiben. Die Versäulung kann zwar andere Konflikte in
Schach halten, zusätzlich muß aber gewährleistet sein, daß die weltanschauliche Differenzie-
rung nicht selbst Grundlage manifester Konflikte wird. Diese Gefahr besteht bei einer
Isolierung gesellschaftlicher Bereiche in getrennten Säulen. Die trennenden Wirkungen von
Versäulung müssen eingeschränkt werden, damit die Auseinandersetzungen zwischen den in
den unterschiedlichen Säulen organisierten Akteuren ausbleiben und die unterschiedlichen
Weltanschauungen selbst nicht zu einer permanenten Konfliktursache werden.
Es muß erreicht werden, daß die Versäulung zwar dazu fuhrt, die anderen gesellschaftli-
chen Konflikte zurückzustellen, sie aber nicht soweit in Vergessenheit geraten zu lassen, daß
die weltanschaulichen Differenzierungen zu Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren
fuhren. Die Akteure müssen sich der Latenz des industriellen und des sprachlich-kulturellen
Konflikts bewußt bleiben, damit der Einfluß der weltanschauliche Differenzierung auf das
Handeln eingeschränkt wird. Die weltanschauliche Differenzierung kann die anderen
Interessenorientierungen durchaus dominieren und organisatorisch einbinden, sie darf sie aber
nicht verkümmern lassen.
Die anderen sozialen Konflikte bleiben so erhalten, sie entfalten ebenfalls strukturbildende
Wirkungen. Sie finden aber nicht zu Organisationsformen, welche die Versäulung sprengen.
48
Der Beitrag der anderen sozialen Konflikte zur Konfliktregelung besteht also darin, daß die
Isolierung zwischen den Säulen vermieden wird und damit eine Koexistenz verschiedener
Weltanschauungen leichter fällt.
Die Säulen bleiben als Ausdruck der weltanschaulichen Differenzierung bestehen, sie
werden aber auf der Grundlage der anderen latenten sozialen Konflikte miteinander verbun-
den. Die trennende Wirkung der Versäulung wird eingeschränkt, die Säulen werden mitein-
ander verschränkt.
Die Möglichkeit der Verschränkung ergibt sich in Belgien durch die bereits erwähnte
Inkongruenz gesellschaftlicher Differenzierungslinien, also durch die Inkongruenz der
weltanschaulichen Konfliktlinie mit den Linien des sprachlich-kulturellen und des industriel-
len Konflikts. Würden alle Akteure mit katholischer Orientierung in einem einzigen sprach-
lich-kulturell dominierten Landesteil leben und von der Wahrnehmung von Arbeitgeberfunk-
tionen ausgeschlossen sein, wäre eine Eskalation gesellschaftlicher Konflikte - trotz oder
gerade wegen einer Versäulung- kaum zu vermeiden. Tatsächlich aber ist es "the incomple-
teness of pillarization" (Billiet 1984: 125), welche die strukturelle Grundlage dafiir schafft,
daß eine solche Eskalation ausbleibt.
Die Versäulung entfaltet also ihre konfliktreduzierende Wirkung erst im Zusammenhang
mit inkongruenten anderen Konfliktverläufen, die eine Verschränkung von Interessenlagen
und Loyalitäten ermöglichen:
" ... the cross-cutting of religious, ideological and linguistic cleavages produces
counter pressure and multiple solidarities so that a permanent mobilization around
one line of conflict is avoided. As an ideal type, pillarization would be dangerous,
but, where the Christian workers belong to Christian organizations and thus de-
velop solidarity with the other social strata, where the free thinkers are divided
between liberals and socialists on the basis of socio-economic Oppositions, and
where the linguistic divisions permeate the entire structure, the conflicts are tem-
pered" (Billiet 1984:125).
Die belgisehe Stabilität - so auch Pijnenburg - zieht Nutzen aus der Inkongruenz der Kon-
t1iktlagen:
"There seems to be a succession of issues, problems and crisis in such a way that
cont1icts pertaining to the catholic vs. non-catholic, the socio-economical ine-
qualitiy and the ethno-linguistic divisions rarely or never coincide, and thus a
merger into one over-all and fatal escalation is unlikely" (1984: 59).
Van den Brande betont ebenfalls die konfliktreduzierende Wirkung des Ordnungsprinzips
"verschränkte Versäulung". Er macht aber darüber hinaus noch darauf aufmerksam, daß
dieses Ordnungsmodell zwar die gesellschaftliche Stabilität fördert, gleichzeitig aber auch
einen sozialen Wandel erschwert. Auf diese Weise - so die Schlußfolgerung - werden
bestehende Machtkoalitionen und herrschende Machteliten begünstigt und Unterprivilegie-
rungen konserviert.
49
"The cross-pressures of multi-group affilations and the cross currents of conflicts
that reduce the intensity and violence of opposition forces protect democratic in-
stitutions against destruction of heated partisanship, but they simultaneously pro-
tect other institutions and the existing power structure from being fundamentally
transforrned by a radical opposition movement with a firmly committed member-
ship. Overlapping Oppositions that deter a major opposition force from gathering
strength serve important functions for stable democracy. They do so, however, at
a social cost that is paid by the most oppressed social classes who would benefit,
from radical changes in the status quo" (van den Brande 1967: 447; vergl. auch
Blau 1964: 306ff.).
Die Versäulung entfaltet ihre stabilisierende Wirkung also unter der Voraussetzung, daß
einerseits die Priorität der weltanschaulichen Differenzierungslinie anerkannt wird, anderer-
seits aber wichtige andere Differenzierungsmerkmale ihre Wirkung behalten und dadurch die
segmentierende Wirkung der weltanschaulichen Differenzierungslinie einzuschränken in der
Lage sind.
Die Versäulung stabilisiert die gesellschaftliche Ordnung als "verschränkte Versäulung",
weil die sprachlich-kulturelle Trennungslinie ebenso wie der industrielle Konflikt Differen-
zierungen überbrücken, die durch die Säulenkonstruktion zunächst hervorgehoben werden.
Die Beziehungen zwischen den Säulen können ihrerseits als Beziehungen zwischen Orga-
nisationen auftreten. Es entstehen Interorganisationsbeziehungen zwischen den Säulen, weil
die Organisationen, welche die Säulen bilden, auch säulenübergreifende Beziehungen
aufnehmen. Die Arbeitnehmer organisieren sich in christlich-katholischen, sozialistischen
oder liberalen Gewerkschaften, je nachdem, welche Weltanschauung für sie Priorität hat. Die
mit der Arbeitnehmereigenschaft verbundene Interessenlage fUhrt aber dazu, daß die in
unterschiedliche Säulen eingebundenen Gewerkschaften interagieren, um eine wirksamere
Interessenvertretung gegenüber den Arbeitgebern zu leisten als dies erreichbar wäre, wenn die
unterschiedlichen Interessenorganisationen getrennt handeln würden.
Die Interorganisationsbeziehungen innerhalb der Säulen festigen die weltanschauliche
Differenzierung. Die Interorganisationsbeziehungen zwischen den Säulen tragen dazu bei, daß
die weltanschaulichen Differenzierungen keine unüberbrückbaren Gräben ziehen.
Das Ordnungsmodell "verschränkte Versäulung" hat sich unter wechselnden Randbedin-
gungen zu bewähren. Diese bewirken, daß die verschiedenen Differenzierungs- und Kon-
fliktlinien eine jeweils unterschiedliche Bedeutung erhalten. Strittige Probleme, wie die
Entscheidung über die Förderung von Konfessionsschulen aktivieren die Relevanz der
ideologischen Dimension und lassen die weltanschaulichen Differenzierungen hervortreten.
Ungleiche Einkommensverteilungen aktivieren die Differenzierungen, die den industriellen
Konflikt deutlich werden lassen. Divergierende wirtschaftliche Entwicklungen in den
verschiedenen Landesteilen fördern Auseinandersetzungen, in denen die sprachlich-
kulturellen Differenzierungen besonders deutlich werden.
50
Wichtig ist, daß die gesellschaftlichen Randbedingungen nicht dazu fUhren dürfen, daß die
jeweils anderen Differenzierungslinien vollständig in den Hintergrund treten. Geschieht dies,
stößt das Regelungsmodell der "verschränkten Versäulung" an seine Grenzen.
Kennzeichnend fiir die Konfliktregelung nach dem Muster der "verschränkten Versäulung"
in Belgien ist, daß der Staat auf die Regelungsmuster einen erheblichen Einfluß nimmt. Dies
geschieht zunächst in der Form, daß er einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung und
Befestigung der gesellschaftlichen Säulen leistet.
Obwohl sich die katholische und auch die sozialistische Säule zunächst als "een te-
gencultuur tegen het offkiele Belgie" (Huyse 1987: 15) entwickelt haben, tritt der Staat
mittlerweile als ein Akteur auf, der die Säulen nachdrücklich unterstützt. Der Staat verhilft
den Säulenorganisationen zu einem eigenen Betätigungsbereich. Der Staat sorgt dafiir, daß
die Säulenorganisationen die finanziellen Mittel und die gesetzliche Befestigung erhalten, die
ihrer Bestandssicherung dienen (liberte subsidiee). Der Staat überträgt den Säulenorganisatio-
nen bestimmte Aufgaben, die es ihnen ermöglichen, Leistungsangebote zu erstellen, die sie
für Mitglieder und Wähler attraktiv machen. Der Staat garantiert den Säulenorganisationen
ihre Befugnis zur Funktionswahrnehmung. Er schottel sie gegen konkurrierende Funktions-
träger ab und subventioniert ihre Funktionstätigkeit durch besondere Unterstützungleistungen.
Durch die Vemetzung mit dem Staat werden die Säulenorganisationen instand gesetzt, die
Gestaltung des täglichen Lebens umfassend vorzunehmen. Die in einer Säule zusammenge-
faßten Organisationen leisten die "... organisatie van het dagelijks leven op grond van
levensbeschouwelijke verscheidenheit, waardoor aparte werelden ontstaan, die in hun
afzonderlijke verenigingen of als netwerk met de staat randacties aangaan." (Huyse 1987: 17)
Zu den Interorganisationsbeziehungen innerhalb und zwischen den Säulen kommen die
Interorganisationsbeziehungen zwischen den Säulenorganisationen und dem Staat (bzw. den
unter dieser Bezeichnung zusammengefaßten politischen Akteuren) hinzu.
Der Staat weist den Säulenorganisationen Aufgaben zu und befestigt sie. Gleichzeitig wirkt
er mit beim Auf- und Ausbau von Beziehungen zwischen den Säulen und sorgt damit dafür,
daß das Ordnungsprinzip der verschränkten Versäulung seine konfliktreduzierende Wirkung
entfaltet.
Selbstverständlich kann - gerade in versäulten Gesellschaften - der Staat nicht als eigen-
ständige gesellschaftsferne Kraft begriffen werden. Die Unterstützung der Säulenorganisatio-
nen durch den Staat steht im Zusammenhang mit ihrer Einflußnahme auf den Staat, die
insbesondere durch die politischen Parteien vermittelt wird.
In einer Gesellschaft, die nach dem Ordnungsmodell "verschränkte Versäulung" aufgebaut
ist, besteht ein besonderer Regelungsbedarf fiir die Beziehungen innerhalb und zwischen den
Säulen sowie zwischen den Säulen und den staatlichen Akteuren. Offensichtlich werden
hierbei bestimmte Formen der Entscheidungstindung begünstigt.
Es wird übereinstimmend darauf hingewiesen, daß die Willensbildungs- und Entschei-
dungsprozesse in Belgien durch eine starke Elitenorientierung der Entscheidungstindung
51
gekennzeichnet sind. Den staatlichen und gesellschaftlichen Eliten - so die Vorstellung -
werden die Entscheidungen deshalb übertragen, weil sie dafür bessere Voraussetzungen
haben. Insbesondere verfügen diese- in der Regel durch Wahlen legitimierten- Funktionse-
liten über ein besseres Problemverständnis und eine höhere Kompromißfähigkeit als andere
Akteure. Somit sind sie bevorzugt in der Lage, an der Konfliktregelung mitzuwirken. Wenn
sich Spannungen und Konfliktlagen aktualisieren, verstärkt sich die Notwendigkeit der
Elitenorientierung noch.
An die staatlichen und gesellschaftlichen Eliten wird also die Erwartung gerichtet, daß sie
sich um einen pragmatischen Interessenausgleich bemühen. Sie sollen bestrebt sein, radikale
Auseinandersetzungen zu vermeiden. Die Erwartung ist gerichtet auf prudent Ieaders hip. Auf
dem Wege einer canape-politiek , also von " ... arbitration, deliberation, negotiating,
arranging and bargaining" sollen sie den Interessenausgleich suchen (Pijnenburg 1984: 59).
Die belgisehe Elite ist eine pacification elite (Pijnenburg 1984: 59).
Die pacification elite gestaltet eine pacificatiedemocatie und findet durch pacificatiebes-
luitvorming (Dewachter 1992: 107ff.) zu ihren Entscheidungen.
Die Entscheidungen sollen in Spitzenkonferenzen möglichst sachbezogen getroffen wer-
den. Die erwünschte Kompromißbereitschaft (vertragsamkeit) soll auch dadurch erreicht
werden, daß die Zusammensetzung der Entscheidungsgremien nach dem Prinzip der
Proportionalität (evenredigheit) erfolgt. Proportionalität soll auch als Entscheidungsprinzip
bei Verteilungskonflikten herangezogen werden, wobei diese Regelungsform es nahelegt,
soziale Konflikte generell in Verteilungskonflikte zu "übersetzen", um sie auf diesem Wege
besser regeln zu können: " ... de politieke actie is in wezen verschoven van een van strijd naar
een van verdeling" (Daalder zitiert nach Dewachter 1992: 113).
Damit wird wiederum die Proportionalität als Kriterium der Verteilung von Ressourcen
stabilisiert. Der compromis a Ia beige (Vilrokx 1995b: 207) ist das Ergebnis von Entschei-
dungsprozessen in elitenorientierten Interorganisationsbeziehungen, die sich am Gesichts-
punkt der Proportionalität orientieren und Regelungsformen zugrunde legen, "in which
conflicts and power struggles were neutralized through material compensation" (Vilrokx
1995b: 208).
Die elitenorientierte Entscheidungsfindung, die auf der Grundlage von Proporzgesichts-
punkten erfolgt, reduziert die Bürgerbeteiligung. Bisweilen wird eine "politische Passivität"
(Siegemund 1989: 27 in Anlehnung an Huyse 1970: 222ff.) sogar als Funktionsvoraussetzung
52
solcher politischen Entscheidungsprozesse genannt. Die Entscheidungsbedingungen in
Belgien lassen "ein politisches Engagement der Bürger entsprechend einer input-orientierten
Demokratie nicht zu" (Siegemund 1989:28).
Bisweilen wird die Befiirchtung geäußert, daß die Konsens- und Kompromißorientierung
nicht mehr vorrangig ein Mittel darstellt, um bestimmte Zielsetzungen zu erreichen, sondern
zur Zielsetzung als solcher mutiert.
So formulieren Vilrokx und Van Leemput:
"The reality of the Belgian situation is that the social partners are represented in
virtually all socio-economic organizations and committees. There they are con-
fronted with competing cleavage-based parties and representatives of the other
ideological pillars. In this complex network of relations and political and socio-
economic exchanges, ubiquitous interest conflicts have to be regulated. In our
view, the process of reaching a consensu (as most accounts of the Belgian Situa-
tion assume) an end in itself, but rather a means" (1992:365).
Nunmehr können folgende grundlegenden Aussagen über die Akteure und Strukturen der
kollektiven Arbeitsbeziehungen im Rahmen der beschriebenen gesellschaftlichen Zusammen-
hänge und Ordnungsprinzipien getroffen werden:
Die Organisation der Arbeitnehmer in Richtungsgewerkschaften entspricht dem Ord-
nungsprinzip der Versäulung. Die Richtungsgewerkschaften sind als Säulenorganisationen in
die weltanschaulich fundierten Säulen integriert und unterhalten Beziehungen zu den anderen
Organisationen innerhalb derselben Säule.
Das Ordnungsprinzip der "verschränkten Versäulung" findet seinen Ausdruck in den
Beziehungen zwischen den Organisationen verschiedener Säulen, also in Interorganisations-
beziehungen, die über die Grenzen der Säulen hinausgehen. Im Bereich der Arbeitsbeziehun-
gen erweisen sich die Beziehungen zwischen den Richtungsgewerkschaften verschiedener
Säulen als notwendig, um eine wirksame Interessenvertretung gegenüber den Arbeitgebern
vorzunehmen. Sie sind gleichzeitig Brücken zwischen den Säulen, die verhindern, daß die
weltanschaulichen Differenzierungen eskalieren. Die Interorganisationsbeziehungen zwischen
den Richtungsgewerkschaften sind Wege einer effizienten Interessenvertretung und entspre-
chen gleichzeitig dem Ordnungsprinzip der "verschränkten Versäulung".
Somit sind die Interorganisationsbeziehungen zwischen den Richtungsgewerkschaften auch
nicht sich selbst überlassen. Sie erhalten eine zusätzliche Befestigung durch ein Konfliktre-
gelungsmodell, das gesamtgesellschaftliche Stabilität in Aussicht stellt.
Die Richtungsgewerkschaften müssen zu Interorganisationsbeziehungen finden, durch die
die Säulendifferenzierung überbrückt wird, ohne ihre organisatorische Eigenständigkeil
aufzugeben. Kooperation, nicht Fusion ist erwünscht, weil andernfalls das Prinzip der
Versäulung nicht nur eingeschränkt, sondern ganz aufgegeben würde.
Die Aussagen über die Vermittlungszusammenhänge zwischen Staat und Gesellschaft auf
der Grundlage des Ordnungsprinzips "verschränkte Versäulung" lassen erwarten, daß der
53
"versäulte" Staat auch den Richtungsgewerkschaften Aufgaben und Ressourcen zuweist. die
ihren Bestand befestigen.
Gleichzeitig kann erwartet werden, daß der Staat Wege sucht und findet, um die Beziehun-
gen zwischen den Richtungsgewerkschaften einzuleiten und auf Dauer zu stellen. Solche
Beziehungen werden - obigen Ausführungen entsprechend - auf zentraler Ebene koordiniert
bzw. konzertiert. Dabei können die genannten Formen und Kriterien der Entscheidungsfin-
dung zur Anwendung kommen.
Der Fragestellung dieser Untersuchung entsprechend soll den Beziehungen zwischen dem
Staat und den Verbänden besondere Beachtung geschenkt werden. Es wird untersucht, mit
welchen Mitteln der Staat versucht, seine Zielsetzungen zu erreichen und welche Wirkungen
von den benutzten Mitteln ausgehen. Hierbei soll gefragt werden, ob gegebenenfalls be-
stimmte Wirkungen der staatlicher Normierungen den offiziellen Zielsetzungen widerspre-
chen, aber im Einklang mit den inoffiziellen Zielsetzungen des Staates stehen.
Die Beziehungen der Organisationen innerhalb und zwischen den Säulen verlaufen nicht
gleichförmig, sondern unterliegen einem Wandel, der auf Veränderungen in den gesellschaft-
lichen Rahmenbedingungen zurückgeht.
Diese Veränderungen in den Rahmenbedingungen verändern das Gleichgewicht zwischen
den Differenzierungslinien und Konfliktlagen. Sie stellenjeweils neue Anforderungen an eine
Gestaltung der Beziehungen von Säulenorganisationen innerhalb der verschiedenen Säulen
und zwischen ihnen.
Zur Pointierung einschneidender Veränderungen in den Rahmenbedingungen kann folgen-
de Periodisierung der Entwicklung vorgenommen werden.
Zunächst soll Beachtung finden, unter welchen Rahmenbedingungen und mit welchen
Strukturformen sich ein belgisches Modell der Arbeitsbeziehungen überhaupt entwickelt hat,
wie sich also eine formative Periode der belgischen Arbeitsbeziehungen beschreiben läßt.
Im Anschluß daran wird untersucht, wie sich die belgischen Arbeitsbeziehungen unter den
günstigen Bedingungen der sechziger Jahre entwickelt haben. Im anschließenden Teil der
Untersuchung soll dann die Entwicklung der belgischen Arbeitsbeziehungen bis zur Gegen-
wart nachvollzogen werden, wobei diese Entwicklung unter den besonderen Bedingungen
einer erweiterten Staatsintervention erfolgte und deshalb geeignetes Anschauungsmatrial für
die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung liefert.
Der Staat wird in seiner Vermittlungs- und Verteilungsfunktion zunächst gefordert, dann
überfordert, letztlich aber bestärkt, weil die Überforderung ein Ausmaß annimmt, das - wie zu
zeigen sein wird - auf Dauer und vor allem unter wirtschaftlich ungünstigen Bedingungen
nicht tragbar erscheint:
"Far from being a neutral party, the state thus actively shaped neo-corporatist ar-
rangements in Belgium. It was able to do so because it had the resources, ... and it
was forced to do so because the strongly developed pillar and cleavage organiza-
tions were relatively autonomous centres of power capable of destabilizing the
54
state should the underlying principles of the systern come under pressure.... Para-
doxically, the state's roJe in organizing this 'compensation democracy' legiti-
mized its much more restrictive roJe when conditions for maintaining positive-
sum outcomes disappeared" (Vilrokx I Van Leemput 1992: 365f.; vergl. auch Vil-
rokx 1995b: 207f.).
55
Bedingungen eines Gewerkschaftspluralismus möglichen zwischengewerkschaftlichen
Konkurrenz abgeleitet. Die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften konnte demnach dazu
dienen, daß sich die Leistungen der Gewerkschaften für ihre Mitglieder verbesserten. Die
christlichen Gewerkschaften befürworteten den Gewerkschaftspluralismus ausdrücklich mit
dem Hinweis, daß es doch auch besser sei, in einem Dorf zwei Einkaufsläden zu haben als nur
einen einzigen. Die sozialistischen Gewerkschaften erwiderten, daß es für dasselbe Dorf ja
auch genüge, eine einzige Kirche zu haben.
56
geworden seien, weil die sozialistischen Gewerkschaften ein Bündnis mit den kommunisti-
schen gewerkschaftlichen Gruppierungen eingegangen waren.
Die organisatorische Differenzierung in Richtungsgewerkschaften wurde nach dem zweiten
Weltkrieg beibehalten. Hierfür sind auch Entwicklungen in der belgischen Gesellschaft
verantwortlich zu machen, welche die Bedeutung der weltanschaulichen Differenzierung in
der belgischen Gesellschaft insgesamt erhöhten.
Gleichzeitig wurden die Grundlagen für eine umfassende staatliche Befestigung und Steue-
rung der kollektiven Arbeitsbeziehungen gelegt.
26 zu neueren Fusionen einzelner Branchengewerkschaften der ACV/CSC vergl.: European Foundation for the
lmprovement of Living and Working Conditions 1998a: 5. Arcq I Blaise machen darauf aufmerksam, daß sich
die großen belgischen Gewerkschaften durch zahlreiche Fusionen immer mehr zu Multi-Branchen-
Gewerkschaften entwickeln. Auf diese Weise nimmt die innere Heterogenität. der Gewerkschaften zu.
Auffallig ist, daß sowohl die christlichen Gewerkschaften als auch die sozialistischen Gewerkschaften über
eigenständige Angestelltengewerkschaften verfügen und in allen drei Gewerkschaftsbünden (christlich,
sozialistisch, liberal) die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes weiterhin in separaten Gewerkschaften
organisiert sind (1999: 13f.).
57
ACVICSC im Mouvement Ouvrier Chretien (MOC), in Flandern durch dessen Mitgliedschaft
im Algemeen Christelijk Werknemersverbond (ACW).
In diesen Zusammenschlüssen sind neben den christlichen Gewerkschaften auch die an-
deren christlich-katholischen Verbände, die Arbeitnehmerinteressen vertreten, zusammenge-
faßt. Die Organisationen fassen katholische Arbeitnehmer zusammen, die in Verbänden mit
genossenschaftlicher Zielsetzung organisiert sind oder Verbänden angehören, welche
Arbeitnehmer in spezifischen Lebensabschnitten oder Geschlechterrollen zusammenfassen:
So werden als Mitglieder des MOCIACW namentlich genannt: Alliance Nationale des
Mutualites Chretiennes /Landsbond van Christelijke Mutuliteiten (ANMCILCM), Federation
Nationale des Cooperatives Chretiennes/Landelijk Verbond der Christelijken Cooperatieven
(FNCC/LVCC), Vie Feminine I Kristelijke Arbeidersvrouwengilden I (VFIKA V), Equipes
Populaires I Katholieke Werklieden Bonden (bis November 1977; seither: Kristelijke
Werknemers Beweging) I (EP/KWB), Jeunesse Ouvriere Chretienne Feminine I Vrouwelijke
Katholieke Arbeiders Jeugd (VKAJIJOCF) (vergl. Haegendoren/Vandenhove 1985: 5).
Über den MOCI ACW also finden die christlich-katholischen Gewerkschaften Anschluß an
die katholische Säule. Diese Säule wird weiterhin gebildet von der christlichen Volkspartei
(CVPIPSC) sowie verschiedenen anderen Berufsverbänden. Namentlich genannt werden die
Berufsverbände des katholischen Erziehungswesens (enseignement libre), das durch das
Secretariat National de l'Enseignement Catholique (SNEC) koordiniert wird. Weiterhin
zählen zur christlichen Säule: Die Organisationen des katholischen Gesundheitswesens, vor
allem: Caritas Catholica (CC)), die Verbände der Landwirtschaft, also vor allem der
Belgisehe Boerenbond (BB) mit seinen Unterverbänden sowie der Nationaal Christelijk
Middenstandsverbond (NCMV) fiir Flandern, dem ab 1964 im französisch-sprachigen Gebiet
(allerdings mit dem Anspruch politischer und konfessioneller Neutralität) die Federation
National des Unions de Classes Moyennes entspricht. Hinzu kommen weitere sozio-kulturelle
Verbände.
Die Einbindung des Arbeitnehmers in die katholische Säule erfolgt also durch rollenspezi-
fische Mitgliedschaften in den Mitgliedsverbänden der MOCIACW, zu denen auch der
Dachverband der christlichen Gewerkschaften zählt. Diese Mitgliedschaften werden flankiert
durch Bindungen (sei es als Mitglied, sei es als Wähler) an andere Organisationen katholi-
scher Orientierung, die mit dem MOCIACW die katholische Säule bilden.
Entscheidend ist, daß die einzelne Person in ihren wichtigsten Rollen Anschluß an Organi-
sationen finden kann, die eine gemeinsame weltanschauliche Orientierung haben. Hierdurch
ergibt sich- aus der Perspektive der einzelnen Person- nicht nur die hohe Wahrscheinlichkeit
von Mehrfachmitgliedschaften in Organisationen ein und derselben Säule, sondern sogar die
Wahrscheinlichkeit einer säulenbezogenen Biographie, einer lebenslangen sukzessiven
Mitgliedschaft in Säulenorganisationen. Die Säule braucht nicht verlassen zu werden. Für
(fast) alle Rollen stehen Organisationen bereit, welche die gleiche weltanschauliche Bindung
vermitteln.
58
Zwischen diesen Organisationen bestehen Interorganisationsbeziehungen unterschiedlicher
Intensität und Exklusivität 27 . Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Stellung der politischen
Parteien innerhalb der Säulen. Eine besonders starke Bindung besteht zwischen der katholi-
scher Arbeitnehmervereinigung ACW und der christlichen Volkspartei Flanderns. Dies zeigt
sich auch darin, daß mehr als 30% der Parlamentsvertreter der christlichen Volkspartei dem
ACW zuzurechnen sind. Für sie werden bei politischen Wahlen Listenplätze reserviert (vergl.
hierzu Pasture 1994a : 269 sowie mit ausfiihrlichen Zahlenangaben Pasture 1992: 434-452).
Pasture (1994a: 264ff.) betont den starken Einfluß des MOC/ACW in der Zeit nach dem
zweiten Weltkrieg. Der MOC/ACW koordinierte die verschiedenen Mitgliedsverbände und
war auch in der Lage, im Konfliktfall zu vermitteln. Von der MOC/ACW ging auch die Auf-
forderung an die katholischen Arbeitnehmer aus, sich in mehreren Organisationen der
katholischen Säule gleichzeitig zu organisieren. Oftmals wurde im Zuge der direkten
persönlichen Beitragserhebung (secretariat ambulant) dazu aufgefordert, die Mitgliedschaft
in weiteren christlichen Verbänden aufzunehmen.
Später ging der Einfluß des MOC/ACW zurück. Die Gewerkschaften nahmen an Bedeu-
tung zu und koordinierten maßgeblich die Arbeitnehrnerinteressen. Die politischen Parteien
übernahmen die Aufgabe der Koordination der säuleninternen Interorganisationsbeziehungen.
" vergl. fiir die niederländisch-sprachigen Gebiete ausfiihrlich: van Haegendoren!V andenhove l ,2 und 3 1985
sowie Govaert 1991 und neuerdings Voye/Dobbelaere 1997 mit weiteren Einzelheiten zum Organisationsauf-
bau und dessen Wandel.
59
Da ihnen als nicht-repräsentative Gewerkschaften die Vertretungsvollmachten fehlten, gelang
es ihnen nur schwer, in den Betrieben Fuß zu fassen. Insbesondere die Kandidatenaufstellung
für Wahlen auf Betriebsebene blieb ihnen verwehrr 8 . Chlepner zufolge war es nur konse-
quent, daß sich die kommunistischen Gewerkschaften außerhalb des sozialistischen Dachver-
bands auflösten und ihren Mitgliedern empfahlen, sich Gewerkschaften anzuschließen, die im
ABVV/FGTB föderiert waren (1958: 270).
Die sozialistische Gewerkschaft ABVV/FGTB hat ebenso wie die christlichen Gewerk-
schaften eine dualistische Struktur. Sie ist nach fachlichen und nach territorialen Gesichts-
punkten aufgebaut. Sie besteht aus 12 zentralen Einzelgewerkschaften und 24 branchenüber-
greifenden Untergliederungen, in denen die regionalen bzw. lokalen Vertretungen der
Einzelgewerkschaften zusammengeschlossen sind29 • Diese wiederum setzen sich aus den
betrieblichen Gewerkschaftssektionen zusammen (vergl. Ministere de l'Emploi et du Travail
1993: 13 und van HaegendorenNandenhove 1983: 660).
Die sozialistische Säule wird überformt durch die Sodalistische Gemeenschappelijke Actie
(SGA) (vergl. Van Haegendoren und Vandenhove 1983; siehe auch Kendall 1975: 274) Im
Unterschied zur christlichen ACW/MOC bildet dieses Koordinationsforum aber keine
dauerhafte Formalstruktur aus, sondern wird fallweise tätig. Einzelne Kommentatoren
betonen, daß diesem Gremium die Koordination auch ohne Formalisierung der Interorganisa-
tionsbeziehungen gelinge, weil innerhalb der sozialistischen Säule ein starkes Gefühl der
Verbundenheit bestehe. Die politische Partei, die Gewerkschaften, der Wohlfahrtsverband
und die Genossenschaft bildeten eine große Familie, der sich der einzelne Aktive verbunden
fühle: "De socialistische militant voelt zieh immers nog steeds Iid [Mitglied, W.P.] van 'een
grote socialistische familie', die de partij, da vakbond, de mutualiteit, en de cooperative
omvat" (van HaegendorenNandenhove 1983: 641).
Bis zum Ende des zweiten Weltkriegs waren alle Mitglieder von Organisationen, die zur
sozialistischen Säule gehörten, gleichzeitig auch Mitglieder der sozialistischen Partei. Die
obligatorische Doppelmitgliedschaft bestand also auch für Mitglieder sozialistischer Gewerk-
schaften und der sozialistischen Partei. Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs beruht die
Mehrfachbindung an die sozialistischen Organisationen ebenso wie in der christlichen Säule
auf gemeinsamer Überzeugung oder utilitaristischem Kalkül.
""Dans les circonstances actuelles un syndicat qui n'est pas affilie il une grandeorganisationnationale peut
difficilement se maintenir, encore moins progresser. Le seul fait qu 'il ni soit pas represente dans les commissi-
ons officielles, qu'il puisse difficilement pent\trer dans les Conseils d'entreprise est un grave handicap"
(Chlepner 1958: 270).
60
Im einzelnen umfaßt die sozialistische Säule zunächst die Socialistische Partij/Parti Socia-
liste (SP/PS). Diese unterhält Untergliederungen für bestimmte Mitgliedergruppen (Frauen,
Arbeitnehmer im Ruhestand, junge Mitglieder), ein Bildungswerk und einen wissenschaftli-
chen Studiendienst
Weiterhin zählen zur sozialistischen Säule die Organisationen der sozialen Sicherung mit
verschiedenen mitgliederspezifischen Nebenorganisationen Nationaal Verbond van de
Socialistische Mutualiteiten (NVSM) und ein umfangreiches Genossenschaftswesen für ver-
schiedene Produkte und Dienstleistungen, die Federatie de Belgisehe Cooperaties (FEBE-
COOP).
"La CGSLB, en effet, n'est ni une federation, ni une confederation, mais une veri-
table centrale generale puisque - a Ia difference de Ia FGTB et de Ja CSC, formees
autour de centrales etablies par branches - Je syndicat liberal s 'est organise, sur
une base geographique, au depart de sections interprofessionelles regroupant tous
!es affilies d'une region" (Miroir 1982: 66f. vergl. auch: Ministere de l'Emploi et
du Travail1993: 16 sowie vor allem ACLVB/CGSLB o. J.).
Die Serviceleistungen, die die liberale Gewerkschaft bereitstellt, werden auf zentraler
Ebene koordiniert. Auch die Mitgliederbeiträge kommen direkt der Zentralebene zugute. Im
Unterschied dazu regeln die christlichen und die sozialistischen Einzelgewerkschaften ihre
Finanzen selbst und führen nur einen Teil der Beiträge an die Zentralebene des jeweiligen
Dachverbands ab.
Für die starke Zentralisierung der liberalen Gewerkschaft werden verschiedene Gründe
geltend gemacht. Einmal wird auf die dominierende Rolle von Einzelpersönlichkeiten beim
Autbau der Gewerkschaft hingewiesen. Weiterhin wird auch der geringe Organisationsgrad
der liberalen Gewerkschaft für die Zentralisierung verantwortlich gemacht. Untergliederungen
mit organisatorischer Eigenständigkeil seien " ... too heavy a financial burden for a relative
small organization" (ACLVB/CGSLB o. J.: 4f.). Durch die Zentralisierung können die
61
Serviceleistungen koordiniert und einheitlich bereitgestellt werden. Dies hat den Vorteil, daß
das Serviceangebot trotz geringer Mitgliederzahlen umfangreich und vielfältig sein kann.
Weiterhin ermöglicht die Zentralisierung direkte Kommunikationswege zwischen den
Mitgliedern und den Entscheidungszentren der Gewerkschaft (vergl. ACLVBICGSLB o. J.:
4f. und Chlepner 1958: 282) 30 •
Die liberale Gewerkschaft ACLVB I CGSLB hat ihrem Handeln in der Zeit nach dem 2.
Weltkrieg eine Sozialcharta zugrunde gelegt, die sie gemeinsam mit der liberalen Partei
unterzeichnet hatte. Diese Sozialcharta war also " ... un document commun au Parti et a Ia
Centrale des Syndicats" (Chlepner 1958: 282). Die Charta verpflichtete die Gewerkschaften
zur gemeinsamen ausgewogenen Interessenvertretung der unterschiedlichen Gruppierungen
der Arbeitnehmerschaft sowie zum Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern. Als gewerkschaftliche Zielsetzung wurden ausdrücklich genannt:
"Fonder l'entente entre preneurs et donneurs de travail sur Je respect mutuel des
droits et des devoirs reciproques, conformement aux principes liberaux essentiels
de liberte, de solidarite, de progres, de justice et de paix sociales" (ArcqiBlaise
1993: 9).
30 Eine interne Differenzierung erfahrt die liberale Gewerkschaft lediglich dadurch, daß die Beschäftigten des
öffentlichen Dienstes in einer eigenständigen Gewerkschaft, dem Vrij Syndicaat van het Openhaar Amht
(VSOA) bzw. dem Syndicat Libre de Ia Fonction Publique (SLFP) zusammengeschlossen sind. Ferner sind
1989 in Wallonien und Flandern und 1998 in Brüssel regionale Untergliederungen der liberalen Gewerkschaft
eingerichtet worden. (vergl.: Arcq I Blaise 1999: 16)
62
auch die liberale Gewerkschaft bis heute ihre Distanz zur liberalen Partei und weist ausdrück-
lich auf ihre parteipolitische Unabhängigkeit hin (vergl.: ACLVB/CGSLB o. J.: 9f.).
Gleichwohl wird in Belgien das Bild der liberalen Säule aufrechterhalten und darauf hin-
gewiesen, daß - analog zu den katholischen und zu den sozialistischen Verbänden - verschie-
denartige Funktionen von Organisationen übernommen werden, die übereinstimmend
liberalen Leitbildern folgen. Es bestehen neben der liberalen Gewerkschaft und der liberalen
Partei liberal-orientierte Interessenvertretungen für den Mittelstand, die gehobenen Ange-
stellten und die in der Landwirtschaft Tätigen. Ferner existieren liberal-orientierte Organisa-
tionen auf dem Gebiet der sozialen Sicherung und des Genossenschaftswesens (vergl.
ausführlich Crisp 1971)31 •
Allerdings wird übereinstimmend darauf hingewiesen, daß die Kohäsion der liberalen Säule
deutlich geringer ist als die der anderen weltanschaulichen "Familien". Die Verbindungen
zwischen den verschiedenen Organisationen sind lockerer, seltener und werden weniger
deutlich wahrgenommen. Dieses resultiert sicherlich einmal daraus, daß die liberale Weltan-
schauung kollektiven Organisationen eher mißtraut und zwischenorganisatorische Verbin-
dungen grundsätzlich schwerer fallen als dies bei den Trägern der anderen großen weltan-
schaulichen Orientierungen der Fall ist. Im Zentrum der liberalen Organisationen steht zwar
die politische Partei. Doch kann die politische Partei allenfalls als politisches Sprachrohr
einzelner liberaler Organisationen gelten, nicht als Verbindungsglied zwischen den Organisa-
tionen. Die verschiedenen Organisationen unterhalten zur politischen Partei eine unterschied-
lich intensive Beziehung.
"Le 'monde liberal' gravitant autour d'une ideologie politique (et non autour
d'une religion), ... son degre de cohesion peut etre estime a partir du niveau
d ·attraction exerce sur ses elements par Je principal parti porteur de cette ideolo-
gie, asavoir Je PLP ... IJ apparait ainsi que !es groupes liberaux peuvent se trouver
dans une situation soit de dependance (souvent latente), soit de collaboration dans
J'autonomie, soit de non-collaboration (c'est encore le cas de la C.G.S.L.B.), soit
meme d'hostilite ... a J'egard du parti ... " (Crisp 1971: 32).
Gleichwohl gelang die Anerkennung der kleineren liberalen Gewerkschaft als repräsentati-
ve Gewerkschaft und damit ihre Gleichstellung mit den beiden größeren Gewerkschaftsföde-
rationen. Diese Anerkennung wurde - wie im einzelnen zu zeigen sein wird - wichtige
Funktions- und Bestandsvoraussetzung für die liberale Gewerkschaft. Sie wurde im politi-
schen Raum durchgesetzt. Die Tatsache der Anerkennung als repräsentative Gewerkschaft
31 Im Jahr 1977 wurde eine separate wallonische liberale Partei (Parti des Reformes et da Ia Liberte de Wallonie)
- PRL W - gegründet, die 1979 in der PartiReformateur Liberal (PRL) aufging. Die PRL fiihrte die franzö-
sisch-sprachigen Liberalen Walloniens und Brüssels zusammen. Sie bestand neben der flämischen PVV, die
ihrerseits im Jahr 1992 unter dem starken Einfluß ihres Präsidenten Guy Verhofstadt in die VLD (Vlamse
Liberale Democraren- Partij van de Burger) transformiert wurde (vergl.: CRJSP 1999: 4).
63
spricht ohne Zweifel dafiir, daß die liberale Gewerkschaft über einen erheblichen politischen
Einfluß verfiigt. Diesen Einfluß kann sie insbesondere dann ausüben, wenn die liberale Partei
zusammen mit der christlichen Volkspartei die Regierung bildet.
Die belgiseben Richtungsgewerkschaften können also verschiedenen Säulen zugeordnet
werden. Sie agieren in Verbindung mit anderen Organisationen gleicher weltanschaulicher
Orientierung. Allerdings unterscheiden sich die Inhalte und Formen dieser Interorganisations-
beziehungen voneinander. Die beschriebenen Richtungsgewerkschaften werden übereinstim-
mend vom Staat mit besonderen Vertretungskompetenzen ausgestattet. Diese Ausstattung
schließt an die Bestimmung der Gewerkschaften als repräsentativ an.
Art und Ausmaß der derzeitigen gewerkschaftlichen Funktionstätigkeit wurden in der Zeit
nach dem zweiten Weltkrieg konfiguriert. Deshalb soll der Gestaltung der gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen und der gewerkschaftlichen Struktur- und Funktionsformen in dieser
Zeit besondere Aufinerksamkeit gewidmet werden.
64
abgegrenzt zu haben (vergl. hierzu Siegemund 1989: 116ff.). Die Frage, ob und mit welchen
Befugnissen Leopold III nach Beendigung des zweiten Weltkriegs nach Belgien zurückkehren
konnte, wurde Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen, die insbesondere von den
politischen Parteien ausgetragen wurden. Im parlamentarisch-politischen Raum standen sich
die christliche Volkspartei CVP/PSC auf der einen und die sozialistische Partei SP/PS bzw.
die liberale Partei PLP auf der anderen Seite gegenüber. Die CVP/PSC befiirwortete die
Rückkehr des Königs nach Belgien, die beiden anderen Parteien sprachen sich dagegen aus.
Die CVP/PSC entsprach mit ihrer Haltung weit verbreiteten Ansichten im katholisch
geprägten und eher monarchisch orientierten Flandern, dessen Bewohner sich zum Teil - vor
allem von wallonischer Seite aus - dem Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen
ausgesetzt sahen. In einer im Jahre 1950 durchgefiihrten Volksbefragung sprachen sich
57,68% der belgischen Wähler fiir eine Rückkehr des Königs aus; allerdings ergaben sich in
den Landesteilen unterschiedliche Mehrheiten. In Flandem befiirworteten 73% die Rückkehr
des Königs. In Wallonien stimmten 52,8% gegen die Rückkehr (vergl. Siegemund 1989: 120).
Hier stand die sozialistische Partei an der Spitze einer starken Oppositionsbewegung von
Gewerkschaften, Genossenschaften und Selbsthilfeorganisationen gegen eine Rückkehr des
Königs.
Für die Lösung der Königsfrage entscheidend war letztlich, daß es der sozialistischen Partei
gelang, die wallonische Protestbewegung zu kanalisieren und zu integrieren, ohne daß die
Partei ihre eigene belgiseh-unitarische Haltung aufgab.
Die christliche Volkspartei CVP/PSC trug ebenfalls zur Kompromißfindung bei. Ihre
anfängliche Unterstützung der Person des Königs Leopold III hielt sie nicht davon ab, einem
Kompromiß zuzustimmen, der zwar die Kontinuität der Monarchie gewährleistete, die
Kompetenzen des umstrittenen Königs Leopold III aber zu Ungunsten seines Nachfolgers
Baudoin beschnitt.
Die Konfliktregelung gelang als "Eiitenbeschluß" (Siegemund 1989: 123) entlang der
weltanschaulichen Differenzierungs- und Konfliktlinien.
Mit der Königsfrage hatte Belgien einen ideologischen Konflikt erlebt, der die herausra-
gende Bedeutung der weltanschaulichen Differenzierungslinie ebenso nachdrücklich
bestätigte wie die Bedeutung des belgischen Systems der Konfliktregelung: Es konnte eine
einheitliche Entscheidung fiir Belgien getroffen werden, obwohl die Präferenzen in den
verschiedenen Landesteilen deutlich unterschiedlich waren.
Ferner hatten die politischen Parteien als Träger der weltanschaulichen Differenzierung ihre
Kompromißfähigkeit bewiesen. Sie hatten erfolgreich dafiir Sorge getragen, daß die weltan-
schaulichen Konfliktlinien nicht soweit mit den sprachlich-kulturellen Differenzierungslinien
65
übereinstimmten, daß eine nationale - belgisehe - Konfliktregelung unmöglich wurde. Die
politischen Parteien hatten erreicht, daß die ideologischen Konflikte eine Regelung erfuhren,
ohne daß eine Regionalisierung bzw. Föderalisierung des Landes betrieben werden mußte.
In der Schulfrage standen sich erneut die Vertreter der beiden weltanschaulichen Lager ge-
genüber. Strittig waren die Beziehungen zwischen dem staatlichen (laizistischen) und dem
privaten (katholischen) Schulwesen. Die sozialistische Partei und die liberale Partei befür-
worteten eine Ausdehnung des staatlichen Schulwesens, die christliche Partei unterstützte
demgegenüber die Konsolidierung und Verbesserung der Privatschulen. Letzteres sollte vor
allem durch die freie Schulwahl zwischen staatlichen und privaten Schulen und durch eine
staatliche Unterstützung des freien (privat-katholischen) Schulwesens geschehen. Wiederum
waren die ideologischen Positionen mit unterschiedlichem Gewicht in den verschiedenen
Landesteilen vertreten, ohne sich lediglich auf einen bestimmten Landesteil zu beschränken.
So fand die Konzeption der katholischen Orientierung vor allem in Flandern Unterstützung.
Sie wurde aber auch von Teilen des frankophonen Bürgertums in Brüssel und in Wallonien
befürwortet.
Die Auseinandersetzungen um die Schulfrage wurden ebenso wie die Königsfrage im Jahre
1958 auf dem Wege eines "Eiitenkompromisses" (Siegemund 1989: 130) beendet. In ihm
wurde die Freiheit der Schulwahl garantiert, d.h. staatliche und private Schulen sollten
gleichberechtigt nebeneinander stehen. Die katholische Kirche verzichtete auf das zuvor von
ihr beanspruchte Erziehungsprivileg. Die Finanzierung der freien (privat-katholischen)
Schulen wurde dem Staat übertragen, ihre inhaltliche Ausrichtung blieb Angelegenheit der
katholischen Kirche.
Mit dem Schulpakt war wiederum die Lösung eines weltanschaulichen Grundkonflikts auf
belgiseh-unitarischer Ebene gelungen. Der Schulpakt unterstrich die Bedeutung einer
parteipolitischen Organisation gesellschaftlicher Konflikte, einer Organisation also, die
entlang der weltanschaulichen Differenzierung erfolgte.
Die sprachlich-kulturellen Konflikte zwischen niederländisch-sprachigen und französisch-
sprachigen Belgiern, vor allem also zwischen Flamen und Wallonen, konnten ebenfalls auf
dem Wege des ideologischen Kompromisses reguliert werden, obwohl die weltanschaulichen
Unterschiede sich in starken regionalen Unterschieden niederschlugen und zu beftirchten war,
daß die weltanschaulichen und die sprachlich-kulturellen Konfliktlinien zusammentrafen,
kumulierten und nachfolgend eskalierten.
Die großen politischen Parteien hatten sich als Akteure des Interessenausgleichs auf natio-
naler (belgischer) Ebene bewährt und damit einen Anspruch auf parteipolitische Kontrolle der
innerbelgischen Differenzierungslinien im Interesse einer Aufrechterhaltung nationaler
belgiseher Identität bekräftigt.
Die weltanschaulichen Konflikte hatten sich als die dominierenden Differenzierungslinien
der belgiseben Nachkriegszeit erwiesen.
66
Die politischen Parteien wurden Träger der weltanschaulichen Differenzierung und Akteure
der Kompromißfindung. Sie schlossen einen "bewaffueten Frieden" (Huyse zit. nach
Siegemund 1989: 131 ), über dessen Einhaltung sie selbst wachten.
Der Friedenssicherung diente auch der Ausbau und die Vemetzung der ideologisch fun-
dierten Säulen mitsamt der in ihnen zusammengefaßten Organisationen. Hierzu gehörte auch,
daß sich die großen politischen Parteien der spezifischen Mechanismen der Stellenbesetzung
und Verteilung bedienten, die oben bereits Erwähnung fanden. Die politischen Parteien
plazierten ihre Anhänger in allen relevanten Gremien und Positionen. "Eine Politik der
(proportionalen) Verteilung knapper Güter (Stellen, Mandate, Subventionen, Sendezeit) trat
an die Stelle der Teilung des Landes" (Siegemund 1989: 131) und trug dazu bei, so müßte
man ergänzen, daß sich die ideologischen Differenzierungslinien nachdrücklich in die
belgisehe Gesellschaft einpflanzten und auch dann noch Berücksichtigung und Bestätigung
fanden als die weltanschaulichen Kontroversen längst an Bedeutung verloren hatten.
Die weltanschauliche Differenzierung des Landes wurde zum herausragenden Orientie-
rungs- und Organisationsprinzip, das zunächst durch manifeste ideologische Konflikte
Bestätigung fand und dann als Grundlage politischer Organisation und verbindlicher
Verteilungsprinzipien nachdrückliche Bedeutung erhielt.
Gleichzeitig wird die Polarisierung der Bevölkerung in grundsätzlichen ideologischen
Fragen als Grund dafür genannt, daß einer repräsentativen elitenorientierten Entscheidungs-
tindung gegenüber plebiszitären direkt-demokratischen Entscheidungsformen der Vorzug
gegeben werden müsse. Die Interorganisationsbeziehungen verlaufen auf Führungsebene in
kleinen Zirkeln, die Kompromißfindung erfolgt auf dem Wege proportionaler Verteilungen.
Die Beziehungen zwischen den Leitungen und den Mitgliedern der Säulenorganisationen
sind streng hierarchisch bestimmt. Dadurch bieten sie eine wichtige Voraussetzung für
säulenübergreifende Verschränkungen.
67
Regelung ideologischer Konflikte erschwerte. Wenngleich sich die beiden Landesteile durch
stark unterschiedliche Konzeptionen zur Lösung der Königsfrage und der Schulfrage
unterschieden, wurden Lösungen gefunden, die in beiden Landesteilen Zustimmung fanden.
Dies geschah in Form von Kompromissen, welche die dominierenden Akteure der weltan-
schaulichen Differenzierung einerseits in ihrer Eigenart und Integrationskraft bestätigten und
gleichzeitig auch Ausdruck von Verbindungen zwischen diesen Akteuren waren. So wurde
vermieden, daß die weltanschauliche Differenzierung durch eine sprachlich-kulturelle
Differenzierung so sehr bekräftigt wurde, daß die staatliche und gesellschaftliche Integration
nachhaltig gefährdet war.
Ebenfalls mußte gewährleistet sein, daß der industrielle Konflikt die weltanschauliche
säulenbildende Differenzierungs- und Konfliktlinie weder zu sehr verstärkte noch in den
Schatten stellte. Der industrielle Konflikt mußte auf der Grundlage von Strukturen, die die
versäulte Gesellschaft bot, nachrangig geregelt werden, ohne seine Ausdruchsmöglichkeiten
zu verlieren. Hierdurch wurde das Ordnungsprinzip der Versäulung einerseits bestätigt,
andererseits aber auch eingeschränkt.
Die Regelung des industriellen Konflikts mußte also auf der Grundlage von Richtungsge-
werkschaften erfolgen. Gleichzeitig mußte sichergestellt sein, daß die Richtungsgewerk-
schaften kooperierten. Die Kooperation war als Koordinationsprinzip der Fusion der
Richtungsgewerkschaft zu einer Einheitsgewerkschaft überlegen, weil sie dem Ordnungsprin-
zip der Versäulung entsprach, dessen trennende Wirkungen aber einzuschränken in der Lage
war.
Die Grundlage fiir die Regelung des industriellen Konflikts in Belgien war eine Überein-
kunft, die bereits im Jahre 1944 - also noch während der Zeit der deutschen Besatzung -
zwischen den Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer und staatlichen Akteuren in
Erwartung eines baldigen Kriegsendes getroffen wurde (vergl. Arcq I Marques-Pereira 1991 :
172 und Pasture 1993a: 695). Es handelte sich um die "Vereinbarung über soziale Solidarität"
(overeenkomst van sociale solidariteit bzw. projet d"accord de solidarite sociale), kurz
"Sozialpakt" ( sociaal pact bzw. pacte social) genannt.
Ohne offiziell unterzeichnet worden zu sein 32 , bestimmten die in dieser Vereinbarung
festgelegten Grundsätze die Regelung des industriellen Konflikts in Belgien.
Vorbehalte gegenüber einer Einigung auf der Grundlage eines Sozialpakts bestanden
zunächst bei den Arbeitgebern, weil sie die Arbeitnehmer und ihre Vertreter nicht an
wirtschaftlichen Entscheidungen teilnehmen lassen wollten. Pasture weist darauf hin, daß "the
spirit of conciliation and consensu(s), which was evidenced by the social pact, was not yet a
general fact" (Pasture 1993a: 703f.).
68
Im Vorwort dieses Sozialvertrags wurde der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß die Be-
standsinteressen der Unternehmen (Ia bonne marche des entreprises) und das wirtschaftliche
Wohlergehen des Landes eine loyale Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
erforderten. Dieses setzte voraus, daß die Akteure ihre spezifischen Handlungskompetenzen
ebenso anerkannten wie die gesellschaftlichen Bedingungen, die den Handlungskompetenzen
zugrunde lagen. Im einzelnen waren dies die auf dem Privateigentum an den Produktionsmit-
teln beruhende unternehmerische Handlungs- und Entscheidungsfreiheit und die Koalitions-
freiheit der Arbeitnehmer. Hieraus leitete sich die Befugnis zum Aufbau von Gewerkschaften
ab. Diese waren vom Staat und den Arbeitgebern prinzipiell unabhängig. Allerdings gehörten
sie zu bestimmten weltanschaulichen Familien.
Der Sozialpakt war somit Ausdruck eines "compromis social-democrate" (Marques-Pereira
1990: 55). Dessen Besonderheit bestand darin, daß durch diesen Kompromiß gleichzeitig die
privatwirtschaftliche Ordnung stabilisiert und die Einflußmöglichkeiten der organisierten
Arbeiterbewegung gesteigert werden sollten. Dem Staat kam die Aufgabe zu, durch inhaltli-
che und verfahrensbezogene Interventionen den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt
sowie die Verteilungsgerechtigkeit auf Dauer zu gewährleisten. Diese Aufgabe bezog sich
auch auf die Gestaltung der Struktur der Arbeitsbeziehungen.
Die belgisehe Version des compromis social-democrate wird von Arcq/Marques-Pereira
(1991: 172. vergl. in diesem Sinne auch Bleeckx 1985) in den folgenden fünf Punkten
zusammengefaßt:
I. Anerkennung des marktwirtschaftliehen Prinzips und des Prinzips der Unternehmerischen
Entscheidungsfreiheit.
",,organisation d'un systeme generalisee de protection sociale base sur l'ouverture d'un droit universeiet sur le
tlnancement par tranfer(t)" (Arcq/Marques-Pereira 1991: 172)
69
welche die Kooperation zwischen den Säulenorganisationen vorsahen und zusätzlich
gewährleisteten, daß die kollektiven Akteure ihre unitarische, d.h. belgisehe Gestalt behielten.
Die Grundlage für die Eigenständigkeit der Richtungsgewerkschaften war - dem Sozialpakt
entsprechend - ihre rechtliche Anerkennung als repräsentative Gewerkschaften.
Die Grundlage für die Kooperationsbeziehungen zwischen den Arbeitgeberverbänden und
den Gewerkschaften und für die zwischengewerkschaftlichen Beziehungen waren Regelun-
gen, die der Vorgabe des Sozialpakts entsprachen, in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg
konfiguriert wurden und im Anschluß daran ihre weitere Ausgestaltung erfuhren.
70
ein betriebliches Konsultationsgremium, das der Vorbereitung von Entscheidungen dient, die
der Arbeitgeber zu treffen hat.
Wer konsultiert wird, erhält in der Regel die Möglichkeit zur Mitwirkung an einer Ent-
scheidung, weil er aufgefordert wird, seine Meinung zu äußern und Entscheidungen ihm
gegenüber begründet werden. Eigentliche Mitbestimmungsrechte werden allerdings nicht
gewährt. Die Beratung unterscheidet sich erheblich von Verhandlungen, in denen konfligie-
rende Interessen durch wechselseitige Kompromisse zum Ausgleich gebracht werden müssen,
weil beide Seiten Vetobefugnisse haben. Die Beratung ist " ... une sorte de recherche de
l'interet commun entre !es parties concernees par une decision dans une atrnosphere de paix
sociale, sinon de consensus social" (Arcq 1993a: 19).
Der Begriff der "Konzertierung" wird in der Literatur nicht einheitlich bestimmt. Es lassen
sich zwei Bedeutungsformen der Konzertierung unterscheiden, die häufig zusammen
auftreten, aber zumeist unterschiedlich stark betont werden.
Zum einen bezeichnet Konzertierung die Bemühungen um eine einverständliche Ent-
scheidungsfindung. Die an der Entscheidung beteiligten Akteure sind bestrebt, die Vorstel-
lungen und Vorgehensweisen der anderen Akteure zu berücksichtigen, um zu einem gemein-
samen Ergebnis zu kommen. So übernimmt Arcq zunächst die lexikalische Definition " ... se
concerter c"est s"entendre pour agir de concert c'esHi-dire en accord" (1993: 26a), um sie
dann auf die belgiseben Arbeitsbeziehungen anzuwenden. Konzertierung meint dann eine
Form der Entscheidungsfindung, bei der Einigkeit über Ziele und Mittel besteht und nun noch
versucht wird, den unterschiedlichen Interessenorientierungen grundsätzlich gerecht zu
werden.
"Cette definition appliquee aux relations collectives du travail suppose que !es in-
terlocuteurs sociaux se mettent a rechercher, au-dela de leurs divergences
d'interet, ce qui est de leur interet commun. Pour 'agir de concert', il faut qu'il y
ait accord sur !es moyens de l'action, sinon sur !es buts eux-memes. En d'autres
termes, il faut arriver a un degre eleve de Consensus" (Arcq 1993a: 26).
Der Begriff der Konzertierung als Bezeichnung für eine Form der konsensuellen Entschei-
dungstindung mit einem einverständlichen Vorverständnis über die Ziele und Mittel wird
häufig auf die gesamte belgisehe Wirtschaft bezogen. Diese wird dann übergreifend als
overlegeconomie bezeichnet (so: van der Hallen!Huys o.J.: 5ff.). Diese Bezeichnung wird
gewählt, um deutlich zu machen, daß die Wirtschaft insgesamt durch eine Kultur der
Konsensorientierung bestimmt ist. In diesem weiteren Sinne umfaßt der Begriff der Konzer-
tierung dann auch noch Beratungstätigkeiten, die der einverständlichen Entscheidungstindung
vorausgehen. Er geht aber über die Beratungstätigkeit hinaus, weil er auch die (konsensuelle)
Entscheidungstindung beinhaltet. Die konsultierten Akteure werden an der Entscheidungstin-
dung maßgeblich beteiligt. Die Entscheidungen werden nicht ohne die Zustimmung der
einzelnen Akteure getroffen. Allerdings gehen den Entscheidungen keine Interaktionen
71
voraus, in denen eine Entscheidung durch wechselseitigen Ressourcenentzug bzw. durch
Arbeitskampf zustande kommt.
Eine Broschüre des belgischen Ministeriums fiir Beschäftigung und Arbeit definiert con-
certation sociale als Gesamtheit der Verfahren und Gremien, die es den Arbeitgebern und
Arbeitnehmern ermöglichen, auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und in grundsätzli-
cher Übereinstimmung an der Wirtschaftsfiihrung des Landes teilzunehmen. Die Konzertie-
rung im weiteren Sinne umfaßt das "ensemble des procedures et des organismes qui permet-
tent aux employeurs et aux travailleurs ou a leurs representants en se concertant et de
participer a Ia gestion economique et sociale du pays" (Ministere de l'Emploi et du Travail.
Service des Relations Collectives de Travail 1993: 5; vergl. in diesem Sinne auch Verly o.J.).
Im einem anderen eher "entscheidungstechnischen" Sinne umfaßt der Begriff der Konzer-
tierung eine Form der Entscheidungsfindung, an der die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer und
der Staat gleichberechtigt beteiligt sind35 . Hierin wird dann der entscheidende Unterschied
zwischen der Konzertierung und den anderen Formen der Entscheidungstindung gesehen.
Je nachdem, wie der Begriff der Konzertierung Verwendung findet, liegt die Betonung
einmal auf dem konsensuellen Aspekt der Entscheidungsfindung, einmal auf der Zusammen-
setzung der Gremien der Entscheidungsfindung, in denen dann auch der Staat vertreten ist.
35 Liegt diese Bedeutungsform zugrunde wird zumeist von "tripartistische Konzertierung" gesprochen.
72
workers at the workplace, and thus giving them the opportunity not only to defend
the workers · professional interests but also to organize the handling of grievances,
which can be recognized as a major source of attraction for Belgian unions" (Pa-
sture 1993a: 702).
Bereits im Jahre 1946 (Königlicher Erlaß vom 11.2. und 3.12) konnten sich die Sozial-
partner auf die Einrichtung eines comite voor veiligheid, gezondheid en verfraaing van de
werkplaatsen (CVGV) bzw. comite de securite, d'hygiene et d'embelissement des lieux de
travail (CSHE) verständigen. Dieser Ausschuß für Sicherheit, Hygiene und zur Verschöne-
rung der Arbeitsplätze wurde 1952 auf eine gesetzliche Grundlage gestell~ 6 . Der Ausschuß
übernimmt Konsultationsaufgaben im Rahmen seiner schon durch die namentliche Bezeich-
nung deutlichen Aufgabenstellung.
Durch das Gesetz über die Organisation der Wirtschaft aus dem Jahre 1948 wurde ein
weiteres Konsultationsgremium aufbetrieblicher Ebene verankert:
Ondernemingsraden bzw. conseils d'entreprise (OE/CE)37 sind Gremien, denen sowohl die
Arbeitgebervertreter als auch die von der Belegschaft gewählten Arbeitnehmervertreter
angehören. Seit 1987 sind im Betriebsrat vier Gruppierungen vertreten: Arbeiter, Angestellte,
jugendliche Arbeitnehmer und leitende Angestellte (vergl. Arcq 1993a: 20).
Die Anzahl der Belegschaftsvertreter variiert mit der Anzahl der im Betrieb beschäftigten
Arbeitnehmer.
Der Betriebsrat dient der Vorbereitung von Entscheidungen der Unternehmensleitung in
arbeits- und sozialpolitischen Fragen. Weiterhin dient er der Entscheidungstindung des
Nationalen Arbeitsrats. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der konsultativen
Tätigkeit des Betriebsrats ist seine umfassende Informationsbefugnis und seine Orientierung
am wirtschaftlichen Erfolg des Betriebs: "Der Erfolg [der Tätigkeit des Betriebsrats, W.P.]
war ... dadurch gewährleistet, daß sich die Betriebsräte auf die Gesamtbetrachtung konzentrie-
ren konnten, anstatt über einzelne Forderungen zu streiten. Seine Arbeit abseits der politi-
schen Auseinandersetzungen sollte die konstruktive Zusammen- und Mitarbeit fördern.
Vorschläge und Anregungen der Arbeitnehmer sollten die Produktivität steigern und die
Qualität der Arbeit verbessern" (Francke 1997: 35).
Die Struktur der Interessenvertretung der Arbeitnehmer auf betrieblicher Ebene ist eine
Folge davon, daß in den großen Richtungsgewerkschaften unterschiedliche Vorstellungen
darüber bestanden, wie die Arbeitnehmer an den betrieblichen Entscheidungen beteiligt
werden sollten .
... Seit 1996 trägt dieser Ausschuß die Bezeichnung comite voor bescherming en preventie op het werk (CPBW)
bzw. comite pour Ia protection et Ia prevention du travail (CPPT) (vergl. Arcq I Blaise 1999: 19).
" Im deutschen findet sich zumeist die Übersetzung .,Betriebsrat". Zuweilen wird auch die Bezeichnung
"Betriebsausschuß" gebraucht, um den Unterschied zum Betriebsrat zu betonen, wie er auf der Grundlage des
Betriebsverfassungsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland eingerichtet wird (vergl. Verly 1993: 23).
73
Die Vertreter der sozialistischen Gewerkschaften favorisierten die Vorstellung von arbei-
derscontrole, um eine Machtteilung mit dem Arbeitgeber zu erreichen38 • Sie verstanden die
Interessenvertretung der Arbeitnehmer als Ausübung von Gegenmacht (contestatie-element),
durch das eine umfassende gewerkschaftliche Kontrolle der Arbeitssituation ermöglicht
werden sollte: "de syndicale controle kan uitoefenen op de collectieve en individuele aspecten
van de arbeidsrelaties" (Vilrokx 1995b: 206). Dieses Verständnisses von betrieblicher
Interessenvertretung fand seinen Ausdruck in den Bemühungen um eine gewerkschaftliche
Interessenvertretung in den Betrieben. Dieser Konzeption zufolge war die betriebliche
Interessenvertretung " ... het verlegenstuk van de vakbeweging in de bedrijven" (Vilrokx
1995b: 206).
Im Unterschied dazu favorisierten die Vertreter der christlichen Gewerkschaften die Ein-
richtung eines gemeinsamen Ausschusses von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf Betrieb-
sebene. Diese Vorstellung wurde mit der Einrichtung des Betriebsrats (ondernemingsraden I
conseil d'entreprise) verwirklicht. Dieser Ausschuß sollte nicht der unmittelbaren Durchset-
zung gewerkschaftlicher Forderungen dienen, sondern eine Begegnung der verschiedenen
betrieblichen Akteure und eine gemeinsame konstruktive Beratung und Beschlußvorbereitung
ermöglichen (Vilrokx 1995b: 207). Der Forderung nach Einrichtung dieser Gremien lag eine
gemeinschaftsorientierte Sicht betrieblicher Interessenvertretung zugrunde: Die Vorstellung
von " ... samenwerking met de werkgevers ... blijft weliswaar de leidraad. De onderneming is
een gemeenschap ..." (Vilrokx 1995b: 206). Dieses Gremium gilt als" ... en ontmoetingsplaats
[Ort der Begegnung, W.P.] voor werknemersvertegenwoordgers en management" (Vilrokx
1995b: 207). Forderten die sozialistischen Gewerkschaften - in der Sprachregelung der
labour relations - workers control, so favorisierten die christlichen Gewerkschaften Joint
management .
a
AufBetriebsebene wurde ein compromis Ia Beige (Vilrokx 1995: 207) gefunden.
Ein solcher Kompromiß kommt zustande, indem den unterschiedlichen Forderungen beider
Akteure nachgegeben wird. Der Kompromiß besteht letztlich darin, daß beide Akteure bereit
sind, die Forderungen der anderen Seite - ohne Abstriche - zu berücksichtigen. Dieses
a
unterscheidet den compromis Ia Beige von sonstigen Formen der Kompromißfindung, die
darin bestehen, daß beide Seiten ihre Vorstellungen solange korrigieren und modifizieren, bis
sie für die jeweils andere Seite akzeptabel geworden sind. Dieser besondere Kompromiß
besteht also nicht in erster Linie darin, daß nach neuen Wege gesucht wird, um eine Synthese
der divergierenden Konzeptionen zu erreichen. Die Integration gelingt unter Beibehaltung der
ideologisch begründeten Unterschiede. Der Pluralität der ideologischen Orientierungen wird
auf diese Weise vollauf entsprochen.
74
Auf Branchenebene wurden 1948 paritätische Ausschüsse (paritaire comiü? bzw. commis-
sions paritaires) als Verhandlungsorgane eingerichtet (Francke 1997: 35). Diese paritätischen
Ausschüsse dienen der Ausarbeitung und dem Abschluß von Tarifverhandlungen zur
Regelung der Löhne und Arbeitsbedingungen auf Branchenebene. Durch das Tarifvertragsge-
setz von 1968 wurde die rechtliche Stellung der paritätischen Ausschüsse ausgebaut.
Die paritätischen Ausschüsse setzen sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Arbeit-
nehmer und der Arbeitgeber zusammen. Sie stehen unter der Leitung eines neutralen
Präsidenten und Vizepräsidenten. Der Abschluß von Tarifverträgen unterliegt einem
Konsenszwang: "Die Beschlußfassung, insbesondere der Abschluß von Tarifverträgen,
unterliegt dem Prinzip der Einstimmigkeit aller Organisationen, aus denen sich der Paritäti-
sche Ausschuß zusammensetzt" (Verly 1993: 25). Der Konsens aller kollektiven Akteure-
also aller Verbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, d.h. auch der Konsens zwischen
den Richtungsgewerkschaften - ist eine notwendige Voraussetzung dafiir, daß die Tarifnor-
men auf sektoraler Ebene zustande kommen können.
Den paritätischen Ausschüssen wurde weiterhin die Aufgabe übertragen, den staatlichen
Stellen, insbesondere den nationalen Beratungs- und Entscheidungsgremien, zu Konsultati-
onszwecken zur Verfügung zu stehen (vergl. Arcq 1993a: 22). Die Interessenverbände sind
damit dazu aufgefordert, das wirtschaftliche Interesse der jeweiligen Branche gemeinsam
darzustellen. Die Vertreter der unterschiedlichen Interessenverbände sollen konsensorientiert
interagieren und Empfehlungen abgeben, auf die sie sich vorher verständigt haben.
Die paritätischen Ausschüsse wurden auch in die Lage versetzt, "betriebsrechtliche Fragen"
(Francke 1997: 36) zu regeln, soweit sie die gewerkschaftliche Interessenvertretung im
Betrieb oder die Errichtung betrieblicher Schlichtungsstellen betreffen.
Der Nationale Arbeidsraad bzw. Conseil National du Travail (NAR/CNT) wurde im Jahr
1952 eingerichtet. Der Nationale Arbeitsrat setzt sich ebenso wie die paritätischen Ausschüsse
zu gleichen Teilen aus Vertretern der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerverbände zusammen
und steht ebenfalls unter dem Vorsitz einer neutralen Person.
Der National Arbeitsrat ist zunächst ein Beratungsorgan (vergl. Verly 1993: 23). Die
konsultative Funktion des Nationalen Arbeitsrats ist mittlerweile in umfassender Form
gesetzlich geregelt worden. Eine Reihe von Entscheidungen des Gesetzgebers setzen eine
vorhergehende Beratung durch den Nationalen Arbeitsrat verbindlich voraus. Wie Francke
feststellt, bestehen weiterhin einige gesetzlichen Vorschriften, die das Handeln der Regierung
an die vorhergehende Zustimmung des Nationalen Arbeitsrats binden und deshalb die Form
einer tripartistischen Konzertierung annehmen .
.,Mehrere Gesetze sehen vor, daß bestimmte Maßnahmen der Exekutive nur nach
Anhörung und Stellungnahme des Rates getroffen werden können. Dabei handelt
es sich um Vorschriften, die berufsübergreifend generelle arbeitsrechtliche Pro-
bleme behandeln. Nach anderen Vorschriften dürfen Maßnahmen der Regierung
nur nach einstimmiger Befiirwortung des Rates ausgefiihrt werden. Auf anderen
75
Gebieten schließlich darf die Exekutive nur tätig werden, wenn der Nationale Ar-
beitsrat einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet" (Francke 1997: 38).
Die Vorschläge und Entscheidungen des Nationalen Arbeitsrats müssen einstimmig erfol-
gen. Insofern gibt auch hier der Gesetzgeber - ebenso wie bei den paritätischen Ausschüssen
auf Branchenebene - einen Konsenszwang vor, der alle im Nationalen Arbeitsrat vertretenen
Interessenorganisationen bindet (Francke 1997: 38).
Der Zustimmungsvorbehalt aller an der Entscheidung beteiligten Akteure soll dazu dienen.
daß die vereinbarten Normen von allen beteiligten Akteuren legitimiert werden. Es soll eine
gesamtgesellschaftliche Entscheidungskultur gefOrdert werden, die möglichst viele einver-
ständliche Entscheidungen möglichst aller Vertreter der beteiligten und betroffenen Akteure
begünstigt.
In einer solchen konzertierten Entscheidungskultur nehmen auch konsultative Entschei-
dungsfindungen die Form der konzertierten Entscheidungstindung an, weil politische Akteure
bestrebt sind, die einverständlichen Empfehlungen, die sich aus den Beratungen ergeben, den
tatsächlichen Entscheidungen verbindlich zugrunde zu legen.
Entscheidungstindung durch Konsultation und Entscheidungstindung durch Konzertierung
gehen ineinander über. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Beratung durch Akteure
erfolgt, welche besonders wichtige Interessen bündeln und über eine umfassende Sachkom-
petenz verfiigen (vergl. hierzu auch Arcq 1993a: 23f.).
Seit den sechziger Jahren werden im Nationalen Arbeitsrat auch national-
branchenübergreifende Tarifvereinbarungen (interprofessionete akkorden) geschlossen, in
denen die Löhne und Arbeitszeiten ebenso festgelegt werden wie das Arbeitslosengeld, die
Krankenversicherungsleistungen und das Kindergeld. Diese national-branchenübergreifenden
Tarifvereinbarungen (Zentralvereinbarungen) stehen an der Spitze einer "Verhandlungspyra-
mide" (Vilrokx 1998: 475). Vereinbarungen und Verträge auf den nachgeordneten Rege-
lungsebenen folgen. Sie sind kaderovereenkomsten (Vilrokx 1995b: 209). denen sektorale und
gegebenenfalls auch betriebliche Vereinbarungen folgen. Diese päzisieren dann die auf der
Zentralebene getroffenen Vereinbarungen (vergl. Spitaels/Klaric 1966: 23 39 ).
Im Jahr 1948 wurde auf der nationalen Ebene ein Centrate Raad voor het Bedrijfsteven
bzw. Conseil Centrat de l'Economie (CRB/CCE) auf gesetzlicher Grundlage eingerichtet.
Dieser zentrale Wirtschaftsrat beschäftigt sich mit Fragen der Konjunkturentwicklung, der
39 Vilrokx und Oste skizzieren den Aufbau der Verhandlungspyramide folgendermaßen. Hierbei bezeichnen sie
die Zentralvereinbarungen als "intersektorale Abkommen": "Nach der Unterzeichnung der intersektoralen
Abkommen auf nationaler Ebene kommt es demnach in hierarchischer Abfolge zu Tarifverhandlungen auf
sektoraler und betrieblicher Ebene. Zunächst werden die Ergebnisse der intersektoralen Abkommen entweder
im Rahmen des hipartistisch zusammengesetzten Nationalen Beschäftigungsrats zu Vereinbarungen flir die
gesamte belgisehe Volkswirtschaft weiterentwickelt oder durch gesetzliche initiativen der belgiseben Regie-
rung verallgemeinert. Im Anschluß daran kommt es zu sektoralen Tarifverhandlungen, die im Rahmen von
gemeinsamen Branchenausschüssen geftihrt werden" ( 1999: 55f.).
76
Finanzierung der sozialen Sicherheit sowie neuerdings auch mit Fragen der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit des Landes (vergl. Verly 1993: 26).
3.3.4 Vereinbarungen über Leistungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherung
Die im Sozialpakt getroffenen Vereinbarungen bezogen sich nicht nur auf die Interessen-
vertretung der Arbeitnehmer. Es wurde gleichzeitig festgelegt, daß die kollektiven Akteure
der Arbeitsbeziehungen auch an der Umsetzung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen beteiligt
wurden. Vilrokx spricht in diesem Zusammenhang von einer "doppelten Delegierung", die
der Staat gegenüber den Tarifvertragsparteien vollzieht (1998: 474) 40 •
Die Maßnahmen zur umfassenden sozialen Sicherung waren bereits Gegenstand der Ver-
ordnung vom 28 Dez. 1944, so daß von 1945 an wichtige Bereiche der sozialen Sicherung,
wie die Arbeitslosenversicherung, einem Zwangsversicherungssystem unterlagen (vergl.
Pasture 1993a: 696). Die Arbeitnehmerbeiträge wurden direkt vom Lohn einbehalten, " ... so
that the employee concerned no Ionger had to make the effort to pay the contribution himself,
as had been the case previously" (Pasture 1993a: 696). Die Auszahlung der Arbeitslosenver-
sicherungsleistungen wird seitdem von den Gewerkschaften bzw. den mit ihnen verbundenen
genossenschaftlichen Organisationen vorgenommen. Es gibt zwar auch staatliche Agenturen
mit den gleichen Funktionen, aber für die Arbeitnehmer ist es vorteilhafter, dieses Leistungs-
angebot der Gewerkschaften in Anspruch zu nehmen.
Die Übertragung dieser Aufgabe war den Gewerkschaften durch die Vereinbarungen des
Sozialpakts zunächst noch nicht eindeutig zugeordnet worden. Erst die gesetzlichen Ausfüh-
rungsbestimmungen schufen in dieser für die Gewerkschaften wichtigen Frage Klarheit. Sie
folgten einer politischen Intervention: "In the decree-law on social security it was laid down
that the trade unions could continue to distribute the benefit payments - a move reported to be
due to the intervention of Minister van Acker himself" (Pasture 1993a: 699).
Die Vorteile des gewerkschaftlichen Leistungsangebots können nur von den Gewerk-
schaftsmitgliedern wahrgenommen werden. Die Vorteile gegenüber dem staatlichen Lei-
stungsangebot werden bereits durch eine Untersuchung aus dem Jahre 1966 belegt. Dieser
Untersuchung zufolge bezogen in diesem Jahr nur etwa ein Viertel der in diesem Jahre
Arbeitslosen ihre Unterstützung von der staatlichen Caisse auxiliaire de paiement des
al/ocations de chornage (CAPAC). Die anderen Arbeitnehmer erhielten die Arbeitslosenver-
sicherungsleistungen von ihren Gewerkschaften. Die Vorteile für die Arbeitnehmer ergaben
sich zunächst daraus, daß die Zuteilung der Versicherungsleistungen durch die staatliche
C AP AC im Gegensatz zu der Zuteilung durch die Gewerkschaften gebührenpflichtig war.
40 vergl. auch Alen (1984: 237), der die in der niederländisch-sprachigen Literatur gebräuchliche Bezeichnung
onderaanneming verwendet, die der Kennzeichnung der exekutiven Funktionsübertragung vom Staat an die
mit den Richtungsgewerkschaften verbundenen Sozialversicherungsträger dient.
77
Die Unterstützungsleistungen durch die Gewerkschaften erfolgten umgehend, auch dann,
wenn ein vormals arbeitsloses Gewerkschaftsmitglied nach vorübergehender Erwerbstätigkeit
wieder arbeitslos wurde. Dies war bei der staatlichen Unterstützungskasse nicht der Fall.
Deshalb war der Nutzen des gewerkschaftlichen Leistungsangebots unmittelbar erkennbar:
Die Gewerkschaften waren und sind in der Lage, die beschriebenen Vorteile bei der Aus-
zahlung der Unterstützungsleistungen für die Arbeitslosen zu gewähren, weil sie durch den
Staat für die Wahrnehmung dieser Aufgabe entschädigt werden. Der Staat trägt also dazu bei,
daß die Gewerkschaften die entsprechenden Leistungen günstiger anbieten können als der
Staat selbst. Der Staat verschafft sich selbst einen Konkurrenznachteil, um die Gewerkschaf-
ten in die Lage zu versetzen, für die Arbeitnehmer attraktiv zu sein.
Die Gewerkschaften unterstützen mit dem Geld, das sie zur Finanzierung ihres Leistungs-
angebots erhalten, ihre eigenen Geschäftsstellen. Dieses trägt einmal dazu bei, daß diejenigen,
welche gewerkschaftliche Dienstleistungen nachfragen, ein verbessertes Angebot erhalten.
Die gewerkschaftlichen Funktionsträger, die für ihre Tätigkeit im Zusammenhang mit der
Arbeitslosenversicherung entschädigt werden, können außerdem auch noch andere gewerk-
schaftliche Aufgaben wahrnehmen.
Die gewerkschaftliche Organisation zieht also Nutzen aus den finanziellen Zuwendungen
des Staates. Einmal gehen von diesem staatlich subventionierten gewerkschaftlichen
Leistungsangebot sowohl für diejenigen, die erwerbstätig sind als auch für diejenigen, die mit
zumindest vorübergehender Arbeitslosigkeit rechnen müssen oder bereits arbeitslos sind.
starke Mitgliedschaftsanreize aus. Weiterhin besteht der Nutzen darin, daß die finanziellen
Mittel des Staates auch zum Ausbau des gewerkschaftlichen Apparats verwendet werden. Der
Staat verhilft den Gewerkschaften dazu, selektive Anreize zur Aufuahme und Aufrechterhal-
tung von Mitgliedschaftsbeziehungen bieten zu können.
78
representativiteitssysteem ten aanzien van de vakorganisaties heeft uitgedrukt" (Alen 1984:
56).
Die besonderen Befugnisse repräsentativer Gewerkschaften sind in der formativen Periode
der kollektiven Arbeitsbeziehungen konfiguriert worden. Sie wurden in den nachfolgenden
Jahrzehnten - insbesondere durch das Tarifvertragsgesetz von 1968 - weiter ausgebaut und
bilden bis heute eine entscheidende Grundlage fiir die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen.
Die Bestimmungen zur Repräsentativität sind die Grundlage fiir die staatliche Steuerung
der kollektiven Arbeitsbeziehungen, weil sie festlegen, welche Akteure an den Arbeitsbezie-
hungen teilnehmen, welche Kompetenzen ihnen übertragen werden und mit welchen
Ressourcen sie ausgestattet werden.
Die Bestimmungen zur Repräsentativität und die hieran anschließenden Regelungen sind
wichtige Instrumente, um staatliche Zielsetzungen zu erreichen. Sie lösen bestimmte
Handlungsfolgen aus. Solche Handlungsfolgen wiederum können dann als nicht-intendierte
bzw. intendierte offiziellen bzw. inoffiziellen Zielsetzungen zugeordnet werden.
Im folgenden soll zunächst Beachtung finden, welche gewerkschaftlichen Kompetenzen zur
Interessenvertretung von den Arbeitnehmerverbänden nur dann ausgeübt werden dürfen,
wenn ihnen zuvor der Status der Repräsentativität zuerkannt wurde. Hierbei soll wiederum
zwischen den verschiedenen Formen und Ebenen der Interessenvertretung unterschieden
werden.
Beachtet werden soll also, welche Kompetenzen im Zuge von Verhandlung, Beratung und
Konzertierung auf betrieblicher, sektoraler bzw. zentraler Ebene davon abhängen, daß eine
Gewerkschaft als repräsentativ anerkannt wurde.
Weiterhin soll beachtet werden, welche zusätzlichen Befugnisse sich an den Status der
Repräsentativität anschließen. Hierbei handelt es sich in erster Linie um die beschriebenen
organisationssichemden Maßnahmen im Sinne von onderaaneming, die ebenfalls vom Staat
ausgehen. Es gibt aber auch organisationssichemde Maßnahmen, die von den Gewerkschaften
mit den Arbeitgebern vertraglich vereinbart werden. Für diese Maßnahmen ist es ebenfalls
Voraussetzung, daß die Gewerkschaften mit dem Status der Repräsentativität Kollektiwer-
tragskompetenz erworben haben.
Auch fiir diese organisationssichemden Maßnahmen gilt, daß sie unterschiedliche Hand-
lungsfolgen haben und verschiedenen Zielsetzungen dienen können.
Die Untersuchung von Repräsentativität als staatlichem Steuerungsmittel erfordert zunächst
die Analyse der Bestimmungsmerkmale von Repräsentativität.
Im Anschluß daran stellen sich eine Reihe von Fragen, die einer weiteren Untersuchung der
Repräsentativität zugrunde gelegt werden können: Welche Kriterien müssen erfiillt sein,
damit der Status der Repräsentativität verliehen wird? Sind diese Kriterien quantitativ
bestimmbar oder sind sie das Ergebnis qualitativer Einschätzungen? Sind die Kriterien im
einzelnen nachvollziebar und fuhren sie dazu, daß sich Repräsentativität "erwerben" läßt oder
handelt es sich um Merkmale, welche die Repräsentativität zu einer eher "zugeschriebenen"
79
Voraussetzung für die Interessenvertretung und staatliche Begünstigung werden läßt? Ist das
Bestreben zu erkennen, Repräsentativität "offen" zu halten oder handelt es sich bei der
Bestimmung der Repräsentativität um eine Instrument zur "sozialen Schließung" des Kreises
derjenigen, die zur Interessenvertretung berechtigt sind? Wer sendet die Normen zur
Bestimmung der Repräsentativität? Sind es der Gesetzgeber, die Rechtsprechung oder ist es
die Regierung, welche die Merkmale der Repräsentativität festlegen? Welcher Interpretations-
spielraum wird der Juridikative bzw. der Exekutive bei der Bestimmung der Repräsentativität
gewährt? Wie wird dieser Spielraum genutzt?
Es erscheint also nicht nur notwendig zu sein, die Formen und die Ebenen der Repräsenta-
tivität differenziert zu analysieren, sondern ebenfalls den kollektiven Akteur Staat zu
"dekomponieren", um zu genauen Aussagen über die Art, die Reichweite und den Inhalt
staatlicher Normierungen der Repräsentativität zu gelangen.
41 Alen spricht demzufolge von einem "voordrachtmonopolie" der repräsentativen Gewerkschaften ( 1984: 64).
80
von den gewählten Vertreter dieser Gewerkschaften wahrgenommen werden, so daß von einer
rechtlich begründeten Monopolstellung dieser Gewerkschaften gesprochen werden kann.
Da sich die paritätischen Ausschüsse auf Branchenebene ausschließlich aus den Vertretern
der repräsentativer Gewerkschaften zusammensetzen, dürfen auch nur diese Gewerkschaften
rechtsverbindliche Tarifverträge zu schließen und die von den Ausschüssen wahrgenomme-
nen Konsultations- und Konzertierungsfunktionen auszuüben.
Den repräsentativen Gewerkschaften bleibt somit vorbehalten:
" ... het hauden van collectief overleg en het afsluiten van C.A.O.'s (Collectieve
Arbeidsovereenkomst), onderandere op het vlak van de arbeitsvoorwaarden [Ar-
beitsbedingungen, W.P.] ... het overmaken van adviezen uit eigen beweging of op
verzoek aan de regeringen aan diverse andere overlegorganen [Gremien der Kon-
zertierung, W.P.]" (Alen 1984: 92).
Alen zufolge (1984: 114) ist die Berechtigung zum Abschluß von Tarifverträgen auf den
verschiedenen Ebenen der Interessenvertretung die wichtigste an den Status der Repräsentati-
vität geknüpfte gewerkschaftliche Kompetenz:
Die Bedeutung dieser Kompetenz ergibt sich daraus, daß nur Verstöße gegen solche Tarif-
verträge, die von repräsentativen Gewerkschaften ausgehandelt werden, vom Gesetzgeber
negativ sanktioniert werden, also entsprechende Haftungsansprüche der Vertragspartner
begründen. Weiterhin können nur die in den paritätischen Ausschüssen- also ausschließlich
mit repräsentativen Gewerkschaften - abgeschlossenen Verträge fiir allgemeinverbindlich
erklärt werden.
Auch die nicht-repräsentativen Gewerkschaften können kollektive Vereinbarungen schlie-
ßen, doch fehlen solchen Vereinbarungen eben diejenigen Folgewirkungen, die an eine
rechtliche Verbindlichkeit geknüpft werden (vergl. Alen 1984: 115).
Auf nationaler Ebene ist - wie bereits erwähnt - der Nationalrat der Arbeit das wichtigste
Gremium fiir die kollektiven Arbeitsbeziehungen. Seine Bedeutung resultiert aus der
Konsultations-, Konzertierungs- und Verhandlungsfunktion. Dem Nationalrat der Arbeit
gehören ausschließlich Vertreter der repräsentativen Gewerkschaften an. Die Zugehörigkeit
zum Nationalrat der Arbeit ist - wie zu zeigen sein wird - das entscheidende Kriterium zur
Bestimmung der Repräsentativität.
Mit der Anerkennung einer Gewerkschaft als repräsentativer Gewerkschaft ist also zu-
nächst verbunden, daß ihr wichtige Kompetenzen fiir die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen
übertragen werden, die anderen nicht als repräsentativ anerkannten Gewerkschaften vorent-
halten oder nur unter besonderen Voraussetzungen übertragen werden.
An den Status der Repräsentativität schließen sich noch weitere Befugnisse an.
81
Im Sozialpakt wurde ebenfalls vorgesehen, staatliche Aufgaben im Bereich wohlfahrts-
staatlicher Sicherungssysteme auf die Gewerkschaften zu übertragen. Allerdings konnte diese
Übertragung nur auf Gewerkschaften erfolgen, denen der Status der Repräsentativität
zuerkannt worden war (vergl. Alen 1984: 246f.).
Die staatliche Subventionierung der Kosten bei der Übernahme entsprechender Leistungen
durch die Gewerkschaften kommt nur den repräsentativen Gewerkschaften zugute. Nur die
repräsentativen Gewerkschaften verfügen also über die Möglichkeit, den Arbeitnehmern diese
Leistungen als günstige Serviceleistungen anzubieten. Nur die repräsentativen Gewerkschaf-
ten können die vom Staat gewährten finanziellen Entschädigungen für die Übernahme
wohlfahrtsstaatlicher Funktionen für den Aufbau und den Ausbau der gewerkschaftlichen
Organisationsstruktur verwenden.
Weiterhin können nur die repräsentativen Gewerkschaften die Vorteile nutzen, die sich
daraus ergeben, daß ihnen die Kompetenz zum Abschluß von Tarifverträgen auf den
verschiedenen Verhandlungsebenen übertragen wurde. Die repräsentativen Gewerkschaften
nutzen ihre exklusive Kompetenz zum Abschluß rechtlich verbindlicher Kollektivverträge,
indem sie mit den Arbeitgebern bzw. deren Verbänden verbindlich vereinbaren, daß den
Gewerkschaftsmitgliedern ein Teil des Gewerkschaftsbeitrags vom Arbeitgeber zurückerstat-
tet wird. Es wird also vertraglich vereinbart, daß die Arbeitgeber den Arbeitnehmern eine
Gewerkschaftsprämie zahlen (syndicale premie bzw. prime syndicale).
Der Ausgangspunkt für die vertragliche Vereinbarung solcher gewerkschaftlicher Vorteils-
regelungen sind Überlegungen, die an die Kollektivgutproblematik freiwilliger Organisatio-
nen anknüpfen.
Hiernach ist der Organisationsbestand der Gewerkschaften prinzipiell dadurch gefahrdet,
daß die nicht organisierten Arbeitnehmer wirtschaftliche Vorteile erzielen, wenn sie die
Leistungen der Verbände in Anspruch nehmen können, ohne Verbandsmitglieder zu sein und
ohne Mitgliedsbeiträge zahlen zu müssen. In der Regel gewähren nämlich die Arbeitgeber
auch den nicht organisierten Arbeitnehmern die tariflich vereinbarten Leistungen. Diese
Leistungen werden also zu kollektiven Gütern. Die Tarifverträge, die für allgemeinverbind-
lich erklärt werden, verschärfen das Kollektivgutproblem erheblich.
Die belgiseben Gewerkschaften vertrauten ebensowenig wie der Staat ausschließlich
darauf, daß normative Mitgliedschaftsmotive die Bindung der Arbeitnehmer an die Organisa-
tion sicherstellten. Vielmehr wurde ein Weg gesucht, auf dem es möglich war, die Organisati-
on zu unterstützen, ohne die negative Koalitionsfreiheit einzuschränken und ohne den
Trittbrettfahrern unter den Arbeitnehmern das Feld zu überlassen:
82
Das Ziel solcher tarifVertragliehen Vereinbarungen über die Erstattung eines Teils der
Mitgliedschaftsbeiträge durch eine Gewerkschaftsprämie war es also letztlich, " ... mettre fin
au profitariat des non-syndiques" (Spitaels/Klaric 1966: 40).
Die mit der Kollektivvertragskompetenz ausgestatteten repräsentativen Gewerkschaften
begründeten ihre Forderung nach einer Gewerkschaftsprämie nicht nur mit der Kollektivgut-
problematik und den hieraus resultierenden Bestandsproblemen ihrer Organisation. Sie hoben
aufweitere Leistungen und Funktionen hervor, die sie nur unter der Voraussetzung erbringen
konnten, daß ihr Organisationsbestand nicht gefährdet ist. Insbesondere wurde auf die
Ordnungsfunktion bzw. Friedensfunktion der Gewerkschaften hingewiesen. Die Gewerk-
schaften machten deutlich, daß sie eine faktische Konformität der Arbeitnehmer mit den
TarifVerträgen nur gewährleisten können, wenn sie einen hohen Organisationsgrad hätten.
Hierzu aber mußte das Kalkül der Arbeitnehmer, ob sie Gewerkschaftsmitglied werden bzw.
bleiben sollen oder nicht, im Sinne der Organisation beeinflußt werden.
Die Gewerkschaftsprämie ist demnach eine Prämie dafür, daß die Gewerkschaften ihrer
Friedenspflicht auch tatsächlich nachkommen (können). Nur auf der Grundlage eines hohen
Organisationsgrads seien sie nämlich - so die entsprechende Argumentation - in der Lage, auf
die Arbeitnehmer (als Gewerkschaftsmitglieder) so einzuwirken, daß diese zur Konformität
mit den TarifVerträgen bereit sind. Die Dringlichkeit gewerkschaftlicher Vorteilsregeln wurde
also dadurch nachdrücklich betont, daß sie zwingende rechtliche Normierungen zur Einhal-
tung der Friedenspflicht, wie sie in anderen Ländern bestehen, ersetzen sollten. Gewerk-
schaftliche Vorteilsregeln galten als " ... moyens dont elles disposent afin de faire respecter Ia
paix sociale durant Ia penode de validite de cette convention" (Spitaels/Klaric 1966: 51).
Die Arbeitgeber standen den Vereinbarungen über die gewerkschaftliche Vorteilsregelun-
gen aus grundsätzlichen Überlegungen zunächst ablehnend gegenüber, insbesondere weil sie
eine Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit fürchteten. Außerdem hatten sie
Bedenken, für den gewerkschaftlich organisierten Teil der Arbeitnehmer höhere Lohnkosten
aufWenden zu müssen, ohne daß diesem AufWand eine größere Leistung entsprach.
Letztlich erklärten sie sich aber zum Abschluß von Kollektivverträgen über gewerkschaftli-
che Vorteilsregeln bereit, sofern diese mit verbindlichen vertraglichen Formulierungen über
einen ausdrücklichen Verzicht auf Arbeitskampfmaßnahmen während der Laufzeit der
Verträge verbunden waren.
Eine Studie aus den sechziger Jahren belegt bereits die erhebliche Verbreitung solcher
vertraglichen Vereinbarungen. Spitaels/Klaric (1966) berichten von Vereinbarungen in der
belgischen Metallindustrie, in denen die Gewährung von gewerkschaftlichen Vorteilsregeln
an bestimmte Verhaltensweisen der Arbeitnehmer und Gewerkschaften gebunden wurde. Von
den Gewerkschaften wurde erwartet, daß sie sich aktiv für eine Einhaltung der vertraglichen
Bestimmungen und für die Einhaltung vereinbarter Konfliktregelungsverfahren einsetzten:
83
partielle dans une entreprise, soit apropos d'une matiere reglee par convention
collective, soit apropos de toute autre matiere. En revenche, si apres avoir exami-
ne !es causes du litige, !es Organisations syndicales ont mis tout en oeuvre pour
eviter Ia greve et que celle-ci se deroule sans Je soutien syndicale, aucune sanction
ne sera prise. II en sera encore ainsi lorsqu'en cas de greve spontanee, Je travail
reprend dans Jes trois jours du debut du conflit, a J'intervention des Organisations
syndicales" (Spitaels/Klaric 1966: 75).
Darüber hinaus wurde vertraglich festgelegt, wann und in welchem Umfang für den Fall
eines Vertragsverstoßes die Vorteilsregelungen ganz oder teilweise suspendiert werden
sollten:
"La sanction prevue pour un manquement a ces dispositions consiste dans Ia reduction de
l'allocation trimestrelle d'un montant de 125 fi:s. par ouvrier ayant cesse Je travail et par jour
d'arret" (Spitaels/Klaric 1966: 75).
Die Vereinbarungen über gewerkschaftliche Vorteilsregelungen waren damit Bestandteile
einer expliziten spezifischen Tauschbeziehung zwischen den Sozialpartnern, in der die
Arbeitgeber organisationssichemden Regelungen für die Gewerkschaften zustimmten, wenn
die Gewerkschaften bereit und in der Lage waren, ihre Mitglieder während der Laufzeit von
Verträgen von Arbeitskampfmaßnahmen abzuhalten. Ihre Fähigkeit hierzu sollte durch die
organisationssichemden Maßnahmen verstärkt werden
Einige Kommentatoren gehen sogar soweit, die- tauschförmigen- vertraglichen Vereinba-
rungen über die gewerkschaftliche Vorteilsregelungen und die Zusicherung für die Übernah-
me einer "Friedenspflicht" zum besonderen Merkmal belgiseher Arbeitsbeziehungen zu
erklären. Sie werden als Eigenart der konzertierten Wirtschaftsordnung bezeichnet:
Für wichtige Sektoren der belgischen Wirtschaft können solche Vereinbarungen über
Gewerkschaftsprämien auch für die 80er und 90er Jahren belegt werden 42 •
In den Kommentaren zu diesen Vereinbarungen wird darauf hingewiesen, daß sich die
Gewerkschaftsprämien auch als Tauschobjekt für gewerkschaftliches Wohlverhalten in
anderen nicht explizit vertraglich bestimmten Zusammenhängen eignen können.
42 In der Literatur sind solche Vereinbarungen insbesondere fiir die Tarifvertragsabschlüsse in den Jahren
1989/90 und 1993/94 nachgewiesen. Entsprechende Regelungen erstreckten sich insbesondere auf die
Metallverarbeitung, die Nahrungsmittel- und Textilindustrie sowie auf die Ölverarbeitung (vergl. EIRR 192
1990: 19ff. und EIRR 240 1994: 19). Ebenso betonen Arcq/Blaise: "Le systemedes primes reservees aux seuls
syndiques dans Ia plupart des secteurs et dans !es servicespublies fait que l'affiliation reduit forterneut le coiit
financier de l'affiliation" (1999: 18).
84
So wird eine großzügige Erhöhung der Gewerkschaftsprämien in der Verhandlungsrunde
1989/90 damit erklärt, daß die Arbeitgeber auf diese Weise einer Diskussion über die
rechtliche Regelung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in Kleinbetrieben aus dem
Wege gehen konnten:
"The widespread increases in the trade union premium mentionend above might
arguably be seen in the light of the wish of the employers in many sectors to avoid
discussion on the delicate matter of trade union representation" (EIRR 193 1990:
25).
Die Gewerkschaftsprämie dient hier als Pazifierungsinstrument, mit dessen Hilfe Konflikte
ausgelagert oder verschoben werden können.
Einen zusätzlichen Nutzen ziehen die Arbeitnehmer daraus, daß die Gewerkschaftsprämie
ein Bestandteil ihres Einkommens ist, der nicht versteuert zu werden braucht. Deshalb können
Erhöhungen des Netto-Einkommens dadurch erzielt werden, daß ein größerer Anteil des
Gewerkschaftsbeitrags als Gewerkschaftsprämie zurückerstattet wird. Hieraus ziehen dann
sowohl die einzelnen Arbeitnehmer als auch die Gewerkschaften ihren Nutzen.
"The increases in the trade union premium in many sectors should perhaps be
seen in the light of these attempts to provide tax-free benefits, rather than as a re-
flection of increasing trade union strength (although unions, of course, derive
benefits from this tendency)" (EIRR 192 1990: 20).
'·' Die Höhe dieser Aufwendungen entspricht in der chemischen Industrie etwa der Höhe der Rückerstattungs-
beiträge für Aufwendungen für Gewerkschaftsmitgliedschaft (3.500 BF pro Person).
85
den Verhandlungen, der konsultativen Beratung und der konzertierten Entscheidungstindung
auf den verschiedenen Ebenen zu erfüllen hatten, wurden aneinander angeglichen. Eine
Differenzierung der Bestimmungsmerkmale für die Repräsentativität erfolgte allerdings
dadurch, daß Kriterien für eine Interessenvertretung der gehobenen Angestellten (cadres)
entwickelt wurden, die sich von denen unterschieden, die für eine Interessenvertretung der
anderen Arbeitnehmer zugrunde gelegt wurden (vergl. Arcq 1993a).
Insofern betont Alen insgesamt eine Entwicklung zu einer stärkeren "eenvormigheid" der
Bestimmungsmerkmale, die allerdings durch eine stärkere "diversiteit" zugunsten der
Angestellten relativiert worden sei (1984: 254).
Die Gewerkschaften, welche die Voraussetzungen für eine Anerkennung als repräsentative
Gewerkschaft erfüllen wollen, müssen folgende Merkmale aufweisen:
I. Sie müssen einer nationalen Gewerkschaftsföderation angehören (federe sur le plan
national).
2. Die nationale Gewerkschaftsföderation muß mindestens 50.000 Mitglieder haben.
3. Die nationale Gewerkschaftsföderation muß im Zentralen Wirtschaftsrat und im Nationa-
len Arbeitsrat vertreten sein (represente au Conseil Centrat de I 'tconomie et au Conseil
National du Travail).
Hierbei ist folgendes zu beachten:
Die Bestimmung der Repräsentativität bezieht sich auf die gesamte Gewerkschaftsföderati-
on. Eine Gewerkschaftsföderation wird insgesamt als repräsentativ anerkannt oder nicht. Die
Mitgliedsverbände der Gewerkschaftsföderation erhalten ihre Anerkennung als repräsentative
Gewerkschaften nicht als einzelne Verbände, sondern auf dem Wege ihrer Mitgliedschaft in
einem repräsentativen Dachverband. Die Notwendigkeit eines eigenen Nachweises für die
Mitgliedsverbände entfällt auf diese Weise. Ebenso ist der Nachweis für eine Repräsentativi-
tät in einem bestimmten Funktionsbereich (Betrieb, Branche etc.) nicht notwendig. Alen weist
darauf hin, daß im Jahre 1975 ausdrücklich geklärt wurde, "dat ook de organisaties, die
aangesloten zijn bij een nationaal en interprofessioneel reeds als representatief erkende
organisatie, ook als representatiefworden beschoud" (Alen 1984: 90).
Die Bestimmung der Repräsentativität der Gewerkschaftsföderation erfolgt sowohl nach
"quantitativen" als auch nach "qualitativen" Merkmalen. Das "quantitative" Merkmal ist die
Mitgliederzahl, die mindestens erreicht werden muß, die "qualitativen" Merkmale sind die
geforderten Mitgliedschafren im Zentralen Wirtschaftsrat und im Nationalen Arbeitsrat
Aus der Perspektive der Mitgliedsverbände handelt es sich also um externe Bestimmungs-
merkmale der Repräsentativität. Die Erfüllung "interner" Kriterien, wie z.B. die eines
bestimmten gewerkschaftlichen Organisationsgrads aufbetrieblicher oder auf Branchenebene,
ist nicht notwendig, um die Befugnisse, die eine Anerkennung als repräsentativ voraussetzen,
zu erreichen. Dies hat einerseits zur Folge, daß die Anerkennung einer Gewerkschaft im
Betrieb oder auf sektoraler Ebene nicht bedeuten muß, daß auch eine faktische Vertretungsfa-
higkeit vorliegt.
86
Eine starke Stellung einer Gewerkschaft in einem Betrieb oder in einer Branche, die sich
etwa in einem hohen Organisationsgrad oder einer erheblichen Arbeitskampffahigkeit und
Arbeitskampfbereitschaft niederschlägt, führt andererseits nicht notwendig dazu, daß dieser
Gewerkschaft auch die formalen Vertretungsrechte gewährt werden. Sie erhält diese Rechte
nur dann, wenn sie gleichzeitig Mitglied in einer als repräsentativ anerkannten Gewerk-
schaftsföderation ist. Eine schwache Stellung der Gewerkschaft führt nicht dazu, daß der
Gewerkschaft die Befugnisse, die mit einer Anerkennung als repräsentative Gewerkschaft
verbunden sind, vorenthalten oder entzogen werden, sofern die betreffende Gewerkschaft in
einer Gewerkschaftsföderation, die als repräsentativ anerkannt ist, Mitglied ist und bleibt.
"Oe organisatie die nationaal representatief is, kan in een bepaalde sector zeer
zwak zijn, en omgekeerd kan de organisatie, die in de sector veel Jeden [Mitglie-
der, W.P.] heeft, maardie nationaal niet erkend is, nietals representatief worden
beschoud voor de sector" (Alen 1984: 25).
Besondere Aufinerksamkeit bei der Untersuchung der Kriterien für eine Anerkennung der
Gewerkschaften als repräsentative Gewerkschaften verdient die Verbindung der qualitativen
Bestimmungsmerkmale mit dem quantitativen Kriterium zur Bestimmung der Repräsentati-
vität.
Aus den genannten Bestimmungsmerkmalen kann zunächst lediglich abgeleitet werden,
daß eine Anerkennung der Repräsentativität der Gewerkschaftsföderation und ihrer Mitglie-
derverbände nicht erfolgen kann, wenn die Gewerkschaftsföderation insgesamt weniger als
50.000 Mitglieder hat.
Aus den genannten Bestimmungsmerkmalen kann aber nicht abgeleitet werden, daß eine
Gewerkschaftsföderation, die zumindest 50.000 Mitglieder hat, auch Zugang zu den Gremien
findet, denen sie angehören muß, damit sie und ihre Mitgliedsverbände als repräsentativ
anerkannt werden. Die Erfüllung der qualitativen Merkmale Mitgliedschaft im Zentralen
Wirtschaftsrat und im Nationalrat der Arbeit ergibt sich nicht notwendig daraus, daß eine
Mitgliederzahl von 50.000 erreicht wird.
Die Frage ist also, nach welchen Kriterien die Aufuahme einer Gewerkschaftsföderation in
diese genannten Gremien tatsächlich erfolgt. Damit verbunden ist die Frage nach dem Akteur,
der diese Entscheidung trifft.
Die Vertreter der Gewerkschaften im Zentralen Wirtschaftsrat und im Nationalrat der
Arbeit werden ausschließlich von den bereits als repräsentativ anerkannten Gewerkschaften
vorgeschlagen. Der Ernennung durch den König geht die Entscheidung des Arbeitsministers
über die Aufuahme in die entsprechenden Gremien voraus. Die Entscheidung liegt im
Ermessen der Exekutive (de overheid). Die Exekutive ist nicht daran gebunden, bestimmte
Kriterien einzuhalten, geschweige denn, solche Kriterien explizit zu machen. Damit besteht
auch keine rechtliche Grundlage fiir eine Überprüfung bzw. Korrektur dieser Entscheidung.
So betont Alen: "Nochtans bepaalt de wet [Gesetz, W.P.) nergens wat onder dezebegrippen
moet worden verstaan ... Ook het uitvoeringsbesluit maakt hierover geen gewag" (1984: 121).
87
Auch Francke unterstreicht: "Für die Mitgliedschaft im Nationalen Arbeitsrat gibt es im
Gegensatz zu den paritätischen Ausschüssen keine gesetzlichen Vorgaben. Die Anerkennung
beruht hier aufpolitischen Befugnissen" (1997: 38).
Die Entscheidung wird also der Exekutive überlassen, ohne daß diese die Grundlagen für
ihre Entscheidung offenlegen muß. Im Verfahren der Bestimmung von Repräsentativität wird
damit in einem entscheidenden Stadium darauf verzichtet, exakte, nachprüfbare Bestim-
mungsgründe zu nennen, die auch einer Korrektur unterzogen werden könnten.
Die Bestimmung der Repräsentativität ist damit eine "Festsetzung", die sich der Überprü-
fung entzieht. "De representativiteit resulteert dus uiteindelijk uit een zuiver 'adminstratieve
bepaling"' (Magrez-Song, zit. nach: Alen 1984: 122).
Offensichtlich erfolgt dieser Verzicht, um der Exekutive einen Ermessenspielraum zu
gewähren, also, " ... om aan de uitvoerende macht over te laten, de voorwarden vast te stellen,
waaraan de betrokken organisalies moeten beantwoorden, om als representatief te kunnen
aanvaard worden" (Alen 1984: 122).
Die Exekutive verfügt also über eine discretionaire Befugnis bei der Bestimmung von
Repräsentati vi tät:
Der Entscheidung über die Aufuahme der Vertreter einer Gewerkschaft in den Nationalen
Rat und in den zentralen Wirtschaftsrat der Arbeit kommt damit eine vorrangige Bedeutung
zu. Von dieser Entscheidung hängt die Anerkennung einer Gewerkschaftsroderation und ihrer
Mitgliedsverbände letztlich ab. Der Entscheidungsspielraum wird lediglich durch die als
untere Grenze für die Gewerkschaftsroderation insgesamt angegebene Mitgliederzahl
eingeschränkt. Wird diese Mitgliederzahl unterschritten, kann eine Anerkennung als reprä-
sentative Gewerkschaft nicht erfolgen, wird sie erreicht, ist es möglich, daß eine Anerken-
nung erfolgt. Die Mitgliederzahl ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedin-
gung für die Anerkennung einer Gewerkschaftsroderation und ihrer Mitgliedsverbände als
repräsentativ. Diese Anerkennung erfolgt erst mit der Aufuahme in die genannten Gremien.
Über die Aufuahme aber entscheidet die Exekutive nach eigenem Ermessen.
Zu Recht weist deshalb Alen auf die zentrale, pyramidenartige Bestimmungsform der
Repräsentativität hin: "Deze pyramidale structuur toont sterk het nationaal-gecentraliseerd
karakter van het representativiteitssystem" (1984: 252).
Die Zentralisierung der kollektiven Arbeitsbeziehungen wird durch die Pyramide der
Kollektivverträge ebenso unterstrichen wie durch die Pyramide der Bestimmung von
Repräsentativität. Die Spitze der Pyramide ist in beiden Fällen der Nationalrat der Arbeit.
Betrachtet man die Entwicklung der Bestimmungsformen von Repräsentativität nach dem
zweiten Weltkrieg, so wird deutlich, daß diese Bestimmungsformen verändert wurden, um die
88
christlichen, sozialistischen und liberalen Gewerkschaften gleichzustellen, und gleichzeitig
die Ansprüche anderer Gewerkschaften aufrepräsentative Interessenvertretung abzuwehren44 .
Die Frage danach, welche Gewerkschaft zu den eigentlichen Nutznießern der geschilderten
Verfahren zur Bestimmung der Repräsentativität zu zählen ist, wird zumeist mit dem Hinweis
auf die besonderen Vorteile der liberalen Gewerkschaft beantwortet.
Alen weist nach, daß die Merkmale zur Bestimmung der Repräsentativität zunächst modifi-
ziert wurden, um der liberalen Gewerkschaft die Möglichkeit einer Teilnalune an den Wahlen
zum Betriebsrat und zu den Sicherheitsausschüssen zu ermöglichen. Aus der Art der
Modifikation der Kriterien ist fiir Alen das Bestreben erkennbar " ... de A.C.L.V.B. als
algemeen representatief te beschouwen om deel te nehmen aan de verkiezingen [Wahlen,
W.P.] in alle ondernemingen" (Alen 1984: 90f.).
Weiterhin ist vor allem auch die liberale Gewerkschaft gemeint, wenn daraufhingewiesen
wird, daß die Zentralität des Bestimmungsverfahrens zur Repräsentativität vor allem kleinere
Gewerkschaften begünstigt. Gerade dieser Gewerkschaft falle es schwer, die faktische
Vertretungskompetenz der einzelnen Gewerkschaftssektionen nachzuweisen, da diese oftmals
nur über eine geringe Zahl von Mitgliedern verfügten. Faktische Vertretungskompetenz und
rechtliche Repräsentativität divergieren vor allem bei der liberalen Gewerkschaft. Der
Verzicht auf einen Nachweis dezentraler bereichsspezifischer Bestimmungsmerkmale für die
Anerkennung einer Gewerkschaft als repräsentativ kommt somit vor allem der liberalen
Gewerkschaft zugute.
Auch die rechtliche Bestimmung, daß eine repräsentative Gewerkschaftsföderation minde-
stens 50 000 Mitglieder (und nicht mehr) haben müsse, wird mit dem Hinweis begründet, nur
diese Untergrenze gewährleiste die Anerkennung der liberalen Gewerkschaften als repräsen-
tativ. Ansonsten laufe man Gefahr, " ... dat een hogere norm voor de organisatiegraad tot
gevolg zou hebben dat de liberale vakbond zou uitgesloten worden" (Alen 1984: 99).
Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, daß die Bestimmung einer relativ geringen Mitglieder-
zahl nicht dazu führen müsse, daß zu vielen Organisationen die Repräsentativität zuerkannt
wird. Neben dem quantitativen Kriterium gebe es ja die qualitativen Kriterien als Grundlage
für eine weitere Selektion. Die Mindestnorm führe nicht dazu " ... dat tevvel organisaties zieh
... als representatief zouden aanbieden, aangezien naast de kwantitatieve norm ook kwalitatie-
ve vereisten [Erfordernisse, W.P] gesteld worden" (Alen 1984: 99).
Die Kombination zwischen einem quantitativen Kriterium mit einer (relativ) niedrigen
Mindestnorm, einem qualitativen Kriterium, das es ins Ermessen der Exekutive stellt,
welchen Gewerkschaften Repräsentativität zuerkannt wird und einem weiteren qualitativen
Kriterium, das die Übertragung einer zentralen Repräsentativität fiir Gewerkschaftsföderatio-
44 Eine Ausnahme bildeten die Verbände der Angestellten. Diesen wurde eine (eingeschränkte) Repräsentativität
zugebilligt.
89
nen auf die einzelnen Mitgliedsverbände sicherstellt, fuhrt also dazu, daß allen drei Rich-
tungsgewerkschaften die Kompetenzen zuerkannt werden, fur die der Status der Repräsentati-
vität die Voraussetzung ist. Gleichzeitig ermöglicht diese Kombination der Bestimmungs-
merkmale von Repräsentativität, den anderen Gewerkschaften entsprechende Befugnisse
vorzuenthalten.
45 "Hetgaat dus niet om een monopolie. Het gaat om de bescherming tegen sommige arbeiders die, zoals het
bijvoorbeeld in Frankrijk gebeurt, het algemeen belang negeren en een neiging vertonen om het corporatieve
belangte dienen. door zulke verenigingen te stichten" (Par!. Hand. vom 24 juni 1948. zit. nach Alen 1984: 63).
Vergl. auch die Stellungnahmen der beiden großen Gewerkschaftsbünde ACV/CSC und ABVV/FGTB. die
darin übereinstimmen, daß die Mitgliedschaft in einer branchenübergreifenden Vertretung eine notwendige
Vorbedingung fiir die Anerkennung von Repräsentativität sein soll (Alen 1984: 209 und 211 ).
90
Es geht also darum, durch die strengen Repräsentativitätskriterien eine Interessenintegrati-
on sicherzustellen, um" ... enversnippering van de arbeidswereld te voorkomen" (Aien 1984:
77).
Hinter diesen offiziellen Begründungen für die Konfiguration der Verfahren zur Bestim-
mung der Repräsentativität treten aber weitere Gesichtspunkte hervor. Diese machen deutlich,
daß es der Regierung nicht nur darum geht, mit Hilfe der berufs-, betriebs-und fachübergrei-
fend organisierten Gewerkschaften zu vermeiden, daß partikulare Interessen zuviel Berück-
sichtigung erfahren. Vielmehr wird deutlich, daß die Regierung bestrebt ist, eine bestimmte
Struktur der Interessenvertretung zu konservieren, um in den Richtungsgewerkschaften
verläßliche Kooperationspartner vorzufinden zu können und auf diese Weise bestimmte
politische Steuerungskonzeptionen leichter durchsetzen zu können.
Der Ermessensspielraurn, den sich die Exekutive bei der Bestimmung der Repräsentativität
letztlich vorbehält, dient eben diesem Ziel.
"Le !arge pouvoir d'appreciation est donc justifie par les risques au regard de
l'interet general et de Ia paix sociale. L'appreciation de Ia representativite est
basee sur Ia realite sociale et sur Ia connaissance que Je gouvernement a pu
acquerir de I'organisation candidate" (Desolre 1987: 154).
91
Diesen werden auf dem Wege der Repräsentativität Kompetenzen eingeräumt und Ressourcen
zugeführt, die sie in dieser Funktion bestätigen.
Die Bestimmung der Repräsentativität baut auf der Versäulung der Gesellschaft auf und ist
bestrebt, die Gewerkschaften in diese Säulen zu integrieren.
Die Gewerkschaften sollen ein verläßlicher Interaktionspartner der politischen Parteien und
der Exekutive sein. Hierzu gehört, daß sich die kompetente gewerkschaftliche Interessenver-
tretung auf die Gewerkschaften beschränkt, die als Interaktionspartner für politische Parteien
fungieren.
Die Bestimmung der Repräsentativität entspricht dem System der politischen Steuerung
und Konfliktregulierung in Belgien: "Wat tenslotte de concrete operationalisering van het
representativiteitsbegrip betreft, valt meteen het politiek conflictbeheersend karakter ervan
op" (Alen 1984: 256f.).
Die Kriterien zur Bestimmung der Repräsentativität sind so gewählt, daß die säulengebun-
denen Gewerkschaften Bestätigung erfahren, während die anderen Gewerkschaften ausge-
schlossen bleiben. Gleichzeitig werden Gremien und Verfahren stabilisiert, welche die
Interorganisationsbeziehungen der Gewerkschaften fördern und damit der Steuerungskonzep-
tion "verschränkte Versäulung" entsprechen. Besonders deutlich zeigt sich dieses Vorgehen
in der Anpassung der Kriterien an den status quo des liberalen Gewerkschaftsbundes und in
der Benachteiligung der unabhängigen Gewerkschaften. Während auf der einen Seite
" ... de liberale vakbond, die betrekkelijk klein is, vanaf de vijfiger jaren, door de
overheid trapsgewijze als representatief wird erkend om hem binnen de invlo-
edssfer van de wetgeving te houden .... zijn de onathankelijke of "apolitieke" vak-
bonden gestadig verdwenen [verschwunden, W.P.]" (Alen 1984: 257).
Die Benachteiligung besteht nicht in erster Linie darin, daß den unabhängigen Gewerk-
schaften Kriterien vorgegeben werden, die sie nicht erfüllen können, sondern darin, daß
letztlich unbestimmt ist, welche Kriterien sie erfüllen müßten, um Zugang zur Repräsentati-
vität zu finden.
In einem versäulten System erscheint eine nicht-säulengebundene Gewerkschaft chancen-
los, weil ihre Anerkennung als repräsentativ für das politische System zu starke Risiken mit
sich bringt.
"In een verzuild politiek systeem maakt een onathankelijke vakbond weinig kans
om erkend te worden, mede door het feit dat de criteria voor erkenning betrek-
kelijk vaag gehouden worden, dat ze niet afwindgbaar zijn voor de rechtbank, en
dat de minister een discretioneaire bevoegdheid heeft inzake erkenning en benoe-
ming van de Jeden in de overlegorganen" (Alen 1984: 254).
Die Unbestimmtheit der Kriterien und der Ermessensspielraum des Ministers dienen der
Abwehr der unabhängigen und der Beschirmung der säulengebundenen Gewerkschaften.
92
Damit allerdings erscheint die inoffizielle Zielsetzung als Variante neo-korporatistischer
Steuerungskonzepte, nur mit dem Unterschied, daß nicht einer monopolistischen Einheitsge-
werkschaft, sondern einem Kartell von Richtungsgewerkschaften auf dem Wege der Bestim-
mung von Repräsentativität exklusive Befugnisse zukommen.
Der Staat schottel die Richtungsgewerkschaften gegen Konkurrenz ab, stattet sie großzügig
mit Ressourcen aus und erwartet von ihnen als Gegenleistung eine Orientierung auf seine
Zielsetzungen, auf die sie als Säulenorganisationen einzuwirken in der Lage sind.
Hinter den offiziellen Zielen von Gefahrenabwehr und Gemeinwohlbindung tritt eine
pluralisierte Variante neo-korporatistischer Steuerung hervor, die mit Hilfe der vorliegenden
Bestimmung von Repräsentativitätskriterien modifiziert und stabilisiert wird.
93
sog. "unabhängige" Gewerkschaften keinem der drei Dachverbände der etablierten Rich-
tungsgewerkschaften angehörten.
" ... !es employes qui il I' exclusion de ceux qui font partie du personnel de direc-
tion exercent dans l'entreprise une fonction supeneure reservee generalement au
titulaire d'un diplöme d'un niveau determine ou il celui qui possede une experi-
ence equivalente" (Fervaille/MartinezNandewattyne 1987: 31)46 •
46 vergl. auch: Garsou/van den Hove 1985: 177ff. Diese Definition wurde in die gesetzlichen Bestimmungen
aufgenommen.
47 Zur gewerkschaftlichen Organisation der Angestellten vergl. im einzelnen: Arcq/Blaise 1985.
94
Gewerkschaften die Berechtigung zur Interessenvertretung vorenthielten, würden - so die
Begründung der Beschwerde - die Vereinigungsfreiheit ebenso einschränken wie die Freiheit,
kollektive Interessen in eigener Verantwortung der kollektiven Akteure auf dem Verhand-
lungswege ohne staatliche Intervention zu vertreten.
Die Beschwerde wurde zunächst mit dem Hinweis beantwortet, die angesprochenen Kon-
ventionen bestimmten, daß lediglich der "am meisten repräsentativen" Gewerkschaft die
Befugnis zuerkannt werde, die Interessen der Angestellten zu vertreten48 •
Da die Ausführungen der Internationalen Arbeitsorganisation aber keine Angaben darüber
mache, welche gewerkschaftliche(n) Organisation(en) als "am meisten repräsentativ"
anzusehen sei, brauche die Beschwerde der NCK/CNC auch nicht dazu zu führen, daß der
Angestelltengewerkschaft der Status der Repräsentativität zuerkannt werden müsse (vergl.:
EIRR 131 1984: 17).
In einem zweiten Schritt versuchte die Angestelltengewerkschaft ihr Ziel zu erreichen,
indem sie verstärkt auf die damalige christlich-liberale Regierung Einfluß nahm. Die
unabhängige Angestelltengewerkschaft hoffte insbesondere, bei der liberalen Partei Unter-
stützung zu finden. Sie beanspruchte ausdrücklich einen Sitz im Nationalen Rat der Arbeit,
um auf diesem Wege die Anerkennung als repräsentativ einzuleiten. Diesem Anspruch wurde
allerdings nicht stattgegeben.
Um dennoch den Status der Repräsentativität zu erreichen, schloß sich die unabhängige
Angestelltengewerkschaft im Jahre 1982 mit anderen unabhängigen Gewerkschaften in einem
Dachverband der unabhängigen Gewerkschaften Nationale Unie der Onafhankelijke
Syndikaten bzw. Union Nationale des Syndicats Independants (NUOS!UNSI) zusammen.
Diese Gewerkschaftsforleration beanspruchte ihrerseits die Aufnahme in den Nationalen
Rat der Arbeit und damit den Status der Repräsentativität fiir sich und ihre Mitgliedsgewerk-
schaften. Zur Begründung führte sie an, daß die zusammengeschlossenen Gewerkschaften
insgesamt mehr als 50.000 Mitglieder hätten. Diesem Vorgehen war ebenfalls kein Erfolg
beschieden.
Im Jahre 1985 erfolgte eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen über die Interessen-
vertretung der Angestellten durch die loi de redressement social. Das Gesetz räumte auch
denjenigen Organisationen Befugnisse zur Interessenvertretung der cadres ein, die nicht in
einem bereits als repräsentativ anerkannten Dachverband vertreten waren.
Dieses geschah unter der Voraussetzung, daß es sich um eine Organisation handelte, die in
verschiedenen Wirtschaftszweigen vertreten war und zumindest I 0.000 Mitglieder hatte.
" "L · organisation Ia plus representative des cadres doit pouvoir conclure, meme au niveau interprofessionel, des
conventions collectives concernant !es interets specifiques des cadres" (so: infocadre zit. nach Arcq/Blaise
1985: 37).
95
Die Berechtigung zur Interessenvertretung der leitenden Angestellten beschränkte sich
allerdings darauf, Kandidaten für die betrieblichen Sozialwahlen aufstellen zu können.
Die Befugnis zur betriebsbezogenen Interessenvertretung wurde ebenfalls denjenigen
betrieblichen Angestelltenverbänden gewährt, die durch Unterschriftenlisten nachweisen
konnten, daß sie für die Aufstellung eigener Kandidatenlisten die Unterstützung von zumin-
dest 10% der Angestellten im Betrieb einholen konnten.
"Outre Je depöt de Iiste pour !es cadres par !es organisations repn!sentatives, Ia loi
pn!voit aussi Je depöt de Iiste pour !es cadres par !es organisations representatives,
Ia loi prevoit aussi Je depöt par au moins 10% des cadres d'une entreprise d'une
Iiste independante" (Arcq 1993a: 21).
Die gehobenen Angestellten waren nunmehr berechtigt, eigene Vertreter in die Gremien der
betrieblichen Interessenvertretung zu wählen.
Die Regelung galt für Betriebe mit 15 und mehr Angestellten. Die Anzahl der Vertreter der
Angestellten variierte mit der Anzahl der Angestellten, die im Betrieb beschäftigtet waren.
Während die Interessenvertretung der Angestellten bislang durch die ausschließlich von
den Richtungsgewerkschaften vorgeschlagenen Vertreter aller Arbeitnehmer wahrgenommen
wurde, konnte infolge der gesetzlichen Änderung eine separate Vertretung der Angestellten
vorgenommen werden. Diese konnte nunmehr auch durch Kandidaten erfolgen, die nicht von
den Richtungsgewerkschaften nominiert worden waren. "Es sollte ermöglicht werden, daß
diejenigen Angestellten, die sich durch die traditionellen Arbeitnehmerorganisationen nicht
interessengerecht vertreten sehen, die von ihnen gewünschten Kandidaten wählen können"
(Francke 1997: 73 ).
Die Interessenvertretung der Angestellten erfolgte durch dasselbe Vertretungsorgan wie die
Interessenvertretung der anderen Arbeitnehmer. Ein eigenes Vertretungsorgan fiir Angestellte
- analog zu den "Sprecherausschüssen" des deutschen Betriebsverfassungsrechts - wurde
nicht eingerichtet.
Durch die beschriebenen gesetzlichen Änderungen wurden der separaten Angestelltenge-
werkschaft und den betrieblichen Vertretungsgruppen einige betriebsbezogene Vertretungs-
rechte zugebilligt. Der Status der vollen Repräsentativität und damit die Gleichstellung mit
den Mitgliedsgewerkschaften der repräsentativen Richtungsgewerkschaft blieb der nicht-
säulengebundenen Angestelltengewerkschaft aber vorenthalten (vergl. EIRR 131 1984: 19
sowie Fervaille/Martinez!Vandewattyne 1987: 32).
Der funktionalen Sonderstellung der Angestellten wurde auf der betrieblichen Ebene
Rechnung getragen, ohne daß die Grundlagen der Bestimmung von Repräsentativität
erschüttert wurden. Wichtige an die Bestimmung von Repräsentativität geknüpfte Befugnisse
blieben weiterhin den Richtungsgewerkschaften vorbehalten. Dies betraf die Zugehörigkeit zu
den Gremien mit Verhandlungs- und Konsultationsfunktion auf sektoraler und nationaler
Ebene, insbesondere also die Mitgliedschaft im nationalen Rat der Arbeit, aus der sich weitere
Vertretungsbefugnisse abgeleitet hätten.
96
Die gesetzliche Anerkennung der (eingeschränkten) Vertretungskompetenz der unabhängi-
gen Angestelltengewerkschaft NCK/CNC beruhte auf einer Konzeption der separaten
Interessenvertretung von gehobenen Angestellten. Diese Konzeption stieß auf den Widerstand
der traditionellen Richtungsgewerkschaften. Sie widersprachen einer Betrachtungsweise,
welche die Interessenvertretung der Angestellten von den Interessenvertretung der anderen
Arbeitnehmer trennte. Eine solche Trennung erschien ihnen bereits als Ausdruck "korporati-
ver" Tendenzen: "Les syndicats insistent sur Je fait que !es cadres sont des travailleurs comme
!es autres et accusent Je CNC d'isoler !es cadres par des conceptions et des strategies
corporatistes" (Arcq/Blaise 1985: 38).
Die im Dachverband der sozialistischen Gewerkschaften zusammengeschlossene Ange-
stelltengewerkschaft SETCA versuchte, der unabhängigen Angestelltengewerkschaft
NCK/CNC ihren Kompetenzzuwachs streitig zu machen. Sie behauptete, die unabhängige
Gewerkschaft könne nicht nachweisen, daß sie über die gesetzlich geforderten Mindestgröße
von 10.000 Mitgliedern verfüge. Tatsächlich verfüge die unabhängige Gewerkschaft nur über
etwa die Hälfte der Mitglieder. Die andere Hälfte könne die Gewerkschaft allenfalls durch
korporative Mitgliedschaften zahlreicher betrieblicher Gruppierungen aufbringen.
Der Einwand der sozialistischen Gewerkschaft wurde allerdings nicht für rechtlich erheb-
lich gehalten. Es sei nicht von Belang, ob die untere Grenze für die Zuerkennung entspre-
chender Befugnisse durch individuelle oder korporative Mitgliedschaften erreicht werde: "Le
seuil de representativite est fixe it I 0.000 membres, sans autres conditions. Affiliations
individuelles et collectives peuvent donc pareillement etre comptabilisees" (Fervail-
le/Martinez/V andewattyne 1987: 31 ).
49 vergl. hierzu mit ausführlichen Dokumenten: Alen 1984 Anhang; sowie Desolre 1987: 153fT
97
des nationalen Arbeitsrats. Die Regierung rechtfertigte ihren Ermessensspielraum mit dem
Hinweis auf die besondere Funktion dieses Gremiums. Sie gab zu, über einen weiten
Entscheidungsspielraum zu verfUgen. In ihrer Begründung bezog sie sich auf die Notwendig-
keit, den Status quo zu erhalten und Risiken für den sozialen Frieden abwehren zu müssen:
"Le !arge pouvoir d'appreciation est donc justifie par !es risques au regard de
l'interet general et de Ia paix sociale. L'appreciation de Ia representativite est
basee sur Ia realite sociale et sur Ia connaissance que Je gouvernement a pu
acquenr de l'organisation candidate" (Desolre 1987: 154).
" ... en ce qui concerne I'acces au C.N.T. de prendre des mesures en vue d'adopter
au plan legislatif des criteres objectifs, preetablis et precis pour assurer que Ies or-
ganisations structurees au niveau national et interprofessionnelles puissent faire
valoir leur droit en matiere de representativitee" (Desolre 1987: 155) 50 .
Das Internationale Arbeitsamt forderte also von der belgiseben Regierung, sich bei ihrer
Entscheidung über den Zugang der Gewerkschaften zum Nationalen Rat der Arbeit auf
Kriterien zu beziehen, die eindeutig und überprüfbar waren und die deshalb vor allem auch als
50ZurForderung nach Transparenz bei der Bestimmung und Anwendung von Repräsentativitätskriterien vergl.
auch Vandewattyne 1991: 32.
98
Qualifikationsmerkmale erkannt und angestrebt werden konnten. Die Repräsentativität sollte
auf diesem Wege ein "erwerbbares" Merkmal werden und nicht weiterhin von der Regierung
.,zugeschrieben" werden. Allerdings sind entsprechende Änderungen bisher nicht erfolgt.
Der Zugang zu den "exklusiven" Beschluß- und Beratungsgremien bleibt auf die Rich-
tungsgewerkschaften beschränkt. Sie bleiben die wirklichen Machthaber, " ... de vertegen-
woordigers van demacht in feite" (Dewachter 1992: 140). Wie Dewachter betont, reichen
selbst Nachweise über eine tatsächliche Konfliktbereitschaft und Konfliktfähigkeit einer
Gewerkschaft immer noch nicht aus, um sie als repräsentativ anzuerkennnen. So wurde der
unabhängigigen Eisenbahnergewerkschaft Onafhankelijke Vakbond van het Spoorwegperso-
nee/ dieser Status weiterhin vorenthalten, obwohl sie ihre Forderungen wiederholt mit
Arbeitskämpfen hatte durchsetzen können 5 1•
3.3.6 Zusammenfassung
Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich in Belgien die Konturen der kollektiven Arbeits-
beziehungen herausgebildet, die der Konzeption der verschränkten Versäulung entsprachen.
Hierzu trug zunächst bei, daß die ideologische Differenzierung des Landes eine nachdrückli-
che Bestätigung fand. Die Königsfrage und die Schulfrage beschäftigten das Land so stark,
daß andere Problemstellungen zurückgestellt wurden und die fiir die Versäulung relevanten
Trennungen in den Vordergrund rückten. Gleichzeitig fanden Formen der Entscheidungsfin-
dung Bestätigung, durch welche den herrschenden Eliten weitreichende Spielräume gegeben
wurden. Ebenso erlangten die politischen Parteien herausragende Bedeutung, weil sie die
Interorganisationsbeziehungen innerhalb der großen Säulen zu koordinieren verstanden.
Die Strukturen, denen eine Gesellschaft entsprechen mußte, die nach dem Prinzip der
verschränkten Versäulung gestaltet wurde, wurden im Sozialpakt des Jahres 1944 konfigu-
riert. Insbesondere wurden die Interessenverbände als Bestandteile von weltanschaulichen
Säulen eingebunden und Verbindungen zwischen den Interessenverbänden verschiedener
Säulen nahegelegt, die vermeiden sollten, daß die ideologische Differenzierung nachteilige
Wirkungen fiir den Zusammenhalt des Landes hatte. Die Aufgaben der Interessenverbände
der Arbeitnehmer bestanden in der Mitwirkung und Mitentscheidung in verschiedenen
Gremien auf Betriebs- und Branchenebene sowie auf der Ebene der Gesamtwirtschaft.
Die Bedeutung von Konzertierung und Konsultation fiihrt dazu, daß die verschiedenen
Gewerkschaften häufig zusammentreffen. Vor allem aber enthalten die kollektivvertragliehen
Verfahrensregeln einen Konsenszwang, der die interorganisatorische Abstimmung zwischen
den Richtungsgewerkschaften notwendig macht.
" "Vijf behoorlijk ,successvolle' treinstakingen op een jaar zijn niet vo1doende om de Onafhankelijke Yakbond
van het Spoorwegpersonee1 te erkennen" (Dewachter 1992: 144).
99
Die Richtungsgewerkschaften erfahren nicht nur dadurch eine AufWertung und Bestäti-
gung, daß ihnen die verantwortliche Mitwirkung bei der tarifvertragliehen Gestaltung der
Lohn- und Arbeitsbedingungen übertragen wird. Ihre organisatorische Stabilität erfahren sie
ebenfalls dadurch, daß ihnen Aufgaben der sozialstaatliehen Regelung übertragen werden,
insbesondere die Auszahlung des Arbeitslosengeldes. Die Übertragung erfolgt auf die Weise.
daß der Staat die Gewerkschaften mit seinen finanziellen Mitteln dazu in die Lage versetzt,
diese Leistungen so günstig anbieten zu können, daß sie als selektive Anreize wirken können.
Somit wird das Kollektivgutproblem belgiseher Gewerkschaften erheblich entschärft. Die
Gewerkschaften werden als separate Organisationen bestätigt, die für die Interessenvertretung
der Arbeitnehmer von Vorteil sind. Diesen Vorteil versuchen die Gewerkschaften vor allem
mit tarifvertragliehen Mitteln auszubauen. Auf diese Weise erfährt die organisatorische
Differenzierung in Form von eigenständigen Richtungsgewerkschaften ebenso Bestätigung
wie die Intraorganisationsbeziehungen zwischen Gewerkschaftsführung und Gewerkschafts-
mitgliedern. Gleichzeitig werden durch zahlreiche Verfahrensregeln Interorganisationsbezie-
hungen zwischen den Richtungsgewerkschaften nahegelegt, welche der Konzeption der
verschränkten Versäulung entsprechen.
Die Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen erfolgt in eigens hierfür ausdifferen-
zierten Entscheidungsgremien. Hierbei haben die zentralen Gremien mit Regeln der triparti-
stischen Konzertierung eine besondere Bedeutung, weil in diesen Gremien Vereinbarungen
getroffen werden, die in den nachfolgenden Vereinbarungen auf Branchen- und Unterneh-
mensebene nicht unterboten werden. Der Abschluß solcher Vereinbarungen setzt den
Konsens der Verhandlungspartner - also auch der Richtungsgewerkschaften untereinander -
voraus.
Die Arbeitsbeziehungen bestehen als Intra- und Interorganisationsbeziehungen bürokrati-
sierter Interessenverbände im Rahmen einer Gesellschaft, die nach dem Ordnungsprinzip der
verschränkten Versäulung aufgebaut ist und die Arbeitsbeziehungen in ihrer Eigenart ebenso
bestätigt wie sie durch die Eigenart der Arbeitsbeziehungen ihrerseits bestätigt wird. Der um
seine Einheitlichkeit besorgte belgisehe Staat erfährt durch bürokratisierte kollektive Akteure,
die zentralisierte tripartistische Arbeitsbeziehungen gestalten, eine wichtige Unterstützung.
Der Staat unterstützt deshalb seinerseits diese Form von Arbeitsbeziehungen und stabilisiert
die kollektiven Akteure, die diese Beziehungen eingehen.
Zur Stabilisierung der kollektiven Akteure gehört nicht nur, daß den Akteuren vom Staat
Funktionen übertragen werden und sie bei der Ausübung dieser Funktionen unterstützt
werden, sondern auch, daß ihnen diese Funktionen vorbehalten bleiben.
Diesem Ziel dient die Bestimmung der Repräsentativität.
In den belgischen Arbeitsbeziehungen kommt der Unterscheidung zwischen repräsentativen
und nicht-repräsentativen Gewerkschaften eine entscheidende Bedeutung zu.
Der Unterscheidung liegen in ihrer jetzigen Form die Vereinbarungen des Sozialpakts aus
dem Jahre 1944 zugrunde.
100
Den repräsentativen Gewerkschaften sind wichtige Befugnisse der Interessenvertretung
vorbehalten. Nur repräsentative Gewerkschaften haben das Recht, für die betrieblichen
Sozialwahlen Kandidaten aufzustellen. Die repräsentativen Gewerkschaften haben Vorrang
bei der Bestimmung der Gewerkschaftsvertreter im Betrieb. Nur repräsentative Gewerk-
schaften können rechtlich verbindliche Tarifverträge abschließen. Deshalb können auch nur
repräsentative Gewerkschaften Tarifverträge schließen, in denen mit den Arbeitgebern
organisationssichemde Maßnahmen vereinbart werden. Nur repräsentative Gewerkschaften
wirken in den verschiedenen Gremien der Konsultation und Konzertierung mit. Repräsentati-
ven Gewerkschaften ist es vorbehalten, staatliche Subventionen zu beziehen, mit denen sie
ihren Mitgliedern attraktive selektive Anreize bieten können.
Den Bestimmungsmerkmalen liegt ein einheitlicher Gewerkschaftsbegriff zugrunde. Die
Repräsentativität wird auf der Grundlage identischer Bestimmungsmerkmale fiir alle
gewerkschaftlichen Vertretungskompetenzen gleichzeitig erworben, für die der Status der
Repräsentativität erforderlich ist.
Über den Status der Repräsentativität wird einheitlich aufzentraler Ebene entschieden.
Die Kriterien zur Bestimmung der Repräsentativität sind quantitativer und qualitativer Art.
Die Exekutive, die diese Bestimmung der Repräsentativität vornimmt, bewahrt sich einen
Ermessenspielraum, der sie in die Lage versetzt, die Repräsentativität ihren Vorstellungen
entsprechend zuzuerkennen oder auch nicht: Die Anerkennung einer Gewerkschaft als
repräsentativ setzt ihre Aufuahme in den Nationalen Rat der Arbeit notwendig voraus. Über
die Aufuahme entscheidet der Arbeitsminister. Er ist bei seiner Entscheidung nicht an
bestimmte Kriterien gebunden. Seine Entscheidung unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle.
Die Repräsentativität kann nicht dadurch "erworben" werden, daß bestimmte Gewerkschaften
quantifizierbare Kriterien nachprüfbar erfiillen. Sie wird vielmehr von der Exekutive
zuerkannt.
Diese Bestimmungsform von Repräsentativität begünstigt die Richtungsgewerkschaften,
also die Arbeitnehmerorganisationen, die einer der drei Säulen zuzurechnen sind. Vor allem
wird die kleinere liberale Gewerkschaft aufgewertet, weil ihr die Anerkennung einer
rechtlichen Repräsentativität den zuweilen problematischen Nachweis einer tatsächlichen
Vertretungskompetenz erspart.
Von dieser Bestimmungsform der Repräsentativität benachteiligt werden betriebs- und
branchenübergreifende "unabhängige" Gewerkschaften, die nicht den Säulen zuzuordnen
sind. Ihre Bemühungen, quantitative Bestimmungsmerkmale zu erfiillen, fiihren nicht zum
Ziel, solange diese Bestimmungsmerkmale allein nicht ausreichen, um die Anerkennung als
repräsentative Gewerkschaft sicherzustellen.
Die funktionale und hierarchische Sonderstellung der Angestellten reichte lediglich aus,
ihrem separaten Interessenverband auf gesetzlichem Wege Vertretungsbefugnisse auf
betrieblicher Ebene einzuräumen. Repräsentativität im umfassenden Sinne erreichte die
Angestelltengewerkschaft nicht.
101
Zur Begründung der beschriebenen exklusiven Bestimmungsform von Repräsentativität
wird vom Staat offiziell darauf hingewiesen, daß die Notwendigkeit bestehe, eine "korporati-
ve" Vereinzelung und Zersplitterung der Interessenvertretung zu vermeiden. Durch die
Selektion der Gewerkschaften müsse sichergestellt werden, daß die gesamtwirtschaftlichen
Orientierungen vorangestellt und gemeinwohlorientierte Zielsetzungen durch tarifvertragliche
Regelungen erreicht werden. Hier stünden Gewerkschaften mit partikularen Bezügen nur im
Wege.
Inoffiziellliegt dem Verfahren der Bestimmung von Repräsentativität die Absicht zugrun-
de, die Säulengewerkschaften gegen Konkurrenz abzuschotten und an die politischen Parteien
sowie an die Regierung zu binden. Die Richtungsgewerkschaften werden privilegiert, damit
die Exekutive kalkulierbare Interaktionspartner hat, die auf die Ziele der Exekutive ausge-
richtet werden können. Gleichzeitig ist damit nicht ausgeschlossen, daß auch die Richtungs-
gewerkschaften auf die Exekutive Einfluß nehmen. Die Gremien zur Konsultation und zur
Konzertierung legen diese wechselseitige Einflußnahme sogar nahe.
Es ist aber unerwünscht, daß andere Gewerkschaften das Bild stören. Deshalb wird ihnen
der Zugang in die entsprechenden Gremien und damit auch die Wahrnehmung entsprechender
Funktionen vorenthalten. Die Richtungsgewerkschaften sind wesentlicher Bestandteil eines
"korporativistischen Kartells", dessen Abschirmung der Staat übernimmt. Das Verfahren zur
Bestimmung der Repräsentativität ist ein wichtiges Instrument, um diese (inoffizielle)
Zielsetzung zu verwirklichen. Es wird zu zeigen sein, welche Wirkungen die Verwendung
dieser Instrumente nach sich zieht.
102
von den christlichen Gewerkschaften mit der Begründung zurückgewiesen, daß die sozialisti-
schen Gewerkschaften ein Bündnis mit den kommunistischen Gewerkschaften eingegangen
seien.
Die weltanschaulichen Unterschiede begründeten - wie bereits ausgeführt - den Aufbau von
zentralisierten Säulen, in die die Richtungsgewerkschaften integriert wurden. Hieran schloß
sich auch die gegenseitige organisatorische Abgrenzung zwischen den Gewerkschaften an.
Diese Abgrenzung war gleichzeitig die Grundlage für eine Koexistenz und Kooperation
zwischen den Richtungsgewerkschaften nach dem zweiten Weltkrieg. Diese fanden immer
dann ihre Grenze, wenn eine zweckspezifische Kooperation in eine organisatorische Fusion
überfUhrt werden sollte. Dies galt auch für die lokale Ebene.
Einprojet d'accord aus dem Jahre 1947, der zwischen den Delegierten der Lütticher Ver-
bände (Federations Liegeoises) der CSC und der FGTB abgeschlossen wurde, sah vor, eine
Union des Syndicats Liegeais zu gründen. Die Union sollte der Zusammenarbeit zwischen
den beiden gewerkschaftlichen Organisationen auf lokaler Ebene eine formelle Grundlage
geben. Diese Absicht wurde aber nicht weiterverfolgt, weil regionale Sonderregelungen im
Zuge der zunehmenden weltanschaulich begründeten Zentralisation der Gewerkschaftsbewe-
gung nicht erwünscht waren (vergl. Chlepner 1958: 278).
Die sozialistischen Gewerkschaften traten weiterhin grundsätzlich für eine organisatorische
Verbindung zwischen den beiden großen Gewerkschaften ein, während die christlichen
Gewerkschaften einer solchen Verbindung ablehnend gegenüber standen. Die sozialistischen
Gewerkschaften verhielten sich hingegen zurückhaltend gegenüber den Bemühungen um eine
zwischengewerkschaftliche Kooperation. Die christlichen Gewerkschaften befiirworteten
solche Beziehungen, solange ihnen eine organisatorische Trennung zugrunde lag (Gubbels
1962: 232).
Unter der Voraussetzung, daß durch eine zwischengewerkschaftliche Kooperation keine
Prinzipien ihrer weltanschaulichen Orientierung gefährdet wurden, favorisierten die christli-
chen Gewerkschaften eine zeitlich und sachlich limitierte Zusammenarbeit beider Gewerk-
schaften: "Une collaboration tres prudente limitee ratione materiae et ratione temporis et
encore pour autant que l'interet du travailleur n'etait pas contradictoire aux interets religieux et
moreaux superieurs...." (Lehouck 1984:720).
Das Ziel der christlichen Gewerkschaften war es, den organisatorisch differenzierten
Pluralismus aufrecht zu erhalten und gleichzeitig Kooperationsbestrebungen gegenüber
aufgeschlossen zu sein; in den Worten ihres Vorsitzenden Pauwels: ,,realiser l'unite d'action,
tout en maintenant Je pluralisme des Organisations" (zit. nach: Mampuys 1994: 225).
Auf der Grundlage dieser konzeptionellen Vorstellung nahmen die christlichen Gewerk-
schaften bereits 1952 Kontakte zu den sozialistischen Gewerkschaften auf, obwohl sie hiermit
bei der christlichen Regierungspartei zunächst auf Widerspruch stießen.
Auf dem Kongreß der christlichen Gewerkschaften im Jahre 1953 wurde die Formel "van
een eenheid van actie in de meervoudigheid van organisaties" wiederholt und die Bereitschaft
103
ausdrücklich bekräftigt "aan de top samen te werken met andere vakorganisaties" (Mampuys
1991: 482, vergl. auch Mampuys 1994: 24lf.). Wie diese Zusammenarbeit im einzelnen
aussehen könnte, sollte sich anhand konkreter Problemstellungen ergeben.
Die Aussagen darüber, ob zwischen den Gewerkschaften tatsächlich Kooperationsbezie-
hungen bestehen oder nicht, entziehen sich häufig einer Überprüfung. Die Kooperationsbe-
ziehungen sind schwer zu identifizieren. Sie sind häufig ungeplant, kurzfristig und finden auf
wechselnden Ebenen statt:
Hinzu kommt, daß für die Form und die Intensität der Kooperationsbeziehungen Begriffe
verwendet werden, die nicht einheitlich definiert sind. Zuweilen werden die Bezeichnungen
front commun und unite d'action synonym verwendet. Beide Begriffe bezeichnen dann
temporäre informelle Beziehungen zwischen verschiedenen Gewerkschaften auf unterschied-
lichen Ebenen.
An anderer Stelle wird von einer front commun erst dann gesprochen, wenn die zwischen-
gewerkschaftlichen Beziehungen planmäßig auf Dauer gestellt werden und den Handlungen
der Akteure prozedurale Bestimmungen verbindlich zugrunde liegen.
Erst organisierte zwischengewerkschaftliche Beziehungen begründen in diesem Fall eine
front commun 52 •
Die Berechtigung, die Entwicklung der zwischengewerkschaftlichen Beziehungen mit
diesen Bezeichnungen zu beschreiben, resultiert aus einer Reihe von Randbedingungen. Diese
sollen im folgenden skizziert werden.
Eine Voraussetzung dafiir, daß eine zwischengewerkschaftliche Kooperation zustande
kommt, die über die spontane kurzfristige Interaktion hinausgeht, besteht zunächst darin, daß
die Kooperation im Interesse der beiden potentiellen Kooperationspartner liegt. Die christli-
chen Gewerkschaften mußten ihren prinzipiellen Kooperationswunsch gegenüber der
Abneigung oder zumindest dem Desinteresse der sozialistischen Gewerkschaften zur Geltung
bringen. Die christlichen Gewerkschaften mußten von den sozialistischen Gewerkschaften als
dauerhafter Kooperationspartner ernst genommen werden. Dies hatte zunächst zur Vorausset-
zung, daß sich die christlichen Gewerkschaften zu einer Organisation entwickelten, die von
den Arbeitnehmern akzeptiert und durch tarifpolitische Erfolge ausgewiesen wurde.
52 Die zuletzt genannte Begriffsbestimmung liegt zugrunde, wenn Mampuys die Entwicklung der zwischenge-
werkschaftlichen Beziehungen der sechziger Jahre beschreibt als eine Entwicklung "de l'unite d'action au
front commun syndical" ( 1994: 251 ).
104
Hauptsächlicher Gegenstand der tarifpolitischen Aktivitäten und Erfolge der christlichen
Gewerkschaften in den fiinfziger Jahren war die Durchsetzung der Fünf-Tage-Woche. Die
christlichen Gewerkschaften verfaßten hierzu Petitionen an das Internationale Arbeitsamt und
setzten sich vor allem mit Arbeitskämpfen fiir diese Zielsetzung ein. Ihr Einsatz hatte Erfolg:
Bis zum Jahre 1956 galt bereits fiir 56% der Arbeitnehmer diese Arbeitszeitregelung.
Zu den Voraussetzungen fiir die Möglichkeit der christlichen Gewerkschaften, sich in
dieser Hinsicht zu profilieren, gehörte u.a., daß die christliche Volkspartei ab 1954 erstmals
nicht an der belgiseben Regierung beteiligt war. Sie hatte eine Wahlniederlage erlitten. Die
Regierung wurde in der Zeit von 1954 bis 1958 durch die sozialistische und die liberalen
Partei gebildet (Ministerpräsident van Acker). Die christlichen Gewerkschaften brauchten
also - im Unterschied zu den sozialistischen Gewerkschaften - keine Rücksicht darauf zu
nehmen, daß ihre weltanschauliche "Schwesterpartei" in der Regierungsverantwortung stand.
Sie erreichten eigenständige Erfolge, als die anderen Gewerkschaften mit ihren Forderungen
und Arbeitskampfdrohungen mit Rücksicht auf die belgisehe Regierung zurückhaltend waren.
Sie waren erfolgreich, " ... quand !es autres organisations syndicales ont !es mains liees"
(Mampuys 1994: 245).
Bereits 1956 konnte der Vorsitzende der christlichen Gewerkschaften August Cool stolz
auf die tarifpolitischen Erfolge seiner Gewerkschaft hinweisen und betonen, daß sich die
christlichen Gewerkschaften aus einem Zustand der Unterlegenheit zu einem eigenständigen
Machtfaktor entwickelt hätten: "C'en est fait maintenant du complexe d'infenorite des
syndicats chretiens ... Je syncidalisme chretien est une force ... " (zit. nach Mampuys 1994:
244).
Die sozialistischen Gewerkschaften mußten also zunehmend mit der Durchsetzungskraft
der christlichen Gewerkschaften rechnen und ihre tarifpolitischen Konzeptionen auf sie
abstimmen. Es war kaum noch möglich, tarifpolitische Ziele zu verfolgen, ohne die Aktionen
der christlichen Gewerkschaften in Rechnung zu stellen. Damit wurde auch die zwischenge-
werkschaftliche Kooperation zu einer strategischen Alternative, die fiir die sozialistischen
Gewerkschaften eine nicht zu übersehende Bedeutung annahm.
Die Nachkriegsentwicklung der christlichen Gewerkschaften läßt einen erheblichen Mit-
gliederzuwachs erkennen. Legt man das Jahr 1946 mit 100% zugrunde, so ist bis zum Jahr
1950 bereits eine Steigerung auf 152%, bis zum Jahr 1955 auf 176% festzustellen. 1960
werden 205% erreicht. Die Mitgliederzahl hatte sich also in knapp eineinhalb Jahrzehnten
mehr als verdoppelt (vergl. Pasture/Mampuys 1996: 266ff.).
Bei den Wahlen zum Betriebsrat konnten sich die christlichen Gewerkschaften ebenfalls
erheblich verbessern. Sie erhielten 1954 37,0%; 1958 erreichten sie 41,0%. Die sozialisti-
schen Gewerkschaften erreichten 1954 59,0%, konnten aber 1958 nur noch 55% der Stimmen
auf sich vereinigen. Der Abstand zwischen den beiden großen Gewerkschaften wurde
innerhalb eines Zeitraums von 4 Jahren fast halbiert (vergl. Abbildung 1).
105
Abbildung 1: Belgien- Stimmenverteilung bei den Wahlen zum Betriebsausschuß (CE)
1954- 1995 (in Prozent) 53
ABVV-FGTB ACV-CSC ACLVB- NCK-CNC Unabhängige
CGSLB
1954 59,0 37,0 3,5
1958 55,0 41,0 4,0
1963 51,1 43,8 5,1
1967 51,5 42,5 6,0
1971 48,7 45,5 5,8
1975 46,1 47,7 6,2
1979 42,6 50,1 7,3
1983 43,4 48,6 7,9
1987 40,8 47,9 7,5 2,3 1,5
1991 37,9 51,5 7,5 1,8 1,3
1995 37,8 52,1 7,9 1,2 1,0
Pasture (1993a: 708ff.) und Marnpuys (1991: 482) weisen daraufhin, daß der Wettbewerb
der beiden großen Gewerkschaften um Mitglieder und um Stimmenanteile bei den betriebli-
chen Sozialwahlen letztlich ihre Kooperationsbereitschaft gefördert hat.
Der Ausgang der betrieblichen Sozialwahlen entschied nämlich einmal über die Einfluß-
verteilung auf Betriebsebene. Zum anderen waren die Ergebnisse dieser Wahlen für die
Gewerkschaften auch deshalb von Bedeutung, weil die Sitzverteilung in den überbetriebli-
chen Gremien zur Konsultation und Konzertierung danach vorgenommen wurde, welche
Stimmenanteile auf die einzelnen Gewerkschaften entfielen.
Für die Wahlentscheidungen der Beschäftigten bei den betrieblichen Sozialwahlen auf
Betriebsebene waren, so Pasture, weniger die weltanschaulichen Eigenarten der Gewerk-
schaften von Bedeutung als ihre tarif- und sozialpolitischen Erfolge: " ... workers did not join
the trade unions because of their ideological stance, but because of what they achieved for
their members" (1993a: 709).
Tarifpolitische Erfolge konnten - nach dem Urteil der Beschäftigten - nur diejenigen Ge-
werkschaften erzielen, die sich nicht gegen eine Kooperation mit anderen Gewerkschaften
sperrten. Die Beschäftigten favorisierten keine einseitig ideologisch festgelegten Gewerk-
schaften, sondern solche, die zur zwischengewerkschaftlichen Kooperation bereit waren. Die
Arbeitnehmer sahen hierin eine wichtige Bedingung für eine erfolgreiche Tarifpolitik. Die
106
erfolgreiche zwischengewerkschaftliche Kooperation galt weiterhin als wichtige Vorausset-
zung für eine Konflikt- und insbesondere Streikfähigkeit der Gewerkschaften: "La collabo-
ration est devenue indispensable a un point tel, qu'une organisation, qui reste seule, ne peut
plus mener une greve de type traditionnel" (Gubbels 1962: 237).
Wahlerfolge konnte nur diejenige Gewerkschaft erzielen, die glaubwürdig machen konnte,
daß sie zu einem gemeinsamen gewerkschaftlichen Handeln bereit und in der Lage war.
Für Pasture ist der Zusammenhang zwischen Wahlerfolg, tarifpolitischer Durchsetzungsfa-
higkeit und zwischengewerkschaftlicher Kooperation eine wichtige Bedingung dafür, daß
auch unter den Gegebenheiten einer ideologischer Differenzierung Interorganisationsbezie-
hungen zwischen den Gewerkschaften aufgenommen und aufrechterhalten wurden.
Während einerseits eine organisatorische Differenzierung als notwendig angesehen wurde,
wurde andererseits aber auch eine zwischenorganisatorische Kooperation angestrebt, sobald
die christlichen Gewerkschaften als Kooperationspartner ernst genommen werden mußten.
.,This paradoxical situation explains the relatively limited impact of the post-war opposing
ideologies on labour relations and on the emergence of a consensus on sccial affairs" (Pasture
1993a: 709).
Für den Autbau der christlichen Gewerkschaften war es zunächst vorteilhaft, daß die
christliche Volkspartei ab 1954 in der Opposition zur belgiseben Regierung stand. Ihre
weitere Entwicklung wurde davon begünstigt, daß die christliche Volkspartei und die
sozialistische Partei ab 1956 eine große Koalition eingingen. Chlepner gibt den Hinweis, daß
eine collaboration der beiden Gewerkschaften davon begünstigt wurde, daß die sozialistische
und die christliche Partei gemeinsam die Regierung bildeten (Chlepner 1958: 272).
Am Ende der fiinfziger Jahre schien damit eine gute Grundlage für eine dauerhafte Koope-
ration zwischen den großen Gewerkschaften vorhanden zu sein.
Sie unterzeichneten erstmalig eine an den Nationalen Rat der Arbeit gerichtete gemeinsa-
me Erklärung, in der sie zur Frage des staatlich garantierten Mindestlohns Stellung nahmen:
.,Ainsi, pour Ia premiere fois, !es deux grandes organisations syndicales prennent positions
ensemble sur une question importante, via une note commune adressee au Conseil National
du Travail" (Mampuys 1994: 245).
Die Entwicklung der zwischengewerkschaftlichen Beziehungen vollzog sich nach dem
zweiten Weltkrieg so, wie sie der Konzeption der verschränkten Versäulung entsprach. Die
durch die Bestimmungen über die Repräsentativität abgeschotteten Richtungsgewerkschaften
entwickelten sich in der Weise, daß sich die beiden großen Gewerkschaften in ihrer Bedeu-
tung und Ressourcenausstattung aneinander annäherten. Im Zuge dieser Entwicklung
verbesserten sich die Kooperationsbeziehungen zwischen den Gewerkschaften, ohne daß
hiermit Fusionsbestrebungen verbunden waren. Die Regelungsformen des industriellen
Konflikts fügten sich den Anforderungen der staatlichen Steuerung. Die Organisationen,
deren Zielsetzungen und Organisationsgrenzen den weltanschaulichen Säulenbildungen
entsprachen, gewannen als Akteure Bedeutung. Diese Organisationen bildeten dann Koope-
107
rationsformen aus, durch die eine mit der Säulenbildung latent verbundene Kluft zwischen
den weltanschaulichen Orientierungen überwunden werden konnte.
108
In der Nachkriegszeit erfolgte diese Aktualisierung weltanschaulicher Differenzierungen
durch bedeutende Auseinandersetzungen innerhalb der belgiseben Gesellschaft - nämlich
durch die Auseinandersetzungen um den belgiseben König und durch die Auseinandersetzung
um die Gestaltung des belgiseben Schulwesens.
Beide Fragestellungen hatten die Relevanz der ideologische Differenzierung nachdrücklich
bestätigt. Auf diese Weise wurde den anderen gesellschaftlichen Differenzierungen weniger
Beachtung geschenkt. Die Integration der Säulen, insbesondere die Einheit der politischen
Parteien und der ihnen nahestehenden Organisationen, wurde beibehalten. Es war gewährlei-
stet, daß die Interorganisationsbeziehungen über die Grenzen der Säulen hinweg nicht
wichtiger wurden als die Interorganisationsbeziehungen innerhalb der Säulen. Damit wurde
auch gewährleistet, daß die Organisationen, welche die Säulen bildeten, ihre bisherige
Struktur beibehielten und primär belgisehe Organisationen blieben: "La question royale et Ia
question scolaire avaient profondement divise Je pays mais avaient en meme temps renforce
l"unite des partis et Organisations a structure nationale" (Mabille 1992: 322).
Nachdem die weltanschaulichen Konflikte geregelt worden waren, stellte sich die Frage
nach der Rangfolge der verschiedenen Konfliktlinien erneut. Da die weltanschaulichen
Konflikte ihre Brisanz verloren, erhielten andere Konfliktlinien eine verstärkte Bedeutung. Es
bestand die Gefahr, daß die weltanschaulichen Konflikte überschattet wurden und die
bisherigen Organisationsformen keinen Bestand mehr hatten.
Ein als deconfessionnalisation (Mabille 1992: 327) beschriebener Säkularisierungsprozeß
war geeignet, diejenigen gesellschaftlichen Spaltungen hervortreten zu lassen, welche durch
die ideologischen Konflikte bislang in Schach gehalten worden waren:
"Le pacte scolaire n'a certes pas cree !es problemes linguistiques mais il a certai-
nement contribue a permettre a l'affrontement sur ces problemes d'atteindre Je
degre d'acuite qui fut peu apres observe, des lignes d'opposition nouvelles pou-
vant desormais traverser des partis et des groupes jusque Ia beaucoup plus homo-
genes" (Mabille 1992: 32254 ).
Van den Brande systematisiert diese Überlegungen, indem er von einer grundsätzlichen
Gefahrdung der gesellschaftlichen Ordnung in Belgien für den Fall ausgeht, daß sich die drei
großen gesellschaftlichen Konflikt- und Differenzierungslinien auf zwei reduzieren und der
sprachlich-kulturelle bzw. der industrielle Konflikt vorrangige Bedeutung erlangt.
Van den Brande geht davon aus, daß für diesen Fall ein erhöhter Regelungsbedarfbesteht
Es besteht ein Bedarf an institutionellen Regelungen, die den Gefahren begegnen können, die
dadurch "drohen", daß die weltanschauliche Differenzierung ihre strukturprägende Kraft
54 Vergl. in diesem Sinne auch Pasture : " ... jusqu · en 1958, !es affrontements confessionnels empechent !es
questions linguistiques de diviser reellement Je mouvement ouvrier chn!tien. La conclusion du Pacte Scolaire
fait Iomber cette 'protection"' (1994c: 3 10).
109
verliert und zwei in ihrer relativen Bedeutung und in ihrer strukturprägenden Kraft unbe-
stimmte Konflikte die Oberhand gewinnnen.
In Bezug auf den industriellen Konflikt, in der sozio-ökonomischen Dimension gesell-
schaftlicher Konflikte, lautet die Antwort auf die deconfessionnalisation zunächst Konzertie-
rung. Van den Brande betont nachdrücklich"... the dangers of an active conflict regulation by
the cross-cutting of only two cleavages and the need for more internal regulation, i.e. for
increased concertation in the social-economic dimension" (1987: 109). Die Konzertierung
erscheint als Regelungsform, die angesagt ist, um trotz der verminderten Bedeutung der
ideologischen Differenzierung im Rahmen von Versäulung eine sozio-ökonomische und
gesamtgesellschaftliche Integration zu erreichen. Demzufolge mußte dieser Regelungsform
eine nachdrückliche Verbreitung und Formalisierung zuteil werden.
Reale Beeinträchtigungen der gesellschaftlichen Stabilität im Gefolge der deconfessionnali-
sation ergaben sich in Belgien zu Beginn der sechziger Jahre. Es zeigten sich Regionalisie-
rungstendenzen, die dem sprachlich-kulturellen Konflikt Auftrieb gaben. Dies geschah um so
nachdrücklicher als die regionalen Unterschiede durch unterschiedliche wirtschaftliche
Interessenlagen noch verstärkt wurden.
Im Winter 1960/61 fand in Belgien ein 5-wöchiger Generalstreik statt, den Mabille als "Ia
grande greve de l'hiver 1960-1961" (1992: 325) bezeichnet. Der Arbeitskampfrichtete sich
gegen ein Gesetzesvorhaben, mit dem das Ausmaß der staatlichen Kreditaufnahme begrenzt
werden sollte. Mit dem Gesetz sollte ein wichtiger Beitrag zur Gesundung der öffentlichen
Finanzen geleistet werden Es handelte sich um den projet de loi d'expansion economique. de
progres social et de redressementfinancier, kurz: loi unique.
Von diesem Gesetz waren die wirtschaftlichen Sektoren Belgiens in unterschiedlicher
Weise betroffen. Nachteile ergaben sich vor allem fiir die Schwerindustrie. Ihr sollte ein Teil
der staatlichen Unterstützung entzogen werden. Die Schwerindustrie befand sich aber
vorwiegend auf wallonischem Gebiet, so daß vor allem dieser Landesteil von den Kürzungen
betroffen war.
Im Vorfeld der Auseinandersetzungen um das Gesetzesvorhaben hatte bereits ein erhebli-
cher Strukturwandel die belgisehe Wirtschaft zum Nachteil der Schwerindustrie verändert.
Damit veränderte sich auch die wirtschaftliche Bedeutung der verschiedenen Landesteile: Es
entstand "une nouvelle geographie economique" (Mabille 1992: 323). Die Gewichte
verschoben sich zugunsten von Flandem und zu Lasten Walloniens. 1958 war Wallonien
noch die vorrangige Wirtschaftsregion, 1961 rückte Flandern an die erste Stelle.
Die besonderen regionalen Auswirkungen des wirtschaftlichen Wandels spiegelten sich
darin wieder, daß der Arbeitskampf in den verschiedenen Landesteilen eine unterschiedliche
Unterstützung fand. Während in Wallonien den Streikaufrufen gefolgt wurde, fanden diese in
den anderen Landesteilen nur einen geringen Anklang. Der Streik konnte nicht auf Flandern
und die dort ansässigen ,,modernen" Produktionszweige ausgedehnt werden. Hierzu trug auch
bei, daß der Streik von kirchlicher Seite verurteilt wurde.
110
In Wallonien entstand - Molitor zufolge - ein zunehmendes Mißtrauen gegenüber der
Bereitschaft und der Kapazität belgiseher Organisationen und Institutionen zur Regelung von
Problemen, die vor allem Wallonien betrafen. Es entstanden Bedenken" ... quant it Ia capacite
des institutions de resoudre !es problemes de Ia reconversion industrielle" (1985: 80).
Die wallonische Volksbewegung Mouvement Papulaire Walion des Sozialisten Andre
Renard befiirwortete verstärkt föderalistische Tendenzen. Diese Bewegung favorisierte die
Gründung von wallonischen "Einheitsgewerkschaften" unter sozialistischer Leitung, die vor
allem der Durchsetzung der Interessen wallonischer Arbeitnehmer dienen sollten. Die
regionale Differenzierung in ihrer sprachlich-kulturellen Ausprägung war im Begriff, die
Oberhand zu gewinnen. Die Differenzierung wurde durch die ökonomischen Disparitäten
zwischen den Landesteilen gefördert. Die säulenfcirmige Differenzierung und Integration der
belgiseben Gesellschaft sollte durch eine stärkere regionale Differenzierung konterkariert
werden.
Die regionale Differenzierung trat als weitere Regelungsform auf den Plan. Ihr entsprachen
andere Strukturformen als der Konzertierung. Seide Ordnungsformen, die Konzertierung und
die regionale Differenzierung, waren eine Antwort auf den Rückgang der Bedeutung der
ideologischen Differenzierung. Während allerdings die Konzertierung die Beziehungen
zwischen den Organisationen nur modifizierte, konnte die regionale Differenzierung dazu
führen, daß die ideologische Differenzierung vollständig in den Hintergrund geriet. So
würden dann aus zentralen Richtungsgewerkschaften regionale Einheitsgewerkschaften.
Auch innerhalb der christlichen Gewerkschaftsbewegung verstärkte sich der Wunsch nach
einer eigenständigen wallonischen lnteressenvertretung. Das MOC veranstaltete einen
Kongreß, um die besonderen Probleme der wallonischen Arbeitnehmer zu diskutieren und
daran anschließend spezielle Forderungen zu stellen. Diesen Divergenzen wurde mit ersten
Maßnahmen zu einer stärkeren binnenorganisatorischen Differenzierung entsprochen. Für die
Besetzung der Leitungsgremiums der christlichen Gewerkschaft galt bis 1959 nur die vage
Bestimmung, daß die unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Gruppierungen grundsätzlich
vertreten sein mußten (Mampuys 1994: 247). Im Jahre 1959 wurde festgelegt, in welchen
besonderen Leitungsgremien dieses der Fall sein mußte und im Jahre 1961 wurde darüber
hinaus genau bestimmt, wie hoch der Anteil der wallonischen Vertreter in den Leitungsgre-
mien zu sein hatte: Unter den 24 Mitgliedern mußten sich zumindest sieben Mitglieder
befinden, die aus Wallonien kamen. "La CSC decide que son bureau, porte a vingt-quatre
membres, doit inclure au moins sept Wallons" (Mampuys 1994: 247). Diese Quotierung
wurde damit begründet, daß im Anschluß an den Arbeitskampf gegen die /oi unique Span-
nungen zwischen den Vertretern der beiden Landesteile aufgekommen waren (vergl.
Mampuys 1994: 247).
Unter den Bedingungen der nachlassenden Bedeutung der ideologischen Differenzierung
und der zunehmender Relevanz des sprachlich-kulturellen Konflikts gewann die Konzertie-
rung an Bedeutung. Es bestand die Notwendigkeit, aufnationaler belgiseher Ebene einen Weg
111
zu weisen, den die Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Gegner im industriellen Konflikts
ebenso beschreiten konnten wie die Vertreter der verschiedenen von Föderalisierung
bedrohten Richtungsgewerkschaften. Durch die nachdrückliche Integration der verschiedenen
Konfliktpartner auf nationaler Ebene sollte diese Regelungsebene Bestätigung erfahren.
Gleichzeitig sollten die Akteure zueinander geführt werden, ohne daß eine Verschmelzung
der einzelnen weltanschaulichen Organisationen zu Einheitsgewerkschaften auf regionaler
Ebene die nationale Integration und die säulenförmige Differenzierung der Organisationen
gefährdete.
Gelegentlich wird darauf hingewiesen, daß die deconfessionnalisation, die durch die
Regelung von Schul- und Königsfrage einsetzte, nicht nur die Notwendigkeit zur Konzertie-
rung deutlich machte, sondern daß sie auch dazu beitrug, solche integrierenden Maßnahmen
zu erleichtern. Die "Säkularisierung" im Gefolge einer erfolgreichen Regelung ideologischer
Konflikte trug demnach auch dazu bei, daß die Kooperation über die Grenzen der ideologi-
schen Trennung hinaus erleichtert wurde. Mabille zufolge läßt sich in den sechziger Jahren
eine - wie er sagt - /'extension de Ia pratique du p/uralisme {1992: 340) beobachten. Der
Begriff des Pluralismus bedeutet in diesem Zusammenhang dann nicht nur, daß eine grund-
sätzliche Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen freiwilligen Organisationen besteht. Er
bedeutet auch, daß sich im Zuge der Entideologisierung verbesserte Voraussetzungen für eine
Interaktion und Kooperation zwischen den Organisationen der verschiedenen Säulen -
insbesondere auch den Richtungsgewerkschaften - ergeben. Die weltanschaulichen Unter-
schiede treten in den Hintergrund und verbessern dadurch die ohnehin schon bestehenden
Kooperationschancen. Hierdurch werden auch Maßnahmen der Konzertierung erleichtert und
gefördert. Waren es zunächst pragmatische Gründe, die dazu führten, daß die weltanschauli-
che Differenzierung zurückgestellt wurde, so hatten numnehr auch die ideologischen Inhalte
an Brisanz und Trennschärfe verloren. Sie verloren damit auch an Bedeutung zur Begründung
von Unterschieden zwischen den Richtungsgewerkschaften.
Die Konzertierung fand ihren Ausdruck vor allem im Abschluß von branchenübergreifen-
den Zentralvereinbarungen (interprofessionelle akkorde I accords interprofessionels), die im
Nationalrat der Arbeit abgeschlossen wurden.
Bei Zentralvereinbarungen ist der Staat als Normsender nur dann gefragt, wenn die über-
einstimmenden Empfehlungen der Sozialpartner ausschließlich auf dem Gesetzesweg
durchsetzbar sind, weil sie- wie etwa Empfehlungen über die Erhöhung von Familienbeihil-
fen - in den Funktionsbereich der staatlichen Sozialpolitik fallen. Sie werden dem Staat
gleichsam mit hoher normativer Verbindlichkeit zur Legalisierung überlassen:
"Le gouvernement ... etait interpelle par !es conclusions de celles-ci dans Ia mesu-
re ou certaines dispositions de I' accord - I' augmentations des allocations familia-
les notamment- impliquait son intervention" (Mabille 1992: 343).
112
Vorgaben, sondern tritt lediglich in beratender Funktion in Erscheinung. Der belgisehe Staat
gestattet es den Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.
Dementsprechend stellt Blanpain für den Zeitraum, in dem solche Vereinbarungen getrof-
fen wurden, zusammenfassend fest:
Die Zentralvereinbarungen gelten vor allem als Ausdruck der Absicht der Arbeitgeber und
der Arbeitnehmer und ihrer Verbände, die Lohn- und Arbeitsbedingungen kontinuierlich zu
verbessern, die getroffenen Vereinbarungen einzuhalten und auf diese Weise den sozialen
Frieden zu bewahren (vergl. Beaupain 1986a :169).
Im einzelnen werden den branchenübergreifenden Zentralvereinbarungen folgende Funk-
tionen zugeschrieben (vergl. Blaise 1993: 33f.):
I . Programmfunktion (programmation ).
In den branchenübergreifenden Zentralvereinbarungen werden zumeist Vereinba-
rungen übernommen, die zuvor in einzelnen Branchen erzielt worden sind. Diese
werden damit für den gesamten Wirtschaftsbereich verallgemeinert. Ebenso haben
die Zentralvereinbarungen Vorbildfunktion für die Vereinbarungen auf den nachfol-
genden Ebenen.
2. Friedensfunktion (paix sociale).
Die Arbeitgeberverbände verpflichten sich in den branchenübergreifenden Zentral-
vereinbarungen, die getroffenen Vereinbarungsinhalte bei ihren Mitgliedern durch-
zusetzen. Die Gewerkschaften verpflichten sich, keine Arbeitskampfmaßnalunen
durchzuführen, die sich auf den Inhalt der Vereinbarungen beziehen.
3. Ralunenfunktion (cadre).
Auf zentraler Ebene werden Empfehlungen für die Branchen und für die Unterneh-
men formuliert, welche die Spielräume für vertragliche Vereinbarungen in diesem
Geltungsbereich einschränken.
4. Solidaritätsfunktion (solidarite).
Es werden Vereinbarungen getroffen, welche die besondere Situation bestimmter
Arbeitnehmergruppierungen in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen berück-
sichtigen und zum Ausgleich bringen. Dies erfolgt etwa in der Form einer Vereinba-
rung über einen (teilweisen) Verzicht auf Einkommenssteigerungen im Interesse be-
schäftigungspolitischer Maßnalunen.
113
5. Legitimationsfunktion (Iegitimation).
Der Abschluß von Zentralvereinbarungen ist eine wichtige - wenn nicht die wichtig-
ste- Aufgabe der Zentralverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Der Abschluß
einer Zentralvereinbarung bestätigt, daß die Dachverbände, welche die Vereinba-
rung treffen, tatsächlich in der Lage sind, Verhandlungen erfolgreich zum Abschluß
zu bringen. Vor allem stellen die Zentralverbände mit dem Abschluß einer Zentral-
vereinbarung ebenfalls in Aussicht, daß sie ihre Mitgliedsverbände auf die verein-
barten Inhalte verpflichten können. Dieses ist keinesfalls selbstverständlich, weil
sich die in den Zentralvereinbarungen getroffenen Vereinbarungen auf ganz unter-
schiedliche Arbeitssituationen beziehen. Entsprechend schwierig ist es, die von den
Vereinbarungen betroffenen Unterverbände und deren Mitglieder auf die zentralen
Vereinbarungsinhalte zu verpflichten. Wenn dieses aber gelingt, haben die Zentral-
verbände damit den Nachweis dafür geliefert, daß sie über eine erhebliche Integrati-
onsfähigkeit verfügen (vergl. Mampuys 1994: 250).
Die branchenübergreifenden Zentralvereinbarungen kommen nur zustande, wenn sich die
Vertreter der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften auf bestimmte Ergebnisse
verständigen können. Sie setzten ebenfalls die Verständigung der Vertreter der verschiedenen
Gewerkschaften untereinander voraus.
Aus diesem Grunde sind die Zentralvereinbarungen sowohl Ausdruck stabiler Interorgani-
sationsbeziehungen zwischen den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften als auch eben
solcher Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Verbandsfoderationen. Ferner setzt der
Abschluß von branchenübergreifenden Zentralvereinbarungen eine erfolgreiche zwischenge-
werkschaftliche Kooperation voraus. Gleichzeitig werden der Verhandlung und der Vereinba-
rung solcher Vereinbarungen günstige Wirkungen für die Beziehungen zwischen den
verschiedenen Richtungsgewerkschaften zugeschrieben. So war - Mampuys zufolge - mit
dem Abschluß von Zentralvereinbarungen in den sechziger Jahren eine Verbesserung der
zwischengewerkschaftlichen Beziehungen verbunden:
"War zieh reeds in de tweede helft van de jaren vijftig aangekondigd had, brak nu
volledig door. De ondertekening op 11 mei 1960 van het eerste in een lange reeks
(tot 1975) van nationale interprofessionele akkorden, betekende niet alleen de
start van een nieuwe periode in de globale arbeidsverhoudingen in ons land, maar
ook in de verhouding tussen ACV en ABVV" (1991: 483).
Diefront commun bzw. gemeenschappelijkfront (vergl. Mampuys 1991: 484) als verfe-
stigte dauerhafte (in diesem Sinne "institutionalisierte") Form der Interaktion und Kooperati-
on zwischen den Gewerkschaften nahm also ihren Anfang auf der nationalen Ebene. Sie
bezog sich zunächst auf die Zentralvereinbarungen. Die Vertreter der Richtungsgewerkschaf-
ten stimmten ihre Forderungen aufeinander ab. Sie vereinbarten eine gemeinsame Verhand-
lungsführung und gaben den Arbeitgebern gemeinsame Bedingungen für den Abschluß von
114
Vereinbarungen: " ... !es deux grands syndicats agissent le plus souvent en front commun"
(Mampuys 1994: 245, ebenso 1991: 484).
Klein-Beaupain zufolge war in Verbindung mit der Verhandlung und dem Abschluß der
branchenübergreifenden Vereinbarungen auf Zentralebene eine zunehmende Verfestigung der
Koordination zwischengewerkschaftlicher Handlungen festzustellen. Erst waren nur gemein-
same Forderungen aufgestellt worden, später wurden sogar offizielle Vorverabredungen
getroffen:
"Au debut des annees 1960, !es organisations deposaient chacun un cahier de re-
vendications mais elles arriverent tres vite ala conc1usion qu'il etaient plus effi-
cace de proceder d'abord il une concertation et de mettre au point un cahier de re-
vendication commun" (Klein-Beaupain 1979: 41).
115
4 Gesellschaftliche Ordnung, staatliche Regelung und kollektive
Arbeitsbeziehungen im Wandel: Die Entwicklung seit den siebziger
Jahren
Bis zum Ende der siebziger Jahre war es in Belgien gelungen, die Akteure der Arbeitsbe-
ziehungen erfolgreich in eine gesellschaftliche Konfliktregelung einzubinden. Diese Einbin-
dung gelang vor allem auf der Grundlage einer staatlichen Steuerung, die den in Säulen
eingebundenen Richtungsgewerkschaften auf dem Wege der Bestimmung von Repräsentati-
vität weitreichende Kompetenzen und Privilegien einräumte.
Die drei wichtigsten gesellschaftlichen Konflikte, der sprachlich-kulturelle Konflikt, der
industrielle Konflikt und der ideologische Konflikt hielten einander in Schach, wobei der
ideologischen Differenzierung Vorrang für die Strukturbildung eingeräumt wurde. Die
staatliche Steuerung bekräftigte den Vorrang der Versäulung. Sie trug aber auch dazu bei, daß
die trennende Wirkung der Versäulung durch Interorganisationsbeziehungen eingeschränkt
wurde. Die unitarischen Strukturen der Arbeitsbeziehungen leisteten weiterhin einen Beitrag
dazu, daß die auf Versäulung aufbauenden Strukturen ihren nationalen Geltungsbereich
behielten.
Diese Form gesellschaftlicher Konfliktregelung behielt ihre Wirksamkeit, als die ideologi-
sche Bindungswirkung der Säulen nachließ und sich - vor allem durch wirtschaftliche
Disparitäten - sprachlich-kulturelle Konflikte stärker bemerkbar machten. Die zentralen
Vereinbarungen der nationalen Akteure waren weiterhin in der Lage, den sektoralen und den
betrieblichen Vereinbarungen den Weg zu weisen.
Die kollektiven Akteure regelten den industriellen Konflikt ohne substantielle staatliche
Intervention. Sie leisteten gleichzeitig einen Beitrag zur Regelung gesamtgesellschaftlicher
Konflikte, indem sie Interaktionen aufnalunen und Vereinbarungen schlossen, welche die
trennenden Wirkungen der Versäulung einschränkten und ihre zentralisierende Wirkung
verstärkten.
Die staatliche und gesellschaftliche Ordnung hatte ebenso Bestand wie die "tarifautonome"
Ordnung der Arbeitsbeziehungen. Die Akteure der Arbeitsbeziehungen trugen hierzu ebenso
bei wie der Staat, der mit den Bestimmungen über die Repräsentativität diesen Ordnungsvor-
stellungen Ausdruck zu geben in der Lage war.
116
Im folgenden wird zunächst zu zeigen sein, wie in Belgien - trotz fortschreitender Entideo-
logisierung und Säkularisierung - das Gerüst der Säulenorganisationen weiterhin Bedeutung
für die Sozialstruktur des Landes behalten konnte. Allerdings wird deutlich werden, daß die
"entideologisierten Säulenstrukturen" nicht länger verhindem konnten, daß die anderen
Konfliktlinien Verlaufsformen annahmen, die sich kaum noch an den Imperativen der
Versäulung ausrichteten. Der sprachlich-kulturelle Konflikt wurde zunehmend strukturbe-
stimmend, die Akteure des industriellen Konflikts verloren erheblich an "tarifautonomer"
Gestaltungskompetenz.
117
lijkheid", getreten. Diese Normen seien Ausdruck einer "sociaal-culturele christenheid"
(Huyse 1987: 36), die grundsätzliche, gemeinschaftsorientierte Wertbezüge betone 5 .
Diese Veränderungen im Inhalt der Mitgliedschaftsbindung trugen dazu bei, daß die Orga-
nisationen der katholischen Säule dem Vorwurf der Orthodoxie und des Anti-Modernismus
erfolgreich begegnen konnten. Die katholischen Organisationen öffueten sich für nicht-
katholische Mitglieder und Wähler.
Außerdem wurde den einzelnen Säulenorganisationen zunehmend Selbständigkeit einge-
räumt. Sie erhielten die Möglichkeit, sich weitgehend unabhängig von kirchlicher Bevormun-
dung dem sozialen Wandel anzupassen: " ... it's lay character and relative independence can
explain why the Christian labour movement was, as it were, secularised 'along with' its
surroundings" (Pasture !993b: 73).
Die Gemeinschaftorientierung in der Mitgliedschaftsbindung diente den Organisationen der
katholischen Säule nicht nur dazu, dem Vorwurf eines Modernitätsdefizits zu begegnen.
Vielmehr wurde diese Orientierung ebenfalls aufgegriffen, um einen Bezugspunkt für die
kritische Bewertung von - staatlich induzierter - Modernität im Umfeld der Säulenorganisa-
tionen abzugeben.
"Het likt bijna een complete remedie tegen alle kwalen die aan de versorgings-
maatschappij methaar bureaucratische organisatie, afhankelijkheid van deskundi-
gen, abstracte solidariteit, 'beleefde' onzekerheid, kwalitatieve ondoelmatigheid
en immoralistische consumentenethos werden toegeschreven" (Billiet/Huyse
1984: 142).
55 Hellemans verweist auf den CVP-Slogan: "Gemeinschaftlichkeit ... omdat mensen belangrijk sijn"" ( 1990:
237); vergl auch Vanderstraeten, der die Betonung solcher "Formen der Wertegeneralisierung zur Instandhal-
tung ... der verschiedenen Säulen" als Versuch interpretiert, eine theoretisch konsistente Erklärung im Rahmen
der Versäulungstheorie zu leisten (1999: 303).
118
Die katholischen Organisationen nahmen weiterhin für sich in Anspruch, dem Einzelnen
Wahlfreiheit und Beteiligungsmöglichkeiten einzuräumen und ihn gleichzeitig zur Orientie-
rung an solidarischen Wertvorstellungen anzuhalten:
"Het publieke discours van de christelijke organisalies bevat thema' s als vrije
keuze [Wahl, W.P.], participatie, inspraak, aandacht voor de totale mens, liefde-
volle dienstbaarheid, medemenselijkheid, toewijding, beschikbaarheid, rechscha-
penheit, eerlijkeit en solidariteit" (Billiet/Huyse 1984: 142).
" Hellemans zufolge verlegen sich die Organisationen " ... op de professionalisering en op de uitbreiding en
anpassing van het dienstaanbod ... " (1990: 234) Somit entsteht in Belgien eine cliiintelistische binding, die im
gesamten "corporatieve kanal (onderwijs, gezondheidszorg, vakbondswerking)" anzutreffen ist.
119
ausgerichteten Säulenorganisationen gefordert. Vielmehr wurde lediglich darauf geachtet, daß
zwischen den Orientierungen der "Verwaltungsstäbe" und den offiziellen, normativen
Ausrichtungen der Säulenorganisationen kein offensichtlicher Widerspruch bestand.
Die von Pasture für die Gewerkschaften festgestellte veränderte Form normativer Kontrolle
der hauptamtlichen Mitarbeiter war auch bei den anderen Säulenorganisationen vorzufinden:
"Loose supervision was exercised over staff providing services and salaried trade union
officers to see that they did not deviate too far from the official line of the movement"
(Pasture 1993b: 86). Für die katholische Säule wird festgestellt, daß die professionelle
Orientierung der Expertenstäbe als Bestandteil der immer allgemeiner gefaßten normativen
Orientierung der Säulenorganisationen angesehen werden kann: " ... expertise and efficiency
were seen as important 'Christian' values and as a component part of their own identity ... "
(Pasture !993b: 88).
Pasture spricht sogar von einem "paradox ofthe reversed pillar effect" (Pasture 1993b: 88).
Hiermit will er zum Ausdruck bringen, daß es möglich wurde, die Säulenorganisationen zu
nutzen, um auch denjenigen Wert- und Normvorstellungen Ausdruck zu verleihen, die
zunächst überhaupt keinen Bezug zu den überkommenen "orthodoxen" Wertbindungen
aufwiesen. Die ursprünglich weltanschaulich fundierten Organisationen dienten dann auch der
Weitergabe und Verbreitung von Orientierungen, die zunächst auf Widerspruch und Ableh-
nung stießen. Ein Paradoxon wird also darin gesehen, daß diejenigen Organisationen, die
gegründet und ausgebaut wurden, um vergleichsweise "engen" kirchlichen Weltanschauungen
Ausdruck zu verleihen, nunmehr dazu dienten, auch weitgehend professionelle Wert- und
Normvorstellungen zu verbreiten, obwohl diese zunächst im Widerspruch zu den religiösen
Normen standen: "The new interpretations of a wide variety of subjects could thus quickly be
'transported' along channels originally designed to support and maintain denominationalism
and pillarization" (Pasture 1993b: 85). Diese neuen - nicht kirchlich fundierten - Überzeugen
und Wertvorstellungen stellten in gewisser Weise den "neuen Wein" dar, den man in die
"alten Schläuche" zu gießen verstand. Damit erhielten die neuen Orientierungen eine
wirksame Vermittlungsform und die alten Strukturen behielten ihre Bestandsberechtigung.
Die Befunde, die eine zunehmende Säkularisierung, Professionalisierung und Modernisie-
rung der Säulenorganisationen betonen, können eine Erklärung für die Stabilität der Intraor-
ganisationsbeziehungen in den einzelnen Säulenorganisationen leisten. Sie eignen sich aber
nicht dazu, die Stabilität der Beziehungen zwischen den Organisationen innerhalb einer
bestimmten Säule zu verdeutlichen: "Kortum, de modemisering van de organisalies verklaart
wel de vitaliteit van vele zuilorganisaties, maar niet echt de taaiheid [Beharrlichkeit, W.P.]
van het netwerk" (Hellemans 1990:236).
120
Hellemans gibt allerdings mit der Verwendung des Begriffs netwerk bereits einen Hinweis,
worauf die Konsistenz der "Säulen" zurückzuführen ist57.
Deutlicher noch wird die Art der internen Integration und die Form ihrer externen Unter-
stützung von Huyse hervorgehoben, wenn er die (ehemaligen) Säulen als politische Konzerne
(politieke concerns) bezeichnet. Huyse zufolge entwickeln sich die ehemaligen Säulenorgani-
sationen immer mehr zu organisatorischen Einheiten, deren Beziehungen zueinander mit den
Beziehungen von Unternehmungen in einem wirtschaftlichen Konzern verglichen werden
können. Die Konzerntöchter behalten zwar einen Teil ihrer Selbständigkeit, sie werden aber
einheitlich koordiniert. Sie werden dadurch zusammengehalten, daß ihre Mitglieder über die
Grenzen der eigenen Organisation hinweg Einfluß nehmen und sie sich hierbei aufbestimmte
gemeinsame Symbole beziehen. Was verbindet ist: "Macht, prestige, invloed, de 'merknam'
(katholiek, sozialistisch)" (Huyse 1987: 60). Es bestehen informelle Kontakte zwischen den
einzelnen Organisationen. Diese können wechselseitig nutzbar gemacht werden, ohne daß die
Ressourcen für die Einflußnalune im einzelnen transparent werden58 •
Die als politische Konzerne bezeichneten Verbindungen von Organisationen versuchen in
ähnlicher Weise wie wirtschaftliche Organisationen, sich zu einer Oligopolistischen Kartellab-
sprache zusammenfinden:
Die politischen Konzerne sind bemüht, die Möglichkeit einer Mobilität zwischen den
"Säulen" zu erschweren. Sie tendieren dazu, Exit-Optionen zu verhindern, obwohl die
Veränderungen in den normativen Grundlagen der MitgliedschafteD hierzu verleiten könnten.
Die Handlungsalternativen der klientelistisch gebundenen Mitglieder werden durch admini-
strative Maßnalunen einzuschränken versucht. Bei einem Wechsel zu nicht-oligopolistischen
Organisationen oder auch nur zu Organisationen des jeweils anderen politischen Konzerns
entstehen erhebliche Kosten.
"In tal van sectoren is er geen echte exit-optie omdat de politieke concerns een
quasi-monopolie bezitten. Oe mensen kunnen bijgevolg niet zomaar uit het 'ver-
zuild' organisatiewezen stappen. War iemand wel kan doen is de straat overste-
ken, van het ene naar het andere concern. Maar ook dat wordt door de omschake-
lingskosten, materiele en andere, ontmoedigd" (Huyse 1987: 67).
57 Hellemans verwendet ebenfalls die Bezeichnung neo-zuilen, um auf die Veränderungen in den Interorganisati-
onsbeziehungen innerhalb der (ehemaligen) Säulen aufmerksam zu machen.
""black box van de canape-politiek" (Huyse 1987: 51)
121
In welchem Ausmaß solche Kostenkalküle für die Kontinuität und den Wandel der Präfe-
renzen für die jeweiligen "politischen Konzerne" verantwortlich zu machen sind, zeigt sich in
der unterschiedlichen Bereitschaft der Mitglieder, ihren Dissens mit der Politik der Organisa-
tionen eines politischen Konzerns kund zu tun. Die Mitglieder sind eher bereit, den katholi-
schen Säulenorganisationen bei Wahlen die Zustimmung zu verweigern als ihre Mitglied-
schaft in diesen Organisationen aufzukündigen 59 •
Die politische Konzerne entwickeln also Strategien der Marktabschirmung. Sie bauen
Zugangsschwellen (toetredingsdrempels) aufund definieren besondere Voraussetzungen, von
deren Erfüllung die Übernahme bestimmter Funktionen abhängig gemacht wird. Hierbei
handelt es sich um Voraussetzungen, die ausschließlich auf die Organisationen Anwendung
finden, welche in den ehemaligen Säulen zusammengefaßt worden sind. Im Bereich der
Arbeitsbeziehungen ist es das Merkmal der Repräsentativität, auf dessen Grundlage sich die
Gewerkschaften einen exklusiven Zugang zu politischem Einfluß und zu finanziellen
Ressourcen verschaffen. Die Untersuchung der Mechanismen, die der Bindung an die
Organisationen dienen, führt zurück zur Bestimmung der Repräsentativität sowie der
Kompetenzen und Privilegien, die hieran angeschlossen sind. Sie führt zum Staat, der diese
Bestimmung vornimmt und daran die Ausstattung mit Ressourcen anschließt.
59 Vanderstraeten macht in seiner "funktionalen Analyse" (1999: 310) zwar auf ähnliche Prozesse aufmerksam,
ist aber der Ansicht, daß die in Säulen zusammengefaßten Organisationen zunehmend ihre Autonomie
beanspruchen und auch gegen die Säulen durchsetzen. Die "Enttraditionalisierung" sei durch "Wertegenerali-
sierung" nicht aufzuhalten. Nur bei professionellen Dienstleistungen biete sich noch die Möglichkeit, einer
ideologischen Färbung, weil sie einen direkten Kontakt zwischen Trägern von Leistungsrollen (Professionel-
len) und Komplementärrollen (Laien, Klienten) voraussetzten. Allerdings verselbständigten sich die Träger
von Leistungsrollen im Zuge ihrer Professionalisierung. Ebenso entzögen sich andere Funktionssysteme
(Wirtschaft, Wissenschaft) dem Zugriff der Säulen, weil sie eine andere "operationale Logik" aufwiesen.
Vanderstraeten veranschaulicht seine Ausführungen am Beispiel der katholischen Säule. Für eine Auseinan-
dersetzung zwischen einer "funktionalen Analyse" und der "Versäulungstheorie" wäre eine Untersuchung
weiterer Säulen hilfreich. Dies gilt insbesondere fiir die These von der unzureichenden Kontrollierbarkeit
wirtschaftlicher Funktionssysteme durch säulenspezifische Regelungsformen.
122
sorgt dafür, daß sie sich für immer weiter expandierende Dienstleistungen finanzielle Mittel
beschaffen können.
Hierbei gerät- so meint Huyse allerdings feststellen zu können- der Staat immer mehr in
die Defensive. Er stellt sicher, daß die finanziellen Ressourcen verfügbar sind, hält sich aber
zurück, wenn es darum geht, die (substantielle) Ausgestaltung der Politikinhalte vorzuneh-
men: "De overheid speelde in hit bondgenootentschap met de politieke concerns trouwens een
eerder passieve rol: betalen en zwijgen" (Huyse 1987: 69).
Es wird zu zeigen sein, daß diese Aussage für den Bereich der Arbeitsbeziehungen nur
bedingt zutrifft. Die Bereitschaft und Fähigkeit des Staates "zu bezahlen und zu schweigen"
sind nicht unabhängig von den Inhalten, auf die sich die Akteure der politischen Konzerne
verständigen. Der Staat schreckt keinesfalls davor zurück, auch auf die Inhalte der Vereinba-
rungen, welche die politischen Konzerne treffen, Einfluß zu nehmen.
Die Untersuchung der Veränderungen in den Intra- und Interorganisationsbeziehungen der
Säulen der belgischen Gesellschaft erfolgte, um der Frage nach den Auswirkungen dieser
Veränderungen auf die Regelung anderer sozialer Konflikte in der belgischen Gesellschaft
nachgehen zu können. Hat eine Entwicklung von Säulen zu "politischen Konzernen" zur
Folge, daß davon der Beitrag der entsprechend koordinierten Organisationen zur Regelung
staatlicher und gesellschaftlicher Konflikte betroffen ist oder hat eine solche Veränderung
keine Auswirkungen dieser Art? Gelingt die Einschränkung sprachlich-kultureller Konflikte
auch noch dann, wenn die Bindungen innerhalb der Säulen und ihrer Organisationen geringer
oder zumindest weniger spezifisch werden? Gelingt es, den industriellen Konflikt weiterhin in
einer zentralisierten Form zu regeln oder zeigen sich Formen der Regionalisierung, die
Ausdruck davon sind, daß der sprachlich-kulturelle Konflikt an Durchschlagskraft gewonnen
hat?
Weiterhin steht zur Diskussion, ob sich der Anteil der verschiedenen Akteure an der Rege-
lung des industriellen Konflikts verändert, nicht nur im Sinne der Verschiebung von einer
zentralen zu einer regionalen Entscheidungsebene, sondern auch im Sinne einer Veränderung
der Kompetenzverteilung zwischen den zentralen Akteuren, insbesondere also zwischen dem
Staat und den Verbänden. Die Beantwortung dieser Frage kann dann wiederum in Zusam-
menhang mit den Zielsetzungen gestellt werden, die der Staat festgelegt hat. Sie kann
weiterhin bezogen werden auf die Mittel, mit denen der Staat seine Zielsetzungen verfolgt
bzw. auch auf die Wirkungen, die sich hieran anschließen. Die intendierten, nicht-intendierten
oder paradoxen Wirkungen staatlicher Steuerung finden so Beachtung.
123
konnte dem durch Modifikationen der unitarischen Struktur entsprochen werden. Diese
hielten sich im Rahmen der zentralorientierten Grundstrukturen.
In den siebziger Jahren verstärkten sich die wirtschaftlichen Probleme Belgiens erheblich
(vergl. Mabille 1997: 361ff.).
Die Wirtschaftskrise führte Mitte der siebziger Jahre zu einem Anstieg der Inflationsrate,
einem erhöhten Defizit der öffentlichen Haushalte sowie zu einer drastischen Erhöhung der
Arbeitslosenzahlen. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise interessieren in diesem Zusam-
menhang vor allem deshalb, weil die verschiedenen Regionen in einem unterschiedlichem
Ausmaß von dieser Krise betroffen wurden 60 •
Die unterschiedliche Betroffenheit durch die Folgewirkungen der Wirtschaftskrise ver-
schaffte dem sprachlich-kulturellen Konflikt einen erheblichen Auftrieb. Die Diagnose,
Interpretation und Therapiekonzeption wirtschaftlicher Probleme erhielt zunehmend eine
"dimension communautaire" (Mabille 1997: 373).
Die unterschiedliche Betroffenheit durch die wirtschaftliche Krise verstärkte die Bereit-
schaft der Landesteile, die besonderen Probleme der Wirtschaftsregion auch regionalspezi-
fisch zu regeln und die regionale Ebene hierzu mit Kompetenzen auszustatten. In Flandern
verstärkte sich die Neigung, den eigenen Landesteil als eine eigenständige Sprach- und
Kulturgemeinschaft anzusehen und abzugrenzen. Auch Wallonien betrachtete sich zuneh-
mend als eine Schicksalsgemeinschaft, deren Gemeinsamkeiten durch die nachteilige
wirtschaftliche Entwicklung zugenommen hatten61 . In Wallonien wurde die Zielsetzung
verfolgt, die überkommenen Wirtschaftsstrukturen mit staatlicher Unterstützung aufrecht zu
erhalten.
Von flämischer Seite wurde dagegen immer häufiger die Forderung erhoben, in Flandern
erwirtschaftete Geldmittel nicht mehr zur Unterstützung von Industriezweigen heranzuziehen,
die in Wallonien Krisensymptome zeigten. Es wurde zwischen einer flämischen und einer
wallonischen Wirtschaftskraft und Krisenbetroffenheit unterschieden. Der Transfer von
Ressourcen von Flandern nach Wallonien führte in Flandern zunehmend zu Akzeptanzpro-
blemen " ... convaincue que !es aides it l'industrie wallone sont financees par un effort
flamand" (Mabille 1997: 372).
In beiden Teilen des Landes verstärkte sich der Wunsch nach mehr Entscheidungsautono-
mie.
60 Die unterschiedliche Betroffenheit der verschiedenen Landesteile durch die Wirtschaftskrise resultierte aus der
unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur der Landesteile, auf die bereits hingewiesen wurde. Die vorrangig in
Wallonien ansässigen Industriezweige (Bergbau, Stahlindustrie und metallverarbeitende Industrie) wurden von
der Krise besonders nachhaltig getroffen. Flanderns Wirtschaft konnte den Krisensymptomen besser begeg-
nen. Sie erlangte eine größere wirtschaftliche Bedeutung als die Wirtschaft Walloniens: " ... Ia Flandre devenait
Ia premio~re n!gion industrielle dans Je cadre national, offrant en fm de campte un profil plus diversifie que Ia
Wallonie" (Mabille 1997: 371).
61 "communaute de destin economique" (Mabille 1997: 373)
124
Die wirtschaftlichen Probleme verstärkten also die sprachlich-kulturellen Unterschiede und
damit die Bedeutung dieser Konfliktlinie. Der sprachlich-kulturelle Konflikt übertraf die
anderen Konflikte an Bedeutung, weil er sich zunehmend als wirtschaftlicher Konflikt
darstellen ließ. Die Folge war eine Veränderung in der Hierarchie der Konflikte62 •
Eine weitere Folge war eine Veränderung in der Konfiguration der politischen Akteure und
der kollektiven Akteure der Arbeitsbeziehungen. Es wird zu zeigen sein, in welcher Weise die
Akteure dem Differenzierungsdruck, der von dem sprachlich-kulturellen Konflikt ausging,
durch eine organisatorische Differenzierung zu entsprechen versuchten.
Der sprachlich-kulturelle Konflikt wurde also durch die regionalen Disparitäten in der
wirtschaftlichen Entwicklung erheblich verstärkt. Ihm konnte aber - und hierdurch ergab sich
eine weitere Komplikation - nicht einfach durch eine regionale Differenzierung der Kon-
fliktverläufe bzw. der Organisationsstrukturen entsprochen werden. Sprachlich-kulturelle
Konflikte waren nicht identisch mit den Konflikten zwischen den Belgiern, die in Flandem
oder in Wallonien lebten. "Das klassische, vereinfachende Bild von Belgien sieht das Land in
eine niederländischsprachige nördliche Region (Flandern) und eine französichsprachige
südliche Region (die Wallonie) eingeteilt" (Koecke 1994: 15). Tatsächlich aber bestand eine
weitergehende Schwierigkeit darin, daß Brüssel zweisprachig ist und in Belgien zusätzlich
eine deutschsprachige Kulturgemeinschaft besteht, der vor allem im politischen Raum
Ausdrucksmöglichkeit gegeben werden mußte. Insofern ging es nicht nur darum, die
Einflußverteilung zwischen den Akteuren in den beiden großen Regionen zu verändern.
Vielmehr mußte zusätzlich einer sprachlich-kulturellen Differenzierung Ausdruck verliehen
werden, die nicht der regionalen Differenzierung entsprach (vergl. auch Rudd 1986: 136).
02 So stellt Rudd fest, daß sich die wirtschaftliche und die sprachlich-kulturelle Konfliktlinie teilweise überlagern
und hieraus ein Wandel in der Rangordnung der Konfliktlinien resultiert ". .. a partial coincidence of the
economic and community cleavages ... a change in the cleavage configuration ... a change in the hierarchy of
salient cleavages" (1986: 136 u. 139).
125
Bemühungen der wallonischen sozialistischen Gewerkschaften vorausgegangen, den
wallonischen Flügel der sozialistischen Partei zu einer stärkeren Berücksichtigung spezifisch
wallonischer wirtschaftlicher Interessen zu bewegen.
Diese Bemühungen resultierten auch daraus, daß der wallonische Teil der sozialistischen
Partei die Arbeitskämpfe in den Jahren 1960/61 nur sehr zurückhaltend befürwortet hatte.
Dies führte dazu, daß sich ein Teil der wallonischen sozialistischen Gewerkschaften der
wallonischen Sammlungsbewegung rassemblement wallon (RW) zuwandten, weil die
Gewerkschaften in dieser Sammlungsbewegung ein geeignetes Sprachrohr für ihre Interessen
sahen:"... many socialist trade unionists looked at the RW as an alternative political outlet for
their discontent" (Rudd 1986: 131). Die wallonische Sammlungsbewegung wurde zu einer
Konkurrenz für die sozialistische Partei in Wallonien63 • Der wallonische Flügel der sozialisti-
schen Partei verstärkte daraufhin seine Bemühungen um eine besondere Interessenvertretung
des Landesteils, wodurch die Entwicklung zu einer separaten wallonischen sozialistischen
Partei aber nur aufgeschoben nicht aber aufgehoben wurde.
Die sozialistische Partei Walloniens hoffte, als eigenständige Partei in einem eigenen
Landesteil stärkeren Einfluß ausüben zu können als innerhalb einer belgiseben sozialistischen
Partei in einem zentralisierten Staatsgebilde. Die belgisehe Regierung wurde nämlich fast
ausnahmslos von der christlichen Volkspartei dominiert.
"The Francophone Socialists also saw the potential ofbecoming the dominant po-
litical force in a Walloon region, free from a centrat government dominated by
Christian-Socials. The PS has subsequently taken a much more hard-line stance in
defence ofWalloon economic interests" (Rudd 1986: 131).
Der beschriebene Differenzierungsdruck fand vor allem dadurch seinen Ausdruck, daß
versucht wurde, durch Staatsreformen64 den komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen
durch Dezentralisierungen und Differenzierungen auf staatlicher Ebene zu entsprechen (vergl.
hierzu Koecke 1994 und Mörsdorf 1996).
Die Differenzierungen und Dezentralisierungen wurden auf der Ebene der Regionen und
auf der Ebene von Gemeinschaften vorgenommen. Die Unterscheidung verschiedener
Regionen Belgiens knüpfte an die territoriale Gliederung des Landes an, die Unterscheidung
verschiedener Gemeinschaften bezog sich auf die spachlich-kulturelle Zuordnung einzelner
Personen. Somit wurde einmal unterschieden zwischen den Regionen Flandern, Wallonien
und Brüssel. Weiterhin wurde unterschieden zwischen einer flämischen Kulturgemeinschaft,
d.h. den Einwohnern der Region Flandem und allen niederländisch-sprachigen Einwohnern
von Brüssel, einer französisch-sprachigen Gemeinschaft, d.h. den Einwohnern Walloniens
63 Die wallonische Sammlungsbewegung rassemb/ememant wallon war in den siebziger Jahren die zweitstärkste
politische Kraft Walloniens (vergl. Mabille 1997: 369).
64 insbesondere in den Jahren von 1971 und 1993
126
(mit Ausnahme der deutschsprachigen Belgier) und allen frankophonen Einwohnern von
Brüssel sowie einer deutschsprachigen Gemeinschaft, d.h. allen Einwohnern Belgiens, die
deutsch sprechen.
Diese sechs verschiedenen Untereinheiten Belgiens erhielten insgesamt fünf Parlamente
und Regierungen. Die Region Flandem und die niederländisch - sprachige Gemeinschaft
erhielten eine gemeinsame parlamentarische Vertretung und eine gemeinsame Regierung
(vergl.: Koecke 1994: 18).
Die Regionen erhielten im Zuge der Reformen weitgehende Entscheidungskompetenzen
auf Sachgebieten, die mit der Nutzung von Grund und Boden zu tun hatten, also auf dem
Gebiet der Raumordnung, dem Städtebau, dem Umweltschutz, dem Ausbau der Wasserwege,
der Landwirtschaft, der Energiepolitik und dem Außenhandel. Ein bemerkenswerter Kompe-
tenzzuwachs der Regionen erfolgte dadurch, daß ihnen die Befugnis erteilt wurde, internatio-
nale Verträge abzuschließen.
Die Befugnisse der Gemeinschaften erstreckten sich auf diejenigen Bereiche, von denen die
Mitglieder der Gemeinschaft als "Sprachpersonen" (Koecke 1994: 20) betroffen waren,
insbesondere auf das Unterrichtswesen, die Medien, das Gesundheitswesen und den Jugend-
schutz.
Der zentralen belgischen Entscheidungsebene oblag weiterhin die Steuer- und Finanzho-
heit, die Landesverteidigung sowie die Vertretung des Landes gegenüber der EU und der
NATO. Die Abgabe von weiteren Entscheidungskompetenzen an die Regionen und Gemein-
schaften in den Bereichen Justiz und soziale Sicherheit wird gegenwärtig erwogen.
Ein wichtiger Unterschied zwischen dem belgischen und dem deutschen Föderalismus
besteht folglich darin, daß im deutschen System die Regionen (bzw. die Länder) sowohl
territorialbezogene als auch personenbezogene Befugnisse wahrnehmen. In Belgien werden
hingegen die entsprechenden Befugnisse entweder durch die Regionen (territorialbezogene
Komponenten) oder durch die Gemeinschaften (personenbezogene Komponenten) wahrge-
nommen. Ein weiterer Unterschied zwischen Belgien und Deutschland besteht darin, daß die
Zentralebene in Belgien durch die Föderalisierung_ insgesamt bereits mehr Kompetenzen
abgegeben hat als dies in Deutschland der Fall ist.
"Der belgisehe Föderalstaat ist auf dem Wege, nur noch das Skelett, die tragenden
Säulen staatlicher Politik zu repräsentieren, während das 'Fleisch', der 'Inhalt'
immer mehr in die Befugnis der Regionen und Gemeinschaften übergeht" (Koek-
ke 1994: 20).
127
Weiterhin stellt sich die Frage, wie der Staat gegebenenfalls auf entsprechende Verände-
rungen reagierte und ob sich Veränderungen in der Kompetenzverteilung zwischen den
verschiedenen kollektiven Akteuren der Arbeitsbeziehungen, insbesondere zwischen den
Sozialpartnern und dem Staat, ergaben.
Die Gewerkschaften unterlagen den Regionalisierungs- und Föderalisierungstendenzen nur
in einem begrenztem Ausmaß. Im Jahr 1978 richtete die sozialistische Gewerkschaft
ABVV/FGTB als erste eine branchenübergreifende Entscheidungsebene für die Regionen
Wallonien, Flandem und für Brüssel ein Unterregionale wallonne, flamande et brnxelloise).
Die christliche Gewerkschaft ACV/CSC folgte der sozialistischen Gewerkschaft in dieser
Hinsicht. Im Jahr 1984 wurden die seit 1978 eingerichteten Comites regionaux wallon,
j/amand et brnxelloise ebenso satzungsgemäß verankert wie die Einrichtung eines comite
communautaire francophone (vergl. Arcq I Blaise 1999: 16 sowie Beaupain 1984b: 43 und
Mampuys 1994: 247). Die ACV/ CSC blieb aber stärker zentralisiert als die sozialistische
Gewerkschaft. Dies wird vor allem dadurch belegt, daß die Streikkasse beim belgischen
Dachverband der christlichen Gewerkschaften verbleibt, während sie bei den sozialistischen
Gewerkschaften von den Einzelgewerkschaften verwaltet wird.
Im Unterschied zu den beiden großen Gewerkschaften wurden beim liberalen Gewerk-
schaftsverband lange Zeit keine formalen Veränderungen im Sinne einer organisatorischen
Dezentralisierung und Differenzierung vorgenommen. Der liberale Gewerkschaftsbund
ACLVB/CGSLB blieb zunächst streng unitarisch (vergl. Blaise 1989: 13)65 .
Die überwiegende Mehrzahl der Berufs- und Branchengewerkschaften, die in den beiden
großen Gewerkschaftsföderationen zusammengefaßt war, behielt ihre zentralisierte Organisa-
tionstruktur. Manche Einzelgewerkschaften bildeten ebenfalls eine zusätzliche regionale
Entscheidungsebene aus und behielten ihre zentrale belgisehe Ebene. Als wichtige Ausnahme
wird in der Literatur die im ACV/CSC föderierte Angestelltengewerkschaft genannt: Die
Centrate d'Employes de Ia CSC bildete zwei neue regionale Zentren aus: "Ia Landelijke
Bedienden Centrate (LBC) au nord du pays et Ia Centrate des employes (CNE) au sud"
(Blaise 1989: 20). Diese ersetzten die einheitliche belgisehe Zentrale der Gewerkschaft.
Somit läßt sich zusammenfassend feststellen, daß die belgischen Gewerkschaften zwar
ebenfalls dem Differenzierungsdruck nachgaben, der von dem wirtschaftlich verstärkten
sprachlich-kulturellen Konflikt ausging. Im Unterschied zu den politischen Parteien und auch
im Unterschied zu den staatlichen Dezentralisierungs- und Föderalisierungsprozessen wurde
aber der unitarische belgisehe Charakter der Organisationen beibehalten. Wichtige Entschei-
dungen von grundsätzlicher Bedeutung wurden weiterhin auf der Zentralebene getroffen. Die
65 Erst 1989 wurde vor allem aufDruck von wallonischer Seite eine regionale Differenzierung fiir Wallonien und
Flandem vorgenommen, die 1998 durch eine gleiche Einrichtung fiir Brüssel ergänzt wurde (vergl.
Arcq/Blaise 1999: 16).
128
Gewerkschaften konnten und können weiterhin als einheitliche belgisehe Organisationen
angesehen werden:
" ... the trade unions nowadays count among the mere 'unitary' forces ofBelgium.
Until the present day, the formulation of union ideology, fundamental objectives
and programrnes have continued to take place at national Ievel" (Pasture 1996: 93;
vergl. auch: Mampuys 1994: 247).
Differenzierungen und Dezentralisierungen, wie sie fiir die politischen Parteien und fiir die
staatlichen Organisationen festgestellt wurden, können im Bereich der Arbeitsbeziehungen
auch dadurch erfolgen, daß auf regionaler Ebene Interorganisationsbeziehungen zwischen den
Richtungsgewerkschaften aufgenommen werden.
Erwartungsgemäß waren solche zwischengewerkschaftlichen Beziehungen vor allem in
Wallonien vorzufinden. Am Ende der siebziger Jahre bildeten die beiden großen Gewerk-
schaften einefront commun wallon (1979-1983). Diese Interorganisationsbeziehungen galten
als eine besonders elaborierte Form gewerkschaftlicher Zusammenarbeit. Ihre Aufgabe war
es, auf zentraler belgiseher aber auch auf wallonischer Ebene gegenüber den Arbeitgebern
und dem Staat spezifische wallonische Arbeitnehmerinteressen zu vertreten. Die front
commun wallon war auch bemüht, die Dezentralisierung der staatlichen Organisationen zu
verstärken. Als Zielsetzung wurde "... Ia cn!ation des institutions politiques nouvelles
attendues du processus de reforme de I 'Etat" (Arcq/Blaise/Mabille 1986: 19) angegeben.
Einer gemeinsamen Proklamation der beiden Gewerkschaften im Jahre 1979 folgte im
Jahre 1981 die Ausarbeitung eines gemeinsamen Programms. Arcq/Blaise/Mabille unterstrei-
chen die enge Bindung beider Gewerkschaften, indem sie ihre wechselseitige Beziehung als
"quasi-institution" (1986: 19; vergl. auch Arcq/Blaise 1986: 23) einstufen.
Eine wichtige Voraussetzung dafiir, daß eine befristete zwischengewerkschaftliche Koope-
ration auf der regionalen wallonischen Ebene gelang, war, daß sich die Mitgliederzahlen der
beiden großen Gewerkschaften in Wallonien aneinander anglichen. Der Anteil der in
Wallonien bislang eindeutig dominierenden sozialistischen Gewerkschaften an der Gesamt-
zahl der Gewerkschaftsmitglieder dieser Region nahm ab. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich
der Anteil der christlichen Gewerkschaften. Diese Angleichung in den Größenverhältnissen
begünstigte die Bereitschaft zur zwischengewerkschaftlichen Zusammenarbeit 66 • Im Unter-
schied dazu machten die wachsenden Unterschiede zwischen den beiden großen Gewerk-
schaften in Flandem eine solche Zusammenarbeit immer weniger wahrscheinlich. Hier baute
die christliche Gewerkschaft ihren Vorsprung immer weiter aus (vergl. Abbildung 2).
66 " ••• a pu rendre convergent l'interet que trouvent les deux Organisations a agir ensemble" (Arcq/Blaise 1986:
23)
129
Abbildung 2: Belgien- Verteilung der Mitglieder der Gewerkschaften auf die Regio-
nen67
ABVV-FGTB ACV-CSC ACL VB-CGSLB Insgesamt
Flandern (abs.) 476.312 864.523
1980(%) 42,27 68,48
Wallonien (abs). 485.240 254.341
1980(%) 43,06 20,14
Brüssel (abs.) 165.262 143.547
1980(%) 14,66 11,73
Belgien (abs.) 1.126.814 1.262.411
1980 (%) 100 100
Flandern (abs.) 470.561 934.220
1985 (%) 42,9 68,3
Wallonien (abs.) 468.256 271.847
1985 (%) 42,7 19,9
Brüssel (abs.) 158.777 161.325
1985 (%) 14,5 11,8
Belgien (abs.) 1.097.594 1.367.589 210.936 2.676.119
1985 (%) 100 100 100 100
Flandern (abs.) 454.397 984.719
1990(%) 44,8 68,8
Wallonien (abs.) 418.204 290.638
1990(%) 41,2 20,3
Brüssel (abs.) 141.464 155.214
1990(%) 13,9 10,8
Belgien (abs.) 1.097.594 137.589 213.098 2.657.734
1990(%) 100 100 100 100
67 nach: Vilrokx I Van Leemput 1992: 368 und van Haegendoren/Vandenhove 1983: 655
130
Gewerkschaften Rücksicht auf ihre Dachverbände und deren Bindungen an die politischen
Parteien bzw. an die belgiseben Regierungen nehmen mußten.
Die wallonischen sozialistischen Gewerkschaften forderten ein gemeinsames Vorgehen der
front commun wallon gegenüber der belgiseben Regierung. Dieser Regierung gehörte die
sozialistische Partei zu der Zeit, zu der diese Forderung erhoben wurde, nicht an.
Im Unterschied dazu hielten es die christlichen Gewerkschaften für erfolgversprechender,
über die ihnen nahestehende christliche Volkspartei auf die belgisehe Regierung einzuwirken
als einen Konfrontationskurs gegenüber der belgiseben Regierung zu verfolgen. Erfolgver-
sprechender war diese Iobbyistische Einflußnahme deshalb, weil die christliche Volkspartei
Regierungspartei war.
Während sich also die gegenseitige Annäherung der Gewerkschaften in den Größenverhält-
nissen auf die zwischengewerkschaftlichen Beziehungen vorteilhaft auswirkte, wurden diese
Beziehungen erheblich dadurch erschwert, daß sich die sozialistische Partei in der Opposition
befand. Dies ermutigte nämlich die sozialistischen Gewerkschaften zu Handlungen, die sie in
Widerspruch zur Regierungspolitik brachten. Die christlichen Gewerkschaften hingegen
waren aus Rücksichtnahme auf die ihnen nahestehende Regierungspartei auf Formen
lobbyistischer Intervention festgelegt. Hierdurch gerieten die beiden großen Gewerkschaften
in Gegensatz zueinander.
Die Kommentatoren der Entwicklung der belgiseben Arbeitsbeziehungen schließen daraus,
daß die Bildung einer front commun grundsätzlich schwerer falle, wenn sich die sozialisti-
schen Parteien in Opposition zur einer Regierung mit christlich-demokratischer Beteiligung
befänden (Arcq/Blaise 1986: 23).
Die Bemühungen der sozialistischen Gewerkschaft um einen relais politique führten 1985
sogar zu einer Vereinbarung zwischen der sozialistischen Partei PS sowie dem wallonischen
und dem Brüsseler Flügel der sozialistischen Gewerkschaft.
Dieser Vereinbarung wird aus zwei Gründen Originalität zugesprochen:
Es handelte sich um die erste Vereinbarung einer gewerkschaftlichen Organisation mit
einer politischen Partei auf der Grundlage eines bestimmten Regierungsprogramms. Es war
weiterhin das erste Mal, daß eine fraction communautaire des gewerkschaftlichen Dachver-
bands in eine solche Vereinbarung ausdrücklich eingebunden wurde. Luci betont, daß mit
einer solchen expliziten Übereinkunft zwischen einer politischen Partei und einer Gewerk-
schaft die offizielle Demarkationslinie zwischen der parteipolitischen und der gewerkschaftli-
chen Handlungsweise überschritten worden sei (1985: 18).
Die Übereinkunft zwischen der sozialistischen Gewerkschaft und der wallonischen soziali-
stischen Partei ließ sich auch dadurch rechtfertigen, daß sie als ein Instrument zur Wiederher-
stellung der damals eingeschränkten gewerkschaftlicher Handlungsfreiheit mit politischen
131
Mitteln angesehen werden konnte. Wenn erst einmal - so die Argumentation der sozialisti-
schen Gewerkschaft - die tarifpolitische liberte d 'action wiederhergestellt sei, so sei man auch
dem Ziel der gewerkschaftlichen Handlungsfreiheit ein Stück näher gekommen. Damit wäre
dann auch wieder die Möglichkeit zu einer prinzipiell erwünschten, deutlichen Grenzziehung
zwischen dem politischen und dem gewerkschaftlichen Handlungssystem gegeben.
Die Auswirkungen des beschriebenen Wandels von den Säulen zu den politischen Konzer-
nen auf die Arbeitsbeziehungen waren also nicht einheitlich. Es kann einerseits davon
ausgegangen werden, daß die ideologische "Entsäulung" mit dazu beigetragen hat, die
sprachlich-kulturellen Konflikte stärker zum Ausdruck kommen zu lassen und die anschlie-
ßenden strukturellen Differenzierungen zu fördern. Die ideologischen Differenzierungen
waren nicht mehr in der Lage, den Säulen dasjenige Ausmaß an normativer Konsistenz zu
geben, das entscheidend dazu hätte beitragen können, die beschriebenen Differenzierungs-
und Dezentralisierungstendenzen aufzuhalten.
Die ideologisch "entsäulten" Organisationen behielten ihre Bedeutung, allerdings auf der
Grundlage veränderter Mitgliedschaftsbindungen. Sie vermochten jedoch in einem weitaus
geringeren Ausmaß, den wirtschaftlich bedingten sprachlich-kulturellen Differenzierungs-
und Dezentralisierungsbestrebungen standzuhalten. Die politischen Parteien formierten sich
neu. Sie paßten sich den veränderten Zuschnitten kompetenten Regierungshandeins an. Die
Gewerkschaften konnten den Dezentralisierungsdruck durch innerorganisatorische Differen-
zierung abfangen. Sie blieben unitarisch. Die Versuche, auf regionaler Ebene zwischenge-
werkschaftliche Beziehungen auf Dauer zu stellen, scheiterten an den Vorgaben der Zentrale-
benen der Gewerkschaften. Die zentralen Gewerkschaftsföderationen befürchteten, daß ihre
Zielsetzungen durch regionale zwischengewerkschaftliche Beziehungen gefährdet werden
könnten.
Um eine Beurteilung der Wirkungen staatlicher Steuerungsmaßnahmen vornehmen zu
können, ist allerdings weiterhin zu untersuchen, wie sich die staatliche Steuerung auf die
Interorganisationsbeziehungen auswirkte. Hierbei sind nicht nur die Interorganisationsbezie-
hungen zwischen den Gewerkschaften von Bedeutung, sondern auch die Interorganisations-
beziehungen zwischen den Gewerkschaften und den staatlichen Akteuren.
Der Konzeption der verschränkten Versäulung entsprachen Interorganisationsbeziehungen
innerhalb und zwischen den Säulenorganisationen, die eine Verbindung zwischen den
Richtungsgewerkschaften sicherstellten. Hiermit war der effizienten Interessenvertretung der
Arbeitnehmer ebenso gedient wie den Anforderungen des beschriebenen gesellschaftlichen
Ordnungskonzeptes, das mit staatlicher Hilfe durchgesetzt und stabilisiert werden sollte. Die
Verbände mußten- den ideologischen Vorgaben entsprechend- organisatorisch getrennt sein,
sie mußten aber miteinander kooperieren, um zu vermeiden, daß sich aus den organisatori-
schen und ideologischen Differenzierungen unüberbrückbare Spannungen und Spaltungen
ergaben. Die Stabilisierung der organisatorischen Eigenständigkeit und der zwischengewerk-
schaftlichen Kooperation gelang auf der Grundlage von staatlichen Interventionen. Die
132
staatlichen Interventionen trugen dazu bei, daß die verschiedenen - jeweils repräsentativen -
Richtungsgewerkschaften stabilisiert wurden und daß - konzertierende - Verfahrenswege für
eine zwischengewerkschaftliche Kooperation bereitgestellt wurden. Die vom Staat bestimmte
Repräsentativität war eine Form prozeduraler Intervention, die den Verbänden die Kraft zur
autonomen Regelung industrieller Konflikte geben sollte. Der Erfolg dieser Intervention war
nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die Regelung industrieller Konflikte durch separate
Organisationen auf belgiseher Ebene ein wichtiger Baustein eines funktionierenden ge-
samtgesellschaftlichen Ordnungsmodells war.
Die wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den Landesteilen bewirkte einen Differenzie-
rungs- und Dezentralisierungsdruck, der an die gesellschaftliche und staatliche Konfliktrege-
lung neue Aufgaben stellte. Die Entspezialisierung der ideologischen Inhalte der Säulen, ihre
Umwandlung zu politischen Konzernen, stabilisierte ihre Strukturformen. Allerdings ließ sich
nicht verhindern, daß sich Differenzierungs- und Dezentralisierungstendenzen auf regionaler
Ebene durchsetzten. Von diesen waren die politischen Parteien weitaus stärker betroffen als
die gewerkschaftlichen Organisationen. Letztere begnügten sich mit innerorganisatorischen
Differenzierungen, die der sprachlich-kulturellen Dezentralisierung Rechnung trugen, die
einheitliche unitarische Struktur aber bestehen ließen. Enge, dauerhafte zwischengewerk-
schaftliche Beziehungen auf regionaler Ebene konnten unterbunden werden.
Die Regelungsformen des industriellen Konflikts waren also in einem verhältnismäßig
geringen Ausmaß von den Veränderungen in der Hierarchie der Differenzierungs- und
Konfliktlinien betroffen.
Dennoch erschien es zweifelhaft, ob auch unter diesen neuen Bedingungen davon ausge-
gangen werden konnte, daß die staatlichen Interventionen weiterhin ihre intendierten
Wirkungen erzielten.
Diese Zweifel bezogen sich auf die Interorganisationsbeziehungen zwischen den Gewerk-
schaften und dem Staat.
Bisher konnte gezeigt werden, daß die Gewerkschaften - in der Tradition eines sozialdemo-
kratischen Kompromisses aus der formativen Periode der belgischen Arbeitsbeziehungen -
vom Staat zur eigenständigen Verhandlung und Vereinbarung der Lohn- und Arbeitsbedin-
gungen bevollmächtigt und ausgestattet worden waren.
Hiermit waren Erwartungen an eine effiziente Regelung des industriellen Konflikts verbun-
den. Gleichzeitig sollte die Regelung des industriellen Konflikts einen Beitrag zum gesamtge-
sellschaftlichen Konfliktausgleich leisten.
Vor dem Hintergrund der verstärktere Regionalisierung und des Umbaus der Säulen in
politische Konzerne änderte der Staat seine Interventionsform.
Es wird zu zeigen sein, worauf diese Änderung zurückging, welche Folgen ihr zugespro-
chen werden können und welche Wirkungen ihrerseits von diesen Folgen ausgehen.
Die staatliche Regelung verschränkter Versäulung, die sich zunächst auf prozedurale
Interventionen beschränkte, erfuhr eine entscheidende Korrektur dadurch, daß substantielle
133
staatliche Interventionen hinzukamen. Der industrielle Konflikt erfuhr eine andere "hetero-
nome" Regelung.
Im Steuerungsmodell der verschränkten Versäulung war der prozeduralen Steuerung der
Arbeitsbeziehungen der Vorzug gegeben worden. Für die Akteure der Arbeitsbeziehungen
war hiermit ein Freiraum in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen verbunden.
Es zeigte sich, daß die Entspezialisierung der Mitgliedschaftbindung und die- wirtschaft-
lich bedingte - Aufwertung des sprachlich-kulturellen Konflikts den unitarischen Strukturen
der Akteure nicht gefährlich werden konnten. Es ließ sich aber nicht vermeiden, daß der Staat
die weitgehend zentralisierte ,,konzertierte Tarifautonomie" erheblich einschränken mußte.
Somit konnte zwar eine organisatorische Spaltung vermieden werden, nicht aber eine
Einschränkung der Handlungsspielräume wie sie in den Zentralvereinbarungen ihren
Ausdruck fanden. Es bedurfte nur "wirtschaftlich zwingender" Gründe, damit der Staat, der
den Akteuren der Arbeitsbeziehungen großzügige Ressourcen zugeführt hatte, ihnen die
Kompetenz entziehen konnte, diese Ressourcen zur Gestaltung der Löhne und Arbeitsbedin-
gungen auch tatsächlich einzusetzen.
Es wird zu bestimmen sein, welche Ziele des Staates in diesem Zusammenhang als offiziell
und welche als inoffiziell identifiziert werden können. Zunächst wird herauszuarbeiten sein,
wie der Übergang von der prozeduralen zur substantiellen Intervention des Staates vonstatten
ging.
Unter den erschwerten wirtschaftlichen Bedingungen verließ sich der Staat nun nicht auf
die prozedural präformierte autonome Steuerungskompetenz der Akteure der Arbeitsbezie-
hungen, sondern vielmehr auf die eigenen substantiellen Interventionen. Der Staat hatte die
Akteure aufgewertet, um dem Regelungsmodell der verschränkten Versäulung zu entspre-
chen. Er förderte ihre organisatorische Eigenständigkeit und ihre staatlich geregelten
Interorganisationsbeziehungen. Er förderte zentrale Strukturen und Interaktionen, die auch
wirtschaftlich bedingten Dezentralisierungs- und Föderalisierungsprozessen standhielten.
Nunmehr aber zeigte sich, daß der Staat, der erheblich dazu beigetragen hatte, daß die
Akteure ihre unitarische Struktur behielten, nicht mehr bereit war, die Ergebnisse ihres
Handeins hinzunehmen. Der Staat, der den Akteure der Arbeitsbeziehungen Ressourcen
zugeführt und ihre Kooperation erleichtert hatte, weigerte sich, die Inhalte ihrer vertraglichen
Vereinbarungen zu akzeptieren.
134
4.1.1 Tarifbeziehungen
Es ist zunächst zu beachten, daß die kollektiven Lohnsteigerungen in Belgien teilweise
unabhängig von periodischen - inhaltlich variablen - Verhandlungsergebnissen erfolgten. In
diesem Falllagen den Lohnsteigerungen langfristige Vereinbarungen über eine Indexbindung
der Löhne zugrunde. Solche Vereinbarungen wurden erstmals im Jahre 1920 im Bereich des
Bergbaus getroffen. Die Vereinbarungen über eine Indexbindung der Löhne fiihrten dazu, daß
die Lohnsteigerungen ebenso wie Steigerungen der Sozialeinkommen "automatisch"
erfolgten. ,,'Automatie' in this context means that collective agreements in each sector
provide for the adjustment of wages to increases in the consumer price index without
accompanying negotiation" (EIRR 172 1988: 12). Es handelte sich um ein systeme
d'indexation automatique (vergl. insbesondere Dancet 1986: 118). Die Höhe der Lohnsteige-
rungen richtete sich nach der Höhe der Steigerung der Lebenshaltungskosten. Die Fixierung
dieser Lohnsteigerungen bedurfte also keiner besonderen Aktualisierung oder Präzisierung.
Es sollte unabhängig von der Wirtschaftslage oder Verhandlungsstärke der Akteure gewähr-
leistet werden, daß die Arbeitnehmer keinen Kaufkraftverlust erlitten.
In den eigentlichen autonomen Tarifverhandlungen vereinbarten die Sozialpartner also
nicht die Höhe der gesamten Lohnzuwächse, sondern nur diejenigen Lohnsteigerungen, die
über die Steigerung der Lebenshaltungskosten hinausgingen. Häufig orientierten sich die
Verhandlungspartner dabei an den Produktivitätssteigerungen im jeweiligen Wirtschaftsbe-
reich.
Auf der Grundlage des beschriebenen Verhandlungsmusters (Indexierung und periodische
Lohnverhandlungen) erzielten die Arbeitnehmer in der ersten Hälfte der siebziger Jahre
erhebliche Lohnsteigerungen (vergl. Dancet 1986: 118). In der Zeit von 1970 bis 19751ag der
durchschnittliche jährliche Reallohnzuwachs zwischen 6,3% und 8,8%, die Nominallohnstei-
gerungen erhöhten sich von 12% im Jahre 1970 auf 20% im Jahre 1975. Parallel zu diesen
hohen Lohnsteigerungen stieg die Inflationsrate von 4% im Jahre 1970 auf 13% im Jahre
1975. Gleichzeitig erhöhten sich die Arbeitslosenzahlen kontinuierlich. Zahlreiche Betriebe
im industriellen Sektor des Landes waren von Stillegungen und Rationalisierungen betroffen.
Besonders beunruhigend wirkte der rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen
(vergl. Dancet 1986: 117).
Während sich die Lohnsteigerungen in der Zeit vor 1970 noch weitgehend an den Produk-
tivitätszuwächsen orientierten, lagen sie in den siebziger Jahren weit über dem Produktivitäts-
zuwachs (vergl. Dancet 1986: 118). Dies galt vornehmlich für die Jahre 1974 und 1975.
Die hohen Lohnsteigerungen waren auch mit einen erheblichen Anstieg der Lohnnebenko-
sten verbunden. Dieser Anstieg wurde vor allem durch die erhöhten Arbeitgeberaufwendun-
gen für die soziale Sicherung verursacht.
135
4.2.1.1 Lohnpolitik und branchenübergreifende Zentralvereinbarungen
Im Februar 1975 wurde noch einmal- für die Jahre 1975 und 1976- eine branchenübergrei-
fende Zentralvereinbarung abgeschlossen. Diese Zentralvereinbarung wurde allerdings nicht
mehr erneuert oder verlängert.
Der Staat hielt es statt dessen für geboten, in die Arbeitsbeziehungen zu intervenieren. Die
Lohntindung sollte nicht mehr den bilateralen Verhandlungen der Sozialpartner überlassen
bleiben, sondern durch substantielle Interventionen des Staates bestimmt werden. Eine
Fortsetzung der autonomen Regelung der Lohn- und Arbeitsbeziehungen schien dem Staat im
Widerspruch zu den wirtschaftlichen Zielsetzungen des Landes zu stehen.
"Le gouvernement decida que ses problemes economiques ne pouvaient plus etre
regles par une formule de negotiations collectives bipartistes. Seule une main
energiques pouvait retablir I' ancien equilibre" (Dancet 1986: 119).
In der'folgenden Jahren wurden regelmäßig - aber mit wechselnden Inhalten und für unter-
schiedliche Zeitintervalle - lohnpolitische Interventionen durch den Staat vorgenommen. Den
vormals autonomen Sozialpartnern wurde die Vertretungs- und Verhandlungskompetenz
immer wieder entzogen.
Im Jahre 1976 erfolgte bereits eine lohnpolitische Intervention durch die /oi de redresse-
ment (30.03.1976) der damaligen Mitte-Rechts-Regierung Tindemans. Die automatische
Indexierung wurde - sobald sie eine bestimmte Höhe überschritt - für neun Monate suspen-
diert68.
Nach einer kurzfristigen wirtschaftlichen Erholung in der Zeit bis 1979 verschlechterte sich
die wirtschaftliche Lage zu Beginn der achtziger Jahre erneut. Von der Verschlechterung
betroffen waren wiederum vor allem die traditionellen Wirtschaftszweige. Diese beanspruch-
ten dann auch eine staatliche Unterstützung zur Bewältigung des Strukturwandels. Daraufhin
wurden der Bergbau, die Textilindustrie, die Glasindustrie und die Werftindustrie zu
Wirtschaftsbereichen nationalen Interesses erklärt. Die belgisehe Regierung machte die
Unterstützung der entsprechenden Wirtschaftsbereiche davon abhängig, daß die Einkommen
derjenigen Arbeitnehmer, die in Unternehmen beschäftigt waren, die Verluste machten,
gekürzt wurden. Die - im Ausgleich für die Unterstützungsleistungen - vom Staat verlangten
Einkommenssenkungen beliefen sich auf 5% für die Arbeiter und Angestellten und auf I 0%
für die leitenden Angestellten und Führungskräfte. Solche standardisierten Einkommenskür-
zungen stellen eine weitere Einschränkungen der "autonomen" Tarifverhandlungen dar.
Zu Beginn der achtziger Jahre wurden im Gefolge der Rezession, die wiederum mit einem
starken Anstieg der Arbeitslosigkeit verbunden war, erneut Forderungen nach einer Begren-
68 Dieser Maßnahme werden allerdings kaum begrenzende Wirkungen fiir die Lobnzuwächse zugesprochen, weil
die Löhne im Anschluß an die Sperrfrist um so stärker stiegen (Dancet1986: 120 und Deialtre 1991: 66)
136
zung der Lohnsteigerungen - oftmals sogar nach einer Lohnreduktion - erhoben. Das Defizit
des öffentlichen Haushalts Belgiens wies einen im internationalen Vergleich besonders hohen
Stand auf.
Als Antwort auf diese Entwicklung geriet zunächst das System der Lohnindexierung erneut
in die Diskussion. Allerdings wurden Veränderungen dieses Systems von den Gewerkschaf-
ten vehement abgelehnt.
Um die Lohnindexierung beibehalten zu können, wurde im Februar 1981 auf zentraler
Ebene eine erneute branchenübergreifende Zentralvereinbarung getroffen. Diese begrenzte
den in "autonomen" Vereinbarungen zu erzielenden Einkornrnenszuzwachs. Gleichzeitig
wurde eine - der Intention nach beschäftigungswirksame - Arbeitszeitverkürzung vereinbart.
Die Zentralvereinbarung wurde fiir allgemeinverbindlich erklärt.
Der Abschluß der Zentralvereinbarung schien zunächst eine Rückkehr zu "autonomen"
TarifVerhandlungen zu bedeuten. Allerdings zeigte sich bei einer näheren Betrachtung, daß
die Vereinbarung letztlich nur zustande kam, weil die belgisehe Regierung mit einer weiteren
substantiellen Intervention in die Arbeitsbeziehungen gedroht hatte.
Im Vorfeld der Zentralvereinbarung wurde nämlich ein Gesetz verabschiedet, das eine
staatliche Begrenzung der Löhne für den Fall vorsah, daß die Sozialpartner nicht zu einer
"freiwilligen" Vereinbarung über eine Lohnbegrenzung gelangten. Wie Beaupain anmerkt,
tauschten die Interessengruppen und der Staat damit die Rollen. Das politische System setzte
die pressure groups unter Druck und nicht umgekehrt:
Durch diese - indirekte - Form der staatlichen Intervention konnten also lohnpolitische
Vorstellungen realisiert werden, ohne daß ihnen explizite rechtlich verbindliche substantielle
Normierungen zugrunde lagen. Die Rechtsnorm blieb drohend im Hintergrund, konnte aber
ihre begrenzende Funktion wirksam ausüben.
Auf der Grundlage der Zentralvereinbarung gelang es zwar, die Lohnsteigerung auf das
Ausmaß des Produktivitätszuwachses zu begrenzen. Das Problern eines weiteren Anstiegs der
Arbeitslosenzahlen - insbesondere bei den Jugendlichen - bestand aber fort. Dieser Anstieg
wurde vor allem auf den Rückgang der Beschäftigungsmöglichkeiten im industriellen Sektor
und die gleichzeitige Zunahme der Erwerbsbevölkerung zurückgeführt. Die Erwerbsneigung
hatte ebenfalls zugenommen.
Nach den Parlamentswahlen im Jahre 1981 bestand eine politische Mehrheit, die in der
Lage war, weitere staatliche Interventionen in die Arbeitsbeziehungen durchzusetzen. Die
christlichen und die sozialistischen Parteien bildeten die Regierung. Die Vertreter der
liberalen Partei waren aus der Regierung ausgeschieden. Die Regierung wurde nunmehr mit
weitgehenden Vollmachten ausgestattet, um in die Tarifbeziehungen zu intervenieren:
137
1. Durch die Verordnung vom 26. 2. 1982 wurde bestimmt, daß die Steigerung der Lohnein-
kommen nicht mehr automatisch in der Höhe der Lebenshaltungskosten erfolgen durfte
(vergl. Dancet 1986: 123 und Delattre 1991: 67). Zwischen Februar und Juni des Jahres
1982 hatte jeder Lohnanstieg zu unterbleiben, fiir den Rest des Jahres wurde eine pau-
schale Indexierung (indexation forfaitaire) vorgegeben. Hiernach erhielten alle Beschäf-
tigten lediglich die Nominallohnsteigerung, die auf der Grundlage der früheren Vereinba-
rungen über die Lohnindexierung fiir die Mindesteinkommen (536 BFF) gewährt wurde
und zwar auch dann, wenn dem Anstieg der Lebenshaltungskosten eigentlich eine höhere
Steigerung der nominellen Lohneinkommen entsprach.
2. Durch die Verordnungen vom 30. 12. 1982 wurde wiederum ein Zusammenhang
zwischen der staatlichen Subventionierung eines Betriebs und lohnpolitischen Interven-
tionen hergestellt. Zusätzlich mußten tarifliche Vereinbarungen auf Betriebsebene auch
Angaben über die vorgesehene Steigerung des Beschäftigungsvolumens beinhalten. Es
wurde bestimmt, daß nur noch denjenigen Betrieben staatliche Zuschüsse gewährt werden
konnten, die in einer betrieblichen Vereinbarung eine Arbeitszeitverkürzung von 5% mit
einer Steigerung des Beschäftigungsvolumens um 3% und einer Senkung des Lohnein-
kommens um 3% verknüpften ("5-3-3"-Vereinbarung; vergl. Dancet 1986: 124 und EIRR
183 1989: 25).
Im April 1983 verfiigte die Regierung gar, daß die durchschnittlichen Lohnkostensteige-
rungen in Belgien insgesamt nicht höher ausfallen durften als diejenigen der sieben stärksten
Konkurrenten des Landes.
Die Sozialpartner wurden aufgefordert, bei der Realisierung und Präzisierung einer solchen
lohnpolitischen norme de competitivite mitzuwirken. Für den Fall, daß die Sozialpartner nicht
zu einer dieser Vorgabe entsprechenden "freiwilligen" Einigung gelangten, sollte wiederum
eine diesbezügliche "Konkurrenznorrn" verbindlich vorgegeben werden.
Da sich aber die TarifPartner auf eine Vereinbarungen dieser Art nicht verständigen konn-
ten, verfiigte die Regierung tatsächlich für die Steigerung der Lohnkosten eine Obergrenze
von 1,5%. Die Aufteilung dieser Summe sollte aufbetrieblicher Ebene vereinbart werden. Die
Summe konnte für Maßnahmen der Arbeitszeitverkürzung, der Arbeitsbeschaffung aber auch
für Nominallohnerhöhungen verwendet werden.
Diese lohnpolitischen Maßnahmen führten zu Kostensenkungen. Diese wiederum haben -
wie Dancet anführt - eine Steigerung der Konkurrenzfähigkeit Belgiens ermöglicht.
138
Im weiteren Verlauf der achtziger Jahre versuchte die belgisehe Regierung offensichtlich,
ihre Bemühungen um eine zentrale, branchenübergreifende Regelung der Einkommenszu-
wächse ausdrücklich mit einer Begrenzung der Verhandlungsspielräume auf sektoraler Ebene
zu verbinden. Gleichzeitig aber unterstützte die Regierung nachdrücklich die Aufnahme von
Verhandlungen auf Betriebs- und Untemehmensebene. Die Regierung kombinierte offen-
sichtlich:
Wie Beaupain betont, stellte die Regierung den Akteuren auf betrieblicher Ebene positive
und negative Sanktionen in Aussicht. Für eine Konformität mit den Regelungsvorhaben der
Regierung wurde eine finanzielle Unterstützung der betrieblichen Akteure in Aussicht
gestellt, bei Abweichungen von den staatlichen Vorstellungen hingegen mußten Zahlungen an
einen Beschäftigungsfonds geleistet werden. Die Regierung arbeitete mit Zuckerbrot und
Peitsche: " ... des incitants de nature fiscale et parafiscale constituaient Ia 'carotte' a cöte du
'bäton' que representent !es versements au Fonds pour I' emploi" (Beaupain 1984c: 38).
Im Jahr 1986 wurde der Versuch einer Rückkehr zur eigentlichen Tarifautonomie unter-
nommen (EIRR !55 1986: 9). Dieser Versuch vollzog sich unter veränderten Bedingungen.
Die wirtschaftliche Lage Belgiens hatte sich verbessert (vergl. Delattre 1991: 68). Hinzu kam,
daß die Sozialpartner mit den Auswirkungen der staatlichen Einkommenspolitik nur teilweise
zufrieden waren. Die Arbeitgeber befiirworteten die staatlichen Maßnahmen zur Lohnbegren-
zung zwar grundsätzlich, es störte sie allerdings, daß durch die einkommenspolitischen
Beschränkungen auch die Allokationsfunktion des Lohnes eingeschränkt wurde. Die
verbliebenen Lohnspielräume eigneten sich kaum noch dazu, eine leistungssteigemde
Wirkung zu erzielen.
In den Gewerkschaften mehrten sich die Stimmen derjenigen, welche die Reduzierung der
Verhandlungskompetenz bei Tarifverhandlungen beklagten. Einzelne Gewerkschaftsvertreter
befiirchteten, daß die Gewerkschaften immer stärker anderen primär lobbyistisch orientierten
pressure groups ähnelten. Die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften resultiere - so der
Vorwurf- kaum noch aus ihrer eigenen Kampfkraft, sondern variere vielmehr je nach der
parteipolitischen Zusammensetzung der Regierungen: "They feit that their roJe was being
reduced more and more to that of any other lobbying organisation dependent on the political
balance between the parties in the Govemment coalition" (EIRR 155 1986: 10).
Allerdings war - wie noch zu zeigen sein wird - die Furcht vor einer Entwicklung der
Gewerkschaften zu Iobbyistischen Organisationen bei den Vertretern der verschiedenen
Richtungsgewerkschaften unterschiedlich stark ausgeprägt.
Ende des Jahres 1986 wurde tatsächlich erneut eine freiwillige branchenübergreifende
Zentralvereinbarung abgeschlossen. Sie war "essentially procedural in nature" (EIRR 181
139
1989: 12) und enthielt keine verbindliche Vorgaben fiir die nachfolgenden Regelungsebenen.
Bestandteile der Vereinbarung waren vor allem Empfehlungen an die nachfolgenden
Verhandlungsebenen, nunmehr ihrerseits Vereinbarungen über beschäftigungsfördernde
Maßnahmen, die Erhöhung von Mindestlöhnen sowie über Arbeitszeitverkürzungen zu
schließen (vergl. EIRR 155 1986: 9).
Aus diesem Grunde kritisierten die Kommentierungen der Zentralvereinbarung auch die
Substanzlosigkeit dieser Vereinbarung. Die Zentralvereinbarung gleiche einer "empty box"
(EIRR 155 1986: 11 69).
In anderen Kommentierungen wird die Bedeutung der Zentralvereinbarung aus dem Jahre
1986 vor allem darin gesehen, daß es den Sozialpartnern überhaupt gelungen war, einen
"autonomen" Gegenstands- und Verhandlungsbereich fiir sich zu reservieren und von
staatlicher Intervention freizuhalten. Die Sozialpartner legten deshalb Wert darauf, ihre
autonome Verhandlungskompetenz grundsätzlich bestätigt zu finden:
69 vergl. auch: Blaise {1986: 29) ,,L'accord en lui-meme ne contient pas de mesures contraingnantes".
70 Die Vereinbarungsinhalte waren ferner - so ihre Befiirworter aus den Reihen der Gewerkschaft - auch ohne
normative Verbindlichkeit dazu geeignet, die solidaritätstiftende (,,klassentheoretische") Funktion der
Gewerkschaften zu belegen.
140
nen erfolgen müßten. Die Regierung gab also den Sozialpartnern die Beachtung beschäfti-
gungsfördernder Maßnahmen zwingend vor.
Die zusätzlichen Aufwendungen für Arbeitskosten auf Betriebsebene durften nicht aus-
schließlich für Lohnsteigerungen genutzt werden. Es wurde verlangt:
" ... that whatever resources the employers made available should not be used ex-
clusively for pay increases, but should also contribute towards helping and train-
ing the unemployed, especially the young and long-term; that the 38-hour week be
made general; that there should be a right for workers to take career breaks; and
that there should be a development of positive action in favour of women" (EIRR
181 1989: 13).
141
Sozialpartnern erfolgte mit der "Rute im Fenster" 71 . Die Verhandlungen erfolgten wiederum
en liberte surveillee (Arcq 1991: 17; ebenso Beaupain 1985b: 27).
Die Zentralvereinbarung des Jahres 1991 enthielt ebenfalls nur wenige substantielle Rege-
lungen. Diese bezogen sich auf die Erhöhung des nationalen Mindestlohns und auf die
Bestimmung desjenigen Anteils an der Lohnsumme, der fiir beschäftigungsfOrdernde
Maßnahmen - insbesondere fiir Risikogruppen am Arbeitsmarkt - aufzuwenden war.
Weiterhin wurden einige sozialpolitische Leistungen vorgesehen, vor allem die Erhöhung der
Arbeitslosenunterstützung fiir ältere Arbeitnehmer und die Steigerung von familienbezogenen
Zahlungen (vergl. EIRR 206 1991: 19).
Die Regelungen erfolgten wiederum primär im Interesse der grundsätzlichen Konservie-
rung "tarifautonomer Regelungsbereiche" und richteten sich programmatisch gegen staatliche
Interventionsdrohungen.
Zwar standen auch diesmal die nachfolgenden Verhandlungen und Vereinbarungen unter
dem Vorbehalt staatlicher Intervention im Falle abweichender, d.h. wettbewerbsgefährdender
Regelungsinhalte, doch war durch den Abschluß einer branchenübergreifenden Zentralverein-
barung zumindest vermieden worden, daß von staatlicher Seite präzise Normierungen in Form
von verbindlichen einkommenspolitischen Lohnleitlinien und Lohnobergrenzen erfolgten.
Der sektoralen und der betrieblichen Ebene sollten - so weit wie möglich - Gestaltungs-
spielräume erhalten bleiben, obwohl die Bedrohung durch eine staatliche Intervention
grundsätzlich fortbestand (vergl. EIRR 229 1993: 27).
Wieder betonten die Kommentatoren, die Bedeutung auch dieser Zentralvereinbarung
bestehe darin, daß sie überhaupt zustande gekommen sei, und nicht darin, daß sie einen
bestimmten Inhalt habe: "The key feature of the new central agreement is perhaps its very
existence ... " (EIRR 206 1991: 19).
Auf diese Weise wurde die Institution der Zentralvereinbarung aufrecht erhalten und eine
einkommenspolitische Intervention der Regierung vermieden.
Die anschließende Zentralvereinbarung aus dem Jahre 1992läßt sich in zwei Teile gliedern:
Der erste Teil enthielt Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern, die einen ähnlichen
Inhalt hatten wie die Vereinbarungen, die Bestandteile der vorhergehenden substantiellen
Zentralvereinbarungen waren72 • Im zweiten Teil richteten die Sozialpartner die gemeinsame
Forderung an den Gesetzgeber, endlich einige ihrer sozialpolitischen Vorstellungen auf dem
Gesetzeswege zu realisieren.
Wieder hoben die Kommentierungen hervor, daß sich die Bedeutung der Vereinbarung
weniger aus ihrem substantiellen Gehalt als aus der Tatsache ergebe, daß sie überhaupt
142
zustande gekommen sei: "The main impetus for the conclusion of an agreement was a ...
desire to reaffirm the partners' independence and redirect social policy in line with their aims"
(ElRR 229 1993: 27). Noch einmal sei es gelungen, die Regelung der Lohn- und Arbeitsbe-
dingungen der direkten staatlichen Intervention zu entziehen.
Einer solchen Intervention sollte auch dadurch vorgebeugt werden, daß die Sozialpartner in
der Präambel der zentralen Vereinbarung ihre ausdrückliche Bereitschaft deutlich machten,
ihre Mitglieder auf die- gesetzlich geforderten- wirtschaftlichen Erfordernisse auszurichten.
An die Zentralvereinbarung anschließende Verhandlungen sollten berücksichtigen, daß die
Arbeitskosten einen Einfluß auf die Wettbewerbsfähigkeit und den Umfang der Beschäfti-
gung haben:
"Central unions and employers' organisations expressly ask workers and employ-
ers at alllevels to draw inspiration from the central agreement and include in their
negotiations this concem with the impact of labour costs on competitiveness and
employment" (EIRR 229 1993: 31 ).
Die Existenz einer Zentralvereinbarung unterstrich - wie bereits betont wurde - nicht nur
den Regelungsanspruch der Verbände gegenüber dem Staat, sondern auch den Vorrang des
Zentralverbands gegenüber den Entscheidungsträgem auf der Ebene der Branchen und
Regionen. Insofern war der Abschluß einer Zentralvereinbarung auch Ausdruck eines
gelungenen Kompetenztransfers zwischen den genannten Verbandsebenen (vergl. EIRR 229
1993: 29): "Fears ... arose about the possible consequences of no central agreement being
signed - such as far-reaching regionalisation, conflictual and anarchic sectoral bargaining, and
govemment intervention" (EIRR 229 1993: 30).
Der Abschluß der branchenübergreifenden Zentralvereinbarung erfüllte also eine mehrfa-
che Funktion: Neben die Funktion, die gegebene Arbeitsteilung zwischen den Sozialpartnern
und dem Staat aufrecht zu erhalten, trat die innerverbandliehe Integrationsfunktion, an die
sich eine innerbelgische Integrationsfunktion anschloß. Insgesamt erfüllte die Zentralverein-
barung in mehrfacher Hinsicht strukturkonservierende Funktionen. Insofern konnten
Kommentatoren an den Abschluß einer solchen Vereinbarungen die Bemerkung knüpfen:" ...
the structure of collective bargaining has been kept intact" (EIRR 229 1993: 34).
Allerdings ließ sich eine einkommenspolitische Intervention durch den Abschluß vorwie-
gend "prozeduraler" Zentralvereinbarungen nicht dauerhaft ausschließen.
Zu Beginn des Jahres 1993 wurde - auf der Grundlage des Gesetzes von 1989 - im zentra-
len Wirtschaftsrat einstimmig ein Bericht verabschiedet, in dem auf die starke Bedrohung der
WettbewerbsHihigkeit Belgiens hingewiesen wurde (vergl. hierzu EIRR 231 1993: 5).
Gleichzeitig wurde deutlich gemacht, daß das belgisehe Zahlungsbilanzdefizit weiterhin um
vieles höher war als die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrags dies vorgaben.
Hierfür wurde vor allem die Steigerung der Lohnkosten verantwortlich gemacht. Demzufolge
wurden Lohnbeschränkungen gefordert. Die Verhandlungen über eine neue Zentralvereinba-
rung führten zunächst zu keiner Einigung. Die Gewerkschaften widersetzen sich dem
143
geforderten Eingriff in die Lohnindexierung, die Arbeitgeber widersetzten sich der gewerk-
schaftlichen Forderung, den Empfang staatlicher Mittel zur Beschäftigungsförderung mit
verbindlichen Beschäftigungszusagen zu verbinden. Die Sozialpartner waren nicht bereit,
Vereinbarungen zu treffen, wie sie der zentrale Wirtschaftsrat gefordert hatte. Die Regierung
erwog deshalb, direkt in die Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen zu intervenieren.
Allerdings befürchtete die Regierung, daß eine direkte staatliche Intervention in die Ar-
beitsbeziehungen Legitimationsprobleme mit sich bringen könnte. Sie befürchtete insbeson-
dere, daß die sich die Unzufriedenheit mit den staatlich implementierten Normierungen der
Lohn- und Arbeitsbedingungen direkt gegen die Regierung und die sie tragenden politischen
Parteien richten könnte.
Die Bemühungen der belgiseben Regierung waren deshalb in der Folgezeit zunächst darauf
gerichtet, einen Sozialpakt zur Regelung der Wettbewerbsfahigkeit, sozialen Sicherung und
Beschäftigung (un nouveau pacte social sur l'emploi, Ia competitivite et Ia securite sociale)
zustande zu bringen.
Ein solcher Sozialpakt sollte in der Tradition der gleichnamigen Vereinbarung stehen, die
kurz vor dem Ende des zweiten Weltkriegs geschlossen worden war und die das Fundament
für das belgisehe System der Konzertierung gelegt hatte (EIRR 236 1993: 5). Der Sozialpakt
sollte allerdings Maßnahmen zur Senkung der Arbeitskosten beinhalten. Als dieses Vorhaben
bekannt wurde, reagierten einige Gewerkschaften mit drastischen Arbeitskampfmaßnahmen
(vergl. EIRR 245 1994: 29; vergl. auch van Ruyssveldt!Visser 1996: 216).
Eine Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen ohne gesetzlichen Zwang erschien der
Regierung nicht mehr möglich, ohne daß sich Widersprüche zu wirtschaftlichen Notwendig-
keiten ergaben und die Wettbewerbsfahigkeit des Landes weiterhin geflihrdet wurde.
Die Regierung gab ihre Bemühungen um einen Sozialpakt nach sechs Monaten auf und
erstellte statt dessen einen Globalplan zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen.
Die entscheidende im Globalplan enthaltene lohnpolitische Maßnahme bestand darin, daß
in den beiden folgenden Jahren (1995 und 1996) keine Lohnerhöhungen vorgenommen
werden durften, es sei denn, sie waren bereits vor dem 15.11.1993 vereinbart worden.
Eventuelle Arbeitszeitverkürzungen sollten ebenfalls nicht ohne eine Kürzung der Lohnein-
kommen erfolgen. Diejenigen Arbeitgeber, die trotzdem Lohnerhöhungen gewährten, sollten
mit einer Geldbuße in Höhe der doppelten Summe der gewährten Lohnsteigerung belegt
werden. Die Geldbuße sollte an die Sozialversicherungsträger gezahlt werden (vergl. EIRR
243 1994: 17). Von den Arbeitgebern wurden - obwohl dies von den Gewerkschaften
gefordert worden war - keine verbindlichen Zusagen über beschäftigungssichernde Maßnah-
men als Ausgleich für die Ermäßigung der Lohnkosten verlangt.
Weiterhin bestimmte der Globalplan, daß bei der Berechnung des einkommenswirksamen
Lohnindex keine Preissteigerungen mehr berücksichtigt werden durften, die sich auf
gesundheitsgeflihrdende Güter wie Alkohol, Tabak oder Benzin bezogen (health index). Es
144
wurden auch keine Preissteigerungen mehr berücksichtigt, die auf Erhöhungen der indirekten
Steuern beruhten.
Ebenso wurde festgelegt, daß denjenigen Unternehmen, die dem internationalen Wettbe-
werb besonders stark ausgesetzt waren, ein Teil der Sozialversicherungsbeiträge zurücker-
stattet wurde (Maribel-System). Zusätzlich wurden die Arbeitgeberbeiträge fiir Sozialabgaben
bei geringen Einkommen reduziert.
Den Arbeitgebern wurden Ermäßigungen der Sozialversicherungsbeiträge fiir den Fall
zugesichert, daß sie zusätzliche Arbeitsplätze zur Verfugung stellten. Allerdings mußten
entsprechende Vereinbarungen über ein zusätzliches Beschäftigungsangebot auf der Unter-
nehmensebene zustande gekommen sein: "Sector agreements do not Iead to a similar
reduction in employers' contributions" (V an Ruyssveldt!Visser 1996: 248). Die Regierung
wollte mit dieser Bestimmung offensichtlich die Unternehmensebene als Verhandlungsebene
aufWerten.
Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden Vorhaben zur Einschränkung der Verhand-
lungskapazität von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden schien es den Sozialpartnern
noch einmal geboten, durch den Abschluß einer branchenübergreifenden Zentralvereinbarung
einen residualen Anspruch auf "Tarifautonomie" zu konservieren: Eine Zentralvereinbarung-
kam sie überhaupt zustande - " ... underlines the continuing viability of the Belgian system of
industrial relations, which has been widely seen as being threatened" (EIRR 251 1994: 4).
Die anschließende Zentralvereinbarung fiir die Jahre 1995 und 1996 beschränkte sich
allerdings darauf, Rahmenbedingungen fiir die Vereinbarung der Beschäftigung von (zur Zeit)
nicht erwerbstätigen Arbeitnehmern vorzugeben, die auf sektoraler Ebene getroffen werden
sollten. Denjenigen Arbeitgebern, die zu solchen beschäftigungsfördernden Maßnahmen
bereit waren, sollte eine Ermäßigung der Sozialabgaben gewährt werden.
Die Vereinbarung galt als fast schon verzweifelter Versuch der Verbände, angesichts
zunehmender - und fast unausweichlicher - Staatsinterventionen das Gesicht zu wahren.
Erkennbar war "the common desire of the partners to restore their position in the face of an
increasingly interventionist Govemment" (EIRR 255 1995: 17).
Die vereinbarten Regelungsinhalte unterlagen nicht der alleinigen Regelungskompetenz der
Sozialpartner. Die Regierung mußte der Vereinbarung über eine Ermäßigung der Sozialab-
kommen erst noch zustimmen. Die branchenübergreifenden Zentralvereinbarungen hatten
aber auch unter dieser Voraussetzung noch nicht die normative Kraft zwingender Vorgaben,
sondern stellten lediglich Empfehlungen fiir die sektorale Ebene dar. Insofern kam der
branchenübergreifenden Zentralvereinbarung in erster Linie die Aufgabe zu, die Notwendig-
keit einer verbandsbezogenen Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen nachdrücklich zu
unterstreichen:
" ... the accord re-establishes to some extent the pre-eminence of negotiated solu-
tions at central or sectoral Ievel, rather than conflict and widespread govemment
intervention. Trade unions and employers' organisations have repaired relation-
145
ships, and have confirmed to the Government their wish to remain important ac-
tors in industrial relations" (EIRR 255 1995: 20).
146
Den Sozialpartnern wurde nun noch einmal die Chance gegeben, im Rahmen eines Kon-
sultationsverfahrens an der Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen mitzuwirken:
" ... the Government again asked for an input from the social partners, this time
within the formal consultative machinery of the National Labour Council and the
Central Council for the Economy - in effect giving unions and employers a second
chance to reach agreement on the issues" (EIRR 270 1996: 5).
13 .,divisions reportedly ernerging between the conciliatory Flemish regional organisations and the more
'hardline' Walloon structures" (EIRR 270 1996: 5)
147
adjustment constitutes the lower Iimit and the wage standard forms the upper Iimit" (van
Ruysseveldt!Visser 1996: 217). Es war allerdings möglich, in Kollektivverhandlungen
niedrigere Lohnsteigerungen zu vereinbaren als auf der zentralen Ebene bestimmt worden
waren, wenn im Ausgleich dazu die Bereitstellung zusätzlicher Arbeitsplätze vereinbart
werden konnte.
4. Nach einem Jahr konnte eine Veränderung der zentralen Lohnvorgaben vorgenommen
werden. Diese erfolgte dann, wenn die Steigerung der Lohneinkommen in Belgien immer
noch höher ausfiel als in den genannten drei Nachbarländern (EIRR 273 1996: 16f.; vergl.
auch van Ruysseveldt!Visser 1996: 217).
Der entscheidende Unterschied zwischen dieser gesetzlichen Regelung und dem Gesetz
über die Wettbewerbsfähigkeit aus dem Jahre 1989 bestand darin, daß die Intervention der
Regierung nunmehr nicht erst dann erfolgen konnte, wenn die - als überhöht angesehenen -
Einkommensteigerungen bereits nachweislich erfolgt waren. Es war jetzt vielmehr möglich,
der Lohnsteigerung schon im Vorfeld Grenzen zu setzen: " ... it has been agreed to stick to a
central wage standard that brings movements into line- in advance- with Belgium's three
most important trading partners" (van Ruyssveldt!Visser 1996: 216). Gleichzeitig wurde auf
die europäische Dimension der einkommenspolitischen Regelungen hingewiesen:
Die Verhandlungen über den Abschluß einer Zentralvereinbarung auf dieser Grundlage
wurden durch einen Generalstreik unterbrochen, zu dem die sozialistischen Gewerkschaften
aufgerufen hatten. Die christlichen und die liberalen Gewerkschaften sprachen sich, ebenso
wie die Arbeitgeberverbände, gegen den Streik aus.
Nach dem Scheitern der Verhandlungen unternahm die Regierung - entsprechend der
gesetzlichen Vorgabe- noch einen Vermittlungsversuch, wobei sie- neben anderen Maßnah-
men zur Beschäftigungsförderung - ihre Vorstellung von einer Obergrenze für Lohnsteige-
rungen in der Höhe von 6, I% zum Ausdruck brachte.
Der Vermittlungsversuch scheiterte allerdings, so daß die Regierung die vorgesehenen
Einkommenssteigerung in der beabsichtigten Höhe ohne die Zustimmung der Sozialpartner
für den Zeitraum von 1997-1998 festsetzte. Der tatsächliche Verhandlungsspielraum wurde
noch stärker reduziert: "Nach Abzug der inflationsbedingten Indexsteigerungen und der
automatisch erfolgten Höhergruppierungen bleiben demnach pro Jahr 0,75 v.H., über die die
Tarifvertragsparteien ,frei' verhandeln können" (Vilrokx 1998: 479).
Als Gegenleistung für die auf diese Weise erzwungene Begrenzung der Lohnzuwächse bot
die belgisehe Regierung an, 6,3 Mrd. belgisehe Franks für Arbeitsmarktmaßnahmen zur
Verfügung zu stellen. Allerdings waren die Tarifvertragsparteien nicht in der Lage, eine
148
Einigung über die konkrete Verwendung dieser Mittel zu erzielen. Eine Zentralvereinbarung
konnte nicht getroffen werden.
Die Regierung versuchte daraufhin, die betriebliche Verhandlungsebene direkt zur Wahr-
nehmung beschäftigungspolitischer Vereinbarungen zu veranlassen. Sie förderte die vertragli-
che Vereinbarung von Betriebsplänen. Diese sahen vor, " ... daß die Tarifvertragsparteien zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf Unternehmensebene zusätzliche Vereinbarungen
abschließen, die eine Umverteilung der vorhandenen Arbeit (insbesondere durch die Einfüh-
rung von mehr Teilzeit) zum Gegenstand haben" (Vilrokx 1998: 479). Der Staat stellte die
finanzielle Förderung solcher Maßnahmen in Aussicht.
"Indeed the govemment has succeeded in totally altering the logic and mecha-
nisms of the social-consultation system. What was a concertation between three
partners has been tumed into a consultation, by the govemment, ofthe employers'
organizations and the unions. No Ionger merely a third partner, the govemment
has evolved into the actor who defines and decides what the agenda for the dis-
cussion will be, and, failing a consensus between the employers' and unions' rep-
resentatives, imposes the final solution itself" (1988: 41).
Pijnenburg bewertete die Folgen dieses Wandels allerdings nicht negativ. Er hielt sie
vielmehr für notwendig. Die staatliche Steuerung der Arbeitsbeziehungen sei verändert
worden, um die Ergebnisse der Steuerung zu verbessern. Es handele sich hierbei letztlich um
einen irreversiblen Vorgang, der den Anteil der auf demokratischem Wege gefundenen
Entscheidungen reduziere, um zu "besseren" Ergebnissen zu gelangen. Die Intervention des
Staates sei Ausdruck von: " ... irreversible 'less democracy for better govemment' dynamics"
( 1988: 45).
Fast ein Jahrzehnt später bestätigen van Ruysselveldt!Visser (1996) die Beobachtung eines
nachhaltigen Wandels in den belgischen Arbeitsbeziehungen. Sie stellen fest, daß die
149
Interventionen des Staates fortgesetzt wurden und an Intensität und Umfang zugenommen
hatten. Den Lohnverhandlungen sei eine eng geschnürte Zwangsjacke angelegt worden ( 1996:
217). Das überkommene Regelungsmodell sei hierdurch nachdrücklich in Frage gestellt
worden:
"The end result it that the model itself is being called into question ... the meas-
ures themselves show that govemment is taking an increasingly bigger, and in-
creasingly limiting, roJe in determining the framework within which collective
bargaining takes place" (van Ruysselveldt!Visser 1996: 217).
Dafiir, daß der Staat seine Intervention ständig ausgeweitet habe, seien - so van Ruysse-
veldt!Visser - alle drei kollektiven Akteure verantwortlich zu machen. Eine eindeutige
Schuldzuweisung könne nicht erfolgen. Vielmehr stelle sich die Frage: " ... do govemments
intervene because the social partners cannot reach agreement, or do the social partners fail to
reach agreement because they anticipate govemment intervention?" (van Ruysseveldt/Visser
1996: 218). V an Ruysselveldt!Visser weisen darauf hin, daß die staatlichen, substantiellen
Interventionen in die Arbeitsbeziehungen für die Sozialpartner nicht eindeutig von Nachteil
seien. Vielmehr seien die Interventionen geeignet, die Sozialpartner von schwierigen
Legitimationsproblemen zu entlasten. Die Verbände brauchten in Krisenzeiten keine
Verantwortung für die Ergebnisse der Lohntindung zu tragen, sondern könnten diese auf den
Staat abwälzen. Die lohnpolitischen Interventionen des Staates lösten die Konflikte zwischen
den Sozialpartnern und entlasteten die Verbände davon, für ihre Mitglieder nachteilige
Entscheidungen legitimieren zu müssen: "On many occasions the social partners did rely on
govemment intervention to resolve conflicts between them and save face in the eyes of their
constituencies" (van Ruysseveldt!Visser 1996: 218).
Allerdings machen die Autoren auf eine Interventionsspirale aufmerksam: Der Staat müsse
immer früher in den Entscheidungs- und Lohnfindungsprozeß eingreifen, um Entscheidungen
herbeizuführen, die er auch verantworten könne. Mittlerweile scheine der Staat das Vertrauen
in die Tarifautonomie verloren zu haben. Er glaube nicht mehr, daß die Lösung der schwer-
wiegenden wirtschaftlichen und sozialpolitischen Probleme, vor alllern also der hohen
Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung sowie der eingeschränkten Wettbewerbsfähigkeit,
erfolgen könne, wenn die Tarifautonomie beibehalten werde. Hinzu komme, daß auch die
Arbeitgeber immer weniger dazu bereit seien, die Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingun-
gen den Tarifverhandlungen zu überlassen (van Ruysseveldt!Visser 1996: 248). Es bestehe
deshalb die Gefahr, daß das belgisehe Modell der Konzertierung auf Dauer aus den Fugen
gerate, weil ihm maßgebliche Akteure der belgischen Arbeitsbeziehungen ihre Unterstützung
versagten.
Vilrokx unterteilt im Jahre 1995 die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen seit der Mitte der
siebziger Jahre in zwei Abschnitte: In die Zeit von 1975- 1989 und die Zeit danach (l995b:
210ff.; vergl. auch Vilrokx/van Leemput 1998: 336ff.; sowie: Vilrokx: 1998: 475). In der Zeit
!50
von 1975 - 1989 seien die Kollektivverhandlungen in vorläufigen Gewahrsam 74 genommen
worden, danach hätten sie Arrese 5 erhalten.
Diese Unterteilung des Zeitraums der Regierungsintervention pointiert die Bedeutung der
loi de sauvegarde de Ia competitivite du pays. Vilrockx will durch diese Unterteilung wohl
hervorheben, daß die Kollektivverhandlungen durch dieses Gesetz nunmehr einer dauerhaften
substantiellen staatlichen Intervention ausgesetzt waren, während bis dahin lediglich die
Verhandlungsspielräume fiir branchenübergreifenden Zentralvereinbarungen fiir einen
bestimmten Zeitraum - "bis zur engültigen Klärung" - eingeschränkt wurden.
Die Tarifpartner unterlagen in den 90er Jahren einem "Einigungszwang". Sie wurden auf
ein bestimmtes staatlich vorgegebenes Ergebnis verbindlich festlegt. Aber selbst wenn diese
lohnpolitischen Vorgaben beachtet werden, konnte daraus nicht gefolgert werden, daß der
Hausarrest beendet sei. Dies lag im Ermessen des Staates.
Vilrokx hebt den Bedeutungswandel der vormals "autonomen" Zentralvereinbarungen
hervor. Diese hätten ihre programmatische und nivellierende Funktion gegen eine nur noch
symbolische Funktion getauscht (vergl. 1995b: 210). Für Vilrokx stehen diese Veränderungen
in den Funktionen der Zentralvereinbarungen im Zusammenhang mit Veränderungen des
belgischen Tarifvertragssystems überhaupt:
Erstens werde "mit der gesetzlichen Festlegung einer allgemeinen Lohnnorm ... faktisch die
das belgisehe Tarifvertragssystem bislang kennzeichnende Unterscheidung zwischen
automatischem Ausgleich der Preissteigerungsrate und zusätzlich verhandelbarem Reallohn-
zuwachs aufgehoben" (Vilrokx 1998: 480).
Zweitens werde durch die staatliche Förderung der Verhandlungen auf Betriebs- und
Unternehmensebene "die traditionelle Verhandlungspyramide des belgischen Tarifvertragssy-
stems mit seiner hierarchischen Abstufung unterlaufen" (Vilrokx 1998: 480). Die Tarifpolitik
werde weiter dezentralisiert. Die Regierung wolle den Eindruck vermitteln, " ... daß die Zeit
nationaler Tarifvereinbarungen abgelaufen [sei]" (Vilrokx 1998: 480 76 ).
Vilrokx/van Leemput beobachten eine Entwicklung der belgischen Arbeitsbeziehungen in
die Richtung eines double monopartism (1998: 343 77 ): Auf der nationalen Ebene ist es dem
Staat gelungen, die Sozialpartner in den entscheidenden Regelungsbereichen zurückzudrän-
gen. "The social partners have been neutralized at the interprofessional Ievel, and a
74 "in voorarrest"' (1995b: 211) bzw. "in preventive custody" (Vilrokx/van Leemput 1998: 336)
'' ,,huisarrest" ( 1995b: 212 ) bzw. "under house arrest" (Vilrokx/van Leemput 1998: 337)
70 "By its intervention, the government notified the social partners that bipartite global framework agreements
had had their day and that ad hoc approaches were tobe preferred" (Vilrokx/van Leemput 1998: 341).
'' vergl. in diesem Sinne auch schon Bleeckx. Dieser beobachtete und prognostizierte bereits 1985 "un double
changement du modele dominant", welcher in einer Vergrößerung der staatlichen Entscheidungskompetenz
und einer stärkeren Bedeutung der betrieblichen Regelungsebene zum Ausdruck komme ( 1985: 50).
151
'monopartite' regime dominated by the state has been installed" (Vilrokx/van Leemput 1998:
343). Aufbetrieblicher Ebene hat der Arbeitgeber erheblich an Einfluß gewonnen.
"In many respects, management now can virtually impose its own terms in the
workplace, not least through use (or merely the threat) of closure or relocation.
This points towards a growing 'monopartism' at company Ievel as weil" (Vil-
rokx/van Leemput 1998: 343).
Diese Veränderungen lassen zwar noch Spielraum für die sektorale Regelungsebene, es
kann aber auf dieser Ebene nicht verhindert werden, daß die Spielräume für eine branchenbe-
zogene Regelung der Arbeitsbeziehungen sehr unterschiedlich genutzt werden:
Zusätzlich zu den genannten beiden Veränderungen macht Vilrokx noch auf eine dritte
Veränderung in der Konfiguration der belgischen Arbeitsbeziehungen aufmerksam. Diese
Veränderung besteht darin, daß die Tarifvertragsparteien eine "politische Neutralisierung"
(Vilrokx 1998: 480) erfahren. "In den 90er Jahren geraten die Tarifvertragsparteien nun
endgültig unter die "politische" Kontrolle des Staates, der durch die gesetzliche Festlegung
einer allgemeinen Lohnnorm faktisch tarifpolitischen Verhandlungsspielraum auf ein
Minimum reduziert" (Vilrokx 1998: 480).
Diese dritte Veränderung der belgischen Arbeitsbeziehungen wird in einer Weise interpre-
tiert, die im Zusammenhang mit dieser Untersuchung von erheblicher Bedeutung ist. Vilrokx
pointiert diese Interpretation, indem er die staatliche Intervention in die Arbeitsbeziehungen
als 'Machtparadoxon' einordnet. Er will damit deutlich machen, daß die tatsächlichen
Handlungsfolgen der staatlichen Interventionen langfristig in Widerspruch mit den intendier-
ten Wirkungen der staatlichen Steuerung geraten seien. Die staatlichen Maßnalunen hätten
Wirkungen gehabt, die den Intentionen des Staates zuwider gelaufen seien oder noch
78 Van Ruysseveldt/Visser bestätigen die Aussage über die zunehmende Bedeutung der Unternehmensebene für
die Regelung der Arbeitsbezeihungen: "During the 1980s Belgian industry-level agreements relied increa-
singly on extensive and detailed elaboration at the company Ievel" (1996: 244). Die Verantwortung hierfür
schreiben sie vorrangig der Regierung zu: "Decentralization of industrial relations has been encouraged
primarily by the govemment, and less so by employers' associations" (1996: 244). Statistischen Angaben
zufolge nahm die Anzahl der auf der Betriebs- und Unternehmensebene erzielten Vereinbarungen tatsächlich
erheblich zu. Die staatlichen Interventionen haben hierzu beigetragen, weil die vom Staat geforderten
Regelungsinhalte, also etwa die Vereinbarung beschäftigungsfOrdernder Maßnahmen, eine dezentrale
Regelung nahelegten (zur Anzahl der auf den verschiedenen Verhandlungsebenen erzielten Abschlüsse vergl.:
van Ruysseveldt/Visser 1996: 243; zum Anteil der von den Vereinbarungen auf den unterschiedlichen Ebenen
jeweils betroffenen Arbeitnehmer vergl.: EIRR 183 1989:25 sowie 192 1990: 18).
!52
deutlicher: Der Staat habe selbst Maßnahmen ergriffen, die verhindert hätten, daß seine
ursprünglichen Ziele erreicht werden konnten.
Vilrokx will deutlich machen, daß der Staat die Gewerkschaften zunächst mit Ressourcen
ausgestattet habe, die es ihnen ermöglichten, autonome Kollektivverhandlungen zur Regelung
der Lohn- und Arbeitsbedingungen zu fiihren. Die Gewerkschaften hätten ihre Durchset-
zungskraft allerdings immer häufiger dazu benutzt, Ergebnisse zu erzielen, die in Wider-
spruch zu volkswirtschaftlichen Zielsetzungen gerieten, die der Staat durchzusetzen habe
(insbes. Vollbeschäftigung, niedrige Inflationsrate etc.). Die staatlich subventionierten und
mit erheblichen Machtmitteln ausgestatteten Gewerkschaften hätten sich mit den Arbeitge-
bern auf Ergebnisse verständigt, die die belgisehe Wirtschaft überfordert und zu krisenhaften
Entwicklungen beigetragen hätten. In dem Moment aber, in dem die Krise sich in aller
Deutlichkeit gezeigt habe, habe der Staat die Gewerkschaften in ihre Schranken verwiesen.
Der Staat " ... acquired unusually broad powers of intervention in industrial relations"
(Vilrokx/van Lemput 1992: 364). Die ermächtigten Gewerkschaften hätten den Staat
übennächtigt und seien - als die nachteiligen Folgen ihres Handeins deutlich wurden - vom
Staat entmachtet worden.
Folgenden Zusammenhang sieht Vilrokx also als Ausdruck eines Machtparadoxons an: Der
Staat hat die Gewerkschaften zunächst mit umfassenden Ressourcen ausgestattet und ihnen
weitreichende Handlungskompetenz zugewiesen. Sobald sich aber nicht-intendierte Hand-
lungsfolgen einstellten, hat der Staat die Gewerkschaften wieder entmachtet. Hierbei kam
dem Staat zugute, daß er immer schon als Akteur in den Arbeitsbeziehungen bekannt und
anerkannt gewesen ist. Die Gewöhnung an seine Funktion als Steuermann neo-
korporatistischer Arragements hat die Gewöhnung an seine Funktion als ein Akteur erleich-
tert, der mit seinem Handeln Tarifautonomie durch substantielle Interventionen substituiert:
"Far from being a neutral party, the state thus actively shaped neo-corporatist ar-
rangements in Belgium. It was ab1e to do so because it had the resources, ... and it
was forced to do so because the strongly developed pillar and cleavage organiza-
tions were relatively autonomous centres of power capable of destabilizing the
state should the underlying principles of the system come under pressure ... .
Paradoxically, the state's roJe in organizing this 'compensation democracy' le-
gitimized its much more restrictive roJe when conditions for maintaining positive-
sum outcomes disappeared" (Vilrokx I Van Leemput 1992:365f.; vergl. auch Vil-
rokx 1995b: 207f.).
Während die Interessengruppen durch das Paradoxon des reversed pillar effect an Einfluß
und Bedeutung gewannen, weil sie die Mitgliedschaftsbindungen entspezialisierten und alte
Strukturen zur Vermittlung neuer Inhalte zu nutzen in der Lage waren, fiihrte sie das
Machtparadoxon an die Grenzen ihres Einflusses. Der Staat entzog ihnen die Befugnisse, die
sie auf der Grundlage großzügiger Ausstattung zunächst bewahren und "über Gebühr"
ausbauen konnten. Der Staat war hierzu in der Lage, weil der Schritt von der prozeduralen zur
153
substantiellen Intervention unter den Vorzeichen einer umfassenden staatlichen Befestigung
der Interessengruppen offensichtlich Akzeptanz fand.
Auf der Grundlage der von Vilrokx an anderer Stelle verwendeten Terminologie kann man
auch darauf hinweisen, daß die beiden Ausformungen der "doppelten Delegierung" (Vilrokx
1998: 474) miteinander in Widerspruch gerieten. Zum einen übertrug der Staat den Tarifver-
tragsparteien die Kompetenz zu "wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen", wozu auch der
Abschluß nationaler Tarifvereinbarungen gehörte. Zum anderen übertrug er ihnen die
"praktische Umsetzung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen", vor allem auch die Verwaltung
des Arbeitslosengelds (Vilrokx 1998: 475). Letzteres wurde zu einer wichtigen Machtressour-
ce der Gewerkschaften, die es ihnen ermöglichte, sich kaum noch Beschränkungen bei der
inhaltlichen Ausgestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen auferlegen zu müssen. Es
scheint, daß der Staat diesen Widerspruch auflöste, indem er den Sozialpartnern die zuerst
genannte Kompetenz wieder entzog.
Im Zentrum der Feststellung eines Machtparadoxons steht also die Beobachtung einer
(Rück-) Verlagerung der Entscheidungskompetenz in den Arbeitsbeziehungen von den
Verbänden auf den Staat. Mit der Kennzeichnung "Machtparadoxon" wird die Interpretation
verbunden, daß diese Verlagerung den ursprünglichen Intentionen des Staates zuwiderläuft.
Der Staat beabsichtigte, die Gewerkschaften zur selbständigen Interessenvertretung zu
befähigen. Statt dessen hatten seine Maßnahmen letztlich zur Folge, daß den Verbänden
Handlungskompetenz entzogen werden mußte. Der Staat, der mit seinen Maßnahmen
"Tarifautonomie" aufrecht zu erhalten und auszubauen beabsichtigte, mußte die nicht-
intendierten Wirkungen seiner Maßnahmen in Rechnung stellen und "Tarifautonomie" in
"Taritheteronomie" überführen. Die an die Bestimmung von Repräsentativität anschließende
Privilegierung der Gewerkschaften führte letztlich dazu, daß den Gewerkschaften in ihrem
vormals wichtigsten Funktionsbereich Handlungskompetenz entzogen wurde. Auf die
Bestimmung von Repräsentativität und die daran anschließende Zuteilung von Ressourcen
und Kompetenzen als zentralem staatlichen Steuerungsmittel folgten Mitglieder- und
Machtzuwächse. Hieraus resultierte aber auch, daß der Staat die nicht-intendierten Hand-
lungsfolgen seiner Steuerungsmaßnahmen korrigieren und hierbei den ehemals bevorzugten
Akteuren Handlungskompetenz entziehen mußte.
Die Schwächung der belgischen Gewerkschaften bestand nicht - wie in zahlreichen anderen
Ländern - darin, daß sie Mitglieder verloren, sondern darin, daß ihnen ihre kollektive
Verhandlungs- und Vertretungskompetenz entzogen wurde:
"L' affaiblissement du syndicalisme en Belgique n' est pas tant du, comme en
France, en Grande Bretagne ou aux Etats-Unis, it Ia perte de ses affilies qu · it
l'amoindrissement de ces capacites de negotiations" (Alaluf 1989: 54).
Die Fragestellung dieser Untersuchung legt es allerdings nicht nahe, sich einem Befund
vorbehaltlos anzuschließen, der auf die nicht-intendierten oder sogar paradoxer Folgen
offiziellen staatlichen Handeins hinweist. Es muß vielmehr geprüft werden, ob den Folgen
!54
staatlichen Handeins nicht Zielsetzungen zugeordnet werden können, welche es nahelegen,
die erzielten Wirkungen als intendierte Handlungsfolgen zu interpretieren.
Eine solche differenzierte Untersuchung staatlicher Zielsetzungen und deren Folgen bedarf
allerdings auch einer differenzierten Sichtweise im Hinblick auf die kollektiven Akteure.
Im folgenden sollen nun nicht mehr nur "die" Gewerkschaften als Adressaten staatlichen
Handeins angesehen werden. Vielmehr soll untersucht werden, ob die Wirkungen des
staatlichen Handeins von den unterschiedlichen Richtungsgewerkschaften gleich oder
unterschiedlich beurteilt werden. Ferner soll beachtet werden, ob unterschiedliche Folgen
staatlichen Handeins fiir die verschiedenen Richtungsgewerkschaften zu beobachten sind.
Weiterhin stellt sich die Frage nach den Auswirkungen der staatlichen Steuerungsmaßnahmen
auf die Beziehungen zwischen den Gewerkschaften.
Ebenso soll die Verlagerung der lohnpolitischen Handlungskompetenz von den Sozialpart-
nern auf den Staat nicht nur als staatliche Steuerungsmaßnahme interpretiert werden.
Vielmehr soll auch Beachtung finden, ob und inwieweit das Handeln der Gewerkschaften
diese VerIagerung begünstigt oder erschwert hat.
Bisher ist gezeigt worden, wie der Staat mit einkommenspolitischen Maßnahmen in die
Arbeitsbeziehungen intervenierte. Diese Interventionen erfolgten, weil die Gewerkschaften
Vereinbarungen über die Löhne und Arbeitsbedingungen durchsetzten, die den Zielsetzungen
widersprachen, die der Staat zu vertreten und zu verantworten hatte. Geht man davon aus, daß
der Staat die Verbände zur weitgehend selbständigen Regelung der Lohn- und Arbeitsbedin-
gungen - zumindest im Rahmen einer konzertierten Entscheidungstindung - auf Dauer hat
befahigen wollen, so steht die funktionsbezogene Entmachtung der Gewerkschaften im
Widerspruch zu der vorausgegangenen exklusiven Ermächtigung der "repräsentativen"
Gewerkschaften. Der Entzug von Handlungskompetenz erscheint als Reaktion auf eine nicht-
intendierte Folge staatlichen Handels. Die großzügige Ausstattung förderte nicht die Selbstab-
stimmung der tarifpolitischen Akteure unter staatlicher Beteiligung, sondern zeitigte Hand-
lungsfolgen, die den Staat dazu veranlaßten, den Akteuren ihre tarifpolitische Kompetenz
weitgehend zu entziehen.
Nunmehr ist nach den Wirkungen zu fragen, die diejenigen substantiellen Interventionen
hatten, welche die nicht-intendierten Handlungsfolgen staatlichen Handeins einschränken
oder sogar kompensieren sollten. Hierbei wird sich zeigen, daß die Interpretation der
Wirkungen staatlichen Handeins als nicht-intendierte Wirkungen zunehmend an Plausibilität
verliert und statt dessen eine Unterscheidung von offiziellen und inoffiziellen Zielsetzungen
vorauszugehen hat. Erst diese Unterscheidung enbindet davon, staatliches Handeln als eine
Abfolge von Handlungen zu interpretieren, die permanent nicht-intendierte oder sogar
paradoxe Wirkungen nach sich zieht, ohne eine Korrektur zu erfahren.
155
4.3 Zwischengewerkschaftliche Beziehungen und Mitgliedschaft in Gewerkschaften
Im Zusammenhang mit der Beobachtung des sozialen Wandels in Belgien ist bereits darauf
hingewiesen worden, daß sie sich die Wertorientierungen verändert haben, an denen die
Säulenorganisationen und ihre Mitglieder ihr Handeins offiziell orientierten. Es wurde
deutlich, daß diese Veränderungen zu weniger spezifischen und damit weniger exklusiven
Orientierungen führten. Der Wandel der Orientierungen sollte dazu dienen, den Organisatio-
nen ein Profil zu geben, mit dem sie sich von den (konkurrierenden) Organisationen der
anderen "Säulen" abgrenzen konnten. Gleichzeitig aber sollten die Orientierungen im
Einklang mit dem sozialen Wandel in anderen gesellschaftlichen Bereichen stehen, auf die
sich die (potentiellen) Mitglieder in ihrem Handeln ebenfalls bezogen. Nicht zuletzt mußten
die Orientierungen aber auch für Arbeitnehmer akzeptabel sein, die als Mitglieder gewonnen
werden sollten. Es mußte also vermieden werden, lediglich exklusive Orientierungen für
"geborene" Säulenmitglieder zu offerieren. Vielmehr mußten die Orientierungen einerseits so
offen sein, daß sie einen Anreiz zum Beitritt boten, andererseits mußten sie aber auch so
spezifisch sein, daß sie die besonderen Mitgliedschaftsbeziehungen der jeweiligen Organisa-
tion darzustellen in der Lage waren. Am Beispiel des Wandels von Organisationen der
christlichen Säule von spezifisch katholischen Orientierungen zu allgemeinen "unbürokrati-
schen" Orientierungen der Mitmenschlichkeit ist ein solcher Wandel veranschaulicht worden.
Gleichzeitig ist gezeigt worden, daß die Säulenorganisationen auch deshalb einen entspre-
chenden Wandel der Orientierungen favorisierten, weil er eine bessere Grundlage für eine
zwischengewerkschaftliche Kooperation darstellte. Diese Kooperation lag wiederum im
Mitgliederinteresse, weil sie eine effizientere Interessenvertretung versprach. Dies galt vor
allem unter den Vorzeichen der Konzertierung, als die zwischengewerkschaftliche Kooperati-
on auch im Interesse des gesellschaftlichen Ordnungsprinzips der verschränkten Versäulung
lag.
Es stellt sich im Anschluß daran nunmehr die Frage, welche gewerkschaftlichen Orientie-
rungen unter den Bedingungen eines sozialen Wandels wahrzunehmen sind, die seit der Mitte
der siebziger Jahre auf die belgiseben Arbeitsbeziehungen Einfluß nehmen.
Dieser Wandel besteht vor allem in der staatlichen und gesellschaftlichen Regionalisierung
und Föderalisierung sowie in der staatlichen Intervention in die Arbeitsbeziehungen, mit
denen die Tarifautonomie zunehmend und anscheinend irreversibel reduziert wurde.
Wie reagieren die Gewerkschaften auf diese Veränderungen und Herausforderungen?
Welche - gegebenenfalls unterschiedlichen - Strategien entwickeln sie und wie wirken sich
diese Unterschiede auf die Beziehungen der Gewerkschaften zueinander aus?
Eine Untersuchung, die staatliches Handeln nicht pauschal auf "die" Gewerkschaften zu
beziehen sucht, sondern differenziert danach fragt, welche Folgewirkungen es für die
unterschiedlichen Richtungsgewerkschaften hat, kann zunächst der Frage nachgehen, welche
programmatischen Unterschiede zwischen den Gewerkschaften bestehen. Ferner kann
untersucht werden, ob - gegebenenfalls im Einklang mit den programmatischen Aussagen -
!56
stereotype Selbst- und Fremdeinschätzungen der großen Gewerkschaften festzustellen sind,
die eine differenzierte Rezeption der staatlichen Interventionen nahelegen.
Daran anschließend kann dann festgestellt werden, ob und gegebenenfalls welche Unter-
schiede in den gewerkschaftichen Einstellungs- und Verhaltensweisen zu beobachten sind, die
sich aus den staatlichen Interventionen in die kollektiven Arbeitsbeziehungen ergeben.
"The more differentiated view of society held by the ACV/CSC had consequences
which worked to its advantage. Thus, for example, it concentrated its trade union
strategy more on new employees and weak groups. This strategic choice gave it a
structural advantage to the ABVV/FGTB which remained closely attached to the
traditional 'aristocratie ouvriere' and whose class-based thinking left little scope
for such differences, which were in any event considered to be subordinate to the
!57
more fundamental class Oppositions" (Holderbeke u.a. zit. nach Pasture 1996:
121)79 •
79 Diese Aussage bestätigen Arcq/Blaise: "La CSC parait s' etre adaptee plus töt a I' evolution des mentalites en
consacrant davantage d'efforts a l'efficacite des aspects ,services' parallelement au röle militant ou revendica·
tif de l'action syndicale" (1999: 19).
!58
Jen. Eine entsprechende Handlungsform galt für die Mitglieder der sozialistischen Gewerk-
schaften anscheinend nicht als ein funktionales Äquivalent für die Interessendurchsetzung auf
dem Verhandlungswege 80 .
so Solche grundsätzlichen Einstellungen zur Art und Weise gewerkschaftlicher Einflußnahme sind sicherlich
auch darauf zurückzuführen, daß die christlichen Parteien fast immer zu den Regierungsparteien gehörten,
während die sozialistischen Parteien - im Falle einer Mitte-Rechts-Regierung aus Christdemokraten und
Liberalen - in der Opposition standen. Die Vertreter der christlichen Gewerkschaften hatten also immer
Ansprechpartner in der Regierung und konnten auf Einflußkanäle zu wichtigen Regierungsstellen zurückgrei-
fen.
159
Die christlichen Gewerkschaften waren bemüht, ihren Einfluß auf die Inhalte der staatli-
chen Arbeits- und Sozialpolitik durch eine Zusammenarbeit auf informellem Wege geltend zu
machen. Sie versuchten, die Verfahren und Einflußwege der Konzertierung zu substitutieren:
"On ne pouvait pas parler ... d'une concertation prealable au sens strict" (so Premierminister
Martens zit. nach Beaupain 1984a: 38). Sie nutzten hierzu ihre Kontakte zur christlichen
Partei und zur belgischen Regierung. Die christlichen Gewerkschaften unterbreiteten der
Regierung einen offiziellen Forderungskatalog zu arbeits- und sozialpolitischen Fragestellun-
gen, dessen Prüfung ihnen zugesagt wurde. Die Regierung zeigte sich daraufhin sogar bereit,
auf Drängen der christlichen Gewerkschaften die von ihr eigentlich vorgesehenen Sparmaß-
nahmen im Bereich der Familienförderung einzuschränken. Diese Einflußnahme erfolgte
einverständlich. Der Premierminister bescheinigte den christlichen Gewerkschaften Gemein-
wohlorientierung81.
In schriftlichen Abstimmungen über diese Iobbyistische Form der Einflußnahme der christ-
lichen Gewerkschaften auf die Regierung erhielten die Führungsorgane der christlichen
Gewerkschaft eine - wenn auch knappe - Unterstützung durch die Mitgliedsverbände.
Die im sozialistischen Gewerkschaftsbund föderierten Mitgliedsverbände hingegen lehnten
staatliche Interventionen grundsätzlich ab. Einige Mitgliedsverbände plädierten sogar für
Arbeitskampfhandlungen, um den Widerstand gegenüber den Regierungsmaßnahmen deutlich
zu machen. Die Leitung des sozialistischen Gewerkschaftsbundes bemühte sich zunächst, den
Dissens mit der Regierung nicht in offenen Widerstand münden zu lassen. Sie stand allerdings
vor der Notwendigkeit, ihre Glaubwürdigkeit gegenüber der Basis aufrecht zu erhalten, die
mehrheitlich Widerstand gegenüber dem Regierungsvorhaben leisten wollte.
Daraufhin organisierten die sozialistischen Gewerkschaften einen 24-stündigen General-
streik.
Die christliche Gewerkschaft schloß sich diesen Arbeitskampfhandlungen nicht an. Sie
forderte die sozialistischen Gewerkschaft statt dessen auf, lieber Alternativen zur Regierungs-
politik zu skizzieren als Arbeitskampfmaßnahmen zu organisieren. Der sozialistischen
Gewerkschaft wurde vorgeworfen, mit ihren Arbeitskampfhandlungen vor allem den
christlichen und liberalen Regierungsparteien schaden zu wollen und so auf die Abwahl der
Regierung hinzuarbeiten. Der sozialistischen Gewerkschaft liege daran, so der Vorwurf, ". .. il
developper une Opposition politico-syndicale teintee d" electoralisme" (Beaupain 1984a :42).
An den nachfolgenden Arbeitskämpfen und Massendemonstrationen nahmen auch Mitglie-
der der christlichen Gewerkschaften teil. Allerdings fehlte diesen Aktionen die offizielle
Unterstützung der christlichen Gewerkschaftsverbände. Vermutlich unter dem Druck dieser
Protestaktionen kam es schließlich doch zu einer gemeinsamen Forderungsplattform (plate-
forme commune) der beiden großen Gewerkschaften. Gefordert wurde eine branchenübergrei-
160
fende Zentralvereinbarung, durch die beschäftigungsfördernde Maßnahmen eingeleitet
werden sollten. Ebenso wurde das Vorhaben der Regierung, die Index-Bindung der Löhne
auszusetzen (desindexation ), von den beiden großen Gewerkschaften heftig kritisiert.
Die gemeinsame Plattform der Gewerkschaften konnte allerdings die restriktiven Maßnah-
men der Regierung nicht verhindern. Die Maßnahmen wurden durchgesetzt, ohne daß
abgewartet wurde, ob eine branchenübergreifende Zentralvereinbarung zustande kam oder
nicht.
Entscheidend sind in diesem Zusammenhang, die - wie es Beaupain bezeichnet - "sensibi-
lites differentes" (1984a: 48) der beiden großen Gewerkschaften.
Die beiden großen Richtungsgewerkschaften zeigten eine unterschiedliche Affinität zu den
geplanten Regierungsinterventionen: Die christlichen Gewerkschaften versuchten, auf die
christlich-demokratisch gefiihrte Regierung einzuwirken, um inhaltliche Korrekturen zu
erreichen. Ihr Ziel bieb die Fortsetzung der concertation, jedoch unter Berücksichtigung der
gegebenen Umstände und auf modifizierten Einflußwegen. Die sozialistischen Gewerkschaf-
ten hingegen kanalisierten die Proteste der Arbeitnehmer. Die Regierungsmaßnahmen
erschienen ihnen sozialpolitisch inakzeptabel und gewerkschaftspolitisch verwerflich, weil sie
an die Stelle autonomer Vereinbarungen traten. Eine Iobbyistische Einflußnahme konnte und
sollte die tarifpolitische Eigenständigkeil nicht ersetzen.
Der hohe Stellenwert, den autonome Kollektiwereinbarungen fiir die sozialistische Ge-
werkschaften hatten, wurde auch dadurch deutlich, daß diese Gewerkschaft bereits im Jahre
1983 gegen die rechtlichen Interventionen in die Arbeitsbeziehungen Beschwerde vor der
Internationalen Arbeitsorganisation erhoben. Diese Beschwerde wurde damit begründet, daß
die belgisehe Regierung durch ihre einkommenspolitische Intervention gegen eine von ihr im
Jahre 1953 unterzeichnete internationale Konvention verstoßen habe. In dieser Konvention
war den Sozialpartnern das Recht zur selbständigen autonomen Verhandlungsfiihrung 82
zugesichert worden.
Der Beschwerde wurde grundsätzlich stattgegeben und festgestellt, daß eine einkommens-
politische Intervention nur in Ausnahmefällen fiir eine befristete Zeit zulässig sei. Alle
nachfolgenden einkommenspolitischen Interventionen standen also unter diesem rechtlichen
Vorbehalt (vergl.: Cypres 1988: 42).
Im Jahre 1986 gelang es den Sozialpartnern erstmals wieder, eine branchenübergreifende
Zentralvereinbarung mit den Arbeitgebern abzuschließen.
In den Kommentierungen wurde der vorausgegangene Regierungswechsel und die damit
verbundene Beteiligung der sozialistischen Parteien an der Regierungsbildung als eine
wichtige Voraussetzung für das Zustandekommen der Zentralvereinbarung angesehen.
82 ,,le principe de nt\gociation volontaire des conventions collectives et de r autonomie des interlocuteurs sociaux
en Ia matiere" (Cypres 1988: 42)
161
Im Vorfeld der Verhandlungen zeigten sich allerdings deutliche Unterschiede zwischen den
großen Gewerkschaften (vergl. Beaupain 1986a: 170 ff.).
Während die christlichen Gewerkschaften Maßnahmen zur Beschäftigungssteigerung, zur
Aufrechterhaltung der sozialen Sicherung sowie zur Steigerung der Lohneinkommen
forderten, stellten die sozialistischen Gewerkschaften prozedurale Veränderungen ins
Zentrum ihrer Forderungen. Sie wollten vor allem die Wiederherstellung der Verhandlungs-
freiheit sicherstellen und lehnten externe Vorgaben wie die Ausrichtung der Lohnsteigerung
an der Wettbewerbsfähigkeit entschieden ab: "La liberte de negotiations ... pas de norme de
competitivite ... pas de droit d'intervention pour Je Gouvernement" (Beaupain 1986a: 17 1).
Erst auf der Grundlage der wiedergewonnenen Verhandlungsfreiheit sollten Einkommenser-
höhungen vereinbart werden, vor allem auch, um die Massenkautkraft steigern zu können.
Auf ihrem Kongreß im Jahre 1986 führten die sozialistischen Gewerkschaften einen weite-
ren Nachweis dafür, daß sie den prozeduralen Forderungen nach Wiederherstellung der
Verhandlungsautonomie den Vorrang gaben. Die sozialistischen Gewerkschaften erarbeiteten
auf Betreiben ihrer betrieblichen Repräsentanten eine Plattform für die betrieblichen Sozial-
wahlen, in der wiederum der gewerkschaftlichen Handlungs- und Verhandlungsfreiheit
höchste Priorität eingeräumt wurde:
"Ce sont !es libertes et !es droits syndicaux qui se trouvent en tete de Ia plate-
forme pour !es elections sociales et sur lesquels ont d'ailleurs porte Ia plus grande
partie des interventions des militants au congres ... " (Beaupain 1986b: 62).
162
Sozialpakt nicht als ein Positiv-Summen-Spiel betrachtet werden könne, aus dem alle
involvierten kollektiven Akteure nur Vorteile ziehen könnten. Vielmehr handele es sich um
eine Vereinbarung, deren Abschluß wechselseitige Kompromisse (Geben und Nehmen)
voraussetze: " ... un accord social ne sera pas tant gagnant gagnant (tous les gagnants) que
donnant donnant (donneret re9evoir)" (Arcq 1993c: 14).
Die Reaktionen der sozialistischen Gewerkschaften auf die Aufforderung zum Abschluß
eines Sozialpakts waren demgegenüber weitaus zurückhaltender.
Wiederum zeigten die sozialistischen Gewerkschaften weniger Interesse am Abschluß einer
Vereinbarung als daran, die gewerkschaftliche Beteiligung an der Entscheidungstindung
sicherzustellen und möglichst auszudehnen. Den sozialistischen Gewerkschaften lag vor
allem daran, ihre Rolle als unabhängige Gegenmacht (contrepouvoir independante) zu
behaupten und erst auf dieser Grundlage weitere Erfolge im Interesse der Arbeitnehmer
anzustreben. Die prozedurale Autonomie hatte Vorrang vor substantiellen Ergebnissen
(Beaupain/Man9o 1993: 16). Die sozialistischen Gewerkschaften lehnten es dann auch ab, auf
der Grundlage lohnpolitischer Vorstellungen der Regierung mit den anderen Akteuren in
Verhandlungen zu treten.
Zur Begründung ihrer Ablehnung wurden inhaltliche, vor allem aber auch verfahrensbezo-
gene Gründe genannt. Der Vorsitzende der sozialistischen Gewerkschaften kritisierte, daß es
in der Absicht des Premierministers liege, den Verhandlungspielraum zu minimieren und nur
noch eine Entscheidung über die Zustimmung oder die Ablehnung der Normierungen zu
ermöglichen: " ... Ia note que nous a presentee le Premier ministre ne constituait pas une base
de negociation mais une base d'accord" (zitiert nach: Arcq 1993c: 27; vergl. ebenso
Claeys/Man90 1993: 13).
Die christlichen Gewerkschaften machten ebenfalls Bedenken gegen die Regierungsvor-
schläge geltend. Im Unterschied zu den sozialistischen Gewerkschaften waren die christlichen
Gewerkschaften aber bemüht, die Regierungsvorgabe nicht als eine ultimative Aufforderung
zur Akzeptanz lohnpolitischer Normierungen einzustufen, sondern als eine Konzeption, die
weiter modifiziert werden müsse, gegebenenfalls auch auf dem Wege lobbyistischer Einfluß-
nahme. Nur auf diesem Wege könne überhaupt Schlimmeres verhütet werden. Es sei den
christlichen Gewerkschaften bereits früher gelungen, Normierungen zu vermeiden, die für die
Arbeitnehmer noch ungiinstiger gewesen wären: "Nous discuterons pour attenuer les point
negatifs et renforcer !es points positifs. Sans nous, !es mesures seront encore plus dures"
(Arcq 1993c: 27) 83 •
81 vergl. bereits Holthuys: ,,Met de regering en de eigen vrienden in die regering diende het ACV te onderhan-
delen om de liberale overdrijvingen ende on aanvaardbare besparingen te milderen ofweg te werken" (1988:
464).
163
Den christlichen Gewerkschaften ging es vor allem darum, den Dialog der Gewerkschaften
mit der Regierung aufrecht zu erhalten 84 •
Als keine Einigung zwischen den verschiedenen Akteuren erzielt werden konnte, bekräf-
tigte die Regierung ihre Entschlossenheit, angesichts wirtschaftlicher Krisensymptome aus
eigener Kraft einen Globalplan aufzustellen.
Die Regierung behielt sich vor, die Sozialpartner in dieser Angelegenheit zu Rate zu
ziehen: "En temps utile, Je gouvemement organisera une concertation en Ia matiere avec !es
interlocuteurs sociaux" (Arcq 1993c: 28). Die kontinuierliche Beteiligung der Sozialpartner
am Entscheidungsprozeß war aber damit nicht sichergestellt. Die ,,Konzertierung" erfolgte
nur unter der Bedingung, daß die Regierung sie als wichtig und richtig ansah.
Nunmehr traten die Unterschiede zwischen den großen Gewerkschaften noch deutlicher
hervor: Während die sozialistischen Gewerkschaften Arbeitskämpfe organisierten, plädierten
die christlichen Gewerkschaften in ganzseitigen Zeitungsanzeigen öffentlich für eine
Fortsetzung der Unterredungen mit der Regierung. Sie gaben sich mit einer Form von
"Konzertierung" zufrieden, die nur noch darin bestand, von der Regierung nach Bedarf
konsultiert zu werden. Die arbeits- und sozialpolitische Normierung erfolgte hierbei letztlich
durch die Regierung, nicht durch die Sozialpartner. Der Einfluß der Sozialpartner war von
Bedingungen abhängig, aufwelche die Sozialpartner nur wenig einwirken konnten.
Die Unterschiede zwischen den beiden großen Gewerkschaften zeigten sich also vor allem
in der Beurteilung der staatlichen Interventionen in die Tarifpolitik.
Während sich die sozialistischen Gewerkschaften staatlichen Interventionen gegenüber
grundsätzlich ablehnend verhielten, arrangierten sich die christlichen Gewerkschaften mit
diesen Interventionen und versuchten, auf die Inhalte auch dann Einfluß zu nehmen, wenn
diese letztlich von der Regierung bestimmt wurden. Während die sozialistischen Gewerk-
schaften autonomen Verfahren Nachdruck verliehen, kam es den christlichen Gewerkschaften
vor allem darauf an, die Inhalte der staatlichen Normierungen zu modifizieren. Der prozedural
orientierten Konzeption der sozialistischen Gewerkschaften stand die substantiell orientierte
Konzeption der christlichen Gewerkschaften gegenüber. Ging es den sozialistischen Gewerk-
schaften darum, collective bargaining wiederherzustellen, so versuchten die christlichen
Gewerkschaften in erster Linie, die konsultativen Elemente der Konzertierung aufrechtzuer-
halten, um ihren Einfluß im Sinne der Arbeitnehmer auch dann ausüben zu können, wenn die
autonomen Verhandlungen suspendiert waren. Wenngleich die Intensität, mit der beide
Konzeptionen vertreten wurden, auch davon abhängig war, welche politische Parteien die
84 Allerdings war diese Vorgehensweise auch innerhalb der christlichen Gewerkschaften umstritten. Die
christliche Gewerkschaft Centrale Nationale des Employes (CNE) weigerte sich, der Gewerkschaftszentrale
weiterhin Verhandlungsvollmacht zu erteilen und stellte sogar die Zusammenarbeit mit Einzelgewerkschaften
der sozialistischen Gewerkschaften (Centrale Generale des Services Publies (CGSP) und Centrale des
Metallurgistes de Belgique (CMB) in Aussicht, um Demonstrationen gegen die Regierungsvorlage zu
organisieren (vergl. Arcq 1993c: 27f.).
164
Regierung bildeten, wurden die beiden Konzeptionen kontinuierlich vertreten, unabhängig
davon, ob der Regierung eine "große Koalition" zugrunde lag oder ob die sozialistische Partei
in der Opposition war.
In dem Maße, in dem sich die staatliche Intervention als Form der Lohntindung durchsetz-
te, gerieten die Kompromißbereitschaft der christlichen Gewerkschaften und die Forderung
der sozialistischen Gewerkschaften nach einer Rückkehr zu eigentlichen Kollektivverhand-
lungen immer mehr in Widerspruch zueinander. Die gegensätzlichen Einstellungen und
Verhaltensweisen der beiden großen Gewerkschaften belasteten zunehmend ihr Verhältnis
zueinander.
Im folgenden sollen einige weitere Randbedingungen benannt werden, die die Beziehungen
zwischen den beiden großen Gewerkschaften beeinflußt haben.
" vergl. in diesem Sinne auch die Beurteilung durch die beiden ehemaligen Vorsitzenden der christlichen und
der sozialistischen Gewerkschaften Houthuys (1988: 456) und Debunne (1988: 168f.).
165
verständlich, die diesen Ausdrucksformen zugrundeliegen. Wenn Mampuys kontrastiert:
"Debunne met zijn prinzipielle 'njet' en Houthuys met zijn pragmatisch 'ja/neen,maar [aber,
W.P] "', sind dies fast symbolhafte Kennzeichnungen fiir die verschiedenartigen Orientierun-
gen und Handlungsformen der beiden großen Gewerkschaftsverbände in den siebziger und
achtziger Jahren. Diese lassen sich aber auf weitere - wohl entscheidendere - Bedingungen
zurückführen als auf die persönlichen Eigenarten der Vorsitzenden.
In ihren Erinnerungen nennen die beiden Gewerkschaftsvorsitzenden einen weiteren Grund
für die Schwierigkeiten in den zwischengewerkschaftlichen Beziehungen, wenn sie als
offiziellen "Scheidungstermin" übereinstimmend den 17 .12. 1981 angeben, den Tag also, an
dem die belgisehe Regierung Martens ohne Beteiligung der Sozialisten zustandekam
(Houthuys 1988: 462 und Debunne 1988: 171). Zwar muß auch hier zwischen einem
"Scheidungstermin" und den "Scheidungsgründen" unterschieden werden, doch wollen die
beiden Insider mit der Angabe dieses Datums einen Hinweis darauf geben, daß die parteipoli-
tische Konstellation in der belgischen Regierung erheblichen Einfluß auf die zwischenge-
werkschaftlichen Beziehungen nimmt. Houthuys betont ausdrücklich: "Ongetwijfeld hebben,
tijdens de hele periode 1970-1985, de politieke kleur van de regeringen en de gemaakte
regeringscoalities de verhaudingen ACV-ABVV sterk beeinvloed" (1988: 456). In der Zeit
von 1982-1985 gab es allenfalls spärliche Kontakte zwischen den beiden großen Gewerk-
schaften:
"De periode 1982-1985 kan dus bezwaarlijk worden beschreven las een periode
zonder contacten tussen beide vakverbonden Toch kan de toestand ende at-
000 000
166
Aus heutiger Sicht hingegen, nach den Erfahrungen mit dem (gescheiterten) neuen Sozial-
pakt, dem Globalplan und den anschließenden Regierungsinterventionen, läßt sich die These
von einer wirklichen Wende in den zwischengewerkschaftlichen Beziehungen (so Mampuys
1991: 487) nicht aufrechterhalten. Es gelang den Gewerkschaften nicht, auf der Grundlage
gemeinsamer Aktionen entscheidende Verhandlungsspielräume für die sektorale Ebene
durchzusetzen und der staatlichen Intervention Einhalt zu gebieten.
Ebenso wenig wie personelle Konstellationen (Wechsel der Vorsitzenden) sollten aber auch
die parteipolitische Konstellationen, die der Regierungsbildung zugrundeliegt, als ausschlag-
gebende Ursache für den Verlauf der zwischengewerkschaftlichen Beziehungen hypostasiert
werden. Sie liefern allenfalls Hinweise auf einen engen Zusammenhang in den Beziehungen
zwischen den politischen Parteien und den ihnen nabestehendenden Richtungsgewerkschaf-
ten.
Die Bedeutung personeller und parteipolitischer Konstellationen wird auch dadurch relati-
viert, daß Veränderungen dieser Konstallationen keine nachhaltigen Veränderungen der
zwischengewerkschaftlichen Beziehungen herbeiführten. Diese erwiesen sich vielmehr
weiterhin als problematisch.
Gelegentliche gemeinsame Aktionen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß weiterhin
starke Unterschiede zwischen den beiden großen Gewerkschaften bestanden. Diese Unter-
schiede beeinträchtigten die zwischengewerkschaftliche Kooperation und verhinderten eine
Rücknahme der staatlichen Interventionen. Die punktuelle zwischengewerkschaftliche
Kooperation hatte die staatliche Intervention nicht rückgängig machen können. Vielmehr
entwickelten sich divergierende Interaktionsmuster, welche die unterschiedliche Affinität der
großen Gewerkschaften zu bestimmten Steuerungsformen deutlich machten und zu dauerhaf-
ten Veränderungen gewerkschaftspolitischer Orientierungen und Handlungsformen führten.
So rückten die unterschiedlichen Vorstellungen beider Gewerkschaften über den gewerk-
schaftlichen Umgang mit den staatlichen Interventionen zur Bewältigung wirtschaftlicher
Krisenphänomene wieder in den Vordergrund des Interesses. "ABVV (socialist trade union)
and ACV (Christian trade union) cultivated different viewpoints concerning the solution of
crisis, which resulted in a tense relationship" (Holthuys 1988: 465).
Die Rückkehr zur Tarifautonomie und die Iobbyistische Einfußnahme auf die Inhalte
staatlicher Vorgaben erschienen zunehmend als alternative Strategien. Indem der Staat die
lohnpolitischen Normierungen anstrebte, wählte er umstrittene Aktionsinhalte, die einen
Konsens zwischen den Gewerkschaften erheblich erschwerten, wenn nicht sogar verhinderten.
Die Beziehungen der beiden großen Gewerkschaften zueinander wurden auch dadurch
belastet, daß diese Gewerkschaften eine unterschiedliche Akzeptanz bei den Arbeitnehmern
fanden. Dies fand in Unterschieden bei der Aufnahme und Beendigung von Mitgliedschaften
ebenso seinen Ausdruck wie bei Wahlentscheidung.
Die Mitglieder- und Wählerentwicklung der großen Gewerkschaften zeigte erhebliche
Divergenzen.
167
An anderer Stelle dieser Untersuchung war bereits hervorgehoben worden, daß eine wichti-
ge Voraussetzung fiir die erfolgreiche Kooperation der großen Gewerkschaften dann gegeben
war, wenn die beiden Gewerkschaften annähernd gleich groß waren (vergl. Kap. 3.3. 7.I).
Diese Voraussetzung war in Belgien bis zur Mitte der siebziger Jahre gegeben. Seitdem
waren die Mitgliederzahlen der christlichen Gewerkschaften ständig gestiegen, während
diejenigen der sozialistischen Gewerkschaften stagnierten.
Der Abstand zwischen den beiden großen Gewerkschaften hatte sich seit Beginn der
staatlichen Intervention im Jahre 1976 bis zum Beginn der neunziger Jahre mehr als verdop-
pelt. Während die Mitgliederzahlen fiir das Jahr 1976 mit 1.234.758 fiir die christlichen
Gewerkschaften und 1.062.604 fiir die sozialistischen Gewerkschaften angegeben wurden,
beliefen sich die entsprechenden Angaben fiir das Jahr 1991 auf 1.456.687 bzw. 1.070.035
(vergl. Abbildung 3).
168
Abbildung 3: Belgien- Mitgliederzahlen der ACV/CSC und der ABVV/FGTB86
ACV/CSC ABVV/FGTB
1965 844.410 750.318
1966 872.245 761.636
1967 904.672 770.816
1968 922.990 800.851
1969 950.233 823.379
1970 965.208 836.963
1971 995.520 886.175
1972 1.046.360 928.272
1973 1.078.758 968.590
1974 1.139.061 1.003.473
1975 1.201.681 1.062.604
1976 1.234.758 1.078.817
1977 1.259.787 1.093.200
1978 1.274.629 1.063.071
1979 1.293.256 1.112.757
1980 1.318.845 1.126.814
1981 1.339.079 1.126.721
1982 1.344.925 1.107.985
1983 1.337.834 1.088.665
1984 1.334.332 1.100.701
1985 1.361.978 1.083.448
1986 1.379.636 1.022.715
1987 1.385.606 1.016.321
1988 1.383.366 1.008.259
1989 1.419.343 1.004.165
1990 1.425.594 1.066.145
1991 1.456.687 1.070.035
Im Jahr 1975 überholten die christlichen Gewerkschaften mit 47,7% der Stimmen (1971:
45,5%) bei den Wahlen zu den Betriebsausschüssen erstmals die sozialistischen Gewerk-
schaften, auf die 46,17% der Stimmen entfielen (1971: 48,5%). Bei den nachfolgenden
Wahlen vergrößerte sich der Abstand zwischen den beiden Gewerkschaften noch zugunsten
der christlichen Gewerkschaften. 1995 entfielen 52, 1% der Stimmen auf die christlichen
Gewerkschaften und nur noch 37,8% der Stimmen auf die sozialistischen Gewerkschaften
(vergl. Abbildung I, Kap. 3.3.7.1)87 •
Diese unterschiedliche Entwicklung gilt bei manchen Kommentatoren als die eigentliche
Besonderheit der belgischen Arbeitsbeziehungen: In keinem anderen Land hatten die
169
christlichen Gewerkschaften einen derartigen Aufschwung nehmen und auf Kosten der
sozialistischen Gewerkschaften ausbauen können: "The ability ofthe ACV/CSC to outstrip its
socialist counterpart was a unique 'achievement' for a Christian trade union in Europe"
(Pasture 1996: 106) 88 . Mit der Bevorzugung der christlichen Gewerkschaften durch Mitglie-
der und Wähler entfiel also eine weitere Voraussetzung fiir eine erfolgreiche zwischenge-
werkschaftliche Kooperation: "lt is becoming increasingly clear that CSC is the principal
Belgian confederation, and that the assumptions of approximate parity which have always
underpinned relations between the unions, and much industrial relations practice, are no
Ionger valid" (EIRR 215 1991: 20).
Setzt man die unterschiedliche Mitglieder- und Wählerentwicklung der christlichen und der
sozialistischen Gewerkschaften Belgiens in Bezug zu den vorher beschriebenen unterschiedli-
chen Orientierungen und Handlungsweisen, so können diese Divergenzen auch als Ausdruck
einer unterschiedlichen hierauf bezogenen Akzeptanz durch die Arbeitnehmer angesehen
werden:
Die Arbeitnehmer bestätigten die christlichen Gewerkschaften in ihrem Handeln durch die
Aufnahme von Mitgliedschafren und durch Wahlerfolge. Die Zustimmung zu den sozialisti-
schen Gewerkschaften war geringer. Die Arbeitnehmer belohnten eher die Bemühungen der
christlichen Gewerkschaften um Substitute der "Konzertierung" aufpolitischem Wege als die
Bemühungen der sozialistischen Gewerkschaften um eine Rückkehr zum collective bargai-
ning.
88 vergl. auch schon Plater: "De evolutie van de vakbeweging in ons land heeft wellicht als meest bijzonder
kenmerk dat een aanvankelijke minderheidsvakbond als het ACV is uitgegroeid tot een meerderheidsvakbond
en dit ten nadele van de sociaal-demokratische vakbeweging (ABVV), die in alle ons omringende landen
veruit de meerheidsvakbeweging vormt en blijft vormen." (1987: II)
170
nicht zufrieden geben. Die sozialistischen Gewerkschaften erwiesen sich als die Gewerk-
schaften der Verhandlungsautonomie, denen substantielle Interventionen in die Arbeitsbezie-
hungen zuwider waren. Eine Anpassung der sozialistischen Gewerkschaften an Iobbyistische
Handlungsformen kam nicht in Betracht. Statt dessen übernahmen sie die Aufgabe, den
Protest der Arbeitnehmer gegen die staatlichen Interventionen zu kanalisieren. Sie entspra-
chen damit eigenen konfliktarischen programmatischen Ansprüchen und vor allem auch der
Selbst- und Fremdeinschätzung, die von Mitgliedern und Funktionären eigener und fremder
Gewerkschaften geteilt wurde.
Im Unterschied dazu waren die christlichen Gewerkschaften bereit, staatliche Interventio-
nen zu tolerieren. Sie versuchten, Formen der Beeinflussung der staatlichen Willensbildung
auszuschöpfen, welche in der Lage waren, die concertation zu ersetzen. Hierzu boten ihre
"säulenintemen" Beziehungen zur christlichen Regierungspartei Gelegenheit. Die Regierung
versäumte es nicht, auf diese Einflußmöglichkeiten hinzuweisen und den Akteuren, die sich
ihrer bedienten, Erfolge zu attestieren. Die Regierung machte deutlich, wenn sich ihre
Normierungen durch die Iobbyistische Einflußnahme der christlichen Gewerkschaft verändert
hatten. Die christlichen Gewerkschaften waren auf diese Weise in der Lage, eine reale
Einflußnahme zu belegen und ihr Handeln nach außen zu legitimieren.
Die Kontinuität und Intensität der staatlichen Interventionen in die kollektiven Arbeitsbe-
ziehungen fiihrten dazu, daß die Unterschiede in den gewerkschaftlichen Reaktionen immer
deutlicher hervortraten.
Anpassung oder Widerstand gegenüber den staatlichen Interventionen standen einander als
reale gewerkschaftliche Einstellungs- und Handlungsformen gegenüber. Die staatlichen
Interventionen wurden zum zentralen Streitobjekt zwischen den Gewerkschaften. Die
Unterschiede in der Haltung gegenüber den staatlichen Interventionen erschwerten die
Konsenstindung zwischen den Gewerkschaften, die eine Rückkehr zu "tarifautonomen"
Entscheidungsformen ermöglicht hätte.
Die Regierung wurde hiermit in die Lage versetzt, ihre Intervention nicht mehr nur mit
übergeordneten wirtschaftlichen Zielsetzungen zu rechtfertigen. Vielmehr konnte sie auch auf
den Dissens der beiden großen Gewerkschaften hinweisen, der einheitliche gewerkschaftliche
Vorschläge unmöglich machte.
Der Konsens der beiden großen Gewerkschaften rückte in immer weitere Feme. Hierzu
trug bei, daß das gewerkschaftliche Handeln bei den Arbeitnehmern eine unterschiedliche
Akzeptanz fand. Das Verhalten der christlichen Gewerkschaften wurde nicht etwa als
opportunistisch bestraft, sondern vielmehr als realistisch belohnt. Die Entwicklung der
Mitgliederzahlen und die Ergebnisse der Wahlen zu den betrieblichen Vertretungsorganen der
Arbeitnehmer zeigen, daß die christlichen Gewerkschaften als die Gewinner der staatlichen
Interventionen angesehen werden können, zumindest stand ihr Handeln im Einklang mit
gleichzeitigen organisationspolitischen Erfolgen. Im Unterschied dazu stagnierte die
Entwicklung der sozialistischen Gewerkschaften. Bezieht man ihren Mitglieder- bzw.
171
Stimmenanteil auf die Gesamtzahl der Mitglieder bzw. Wählerstimmen, muß man sogar
feststellen, daß die sozialistischen Gewerkschaften zurückfielen.
Damit entfiel eine weitere strukturelle Voraussetzung für zwischengewerkschaftliche
Kooperationsbeziehungen: Die gleiche Größe der kooperierenden Akteure. Eine Rückkehr zu
"tarifautonomen" Gestaltungsformen der kollektiven Arbeitsbeziehungen wurde immer
weniger wahrscheinlich.
Die Wirkungen staatlichen Handeins auf die Beziehungen zwischen dem Staat und den
Gewerkschaften lassen sich zunächst als Abfolge von nicht-intendierten Handlungen
interpretieren. Dieses liegt nahe, wenn man dem staatlichem Handeln die Zielsetzung
unterstellt, den anderen Akteuren der Arbeitsbeziehungen langfristig weitgehende Hand-
lungsautonomie gewähren zu wollen. Diese Zielsetzung entspricht den offiziellen staatlichen
Intentionen ebenso wie dem Ordnungsprinzip der verschränkten Versäulung. In diesem
Konzept waren autonome kooperative zwischengewerkschaftliche Beziehungen ein Instru-
ment zur Regelung gesellschaftlicher Konflikte, weil sie verhindem konnten, daß die
strukturell verfestigte Differenzierung in weltanschaulichen Säulen zur gesellschaftlichen
Spaltung führte. Staatliche Interventionen, die Wirkungen hatten, die dieser Zielsetzung
widersprachen, konnten demzufolge als Normierungen mit nicht-intendierten Handlungsfol-
gen angesehen werden. In dem Maße, in dem die Wirkungen dieser Interventionen die
Zielsetzungen in noch weitere Feme rücken ließen, konnte sogar von paradoxen Folgen
staatlichen Handeins gesprochen werden.
Dem Staat kann vorgeworfen werden, daß er auf dem Wege der "doppelten Delegierung" -
also der Übertragung von Handlungskompetenz im Bereich der Tarifbeziehungen sowie der
Übertragung von organisationssichemden Funktionen der wohlfahrtsstaatliehen Regelung an
die Gewerkschaften - Wirkungen erzielt habe, die nicht in seiner Absicht gelegen haben. Die
großzügige Ausstattung der repräsentativen Gewerkschaften führte zu gewerkschaftlichen
Einflußmöglichkeiten, die übergeordnete volkswirtschaftliche Zielsetzungen gefährdeten, für
die der Staat ebenfalls verantwortlich war. Die Befestigung der Gewerkschaften führte nicht
dazu, daß sie langfristig als autonome kollektive Akteure agieren konnten. Die gewerkschaft-
liche Macht erschien als Übermacht. Der Staat sah sich aufgerufen, die Handlungsspielräume
der Gewerkschaften zu beschneiden, um volkswirtschaftliche Zielsetzungen erreichen zu
können.
Geht man davon aus, daß damit die Zielsetzung einer autonomen Regelung der kollektiven
Arbeitsbeziehungen nicht aufgegeben wurde, lassen sich die daran anschließenden Hand-
lungsfolgen staatlicher Steuerungsmaßnahmen wiederum als nicht-intendierte ja sogar
paradoxe Handlungsfolgen darstellen. Der Staat verringerte nicht die Machtressourcen der
Gewerkschaften. Er verzichtete nicht auf die Bereitstellung organisationssichernder Maßnah-
men, sondern intervenierte in die Arbeitsbeziehungen, indem er den kollektiven Akteuren
einen großen Teil ihrer tarifPolitischen Gestaltungskompetenz entzog. Diese Form der
Intervention ließ allerdings eine Rückkehr zu tarifautonomen Handlungsformen immer
172
weniger wahrscheinlich werden, weil sie bei den großen Gewerkschaften eine unterschiedli-
che Reaktion hervorrief. Sie trug entscheidend dazu bei, daß die großen Gewerkschaften in
dem Maße an Übereinstimmung einbüßten, in dem der Staat ihnen ihre Handlungskompetenz
beschnitt, ohne ihnen die Ressourcen zu nelunen.
Die staatliche Intervention erwies sich als Strategie der Gewerkschaftsspaltung, die koope-
rative zwischengewerkschaftliche Beziehungen unwahrscheinlich machte. Geht man von der
offiziellen staatlichen Zielsetzung, also der Stabilisierung von Tarifautonomie aus, verfehlten
die staatlichen Maßnalunen ihre Wirkung. Der "falschen" Ausstattung der repräsentativen
Gewerkschaften folgte die "falsche" Form der Intervention. Der paradoxen Übermacht der
Gewerkschaften folgte die paradoxe Koordinations- und Kooperationsunfähigkeit
Es ist allerdings wenig plausibel, dieser Interpretation einer "doppelten Paradoxie" unein-
geschränkt Folge zu leisten. In dem Maßen nämlich, in dem Tarifautonomie durch Tarifhete-
ronomie und Konzertierung durch eine lobbyistisch modifizierte einkommenspolitische
Intervention ersetzt wird, erscheint die Stabilisierung staatsfreier Handlungsräume durch
prozedurale Interventionen nicht mehr als vorrangige Grundlage staatlicher Normierungen.
Die dauerhafte Bevormundung der TarifPartner durch substantielle staatliche Interventionen
rückt als inoffizielle Zielsetzung in den Vordergrund. Auf diese Weise lassen sich die
Wirkungen staatlichen Handeins als intendierte Wirkungen interpretieren. Es wird deutlich,
warum diese Wirkungen nicht korrigiert werden, und der Staat die gegebenen gewerkschaftli-
chen Vertretungsstrukturen benutzt, um die Kontinuität der Interventionen zu sichern. Dem
Staat gelingt es auf diese Weise, die volkswirtschaftlichen Zielsetzungen, die ilun die
Maastricht-Kriterien auferlegen, geradlinig durchzusetzen.
Dieser Interpretation zufolge ergreift der Staat also bestimmte Maßnalunen zur Steuerung
der Arbeitsbeziehungen, die seine nachdrückliche und nachhaltige Intervention begründbar
machen. Nicht die (Wieder-)Herstellung von Tarifautonomie ist die vorrangige Zielsetzung,
sondern die Aushebung oder zumindest Aussetzung derselben. Diese Interpretation wird
gestützt durch die Eigenart der staatlichen Maßnalunen, die der strukturellen Grundlagen der
kollektiven Interessenvertretung dient, um die inoffizielle Zielsetzung zu erreichen und die
offizielle Zielsetzung scheinbar zu verfehlen. Die staatliche Steuerung hat sich mit ihrer
approximativen. aber kontinuierlichen Intervention im substantiellen Bereich der Arbeitsbe-
ziehungen auf die besonderen Bedingungen des Gewerkschaftspluralismus eingestellt. Sie hat
den Gewerkschaftspluralismus in einer Weise instrumentalisiert, welche die Notwendigkeit
der substantiellen staatlichen Intervention legitimierte. Die lohnpolitische Intervention
brauchte nicht als vorrangige Zielsetzung ausgewiesen werden. Sie blieb deshalb auch von
einer Kritik verschont, die staatliches Handeln aus dem Grunde attackierte, daß es mit der
Absicht erfolgte, die TarifPartner zu bevormunden. Der Staat konnte vorgeben, daß er in die
Arbeitsbeziehungen intervenierte, weil die TarifPartner versagten. Er konnte verheimlichen,
daß er durch die Art seiner Interventionen zu diesem Versagen einen erheblichen Beitrag
173
geleistet hatte, ja sogar leisten wollte, um seine Interventionen begründen und auf Dauer
stellen zu können.
Dieser Interpretation zufolge war es eine Erfolgsvoraussetzung staatlichen Handelns, daß es
ihm gelang, über die christliche Volkspartei Zugang zu den christlichen Gewerkschaften zu
finden und sie zu einer grundsätzlichen Akzeptanz und partikularen Teilhabe an den staatli-
chen Entscheidungen zu bewegen. Zum Erfolg des Staates trug aber auch bei, daß die
sozialistischen Gewerkschaften die lohnpolitischen Interventionen ablehnten und bekämpften.
Die beiden großen Gewerkschaften vertraten eine unterschiedliche Strategie, wobei die
Iobbyistische Haltung der christlichen Gewerkschaften eher die Zustimmung fand als die
Gegenwehr der sozialistischen Gewerkschaften. Die staatliche Intervention erhielt ihre
Legitimation durch die Uneinigkeit der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften konnten sich
nicht einigen, weil sie in ihrer Beurteilung der lohnpolitischen Intervention nicht überein-
stimmten. Der Staat brauchte seine Intervention lediglich fortzusetzen, um den Dissens der
beiden Gewerkschaften auf Dauer zu stellen und damit eine Begründung für die Kontinuität
der Intervention zu erhalten. Der Gewerkschaftspluralismus lieferte dem Staat ein entschei-
dendes Argument für seine lohnpolitische Intervention, sobald die Gewerkschaften nicht
einheitlich auftraten. Insofern lassen sich die Wirkungen der Maßnahmen, die diese Unein-
heitlichkeit begünstigten, als intendierte Wirkungen staatlichen Handeins interpretieren.
Die Eigenart, die Kontinuität und der Erfolg staatlichen Handeins sprechen dafür, daß der
Staat in die Arbeitsbeziehungen zu intervenieren beabsichtigte und diese Interventionen auch
fortsetzen wollte. Diese Interventionen sollten über die prozeduralen Interventionen hinaus-
gehen und für einen längeren Zeitraum staatliche Entscheidungsvorgaben an die Stelle von
autonomer tariflicher Entscheidungskompetenz setzen. Legt man diese Zielsetzung zugrunde,
hatten die staatlichen Maßnahmen intendierte Wirkungen und brauchten nicht korrigiert,
sondern lediglich aufrechterhalten zu werden.
174
nommen, vor allem deshalb, weil eine Reihe von Affaren das Vertrauen in dieses System
erschüttert haben.
An dieser Stelle können der Verlaufund die Interpretation dieser Affaren nicht aufgearbei-
tet werden 89 •
Die Kommentierungen der neueren Entwicklung Belgiens lassen sich grob danach unter-
scheiden, ob sie die Affaren und die daran anschließende Rezeption zum Anlaß für eine
fundamental-kritische Betrachtung der belgischen Staats- und Gesellschaftsordung nehmen
oder ob sie an die Analyse der Affaren eine stärker differenzierende detail-kritische Interpre-
tation anschließen, die zu Beanstandungen einzelner Mängel des Systems führt.
Einige Kommentatoren nehmen die Affaren zum Anlaß, um mit Belgien hart und unerbitt-
lich ins Gericht zu gehen90 • Diese Kommentatoren postulieren enge Zusammenhänge
zwischen den Affaren der letzten Jahre, einer belgischen Kompromißkultur, mangelnder
parlamentarischer und justitieller Kontrolle exekutiven Handelns, einer "geschlossenen"
Elitenherrschaft und einem angeblich bigotten Alltagsverhalten der Belgier. Den Belgiern
wird vorgeworfen, einerseits in eine fundamentale Kritik an der belgischen staatlichen und
gesellschaftlichen Ordnung einzustimmen, andererseits aber diese Ordnung dadurch zu
stabilisieren, daß sie in ihrer überwiegenden Mehrzahl an den vielen kleinen und großen
(heimlichen) Vorteilen partizipieren, die aus Mitgliedschafren in den großen Organisationen
resultieren und im wesentlichen durch "Beziehungen" erworben werden. So habe sich ein
Klientelismus etabliert, der letztlich auch dafür gesorgt habe, daß sich kriminelle Machen-
schaften, wie sie sich in den Affairen gezeigt hätten, herausbilden konnten, eine Aufdeckung
der Affairen aber unterbleibe und notwendige Konsequenzen personeller und struktureller Art
nur zu einem Teil gezogen worden seien.
In anderen Kommentierungen wird demgegenüber davor gewarnt, die verschiedenen
Affairen und Skandale auf eine einzige Ursache zurückzuführen und unterschiedliche Abläufe
vorschnell miteinander in Verbindung zu bringen91 •
89 vergl. hierzu Mabille 1997: 433ff. mit einer Zusammenfassung von "I'affaire Dutroux-Nihoul et consorts et
ses developments" und von "les affaires Agusta et Dassault" sowie: Martiniello/Szwyngedouw 1998, Car-
tuyels u.a. 1997; Schümer 1997; PickelsiSojeher 1998
90 vergl. etwa die Beiträge der niederländischen Sozialwissenschaftler de Man 1996 und Blockmaus 1997
91 vergl. insbesondere Mabille 1997: 433 mit seiner Warnung vor einem "amalgam" eigentlich unterschiedlicher
Problemstellungen sowie Huyse 1996a und 1996b
175
Es ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß versucht wurde, der stärkeren Bedeutung
des sprachlich-kulturellen Konflikts dadurch Rechnung zu tragen, daß wichtige Institutionen
und Organisationen stärker dezentralisiert und den regionalen Entscheidungsebenen auf dem
Wege einer entschlossenen Föderalisierung mehr Kompetenzen zugebilligt wurden.
Die entscheidende Frage ist nun, ob diese Föderalisierung in der Lage war, die sprachlich-
kulturell begründeten desintegrierenden Tendenzen in Staat und Gesellschaft aufzuhalten.
Kann die Föderalisierung Belgien vor dem Zerfall bewahren?
Dewachter (1996: 105ff.) plädiert dafiir, auf diese Frage keine eindeutige und einheitliche
Antwort zu geben, sondern sie fiir verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche unterschiedlich
zu beantworten, weil die Entwicklung uneinheitlich verlaufe.
Der Befund einer fortschreitenden Trennung Belgiens gewinnt vor allem dadurch an
Plausibilität, daß sich die Medien- und Kommunikationsbereiche der beiden großen sprachli-
chen Gemeinschaften weiter auseinander entwickeln.
Die Verständigungsmöglichkeiten der Einwohner Belgiens untereinander werden geringer.
Ereignisse und Persönlichkeiten des jeweils anderen Sprachbereichs werden wenig beachtet.
Die Ereignisse des jeweils anderen Landesteils werden kaum wahrgenommen, die Spitzenpo-
litiker aus Flandem bzw. aus Wallonien sind den Bewohnern des jeweils anderen Landesteils
kaum bekannt. In Flandern - auch das eine Folge der Medientrennung - wird die englische
Sprache besser verstanden und häufiger gesprochen als die französische, in Wallonien
verstehen nur noch wenige und sprechen noch weniger die niederländische Sprache. Unter
dem Gesichtspunkt der Kommunikation gibt es - so Dewachter - keine belgisehe Gesellschaft
mehr(1996: 135).
Auch der Bereich der Wirtschaft bietet kaum belgisches IdentifikationspotentiaL
Die Volkswirtschaft des Landes ist ein Musterbeispiel fiir eine offene Wirtschaft mit einem
sehr hohen Anteil ausländischer Investoren 92 • Dies erschwert die Wahrnehmung einer
identifikationsstiftenden belgiseben Produktion. Wenngleich es in Belgien noch eine Vielzahl
kleinerer und mittlerer Unternehmen gibt, dominieren in der öffentlichen Wahrnehmung die
großen Konzerne. Diese aber befinden sich in ausländischem Eigentum.
Manche Institutionen und Organisationen haben noch einen einheitlichen Bezug auf Belgi-
en. Allerdings ist abzusehen, daß dieser Bezug befristet ist:
So ist zwar die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme weiterhin auf Belgien bezogen,
doch gibt es starke Bestrebungen von flämischer Seite, zumindest den Gesundheitsdienst und
92 Der Anteil der ausländischen Investitionen belief sich im Jahre 1990 fiir Belgien auf 54%, fiir die Bundesre-
publik Deutschland auf 13%.
176
die Familienbeihilfen zu föderalisieren, weil man den finanziellen Transfer von Flandem nach
Wallonien nicht fortsetzen möchte. Belgisch ist auch noch die staatliche Steuer- und Finanz-
hoheit. In dieser Beziehung wird die nationale Eigenständigkeil allerdings ebenfalls zuneh-
mend eingeschränkt durch wachsende Kompetenzen auf der Ebene der europäischen Union.
Belgisch bleiben eine Reihe von staatlichen Institutionen und Organisationen des politisch-
administrativen Systems wie die Monarchie, das Parlament und die Regierung sowie die
Justiz (vergl. Dewachter 1996: 130f.). Diese Bereiche sind Führungspersonen anvertraut, die
eine belgisehe Elite bilden, während sich die belgisehe Gesellschaft ansonsten weiter
auseinander entwickelt. Es gibt aber keine homogene flämische oder wallonische Gegenelite,
obgleich sich die sprachlich-kulturelle Desintegration fortsetzt (vergl. Dewachter 1996:
125f.).
177
in Flandem ununterbrochen den Ministerpräsidenten und in Belgien ununterbrochen den
Premierminister. Sie wechselte lediglich die Koalitionspartner.
In gleicher Weise galt fiir die PS in Wallonien, daß sie innerhalb des sozialistischen politi-
schen Konzerns von mächtigen Parallelorganisationen flankiert wurde, die den möglichen
Verlust an Einflußnahme, der durch den Stimmenrückgang bei den Wahlen entstand,
kompensieren konnten: "Dat maakt hen bij de regeringsvorming de facto 'incontournable'"
(Huyse !996a: 15)93 •
Der Stimmenverlust, den die Wähler der CVP und der PS zugefiigt haben, schlug sich in
der Machtverteilung nicht nieder. Die Wähler gewannen den Eindruck, über keine effektiven
Sanktionsmittel zu verfiigen. Obwohl ein Teil der Wähler der Partei das Vertrauen entzogen
hatte, verlor die Partei nicht an Einfluß. Das Ergebnis ist eine Vertrauenskrise, die auch das
politische System betrifft:
"Ce parti a ete victime d'une motion d'une defiance qui ne s' est nullerneut tra-
duite par une perte de pouvoir. Cela aussi alimente Ia crise de confiance. Faute de
sanction, Ia mefiance s 'accroit" (Huyse 1996b).
Diese Vertrauenskrise fiihrt auch dazu, daß die Führungselite der von den politischen
Parteien dominierten politischen Konzerne als "politische Klasse" wahrgenommen wird. Sie
gilt als geschlossene Gruppierung. Diese Gruppierung vermittelt nach wie vor den Eindruck,
daß eine einheitliche belgisehe Herrschafts- und Gesellschaftsordnung vorhanden ist. Sie
symbolisiert Belgien. Allerdings ist es eine Einheitlichkeit, der man mißtraut. Die Bindung an
die Eliten, erfolgt nicht (mehr) dadurch, daß Säulen oder politische Parteien normative
Bezüge vermitteln. Sie erfolgt vielmehr auf dem Wege eines Tauschprozesses, in dem den
Nutzenkalkülen der Bürger dadurch entsprochen wird, daß ihnen "kleine" Vorteile gewährt
werden, die sie ohne Kontakte zu Vertretern des politisch-administrativen Systems nicht
erhalten würden.
Huyse und vor, mit und nach ihm andere Kritiker der belgiseben Gesellschaft weisen auf
die besänftigende Wirkung solcher Vorteile hin, die dem einzelnen Bürger gewährt werden.
Het politiek dienstbeton als placebo konnte und kann viele Formen annehmen: " ... een job in
overheidsdienst, de regeling van een fiscaal dossier, een snellere telefoonaansluiting, een
huisje in een sociale woonwijk, een comfortable dienstpflicht" (Huyse 1996a: 31 ).
Solche Vorteile dienen - Huyse zufolge - der partiellen Integration des Bürgers. Dieser
mißtraue zwar dem Staat und den ihn organisierenden Eliten, er lasse sich aber auf diesem
Wege bereitwillig besänftigen.
91 Verstärkend wirkt das Stimmenverteilungssystem nach D'Hondt. Es begünstigt den ersten. auch wenn er an
Stimmen verloren hat. Deshalb - so Huyse - fiihrt diese .,algebra-op-zijn-Belgisch" ( l996a: 15) dazu, daß die
Partei, die nur ein Drittel der Stimmen auf sich ziehen konnte, in Gremien und Ausschüssen die Hälfte der
relevanten Positionen besetzt.
178
Dieser Befund muß aus der Perspektive des Jahres 1999 insoweit korrigiert werden als die
Stimmenverluste der christlichen Volkspartei in den letzten Wahlen ein Ausmaß annahmen,
das eine Regierungsbildung ohne ihre Beteiligung ermöglichte. Die im Jahr 1999 gebildete
belgisehe Regierung setzt sich aus Mitgliedern der liberalen, sozialistischen und ökologischen
Parteien zusammen (vergl.: EIRR 307 1999: 4). Ob und in welchem Umfang hiervon
gesellschaftliche Veränderungen ausgehen, ist noch nicht abzusehen.
An diese Betrachtungen neuerer Entwicklungen auf dem Gebiet der sprachlich-kulturellen
und der ideologischen Differenzierung, soll sich nun die Beantwortung der Frage nach
Veränderungen auf dem Gebiet der Arbeitsbeziehungen anschließen.
"This represents a new departure for Belgium: social agreements traditionally be-
long to the federal policy domain and are negotiated between representatives of
national social partners and recognized by the federal govemment" (European
Foundation for the Improvement ofLiving and Working Conditions 1997: 2).
179
Firmen, die sich auch diese finanziellen Sanktionen "leisteten", um mit der Lohnerhöhung
eine Anreizwirkung geben zu können: "The effect is that a number of wealthy sectors allow
for higher wage increases, which creates discrimination between different types of workers"
(European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 1998b: I).
Wurden solche Lohnerhöhungen nicht gewährt, waren hochqualifizierte und knappe Arbeits-
kräfte oftmals eher bereit, das Unternehmen zu wechseln, um einen höheren Lohn zu erhalten,
als zu den gleichen Bedingungen an ihrem bisherigen Arbeitsplatz zu bleiben: "... the
imposition ofthe wage margin has encouraged such workers to change employers as the only
way to secure pay increases, thereby causing labour turnover problems" (EIRR 301 1999: 20).
Hinzu kam, daß einzelne Unternehmen versuchten, die verbindliche Lohnvorgabe zu
modifizieren, indem sie bestimmte Leistungszulagen oder Pensionsrückstellungen aus der
Berechnungsgrundlage fiir die Lohnerhöhung ausklammerten, um auf diese Weise höhere
Löhne gewähren zu können (vergl. EIRR 30 I 1999: 19).
Inhaltliche Vorgaben fiir die Verhandlungen über die Vereinbarung einerneuen branchen-
übergreifenden Zentralvereinbarung fiir Belgien ergaben sich zunächst daraus, daß die
Arbeitgeber im Vorfeld der Verhandlungen zugesagt hatten, die Aufwendungen fiir die
berufliche Bildung der Arbeitnehmer zu erhöhen. Die Regierung hatte in Aussicht gestellt, die
Lohnnebenkosten zu reduzieren, indem sie den Arbeitgebern einen Teil ihrer Beiträge zu den
Sozialversicherungen erließ. Die Gewerkschaften machten allerdings deutlich, daß sie von
den Arbeitgebern, die auf diese Weise begünstigt wurden, beschäftigungsfOrdernde Maßnah-
men erwarteten.
Vor allem aber waren die Verhandlungen über eine branchenübergreifende Zentralverein-
barung dadurch präformiert, daß der Zentrale Wirtschaftsrat (Centrale Rad van het Bedrijfsle-
ven I Conseil Central de l'Economie) - auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen -
die dringende Empfehlung an die Sozialpartner gerichtet hatte, keine Vereinbarung über eine
branchenübergreifende Lohnerhöhung zu treffen, die höher war als 5,9 %. Nur wenn diese
Obergrenze beachtet würde, wäre - den Berechnungen des zentralen Wirtschaftsrats zufolge -
gewährleistet, daß die Lohnerhöhungen in Belgien nicht höher ausfielen als in den Nachbar-
ländern Frankreich, Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden.
Es stellte sich die Frage, ob die Sozialpartner bereit und in der Lage waren, im Rahmen
dieser Vorgaben eine branchenübergreifende Zentralvereinbarung zu schließen oder ob
wiederum der Staat die Vorgabe des Zentralen Wirtschaftsrats ohne die Zustimmung der
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände durchsetzen mußte. Es war weiterhin fraglich, ob
die Sozialpartner die Zustimmung ihrer Mitglieder zu einer Zentralvereinbarung erhalten
würden, die den Lohnzuwachs erheblich begrenzte. Vor allem war zweifelhaft, ob die
sozialistischen Gewerkschaften bereit waren, dieses Mal einem Abschluß zuzustimmen, der
den verbindlichen Vorgaben des Zentralen Wirtschaftsrats folgte. Erschwerend kam hinzu,
daß der größere Teil des vorgesehenen Lohnanstiegs bereits durch die Indexbindung des
Lohnes und weitere vorher vereinbarte periodische Zuschläge aufgezehrt wurde: "Therefore,
180
observers have estimated that the maximum annual basic pay increase that can actually be
awarded is 0,9% or I ,8% over the period of the agreement" (EIRR 30 I 1999: 19).
Die Verhandlungen standen "under the threat of further govemment intervention" (EIRR
30 I 1999: 19). Sie wurden - anders ausgedrückt- so gefiihrt, als wäre der Premierminister,
wenn schon nicht physisch anwesend, so doch "im Geiste" am Verhandlungstisch (vergl.
European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 1998c: I).
Ausschlaggebend dafiir, daß eine branchenübergreifende tatsächlich Zentralvereinbarung
zustande kam, war aber nicht nur die - gesetzlich fundierte - Drohung mit der staatlichen
Intervention im Falle des Scheitern der Verhandlungen, sondern auch die Inhalte der
getroffenen Vereinbarung und ihre veränderten Akzeptanzbedingungen.
Die Sozialpartner trafen eine Vereinbarung, in der die vom zentralen Wirtschaftsrat emp-
fohlene Lohnobergrenze von 5,9 % den nachfolgenden Verhandlungen auf der sektoralen
Ebene und auf der Betriebsebene nicht als Lohnnorm diktiert wurde, sondern in der vielmehr
beschlossen wurde, die Lohnobergrenze als Empfehlung anzusehen, von der unter bestimmten
Bedingungen abgewichen werden konnte. Die Verhandlungsergebnisse fixierten keine
eindeutigen Normen, die in jedem "Enttäuschungsfall" negativ sanktioniert werden mußten.
Vielmehr wurden Überschreitungen dieser Lohnobergrenze nicht ausgeschlossen, wenn sich
die wirtschaftliche Lage einer Branche oder eines Betriebs als besonders gut herausgestellt
hatte und auf sektoraler bzw. betrieblicher Ebene Vereinbarungen getroffen worden waren,
die günstige Regelungen über beschäftigungsfördernde Maßnahmen oder über eine Verbesse-
rung der beruflichen Bildung enthielten.
Ferner entsprach die Regierung der Erwartung, einen Beitrag zur Senkung der Lohnneben-
kosten so zu leisten, daß sie auf die nachfolgenden Vereinbarungen Einfluß nehmen konnte.
Die Regierung stellte eine Summe von f: !57 Millionen in Aussicht. Diese Summe sollte aber
nicht in einem Zug ausgegeben werden. Vielmehr sollte zunächst nur die Hälfte des Beitrags
fiir die Senkung der Lohnnebenkosten aufgewendet werden. Die Bereitstellung der zweiten
Hälfte dieser Summe setzte voraus, daß die einzelnen Branchen und Unternehmen insgesamt
im Einklang mit den branchenübergreifenden Zentralvereinbarungen gehandelt hatten. Dies
betraf den Abschluß "konformer" Lohnvereinbarungen ebenso wie den Abschluß der
Vereinbarungen über höhere AufWendungen fiir die berufliche Bildung und die Verwendung
von Gewinnen fiir beschäftigungsfördernde Maßnahmen. Wichen die Vereinbarungen auf
Branchenebene und auf Betriebs- bzw. Unternehmensebene insgesamt von den Vorgaben der
Zentralvereinbarung ab, wurde die andere Hälfte der vorgesehenen Summe einbehalten.
"I f the general trends in pay growth, training and job creation are not satisfacto-
ry, the councils will determine the reasons for this and use the remaining BFr 9
Billion to rectify the situation. Should the analyze prove tobe positive, the remai-
ning BFr 9 Billion will be used to provide a general reduction in labour costs.
However, if the analysis reveals that sectors have not honoured their pledges in
terms of pay, training and jobs or have not concluded sectoral agreements on trai-
ning and jobs, then the general reduction in labour costs will be withheld from
them for one year" (EIRR 301 1999: 20).
181
Einige Kommentatoren schien die neue Zentralvereinbarung auf den ersten Blick zu über-
raschen " ... rescinding a commitrnent to a compulsary wage margin in favour of a flexible one
only two years after the formerwas introduced" (EIRR 301 1999: 21). Anderen erschienen
die Veränderungen weniger dramatisch, weil die neue Zentralvereinbarung weiterhin
sicherstellen sollte, daß in Belgien keine Lohnkostensteigerungen erfolgten, die diejenigen der
Nachbarländer übertrafen (vergl.: Le Soir vom 9 .12.1998).
Im Zusammenhang mit dieser Untersuchung ist die neue branchenübergreifende Zentral-
vereinbarung für Belgien vor allem unter zwei Gesichtspunkten von Bedeutung.
Einmal interessieren die Bedingungen der Akzeptanz der vorliegenden Zentralvereinba-
rung. Die vorausgegangenen Verhandlungen waren nicht erfolgreich, weil die sozialistischen
Gewerkschaften keine Vereinbarungen abschließen wollten, die nicht auf bilateralen
Kollektivverhandlungen beruhten. Im Unterschied hierzu waren die christlichen Gewerk-
schaften eher bereit, Abschlüssen von Lohnvereinbarungen zuzustimmen, auf die der Staat
maßgeblichen Einfluß genommen hatte. Diese Unterschiede wiederum bildeten eine zentrale
Erfolgsvoraussetzung für die staatliche Intervention.
Weiterhin interessieren die Auswirkungen der Zentralvereinbarungen vor dem Hintergrund
der fortschreitenden sprachlich-kulturellen Differenzierung Belgiens, die sich - wie gezeigt
werden konnte - durch die divergierende wirtschaftliche Entwicklung erheblich verstärkte.
Die neue Zentralvereinbarung fand insgesamt eine hohe Zustimmung, doch ist auf Unter-
schiede im Unfang der Akzeptanz hinzuweisen. Die christlichen Gewerkschaften erhielten
von ihren Mitgliedsverbänden eine breite Unterstützung für die vorliegende Vereinbarung:
88% stimmten dafür. Die Zustimmung der Mitgliedsverbände der sozialistischen Gewerk-
schaften zur Zentralvereinbarung fiel geringer aus. 76 % stimmten für die Annahme der
Zentralvereinbarung.
Die Zentrale des ABVV I FGTB war eher bemüht, den (wieder-) gewonnenen Einflußspiel-
raum hervorzuheben als auf die externen Zwänge hinzuweisen, die weiterhin die Verhand-
lungsspielräume begrenzten: "La FGTB se felicite: Le texte permet aux secteurs de sortir du
cancan d'une norme d'augmentation maximum des salaires fixee par Ia Ioi" (Le Soir
9.12.1998). Die starke Betonung des - wiedergewonnenen - Verhandlungsspielraums sollte
offensichtlich dazu dienen, den Mitgliedsverbänden die Zustimmung zur vorliegenden
Zentralvereinbarung nahezulegen.
In den Kommentaren der Mitgliedsverbände der sozialistischen Gewerkschaften, die der
Zentralvereinbarung ihre Zustimmung versagten, finden sich die Argumente wieder, die von
den sozialistischen Gewerkschaften verwendet wurden, um vorausgegangene einkommens-
politische Direktiven abzulehnen. Die Verweigerung der Zustimmung zur branchenübergrei-
fenden Zentralvereinbarung wurde vor allem damit begründet, daß die Lohntindung wieder-
um einen rein technokratischen Charakter gehabt hätte und eine kollektive Mobilisierung
(mobilisation sociale) ausgeblieben sei. Kritisiert wurde weiterhin, daß keine Vereinbarungen
182
über eine Verkürzung der Arbeitszeit abgeschlossen worden seien, obwohl doch gerade von
ihnen eine beschäftigungsfördernde Wirkungen ausgehen könnte.
Vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchung läßt sich die mehrheitliche Zustim-
mung der Mitgliedsverbände der sozialistischen Gewerkschaften zur branchenübergreifenden
Zentralvereinbarung darauf zurückführen, daß diese Gewerkschaften befürchteten, bei einer
Ablehnung der Vereinbarung weder auf das Verständnis ihrer Mitglieder noch auf das
Verständnis der anderen Arbeitnehmer zu stoßen. Wie gezeigt werden konnte, erhielten die
gegenüber einkommenspolitischen Interventionen aufgeschlossenen christlichen Gewerk-
schaften eine stärkere Zustimmung durch Mitgliederzuwächse und Stimmengewinne bei den
Wahlen zu den betrieblichen Interessenvertretungen als die sozialistischen Gewerkschaften,
die solche einkommenspolitischen Interventionen ablehnten und auf der Rückkehr zum
col/ective bargaining bestanden.
Die vorliegende Zentralvereinbarung erschien unter diesem Gesichtspunkt geeignet, den
sozialistischen Gewerkschaften die Möglichkeit zu geben, den Vereinbarungen, die vor dem
Hintergrund der mittlerweile - unvermeidlich erscheinenden - einkommenpolitischen
Vorgaben geschlossen wurden, zuzustimmen. Die sozialistischen Gewerkschaften vermieden
es auf diese Weise, daß sich ihr Dissens nachteilig auf ihre Akzeptanz bei den Mitgliedern
und Wählern auswirkte. Sie beugten einer weiteren Stagnation der Mitgliederentwicklung
ebenso vor wie einem weiteren Rückgang ihrer Stimmenanteile bei den Wahlen zur betriebli-
chen Interessenvertretung. Die mit der Zentralvereinbarung wiedergewonnen - geringen -
Einflußspielräume sollten diese Zustimmung legitimieren.
Die organisationspolitischen Gründe, die für diese Zustimmung sprachen, tragen dazu bei
zu erklären, warum diese Einflußspielräume so sehr hervorgehoben werden.
Hinzu kommt, daß mit einem Abschluß einer Zentralvereinbarung angestrebt wurde, die
Bedeutung der branchenübergreifenden Zentralverbände zu betonen: "... on peut juger tres
interessant que !es interlocuteurs sociaux federaux aient retrouver leur legitimite" (Le Soir
17 .11.1998).
Gleichzeitig mit der Bestätigung der Zentralverbände durch die branchenübergreifende
Zentralvereinbarung für Belgien erfolgte auf diese Weise eine landesweite Vereinheitlichung
der Löhne und Arbeitsbedingungen. Aufbelgischer Ebene zusammengeschlossene Verbände
fanden zu Vereinbarungen, die für alle Firmen des Landes Geltung hatten. Insofern legten
Kommentatoren der Zentralvereinbarung auch Wert darauf zu betonen, " ... que, d ·un bout du
pays a I' autre, toutes !es entreprises soient liees par Je meme ciment jusqu' a Ia fin de 2000"
(Le Soir 17 .11.1998).
Mit der vorliegenden branchenübergreifenden Zentralvereinbarung sorgten der Staat und
die Verbände noch einmal für eine sektoren- und regionenübergreifende Bestimmung der
Löhne und Arbeitsbedingungen. Der Staat, der daran interessiert war, daß eine solche
Vereinbarung zustande kam, war auch bereit, den Zentralverbänden Kompetenz zu überlas-
183
sen, zumal er - im Widerspruchsfall - weiterhin in der Lage war, seine Zielsetzungen auf
gesetzlicher Grundlage auch gegen die Verbände durchzusetzen.
Die Zentralvereinbarung eignete sich in der vorliegenden Form also dazu, die sozialisti-
schen Gewerkschaften mit der staatlichen Einkommenspolitik zu versöhnen, ohne die Inhalte
der Einkommenspolitik im Kern zur Disposition zu stellen. Sie eignete sich gleichzeitig dazu,
belgiseben Verbänden die Kompetenz zu übertragen, Vereinbarungen zu schließen, die sich
auf das gesamte Land bezogen und auf sektoraler oder betrieblicher Ebene lediglich modifi-
ziert werden können.
Die branchenübergreifende Zentralvereinbarung war tatsächlich in der Lage, die sektoralen
Lohnerhöhungen zu begrenzen.
Nach Abschluß der Branchenverhandlungen stellte sich heraus, " ... that all sectors have
respected the 5,9% wage margin provided in the 1999 - 2000 national intersectoral accord"
(EIRR 307 1999: 3). Allerdings wurden die anderen in der Zentralvereinbarung vorgesehenen
Verhandlungsgegenstände zunächst ausgespart. Ihre Regelung kann jetzt- unter den genann-
ten Bedingungen - auf der Betriebs- und Unternehmensebene erfolgen.
Eine Vorhersage darüber, ob die branchenübergreifende Zentralvereinbarung fiir Belgien
geeignet ist, einer Regionalisierung der Arbeitsbeziehungen vorzubeugen, fallt schwer.
Die Bestrebungen der neu gewählten Regierung Flanderns zu besonderen Regelungen fiir
ihre Region und Kulturgemeinschaft zu gelangen, sind nicht zu übersehen. Zu den Vorhaben
der Regierung gehört eine rechtliche Regelung, die gewährleistet, daß in Flandem fiir
Verbandsmitglieder geschlossene Kollektivvereinbarungen fiir alle Betriebe Flanderns
verbindlich gemacht werden können. Insgesamt gilt " ... that the govemment favours central
regional and local company-level bargaining rather than sectoral negotiations" (EIRR 309
1999: 21).
Eine Betrachtung des Ist-Zustands der belgiseben Arbeitsbeziehungen muß allerdings auf
den Beitrag hinweisen, den die Regelung der Arbeitsbeziehungen zur unitarischen Staats- und
Gesellschaftsordnung leistete und noch leistet.
Die belgiseben Gewerkschaften zählen zu den Organisationen, die !rotz aller Binnendiffe-
renzierungen eine einheitliche auf Belgien bezogene Organisationsstruktur bewahren konnten.
Diese Einheitlichkeit verdankten die Gewerkschaften in der Vergangenheit nicht zuletzt den
branchenübergreifenden Zentralvereinbarungen und ihrer Präzedenzwirkung fiir die Lohnfin-
dung des Landes. In dem Maße, in dem diese Vereinbarungen an Bedeutung verloren,
entstand ein Zentralitätsvakuum. Der Staat bemühte sich mit seiner Einkommenspolitik, auf
anderem Wege eine einheitliche belgisehe Regelung vorzugeben.
Die unitarische Funktion der branchenübergreifenden Zentralvereinbarung wurde nicht
ersatzlos aufgegeben, sondern durch staatliche Regelungen ersetzt, die ebenfalls den gesamten
belgiseben Wirtschaftsraum erfaßten. Auf diese Weise wurde wirtschaftlichen Zielsetzungen
ebenso entsprochen wie einem Zentralisierungsbedarf, den bislang die branchenübergreifen-
den Zentralvereinbarungen erfiillt hatten.
184
Die neue Zentralvereinbarung konnte also die unitarische Funktion einer solchen Vereinba-
rung erfüllten. Gleichzeitig ließ sie Modifikationen zu, welche zu gering erschienen, um die
Erfüllung der wirtschaftspolitischen Zielsetzungen zu gefährden, aber weit genug gingen, um
die sozialistischen Gewerkschaften zu einer Zustimmung zu bewegen.
Es scheint, daß es dem Staat gelungen ist, zu Interventionsformen zu gelangen, welche die
Zustimmung der sozialistischen Gewerkschaften ermöglichen, ohne daß sie auf einer
Rückkehr zu autonomen Vereinbarungen bestehen. Gleichzeitig enthält die neue Vereinba-
rung so geringe Gestaltungsspielräume, daß es sich erübrigt, auf die gewerkschaftlichen
Meinungsverschiedenheiten hinzuweisen, um weitere lohnpolitische Intervention rechtferti-
gen zu können. Indem es der belgisehe Regierung gelingt, ihre Vorstellungen in Form einer
Zentralvereinbarung durchzusetzen, braucht sie nicht mehr auf den Dissens der Gewerk-
schaften hinzuweisen, um eine lohnpolitische Direktive zu begründen.
Es bleibt abzuwarten, ob die beiden großen Gewerkschaften eine stärkere inhaltliche
Beteiligung an den Zentralvereinbarungen fordern und wie der Staat reagiert, wenn hierdurch
die Durchsetzung seiner Zielsetzungen gefährdet wird. Es bleibt auch abzuwarten, ob es dem
belgiseben Staat und den Zentralverbänden auf Dauer gelingt, eine zentrale branchen- und
regionenübergreifende Normierung der Arbeitsbeziehungen vorzunehmen oder ob die
sprachlich-kulturelle Divergenzen und wirtschaftliche Disparitäten eine regionale Dezentrali-
sierung herbeiführen.
185
5 Frankreich: Gesellschaftliche Ordnung, staatliche Regelung und
kollektive Arbeitsbeziehungen
186
Die Frage nach der Art der gesellschaftlichen Einbindung der französischen Richtungsge-
werkschaften wurde vor allem von belgiseben Autoren aufgeworfen (vergl. etwa: Hellemans
1988).
Vor dem Hintergrund der belgiseben Erfahrungen lag eine solche Form der Strukturbildung
gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunächst nahe. Auch in Frankreich waren die Akteure im
katholischen Milieu bestrebt, die eigene weltanschauliche Identität zu bewahren, um sie nicht
gesellschaftlichen Modemisierungs- und Säkularisierungsprozessen opfern zu müssen.
Allerdings erfolgte kein vergleichbarer Organisationsautbau wie in Belgien, keine Versäulung
in voneinander abgegrenzten organisatorischen Verbindungen: "Waarom lieten uitgerekend
de Franse katholieken de uitbeiding achterwege van vereniging tot organisatie, die elders op
zovele domeinen wel voltrokken wird?" (Hellemans 1988: 371).
Hellemans nennt hierfür mehrere Gründe:
Zunächst betont er, daß der französiche Katholizismus im 19. Jahrhundert zu staatsorien-
tiert gewesen sei, um eine oppositionelle Haltung einzunehmen und sich auf eigene organisa-
torische Füße zu stellen. Der französische Katholizismus sei es gewohnt gewesen, sich auf die
staatliche Macht zu verlassen und sich nicht selbst Machtressourcen verschaffen zu müssen.
Als er dann aus den staatlich garantierten Machtstellungen vertrieben wurde, fehlten ihm die
Möglichkeit und die Fähigkeit, aus eigenen Kräften "organisierten Widerstand" zu leisten und
sich eigene Machtbereiche zu schaffen.
Außerdem sei der politische Katholizismus in Frankreich viel zu stark fragmentiert gewe-
sen, um sich gegenüber wechselnden politischen Strömungen behaupten zu können. Die
Aufhebung des Konkordats von 1801 im Jahre 1905 habe zu einer weitgehenden Trennung
von Kirche und Staat geführt. In der Folge seien auch einige nationale Organisationen mit
spezifisch weltanschaulichen Interessenorientierungen ins Leben gerufen worden. So entstand
im Jahre 1919 die Confederation Franr;:aise des Travailleurs Chretiens (CFTC) als christliche
Richtungsgewerkschaft. Ihr folgten noch weitere Interessenverbände gleicher Weltanschau-
ung. Eine eigene christlich-katholische Partei allerdings gab es nicht. Somit entstand auch
keine politische Organisation, welche eine Koordination der Interorganisationsbeziehungen
zwischen den verschiedenen christlich-katholischen Interessenverbänden hätte vornehmen
können. Die ideologische Verbindung zwischen den Interessenorganisationen christlich-
katholischer Orientierung fand lange keine organisatorische Fundierung.
Im Jahre 1931 wurden die verschiedenen katholischen Verbände zu einem Conseil Centrat
de I 'Action Catho/ique zusammengeschlossen. Damit gelang es zwar letztlich auch in
Frankreich, eine organisatorische Verbindung kirchlich orientierter Interessenverbände
herzustellen, von einer Versäulung im belgiseben Sinne kann jedoch nicht gesprochen
werden. Es bildeten sich - in den Worten von Hellemans - "kerkgecentreede netwerken" aus.
Diese hatten aber weder die Konsistenz von Säulen noch verfügten sie über eigene Ressour-
cen, noch erhielten sie eine Unterstützung und Befestigung wie sie den Säulenorganisationen
in Belgien zuteil wurden (Hellemans 1988: 374 ff.).
187
Im Zusammenhang mit seiner Interpretation früher französischer Verbandsbildung gibt
Hellemans einen wichtigen Hinweis, der auf gravierende Unterschiede zwischen den
französischen und den belgischen Richtungsgewerkschaften hindeutet. Er betrifft die
Organisierung als gesellschaftliches Strukturprinzip überhaupt. Hellemans begründet die
ausbleibende Versäulung in Frankreich damit, daß in Frankreich ein organisationsunfreundli-
ches Klima geherrscht habe. Weder auf Betriebsebene noch in der gewerkschaftlichen oder
politischen Arbeiterbewegung fand eine bürokratisierte Organisation der Interessen statt, an
die eine Versäulung hätte angeschlossen werden können. Die Interessenvertretung verblieb
auf dem Strukturniveau einer sozialen Bewegung.
Den großen Weltanschauungen habe nicht nur die parteipolitisch vermittelten Verbindung
zwischen den Interessenverbänden gefehlt, sondern vor allem die Bereitschaft der Akteure,
sich organisieren zu lassen. Man habe sich nur ungern als Mitglied registrieren lassen wollen.
So hätten die katholischen Verbände in Frankreich nur etwa so viele Mitglieder gehabt wie
diejenigen im sehr viel kleineren Belgien94 .
Auf der Grundlage dieser Einsicht in die Unterschiede der Interessenorganisationen zwi-
schen Belgien und Frankreich liegt es nahe, die Eigenart eines syndicalisme a Ia franr;aise
im Auge zu behalten und deutlich zu machen, worin sich beide Länder unterscheiden, wenn
die Interaktionen innerhalb und zwischen den Interessenverbänden untersucht werden.
Die Frage ist, welche structure iuridique unter den Bedingungen einer nicht-versäulten
Gesellschaft eine Verbindung zwischen dem Staat und den normativ orientierten Verbänden
herstellt. Weiterhin stellt sich die Frage, wie überhaupt kollektive Arbeitsbeziehungen unter
den Bedingungen normativ orientierter aber nur geringfügig organisierter Verbände gesteuert
und gestaltet werden können. Ebenso ist die Frage nach dem Strukturaufbau der kollektiven
Akteure sowie nach den Beziehungen zwischen diesen Akteuren zu klären.
Zunächst soll auch für Frankreich eine formative Periode der kollektiven Arbeitsbeziehun-
gen ausfindig gemacht werden, an die sich dann die Untersuchung der französischen
Arbeitsbeziehungen in den späteren Jahrzehnten anschließt.
Es stellt sich die Frage, welche Eigenarten, Kontinuitäten und Veränderungen die Bezie-
hungen innerhalb und zwischen den Gewerkschaften aufweisen und in welcher Beziehung sie
zu den staatlichen Steuerungskonzeptionen stehen, vor allem ob sie sich als intendierte oder
als nicht-intendierte Wirkungen bestimmter politischer Steuerungskonzeptionen darstellen
lassen.
94 Die Kommunisten seien - so betont Hellemans - zwischen den beiden Weltkriegen die ersten gewesen, die
einen organisierten Parteiapparat hätten aufbauen können.
188
5.2 Kollektive Arbeitsbeziehungen: Die Akteure
1895 CGT
1919
1920/21 CGT
L CGTIJ
CFTC
1936 CGT
~
1937 CGC
I
1939 CGT CGTIJ
I I
1943 CGT
1964
1991 CGT
I
CGT-FO
I ~
FEN
T
CGC
I
CFDT
I
CFDT
I
CFTC
I
CFTC
I
1993 CGT CGT-FO FSU UNSA CGC CFDT CFTC
189
Die anarcho-syndikalistische CGT und die christliche CFDT sind die Frühformen gewerk-
schaftlicher Interessenvertretung in Frankreich.
Beide weltanschaulich orientierten Gewerkschaften haben bis heute Bestand. Allerdings
erlebten sie eine Reihe von Abspaltungen. Diese erfolgten vorwiegend aus weltanschaulichen
Gründen.
Die CGT erfuhr eine erste Spaltung in den Jahren 1921/1922. Die Gründe hierfür lagen
darin, daß sich innerhalb der Gewerkschaft eine reform- und staatsorientierte Orientierung
durchgesetzt hatte (union sacree). Dieser Orientierung widersprachen die Vertreter der
traditionellen anarcho-syndikalistischen und zunehmend auch der kommunistischen Orientie-
rung innerhalb der Gewerkschaft. Die dissentierenden Anhänger dieser Orientierungen
gründeten eine weitere Gewerkschaft (CGTU), in der dann die kommunistische Orientierung
die Oberhand gewann (vergl. Jansen u.a. 1986: S.20ff.). 1936 wurde unter dem Einfluß der
Volksfront eine (Wieder-)Vereinigung dieser beiden Organisationen zur CGT möglich.
Bereits im Jahre 1939 kam es aber zu einem erneuten Bruch zwischen der kommunistischen
Orientierung und den anderen gewerkschaftlichen Strömungen innerhalb der CGT. Der Grund
hierfür lag in der Weigerung der kommunistischen Mitglieder und Funktionäre der CGT, sich
vom Nicht-Angriffspakt zwischen Deutschland und der UdSSR zu distanzieren. Die Zusam-
menarbeit in der resistance fiihrte dann aber 1943 zu einer Wiederannäherung, zumal mit dem
Einmarsch der deutschen Truppen in die Sowjetunion auch der außenpolitische Grund ftir
eine weitere organisatorische Trennung entfiel.
Nach Beendigung des zweiten Weltkriegs trennten sich die nicht-kommunistischen Ge-
werkschaftler von der CGT und gründeten die CGT-FO. Die CGT-FO berief sich hierbei auf
die Grundsätze der Charta von Amiens. Dieses Manifest lag dem offiziellen Selbstverständnis
aller Gewerkschaften zugrunde. In ihm wurde vor allem die Notwendigkeit gewerkschaftli-
cher Unabhängigkeit von jeglicher parteipolitischer Bevormundung betont. Nach Ansicht der
CGT-FO konnte nur eine solche Unabhängigkeit eine dauerhafte Grundlage fiir eine wirksa-
me gewerkschaftliche Gegenmacht (contrepoids) abgeben. Durch ihre Nähe zur kommunisti-
schen Partei verstieß die CGT nach Meinung der CGT-FO gegen diesen Grundsatz und gab
demzufolge Anlaß fiir die Abspaltung und fiir die erneute organisatorische Differenzierung.
Die CGT-FO war weltanschaulich nicht einheitlich ausgerichtet. Sie beherbergte vielmehr
unterschiedliche ideologische Strömungen (courants), die innerhalb der Gewerkschaft zum
Ausgleich gebracht werden mußten. Eine Gemeinsamkeit hatten diese Strömungen in ihrer
anti-kommunistischen Orientierung. Die CGT-FO gründete ihre interne Integration weiterhin
auf ihre grundsätzliche Unabhängigkeit gegenüber dem Staat, den Arbeitgebern und gegen-
über anderen nicht originär gewerkschaftlichen weltanschaulichen Einflüssen. Dementspre-
chend war die CGT-FO nicht nur anti-kommunistisch, sondern auch laizistisch orientiert.
Zu einer besonderen Organisationsform kam es nach dem zweiten Weltkrieg im Bildungs-
bereich. Dort entstand durch die Gründung der Federation de /'Education Nationale (FEN)
eine eigene selbständige gewerkschaftliche Vertretung. Die FEN rekrutierte sich ebenso wie
190
die CGT-FO aus ehemaligen Mitgliedern der CGT. Sie erhob den Anspruch, Mitglieder mit
einer kommunistischer Weltanschauung ebenso an sich binden zu können wie Mitglieder
sozialistischer Orientierungen. Die FEN blieb auf den Bildungsbereich beschränkt, sie war
aber nicht die einzige gewerkschaftliche Organisation, die in diesem Bereich Mitglieder
rekrutierte. Vielmehr stand sie in Konkurrenz zu den Mitgliedsverbänden anderer weltan-
schaulicher Dachverbände (vergl. Aubert u.a. 1985 und Mouriaux 1996a). Diese Gewerk-
schaften bestritten auch den einheitsgewerkschaftlichen Anspruch, den die FEN auf der
Grundlage ihrer ideologieübergreifenden auf den Bildungsbereich beschränkten Orientierung
erhob. Selbst die Integration kommunistischer und sozialistischer Orientierungen war nicht
auf Dauer sicher zu stellen. Obwohl die FEN den unterschiedlichen weltanschaulichen
Orientierungen eine erhebliche innerorganisatorische Eigenständigkeit gewährte, erlebte die
FEN in neuerer Zeit eine Spaltung.
Eine weitere Differenzierung in der Organisation der Interessenvertretung der Arbeitneh-
mer ergab sich dadurch, daß die Belange der angestellten Arbeitnehmer mit Leitungsfunktio-
nen (cadres) besondere Berücksichtigung fanden.
Bereits im Jahre 1937 trennten sich diese gehobenen Angestellten von der CGT und for-
mierten sich als Confederation Generale des Cadres et de /'Economie Franfaise (CGC-EF)
in einer separaten Organisation. Diese Gewerkschaft bestand nach dem zweiten Weltkrieg
fort. Die Gewerkschaftsgründung wurde als notwendig angesehen, weil die leitenden
Angestellten der Ansicht waren, daß ihre spezifischen Interessen in der CGT vernachlässigt
wurden (vergl. Jansen!Kiersch 1983: 440). Die CGC versuchte, weltanschaulich begründete
Differenzierungen innerhalb der Angestelltenschaft zurückzustellen. Dies gelang ihr um so
eher, desto stärker sich die leitenden Angestellten auf eine eigene quasi berufsständische
Orientierung ausrichten ließen. Es war aber weiterhin auch möglich, daß die Mitgliedsver-
bände der Richtungsgewerkschaften gehobene Angestellte als Mitglieder rekrutierten.
Durch Abtrennungen von der (ehemaligen) CGT entstanden also einmal gewerkschaftliche
Dachverbände mit Rekrutierungsbereichen, die sich auf bestimmte Tätigkeitsgruppierungen
und Funktionsbereiche beschränkten, aber unterschiedliche weltanschauliche Orientierungen
zu integrieren versuchten (FEN und CGC).
Mit der CGT-FO entstand zusätzlich eine Gewerkschaft ohne eine funktionsbezogene
Beschränkung des Rekrutierungsbereichs, in der die Vertreter derjenigen Orientierungen
zusarnmengefaßt wurden, für die die gewerkschaftliche Unabhängigkeit von außergewerk-
schaftlichen ideologisch motivierten Bevormundungen von besonderer Bedeutung war. Auf
diese Weise erhielt die CGT-FO eine anti-kommunistische und anti-klerikale Orientierung.
Dies setzte sie in Widerspruch zur CGT und zur CFDT und limitierte ihren "einheitsgewerk-
schaftlichen" Integrationsanspruch.
Die christliche Gewerkschaft CFTC erlebte ähnliche Abspaltungen wie die CGT. Zog die
CGT den Vorwurf auf sich, eine zu enge Bindung zur kommunistischen Partei zu unterhalten,
so mußte sich die CFTC den gleichen Vorwurf in bezug auf die katholische Kirche gefallen
191
lassen. 1964 spaltete sich die Confederation Fran~aise Democratique du Travail (CFDT) von
der CGT ab. Die Begründung hierfür war die enge Bindung der CFTC an die katholische
Soziallehre. Hieraus resultierte der Meinung der Kritiker zufolge eine zu starke Bereitschaft
der christlichen Gewerkschaft, mit den Arbeitgebern zu kooperieren. Anstelle einer sozial-
partnerschaftliehen Orientierung gab die CFDT der Konzeption der Arbeiterselbstverwaltung
(autogestion) den Vorzug. Diejenigen Arbeitnehmer, die der traditionellen kirchlichen
Orientierung verbunden bleiben wollten, konnten bei der CFTC (-Maintenue) Mitglied
bleiben.
Neben den genannten Gewerkschaften entstanden weitere Verbände fiir einzelne Berufs-
gruppierungen, die keine Zuordnung zu einer weltanschaulichen Orientierung fiir sich in
Anspruch nahmen. Diese haben sich teilweise ebenfalls in Gewerkschaftsroderationen
zusammengeschlossen, z.B. in der Confederation Syndicats Libres (CSL). Einzelne Gewerk-
schaftsföderationen haben sich zusätzlich zu einer Groupe des , Dix • verbunden (vergl: Jues
1995: 55ff.).
Die Sonderstellung dieser Gewerkschaften ergab sich vor allem dadurch, daß die rechtli-
chen Normierungen ihnen eine gleichberechtigte Stellung verwehrten. Während die bisher
genannten Gewerkschaften als ,,repräsentative" Gewerkschaften eine umfassende Anerken-
nung fanden, war dies bei den zuletzt genannten Gewerkschaften nicht der Fall.
Die hohe Komplexität des französischen Gewerkschaftswesens entwickelte sich aus der
Koexistenz der verschiedenen Organisationsprinzipien, welche die Grundlage fiir den
jeweiligen gewerkschaftlichen Zusammenschluß von Gewerkschaftsföderationen bildeten.
Die starke ideologische Binnendifferenzierung der französischen Gewerkschaften auf der
Grundlage der unterschiedlichen weltanschaulichen Präferenzen (CGT, CFDT, CFTC) und
Abneigungen (CGT-FO) fundierte eine weitreichende Organisationsdifferenzierung. Hinzu
kamen funktions-und bereichsbezogene Differenzierungen (CGC und FEN).
Eine weitere ergänzende und einschränkende Aussage ist hinzuzufiigen: Mit Ausnahme der
CFTC basiert heute kein gewerkschaftlicher Dachverband auf einer homogenen weltan-
schaulichen Orientierung seiner Mitglieder.
Auch die CGT beheimatet mittlerweile Strömungen, die sid. zumindest danach unterschei-
den lassen, in welcher Distanz sie zur kommunistischen Partei stehen. Unter dem Dach der
CGT-FO finden kooperativ-reformorientierte Strömungen ebenso ihren Platz wie Strömun-
gen, die als trotzkistisch bzw. anarcho-syndikalistisch bezeichnet werden.
Hinzu kommt, daß die ideologischen Binnendifferenzierungen heute eine unterschiedlich
starke strukturelle Verankerung haben. In einigen Gewerkschaften sind sie nur als dominie-
rende Mehrheits- und tolerierte Minderheitenorientierungen bemerkbar, in anderen Gewerk-
schaften erfahren sie Berücksichtigung als ausdrücklich anerkannte und publizistisch
beachtete Strömungen. Zum Teil sind sie sogar als besonders ausdifferenzierte und (binnen-)
organisatorisch verfestigte Tendenzen wahrnehmbar. Insbesondere solche ausdifferenzierten
Subsysteme stellen ein innerverhandliches Integrationsproblem dar.
192
Diese Strömungen und Tendenzen bieten aber auch eine Grundlage für divergierende
zwischengewerkschaftliche Beziehungen, für Beziehungen mit den Arbeitgebern und ihren
Verbänden sowie mit dem Staat. Unterschiedliche Strömungen und Tendenzen bedingen
Meinungsverschiedenheiten und Machtkämpfe zwischen den Gewerkschaftsflügeln. Zumin-
dest beziehen sich die Vertreter unterschiedlicher Lager häufig auf die ideologische Binnen-
differenzierung- auch dann, wenn ihre Auseinandersetzungen andere Ursachen haben.
Die Kommentatoren der Beziehungen zwischen den französischen Gewerkschaften gebrau-
chen gern das Bild des Schachbretts (lkhequier). Die Anschaulichkeit dieses Bildes ergibt
sich vor allem daraus, daß die Schachzüge von Positionsträgern der unterschiedlichen
Gewerkschaftsflügel ausgeführt werden, die ihrerseits auf vorausgegangene Schachzüge
reagieren und damit gleichzeitig neue Kombinationen schaffen. Die Züge haben komplexe
Voraussetzungen und können komplexe Folgewirkungen auslösen, ohne daß diese von
vornherein kalkulierbar sind. Vielmehr ergeben sie sich Zug um Zug. Insbesondere ist kaum
absehbar, welche Folgewirkungen Veränderungen haben, welche die Regeln betreffen, die
den Zügen zugrunde liegen.
Der französische Gewerkschaftspluralismus ist nicht nur ein Pluralismus der unterschiedli-
chen Gewerkschaftsverbände, sondern auch ein Pluralismus divergierender Orientierungen
innerhalb dieser Verbände. Diese beruhen nur scheinbar auf einer homogenen weltanschauli-
chen Grundlage.
Der ideologische Binnenpluralismus gibt Veranlassung zu komplexen Zivisehengewerk-
schaftlichen Beziehungen, die zu steuern schwer fällt. Dies gilt, wie zu zeigen sein wird, vor
allem für staatliche Steuerungsversuche.
Ein übergreifender Erklärungsansatz für den Gewerkschaftspluralismus, wie er für Belgien
durch das Prinzip der (verschränkten) Versäulung gegeben ist, liegt für Frankreich nicht vor.
Die Interpretationen des Gewerkschaftspluralismus begnügen sich aber auch nicht damit,
die Tatsache des Pluralismus aufverschiedene Gewerkschaftsspaltungen zurückzuweisen. Sie
weisen auf relevante Einflußfaktoren hin, allerdings ohne deren Wirkung zu gewichten oder
eine Verbindung zwischen den genannten Einflußfaktoren herzustellen. Alle Erklärungsansät-
ze enthalten den Hinweis darauf, daß es nicht möglich ist, den Pluralismus auf ein dominie-
rendes Strukturmerkmal zurückzuführen.
So sieht Mouriaux (1985: 187f.) in der häufig dissentierenden französischen Mentalität eine
Begründung für den Gewerkschaftspluralismus. Weiterhin stellt er die ideologische Beharr-
lichkeit und Unversöhnlichkeit des Katholizismus und Kommunismus in Frankreich heraus,
um zu begründen, warum Versuche einer einheitsgewerkschaftlichen Verbandsbildung zum
Scheitern verurteilt wären.
Mouriaux weist auch auf die verzögerte Industrialisierung in Frankreich hin, die einen
revolutionären Syndikalismus begünstigt und die Entwicklung einer Sozialdemokratie
erschwert habe. So habe sich auch keine anpassungs- und kompromißfähige Organisation
193
entwickelt, die eine ideologiebezogene branchenübergreifende Integrationsleistung nach dem
Muster von "Einheitsgewerkschaften" hätte vollbringen können.
Dieser Interpretation zufolge spiegeln sich im Gewerkschaftspluralismus die großen Spal-
tungen der französischen Gesellschaft. Solche Spaltungen (clivages) bestehen zwischen
Christen und Laien, Kommunisten und Nicht-Kommunisten sowie zwischen den cadres und
den anderen Arbeitnehmern. Es fällt auf, daß nur jeweils die eine Seite dieser großen
polariserenden Spaltungen organisationsbildend wirkte, während die jeweiligen Gegenpole
keine einheitliche Organisationsform begründeten. So bildeten sich zwar eine christliche
Gewerkschaft, eine kommunistische Gewerkschaft und eine Gewerkschaft der gehobenen
Angestellten, die jeweiligen Gegenpole aber bildeten keine Grundlage für eine geschlossene
Organisationsbildung. Es gibt mehr als eine Gewerkschaft mit laizistischer, es gibt mehr als
eine Gewerkschaft mit anti-kommunistischer und mehr als eine Gewerkschaft, die Arbeit-
nehmer rekrutiert, die keine cadres sind.
194
Die Interessenlage eines Berufs läßt sich nur einheitlich vertreten. Indem die gewerkschaft-
liche Organisation am Arbeitsplatz an diese Vorstellungen von Homogenität und Konsens
anknüpft, übernimmt sie auch das Vorverständnis von der Einheitlichkeit der Interessenlage
einer beruflichen Gruppierung. Interessendifferenzierungen, die nicht an die Gemeinsamkei-
ten der beruflichen Interessenlage anknüpfen, werden nicht berücksichtigt.
Gewerkschaftliche Tätigkeit " ... se fonde sur une identite d'interets; egalite reelle entre !es
membres" (Rosanvallon 1988: 207). Die Berufszugehörigkeit fungiert als einheitsstiftendes
Element, das es erlaubt, in der Gewerkschaft, die auf der Grundlage der gemeinsamen
Berufszugehörigkeit Mitglieder rekrutiert und Interessen vertritt, eine kollektive Handlungs-
einheit zu sehen.
Es fehlt demzufolge die Notwendigkeit, kollektives Handeln auf das Handeln Einzelner
zurückzuführen oder auflnteressendifferenzierungen zu achten, die eine andere Grundlage als
die gemeinsame Berufszugehörigkeit haben. Es fehlt die Notwendigkeit, Meinungsbilder zu
erstellen oder Abstimmungen über Interessenlagen herbeizuführen, die nicht auf die gemein-
same Berufszugehörigkeit Rücksicht nehmen: "Le proletariat a fait du metier une unite
analogue a l'unite individu ou a l'unite Etat: voila Je sens profond de son hostilite contre Ia
representation proportionelle" (Maxime Leroy, zit. nach Rosanvallon 1988: 212).
Diese Vorstellung von kollektiver Identität setzt gewerkschaftliches Handeins zunächst
einmal in Widerspruch zur repräsentativen Interessenvertretung auf der Grundlage von
Mehrheiten. Das Bewußtsein der kollektiven Identität auf der Grundlage gemeinsamer
Berufszugehörigkeit soll zu kollektivem Handeln führen. Dieses bedarf eigentlich ebensowe-
nig einer stellvertretenden Repräsentation durch einzelne Berufsangehörige wie einer
zusätzlichen Legitimation durch erfolgreiche Abstimmungen oder Wahlen.
Letztere erscheinen sogar als schädlich, da sie Meinungsverschiedenheiten bewirken und
Spaltungen induzieren können. Auf diese Weise hemmen sie kollektives Handeln, anstatt es
zu fördern. Abstimmungen verleiten den Einzelnen dazu, die eigenen Interessen bzw. die
seines Berufs an Dritte zu delegieren. Auch eine Gleichheit im politischen Raum, die über die
Grenzen der Berufszugehörigkeit hinausgeht und sich auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber
erstreckt, erscheint unter dieser Perspektive nur als eine Verschleierung der realen Interessen-
unterschiede:
" ... Je regne d'opinion ... est une incitation a Ia demission, appelant l'individu a
deleguer ses affaires a des tiers ... car elle tue toute volonte d'action; l'ennemi de
classe devient un ami electoral .... L'egalite politique est duperie mystifiante"
(Rosanvallon 1988: 207) 96 .
"' vergl. in diesem Sinne auch Goetschy/Rozanblatt: " ... union Ieaders considered !hat the union· s strength was
as a community of militants united by cultural and social values, and !hat this might be jeopardized by the
holding of elections, which would have implied a different mode of interest representation" ( 1992: 408).
195
Die an die Berufszugehörigkeit angeschlossene Vorstellung von kollektiver Interesseniden-
tität zeigte sich bei den Zusammenkünften der verschiedenen Mitgliedergewerkschaften
dadurch, daß allen Gewerkschaften, unabhängig von ihrer Mitgliederzahl, der gleiche Einfluß
zugebilligt wurde: Ganz gleich, ob es sich etwa um die Gewerkschaft der Eisenbahnarbeiter
mit 37 000 Mitgliedern oder um die Gewerkschaft der Ziegelbrenner aus Seine-et-Oise mit
nur zwei Mitgliedern handelte, das Gewicht der beiden Gewerkschaften bei Abstimmungen
auf der Ebene des Dachverbands war gleich.
Jede Gewerkschaft hatte eine Stimme. Die Einberufung von Versammlungen von Dele-
gierten, deren Stimmengewicht sich nach der Mitgliederzahl der von ihnen vertretenen
Gewerkschaften richtete, wurde abgelehnt (vergl.: Rosanvallon 1988: 217).
Rosanvallon bezeichnet ein solches Verständnis gewerkschaftlicher Willensbildung als
essentialistisch: "Le syndicalisme ... est reste globalement attache a une conception es-
sentialiste de sa representativite'' (1988: 213).
Diese Konzeption gewerkschaftlichen Handeins geriet ins Wanken, als nicht mehr nur ein
gewerkschaftlicher Dachverband mit verschiedenen Berufsgewerkschaften bestand, sondern
Gewerkschaften unterschiedlicher weltanschaulicher Orientierung existierten, die in den
seihen Berufsgruppierungen Mitglieder rekrutieren wollten. Sobald Gewerkschaftspluralis-
mus herrschte und "knappe Güter" zwischen den Gewerkschaften verteilt werden mußten,
ergaben sich Probleme. Als "knappe Güter" galten etwa die Verteilung von Positionen in
Gremien oder die Verteilung von finanziellen Ressourcen, die der Staat zur Verfügung stellte.
Die Lösung solcher Verteilungsprobleme wurde durch Abstimmungen und Wahlen herbeige-
fiihrt. Der einzelne Arbeitnehmer erhielt eine Stimme und die Anzahl der Stimmen entschied
über die Verteilung der Ressourcen. Nunmehr mußte also auch der einzelne Arbeitnehmer als
Mitglied bzw. als Wähler berücksichtigt werden. Die Zustimmung, die die Verbände durch
Mitgliedschaften und bei Wahlen erfuhren, gewann an Bedeutung. Mit dem Gewerkschafts-
pluralismus wurde also das ursprüngliche essentialistische bzw. kollektivistische Gewerk-
schaftsverständnis relativiert. Gewerkschaftliche Politik " ... n'acceptera au fond d'etre legitime
par l'election que pour des motifs de circonstance, lorsque l'installation d'une situation de
pluralisme syndicall'y contraindra mecaniquement" (Rosanvallon 1988: 225). Der Gewerk-
schaftspluralismus zwang zur Entscheidung durch Wahlen. Damit aber veränderte sich - so
Rosanvallon - die Gewerkschaft als soziologischer Gegenstand: "Introduit pour gerer une
situation de pluralisme, Je systeme du vote social a pratiquement transforme le caractere
sociologique du syndicalisme: Je rapport d'identite ..... s'est recouvert d'un rapport classique de
representation individualiste ... " (Rosanvallon 1988: 232). An die Stelle eines kollektiven
Akteurs mit einer vorausgesetzten einheitlichen kollektiven Interessenorientierung trat - so
Rosanvallon - die Notwendigkeit einer Legitimation kollektiver Interessenvertretung auf der
Grundlage individueller Willensbildungen und Handlungsformen, wie sie Entscheidungen
über Mitgliedschaften oder Selektionsprozessen bei Wahlen zugrunde lagen.
196
Es wird allerdings zu zeigen sein, daß die vormalige "essentialistische" Konzeption ge-
werkschaftlichen Handeins noch nicht verschwunden ist, sondern weiterhin für die Legitima-
tion gewerkschaftlichen Handeins von Bedeutung ist. Dieses zeigt sich insbesondere bei der
Bestimmung gewerkschaftlicher Repräsentativität und der sich dieser Bestimmung anschlie-
ßenden Vergabe von Ressourcen.
Für das Verständnis eines ,,klassischen" syndicalisme a lafram;aise ist neben der Einsicht
in die Bedeutung essentialistischer Denkansätze auch die Stellung des gewerkschaftlichen
lnteressenvertreters, des militant, hinzuweisen.
Der militant stand im Mittelpunkt der gewerkschaftlichen Interessenvertretung auf Betrieb-
sebene. Besonders in der Zeit zwischen der Liberation und dem Ende der siebziger Jahre fand
die Form der Interessenvertretung, die mit dieser Position verbunden ist, Verbreitung und
Bestätigung (vergl. Labbe 1994: 60ff.).
Der militant wurde zum Kristallisationspunkt und Katalysator der gewerkschaftlichen
Interessenvertretung. Dies geschah häufig sogar, ohne daß diese Interessenvertretung hierfür
auf formaler Organisation beruhte. Der militant leistete auf "informellem" Wege eine
effiziente Regelung industrieller Konflikte und dies, lange bevor eine Formalstruktur die
Interessenvertretung und Konfliktregelung auf betrieblicher Ebene sicherzustellen versuch-
te97.
Die Konstitution der Gewerkschaften auf Betriebsebene (syndicats) erfolgte vor allem auf
der Grundlage des Vertrauens, das die Arbeitnehmer in die militants ihrer beruflichen
Gruppierung setzten. "La confiance envers les responsables" (Labbe 1994: 65) galt als ein
wichtiger Grund für die Mitgliedschaft in Gewerkschaften und begründete häufig eine
Konfliktregelung ohne formelle Verfahrensregelungen mit langen lnstanzenzügen. Der
militant war befugt, die Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber kollektiv zu vertreten. Der
militant bildete zusammen mit den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern eine soziale
Gruppe, in der eine "ambiance syndicale" (Labbe 1994: 65) das Klima bestimmte.
Hieraus ergaben sich sowohl eine besondere Bindung der Mitglieder an die Gewerkschaf-
ten als auch besondere Formen des Verständnisses der Gewerkschaft als "Organisation"
überhaupt. Das Gewerkschaftsmitglied im klassischen Sinne war ein Anhänger (adherent) der
Gewerkschaft, welcher zum militant eine Vertrauensbeziehung unterhielt und dessen Bindung
an die Gewerkschaft normativ fundiert war. Wie Groux!Mouriaux betonen, transzendierte die
klassische Mitgliedschaftsbeziehung kurzfristige Interessenorientierungen und einfache
91 vergl. auch Tschobanian mit seinem Hinweis auf die regu/ation informelle gewerkschaftlicher Interessenver-
tretung und betrieblicher Konfliktregelung. Tschobanian sieht im militant das entscheidende Zentrum
gewerkschaftlicher Aktivität auf Betriebsebene: ,,Jusqu ·lila creation de Ia section syndicale en 1968, c ·est bien
cette institution qui jouait un röle majeur d"expression syndicale dans l'entreprise, tant vers Ia direction et Ia
hierarchie que vers !es salaries" ( 1996: 266 ).
197
Kalkulationen über die Rentabilität bestimmter Serviceleistungen: "L' adhesion" sei anzuse-
hen "00. comme un acte de conviction plutöt qu'un simple engagement lie a J'interet immediat
et il restait generalement depourvu de reelles fonctions de services s' adressant aux adherents"
(1994: 68).
Diese Besonderheiten Jassen die in modernen Industriegesellschaften üblicherweise hervor-
gehobene "Kollektivgutproblematik" freiwilliger Organisationen in einem anderen Licht
erscheinen. An die Stelle des kalkulierenden Vergleichs des Nutzens von Mitgliedschaft und
des individuellen Aufwands für Mitgliederbeiträge traten normative Orientierungen und eine
eher affektive Beziehung zum militant. Nicht das Nutzenkalkül des zahlenden Mitglieds als
potentiellem free-rider stand im Vordergrund, sondern vielmehr die soziale Beziehung zu
Personen in der Kleingruppe "Gewerkschaft". Diese war im militant personifiziert und diente
als Grundlage für die Ausübung von Kontrolle und Konformität.
Labbe hebt hervor, daß die Gewerkschaften ein handlungsfähiges betriebliches Kollektiv
bilden mußten, ohne daß ihnen irgendwelche Mechanismen der Organisationssicherung zur
Hilfe kommen konnten. Die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft war weder durch rechtliche
Regelungen eingeschränkt, noch konnte die Gewerkschaft - staatlich vermittelte - exklusive
Dienstleistungen als selektive Anreize anbieten, mit denen sie die Mitgliedschaft attraktiv
machen konnte. Die Möglichkeit normativer Integration fußte auf der geringen Gruppengröße
"00. il n' existe aucune contrainte legale ou conventionelle, ni aucun service reser-
ve aux seu1s syndiques, seule Ja creation d'une ,ambiance' favorable - a base
d'idees partagees mais aussi de sociabilite Naturellement, Ja petite taille des
000 •
198
die Rolle des peroidischen Beitragszahlers umfaßt, verliert sie ihre klaren Konturen. Sie
erlangt auf diese Weise nur eine geringe organisatorische Bedeutung 98 •
Labbe zufolge kann das französische Gewerkschaftswesen bis zum Beginn der siebziger
Jahre als institutionalisiert angesehen werden, obwohl es nur zu einem geringen Ausmaß
formal organisiert war. Für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg urteilt Labbe: " ... ,Je
syndicalisme it Ia franyaise' a ete une relative reussite pendant plus d'un quart de siecle",
obwohl eine Unterstützung der innerverbandliehen und zwischengewerkschaftlichen
Beziehungen durch eine Organisierung im Sinne von Formalisierung und Bürokratisierung
ebenso ausblieb wie eine Unterstützung durch organisationssichernde Maßnahmen (Labbe
1994: 73).
Diese Feststellung wird unter den veränderten Bedingungen der achtziger und neunziger
Jahre nicht beibehalten. Labbe ist - wie im einzelnen zu zeigen sein wird- gemeinsam mit
einer Reihe anderer Kommentatoren der Ansicht, daß die rechtlichen Interventionen in die
Arbeitsbeziehungen, die seit Beginn der siebziger Jahre erfolgten, eine Deinstitutionalisierung
der gewerkschaftlichen Interessenvertretung eingeleitet haben. Dies geschah, obwohl die
rechtlichen Interventionen eigentlich zu einer Stabilisierung der gewerkschaftlichen Interes-
senvertretung hatten beitragen sollen.
Die bisherige Kennzeichnung der Entwicklung der französischen Arbeitsbeziehungen hat
die "organisationsferne" Institutionalisierung kollektiver Handlungen besonders betont.
Allerdings waren die französischen Arbeitsbeziehungen keine voluntaristischen Arbeitsbezie-
hungen nach britischem Muster, die der Staat auf der Grundlage von Rechtsnormen "freige-
setzt" hatte, sondern vielmehr Arbeitsbeziehungen, in die der Staat intervenierte. Die
staatlichen Interventionen sparten nur den Bereich gewerkschaftlicher Interessenvertretung
auf Betriebsebene und den Bereich der innerverbandliehen Beziehungen aus, so daß sich die
beschriebene organisationsfeme, kollektivorientierte Vertretungsstruktur entwickeln konnte.
Um ein genaues Bild der Zielsetzungen und Wirkungen der staatlichen Intervention in die
Arbeitsbeziehungen zeichnen zu können, sollen nunmehr die Formen und Veränderungen
staatlicher Intervention beschrieben werden. Hierdurch soll sowohl deutlich werden, welche
rechtlichen Interventionen den klassischen syndicalisme a Ia fran9aise flankierten und in die
klassischen Mitgliedschaftsbeziehungen eingegriffen haben.
Wie in Belgien sind auch in Frankreich die repräsentativen Gewerkschaften mit besonderen
Vertretungsbefugnissen ausgestattet.
Demzufolge kommt auch in Frankreich der Beantwortung der Frage nach der Bestimmung
der Repräsentativität eine entscheidende Bedeutung zu.
98 Zum Problem der Formalisierung der Mitgliedschaftrolle und den daran anschließenden Schwierigkeiten bei
der Bestimmung von Mitgliederzahlen und Organisationsgraden vergl. Bouzonnie 1991: 18ff.
199
Es soll zunächst untersucht werden, welche Einflußmöglichkeiten den Gewerkschaften auf
den verschiedenen Interaktionsebenen der Arbeitsbeziehungen zukommen. Daran anschlie-
ßend soll geprüft werden, ob und inwieweit diese Einflußmöglichkeiten daran geknüpft sind,
daß den Gewerkschaften der Status der Repräsentativität verliehen wurde.
Ferner soll interessieren, welche Bestimmungsmerkmale einer Anerkennung einer Gewerk-
schaft als repräsentativ zugrunde liegen. Es stellt sich die Frage nach den Akteuren, die über
die Repräsentativität gewerkschaftlicher Interessenvertretung entscheiden und nach den
Spielräumen, die sie bei ihren Entscheidungen haben. Diese Frage steht in einem engen
Zusammenhang mit der Kennzeichnung und Klassifizierung der Kriterien, die der Entschei-
dung zugrunde liegen.
Hieran schließt sich die Frage an, welche Zielsetzungen mit der Bestimmung von Reprä-
sentativität verbunden sind.
Auch für Frankreich soll hierbei untersucht werden, ob dem staatlichen Handeln aus-
schließlich offizielle Zielsetzungen zugrunde liegen oder ob auch nicht-offizielle Zielsetzun-
gen fiir das staatliche Handeln verantwortlich gemacht werden können.
Auf der Grundlage dieser Unterscheidung soll dann untersucht werden, ob die beobachtba-
ren Wirkungen staatlichen Handeins intendierter, nicht-intendierter oder sogar paradoxer Art
sind.
Entsprechende Untersuchungen können allerdings erst erfolgen, wenn die Wirkungen
staatlichen Handeins für die verschiedenen Funktionsebenen und -bereiche kollektiver
Interessenvertretung differenziert beobachtet wurden.
Hierbei kommt den Wirkungen der Interventionen auf die gewerkschaftlichen Mitglied-
schaftsbeziehungen ebenso große Bedeutung zu wie den Wirkungen der Interventionen auf
die betriebliche Interessenvertretung sowie auf die Tarifbeziehungen.
Es stellt sich - wie zu zeigen sein wird - insbesondere die Frage, ob die staatlichen Inter-
ventionen geeignet sind, die kollektiven Arbeitsbeziehungen "freizusetzen"- also eine relative
Tarifautonomie zu konstituieren- oder ob die kollektiven Arbeitsbeziehungen (repräsentativer
Gewerkschaften) der dauerhaften staatlichen Intervention bedürfen?
200
6 Kollektive Arbeitsbeziehungen im Zeichen staatlicher Regelung
Da sich die Bestimmungen über die Interessenvertretung der Arbeitnehmer im Zusammen-
hang mit den Bestimmungen über die Repräsentativität gewandelt haben, sollen beide
Bestimmungsformen mit ihren wechselseitigen Bezügen dargestellt werden.
201
ihre Tätigkeiten ebenfalls teilweise von der Arbeit freigestellt und genießen einen besonderen
Kündigungsschutz (vergl. Jues 1995: 5ff.)99 .
Jues betont folgenden entscheidenden Unterschied zwischen der Funktion der Beleg-
schaftsdelegierten und deljenigen der Gewerkschaftsdelegierten: Die Belegschaftsdelegierten
sorgen in erster Linie dafiir, daß die rechtlichen Bestimmungen im Betrieb Anwendung
finden. Demgegenüber ist es Aufgabe der Gewerkschaftsdelegierten, über die rechtlichen
Befugnisse hinausgehende Forderungen zu stellen und möglichst auch durchzusetzen: "Les
DP ,reclament' et font appliquer Ia loi, !es delegues syndicaux ,revendiquent', ils negocient
pour aller au-dela de Ia loi" (1995: 44f.).
Weiterhin wurden- ebenfalls nach dem zweiten Weltkrieg- rechtliche Grundlagen fiir die
Einrichtung von comite d'entreprise (CE) geschaffen. Diesen Betriebsausschüssen gehören
Vertreter der Arbeitnehmer und Arbeitgeber an. Sie werden in Betrieben mit mehr als 50
Beschäftigten gebildet. Den Vorsitz in den Betriebsausschüssen hat die Arbeitgeberseite.
Die Mitglieder der Betriebsausschüsse haben weitgehende Informationsrechte zu wirt-
schaftlichen, sozialpolitischen und personellen Problemen sowie zu Fragen, die sich aus
technischen und organisatorischen Änderungen ergeben. Bei einigen betrieblichen Entschei-
dungen haben sie sogar echte Mitbestimmungsbefugnisse 100 •
Während also die Gewerkschaftsdelegierten als die eigentlichen Verhandlungsorgane
gelten können, haben die anderen beiden betrieblichen Vertretungsorganen vor allem
Informationsrechte und darauf aufbauende konsultative Funktionen.
Die Belegschaftsdelegierten und die Arbeitnehmervertreter in den Betriebsausschüssen
werden von allen Belegschaftsangehörigen gewählt. Es gibt zwei Wahlgänge. Die Wahlen
finden seit 1993 alle zwei Jahre statt.
Schon aufbetrieblicher Ebene ist die Unterscheidung zwischen repräsentativen und nicht-
repräsentativen Gewerkschaften von entscheidender Bedeutung: Im ersten der beiden
Wahlgänge fiir die Belegschaftsdelegierten und die Arbeitnehmervertreter im Betriebsaus-
schuß können nurVertreterrepräsentativer Gewerkschaften Kandidatenlisten einreichen.
Wenn im ersten Wahlgang nicht zumindest 50% der Stimmberechtigten den Kandidaten
der repräsentativen Gewerkschaften- die in diesem Wahlgang ausschließlich zur Wahl stehen
- ihre Stimme geben, gelten diese Kandidaten nicht als gewählt. Für diesen Fall, "qui traduit
Ia minceur de l'audience des syndicats dit ,representatifs'" (Teyssie 1993: 75) findet ein
zweiter Wahlgang statt, fiir den auch Gewerkschaften Kandidaten aufstellen können, die nicht
202
repräsentativ sind. Auch Kandidaten, die überhaupt nicht gewerkschaftlich organisiert sind
können sich zu Listen zusammenschließen: "Les candidatures sont alors libres" (Teyssie
1993: 75; vergl. auch: Ranke 1995: 97f. 101 ).
Nur repräsentativen Gewerkschaften ist es ferner gestattet, auf der Grundlage der rechtli-
chen Bestimmungen Gewerkschaftsdelegierte in den Betrieb zu entsenden und auf betriebli-
cher Ebene eine Gewerkschaftssektion zu errichten.
Hierbei wird ein wichtiger Unterschied zwischen Gewerkschaften gemacht, die auf natio-
naler Ebene als repräsentativ anerkannt wurden und solchen Gewerkschaften, die nur fiir
einen bestimmten Betrieb als repräsentative Gewerkschaften rechtliche Vertretungskompetenz
erworben haben:
101 Jues spricht demzufolge von einem ,,monopole syndicale de premier tour'' (1995:35).
203
Kompetenz bezog und welche Voraussetzungen die Gewerkschaften erfüllen mußten, damit
ihnen die rechtliche Vertretungskompetenz zuteil wurde.
Die Kompetenz der Gewerkschaften zum Abschluß von Tarifverträgen wurde erstmals in
dem Gesetz vom 25.3.1919 umfassend geregelt. Dieses Gesetz bestimmte, daß die Kollektiv-
verträge normative Wirkung haben. Sie galten für die Mitglieder deijenigen Gewerkschaften,
die den Tarifvertrag abgeschlossen hatten. Die Identität der collective signafaire und der
collectivite d'app/ication war damit gewährleistet (Despax!Rojot 1987: 244).
Im Gesetz vom 24.6.1936 wurde die gesetzliche Regelung der normativen Wirkung der
Kollektivverträge beibehalten, gleichzeitig aber die Beschränkung der Geltung der Kollekti-
vnormen auf die Verbandsmitglieder aufgehoben: "Collectivite signataire ... et collectivite
d'application cessaient d'etre identiques par l'effet de cet acte" (Morin 1988: 30).
Die Vertragsinhalte konnten also auch auf Nicht-Mitglieder ausgedehnt werden. Die
Entscheidung hierüber wurde dem Arbeitsminister übertragen. Er konnte die vertraglich
vereinbarten Tarifnormen auch für diejenigen verbindlich machen, die keine Gewerkschafts-
mitglieder waren, aber im selben fachlichen oder räumlichen Bereich beschäftigt waren wie
die tarif-unterworfenen Arbeitnehmer.
Eine solche Übertragung der Tarifnormen auf Arbeitnehmer, die nicht in der Gewerkschaft
organisiert waren, konnte aber nur für solche Tarifnormen erfolgen, die von einer repräsenta-
tiven Gewerkschaft vertraglich vereinbart worden waren:
"Le loi prevoit que Je Ministre du travail peut decider par arrete de rendre obli-
gatoire !es dispositions d'une convention collective, intervenue entre organisa-
tions !es plus representatives, atous !es employes et employeurs des professions et
regions comprises dans un champ d'application" (Yannakourou 1995: 117 102).
Durch die Bestimmungen des Gesetzes von 1936 wurde also eine Diversifizierung der
kollektiven Vereinbarungen verfügt 103 : Während die vertraglichen Vereinbarungen von nicht-
repräsentativen Gewerkschaften ausschließlich für die Mitglieder der vertragschließenden
Verbände eine normative Wirkung hatten, konnten die vertraglichen Vereinbarungen von
repräsentativen Gewerkschaften für allgemeinverbindlich erklärt werden und damit für die
Angehörigen der von den vertraglichen Bestimmungen inhaltlich betroffenen Berufsgruppe
insgesamt Geltung beanspruchen 104 •
102Ebenso: ,,La loi a attache une teile valeur seulement aux conventions qui interviennent entre organisations les
plus representatives" (Yannakourou 1995: 114).
103 "Ia diversification structurelle des conventions" (Yannakourou 1995: 114)
104 vergl. auch Despax/Rojot: "the act of 24.June 1936 introduced two essential features which remain very
important in tbe present system, namely tbe special rote of tbe most representative unions and tbe possibility of
tbe extension, by the Minister of Labour.... of a collective agreement.., making it binding even for enterprises
or employers notparty to its negotiation and signature" (1987: 244f.; ebenso: Morin 1998: 421)
204
Den Bestimmungen dieses Gesetzes zufolge wurden also die repräsentativen Gewerk-
schaften nicht mehr ausschließlich als Interessenvertreter ihrer eigenen Mitglieder angesehen,
sondern als Interessenvertreter aller Beschäftigten mit einer bestimmten Berufszugehörigkeit
im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags. Die repräsentative Gewerkschaft wurde für
alle Mitglieder dieser Berufs-"gruppe" vertretungsberechtigt. Die repräsentative Gewerk-
schaft " ... ne doit pas agir seulement dans l'interet syndical pour ses membres, mais dans
I' interet collectif de Ia profession pour tous !es salaries. Il doit donc en etre ,representatif"'
(Verdier 1974: 571 105 ).
Die repräsentative Gewerkschaft war damit befugt, im kollektiven Interesse zu handeln,
ohne sich der Zustimmung der Betroffenen vergewissem zu müssen. Ihre Vertretungskompe-
tenz beschränkte sich nicht einmal auf eine Vertretungskompetenz, die aus der Mitgliedschaft
der Arbeitnehmer in derselben Gewerkschaft abgeleitet wurde. Repräsentative Gewerkschaf-
ten konnten auch Nicht-Mitglieder von Gewerkschaften, ja sogar Mitglieder anderer Gewerk-
schaften ,,repräsentieren", sofern sie als repräsentativ galten.
Die Gewerkschaft war also nicht deshalb vertretungsberechtigt, weil sie eine faktische
Vertretungskompetenz nachweisen konnte, sie war auch nicht deshalb vertretungsberechtigt,
weil sie von den Angehörigen der Berufsgruppe bevollmächtigt wurde, sondern deshalb, weil
von einem einheitlichen "objektiven" Interesse der Angehörigen der Berufsgruppe ausgegan-
gen wurde und der repräsentativen Gewerkschaft die Befugnis übertragen wurde, diese
Interessenvertretung zu leisten.
Im Anschluß an eine dirigistische Phase in den Arbeitsbeziehungen nach dem zweiten
Weltkrieg erfolgte mit dem Gesetz vom 11.2.1950 eine Rückkehr zum Prinzip der Kollektiv-
vertragsautonomie (Despax/Rojot 1987: 245). Eine Veränderung ergab sich dadurch, daß die
durch das Gesetz von 1936 bestimmte Diversifizierung der Kollektivverträge aufgehoben
wurde: Die Übertragung von Tarifuormen auf Arbeitnehmer, die nicht Verbandsmitglieder
waren, wurde nun nicht mehr davon abhängig gemacht, daß die Verträge von einer repräsen-
tativen Gewerkschaft abgeschlossen worden waren (Yannakourou 1995: 120).
Damit wurde die Bedeutung der Repräsentativität als Konzeption zur Regelung der Ar-
beitsbeziehungen zunächst erheblich reduziert:
105ebenso Morin: ... syndicats representatifs, c ·est a dire qui ont qualite pour parler au nom de tout Je groupe
sociale" (1996: 353).
106 Morin fiihrt die Aufhebung der Unterscheidung von Kollektivverträgen durch repräsentative und nicht-
repräsentative Gewerkschaften darauf zurück, daß der Gesetzgeber grundsätzlich von branchenbezogenen
205
Eine entscheidende Korrektur erfuhr die gesetzliche Regelung aus dem Jahre 1950 durch
das Gesetz vom 13.7.1971. Dieses Gesetz verschaffte den repräsentativen Gewerkschaften
nunmehr auch auf Branchenebene erhebliche Vorteile. Der Umfang dieser Befugnisse, die
repräsentativen Gewerkschaften vorbehalten waren, wurde gegenüber den gesetzlichen
Bestimmungen aus dem Jahre 1936 erheblich ausgedehnt.
Zunächst wurde die Befugnis zum Abschluß von rechtlich verbindlichen Kollektivverträ-
gen auf repräsentative Gewerkschaften beschränkt. Das Gesetz machte also die rechtliche
Verbindlichkeit der Kollektivverträge grundsätzlich davon abhängig, daß sie von einer
repräsentativen Gewerkschaften unterzeichnet wurden. Nicht-repräsentativen Gewerkschaften
wurde nunmehr die Befugnis zum Abschluß von Verträgen mit normativer rechtlicher
Verbindlichkeit überhaupt abgesprochen: "Nicht-repräsentative Gewerkschaften wurden ... "-
wie Jansen wörtlich feststellt - " ... aus der Vertragspolitik ausgeschaltet" ( 1987: 158).
Eine weitere rechtliche Bestimmung bezog sich auf die Übertragung der formalen Vertre-
tungskompetenz unter den Bedingungen des Gewerkschaftspluralismus. Der Gesetzgeber
legte fest, daß mit der Bestimmung einer Gewerkschaft als repräsentativ in jedem Fall die
Übertragung einer vollständigen Vertretungskompetenz verbunden war. Dies galt auch dann,
wenn mehrere Gewerkschaften für denselben fachlichen oder räumlichen Vertretungsbereich
als repräsentativ anerkannt worden waren. Eine Abstimmung zwischen den Gewerkschaften
wurde vom Gesetzgeber nicht verlangt. Der Gesetzgeber gestand einer einzelnen repräsentati-
ven Gewerkschaften ausdrücklich die Befugnis zu, Verhandlungen zu führen und Verträge
abzuschließen:
Die Kollektivverträge erhielten also für einen bestimmten fachlichen und räumlichen
Geltungsbereich auch dann rechtliche Gültigkeit, wenn mehrere repräsentative Gewerkschaf-
ten vorhanden waren, die Verträge aber nur von einer einzigen repräsentativen Gewerkschaft
unterzeichnet worden waren 107 •
Das Gesetz sorgte dafür, daß die einzelnen repräsentativen Gewerkschaften in Bezug auf
diese wichtige Funktion gleichgestellt wurden. Diese rechtliche Gleichstellung sah davon ab,
Tarifverhandlungen ausgegangen sei. Auf dieser Ebene habe man es nicht für notwendig gehalten, eine
entsprechende Unterscheidung zu treffen. Risiken, die durch den Gewerkschaftspluralismus hatten entstehen
können, erschienen dem Gesetzgeber für diese Interaktionsebene offensichtlich unerheblich zu sein: .,Aucune
condition generale de representativite n'a ete posee a l'epoque, vraisemblablement parce que Jes risques
inherents au pluralisme syndical etaient faibles dans Ia negotiation de branche" (Marin 1988: 31 ).
107vergl. Souriac-Rothschild: " ... Ia siganture d'une seule organisation representative selon l"un des deux modes
indiques suffit a Ja validite et a J'efficacite de Ia convention collective" (1996: 464; ebenso: Marin 1988: 31 ).
206
daß die faktische Vertretungskompetenz der einzelnen repräsentativen Gewerkschaften sehr
unterschiedlich sein konnte. War erst einmal die Anerkennung einer Gewerkschaft als
repräsentativ erfolgt, wurde eine einzelne Gewerkschaft mit den anderen repräsentativen
Gewerkschaften auch dann rechtlich gleichgestellt, wenn sie wesentlich weniger Mitglieder
hatte als die anderen repräsentativen Gewerkschaften oder wenn die von ihr nominierten
Kandidaten bei den betrieblichen Sozialwahlen wesentlich weniger Stimmen auf sich
vereinigen konnten als die Kandidaten der anderen repräsentativen Gewerkschaften 108 •
In der arbeitsrechtlichen Literatur Frankreichs wird auf die Besonderheit einer solchen -
einzelorientierten - Regelungskompetenz wiederholt hingewiesen:
So hebt Lyon Caen die Eigenart der "regle de l'unicite de signature" (1986: 35) vor allem
deshalb hervor, weil mit dem Vertragsabschluß weitreichende Möglichkeiten verbunden sind,
die Vertragsinhalte über die Verbandsmitglieder hinaus auszudehnen.
Die vertraglichen Bestimmungen galten nunmehr nicht nur für die Mitglieder derjenigen
Gewerkschaft, die der vertragschließenden Gewerkschaft angehörten, sondern auch für die
Mitglieder anderer Gewerkschaften, die den Vertrag nicht unterschrieben hatten. Auch wenn
der Vertrag nur von einer einzigen repräsentativen Gewerkschaft ausgehandelt und abge-
schlossen wurde, erhielt er für alle Beschäftigten in seinem räumlichen und sachlichen
Geltungsbereich rechtliche Gültigkeit.
Die von einer einzigen repräsentativen Gewerkschaft vertraglich vereinbarten Bestimmun-
gen wurden also sogar auf diejenigen Beschäftigten ausgedehnt, die in keiner anderen
Gewerkschaft Mitglied waren. Entscheidend war letztlich die Bindung des Arbeitgebers an
die vertraglichen Bestimmungen. Diese erfolgte entweder dadurch, daß der Arbeitgeber selbst
den Vertrag unterschrieben hatte oder dadurch, daß der Arbeitgeber einem Verband angehör-
te, der den Tarifvertrag vereinbart hatte.
Aber selbst dann, wenn der Arbeitgeber eines Tarifgebiets weder selbst noch durch seine
Verbandsmitgliedschaft Vertragspartner war, konnte der Vertragsinhalt auf die Beschäftigten
seines Betriebs ausgedehnt werden. Voraussetzung dafür war dann, daß der von oder für
andere Arbeitgeber abgeschlossene Vertrag durch den Arbeitsminister für allgemeinverbind-
a
lich erklärt worden war: " ... tous les salaries unis cet employeur par un contrat de travail
beneficient de Ia convention collective independamment de leur affiliation ou de leur non
affiliation syndicale (effet erga omnes)" (Souriac-Rothschild 1996: 446). Die Allgemeinver-
bindlichkeitserklärung konnte also als weitere Begründung für eine Ausdehnung der Ver-
tragsinhalte hinzukommen:" ... Ia convention collective ainsi conclues s'appliquera a Ia seule
condition que l'employeur soit lie (en raison de sa signature personelle, de son appartenance a
"" Vorschläge für gesetzliche Bestimmungen, die eine Ungleichbehandlung repräsentativer Gewerkschaften
vorsahen, konnten sich nicht durchsetzen (vergl. hierzu im einzelnen: Jansen 1987: 254 Fn. 203).
207
un groupement patronal signataire, voire d'un am~te d'extension pris par Je ministre du
Travail)" (Souriac-Rothschild 1996: 446).
Zusätzlich bestand sogar noch die Möglichkeit, Kollektivverträge über das Tarifgebiet
hinaus fiir allgemeinverbindlich erklären zu lassen, fiir das sie zunächst vertraglich vereinbart
worden waren (Jansen 1987: 162). Die Entscheidung über die Allgemeinverbindlichkeit
solcher Verträge wurde einer commission superieure des conventions collectives (CSCC)
übertragen. Diese setzte sich auf der Seite der Arbeitnehmer nur aus Vertretern von repräsen-
tativen Gewerkschaften zusammen,
Waren mehrere Tarifverträge innerhalb des selben Geltungsbereichs über den selben
Regelungsgegenstand von verschiedenen repräsentativen Gewerkschaften abgeschlossen
worden, so galt im Zweifelsfall die fiir die Arbeitnehmer günstigere Regelung, Sonstige
Kriterien fiir eine Akzeptanz der vertraglichen Regelung wurden nicht berücksichtigt.
Das Gesetz von 1982 (Loi Auroux) fiihrte zu einer erneuten Veränderung der Bestimmun-
gen über die rechtliche Regelung von Kollektivverträgen und über die mit der rechtlichen
Anerkennung von Repräsentativität verbundenen Befugnisse.
Der Gesetzgeber schrieb den kollektiven Akteuren vor, über bestimmte tarifvertraglich
regelbare Gegenstände in bestimmten Zeitabständen zu verhandeln.
Auf Betriebs- und Untemelunensebene hatten jährliche Verhandlungen über die Lohnhöhe
und über die Regelung der Dauer und Verteilung der Arbeitszeit stattzufinden. Dies galt unter
der Voraussetzung, daß Gewerkschaftsdelegierte bestimmt worden waren, die solche
Verhandlungen fiir die Arbeitnehmer fiihren konnten.
Auch auf sektoraler Ebene mußten von nun an jährliche Lohnverhandlungen stattfinden.
Mindestens alle fiinf Jahre mußten die Einstufungen der Tätigkeitsmerkmale (classification)
in bestimmte Lohnkategorien überprüft werden.
Die Bestimmungen über die Berechtigung der einzelnen repräsentativen Gewerkschaften
zur Verhandlungsfiihrung und zum Verhandlungsabschluß behielten ebenso ihre Gültigkeit
wie die Bestimmungen über die Möglichkeit, die vertraglichen Vereinbarungen, an denen
repräsentative Gewerkschaften beteiligt waren, auf andere Arbeitnehmer auszudehnen.
Es wurde allerdings eine wichtige Neuerung eingefiihrt. Diese betraf die möglichen Aus-
wirkungen der Berechtigung einer einzelnen repräsentativen Gewerkschaft, Kollektivverträge
auch fiir Nichtmitglieder dieser Gewerkschaft fiihren und abschließen zu können. Um zu
verhindern, daß die vertraglichen Vereinbarungen, an denen eine oder mehrere repräsentative
Gewerkschaften beteiligt waren, auch dann rechtsgültig wurden, wenn sie nicht die (mehr-
heitliche) Zustimmung der (organisierten) Arbeitnehmer fanden, wurden denjenigen reprä-
sentativen Gewerkschaften, welche die Kollektivverträge nicht unterzeichnet hatten, eine
Widerspruchsmöglichkeit (derogation) eingeräumt.
Die Voraussetzung fiir den Erfolg eines solchen Widerspruchs war allerdings, daß die
dissentierenden repräsentativen Gewerkschaften bei den Wahlen zu den Betriebsausschüssen
mehr als die Hälfte der Stimmen aller Wahlberechtigten auf sich vereinigen konnten (Jansen
208
1987: 218). Wenn keine Wahlen zu den Betriebsausschüssen stattgefunden hatten, waren die
Ergebnisse der Wahlen zu den Belegschaftsdelegierten ausschlaggebend 109 •
109Auf Branchenebene konnten die Einwände der dissentierenden und entsprechend legitimierten Gewerk-
schatien die Ausweitung der Tarifregelungen durch den Arbeitsminister verhindern: "S'il s'agit d'accords de
branche, ceux-ci doivent faire l'objet d'un arn!te d'extension par le ministre du Travail" (Souriac-Rothschild
!996: 447).
110 siehe auch Jansen (1987: I 02ff.); insbesondere dort das Schaubild auf den Seiten 104f..
111 "indemnites pour participation a de multiples conseils et, en premier lieu, !es organismes sociaux" (Labbe
1996:89)
209
Hinzu kommen, insbesondere im öffentlichen Dienst und im Bereich der großen öffentlichen
Unternehmen, großzügige Freistellungsregelungen fiir Beschäftigte, die Gewerkschaften
vertreten oder ihnen zuarbeiten: "Dans Ia fonction publique d'Etat, un certain nombre de
fonctionnaires sont decharges partiellerneut ou totalerneut de leurs services et mis il dispositi-
onsdes organisations syndicales" ( Labbe 1996: 100) 112 •
Mit entscheidend fiir das Ressourcenaufkommen der Gewerkschaften sind neben staatli-
chen Zuwendungen die Kontakte, die die Gewerkschaften zur öffentlichen Verwaltung und zu
den Arbeitgebern unterhalten: "L' essentiel est donc de realiser de bons scores - ou de frapper
aux bonnes portes - et non pas de collecter des cotisations" (Labbe 1996: 90). Die Bedeutung
der Mitgliedsbeiträge wird demgegenüber immer geringer.
Eine verbindliche Angabe darüber, welche - wie Jausen es formuliert - "Eigenfinanzie-
rungsquote"113 die repräsentativen Gewerkschaften haben, wird in der Literatur nicht
gemacht.
Während einige der großen Gewerkschaftsverbände angeben, sich zu mehr als zwei Dritteln
aus Mitgliederbeiträgen zu finanzieren, werden ihnen von außenstehenden Kommentatoren
lediglich 12 % der Gesamteinnahmen als Eigenfinanzierung zugesprochen (vergl.: Jausen
1987: 134).
Ein verläßlicher Anhaltspunkt fiir die Höhe der staatlichen Unterstützung der Gewerk-
schaften läßt sich einer Bemerkung des früheren Vorsitzende der mitgliederstarken Gewerk-
schaft des Erziehungswesens, Simbron, aus dem Jahre 1990 entnehmen. Dieser gab an, daß
mehr als 50% der Einnahmen, welche die Gewerkschaft FEN hatte, aus staatlichen Mitteln
stammte.
"Tous !es syndicats fonctionnent gräce il J'argent de !'Etat, notamment !es syndi-
cats de fonctionnaires, des collectives locales. Mon organisations syndicale a un
taux de syndicalisation dans !es secteurs dont elle n'a pas i1 rougir, avec un nom-
bre de syndiques de 350 000. Plus de 50% des ressources de Ia FEN, si je prends
Ia masse salariale des permanents, plus !es subventions pour Ia formations syndi-
cale, plus d'autres ressources, proviennent de !'Etat, ce n'est pas un secret" (1990:
29).
112In der Regel wird in diesen Unternehmen fiir jeweils 800 Beschäftigte ein Arbeitnehmer freigestellt, um
gewerkschaftsbezogene Aufgaben wahrzunehmen. Wie Labbe betont, geht diese Form von Ressourcenzuwen-
dung über die Freistellungsregelungen hinaus, auf die ein Rechtsanspruch im Rahmen der gesetzlichen
Interessenvertretung aufBetriebsebene besteht. "Mais ce n·est pas Ia meme chose d'accorder quelques heures
a plusieurs personnes, a Ia condition qu'elles soient elues par leurs camarades de travail, et d'en extraire une
sur 800 de son milieu de travail selon des procedures plus ou moins opaques." (Labbe 1996: l 00; vergL dort
auch weitere Angaben zu einzelnen Unternehmen und Branchen. Labbe hält die französische Regelung fiir im
internationalen Vergleich besonders großzügig.)
113 Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen im Verhältnis zu den Gesamteinnahmen.
210
An diese Besonderheiten des Ressourcenaufkommens der repräsentativen Gewerkschaften
schließen sich Eigenarten in den Mitgliedschaftsbeziehungen dieser Gewerkschaften und in
den Beziehungen der Gewerkschaften zum Staat an, auf die noch ausfiihrlicher eingegangen
werden soll.
"L · Article 389 de Ia partie XIII du traite de Versailles en 1919 prevoyait que !es
delegues non gouvernementaux a Ia Conference internationale du travail devaint
etre designes par le gouvernement de chaque Etat en accord avec !es organisations
professionnelles !es plus representatives" (Clavel-Fauquenot 1992: 221 ).
Der Wortlaut dieser Bestimmung ist im Artikel 38 der Verfassung des Internationalen
Arbeitsamtes übernommen worden (Jansen 1987: 97 und Yannakourou: 1995: 115f.).
Zunächst war es nicht strittig, daß die Repräsentativität einer Gewerkschaft auf der Grund-
lage ihrer Mitgliederzahlen ermittelt wurde und nur die jeweils stärkste Gewerkschaft eines
Landes vertretungsberechtigt war. Durch diese Bestimmung sollte zunächst offensichtlich
dem Prinzip der Einheitsgewerkschaft der Weg geebnet werden.
Im Jahre 1922 entschied der Internationale Gerichtshof ausdrücklich, daß auch Vertreter
mehrerer Gewerkschaften eines Landes entsendet werden können, sofern sie innerhalb eines
Landes als repräsentativ anerkannt worden waren 114 . Yannakourou zufolge bedeutete dies,
daß eine Vertretungskompetenz nicht notwendigerweise hohe Mitgliederzahlen oder eine
breite Zustimmung bei Wahlen voraussetzte, sondern auch minoritäre Gewerkschaften
berechtigt waren, die Interessen der Arbeitnehmermehrheit zu vertreten.
Offensichtlich wurde das Urteil im französischen Arbeitsrecht als ein erster Schritt hin zur
Anerkennung einer rechtlichen gewerkschaftlichen Repräsentativität ohne den empirischen
Nachweis einer faktischen Vertretungskompetenz angesehen
114.,La Cour Permanente de Justice de Ja Haye interpn!tant Ja formuJe par un avis du 3J juillet J922 a decide que
si dans un pays iJ y pJusieurs organisations syndicaJes representatives des classes ouvrieres, elle doivent etre
pris en compte par Je gouvemement" (Yannakourou J995: JJ6 Fn. 47).
211
"Sur Je plan theorique Je droit franyais avait dejit envisage d'instituer un systeme
de representation professionelle qui ne serait pas base sur !es techniques classique
du mandat ou de scrutin, mais sur une majorite presumee, puisque Je syndicalisme
franyaise reste minoritaire" (Yannakourou 1995: 117).
115Für Jansen spricht die zusätzliche Aufnahme dieses Kriteriums dafiir, daß die kommunistische CGT
benachteiligt werden sollte (1987: 98f.). Yannakourou (1995: 163f.) betont hingegen, daß man mit dieser
Entscheidung den Wiederaufbau von CGT und CFDT im Untergrund ebenso habe belohnen wollen wie die
Beteiligung der CGT an der Widerstandsbewegung.
212
Eine weitere entscheidende Weichenstellung für die Bestimmung der Repräsentativität
französischer Gewerkschaften bestand darin, daß man von der Notwendigkeit eines direkten
Nachweises der Repräsentativität für diejenige Organisation absah, für welche die entspre-
chenden Vertretungskompetenzen beansprucht wurden.
Zunächst mußten alle einzelnen Gewerkschaften, die Repräsentativität beanspruchten, den
Nachweis führen, daß die erwähnten Kriterien auf sie zutrafen. Bald wurde es allerdings
möglich, die mit Repräsentativität verbundenen Vertretungskompetenzen zu übertragen.
Als im rechtlichen Sinne repräsentativ konnten auch gewerkschaftliche Vertretungen
anerkannt werden, die eine eigene originäre Repräsentativität nicht nachgewiesen hatten.
Die Gewerkschaften, die auf diese Weise in den Kreis der repräsentativen Verbände mit
einbezogen wurden, waren Mitglieder von zentralen Gewerkschaftsf<iderationen, die als
repräsentativ anerkannt worden. Waren die Zentralverbände (Dachverbände) einmal als
repräsentativ anerkannt worden waren, konnten die von ihnen erworbenen Vertretungskom-
petenzen ohne besonderen Nachweis auch auf die betrieblichen Gewerkschaftsvertretungen
ausgedehnt werden.
Die Ansätze für eine rechtliche Regelung der Übertragung formaler Vertretungskompetenz
lassen sich in Frankreich bereits in Berichten über Gesetzesvorhaben aus den Jahren 1947 und
1948 erkennen (circulaire und circulaire confidentiel/e). Dort wurde bereits erwogen, einen
solchen Transfer von Repräsentativität zuzulassen, " ... dans Je cas ou Je caractere representa-
tif d'une Organisation ne pourrait etre suffisarnment etabJi sur Je plan de J' entreprise, iJ
pourrait etre tenu compte comme un element supplementaire de I' appartenance de cette
organisation al'une des grandes centrales syndicales" (Yannakourou 1995: 163).
Die Anerkennung der formalen Vertretungskompetenz einer Gewerkschaft im Betrieb
sollte im Fall ihrer Mitgliedschaft in einer repräsentativen Gewerkschaftsföderation nicht an
eine faktische Vertretungskompetenz anknüpfen, sondern vielmehr an deren Stelle treten
können.
Im Verlauf der 60er Jahre zeichnete sich zunehmend ab, daß der Gesetzgeber offensichtlich
bereit war, für immer mehr Regelungsbereiche zwei parallele Formen der Bestimmung von
Repräsentativität zuzulassen: Eine Form der Repräsentativität, die auf dem direkten Nachweis
der faktischen Repräsentativität beruhte und eine Form der Repräsentativität, die aus der
Mitgliedschaft in einem als repräsentativ anerkannten Zentralverband abgeleitet wurde, ohne
den Nachweis über eine faktische Vertretungskompetenz zu erfordern. Im zweiten Fall hatte
nur der Zentralverband den Nachweis der Repräsentativität zu führen. Die daraus ableitbaren
Vertretungskompetenzen wurden auf die im Zentralverband föderierten betrieblichen
Vertretungen ausgedehnt.
Die Übertragung der Repräsentativität von der Ebene der Föderation auf die Ebene der
Mitgliedsverbände (ohne besonderen Nachweis) wurde erstmals durch die Bestimmung vom
17.8. 1967 über die Beteiligung der Beschäftigten am betrieblichen wirtschaftlichen Wachs-
tum ermöglicht. Die Berechtigung zur Vereinbarung solcher Verträge wurde auch auf die
213
Gewerkschaften übertragen, die einer zentralen repräsentativen Föderation angehörten. Ein
eigener Nachweis von Repräsentativität war nicht erforderlich.
In gleicher Weise regelte das Gesetz vom 27.12. 1968 die Kompetenz zur Einrichtung
gewerkschaftlicher Vertretungen aufBetriebsebene. Auch diesem Gesetz zufolge wurde einer
Gewerkschaft, die aufnationaler Ebene repräsentativ war, die Berechtigung zugesprochen, die
Vertretungskompetenzen auszudehnen. Das Gesetz bestimmte, " ... que tout syndicat affilie a
une organisation representative sur le plan national est considere comme representatif dans
l'entreprise" (Art. L.412-4 C.Trav. zit nach Rosaovalion 1988: 237). Ein Nachweis der
Repräsentativität mußte nicht erbracht werden.
Die Übertragung der Vertretungskompetenz auf gewerkschaftliche Vertretungen, die ihre
Repräsentativität durch Mitgliedschaft in repräsentativen Zentralverbänden zugesprochen
bekamen, wurde mit dem Gesetz vom 13.7.1971 auch auf den Abschluß von Kollektivverein-
barungen ausgedehnt.
Das Gesetz vom 28.10.1982 ( Lais Auroux) beseitigte alle Schranken für eine Übertragung
der Repräsentativität von der nationalen Ebene der Gewerkschaftsverbände auf die betriebli-
che Ebene. Ein gesonderter Nachweis betrieblicher Repräsentativität war nun nicht mehr
notwendig, sofern die Vertretungen den repräsentativen Zentralverbände angeschlossen
waren. Lediglich Vertretungen, die nicht Mitglied in einem als repräsentativ anerkannten
Zentralverband waren, hatten einen solchen Nachweis zu erbringen. Ihre rechtlich anerkannte
Vertretungskompetenz blieb auf den Bereich beschränkt, für den der Nachweis der Reprä-
sentativität erbracht werden konnte. Der Gesetzgeber " ... ne prive toujours pas !es autres
syndicats du droit de presenter des candidats au premier tour de scrutin, des lors qu"ils
etablissent leur representativite effective" (Y annakourou 1995: I 75) 116 •
Zusätzlich zur lediglich abgeleiteten und gleichsam "zugeschriebenen" Repräsentativität
konnte eine unmittelbare Repräsentativität aufbetrieblicher Ebene "erworben" werden.
Mit dieser gesetzlichen Regelung wurde also die aus der Mitgliedschaft in einem repräsen-
tativen Dachverband abgeleitete Repräsentativität (a priori repn?sentativite) mit der direkt auf
betrieblicher Ebene nachgewiesenen Repräsentativität gleichgestellt. Ferner gab es keine
funktionsspezifische Repräsentativität, sondern eine umfassende generelle Repräsentativitäts-
vermutung, die sich auf alle Vertretungsbreiehe bezog:
116zur Kontinuität und Modifikation der Bestimmung von Repräsentativität vergl. auch: Clavel-Fauquenot 1992:
223fT. sowie: Canut 1989 und Desjardins 1994.
214
pn!sentativite ont ete homogeneisee dans le sens d'une reconnaissance generalisee
de Ia qualite a priori representative des sections syndicales affiliees aune des cinq
graudes confederations" ( Rosanvallon 1988: 237f.).
117 .,Although it has seenred state subsirlies generally granted to union confederations, it has failed for the
moment to get legal ,representative' status in social elections or in state welfare bodies, and has not been party
to intersectoral negotiations" (Goetschy 1998: 365).
215
erhebliche Bedeutung bei der Selektion repräsentativer - also vertretungsberechtigter -
Gewerkschaften zu. Die Bestimmung der Repräsentativität ist ein zentrales staatliches
Steuerungsinstrument vor allem in denjenigen Gesellschaften, in denen zahlreiche Gewerk-
schaften Interessenvertretung anbieten, es aber umstritten ist, welche Gewerkschaften
Interessenvertretung leisten (dürfen).
Der Staat verfolgt allerdings - wie schon betont wurde - bei der Bestimmung der vertre-
tungsberechtigten Gewerkschaften kein ,,neutrales" Selektionsinteresse, sondern unterwirft
seine Selektionen bestimmten Zielsetzungen. Diese können in offizielle und in nicht-offizielle
Zielsetzungen unterschieden werden. Die Wirkungen, die von Normierungen ausgehen, mit
denen diese Zielsetzungen angestrebt werden, können als intendierte oder nicht-intendierte,
möglicherweise sogar als paradoxe Wirkungen eingestuft werden.
Diese Einstufung ist abhängig davon, ob dem Staat die Zielsetzungen zugeschrieben wer-
den, die er offiziell angibt oder ob ihm andere, inoffizielle Zielsetzungen unterstellt werden.
Die Bestimmung der offiziellen Zielsetzung staatlichen Handeins knüpft daran an, daß der
Staat bekundet, die traditionelle etatistische Ausrichtung der kollektiven Arbeitsbeziehungen
korrigieren und durch eine stärkere Autonomie der kollektiven Interessenvertretung ersetzen
zu wollen (vergl. hierzu ausführlich Jansen 1987: 143ff.).
Auf den Vorrang es Staates in den französischen Arbeitsbeziehungen wird in der Literatur
wiederholt hingewiesen. So steht für Morin die herausragende Bedeutung des Staates in den
Arbeitsbeziehungen in einer langjährigen Tradition staatlicher Intervention. Die Akteure der
Arbeitsbeziehungen hätten sich in den Nischen ansiedeln müssen, die ihnen der Staat gelassen
habe. Die Kompetenz zur Normierung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sei den Gewerk-
schaften und den Arbeitgebern bzw. ihren Verbänden zwar vom Staat grundsätzlich überant-
wortet worden, allerdings nur in dem Umfang, in dem der Staat eine solche kollektive
Handlungsfreiheit tatsächlich auch zulasse:
"Nous sommes en effet !es heritiers d'une tradition ou l'autonomie collective est it
Ia fois garantie par !'Etat et lui est soumise. Son integration dans I' ordre juridique
s' est faite dans !es espaces attribues par !'Etat ... " (Morin 1998: S. 419).
216
"L 'integration de I' ordre collectif dans I' ordre juridique positif est donc de nature
verticale, aIa difference d' autres systemes juridiques qui operent cette integration
soit par Ia definition d'un domaine reserve a Ia negociation collective, soit de
fafi:on horizontale" (Morin 1998: 422).
Hierin liege ein entscheidender Unterschied zwischen dem System der Arbeitsbeziehungen
in Frankreich und anderen Systemen - insbesondere dem System der Arbeitsbeziehungen in
Deutschland. Während in Deutschland die Tarifautonomie verfassungsrechtlich garantiert sei,
behalte sich der Staat in Frankreich das Recht vor, in die Arbeitsbeziehungen prozedural und
substantiell zu intervenieren
Nunmehr versuche der Staat, diesen Zustand zu überwinden, und den kollektiven Akteuren
- insbesondere den Gewerkschaften - mit rechtlichen Mitteln verbesserte Handlungsmöglich-
keiten zu geben. Die Förderung von Tarifautonomie erscheint als offizielle staatliche
Zielsetzung. Dieser Zielsetzung diene die Normierung zur Bestimmung der Repräsentativität
und die hieran anschließenden Kompetenzen und Befugnisse. Die kollektiven Akteure sollten
instand gesetzt werden, die substantielle Regelung der Lohn- und Arbeitsbeziehungen
möglichst eigenständig vorzunehmen.
Die offizielle staatliche Zielsetzung bestand also darin, Bedingungen zu schaffen, welche
die substantielle Intervention des Staates entbehrlich machte.
Die Bedeutung der kollektiven Arbeitsbeziehungen zwischen den Arbeitgebern und den
den Gewerkschaften für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen sollte erhöht werden Die
kollektiven Arbeitsbeziehungen sollten durch autonome Kollektivverhandlungen und
Kollektivverträge gestaltet werden, nicht durch einseitige Vorgaben der Arbeitgeber oder
durch staatliche Schiedssprüche und Mindestlöhne:
"11 est necessaire que Ia politique contractuelle devienne un des ressorts essentiels
du progres social, et que l'ensemble des salaries puisse, a terme, beneficier d'une
couverture conventionnelle. Plusieurs millions de salaries n'etaient en effet, cou-
verts par aucune convention ou que par une convention non reactualisee. Pour ces
travailleurs, !es seules garanties qui existaient decoulaient du code du travail. Ain-
si Ia principale obligation pour !es employeurs, en matiere des salaires, n'etait que
le paiement du SMIC" (Cantat 1983: II).
Die staatliche Zielsetzung bestand also offiziell darin, auf eine stärkere Autonomie der
kollektiven Arbeitsbeziehungen hinzuwirken. Die Arbeitsbeziehungen sollten im Sinne einer
"Vertragspolitik" gestaltet werden. Pointiert formuliert Jansen:
217
,,Die Favorisierung der Vertragspolitik sollte eine ,Entpolitisierung' und eine
,Entstaatlichung' der Austragung von Arbeitskonflikten bewirken. In Anlehnung
an das ,deutsche Modell' sollte das Kollektiwerhandlungssystem seine staatsent-
lastenden Potentiale entfalten. Um dies zu realisieren wurde eine zentrale Vorbe-
dingung darin gesehen, die Gewerkschaften in ,repräsentative, verantwortliche'
Organisationen zu transformieren" (1987: 155) 118 •
Ausdruck dieses Bemühens war es, die repräsentativen Gewerkschaften dadurch zu stärken,
daß auch die betrieblichen und sektoralen Vertretungen mit Mitgliedschaft in den repräsenta-
tiven Föderationen als repräsentativ angesehen wurden, ohne im einzelnen hierfür den
Nachweis führen zu müssen. Die Repräsentativitätsvermutung sollte dazu dienen, die
gewerkschaftliche Interessenvertretung zu stärken:"... the ,presumption ofrepresentativeness'
enjoyed by the five major French confederations since 1982 is perhaps such as to strengthen
the union phenomenon" (Amadieu 1995: 346; vergl. in diesem Sinne auch: Ruysseveldt I
Visser 1996: 87).
Den repräsentativen Gewerkschaften wurde auf der Betriebsebene das Recht eingeräumt,
den Arbeitgeber zu zwingen, mit den repräsentativen Gewerkschaften Kollektiwerhandlun-
gen aufzunehmen. Hiermit war die Erwartung verbunden, die Anzahl der Tarifverträge und
den Umfang des tariflichen Regelungsbereichs erheblich zu vergrößern:
Die rechtlichen Bestimmungen zur Repräsentativität und die daran anschließenden Befug-
nisse dienten also offiziell der Zielsetzung, tarifautonome kollektive Arbeitsbeziehungen zu
etablieren und selbständige kollektive Akteure mit ihrer Gestaltung zu beauftragen.
In dem Maße, in dem die staatlichen Interventionen in die Verfahren der Arbeitsbeziehun-
gen andauerten oder sich sogar noch verstärkten, wurde der genannten offiziellen Zielsetzung
nicht entsprochen. Geht man von der offiziellen Zielsetzung aus, so ist eine Kontinuität der
staatlichen Interventionen in die Arbeitsbeziehungen als nicht-intendierte Folge des staatli-
chen Normierungen anzusehen, mit denen die Kollektiwertragspolitik ja eigentlich gefördert
werden sollte.
118An anderer Stelle fonnuliert derselbe Autor im gleichen Sinne, daß die Absicht bestand, ..... den Staat durch
den Aufbau eines funktionalen und funktionierenden Vertragssystems zu entlasten - eine Absicht, die auch mit
der bundesdeutschen Tarifautonomie verfolgt wird" (1985:49).
218
Ohne an dieser Stelle bereits im einzelnen über den Erfolg oder Mißerfolg der staatlichen
Interventionen berichten zu wollen, sei bereits darauf hingewiesen, daß eine Reihe von
Autoren einen Erfolg der staatlichen Interventionen im Sinne der oben genannten Zielsetzun-
gen nicht als gegeben ansehen. Sie beobachten eine Permanenz staatlicher Intervention trotz
rechtlicher Interventionen mit entgegengesetzter Zielsetzung.
In ihrer Beurteilung der Wirkungen der rechtlichen Interventionen gehen einige Autoren
noch über die Feststellung nicht-intendierter Wirkungen hinaus. Sie behaupten, die staatlichen
Normierungen hätten entgegen ihrer Absicht dazu beigetragen, daß die beabsichtigten
Wirkungen verfehlt worden seien. Es wird behauptet, die staatlichen Normierungen hätten
sogar dazu geführt, daß sich die Abhängigkeit der kollektiven Akteure und ihrer Handlungen
vom Staat noch verstärkt habe. Die staatlichen Normierungen hätten paradoxe Wirkungen
gehabt, weil sie ihren Intentionen nicht nur nicht entsprochen hätten, sondern sogar das
Gegenteil der beabsichtigten Wirkungen herbeigeführt hätten. Der staatlichen Steuerung wird
vorgeworfen, es sei auf eben diese Normierungen zurückzuführen, daß sich die erklärten
offiziellen Zielsetzungen in ihr Gegenteil verkehrt hätten.
Die Abhängigkeit der kollektiven Arbeitsbeziehungen vom Staat gilt als "state - created
weakness" (Ruysselveldt!Visser 1996: 102). Es hätten sich - so der Vorwurf- "perverse
effects" (Segrestin 1990: I 08) eingestellt, weil der Staat, der die kollektiven Arbeitsbeziehun-
gen "freizusetzen" beabsichtigte, für die Gestaltung der kollektiven Arbeitsbeziehungen nun
noch weniger entbehrlich sei als zuvor 119 .
"Unintentionally but predictably" (Ruysselveldt!Visser 1996: 121) bleibt der Staat in der
Verantwortung für die Inhalte der Arbeitsbeziehungen, weil er sich, so ließe sich in diesem
Sinne ergänzen, offensichtlich der falschen Steuerungsmittel bedient hat.
Es ist allerdings fraglich, ob dieser Befund aufrecht erhalten werden kann, wenn die Wir-
kungen staatlichen Handeins auf die kollektiven Arbeitsbeziehungen einer detaillierten
Analyse unterzogen werden und hierbei die besonderen Formen einer richtungsgewerkschaft-
lichen Interessenvertretung Berücksichtigung erfahren.
Es sei bereits darauf hingewiesen, daß es eine Reihe von Autoren dem Staat durchaus
zutrauen, daß er in der Lage ist, die Wirkungen seines Handeins abzuschätzen und Normie-
rungen zu veranlassen, deren Wirkung seiner Zielsetzung entsprechen. Diese Autoren
zweifeln daran, daß die offiziell genannten Zielsetzungen des Staates tatsächlich Vorrang
haben.
1" vergl. in diesem Sinne auch Sellier/Si1vestre 1986, Goetschy/Rozenb1att 1992, Freyssinet 1993, Ruysse-
ve1dt/Visser 1996.
219
6.4 Zusammenfassung
Der französische Staat hat auf die kollektiven Arbeitsbeziehungen einen erheblichen
Einfluß genommen. Er reguliert die betriebliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer durch
die rechtliche Vorgabe eines mehrgliedrigen Vertretungssystems, in dem verschiedene
Interaktionsformen Bedeutung erlangen und verschiedene Arten der Legitimation von
Interessenvertretung koexistieren. Die Gewerkschaften senden Delegierte in den Betrieb, um
gewerkschaftliche Interessenvertretung zu plazieren, vor allem aber auch um auf dieser Ebene
Kollektivverhandlungen zu führen. Daneben bestehen weitere Vertretungsorgane, in die die
Arbeitnehmervertreter von allen Beschäftigten gewählt werden.
Auf der Branchenebene haben die einzelnen Gewerkschaften als Ergebnis eines langen
immer wieder korrigierten staatlichen Interventionsprozesses die Berechtigung erhalten, für
ihre Mitglieder, die Mitglieder anderer Gewerkschaften und auch für die nichtorganisierten
Arbeitnehmer kollektive Arbeitsverträge abzuschließen. Unter bestimmten Voraussetzungen
sind sie hierzu auch für die Arbeitnehmer anderer Branchen und Tarifregionen befugt.
Ferner nimmt sich der Staat das Recht, die Kompetenz der TarifPartner dadurch einzu-
schränken, daß er staatlich garantierte Mindestlöhne vorgibt.
Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Status der Repräsentati-
vität zu. Wichtige Befugnisse haben zur Voraussetzung, daß dieser Status an eine Gewerk-
schaft vergeben wurde. Bezeichnend ist, daß der Staat einzelne Gewerkschaftsroderationen
mit dem Status der Repräsentativität ausstattet und die rechtliche Möglichkeit eröffnet, die
hiermit verbundenen Befugnisse automatisch auf die Mitgliedsverbände dieser "repräsentati-
ven" Gewerkschaftsföderationen zu übertragen.
Die Repräsentativität des föderierten Mitgliedsverbands wird gleichsam vorausgesetzt. Sie
bedarf keines besonderen Nachweises mehr. Der einmalige Nachweis der Repräsentativität
der Gewerkschaftsföderation genügt, um auch die Mitgliedsverbände ohne besonderen
Nachweis mit der Vertretungsberechtigung auszustatten. Die Anerkennung als repräsentativ
bezieht sich auf alle Befugnisse, die eine entsprechende Vertretungsfähigkeit voraussetzen.
Daneben besteht die Möglichkeit, daß Verbände, die keiner repräsentativen Gewerkschafts-
föderation angehören, den Status der Repräsentativität erwerben. Dieser Erwerb setzt voraus,
daß bestimmte Merkmale erfüllt werden. Die tatsächliche Vertretungskompetenz muß in
diesem Fall für den Bereich nachgewiesen werden, für den sie beansprucht wird.
Unter Umständen besteht die Möglichkeit, bestimmte Befugnisse der betrieblichen Interes-
senvertretung auch ohne die Mitgliedschaft in einer repräsentativen Organisation auszuüben,
ja auf Verbandsmitgliedschaft überhaupt zu verzichten. Allerdings ergeben sich solche
Befugnisse nur, wenn die Vertretung durch repräsentative Gewerkschaften nachweislich
Geltungsdefizite aufweist.
Insgesamt entsteht der Eindruck, daß mit dem Status der Repräsentativität in Frankreich
nicht primär versucht wird, exklusive Vorrechte für bestimmte Akteure zu konservieren,
sondern vielmehr den repräsentativen Gewerkschaften einen erheblichen Startvorteil zu
220
geben. Die Wirkungen, die von dem Status der Repräsentativität ausgehen, sind nicht im
engeren Sinne als schließende Wirkungen zu bezeichnen. Zwar werden gleich große Gewerk-
schaftsvertretungen unterschiedlich behandelt, je nachdem ob sie Mitglieder einer repräsenta-
tiven Gewerkschaftsföderation sind oder nicht. Allerdings besteht in gewissen Grenzen die
Möglichkeit, den Status der Repräsentativität "aus eigener Kraft" zu erwerben, auch ohne die
Mitgliedschaft in einer repräsentativen Gewerkschaftsföderation aufzunehmen.
Die mit dem Status der Repräsentativität verbundenen Vertretungsberechtigungen fallen
dadurch auf, daß sie in der kollektivistischen Tradition der französischen Gewerkschaften
stehen. Auf diese Weise führen sie zu besonderen Formen der zwischen- und innergewerk-
schaftlichen Beziehungen, die in ihrer Eigenart als rechtlich präformiert gelten können. So
werden wichtige Befugnisse zur Interessenvertretung der Arbeitnehmer an Verbände
vergeben, die ohne besonderen Nachweis ihrer tatsächlichen Vertretungsflihigkeit als einzelne
im Namen sehr vieler sprechen und handeln können. Sie brauchen sich weder der Zustim-
mung derjenigen zu versichern, die von den Handlungsergebnissen betroffen sind, noch
brauchen sie sich um eine Abstimmung mit denjenigen Verbänden zu kümmern, die ebenfalls
vertretungsberechtigt sind. Eine solche zwischengewerkschaftliche Koordination sieht der
Gesetzgeber allenfalls fiir diejenigen Verbände vor, die ex post ein Verhandlungsergebnis zu
komgieren beabsichtigen. Eine ex ante Abstimmung zwischen den vertretungsberechtigten
Verbänden ist nicht erforderlich.
Weiterhin fallt auf, daß die repräsentativen Gewerkschaftsföderationen erhebliche Unter-
stützungen vom Staat empfangen. Diese Unterstützungen erhalten sie als repräsentative
Gewerkschaften, um die Interessenvertretung der Arbeitnehmer wahrnehmen zu können.
Allerdings wird bei der Unterstützung der Gewerkschaften wiederum an ihre kollektive
Vertretungsberechtigung angeknüpft. Die Mittel dienen nicht dazu, Serviceleistungen
bereitzustellen, die eine Mitgliedschaft im Verband fiir Nichtmitglieder attraktiv erscheinen
läßt. Gewerkschaften werden nicht mit Ressourcen ausgestattet, um dem einzelnen Arbeit-
nehmer die Entscheidung fiir eine Mitgliedschaft im Verband nahezulegen, vielmehr kommen
dem kollektiven Akteur Gewerkschaft Ressourcen zu, ohne sie von einem bestimmten
Mitgliederbestand abhängig zu machen. Die Verbandsleistung, nicht der Organisationsgrad
soll verbessert werden.
Die rechtlichen Normierungen dienen also weder dazu, Interorganisationsbeziehungen
zwischen den Gewerkschaften aufzubauen noch dazu, Intraorganisationsbeziehungen
zwischen den Verbandsleitungen und den Mitgliedern herzustellen und zu fördern.
Die staatlichen Interventionen in die kollektiven Arbeitsbeziehungen fußen auf einer langen
Tradition staatlicher Superiorität. Ihrem Anspruch nach zielen die rechtlichen Interventionen
in neuerer Zeit darauf ab, kollektive Arbeitsbeziehungen neben dem politischen System zu
etablieren, also Tarifautonomie zu fördern. Von der Mehrzahl der Autoren wird bezweifelt,
daß die staatlichen Interventionen dieser Zielsetzung erfolgreich entsprochen haben. Unter-
stellt man als staatlichen Steuerungsvorsatz die Förderung von Tarifautonomie, so sind die
221
Wirkungen der staatlichen Steuerung als nicht-intendierte Handlungsfolgen einzustufen. Die
kollektiven Arbeitsbeziehungen erfahren nicht weniger sondern mehr staatliche Regelung.
Eine Reihe von Autoren gehen sogar soweit, daß sie den staatlichen Interventionen paradoxe
Wirkungen zuschreiben, weil sie nicht dazu gedient hätten, die staatliche Intervention
überflüssig zu machen, sondern vielmehr die Notwendigkeit staatlicher Intervention verstärkt
hätten.
Andere Autoren wiederum sind nicht bereit, dieser Interpretation zuzustimmen. Sie teilen
nicht die Meinung, daß es sich bei den beobachteten Handlungsfolgen um nicht-intendierte
oder sogar paradoxe Wirkungen staatlicher Zielsetzungen handele. Sie bezweifeln vielmehr
die Priorität der offiziell genannten staatlichen Zielsetzung und die Ernsthaftigkeit der
staatlichen Bemühungen, die kollektiven Arbeitsbeziehungen von der staatlichen Normierung
zu befreien.
Im folgenden sollen die Wirkungen staatlichen Handeins detailliert untersucht werden.
Hierbei soll insbesondere Berücksichtigung finden, welche Bedeutung dem Pluralismus
unterschiedlicher Richtungsgewerkschaften für die Wirkung staatlicher Steuerung zukommt.
Im Anschluß daran soll die Frage nach den Zielsetzungen staatlichen Handeins und ihren
Wirkungen auf die kollektiven Arbeitsbeziehungen noch einmal aufgenommen werden.
222
7 Kollektive Arbeitsbeziehungen im Wandel. Entwicklungen im Zeichen
staatlicher Interventionen
Im folgenden soll zunächst untersucht werden, welche Wirkungen die staatlichen Interven-
tionen in die Arbeitsbeziehungen tatsächlich hatten. Hierzu sollen die verschiedenen
Interventionsfelder differenziert betrachtet werden. Zunächst soll Aufmerksamkeit finden,
welche Veränderungen die Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerk-
schaften erfahren haben. Im Anschluß daran sollen die Veränderungen in den Mitglied-
schaftsbeziehungen und Organisationsstrukturen der Gewerkschaften Berücksichtigung
finden. Schließlich soll untersucht werden, welche Auswirkungen staatlichem Handeln für die
Beziehungen zwischen den Gewerkschaften zuzuschreiben sind.
Die Bedeutung der zwischengewerkschaftlichen Beziehungen ergibt sich - worauf noch
einzugehen sein wird - aus der Bedeutung dieser Beziehungen für die gewerkschaftliche
Durchsetzungsfähigkeit.
7.1 Tarifbeziehungen
Um die Veränderungen der Tarifbeziehungen seit Beginn der achtziger Jahre daraufhin
beurteilen zu können, ob und inwieweit sie den offiziellen Steuerungsabsichten des Staates
tatsächlich entsprochen haben, muß zunächst genauer betrachtet werden, auf welche Voraus-
setzungen diese Veränderungen trafen.
Die Beantwortung der Frage nach den Veränderungen setzt eine kurze Skizzierung der
TarifVerhandlungen in den sechzigerund siebziger Jahren, also insbesondere vor den Auroux-
Gesetzen, voraus.
In der Literatur wird zunächst übereinstimmend darauf hingewiesen, daß die Kollektivver-
handlungen bis zum Ende der 70er Jahre vor allem auf Branchenebene stattfanden (vergl.:
C'oin 1996; Dufour 1995; Jansen!Lasserre 1987). Die betriebliehen Vereinbarungen waren
von weitaus geringerer Bedeutung.
Die Kollektivverhandlungen auf sektoraler Ebene erfolgten allerdings nicht in Form von
regelmäßigen bilateralen Interaktionen, an die sich der Abschluß von Tarifverträgen zuverläs-
sig anschloß. Zumeist übernahmen die sektoralen TarifVerträge die Ergebnisse von Vereinba-
rungen, die für einzelne Großbetriebe getroffen und dort durch Arbeitskämpfe oder zumindest
durch Arbeitskampfdrohungen erzwungen worden waren.
Häutig wurde der Übernahme einzelbetrieblicher Regelungen durch die Branchenverbände
dadurch Nachdruck verliehen, daß die Verträge für allgemeinverbindlich erklärt wurden.
Die sektoralen Tarifverträge waren nicht das Ergebnis "institutionalisierter" Kollektivver-
handlungen, sondern vielmehr das Ergebnis der Erwartungen der Arbeitgeber, durch die
Übernahme bestimmter großbetrieblicher Regelungen weitere Arbeitskämpfe vermeiden zu
können (Dufour I 995).
223
Aber auch die auf diese Weise zustande gekommenen Tarifvereinbarungen hatten nur einen
begrenzten Geltungsumfang: Die Vereinbarungen auf der sektoralen Ebene kamen längst
nicht in allen Branchen zustande. Wichtige Branchen blieben ohne jegliche sektorale
Normierungen.
Bestanden in den Branchen, für die Tarifvereinbarungen erzielt werden konnten, ebenfalls
Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene, so blieben die Vereinbarungen auf den verschiede-
nen Ebenen oftmals ohne gegenseitiges strukturelles Wechselverhältnis.
Die Tarifverhandlungen auf Branchenebene und die betrieblichen Vereinbarungen standen
oftmals in keinem Bezug zueinander: Es wurden betriebliche Kollektivvereinbarungen
getroffen, ohne daß ihnen Kollektivvereinbarungen auf sektoraler Ebene vorausgegangen
waren. Häufig blieben sektorale Vereinbarungen ohne betriebliche Präzisierung oder
Nachbesserung. Die sektoralen Vereinbarungen waren "Minimalkompromisse", ohne Einfluß
auf die effektiven Löhne und Arbeitsbedingungen (Dufour 1995).
Vor diesem Hintergrund sind einige Autoren der Meinung, die Zielsetzungen, die mit den
gesetzlichen Maßnahmen zur Förderung der Tarifvereinbarungen verbunden waren, seien
tatsächlich erreicht worden.
Diese Einschätzung wird zunächst damit zu begründen versucht, daß sich die Tarifdek-
kungsrate in Frankreich erhöht hat: 90% der Arbeitsverhältnisse seien nunmehr durch
kollektivvertragliche Regelungen erfaßt (Dufour/Hege 1997: 337).
Aufgrund der statistischen Angaben wird weiterhin deutlich, daß sich die Anzahl der auf
betrieblicher Ebene erzielten kollektivvertragliehen Vereinbarungen verfünffacht hat (EIRR
1993 233: 31). Demzufolge registrierenDufour/Hege "a steady growth in enterprise bargai-
ning" (1997: 335).
Einige Autoren folgern hieraus, daß eine Normalisierung oder sogar "Institutionalisierung"
des Kollektivvertragssystems stattgefunden habe:
"Whereas in the past collective bargaining had been closely tied in with strikes
and mass mobilization, in the 1980s and 1990s it became commonplace, a normal,
regular and institutionalized social practice" (Goetschy/Rozenblatt: 1992: 436).
224
durch diese Vereinbarungen erfaßt werden: Die betrieblichen Tarifvereinbarungen betrafen
lediglich die Arbeitsverhältnisse von etwa 2,5 Millionen Arbeitnehmern. Damit ist - auch 15
Jahre nach den Auroux-Gesetzen- nur etwa jeder fünfte Beschäftigte von den Betriebsverein-
barungen betroffen (EIRR 283 1997: 21).
Weiterhin bestehen starke Ungleichgewichte in der Verteilung der betrieblichen Vereinba-
rungen zwischen verschiedenen Industriezweigen, Regionen und vor allem Betriebsgrößen
(vergl. Gazon 1995). So werden etwa in kleinen Betrieben 120 selten Betriebsvereinbarungen
getroffen. Da aber in Frankreich mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Betrieben dieser
Größenordnung beschäftigt ist, erklärt sich die geringe Betroffenheit der Beschäftigten durch
Betriebsvereinbarungen zu einem erheblichen Teil aus der geringen Regelungsdichte in
Betrieben dieser Größenordnung.
Andere Autoren weisen darauf hin, daß die geringe Verbreitung der Betriebsvereinbarun-
gen in kleineren Betrieben auf Defizite in der gewerkschaftlichen Interessenvertretung
zurückzuführen sei. So unterscheidet Antonmattei (1997) zwischen drei verschiedene Arten
von Kleinbetrieben 121 , je nach der Form ihrer gewerkschaftlichen Vertretung:
I. Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigten: In Betrieben dieser Größenordnung ist die
Bestimmung eines Gewerkschaftsdelegierten (DS), zu dessen Aufgaben die Vereinbarung
von Kollektivverträgen auf Betriebsebene zählt, gesetzlich nicht vorgesehen. Lediglich in
Betrieben mit 11 bis 50 Beschäftigten kann diese Funktion von einem Belegschaftsdele-
gierten (DP) ausgeübt werden, der von einer repräsentativen Gewerkschaft hierzu be-
stimmt wird. In Betrieben mit weniger als II Beschäftigten allerdings besteht überhaupt
keine gesetzliche Regelung über eine Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Demzufolge
besteht auch keine Möglichkeit zum Abschluß entsprechender Vereinbarungen.
2. Von den Betrieben mit mehr als 50 bis zu 99 Beschäftigten verfügen 65% über keinen
Gewerkschaftsdelegierten (DS), obwohl diese rechtlich vorgesehen sind. Damit besteht
auch nicht über die Möglichkeit des Abschlusses von Betriebsvereinbarungen, da keine
anderen Funktionsträger diese Aufgabe übernehmen können.
3. In 45% der Betriebe mit 100 bis 199 Beschäftigten sind ebenfalls keine Gewerkschafts-
delegierten vorhanden. Auch in diesen Betrieben liegen also die Voraussetzungen für den
Abschluß von betrieblichen Kollektivverträgen nicht vor (vergl. auch: EIRR 279 1997: 6).
Die gesetzliche Regelung über die periodische Führung von Kollektivverhandlungen wird
hiernach also vor allem durch die fehlende Präsenz der Gewerkschaften in den Betrieben
ausgehebelt. Der niedrigen Mitgliederzahlen der französischen Gewerkschaften führen dazu,
daß in vielen vor allem kleineren Betrieben überhaupt keine Gewerkschaftsmitglieder zu
finden sind und demzufolge auch keine Gewerkschaftsdelegierten bestimmt werden können,
120 Die Angabe bezieht sich auf Betriebe mit weniger als I 00 Beschäftigten.
121 Die Angaben beziehen sich auf Betriebe mit weniger als 200 Beschäftigten.
225
die zum Abschluß von betrieblichen Kollektivvereinbarungen berechtigt sind. Diese Verein-
barungen kommen nicht zustande: " ... as over half of French firms have no trade union
representation due to a low workforce unionisation rate of between 5% and I 0%. Therefore,
some firms have, until now, been unable to participate in bargaining" (EIRR 275 1996: 16) 122 •
Aber selbst der Abschluß von betrieblichen Kollektivverträgen ist nicht in jedem Fall
Ausdruck einer faktischen Geltung dieser Regelungsform. So weist Rehfeldt darauf hin, daß
vertragliche Vereinbarungen über Löhne und Arbeitsbedingungen auf betrieblicher Ebene
weiterhin zur Voraussetzung haben, daß Arbeitskämpfe durchgeführt oder zumindest
glaubwürdig angedroht werden können. Erst bei einer Betriebsgröße von mindestens 500
Beschäftigten sei es aber den Gewerkschaften überhaupt erst möglich, Druck auszuüben, um
bilaterale Verhandlungen im eigentlichen Sinne aufzunehmen, also einem arbeitgeberseiligen
Lohnangebot Forderungen entgegenzustellen und diese gegebenenfalls auch durchzusetzen. In
vielen Betrieben hingegen werde - mangels gewerkschaftlicher Gegenmacht - lediglich das
Unternehmerische Lohnangebot in Vertragsform festgeschrieben. Lohnverhandlungen hätten
dann " ... meist nur einen formellen Charakter, d.h. sie ändern im Ergebnis nichts gegenüber
dem ursprünglichen Angebot des Unternehmens" (Rehfeldt 1997: 89).
Einen nur formellen Charakter erhalten die Betriebsvereinbarungen auch dann, wenn die
rechtlich verbindlichen Regelungen lediglich an vorhergehende "betriebliche Übungen"
anknüpfen. Der Anstieg der Anzahl der Betriebsvereinbarungen bedeutet in diesen Fällen nur,
daß eine bereits praktizierte aber vorher nicht schriftlich fixierte Regelung "verrechtlicht"
wurde. Die Veränderung besteht in einem " ... ,juridisme' ayant remplace des accords non
ecrits" (Gazon 1995: 43).
Aus dem statistischen Nachweis einer größeren Häufigkeit von Betriebsvereinbarungen ist
also keinesfalls abzuleiten, daß sich bereits ein autonomes Verhandlungs- und Vertragssystem
institutionalisiert hat 123 .
Hinzu kommt, daß auch weiterhin Tarifstrukturen fehlen. Die Vereinbarungen auf Betrieb-
sebene erfolgen nicht innerhalb eines Regelungssystems, in das sie eine Einbindung und
Einordnung erfahren. Zwischen der betrieblichen und der sektoralen Ebene herrscht keine
klare Zuordnung oder Abgrenzung. Die Verbetrieblichung des Verhandlungssystems wird
nicht mit einer Differenzierung oder Hierarchisierung von Verhandlungsebenen, mit einer
Spezifizierung von Verhandlungsgegenständen oder mit einer Periodisierung des Verhand-
122 vergl. auch Coin: " ... Ia negotiation collective est souvent impossible faule de delegue syndical" ( 1996 : 6).
m Rehfeldt bestreitet demzufolge auch die These von der Dezentralisierung des Verhandlungssystems:
"Bezogen auf die Löhne erscheint die These der Dezentralisierung der Verhandlungen somit irrefuhrend, denn
aus der quantitativen Ausweitung von Betriebsabkommen allein kann nicht geschlossen werden, daß die
soziale Regulierung auf Branchenebene tatsächlich durch eine soziale Regulierung auf Betriebsebene ersetzt
werden kann" ( 1997: 89).
226
lungsablaufs verbunden. Die Zunahme der Anzahl der betrieblichen Verhandlungen und
Vereinbarungen läßt keine Regelungsstruktur entstehen:
227
Weiterhin führt die bestehende staatliche Regelung der Mindestlöhne (SMIC) dazu, daß die
sektoralen Vereinbarungen nur von eingeschränkter Bedeutung für die tatsächliche Lohnhöhe
sind. Die auf Branchenebene vereinbarten Tariflöhne haben nämlich nur für einen Teil der
Branchen tatsächlich die Funktion, Mindestlöhne zu präzisieren. Tatsächlich wird diese
Aufgabe weiterhin häufig von den staatlich fixierten Mindestlöhnen übernommen. Die
staatlichen Mindestlöhne liegen in einer Reihe von Branchen über den Löhnen, die auf der
sektoralen Ebene vereinbart werden. Da sie aufkeinen Fall unterboten werden dürfen, sind sie
die eigentlichen Mindestlöhne. Die sektoralen Vereinbarungen bleiben in dieser Hinsicht
ohne Bedeutung. Demgegenüber scheint die Bedeutung der staatlich vereinbarten Mindest-
löhne eher noch zuzunehmen. Dufour gibt eine Angabe aus dem Jahre 1991 wieder. Demnach
wurde in diesem Jahr" ... die Zahl der Branchen mit mehr als 10 000 Arbeitnehmern, die eine
minimale Entlohnung boten, die unterhalb des SMIC rangierte, auf 36%" (1995: 42) ge-
schätzt. Rehfeldt zufolge wurde die Tatsache," ... daß die Mehrzahl der in den Tarifverträgen
festgeschriebenen unteren Lohngruppen notorisch unterhalb des staatlichen Mindestlohns
lagen" (1997: 88) zunächst durch staatliche Aufforderungen an die kollektiven Akteure zu
korrigieren versucht. Die Branchentarife sollten an die staatlichen Mindestlöhne angepaßt
werden 124 •
Solche Anpassungen konnten nur solange zum erwünschten Ergebnis führen, wie ihnen
keine weiteren Erhöhungen der staatlichen Mindestlöhne folgten. Genau dieses aber war der
Fall:
"Ende 1992 gab es in 78% aller Branchen keine Tarifverträge mehr, die Lohn-
gruppen unterhalb des staatlichen Mindestlohns enthielten. Dieser Prozentsatz ist
jedoch bis Mitte 1996 erneut auf30% abgesunken. Dies war eine Folge der Anhe-
bung des Mindestlohns durch die Regierung Chirac-Juppe, ist aber gleichzeitig
ein Anzeichen für die Schwäche der Anpassungsmechanismen der Branche und
die weiterhin starre Haltung der Arbeitgeber in einer großen Anzahl von Bran-
chen" (Rehfeldt 1997: 89).
Die Kommentierungen der staatlichen Steuerung von Kollektivverhandlungen, die aus dem
Anstieg der Anzahl von Vereinbarungen nicht bereits den- offensichtlich voreiligen- Schluß
ziehen, es sei eine lnstitutionalisierung des Kollektivverhandlungssystems zu beobachten,
weisen statt dessen auf staatliche Steuerungsdefizite hin.
124Dufour/Hege weisen demzufolge darauf hin, daß die sektoralen Vereinbarungen häufig nur die gesetzlich
vorgeschriebene Indexbindung der Mindestlöhne nachvollziehen. Die Inhalte der Branchenvereinbarungen
folgen dann den vorher staatlich bestimmten Regelungsinbalten, ohne daß den kollektiven Akteuren eine
eigentliche Regelungsfunktion zukommt: "In this sense, negotiatiors are reduced to adapting politically
prescribed measures rather than acting as innovators in industrial relations" (1997: 337). Hieraus resultiert
ebenfalls eine abnehmende Bedeutung der Branchenebene für die Regelung der konkreten Lohnbedingungen
Dufour/Hege 1997: 337; vergl. auch die entsprechenden Hinweise bei Lozier 1990, Saglio 1991, Meurs 1996).
228
Diese Defizite ergeben sich daraus, daß es dem Staat offensichtlich nicht gelungen ist,
"autonome" Kollektivverhandlungen freizusetzen und sich selbst entbehrlich zu machen.
Trotz einer hohen "Tarifdeckungsrate" kann nicht von einer umfassenden kollektiven
Gestaltung der Arbeitsbeziehungen gesprochen werden.
Die Anzahl der Branchenvereinbarungen nimmt ab. Gleichzeitig verringert sich ihre tat-
sächliche Relevanz für die betrieblichen Arbeitsbedingungen.
Die Anzahl der Betriebsvereinbarungen nimmt zwar zu, allerdings wird die überwiegende
Anzahl der Arbeitsverhältnisse nicht durch Betriebsvereinbarungen erfaßt.
Weiterhin steht fest, daß sich die Inhalte der kollektiven Vereinbarungen aufBetriebsebene
häufig nicht aus kollektiven Verhandlungen ergeben, sondern vor allem der Vorgabe der
Arbeitgeber entsprechen. Eine Tarifstruktur fehlt. Die Bedeutung der staatlichen Mindestlöh-
nenimmt zu.
Unterstellt man, daß der Staat ein Kollektivverhandlungssystem hat etablieren wollen, dann
wurde dieser Intention bislang nicht entsprochen 125 • Der Staat bleibt in der Verantwortung für
die Regulierung der Arbeitsbeziehungen. Eine "Seibstregulierung" der kollektiven Arbeitsbe-
ziehungen unterbleibt. Die intendierten Wirkungen offizieller staatlicher Steuerungsziele
bleiben aus.
125Die gesetzliche Regelung der Wochenarbeitszeit vom 14.6.1998 bestätigt diese Aussage. Damit wurde ein
Regelungsgegenstand der tariflichen Regelungskompetenz entzogen und auf den Staat übertragen (vergl. EIRR
294 1998: 28).
229
Der Erfolg dieser rechtlichen Intervention wird allerdings ebenso bezweifelt wie der Erfolg
der gesetzlich fundierten Stabilisierung der Kollektivverhandlungen.
Insbesondere Labbe (1996) vertritt die These, daß die rechtliche Intervention zur Stabilisie-
rung der betrieblichen Interessenvertretung nicht nur wirkungslos geblieben sei, sondern
sogar dazu geführt hätten, daß sich der Einfluß der Gewerkschaften insgesamt verringert
hätte.
Das Schlüsselglied in seiner Argumentationskette ist der Einfluß der rechtlichen Interven-
tionen auf die Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in den Gewerkschaften. Die erwünschte
Befestigung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung im Betrieb blieb vor allem deshalb
aus, weil in einer Reihe von Betrieben keine Arbeitnehmer zur Verfügung standen, die
Gewerkschaftsmitglieder waren und demzufolge eine Gewerkschaftssektion hätten unterstüt-
zen oder auch nur gründen können. Demzufolge fehlte auch der Gewerkschaftsdelegierte, der
die kollektivvertragliche Funktion hätte erfüllen können.
Die Mitgliedschaftsproblematik rückte zunächst in den Vordergrund, weil sich in den
siebziger Jahren Veränderungen in der Berufs- und Qualifikationsstruktur der Arbeitnehmer
einstellten, welche die berufliche Kohäsion einzelner Arbeitnehmergruppierungen erheblich
minderten. Aus diesem Grunde lockerten sich auch die Grundlagen für die "informellen"
Bindungen zwischen Arbeitnehmern und militants, die dem syndicalisme a Ia fran~aise
zugrunde lagen.
Die rechtlichen Interventionen, welche den "informellen" Bindungen hatten folgen sollen,
haben es nicht vermocht, Bindungen zwischen den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften
herbei zu führen oder zu besfestigen, sondern haben vielmehr bestehende Bindungen weiter
erschwert. Der - insbesondere von Labbe - artikulierte Einwand lautet, daß die gesetzlichen
Regelungen eine Etablierung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung ohne Berücksichti-
gung der Mitgliedgliedschaftsproblematik angestrebt hätten. Der Versuch einer Stabilisierung
der gewerkschaftlichen Interessenvertretung sei gescheitert, weil er ohne Anreize für die
Aufuahrne oder zumindest Beibehaltung von Mitgliedschaft unternommen worden sei.
Die gesetzlichen Bestimmungen zur besseren Ausstattung der betrieblichen
Interessenvertretung mit materiellen Ressourcen bezeichnet Labbe als "institutionnalisation
du syndicalisme" (Labbe 1996: 76). Er will mit diesem Begriff darauf hinweisen, daß die
gewerkschaftliche Interessenvertretung durch explizite rechtliche Anerkennung und daran
anschließende Ressourcenausstattung unterstützt werden sollte. Allerdings kann mit dieser
Bezeichnung nicht im soziologischen Sinne auf eine tatsächliche Ausbreitung und Geltung
der gewerkschaftlichen Interessenvertretung hingewiesen werden. Gerade diese werden von
Labbe bestritten. Zur Begründung hierfür führt Labbe an, daß mit der von ihm so
bezeichneten institutionnalisation eine vorwiegend apparat- und stellenbezogene Förderung
gewerkschaftlicher Organiation verbunden war, nicht aber eine Einwirkung mit dem Zweck
der Stabilisierung der Mitgliedschaftsbeziehungen. Diese hätten sogar an Anzahl und
Bedeutung abgenommen, weil geeignete Steuerungsmaßnahmen gefehlt hätten.
230
Der Zusamenhang zwischen der institutionnalisation und der Entwicklung der
Mitgliedschaftsbeziehungen wird von Labbe folgendennaßen beschrieben:
I. Die rechtliche Befestigung der betrieblichen Interessenvertretung hat zu einem
Rollenwandel in der betrieblichen Interessenvertretung geführt. Die betrieblichen
Interessenvertreter haben oftmals die Rolle des engagierten konfliktbereiten Interessen-
vertreters einer homogenen Berufsgruppe abgelegt und sind zu quasi-berufsmäßigen
Repräsentanten auf Betriebsebene geworden: "beaucoup de militants ... ont abandonne
leur militantisme et ils se sont transformes en 'syndicalistes', en professionnels de Ia
representation" (Labbe 1996: 76).
Dieser Wandel wird dadurch begünstigt, daß die Gewerkschaftsvertreter auf
betrieblicher Ebene häufig mehrere gesetzlich vorgesehene Vertretungsaufgaben
gleichzeitig ausführen. Sie sind nicht nur Gewerkschaftsdelegierte, sondern wirken auch
in den anderen betrieblichen Vertretungsgremien mit. Dadurch verbessert sich ihre
Ressourcenausstattung. Die aus den verschiedenen Funktionen resultierenden Zeiten einer
Freistellung für betriebliche Vertretungsaufgaben kumulieren. Auf diese Weise nimmt die
soziale Distanz zwischen den Interessenvertretern und den Beschäftigten zu. Die
Interessenvertreter erscheinen als eine kleine - relativ geschlossene - Führungselite, die
ihre Ressourcen auf dem Gesetzeswege erhält und durch Wahlen oder auch nur durch
Entsendung legitimiert ist. Eine Interessenidentität, wie sie noch zwischen militant und
adherent vorausgesetzt werden konnte, erscheint infolge der unterschiedlichen Arbeits-
situationen und Gratifikationen von Gewerkschaftsdelegierten und anderen
Arbeitnehmern immer weniger wahrscheinlich.
2. Die verbesserte Ressourcenausstattung vergrößert die soziale Distanz zu den Mitgliedern
auch aus technischen Gründen. Die Mitglieder rücken in weitere Ferne: Büroausstattung
und Telefon sind Kommunikationsmittel, derer sich die Mitglieder bedienen können und
die persönliche Treffen (reunions syndicales) entbehrlich erscheinen lassen. Der regel-
mäßige persönliche Kontakt zwischen den Interessenvertretern und den Mitgliedern
entfällt. Die persönlichen Kontakte zwischen den gewerkschaftlichen Interessenvertretern
und den Mitgliedern werden auch deshalb seltener, weil die Gewerkschafts-
versammlungen infolge der rechtlichen Bestimmungen nunmehr während der Arbeitszeit
stattfinden. Die Möglichkeit zur Teilnahme an diesen Versammlungen wird damit auf die
gewählten Repräsentanten (Mandatsträger) beschränkt.
3. Im Zuge der Verrechtlichung der betrieblichen Interessenvertretung nimmt die Bedeutung
von Mitgliedschaft als grundlegende Verbandsressource ab. Die Mitglieder sind weder
unverzichtbar für die Ausstattung mit materiellen Ressourcen noch bedarf es der
ausdrücklichen Bestätigung durch Mitglieder bei der Besetzung von Positionen der
betrieblichen Interessenvertretung. In den betrieblichen Sozialwahlen sind alle
Beschäftigten wahlberechtigt. Für die Einrichtung einer betrieblichen Gewerkschafts-
vertretung genügen wenige Mitglieder. Die Anzahl der Gewerkschafts-delegierten, die in
den Betrieb entsendet werden, ist unabhängig davon, wieviele Gewerkschaftsmitglieder
231
der Betrieb hat. Sie richtet sich nach der Anzahl der Beschäftigten, nicht nach der Anzahl
der Gewerkschaftsmitglieder. Die Aufinerksamkeit der Gewerkschaften richtet sich dem-
zufolge auf die wahlberechtigten Belegschaftsangehörigen, nicht in erster Linie auf die
wahlberechtigten Gewerkschaftsmitglieder. Die gewerkschaftliche Interessenvertretung
wird zu einer Angelegenheit von Repräsentanten, welche die gesamte Belegschaft vertre-
ten: "Le syndicalisme est l"affaire des seuls representants qui considerent disposer d'un
mandat general et du droit legitime d' engager I' ensemble des salaries par leurs decisions
(puisqu'ils ont ete democratiqement elus ou regulierement designes)" (Labbe 1996: 78).
Unter diesem Gesichtspunkt rückt die Mitgliedschaft aus dem Zentrum gewerkschaft-
lichen Interesses. Die Beziehung zwischen den gewerkschaftlichen Belegschaftsvertretern
und der Belegschaft ist eine Beziehung e/us-etecteurs, wie sie üblicherweise im politi-
schen System aufgenommen wird (Labbe 1996: 78).
4. Zu dem Rechtsanspruch auf Ressourcen für die betriebliche Interessenvertretung kommen
Verbesserungen in der Ressourcenaustattung hinzu, die nicht direkt an die
Interessenvertretung auf betrieblicher Ebene anschließen, aber dennoch vorzugsweise
Vertretern repräsentativer Gewerkschaften zugute kommen. Diese Entwicklungen in der
Ressourcenausstattung der Gewerkschaften haben Auswirkungen auf die Binnenstruktu-
ren der Gewerkschaften. Sie fordern die Ausstattung der Gewerkschaften mit Verwal-
tungsstäben, also eine Bürokratisierung der Gewerkschaften, die - wie Labbe kritisch
anmerkt - Aufblähung des Apparats (Labbe 1996: 96). Diese Entwicklung veranschaulicht
Labbe am Beispiel der CGT, die in der gleichen Zeit, in der sie 2/3 ihrer Mitglieder verlor,
die Anzahl der Stellen der Gewerkschaftsbürokratie um das fünffache erhöhte. Für die
CFDT und - bedingt - für die CGT-FO ist ein ähnlicher Zusammenhang festzustellen
(Labbe 1996: 98).
5. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Labbe in seinen Untersuchungen sogar
Anhaltspunkte dafür findet, daß die Mitglieder für die Gewerkschaften nicht nur
entbehrlich erscheinen, sondern sogar als Belastung wahrgenommen werden. Da die
Gewerkschaften keine selektiven Anreize für eine Aufuahme von Mitgliedschatten in
ihrem Verband meinen bieten zu müssen, wird die Mitgliederberatung als ein lästiger
Arbeitsaufwand angesehen, dessen man sich durch sinkende Mitgliederzahlen weitgehend
entledigen kann. An der Ressourcenausstattung der betrieblichen Interessenvertreter
ändert sich hierbei nichts. Somit - so meint Labbe feststellen zu können - erscheinen
manche Funktionsträger geradezu erleichtert, wenn die Mitglieder die Organisation
verlassen und sie auf diese Weise - so die Formulierung - endlich unter sich sind: "Ces
adherents ne sont pas vraiment souhaites ... . Beaucoup de militants paraissent plutöt
soulages d'en etre debarrasses et ne semb1ent pas souffrir specialement de Ia
"desyndicalisation". Certains sont plutöt satisfait de voir leur syndicat reduit aux e!us et
mandates: enfin entre nous" (Labbe 1996: 77). Die rechtlichen Bestimmungen, mit denen
den Gewerkschaften mitgliedschaftsunabhängige Ressourcen zugeführt werden, bieten
den gewerkschaftlichen Interessenvertretern die Veranlassung dazu, sich zahlreicher
232
"lästiger" Mitglieder zu entledigen, die sie als Belastung empfinden: "Les responsables
syndicaux ont rapidement vu ... dans Ia loi de decembre 1968 ... Je moyen de se debarras-
ser d'un certain nombre d'adherents ,ininteressants' ..." (Labbe 1996: 82). Der
Mitgliederschwund wird gelassen hingenommen, weil mit der Aufhahme oder
Beendigung von Mitgliedschaft unter den Bedingungen einer rechtlicher Befestigung
keine unmittelbaren Nachteile für die Verbände und ihre Funktionsträger verbunden sind.
Im Gegenteil: Mitglieder, die meinen, einen Beratungsanspruch erheben zu können,
erhöhen die Arbeitsbelastung, ohne daß damit dem Verband oder dem Verbandsvertreter
gedient ist.
6. Die Gewerkschaften entwickeln sich im Gefolge ihrer rechtlichen Befestigung zu relativ
mitgliederunabhängigen, mit größtenteils externen Ressourcen ausgestatteten Erwerbs-
organisationen. Ihre Ressourcenausstattung geht auf Interventionen des politisch-
administrativen Systems zurück. Den Gewerkschaften scheint es demzufolge, so folgert
Labbe, wichtiger zu sein, sich auf das politisch-adminstrative System, inbesondere auf die
politischen Parteien und die Regierung auszurichten, als Mitglieder zu gewinnen und zu
behalten. Auf diese Weise wird eine Politisierung der Gewerkschaften gefördert. Die
Gewerkschaften richten sich auf die Akteure des politisch-administrativen Systems aus,
um bestandsnotwendige Ressourcen auf Dauer sicherstellen zu können. Diese Ausrich-
tung zeigt sich vor allem in einer zunehmend parteipolitischen Orientierung der Gewerk-
schaften. Sie ergreifen bei den politischen Wahlen "Partei", und zwar auch dann, wenn es
nicht um gewerkschaftspolitische Themen geht: " ... et l'habitude se prend, a Ia CGT
comme a Ia CFDT ou a Ia FEN, de Iaucer des appels pour !es elections et de s'engager,
plus ou moins ouvertement, derriere tel ou tel parti, quand ce n'etait pas !es syndicalistes
qui se presentaient aux elections politiques" (Labbe 1996: 84).
7. Von dieser offenkundigen Politisierung der Gewerkschaften gehen allerdings wiederum
Wirkungen aus, welche die bisher aufgezeigten Folgen staatlichen Handeins noch verstär-
ken. Die parteipolitische Orientierung hat nicht nur dazu geführt, daß zwischen den Ge-
werkschaften politische Kontroversen ausgetragen wurden, sondern auch dazu, daß par-
teipolitische Streitfragen in die Gewerkschaften hinein getragen wurden. Die Gewerk-
schaften erscheinen den Arbeitnehmern als zunehmend parteiorientiert. Labbe gibt hierfür
einige Beispiele: "La logiques des clans et des coteries politiques, qui prevaut maintenant
dans toutes !es confederations, a fait des degäts considerables. Cela est naturellement vrai
du PCF et de Ia CGT; Ia FEN, FO et Ia CFDT ont ete victimes des rivalites entre courants
du PS; Ia CGC et Ia CFTC, des divisions de Ia droite. Elles sont devenues Je champ clos
de luttes d'appareil obscures aux yeux des adherents et des salaries" (Labbe 1996: 84).
Die parteipolitische Orientierung ist bei den Mitgliedern und Vertretern der
Gewerkschaften mit Mißtrauen und Ablehnung betrachtet worden. Sie hat die
Mitgliederzahlen und Mitgliedschaftsbeziehungen zusätzlich nachteilig beeinflußt. Die
parteiorientierte Politisierung hat die Distanz zwischen Arbeitnehmern und
Gewerkschaften vergrößert: "Nos observations conduisent a generaliser cette conclusion:
233
!es discours politiques sont juges incongrus dans Ia bouche des syndicalistes. Les grandes
idees sont regardees avec mefiance, voire avec inquietude" (Labbe 1996: 83). Diese Di-
stanz entsteht auch deshalb, weil die Politisierung der zwischengewerkschaftlichen Ko-
operation entgegenwirkt, obwohl die Mitglieder eine solche Kooperation wünschen. Im
klassischen "konfliktorischen" Modell gewerkschaftlicher Einflußnahme sei es vor allem
von Bedeutung gewesen, daß die Gewerkschaften ihre Unabhängigkeit gegenüber dem
politischen System bewahrten und gemeinsam versuchten, gegenüber ihren Gegen-
spielern, dem Staat und den Arbeitgebern, aufzutreten. Nunmehr liegt - bei verändertem
Ressourcenaufkommen - eine eher partikulare Ausrichtung auf diejenigen Akteure nahe,
die im politischen System agieren und Ressourcen bereitzustellen in der Lage sind.
Gefragt ist eher einzelgewerkschaftliche Eigenständigkeit mit der Möglichkeit, sich auf
bestimmte politische Akteure einzustellen als eine zwischengewerkschaftliche Kooperation
mit dem Ziel einer eigenständigen originär gewerkschaftlichen Interessenvertretung. Gefragt
ist nicht gewerkschaftlicher Unabhängigkeit, sondern vielmehr die Fähigkeit, Kontakte zu
bestimmten politischen Akteuren herzustellen und sich hierbei von anderen Gewerkschaften
abzugrenzen. Die Politisierung fordert den Alleingang, weil in der Vereinzelung ein
spezifischer Zugang zu den jeweiligen Akteuren des politischen Systems gefunden werden
kann. Im klassischen gewerkschaftlichen Vertretungsmodell derfünfzigerund sechziger Jahre
waren- so Labbe (1996: 83)- die beiden großen linksorientierten Gewerkschaften CGT und
CFDT vorwiegend gemeinsam aufgetreten ("unite d'action"). Sie hatten sogar bei Sozial-
wahlen auf Betriebsebene häufig einheitliche Listen gebildet. Parteipolitisch orientierte
Diskussionen zwischen den Gewerkschaftsvertretern wurden vermieden: "De nombreux
temoignages indiquent que, jusqu'aux annees 1970, Ia plupart des militants evitaient !es
discussions de politique "partisane" dans !es reunions de section ou dans leurs relations avec
les adherents et les salaries de leurs etablissements" (Labbe 1996: 84). Diese Zurückhaltung
wurde in den siebziger Jahren aufgegeben. Befragungen von Gewerkschaftsmitgliedern
ergaben, daß die parteipolitische Orientierung und die sich hieran anschließende Zersplitte-
rung der Gewerkschaften auf Betriebsebene häufig als Grund dafür angegeben wurden, daß
die Arbeitnehmer die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften beendeten: "En effet, nos
enquetes ont fait apparaitre que environ 4 adherents sur I 0 ont quitte Je syndicat sur Ies
desaccords de fond tenant en deux mots: Ia division et Ia politisation" (Labbe 1996: 82).
Über die Entwicklung der Mitgliederzahlen und Organisationsgrade französischer Gewerk-
schaften gibt Labbe (1996, vergl. auch Bevort 1997) ebenfalls zusammenhängend Auskunft.
Seine Berichterstattung geht bis zum Jahre I 993. Sie enthält Angaben über die Gesamtzahl
der (gewerkschaftlich organisierbaren) abhängig Beschäftigten und über Veränderungen in
den Mitgliederzahlen der großen repräsentativen Gewerkschaften und der nicht repräsentati-
ven "autonomen" Gewerkschaften. Ferner wird ein gewerkschaftlicher Organisationsgrad
bestimmt (vergl. Abbildungen 5 und 6).
234
Abbildung 5: Frankreich - Mitgliederzahlen der Gewerkschaften (in Tsd.) und Organi-
sationsgrad 126
Abh.Be CGT CFTC CFDT CGT- FEN CGC Andere Mitgl Org.gr.
-schäft. FO Gew. insges. 9 Mark.
1949 ll 777 3 140 320 337 156 62 105 4 120 35,0
1950 II 882 2 720 330 316 157 63 105 3 691 31,1
1951 12 115 2 600 335 299 150 60 135 3 579 29,5
1952 12 205 2 260 350 293 173 64 135 3 275 26,8
1953 12 209 2 110 340 276 182 65 135 3 108 25,5
1954 12 390 I 950 323 268 185 70 135 2 931 23,7
1955 12 583 2 000 333 263 202 74 135 3 007 23,9
1956 12 743 2 050 366 272 208 75 135 3 106 24,4
1957 13 031 I 960 403 282 220 78 135 3 078 23,6
1958 13 178 I 390 415 279 232 76 150 2 572 19,5
1959 13 152 1420 408 290 244 80 150 2 632 20,0
1960 13 289 I 460 422 301 255 85 165 2 728 20,5
1961 13 441 I 530 433 314 267 91 165 2 830 21,1
1962 13 691 l 360 455 326 281 98 180 2 720 19,9
1963 14 120 I 490 504 332 303 106 180 2 945 20,9
1964 14 534 1490 499 339 322 115 180 2 975 20,5
1965 14 753 I 500 25 454 345 346 124 165 2 969 20,1
1966 14 995 I 390 34 470 352 368 130 165 2 939 19,6
1967 15 168 I 400 45 484 358 380 140 165 3 002 19,8
1968 15 282 l 600 53 544 365 393 152 165 3 252 21,3
1969 15 777 l 870 61 588 374 407 169 165 3 674 23,3
1970 16 225 I 830 65 605 389 428 186 165 3 708 22,9
1971 16 496 l 800 73 628 407 449 195 165 3 747 22,7
1972 16 775 I 800 80 644 413 475 205 165 3 802 22,7
1973 17 175 I 870 86 695 430 501 215 165 3 962 23,1
1974 17 460 l 820 95 702 445 510 226 165 3 963 22,7
1975 17 360 I 800 96 737 458 518 237 165 4 Oll 23,1
1976 17 579 l 640 97 750 471 526 247 180 3 911 22,2
1977 17 802 I 670 99 750 480 538 245 180 3 962 22,3
1978 17 915 I 570 100 728 482 550 244 180 3 854 21,5
1979 17 990 I 380 101 706 477 535 225 180 3 624 20,1
1980 18 057 I 320 102 672 471 520 216 180 3 481 19,3
1981 17 973 I 270 103 667 465 501 194 180 3 380 18,8
1982 18 067 I 150 III 674 464 482 191 180 3 252 18,0
1983 18 050 I 070 108 613 460 457 185 165 3 058 16,9
1984 17 911 990 107 537 445 432 176 165 2 852 15,9
1985 17 863 880 106 482 433 407 158 150 2 616 14,6
1986 17 954 760 105 446 416 390 149 150 2 406 13,4
1987 17 954 720 102 427 408 386 131 150 2 324 12,9
1988 18 038 700 99 411 397 359 119 150 2 215 12,3
1989 18 399 680 101 414 378 352 113 135 2 173 11,8
1990 18 803 640 99 428 375 344 112 135 2 143 11,4
1991 18 918 637 97 438 370 339 112 135 2 128 11,2
1992 19 250 638 93 450 371 339 112 135 2 138 11,1
1993 19 410 639 93 473 370 300 111 135 2 121 10,9
126zusammengestellt nach: Labbe 1996: 132 und Bevort 1997: 40ff. Hierbei wird unterschieden zwischen einer
Mitgliedschaft auf der Grundlage von 8 und von 9 Monatsbeiträgen pro Jahr. Der Organisationsgrad, zu
dessen Berechnung lediglich 8 vom Mitglied tatsächlich entrichtete Monatsbeiträge im Jahr verwendet
werden, ist höher als der Organisationsgrad auf der Grundlage von 9 Monatsbeiträgen. Im Interesse einer
Vergleichbarkeit der Angaben zu Frankreich mit den Angaben zu anderen Ländern soll hier der (niedrigere)
Organisationsgrad auf der Grundlage von 9 Monatsbeiträgen zugrunde gelegt werden.
235
Abbildung 6: Frankreich: Mitgliederzahlen und Organisationsgrad der
Gewerkschaften 127
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Die Entwicklung der Mitgliederzahlen zeigt, daß die CGT auch in der Zeit nach dem /Weiten
Weltkrieg lange Zeit die mit Abstand stärkste Gewerkschaft war. In den achtziger Jahre büßte
die CGT einen Teil ihres Vorsprungs ein. Der Grund hierfür ist in einem starken Mitglieder-
schwund zu sehen, von dem die CGT früher erfaßt wurde als die anderen repräsentativen
Gewerkschaften. Der enorme Mitgliederschwund der CGT setzte in der Mitte der siehziger
Jahre ein und hat sich bis zum Beginn der neunziger Jahre anscheinend unaufhaltsam
fortgesetzt. Die anderen repräsentativen Gewerkschaften verloren zwar ebenfalls einen
Großteil ihrer Mitglieder, doch konnte der alte Abstand zur CGT nicht wieder hergestellt
werden. Labbe zufolge ist die CGT aber auch im Jahre 1993 noch die mitgliederstärkste
Gewerkschaft.
236
Die CFDT und die CGT-FO sind ebenfalls noch als große repräsentative Gewerkschaften
zu bezeichnen, wenngleich auch diese beiden Gewerkschaften einen erheblichen Teil ihrer
Mitglieder verloren haben. Gleiches galt für die FEN, die nur im Erziehungsbereich Mitglie-
der rekrutiert. Auch die Gewerkschaft der cadres, die CGC, hat erheblich an Mitgliedern
verloren. Die nicht-repräsentativen Gewerkschaften (hier: autres) haben seit Beginn der
achtziger Jahre ebenfalls Mitgliederverluste zu verzeichnen, doch sind die Einbußen geringer
als bei den genannten repräsentativen Gewerkschaften. Einzig die christlichen Gewerkschaf-
ten haben den Mitgliederstand seit den siebziger Jahren in etwa halten können.
Addiert man die Mitgliederzahlen der französischen Gewerkschaften, so ist erkennbar, daß
sie in der Mitte der siebziger Jahre besonders hoch waren. Damals waren über vier Millionen
Arbeitnehmer in den Gewerkschaften organisiert. Der Nachkriegsstand wurde fast erreicht,
wobei zu beachten ist, daß sehr viel mehr Arbeitnehmer erwerbstätig waren und somit für
eine gewerkschaftliche Organisation in Frage kamen. Innerhalb der anschließenden zwei
Jahrzehnte wurde die Mitgliederzahl - trotz weiterhin steigender Beschäftigtenzahlen - fast
halbiert.
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad erreichte in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg
seinen höchsten Stand (35,0%). Mitte der fiinfziger Jahre waren immerhin noch ein Viertel
der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert. Ende der fiinfziger Jahre war es nur noch ein
Fünftel (1959:20,0%). Dieser gewerkschaftliche Organisationsgrad konnte bis zum Ende der
sechziger Jahre noch einmalleicht angehoben werden (1969: 23,3%) und fiel in der zweiten
Hälfte der siebziger Jahre leicht ab (1975: 23,1 %; 1979: 20,1 %). In den achtziger Jahren
wurde der gewerkschaftliche Organisationsgrad halbiert (1986: 15,1%; 1989: 11,8%).
Seitdem ist er weiter rückläufig 128 •
Die Ergebnisse der betrieblichen Sozialwahlen zeigen ein ähnliches Bild (vergl. Abbildung
7).
128vergl. FAZ vom 8.02.1999. Hiernach ..... dürfte die Zahl der tatsächlich organisierten Arbeitnehmer eher 1,5
bis I, 7 Millionen betragen .... In der Privatwirtschaft beträgt der gewerkschaftliche Organisationsgrad gar nur
höchstens 5 Prozent" (19).
237
Abbildung 7: Frankreich- Ergebnisse der Wahlen zu den Betriebsausschüssen (CE) 129
Bei diesen Wahlen besteht im zweiten Wahlgang die Möglichkeit einer Kandidatur von
Arbeitnehmervertretern, die keiner repräsentativen Gewerkschaft oder sogar einer außerge-
werkschaftlichen Listenverbindung angehören. Demzufolge konkurrieren auch diese
Arbeitnehmervertreter um die Zustimmung der wahlberechtigten Beschäftigten.
Aus den Wahlergebnissen zu den CE wird deutlich, daß die CGT zunächst die bei weitem
größte Zustimmung fand. Im Jahr 1966 waren nicht nur fast die Hälfte aller gewerkschaftlich
organisierten Arbeitnehmer Mitglieder der CGT, diese Gewerkschaft konnte auch mehr als
die Hälfte der Stimmen bei den Wahlen zu den CE auf sich vereinigen. Der Anteil der
Stimmen, der auf diese Gewerkschaft entfiel, ging in den folgenden Jahren und Jahrzehnten
ständig zurück. Bis zum Beginn der neunziger Jahre war der Anteil der Stimmen für die CGT
halbiert worden (1976: 41,5%; 1986: 27,1 %; 1994: 22,4%).
238
Neben der CGT konnte sich die CFDT etablieren. Sie errang seit 1966 fortlaufend etwa ein
Fünftel der Stimmen (1966: 19,1 %; 1994: 20,3%). Bei den letzten Wahlen konnte sie fast zur
CGT aufschließen. Im Jahr 1996 erreichte die CGT 22,0%, die CFDT 21,6% der abgegebenen
Stimmen.
Die CGT-FO konnte ihren Stimmenanteil von zunächst 8,0% (1966) zum Ende der siebzi-
ger Jahre auf 10% (1978) vergrößern. Sie konnte 1996 12,5% der Stimmen auf sich vereini-
gen. Damit lag sie deutlich hinter der CGT und der CFDT.
Besondere Beachtung allerdings verdient die Tatsache, daß die Kandidaten von Listen mit
gewerkschaftlich nicht organisierten Interessenvertretern ihren Stimmenanteil seit 1966 mehr
als verdoppeln konnten (1966: 12,0%; 1996: 27,0%). Seit 1990 ist es nicht eine Gewerk-
schaftsfoderation, welche den größten Stimmenanteil auf sich vereinigen kann, sondern eben
diese Gruppierungen von gewerkschaftlich nicht organisierten Interessenvertretern. In diesem
Jahr erreichte die CGT noch 24,9%, auf die Listen der Kandidaten aus den Reihen der
gewerkschaftlich nicht organisierten Arbeitnehmervertreter aber entfielen bereits 26,6%.
Das Legitimationsdefizit, das sich bereits in sinkenden Mitgliederzahlen und Organisati-
onsgraden zeigte, kommt hier darin zum Ausdruck, daß die gewerkschaftlich organisierten
Arbeitnehmervertreter erheblich an Zustimmung verloren haben. Unterscheidet man zwischen
den Stimmenanteilen von Vertretern der großen repräsentativen Gewerkschaften, die in der
Lage sind, Listen, die in ihrem Namen aufgestellt sind, Repräsentativität zu "verleihen" und
den Stimmenanteilen von Interessenvertretern, deren Vereinigungen "Repräsentativität" auf
betrieblicher Ebene aus eigener Kraft nachweisen müssen oder diesen Nachweis überhaupt
nicht zu führen in der Lage sind, ergibt sich folgendes Bild: Im Jahre 1966 entfielen auf die
Kandidaten der großen repräsentativen Konfoderationen 84,5% der Stimmen, im Jahre 1996
waren dies nur noch 66,6% der Stimmen. Demgegenüber entfielen auf andere (nicht-
repräsentative) Gewerkschaften und aufsonstige Listen im Jahre 1966 15,5%, im Jahre 1996
aber bereits 33,4%. Der Anteil dieser Verbände hatte sich also mehr als verdoppelt.
239
Ein Grund dafür, daß die offiziellen staatlichen Zielsetzungen nicht erreicht wurden, liegt
offensichtlich darin, daß die Bedeutung der Mitgliedschaft für den Bestand und für das
Handeln der Organisationen unterschätzt wurde.
Die rechtlichen Regelungen für erweiterte Befugnisse der gewerkschaftlichen Interessen-
vertretung auf Betriebsebene und für eine eigenständige tarifvertragliche Regelung der Löhne
und Arbeitsbedingungen konnten nicht umgesetzt werden, weil es den Gewerkschaften an
Mitgliedern fehlte. Wenn Betriebe keine Gewerkschaftsmitglieder mehr beschäftigen, ist auch
die Bestellung von Gewerkschaftsdelegierten nicht mehr möglich. Damit entfällt aber auch
die Möglichkeit, auf der betrieblichen Ebene Tarifverträge zu schließen, abgesehen davon,
daß bilaterale kollektive Arbeitsbeziehungen einer aktiven Unterstützung durch eine Vielzahl
von Arbeitnehmern bedürfen, die in Gewerkschaften organisiert sind.
Die erweiterten Befugnisse für eine Interessenvertretung auf Betriebsebene und für eine
eigenständige tarifvertragliche Regelung der Löhne und Arbeitsbedingungen wurden durch
einen Mitgliederschwund zunichte gemacht, den man lange meinte übersehen zu können, weil
der damit verbundene Ressourcenentzug durch staatliche Zuwendungen scheinbar kompen-
siert wurde.
Geht man davon aus, daß der Staat seine Zielsetzungen in der angegebenen Weise hat
verfolgen wollen, ist zweifellos die Nichtbeachtung der Mitgliedschaftsproblematik ein
wichtiger Grund für die Mißerfolge staatlichen Handelns. Die Befestigung der Gewerkschaf-
ten durch den Staat, ihre Ausstattung mit wichtigen Kompetenzen wurde mit rechtlichen
Mitteln angestrebt, ohne zu bedenken, daß die jeweiligen Zielsetzungen nur von und mit
Mitgliedern erreicht werden konnten. Statt dessen erfolgte eine apparatbezogene Stabilisie-
rung der Organisationen. Der Staat verzichtete nicht nur darauf, es den Gewerkschaften zu
ermöglichen, daß sie positive selektive Anreize für die Aufuahme von Mitgliedschaften
sendeten, sondern bewirkte mit seinen Maßnahmen, daß die Aufuahme von Mitgliedschalten
für die Organisation entbehrlich zu sein schien, ja sogar störend wirkte.
Der gewerkschaftliche Apparat, der an niedrige Organisationsgrade gewöhnt war, schien
sich auch auf sinkende Mitgliederzahlen einrichten zu können, ohne zugeben zu müssen, daß
auf diese Weise eine Krise entstanden war.
Der Staat schaffte Bedingungen der Bestandssicherung von Gewerkschaften, welche die
Mitgliederkrise noch verschärften. Spätestens als die Mitgliederkrise sich zu einer Vertre-
tungskrise entwickelte, also gewerkschaftliche Interessenvertretung ausblieb, weil die
betrieblichen Interessenvertreter keine Unterstützung fanden oder überhaupt fehlten, wurde
deutlich, daß die Ergebnisse staatlichen Handeins nicht seinen offiziellen Absichten entspra-
chen.
Neuere staatliche Regelungen der kollektiven Arbeitsbeziehungen lassen zunächst
vermuten, daß die staatlichen Interventionen die Resultate der Mitglieder- und
Vertretungskrise der Gewerkschaften zu korrigieren versuchten. Allerdings verzichtete der
Staat weiterhin darauf, günstige Bedingungen für eine mitgliedschaftsbezogene
240
Organisationssicherung zu schaffen. Vielmehr wurden Regelungen getroffen, mit denen die
Defizite gewerkschaftlicher Interessenvertretung vor allem dadurch ausgeglichen werden
sollten, daß die gewerkschaftliche Vertretungskompetenz auf andere Akteure übertragen
wurde.
Solche Regelungen knüpften daran an, daß auf Betriebsebene offensichtlich bereits zahlrei-
che sogenannte atypische Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
getroffen wurden. Diese Vereinbarungen kamen in den Betrieben zustande, in denen rechtlich
vorgesehene Gewerkschaftsdelegierte (OS) fehlten oder in denen der Gewerkschaftsdelegierte
sein rechtliches Verhandlungsmonopol tatsächlich nicht nutzen konnte. Die Interessenvertre-
tung der Arbeitnehmer wurde in diesen Fällen von denjenigen Akteuren übernommen, die
sich bei den betrieblichen Sozialwahlen erfolgreich waren und nicht von denjenigen, die vom
Gesetz bestimmt und von den Gewerkschaften bestellt wurden. "Die Vertragsabschlüsse
bringen das Arbeitsgesetz durcheinander, weil die vom Personal gewählten Instanzen keine
rechtliche Befugnis zum Einberufen des Kollektivs der Arbeitnehmer haben" (Dufour 1995:
61 ). Die formale Vertretungskompetenz entsprach nicht der faktischen V ertretungskompe-
tenz.
Der Gesetzgeber sah sich aus diesem Grunde mit Vorschlägen konfrontiert, die vorsahen,
der Realität der betrieblichen Verhandlungen und Vereinbarungen mit gesetzlichen Mitteln
Rechnung zu tragen. Es mehrten sich Beiträge" ... proposant d'ouvrir Ia negotiation collective
aux elus d'entreprise et Je developpement sur Je terrain d'accords extralegaux conclus hors
des organisations syndicales" (Coin 1996: 8). Die tatsächlichen Verhandlungspartner sollten
auch die legalen Vertragspartner werden können.
Der Gesetzgeber versuchte, diesen Forderungen zu entsprechen, ohne allerdings die for-
male Vertretungsberechtigung der repräsentativen Gewerkschaften ganz aufzuheben.
Er legte der gesetzlichen Regelung den Inhalt einer Kollektivvereinbarung zugrunde, die im
Jahre 1997 zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften CFDT, CFTC und
CGC 130 vereinbart wurde.
Art. 6 des Gesetzes vom 10. 10. 1996 bestimmte die Regelung von betrieblichen Kollektiv-
verhandlungen in Betrieben ohne Gewerkschaftsdelegierte. In diesen Betrieben konnten die
betrieblichen Verhandlungen nun von Arbeitnehmern gefiihrt werden, die von zumindest
einer repräsentativen Gewerkschaft hierzu beauftragt wurden. Weiterhin konnten auch die in
betrieblichen Sozialwahlen gewählten Belegschaftsvertreter Tarifverhandlungen fUhren und
Tarifverträge schließen. Die geschlossene Vereinbarung bedurfte der Zustimmung einer
110 Die Gewerkschaften CGT und FO stimmten dieser Vereinbarung nicht zu. Als weiterer Vorläufer entspre-
chender gesetzlicher Regelungen wird die Rechtsprechung des Cour de cassation von 1995 angegeben, " ...
which held that workplace agreements are valid in firms without worker or Irade union representatives,
provided that the accords were negotiated and signed by workers who had been mandated by a representative
trade union" (EIRR 294 1998: 20).
241
repräsentativen Gewerkschaft, um rechtskräftig zu werden. Diese gesetzliche Bestimmung " ...
overtums the longstanding tradition in French industrial relations that only trade unions can
conclude company-level collective agreements" (EIRR 275 1996: 16).
Die Freigabe der Vertretungskompetenz für den Abschluß von Tarifverträgen auf Betrieb-
sebene wird aber durch Selektions- und Vetobefugnisse der repräsentativen Gewerkschaften
eingeschränkt.
Die Bestimmungen des Gesetzes vom 14. 6. 1998 (Lai Aubry) setzen diese Entwicklung
fort.
In diesem Gesetz werden vertragliche Vereinbarungen über die Verkürzung der Wochenar-
beitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich vorgeschrieben. Ziel ist die Erhöhung des
Beschäftigungsstandes durch möglichst dezentrale Vereinbarungen. Betriebe mit über 20
Beschäftigten haben solche Vereinbarungen bis zum Beginn des Jahres 2000 abzuschließen,
in kleineren Betrieben ist ein Vertragsabschluß bis zum Beginn des Jahres 2002 vorgeschrie-
ben. Die Betriebe sollen durch finanzielle Anreize für eine schnelle Umsetzung der gesetzli-
chen Bestimmungen gewonnen werden.
In diesem Zusammenhang ist einmal von Bedeutung, daß der Gesetzgeber auf diese Weise
einen weiteren Regelungsgegenstand aus der tariflichen Normierung herausnimmt. Weiterhin
setzt er den Weg der Einschränkung - aber nicht Aufhebung - der exklusiven Vertretungs-
kompetenz repräsentativer Gewerkschaften fort:
"To ensure that all companies can engage in collective bargaining, the loi Aubry
introduces new regulations on trade union mandates. This is because the majority
of French companies are without trade union representation for their workforce, a
situation which would present an obstacle to bargaining. However, the new regu-
lations state that in plants or firms where there is no trade union representative,
bargaining can be undertaken by workers who have been nominated by nationally
recognised trade unions" (EIRR 294 1998: 19f.).
Diese Neuregelung der gesetzlichen Bestimmungen ist umstritten: Einige Kritiker der
Neuregelung lehnen sie mit dem Argument ab, daß mit diesen Regelungen die etablierten
Vertretungsbefugnisse der repräsentativen Gewerkschaften aufgeweicht würden. Es sei
nämlich nicht sichergestellt, daß durch die Selektionsbefugnisse und durch die Widerspruchs-
rechte auch tatsächliche eine Kontrolle durch Vertreter repräsentativer Gewerkschaften
gewährleistet sei (vergl. Senat 1996). Anderen Kritikern der gesetzlichen Bestimmungen
gehen die getroffenen Regelungen nicht weit genug. Die Zustimmungsvorbehalte der
Gewerkschaften eignen sich ihrer Meinung nach nicht dazu, eine weitere Verbreitung der
kollektiven Vereinbarungen zu fördern (vergl. Antonmattei 1997: 169).
In diesem Zusammenhang kommt es darauf an festzustellen, daß der Gesetzgeber sich - bis
zu einem gewissen Grade - auf die Vertretungskrise der Gewerkschaften eingestellt hat. Er
scheint sich damit abgefunden zu haben, daß die Gewerkschaften ihre kollektive Verhand-
lungs- und Vertretungskompetenz auf betrieblicher Ebene nur bedingt ausüben können. Er
242
nimmt den repräsentativen Gewerkschaften einen Teil ihrer Vertretungskompetenz und
verlagert sie auf die gewählten betrieblichen Repräsentanten. Diese Funktionsverlagerung
resultiert aus dem Mitgliederschwund der Gewerkschaften.
Der Gesetzgeber ist nicht bestrebt, diesen Mitgliederschwund aufzuhalten. Vielmehr liegt
es in seiner Absicht, die Verhandlungen und Vereinbarungen auf Betriebsebene auch ohne
direkte gewerkschaftliche Beteiligung zustande kommen zu lassen, ohne sie allerdings von
der gewerkschaftlichen Entscheidungskompetenz ganz abzukoppeln. Die betrieblichen
Verhandlungen und Vereinbarungen werden ein Stück weit freigegeben, weil es die fakti-
schen Abläufe gebieten. Eine Stärkung der Gewerkschaften durch organisationssichemde
Maßnahmen, die Mitgliederrekrutierung nahelegen und erleichtern, unterbleibt.
Es erscheint deshalb auch fraglich, ob auf diese Weise erreicht werden kann, daß der Staat
seine substantiellen Interventionen in die Arbeitsbeziehungen reduziert. Es ist darüber hinaus
aber auch fraglich, ob der Staat überhaupt daran interessiert ist, seine substantiellen Interven-
tionen in die Arbeitsbeziehungen zu korrigieren. Die Inhalte und Wirkungen der rechtlichen
Interventionen deuten vielmehr darauf hin, daß der Staat nicht die Zielsetzung verfolgt,
Tarifautonomie zu fördern, sondern vielmehr beabsichtigt, auf Dauer auf die Inhalte der
Arbeitsbeziehungen nachdrücklich Einfluß zu nehmen.
243
Hierbei soll der Beeinflussung der gewerkschaftlichen Interorganisationsbeziehungen durch
das politisch-administrative System besondere Beachtung geschenkt werden.
Die Untersuchung einer solchen Beeinflussung kann sich aber nicht darauf beschränken,
daß die Auswirkungen des kollektiven Arbeitsrechts auf die zwischengewerkschaftlichen
Beziehungen betrachtet werden. Es genügt auch nicht aufzuzeigen, mit welchen Ressourcen
die repräsentativen Gewerkschaften vom Staat ausgestattet werden, damit sich eine Koordi-
nation gewerkschaftlichen Handeins scheinbar erübrigt.
Die Untersuchung des staatlichen Einflusses auf zwischengewerkschaftliche Beziehungen
kann vielmehr nur dann aufschlußreich sein, wenn sie die verschiedenen Binnendifferenzie-
rungen der relevanten Akteure berücksichtigt. Dies betrifft sowohl die verschiedenen
Gewerkschaften als auch das politisch-administrative System.
Die Gewerkschaften weisen Binnenstrukturen und programmatische Orientierungen aut~
die unterschiedlich günstige Voraussetzungen für die Kooperation der Gewerkschaften
untereinander bieten.
Hierbei ist auf die besondere Komplexität der französischen Gewerkschaften zu achten.
Diese ergibt sich nicht in erster Linie durch regionale Binnendifferenzierungen, sondern
daraus, daß die französischen Gewerkschaften zwar zu Recht als Richtungsgewerkschaften
gelten, hiermit aber nicht zwangsläufig verbunden ist, daß sich die Gewerkschaften darauf
beschränken, einer einzigen ideologischen Orientierung Ausdruck zu verleihen. Manche
Gewerkschaften versuchen, einen weitergehenden Integrationsanspruch zu verwirklichen. Die
Organisationsgrenzen dieser Gewerkschaften umschließen verschiedene ideologische
Ausrichtungen, ohne daß diese Gewerkschaften den Anspruch erheben können, Einheitsge-
werkschaften zu sein.
Sofern es den Gewerkschaftsverbänden gelingt, richtungsübergreifende Organisationsgren-
zen zu ziehen und einzuhalten, stehen sie allerdings vor der Notwendigkeit, den ideologischen
Differenzierungen innerorganisatorischen Ausdruck zu geben. Hierdurch entstehen normativ
begründete Binnendifferenzierungen und Binnenstrukturen, die ihrerseits Integrationsproble-
me aufgeben.
Es gilt darauf zu achten, daß diese normativen Binnendifferenzierungen dadurch bestätigt
und befestigt werden können, daß sie mit markanten anderen organisatorischen Differenzie-
rungen zusammenfallen. So können große Berufsverbände, Industriegewerkschaften oder
Regionalverbände innerhalb einer Gewerkschaftsföderation eine besondere ideologische
Orientierung haben, die sich von der Orientierung anderer Mitgliedsgewerkschaften innerhalb
derselben Föderation unterscheidet. In diesem Fall wird der Bedeutung der besonderen
ideologischen Orientierung Nachdruck verliehen. Auf der Grundlage dieser Gegebenheiten
werden dann auch unterschiedliche zwischengewerkschaftliche Beziehungen ins Kalkül
gezogen.
Die zwischengewerkschaftlichen Beziehungen können eingesetzt werden, um bestimmte
organisationspolitische Zielsetzungen zu verwirklichen. Die Aufnahme und Fortsetzung der
244
zwischengewerkschaftlichen Beziehungen ist ebenfalls abhängig von organisationspolitischen
Vorteilskalkülen und besonderen Interessenorientierungen der Gewerkschaftsverbände. Diese
führen dazu, daß unterschiedliche Akteure innerhalb der verschiedenen Gewerkschaften
unterschiedliche Präferenzen für eine zwischengewerkschaftliche Kooperation zu entwickeln
und durchzusetzen versuchen.
Hierbei ist ebenfalls von Belang, welche Interessen diese Akteure innerhalb der jeweiligen
gewerkschaftlichen Organisation gegenüber anderen Akteuren innerhalb derselben Organisa-
tion verfolgen. Die Aufuahme, die Fortsetzung oder der Abbruch bestimmter zwischenge-
werkschaftlicher Beziehungen können als Instrumente zur innerorganisatorischen Profilierung
verwendet werden. Die Interorganisationsbeziehungen dienen dann dazu, die Intraorganisati-
onsbeziehungen im Interesse bestimmter Akteure zu gestalten. Insbesondere werden sie dazu
genutzt, die Interessen dieser Akteure an der Besetzung von Führungspositionen in Organisa-
tionen verfolgen zu können.
Unter den Vorzeichen solcher Binnendifferenzierungen und Interessenlagen gewinnt dann
auch die Einflußnahme des politisch-administrativen Systems eine besondere Bedeutung.
Es kann vermutet werden, daß der Hinweis auf eine tatsächliche oder vermeintliche Ein-
flußnahme dieses Systems in die Kalküle und Handlungen der Akteure aufgenommen wird,
die innerhalb der Gewerkschaften bestimmte Zielsetzungen verfolgen und in ihrem Sinne die
zwischenorganisatorischen Beziehungen zu beeinflussen suchen. Es kann auch vermutet
werden, daß die Akteure des politisch-administrativen Systems bei ihren Steuerungen der
kollektiven Arbeitsbeziehungen die Handlungen der betroffenen Akteure zu antizipieren
versuchen. Die Steuerungen bzw. Steuerungsversuche erfolgen also in einer Form, die auch
Handlungsabläufe zwischen den Gewerkschaften in Rechnung stellt.
Hierbei kann nicht von einem homogenen politisch-administrativen System ausgegangen
werden. Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß sich dieses System aus verschiedenen Akteuren
zusammensetzt, die in unterschiedlicher Weise auf die zwischengewerkschaftlichen Bezie-
hungen Einfluß nehmen bzw. einer solchen Einflußnahme bezichtigt werden. Ebensowenig
kann von homogenen Gewerkschaften ausgegangen werden.
Im folgenden sollen die repräsentativen Gewerkschaften deshalb zunächst daraufhin unter-
sucht werden, welche ideologischen Binnendifferenzierungen sie ausbilden und wie sich
solche Binnendifferenzierungen strukturell verfestigen. Hierbei soll auf Veränderungen im
Zeitablauf geachtet werden.
Besondere Beachtung sollen hierbei diejenigen Gewerkschaften finden, die für eine Auf-
nahme und Fortsetzung der zwischengewerkschaftlichen Beziehungen herausragende
Bedeutung haben.
Dieses sind die CGT-FO, die CFDT und die FEN. Die CGT-FO ist bevorzugter Adressat
verschiedener Kooperationswünsche. Die Bemühungen um eine Verstärkung der zwischen-
gewerkschaftlichen Kooperation gehen vor allem von der CFDT und der FEN aus.
245
In der folgenden Darstellung sollen zunächst die organisationstypischen ideologischen
Orientierungen dieser Gewerkschaftsföderationen pointiert werden.
Im Anschluß daran werden diejenigen ideologischen Differenzierungen betont, die inner-
halb der jeweiligen Föderation zum Ausgleich gebracht werden sollen.
246
Anspruch, em unabhängiges Gegengewicht (contrepoids) darzustellen, nicht aber eine
weltanschaulich ausgerichtete Gegenmacht (contrepouvoir). Sie wollte ausschließlich
gewerkschaftlichen Zielsetzungen verpflichtet sein 131 •
Allerdings durchziehen die Gewerkschaft verschiedene Strömungen (courant), die nur
teilweise mit dem beschriebenen offiziellen Selbstverständnis übereinstimmen. Es muß also
zwischen einem offiziellen Selbstverständnis der CGT-FO und anderen programmatischen
Orientierungen innerhalb der CGT -FO unterschieden werden. Das offizielle Selbstverständ-
nis entspricht der dominierenden Orientierung innerhalb der CGT -FO. Die anderen program-
matischen Orientierungen setzen andere gewerkschaftspolitische und ideologische Akzente.
Diese sind aber mit der dominierenden Orientierung kompatibel. Diese Kompatibilität ist
Ausdruck der Integrationskraft der CGT -FO. Sie resultiert eher aus einer negativen Identität
als aus von allen geteilten positiven Grundannahrnen. Es wird deutlich, was diese Gewerk-
schaft an anderen Gewerkschaften auszusetzen hat. Es fällt aber schwer, eigene positive
Identifikationsinhalte zu benennen.
Die CFDT hat seit ihrer Gründung im Jahre 1964 einen größeren Wandel erfahren als die
anderen repräsentativen Gewerkschaften. Sie entstand aus einem minoritären Flügel der
konfessionellen CFTC. Ihr Ziel war es anfangs vor allem, sich aus den kirchlichen Bindungen
zu befreien. Auf diese Weise wollte sie ihrer Orientierung und ihrem Handeln eine gesell-
schaftsverändernde Richtung geben.
Ihre programmatischen Vorstellungen beinhalteten eine fundamentale, basisorientierte
Demokratisierung von Betrieb und Gesellschaft. Angestrebt wurde eine Art Arbeiterselbst-
verwaltung auf der Grundlage der Verstaatlichung der Produktionsmittel (Jues 1995: 52).
Mit einer solchen systemkritischen gesellschaftsverändernden Orientierung begab sich die
CFDT in die Nähe der CGT - eine Affinität, die in zahlreichen gemeinsamen Aktionen und in
schriftlichen Vereinbarungen über ein gemeinsames Vorgehen (unite d'action) mit der CGT
ihren Ausdruck fand. Begünstigt wurde die Kooperation beider Organisationen durch das
Regierungsbündnis der kommunistischen und der sozialistischen Partei, das auch von der
CFDT unterstützt wurde. Ranghohe Vertreter der CFDT traten als Vertreter der sozialisti-
schen Partei (PS) in die Koalitionsregierungen ein. Die Regierungen verwirklichten wichtige
Reformvorhaben der CFDT.
" 1vergl. hierzu die Betonung gewerkschaftlicher Zielsetzungen durch Andre Bergeron, den Generalsekretär der
CGT-FO von 1963-1989. Aus seinen Ausführungen wird ebenfalls deutlich, daß die CGT-FO den Tarifvertrag
als bevorzugtes Regelungsinstrument der Arbeitsbeziehungen hervorhebt, plebiszitären basisdemokratischen
Formen der Willensbildung mißtraut und die Unabhängigkeit der Gewerkschaft hervorhebt. Ihrer Gründungs-
geschichte entsprechend betont die CGT-FO ausdrücklich den Kampf gegen die Kommunisten: "la defense du
cantrat collectif, la mefiance des foules irresponsables et facilement manipulees, 1'independance du syndicat et
le combat contre les communistes" (zitiert nach Vivier 1992: 47). Hinzuzufügen ist noch, daß sie sich
ebenfalls von Gewerkschaften abzugrenzen bemüht, die auf christliche Wertvorstellungen verpflichtet sind.
247
Spätestens seit dem Ende der siebziger Jahre gingen die CGT und die CFDT getrennte
Wege. Die CFDT nahm zunehmend Anstoß an der personellen und programmatischen
Verschränkung zwischen der CGT und der kommunistischen Partei (PC). Das Linksbündnis
aufpolitischer Ebene endete im Jahre 1977. Eine letzte (vierte) Vereinbarung zwischen den
beiden großen Gewerkschaften aus dem Jahre 1979 hatte kaum Bedeutung. Ihre unterschied-
liche und unterschiedlich intensive parteipolitische Zuordnung trennte die beiden großen
Gewerkschaften ebenso wie zunehmend divergierende programmatische Ausrichtungen.
Ferner wirkte sich die kontroverse Einschätzung der außenpolitischen Entwicklungen
(Afghanistan, Polen) nachteilig auf die Kooperationsbereitschaft der großen Gewerkschaften
aus. Die CGT konservierte ihr marxistisch-leninistisches Gesellschafts- und Gewerkschafts-
verständnis und geriet damit immer stärker in Opposition zur Regierungspolitik (Präsident
Mitterand - Kabinett Mauroy). Die CFDT sah sich durch die staatlichen Normierungen
teilweise widerlegt, weil die gewerkschaftspolitischen Zielsetzungen haushaltspolitischen
Erwägungen untergeordnet wurden (plan de rigeur), teilweise aber auch bestätigt, weil
wichtige gewerkschaftliche Reformvorhaben verwirklicht wurden (Auroux-Gesetze).
Anstelle einer gemeinsamen oppositionellen Haltung von CGT und CFDT gegenüber der
Regierung vollzog die CFDT einen programmatischen Wandel, der sie immer mehr von der
CGT entfernte. Die Bereitschaft zu diesem Wandel wurde auch durch sinkende Mitglieder-
zahlen (desyndica/isation) gefördert. Die CFDT bewegte sich politisch zur Mitte (recentrage)
und betrieb eine ausdrückliche "Vergewerkschaftlichung" (resyndicalisation) ihres Handelns.
Sie entfernte sich von ihrem bisher dominierenden systemkritischen Engagement und betonte
stärker ihre im engeren Sinne gewerkschaftlichen Funktionen. Ihr Weg zu einer "kontraktu-
ellen" Orientierung wurde durch programmatische Aussagen wie "La negociation est partie
integrante de I' action" (Edmond Maire 1979, zit. nach: Cours Salies 1988: 312) gekennzeich-
net. Die CFDT zeigte zunehmend die Bereitschaft, Tarifverhandlungen zu fiihren und
Tarifverträge abzuschließen. Sie wurde von den Arbeitgebern und den Arbeitgeberverbänden
als Verhandlungs- und Vertragspartner anerkannt. Damit entfernte sich die CFDT weiter von
der CGT und bewegte sich tatsächlich auf die FO zu, wenngleich der FO daran gelegen war,
deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gewerkschaften zu akzentuieren.
Der Weg der CFDT zur kontraktuellen "Nur-Gewerkschaft" ohne systemverändernde
Ambitionen wurde zunächst auf der Leitungsebene der Gewerkschaft beschritten und auf den
Gewerkschaftskongressen mit knappen Mehrheiten durchgesetzt. Der programmatische
Wandel stieß auf erhebliche Kritik. Die Richtigkeit der Aufgabe der unite d'action mit der
CGT wurde bezweifelt. Insbesondere gab es Bedenken, ob die Ressourcen fiir eine kontraktu-
elle Politik überhaupt ausreichen würden, wenn die CGT ihre Kampfkraft nicht zur VerfU-
gung stellen würde:
"Les critiques portent notamment sur une sur-evaluation des possibilites de nego-
ciation, ,sans rapport de force', et une evolution pen;ue comme reformiste. La mi-
248
se en cause de I· unite d 'action avec Ia CGT pose aussi des problemes et beaucoup
de syndicats insistent sur Ia necessite de luttes ensemble" (Vivier 1992: 79).
249
Innerhalb der CGT-FO lassen sich verschiedene Strömungen unterscheiden. Eine Strömung
kommt der Orientierung nahe, die oben als diejenige der CGT-FO insgesamt pointiert wurde.
Sie entwickelt ein gewerkschaftliches Selbstverständnis, das auf gewerkschaftlicher Wider-
spruchsfähigkeit, Kampfbereitschaft und Eigenständigkeit beharrt. Daneben besteht aber eine
weitere Strömung mit einer erheblich gemäßigteren, kompromißorientierten Ausrichtung.
Hinzu kommt eine trotzkistische Richtung mit systemkritischer revolutionärer Ausrichtung 132 •
Den beiden zuerst genannten Strömungen werden erheblich mehr Mitglieder der CGT-FO
zugeordnet als der trotzkistischen Strömung.
Diese Strömungen trafen aufeinander, als 1989 der Nachfolger für Andre Bergeron, den
langjährigen Generalsekretär der Gewerkschaft CGT-FO, bestimmt werden mußte.
Mit Mare Blonde! und Claude Pitous standen sich zwei Vertreter gegenüber, welche unter-
schiedliche Richtungen innerhalb der CGT-FO verkörperten. Pitous stand innerhalb der
Tradition von Bergeron und vertrat einen gemäßigten Kurs (Vivier 1992: 49). Dagegen
betonte Blonde! die Bedeutung der CGT-FO als gewerkschaftliches Gegengewicht (contre-
poids) gegenüber dem Arbeitgeber. Auch die Vorschläge fiir einen gewerkschaftlichen
Funktionswandel hin zu einer stärkeren Dienstleistungsorientierung erfuhren durch die beiden
Kandidaten eine unterschiedliche Bewertung. Während Pitous einen solchen Wandel
befiirwortete, befürchtete Blonde!, daß eine stärkere Dienstleistungsorientierung die Unab-
hängigkeit der Gewerkschaft gefährden könnte.
Pitous erhielt die Unterstützung einiger wichtiger Mitgliedsverbände, vor allem der Metall-
gewerkschaft, der Gewerkschaft des Post- und Fernmeldewesens (PTT) und des Pariser
Landesverbands der CGT-FO. Hinter Blonde! standen die Gewerkschaften des Erziehungswe-
sens, die Gewerkschaften in den Unternehmen der Sozialversicherung sowie die Gewerk-
schaftspresse (Vivier 1992: 49). Da keiner der beiden Kandidaten auf Anhieb die Mehrheit
der Stimmen auf sich vereinigen konnte, gaben die Stimmen der Trotzkisten und Anarcho-
Syndikalisten den Ausschlag: "Les voix des militants trotzkistes font la decision, face a une
majorite tres partagee" (Vivier 1992: 50). Mare Blonde! erhielt nunmehr 53,6% der Stimmen.
Mit der Wahl von Blonde! war eine Stärkung derjenigen Orientierung innerhalb der CGT-
FO verbunden, welche die FO vorrangig als eigenständiges gewerkschaftliches Gegengewicht
ausrichten wollte und sich weiteren Reformbestrebungen gegenüber ablehnend verhielt. Die
pragmatische kooperative Strömung verlor an Bedeutung für die programmatische und
gewerkschaftspolitische Ausrichtung der CGT-FO.
132Zuweilen werden den unterschiedlichen Strömungen sogar spezifische parteipolitische Affmitäten zugeord-
net. Hiernach begibt sich die gemäßigte Richtung zuweilen in der Nähe der RPR. Die kämpferische Orientie-
rung wird einer Richtung innerhalb der sozialistischen Partei zugeordnet, die sich mit dem Namen des
Premierministers Mauroy verbindet; die trotzkistische Orientierung (le courant gaucho-trotzkiste) steht in
enger Verbindung zur PCI- MPPT (vergl. etwa Valance 1990).
250
Die Ausdifferenzierung verschiedener Strömungen innerhalb der Gewerkschaft führte auch
zu Unterschieden in der Bereitschaft, Interorganisationsbeziehungen zu anderen Gewerk-
schaften aufzunehmen. Hierbei zeigte sich, daß der Vorrang der gewerkschaftlichen Unab-
hängigkeit gegenüber den Arbeitgebern und dem Staat, den die dominierende Strömung
innerhalb der CGT -FO vertrat, auch für die Beziehungen zu den anderen Gewerkschaften
richtungsweisend war.
Unterscheidet man die verschiedenen Strömungen nach ihren Affinitäten zu zwischenge-
werkschaftlichen Beziehungen, so kommt man zu folgenden Ergebnissen: Die reformorien-
tierte Strömung um Pitous befürwortete grundsätzlich solche Beziehungen zu anderen
Gewerkschaften, wenngleich sie darauf hinwies, daß solche Beziehungen vor allem den
Vorstellungen der sozialistischen Partei entgegenkamen. Ausgeschlossen wurden allerdings
Kontakte zur CGT (Huc 1992). Im Gegensatz dazu befürworteten die Vertreter der trotzkisti-
schen Orientierung grundsätzlich eine Aktionseinheit (unite d'action) mit der CGT.
Die Vertreter der Orientierung um den Generalsekretärs Blonde!, die innerhalb der CGT-
FO dominierten, standen regelmäßigen Beziehungen zu anderen Gewerkschaften grundsätz-
lich ablehnend gegenüber. Sie bestanden auf der Eigenständigkeil der CGT-FO und befür-
worteten ihre Unabhängigkeit auch gegenüber anderen Gewerkschaften.
Es wird zu zeigen sein, daß die Aufnahme und Aufrechterhaltung zwischengewerkschaftli-
cher Beziehungen mit dem Einfluß in Zusammenhang steht, welchen die verschiedenen
Strömungen innerhalb der CGT-FO nehmen können. Gleichzeitig ist aber auch der Einfluß
der verschiedenen Strömungen davon abhängig, ob und inwieweit zwischengewerkschaftliche
Beziehungen dazu beitragen, diesen gewerkschaftlichen Strömungen Bedeutung zu verleihen.
Die erheblichen Veränderungen in der programmatischen Orientierung der CFDT legen es
nahe, auf konforme und dissentierende Strömungen zu achten, mit deren Hilfe dieser Wandel
durchgesetzt oder gegebenenfalls aufgehalten wurde. Es wurde bereits darauf hingewiesen,
daß die Veränderungen bei Abstimmungen nur eine knappe Mehrheit fanden.
Die Geschichte der CFDT (vergl. Cours-Salies 1988, Branciard 1990) enthält zahlreiche
Belege dafür, daß an den Wendepunkten gewerkschaftlicher Orientierung erhebliche
innerorganisatorische Auseinandersetzungen stattfanden. Einzelne Fach- und Landesverbände
können als Schwerpunkte für dissentierende Meinungen ausfindig garnacht werden (Fachver-
band Haciutex, Regionalverband Rhöne-Alpes).
Ein Dissens artikulierte sich vor allem gegen Veränderungen, die eine recentrage und
resyndicalisation zum Ziel hatten. Der knappen Majorität läßt sich ein courant de gauehe
gegenüberstellen 133 •
131Zur Grundlage und Verbreitung solcher dissentierender Richtungen vergl. auch folgende Aussage aus dem
Bereich der Ft!deration Hacuitex: "Il y aura toujours des reforrnistes et des revolutionnaires .... Depuis le
congres de 1970, il existe un courant de gauehe dans Ia CFDT desireux de maintenir le plus possible Ia volonte
revolutionnaire de 1968. Le recours ä l"analyse marxiste, Ia conception du developpement et de l"union des
251
Es gelang der reformorientierten Leitung der CFDT allerdings, die Ausdehnung und Verfe-
stigung solcher Strömungen (courants) zu strukturell ausdifferenzierten tendances zu
vermeiden. Tendances wurden als mit der gewerkschaftlichen Organisation unvereinbar
bezeichnet. Die Organisation der Gewerkschaft ertrage zwar, so wurde betont, divergierende
courants, nicht aber verfestigte tendances. Der Ausbildung von tendances wurde mit dem
Hinweis begegnet, daß auf diese Weise unerwünschte außergewerkschaftliche, insbesondere
parteipolitische Einflüsse leichter Zugang zur Gewerkschaft finden könnten. In diesem Sinne
warnte Edmond Maire die Anhänger der trotzkistischen Strömung davor, dieser Orientierung
innerhalb der CFDT eine weitergehende strukturelle Differenzierung zu geben. Eine solche
Verfestigung in Form von tendances gefährde die gewerkschaftliche Unabhängigkeit und
Eigenständigkeit. Die Ausbildung differenzierter ideologisch orientierter Organisationsstruk-
turen innerhalb der CFDT
" ... met en cause l'autonomie du syndicat en voulant organiser des tendances cor-
respondant aux differentes options politiques ou ideologiques existant dans Je
mouvement ouvrier. Qu'il y ait dans Ia CFDT des courants d' affinites ... c' est
normal et c ·est sain. Mais, si !es courants se figeaient en tendances institutionnel-
les, s'ils devenaient des tendances de militants au lieu d'etre des regroupements
d'organisations, s'ils trouvaient leur inspiration dans une elaboration politique
exterieure ... ce serait vraiment Ia mort de notre syndicalisme dans Ia nature et son
essence" (Cours-Saliers 1988: 263f.).
forces populaires, Ia pratique des luttes elles-memes ont fait sirnultanement surgir clivages et convergences"
(Cours-Salies 1988: 288).
252
Auch als die Leitung der CFDT es in den folgenden Jahren ausdrücklich ablehnte, Bezie-
hungen zur CGT aufzunehmen, blieb diese Gewerkschaft die Wunschpartnerin der dissentie-
renden Minderheit (Haciutex 1990).
Insofern schieden sich an dieser Frage die Geister: Eine Mehrheit innerhalb der CFDT
befürwortete die Ausdehnung der Beziehungen auf andere Gewerkschaften ebenso wie die
Ablehnung von Beziehungen zur CGT. Für eine Minderheit innerhalb der CFDT blieb die
CGT bevorzugter oder zumindest gleichberechtigter Kooperationspartner.
Die Ablehnung oder Akzeptanz der CGT als Kooperationspartner wurde zum Indikator für
die Übereinstimmung mit der Gewerkschaftsleitung. Eine Absage an die CGT als Kooperati-
onspartner der CFDT bedeutete auch, daß die Vorstellungen der innergewerkschaftlichen
Minderheit Ablehnung fanden.
Die Vermeidung von Interorganisationsbeziehungen zur CGT konnte also auch als "nach
innen" gerichtet angesehen werden. Ihr Zweck bestand dann darin, die intraorganisatorische
Dominanz der Gewerkschaftsleitung zu verdeutlichen und zu verstärken.
Dieser Zusammenhang soll später noch einmal untersucht werden.
Im Unterschied zu den bisher behandelten Gewerkschaftsföderationen bestand innerhalb
der FEN eine deutliche innerorganisatorische Untergliederung in tendances.
Die Gewerkschaftsföderation bestand aus etwa 50 nationalen Einzelgewerkschaften.
Allerdings präsentierten nicht diese Einzelgewerkschaften im Namen der FEN Kandidaten
und Wahllisten für die betrieblichen Sozialwahlen. Vielmehr wurden solche Listen im Namen
der weltanschaulich-politischen Untergliederungen der FEN, im Namen der tendances,
aufgestellt.
"Le droit de tendance" (Batsch!Reberioux 1987: 38f.) beinhaltete auch die Berechtigung
zur Kandidatur für die Positionen auf der Leitungsebene der FEN und für Positionen im
politischen und wirtschaftlichen Raum außerhalb der Gewerkschaften, die mit gewerkschaft-
licher Beteiligung besetzt wurden.
Zu der ideologischen Binnendifferenzierung der FEN kamen weitere Untergliederungen
hinzu. Diese ergaben sich aus den verschiedenen Stufen des Ausbildungs- und Erziehungswe-
sens.
In diesen Untergliederungen konnten die verschiedenen ideologischen Richtungen in
unterschiedlichem Ausmaß Einfluß gewinnen.
Auf folgende Tendenzen wird im einzelnen hingewiesen:
UID ( Uniü?, Independance, Democratie). Diese sozialistische Ausrichtung dominierte
innerhalb der FEN und in der Mehrzahl der nationalen Gewerkschaften, die in der FEN
zusammengeschlossenen waren. Eine Hochburg hatte diese ideologische Orientierung in der
mitgliederstarken Lehrergewerkschaft SNI (Syndicat Nationale des Instituteurs). Die
Vertreter dieser Orientierung standen der sozialistischen Partei nahe (PS).
UA (Unite et Action). Diese Ausrichtung dominierte insbesondere innerhalb der Gewerk-
schaften der Gymnasiallehrer. Sie war kommunistisch orientiert.
253
EE (Ecole Emancipee) und FUO (Front Unique Ouvrier). Diese trotzkistisch bzw. revolu-
tionär orientierten Untergliederungen der FEN hatten lediglich einige regionale Schwerpunk-
te.
Die Auseinandersetzungen zwischen den in der FEN zusammengeschlossenen Gewerk-
schaften werden vor allem zwischen den Vertretern der sozialistischen Tendenz (UID) und
denen der kommunistischen Tendenz (UA) geführt.
254
Pommatau - ebenfalls realistisch und erfolgversprechend, wenn es die FEN sei, die versuche,
eine reconstitution de l'unite syndicale einzuleiten.
Allerdings sei, so der Generalsekretär der FEN, eine organisationsübergreifende Integration
im Jahre 1986 nicht als Ergebnis einer zentralistisch-bürokratischen Maßnahme vorstellbar,
sondern könne nur das Ergebnis einer allmählichen Wiederannäherung sein. Diese müsse auf
der Grundlage einer Übereinstimmung in konkreten Sachfragen in Angriff genommen
werden. Auf der Grundlage einer solchen Übereinstimmung könnten dann weitergehende
Vereinheitlichungen erfolgen.
Eine Notwendigkeit zur Wiederannäherung der verschiedenen Verbände ergab sich dieser
Sichtweise zufolge aus Defiziten gewerkschaftlicher Tätigkeit, die mit ihrer organisatorischen
Trennung in einem engen Zusammenhang standen. Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften
sanken ständig. Es wurde immer schwieriger, bei den betrieblichen Sozialwahlen Kandidaten
fur die Wahl der Arbeitnehmervertreter zu finden: "Les syndicats peinent il constituer leurs
listes pour !es elections professionnelles" (Mouriaux 1987: 35). Es gab immer weniger
Arbeitskonflikte auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene, obwohl diese notwendig
waren, um "geregelte" Tarifbeziehungen aufrecht zu erhalten.
Eine erfolgreiche recompositon syndicale unter der Leitung der FEN sollte nun die Res-
sourcen verschiedener Gewerkschaften zusammenfuhren und den Gewerkschaften durch ein
einheitliches Auftreten zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen. Die vorrangige Zielsetzung der
recomposition syndicale war die (Wieder-)Herstellung einer faktischen Repräsentanz der
Gewerkschaften auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene durch die Überwindung der
division syndicale.
Auf dieser Grundlage sollte dann auch die Durchsetzungsfahigkeit der Gewerkschaften
erhöht werden. Die Gewerkschaften sollten zu starken, kalkulierbaren Interaktionspartnern
von Arbeitgebern, Staat und politischen Parteien werden und auf verantwortliche Weise
Einfluß nehmen: "L'unite donne la representativite et celle-ci proeure la force gestionnaire"
(Bartsch!Reberioux 1987: 40).
Eine besondere Veranlassung fur ihre Bemühungen um eine Kooperation zwischen den
Gewerkschaften gaben der FEN aber auch Veränderungen, die die Organisation der Interes-
senvertretung der Arbeitnehmer im Erziehungswesen überhaupt und Veränderungen innerhalb
der FEN im besonderen betrafen.
Vor diesem Hintergrund lassen sich die Bemühungen um eine recomposition syndicale
auch auf besondere organisatorische Interessenlagen, insbeondere auch auf fuhrungspolitische
Zielsetzungen zurückfuhren (Mouriaux 1990: 191 ).
255
Diese Veränderungen der Organisation der Arbeitnehmer im Erziehungswesen lassen sich
folgendermaßen kennzeichnen:
Innerhalb der FEN sollten zunächst die funktionalen Vertretungsbereiche so umorganisiert
werden, daß der Einfluß der kommunistisch orientierten Tendenz UA geschmählert, der
Einfluß der reformorientierten Tendenz UID aber vergrößert wurde.
Weiterhin gab es im Erziehungswesen insgesamt Bestrebungen, einen neuen Dachverband
der Gewerkschaften des Erziehungswesen zu gründen, dem neben der FEN auch zahlreiche
bisher "autonome", d.h. keinem repräsentativen Dachverband angeschlossene Gewerkschaf-
ten angehören sollten. Eine solche organisatorische Zusammenfassung wäre geeignet
gewesen, die reformorientierte sozialistische Tendenz im Erziehungswesen zu stärken, die
kommunistische Tendenz aber in den Hintergrund treten zu lassen. Sogar eine Abspaltung der
kommunistischen Tendenz von der FEN geriet in den Bereich des Möglichen.
Für den Fall, daß beide Veränderungen, die intraorganisatorische innerhalb der FEN und
die interorganisatorische innerhalb des Erziehungswesens synchron in Angriff genommen
würden, konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet werden, daß sich die marginalisieren-
den Wirkungen für die kommunistische Tendenz einstellten.
Die Ausgrenzung der kommunistischen Tendenz innerhalb der FEN erleichterte die reform-
orientierte Reorganisation der gewerkschaftlichen Interessenvertretung im Erziehungswesen
unter Einbeziehung der autonomen Gewerkschaften. Die Reorganisation des Erziehungswe-
sens erleichterte ihrerseits die Marginalisierung der kommunistischen Tendenz. Diese
Marginalisierung erschien dann als Folge (notwendiger) Reorganisationsmaßnahmen und
geriet nicht offiziell in Widerspruch zum innergewerkschaftlichen Integrationsanspruch der
FEN.
Die Wahrscheinlichkeit, daß diese gleichgerichteten Bestrebungen zur Veränderung der
organisierten Interessenvertretung des Erziehungswesens realisiert werden konnten, sollte
durch das Gelingen der beschriebenen Aufnahme von zwischengewerkschaftlichen Koopera-
tionsbeziehungen über den Bereich des Erziehungswesens hinaus erhöht werden.
Interorganisationsbeziehungen dieser Art hatten den gewünschten Erfolg, wenn es der
Leitung der FEN gelang, die Beziehungen tatsächlich auf diejenigen Gewerkschaften zu
beschränken, welche im Einklang mit der reformorientierten Orientierung standen, Beziehun-
gen zu Gewerkschaften der kommunistischen Orientierung aber zu unterlassen.
Eine solche Selektion von Beziehungspartnern konnte aber nicht offiziell vorgenommen
werden. Dies wäre dem Integrationsanspruch der FEN nicht gerecht geworden. Die Selektion
mußte sich aus den Inhalten ergeben, deretwegen die Interorganisationsbeziehungen in
Angriff genommen und ausgebaut werden sollten.
Um solche partikularen Interorganisationsbeziehungen tatsächlich fiihren zu können,
adaptierte die FEN das Leitbild eines syndicalisme responsable. Diese Form der gewerk-
schaftlichen Orientierung zeichnete sich dadurch aus, daß sie es ihren Trägem nahelegte,
einen hohen Organisationsgrad und eine weitgehende Verhandlungs- und Kompromißbereit-
256
schaft zu zeigen: "Le syndicalisme responsable est fonde sur un taux eleve de syndicalisation
... sur une volonte permanente de negociations pour Ja recherche de compromis possibles"
(Batsch/Reberioux 1987: 40).
Die FEN knüpfte bei ihren Bemühungen um eine Verbesserung der zwischengewerkschaft-
lichen Kooperation ausdrücklich an dieses Leitbild des syndicalisme responsable an. Die FEN
stellte zunächst die faktische gewerkschaftliche Vertretungskompetenz als eine Zielsetzung
heraus, die durch eine stärkere Vereinheitlichung gewerkschaftlichen Handeins erreicht
werden könne. Diese Vertretungskompetenz wiederum sollte dann dazu beitragen, die
Verhandlungs- und Kompromißbereitschaft der Gewerkschaften zu stärken. "L'unite donne Ja
representativite [i.S. einer faktischen Vertretungskompetenz, W.P.] et celle-ci proeure Ja force
gestionnaire ... sur une volonte permanente de negociations pour Ia recherche de compromis
possibles" (Bartsch/Reberioux 1987: 40).
Nicht eine erhöhte Konflikt- und Kampfbereitschaft der Gewerkschaften wurde als Zielset-
zung der Vereinheitlichung gewerkschaftlichen Handeins herausgestellt, sondern vielmehr die
Fähigkeit der Gewerkschaften zur verantwortlichen Mitgestaltung von Wirtschaft und
Gesellschaft. Angestrebt wurde eine sogenannte "Institutionalisierung" gewerkschaftlicher
Macht: "L'unite recherchee ne vise pas Ja mobilisation sociale, mais J'institutionalisation du
,pouvoir' syndicale" (Bartsch/Reberioux 1987: 40).
Die Gewerkschaften wurden also als eineforce gestionnaire konzipiert, die als "intermediä-
re" Kraft zu wirken in der Lage sein sollte. Pommatau bestimmte die Gewerkschaften als ein
" ... veritable COrpS social intermediaire, qui, Jui, n'a pas pour objectif de faire Ia
greve, ou de faire Ja guerre au ministre, mais qui a, lui, pour objectif de proposer,
de discuter, de faire avances des solutions" (Bartsch/Reberioux 1987: 40).
Die Reaktionen der anderen Gewerkschaften auf diesen Versuch, eine recomposition
syndica/e einzuleiten und abzugrenzen, bestätigten zwar die Annalunen über die selektiven
Wirkungen des programmatischen Leitbildes, sie konnten aber nicht als Belege fiir die
erwartete (partikulare) Integrationskraft dieses Leitbildes angesehen werden.
Die kommunistische CGT interpretierte die Bemühungen um eine recomposition syndicale
auf der Grundlage der kompromißorientierten, pragmatischen Orientierung erwartungsgemäß
als einen Versuch der FEN, die CGT aus organisationspolitischen Gründen vorsätzlich
auszugrenzen. Für die CGT war die gewählte programmatische Orientierung auf keinen Fall
geeignet, einer eigentlichen umfassenden unite syndicale zu dienen.
Mit dem heuchlerischen Ruf nach Einheit sei - so die CGT - tatsächlich das Bestreben
verbunden, ausschließlich diejenigen Gewerkschaften zusamrnenzufiihren, die sich mit dem
Bestand des kapitalistischen Systems und seinen Krisenerscheinungen bereits abgefunden
hätten. Die CGT hingegen solle ausgegrenzt werden. Damit stehe dieses Vorgehen im
Einklang mit den organisatorischen Reformen im Erziehungswesens. Es diene dazu, diese
Reformen abzustützen und zu beschleunigen. Die offensichtlich intendierten Wirkungen einer
derart konturierten zwischengewerkschaftlichen Kooperation lägen im Gegensatz zu den
257
offiziellen Beteuerungen darin, die Spaltung zwischen den Gewerkschaften noch zu vertiefen:
" ... au nom de l'unite, Ia division serait aggravee" (CGT Declaratation du Bureau Confederal
1986).
Im Unterschied hierzu betonte die CFDT, daß der Erfolg von Bemühungen um eine Ver-
besserung der zwischengewerkschaftlichen Kooperation vor allem deshalb gef!ihrdet sei, weil
die CGT auf ihrem orthodoxen Gewerkschaftsverständnis bestünde. Hiernach sei das
gewerkschaftliche Handeln in jedem Fall dem Handeln der (kommunistischen) Partei
unterzuordnen. Diese gewerkschaftliche Ausrichtung verurteile Versuche, die Interorganisati-
onsbeziehungen zwischen den Gewerkschaften zu verbessern, von vomherein zum Scheitern:
"La conception leniniste du syndicalisme traduite en France par Ja Subordination de fait de Ia
CGT au PC etait et reste un obstacle insurmontable a tout processus syndical unitaire
englobant cette confederation" (Edmond Maire 1987: 42f., zit. nach: CollectifNo.2 1987: 48).
Die freien Gewerkschaften (syndicats !ihres) müßten sich deutlich von diesem überholten
leninistischen Gewerkschaftsverständnis abgrenzen und absetzen.
Es gelte zunächst, so die CFDT, die vorhandenen Gemeinsamkeiten dieser Gewerkschaften
zu unterstreichen und weiter zu entwicklen. Bislang fehle eine gemeinsame Grundlage ifonds
commun) fiir eine weitergehende Kooperation. Es sei daher auch wenig erfolgversprechend,
eine wirkliche recomposition syndicale anzustreben.
Der eigentliche Adressat der Bemühungen der FEN um eine recomposition syndicale war
die CGT-FO. Entgegen den Erwartungen der FEN widersetzte sich diese Gewerkschaft
allerdings dem Versuch einer solchen Annäherung.
Als Begründung fiir ihre Distanzierung fiihrte die CGT-FO an, daß die angestrebte recom-
position syndicale in erster Linie im (partei-)politischen Interesse liege und aus diesem
Grunde angestrebt werde. Mit der recomposition syndicale werde versucht, eine engere
Beziehung zwischen den Gewerkschaften, der sozialistischen Partei (PS) und der Regierung
zu schaffen.
Die recomposition syndicale verfolge tatsächlich erst in zweiter Linie das Ziel, eine (parti-
elle) Einheit zwischen den Gewerkschaften herzustellen. Vorrangig gehe es um die politische
Kontrolle der Gewerkschaften. Der eigentliche Urheber der Bemühungen um eine stärkere
Zusammenarbeit der Gewerkschaften sei die sozialistische Partei (PS). Die Zielsetzungen
solcher Bemühungen stünden aber im Widerspruch zum Selbstverständnis der CGT-FO und
müßten deshalb entschieden zurückgewiesen werden.
Die CGT-FO vertrat die Ansicht, daß der Versuch der sozialistischen Partei, eine recompo-
sition syndicale einzuleiten, nicht zur Integration der relevanten Gewerkschaften, sondern
vielmehr zu ihrer Spaltung fiihre.
Die Reaktion der CGT-FO auf die Bemühungen um eine recomposition syndicale erhielt
eine zusätzliche Bedeutung dadurch, daß sie mit den bestehenden intraorganisatorischen
Differenzierungen in Zusammenhang gebracht wurde. Eine Aufnahme und Verstärkung der
Kooperationsbeziehungen zwischen den Gewerkschaften könne - so die CGT-FO - dazu
258
führen, daß sich die Beziehungen zwischen den Trägem verschiedener ideologischer
Orientierungen in den großen Gewerkschaften verschlechterten.
Die Intensivierung der Interorganisationsbeziehungen gehe auf Kosten der Intraorganisati-
onsbeziehungen. Dies treffe insbesondere auf Gewerkschaften wie die CGT -FO zu, die ihre
Geschlossenheit und Integrationskraft vor allem ihren entschiedenen Bemühungen um
gewerkschaftliche Unabhängigkeit verdankten.
Aus diesen Gründen lehnte die CGT-FO die Bemühungen um eine recomposition syndicale
entschieden ab:
Die Bemühungen der FEN um eine recomposition syndicale blieben somit ohne Erfolg. Sie
scheiterten ebenso wie die Bemühungen um eine Reorganisation der gewerkschaftlichen
Interessenvertretung im Erziehungswesens und die Bemühungen, die Organisation der FEN
so umzugestalten, daß die sozialistische Tendenz an Einfluß gewann, die kommunistische
aber an Einfluß verlor. Die innerorganisatorischen Reorganisationsbestrebungen innerhalb der
FEN v.rurden aufgegeben, weil die Mitglieder der sozialistischen Tendenz UID sich nicht
einig darüber waren, ob sie sich im äußersten Fall von der kommunistischen Tendenz UA
wirklich trennen wollten oder ob sie in jedem Fall am Verbleib der kommunistischen Tendenz
innerhalb der FEN interessiert waren. Die Entscheidung wurde dadurch erschwert, daß die
UA keine aktuelle Veranlassung dazu gab, aus der FEN ausgegrenzt zu werden.
Die Bestrebungen, eine übergreifende Gewerkschaft des Erziehungswesens unter Einschluß
der "autonomen" Gewerkschaften zu gründen, trafen weder auf die Zustimmung der militants
noch auf die Zustimmung der Mitglieder der angesprochenen Verbände. Man fürchtete, die
eigene Unabhängigkeit zu verlieren (Mouriaux 1990: 192). Die drei geplanten Maßnahmen
für eine organisatorische Umgestaltung erfuhren keine wechselseitige Verstärkung. Vielmehr
konnte keines der geplanten Reformvorhaben zum Erfolg geführt werden.
Die Bemühungen um eine recomposition syndicale scheiterten vor allem deshalb, weil sie
als Ausdruck (partei-) politischer Versuche um eine Zuordnung der kooperierenden Gewerk-
schaften zur sozialistischen Partei angesehen wurden. Es wurde unterstellt, daß die sozialisti-
sche Partei Initiator dieser Bemühungen war. Eine solche Politisierung wurde als Bedrohung
der gewerkschaftlichen Unabhängigkeit angesehen.
Die Betonung der eigenen Unabhängigkeit war vor allem für die Gewerkschaften unver-
zichtbar, von denen das Postulat gewerkschaftlicher Unabhängigkeit als Ausgleich für
innerorganisatorische Differenzierungen benötigt wurde und die befürchteten, durch eine
stärkere Verbindung zu anderen Gewerkschaften interne Flügelkämpfe herauf zu beschwören.
Dies galt im besonderen für die CGT-FO.
259
7.4.3.2 Recomposition Syndicale II
Die zweite Phase der recomposition syndicale begann im Jahre 1990 damit, daß sich Jean
Kaspar, der damalige Generalsekretär der CFDT, erneut um eine Verbesserung der Beziehun-
gen zwischen den repräsentativen Gewerkschaften bemühte.
Kaspar hielt eine geplante Kooperation zwischen den Gewerkschaften für unverzichtbar,
um die Schwierigkeiten, in welche die französische Gewerkschaftsbewegung seiner Ansicht
nach geraten war, meistem zu können. Es gelte - so Kaspar - einen Gewerkschaftspluralismus
zu überwinden, der zu einer Zersplitterung geführt hatte, welche die Möglichkeiten, gewerk-
schaftliche Forderungen erfolgreich durchzusetzen und notwendige arbeits- und sozialpoliti-
sche Veränderungen zu erreichen, einschränkte. "Notre ambition doit viser il surmonter
I' emiettement et Ia faiblesse du syndicalisme franvais qui Iimite !es possibilites de faire
avancer !es revendications et !es changements sociaux necessaires" (Kaspar 1988, zit. nach:
Ders. 1994: 123).
Für Kaspar stand fest, daß die französischen Gewerkschaften bei den Beschäftigten nur
geringe Akzeptanz fanden. Die Mitgliederzahlen sanken ebenso wie die Mobilisierungsfähig-
keit Damit war die tatsächliche Repräsentativität der Gewerkschaft gefährdet. Während ein
Teil der Beschäftigten ihre Mitgliedschatten kündigten und Aufrufe zu gemeinsamen
Aktionen häufig mißachteten, entstanden gleichzeitig Gruppierungen, in denen die Koordina-
tion der Handlungen der Beschäftigten und damit die gemeinsame Interessenvertretung
offensichtlich gelang (coordinations 134 ).
Die Arbeitnehmer mißbilligten offensichtlich die division syndicale. Sie erschien ihnen als
ungeeignete Grundlage, um eine wirksame Interessenvertretung der Beschäftigten gegenüber
dem Staat und den Arbeitgebern durchzusetzen. Der Appell an die Solidarität der einzelnen
Arbeitnehmer laufe - so Kapar - solange ins Leere, wie die Gewerkschaften nicht selbst zu
einer weiteren organisatorischen Zusammenarbeit fänden:
Die Beschäftigten könnten nicht verstehen, warum die Gewerkschaften ihre Streitigkeiten
nicht beilegten und hierdurch eine wichtige Voraussetzung für eine bessere Interessenvertre-
tung schufen. Einer Gewerkschaft allein könne es nicht gelingen, sich aus den gegenwärtigen
Schwierigkeiten zu befreien. Die Gewerkschaften müßten vielmehr gemeinsam nach neuen
Wegen suchen, um zu einer Kooperation zu finden:
134 Hierunter sind Gruppierungen zu verstehen, die sich zusätzlich zu den gewerkschaftlichen Interessenver-
treungen herausgebildeten, um die Interessen der Beschäftigten zu vertreten. Anlaß für ihre Gündung ist die
Einsicht in Defizite der gewerkschaftlichen Interessenvertretung (vergl. Hassenteufel1991 und Hoyer 1995).
260
"Si !es salaries comprennent mal nos querelies et nos divisions, il est errone de
s'imaginer que Je developpement de Ia cooperation intersyndicale se refera sur !es
modeles historiques passes. I! est autant illusoire de s'imaginer qu'une organisati-
on pourra se sortir seule des difficultes ou est plonge Je syndicalisme fran~ais et
que, par ses mentes propres, elle arrivera il s'imposer. Les salaries, las de nos jeux
et de nos joutes, se detoumeront des organisations" (Kaspar 1990a: 8f.).
"Nous devons .... creer !es conditions de plus grandes convergences et saisir toutes
!es occasions pour ameliorer !es rapports intersyndicaux, pour passer d'un plura-
lisme de division il un pluralisme createur, plus cooperatif, capable d'accroitre
notre efficacite dans Je debat national mais aussi europeen" (Kaspar 1988, zit.
nach Kaspar 1994: 123).
Wohl auch im Anschluß an die Erfahrungen, die während der ersten Phase der recompositi-
on gemacht wurden, betonte Kaspar, daß es ihm zunächst darauf ankomme, ausfindig zu
machen, auf welchen Gebieten tatsächliche Gemeinsamkeiten zwischen den Gewerkschaften
bestünden.
Solche Gemeinsamkeiten zeigten sich darin, daß bereits jetzt zwischen den einzelnen
Gewerkschaften Kooperationsbeziehungen anzutreffen seien, und zwar vor allem bei den
Kollektivverhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen " ... il y a souvent convergences
entre certaines organisations sur Ia fa~on de conclure des negotiations et de produire des
resultats" (Kapar 1990, zit. nach Kaspar 1994: 124).
Allerdings entbehrte diese Kooperation einer stabilen strategischen Grundlage. Sie war
häufig lediglich spontan und fall bezogen: "C' est Je coup par coup qui domine largement dans
ce domaine" (Goux/Le Corre 1990: 45).
Die vorhandenen Regelmäßigkeilen in den zwischengewerkschaftlichen Beziehungen
ergaben sich vor allem dadurch, daß einzelne Gewerkschaften bestimmte andere Gewerk-
schaften als Kooperationspartner favorisierten.
Einer von der CFDT in Auftrag gegebenen Umfrage zufolge war die CGT- FO der am
häufigsten genannte Kooperationspartner der CFDT. Aber auch die anderen Gewerkschaften,
die laut Kaspar für eine recomposition syndicale gewonnen werden sollten, unterhielten
bereits Beziehungen zur CFDT. Dieselben Gewerkschaften wurden auch genannt, als danach
gefragt wurde, welche Kooperationspartner die CFDT in der Zukunft bevorzugen sollte. "En
conclusion, FO, mais aussi Ia CGC et Ia CFTC sont devenues nos partenaires habituels. Ces
261
organisations sont auss1 JUgees les plus credibles dans la perspectives des convergences
futures" (Goux/Le Corre 1990: 45).
Gewerkschaftliche Kooperationsbeziehungen waren also - als Kapar ihre Aufnahme und
Verstärkung forderte- nicht grundsätzlich neu. Sie waren aber zu selten, zu wenig vorherseh-
bar und entbehrten jeder stabilen Grundlage. In der Öffentlichkeit galten die Gewerkschaften
deshalb als zersplittert und zerstritten. Demzufolge wurden Effektivitätsdefizite der Interes-
senvertretung auf Kooperationsdefizite zwischen den Gewerkschaften zurückgeführt.
Gegenüber Bezeichnungen wie reconstruction, recomposition syndicale oder restructurati-
on machte Kaspar Vorbehalte geltend, weil sie die falsche Vorstellung weckten, daß es darum
ginge, eine übergreifende Konföderation der repräsentativen Gewerkschaften zu schaffen.
Statt dessen sollte - seiner Meinung nach - die Eigenart und die Eigenständigkeit der
einzelnen Gewerkschaften durch den Erfolg der Kooperationsbemühungen nicht beeinträch-
tigt werden: " ... nous recherehans des terrains sur lesquels 1' accord peut se realiser car nous
ne demandons a personne de renoncer aux valeurs et aux conceptions qui sont !es siennes"
(Kaspar 1990b).
Kapar war zunächst, wie er in seinen autobiographischen Ausführungen betont, darum
bemüht, Maßnahmen zu ergreifen, welche die zwischengewerkschaftlichen Beziehungen aus
ihrer Lethargie herausführen in der Lage waren 135 •
Das Kooperationsangebot 136 , das Kaspar in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der CFDT
unterbeitete, richtete sich zunächst an die anderen repräsentativen Gewerkschaften, nicht aber
an die CGT. Allerdings sollten die "autonomen", d.h. nicht-repräsentativen Gewerkschaften
von einer Kooperation mit den repräsentativen Gewerkschaften nicht ausgeschlossen werden:
" ... Je Bureau national de la CFDT propose a FO, la FEN, la CFTC, la CGC, sans exclure des
organisations autonomes, un effort accru de cooperation ... " (Kaspar !990c).
Kaspar unterbreitete zunächst zwei Vorschläge, um die vorhandenen Kooperationsbezie-
hungen auszubauen (vergl. Kaspar 1994: 125). Zunächst sollte das französische Gewerk-
schaftswesen eine Aufwertung durch einen aus öffentlichen Mitteln bestrittenen Werbefeld-
zug erfalrren, der auf die Notwendigkeit und die Bedeutung des Gewerkschaftswesens
hinweisen sollte 137 • Zur Begründung hierfür machte Kaspar geltend, daß eine Steigerung des
gewerkschaftlichen Organisationsgrades im Interesse eines jeden demokratischen Staatswe-
sens liege:
135
des actes qui nous permettront de sortir de Ia glaciation des rapports intersyndicaux" (Kaspar 1990 zit.
nach: Kaspar 1994: 124).
136 Kaspar spricht von einer "cooperation positive" ( 1990c ).
une grande campagne de conununication sur Ia necessite et l"importance du syndicalisme dans une societe
ll' " ...
democratique" (Kaspar 1994: 125).
262
"Le faible taux de syndicalisation handicape Ia capacite de mobilisation du syndi-
calisme et son aptitude il etre reellement representatif de Ia realite salariale .... Une
campagne de communication sur l'utilite et Ia necessite du syndicalisme se justifie
pleinement comme contribution ill'indispensable effort d'approfondissement de
Ia democratie" (Kaspar 1994: 125).
Diese Unterstützung sollte sich auf die Gewerkschaften allgemein beziehen. Sie sollte nicht
darauf abzielen, einer einzelnen Gewerkschaft einen Vorteil vor anderen Gewerkschaften zu
verschaffen.
Im Interesse einer besseren DurchsetZlingsfähigkeit französischer Interessen auf europäi-
scher Ebene sollte weiterhin ein Komitee zur Koordination der Aktivitäten der französischen
Gewerkschaften eingerichtet werden. Die Einrichtung eines solchen Komitees lag nahe, weil
die CFDT, die FO und die CFTC bereits Mitglieder in der Confederation Europeenne des
Syndicats (CES) waren und die beiden anderen Gewerkschaften, die für eine recomposition
syndicale gewonnen werden sollten, ähnliche Ansichten zur Problematik der Interessenver-
tretung auf europäischer Ebene vertraten wie die genannten Mitglieder (vergl. Kaspar 1994:
126 ). Ein solches Komitee könne dann seine Tätigkeit auch auf den Aufbau eines unabhängi-
gen Gewerkschaftswesens (syndicalisme independant) in Osteuropa ausdehnen und durch
diese Tätigkeit ein gemeinsames Arbeitsfeld für die kooperierenden Gewerkschaften schaffen,
das wiederum der Zusammenarbeit insgesamt dienen könne.
Als Veranlassung für seine Bemühungen um die recomposition syndicale wurden Kaspar
zunächst organisationspolitische Beweggründe· zugeschrieben. Ihm wurde insbesondere
unterstellt, die mit der recomposition verbundenen Zielsetzungen innerorganisatorisch zur
Geltung bringen zu wollen und die Absicht zu verfolgen, mit der Unterstützung für seine
Vorschläge sowie mit eventuellen Erfolgen die eigene Stellung innerhalb der CFDT festigen
zu wollen.
Generalsekretär Edmond Maire, der Vorgänger von Kaspar, hatte den entscheidenden
Wandel eingeleitet, der die CFDT aus der Aktionseinheit mit der CGT führte und ihr primär
Verhandlungsfunktionen zuwies. Diesem Wandel lag die Ablehnung eines leninistischen
Gewerkschaftsverständnisses zugrunde, wie es der CGT zugeschrieben wurde: "La concepti-
on leniniste du syndicalisme traduite en France par Ia subordination de fait de Ia CGT au PC
etait et reste un obstacle insurmontable il tout processus syndical unitaire englobant cette
confederation" (Edmond Maire 1987, zit. nach: Collectif 1987: 48). Kaspar sah sich einem
anhaltenden innerorganisatorischen Widerstand gegenüber, dem es erfolgreich zu begegnen
galt. Kaspar "... se trouve en grande partie debarrasse des Oppositions internes et de
I' activisme trotskiste, denonce avant son depart par Edmond Maire comme exterieur il
I' action syndicale" (Vivier 1992: 80). Er sah sich einer- wie es selbst formulierte- "strategie
de destabilisation" (Kaspar 1994: 183) ausgesetzt, die seine Führungseigenschaften in Zweifel
zog. Kaspar stand unter "Erfolgszwang". Erfolgreiche zwischengewerkschaftliche Beziehun-
gen, die seiner programmatischen Konzeption entsprachen, bedeuteten demzufolge auch eine
263
Zurückweisung der innergewerkschaftlichen Opposition und eine Zurechtweisung innerorga-
nisatorischer Konkurrenten, die Zweifel an den Führungsqualitäten des Generalsekretärs
äußerten.
Kaspar resümmierte in seinen Erinnerungen (1994: 123), daß er die reconstruction du
syndicalisme in den Mittelpunkt seiner Bemühungen als Generalsekretär der CFDT gestellt
habe.
Von den Kommentatoren der zweiten Phase der recomposition wurden allerdings vor allem
politische Interessen und Funktionen an der Intensivierung bestimmter zwischengewerk-
schaftlicher Beziehungen hervorgehoben. "La recomposition syndicale provient aussi d'une
visee politique" (Mouriaux 1990: 190). Politische Interessen an einer recomposition
bestanden, Mouriaux zufolge, wiederum vor allem bei der sozialistischen Partei (PS). Diese
bemühte sich um einen gewerkschaftlichen Brückenkopf, um ihr Wählerreservoir auf Dauer
ausschöpfen und einer Vorstellung von sozialdemokratischer Ausrichtung Ausdruck und
Kontinuität verleihen zu können: " ... Je PS manquait d'un appui syndical solide et, pour
assurer une sorte de social-democratie en France, il fallait Je doter d'un relais dans Je monde
de travail" (Mouriaux 1990: 191) 138 •
Aus diesem Grunde wurde es als unbedingt notwendig angesehen, die Maßnahmen derjeni-
gen Gewerkschaften zu koordinieren, die der sozialistischen Partei nahestanden. Zu diesem
Zweck sollte ein Prozeß in Gang gebracht werden, der für eine Vereinheitlichung der
Handlungen dieser Gewerkschaften sorgte. Als eine notwendige Voraussetzung dafür, daß
eine stärkere Bindung zwischen der Gewerkschaft und der sozialistischen Partei in die Wege
geleitet werden könne, wurde genannt, daß die Gewerkschaften ihre Zersplitterung und
Zerstrittenheit überwinden müßten.
Nur erfolgreich kooperierende Gewerkschaften seien in der Lage, ihrerseits erfolgreich mit
den politischen Parteien zu kooperieren " ... des syndicats trop divises et affaiblis ne peuvent
repondre it uneteile attente, une part du PS ne peut s'empecher d'intervenir en faveur d'une
recomposition syndicale" (Jean-Paul Jacquier 1989, zit. nach: Mouriaux 1990: 191).
Wie in der ersten Phase der recomposition lag auch den Bemühungen um die Verbesserung
der zwischengewerkschaftlichen Beziehungen in der zweiten Phase ein Leitbild zugrunde, das
einer bestimmten programmatischen Orientierung der· Gewerkschaften Ausdruck verlieh.
Demzufolge können einem solchen Leitbild einerseits integrierende und andererseits
ausgrenzende Wirkungen zugeschrieben werden.
138vergl. auch Cours-Salies: "Les plus "politiques" des syndicalistes reformistes anticipent sur I' evolution du
systeme politique en France: une alternance droite/gauche il Ia maniere britannique ou allemande appelle Ia
constitution d'un syndicalisme de type social-democrate ,,majoritaire". A ce titre, le parti socialiste est tres
concerne par le projet de recomposition syndicale ... plusieurs representants de ces courants se sont exprimes.
Parmi !es plus chauds partisans du projet, figurent !es amis de Pierre Mauroy, et une !arge partie des mitteran-
distes, dont Laurant Fabius et Andre Laignel (1987:43).
264
Allerdings besteht zwischen der ersten und der zweiten Phase der recomposition insofern
ein Unterschied, als in der ersten Phase offiziell der Anspruch bestand, alle repräsentativen
Gewerkschaften zusammenzubringen. Die Selektion der tatsächlich erwünschten Kooperati-
onspartner erfolgte dadurch, daß das kooperative Leitbild die Interorganisationsbeziehungen
zur CGT faktisch ausschloß. In der zweiten Phase der recomposition brauchte die Selektion
der erwünschten Kooperationspartner nicht erst durch ein bestimmtes Leitbild vorgenommen
zu werden, die selektive Wirkung resultierte bereits daraus, daß das Kooperationsgesuch der
CFDT gar nicht erst an die CGT gerichtet wurde.
Das Leitbild fiir die gewerkschaftliche Kooperation in der zweiten Phase unterstrich ledig-
lich die von vomherein erfolgte Ausgrenzung der CGT aus der Reihe der erwünschten
Kooperationspartner.
Das Leitbild, das zur Integration verschiedener Gewerkschaften benutzt werden sollte,
wurde von Kaspar dadurch konfiguriert, daß er angab, einen pole syndica/ democratique 139
herstellen zu wollen. Die gewerkschaftspolitische Orientierung, die diesem Leitbild maßgeb-
lich zugrunde lag, war- in gleicher Weise wie bei dem ersten Leitbild- gekennzeichnet durch
die Verhandlungsbereitschaft und Reformorientierung der kooperierenden Gewerkschaften.
Zur Begründung dafür, daß dieser Orientierung der Vorzug gegeben wurde, wurde ihre
Wirksamkeit angegeben: "Un syndicalisme qui fonde sa strategie sur Ia negociation, Ia
recherche de solutions et qui s'engage dans Ia voie reformiste parce que c'est Ia voie de
I· efficacite et Je seul moyen de gerer Ia complexite" (Kaspar 1990d).
Die Gräben gegenüber der CGT wurden nicht nur dadurch gezogen, daß an sie keine
Aufforderung zur Kooperation erging, sondern auch dadurch, daß fiir die projektierte
Zusammenarbeit ein reformorientiertes Leitbild gewählt wurde, das im Widerspruch zur
programmatischen Orientierung der CGT stand. Darüberhinaus wurde der CGT in einem
Beitrag, der in einer Verbandszeitschrift der CFDT erschien, von zwei Gewerkschaftssekretä-
ren zum Vorwurf gemacht, sie unterhalte eine enge Bindung zur kommunistischen Partei und
eigne sich nicht fiir gemeinsame Tarifverträge. Die CGT widersetze sich grundsätzlich
Verhandlungslösungen und versuche sogar, bereits geschlossene Verträge zu torpedieren.
Selbst wenn es, so fiigten die Autoren in ihrem Beitrag aus dem Jahre 1990 hinzu, die
Entwicklung in Osteuropa nicht ausschließe, daß auch die CGT sich ändere, dürfe der Erfolg
der Bemühungen um eine zwischengewerkschaftliche Kooperation nicht von einem eventu-
ellen Wandel der CGT abhängig gemacht werden. Zum damaligen Zeitpunktjedenfalls schien
sich - nach Meinung der Mitarbeiter der CFDT - die Kluft zwischen der CGT und den
anderen Gewerkschaften eher noch zu verstärken:
119Auch die Formulierung syndicalisme democratique wird wiederholt verwendet (vergl. etwa: Kaspar 1990c).
Ebenso findet sich die Kennzeichnung syndicalisme resolument reformateur (Kaspar 1991 ).
265
"Force est de constater que le fosse entre Ia CGT et nous-memes, entre Ia CGT et
!es autres, continue de se creuser. Rapport de dependance du syndicat au Parti
communiste, developpement de i'action pour l'action au profit d'une logique po-
litique, refus de Ia negociation, surenchere dans Ia revendication, vision reductrice
des libertes sont autant de caracteristiques qui fondent nos desaccords avec Ia
CGT" (Goux /Le Corre 1990: 40).
Kaspar fügte in seiner Autobiographie noch hinzu, daß sich die CGT deshalb nicht zu einer
Kooperation eigne, weil sie eine Sonderstellung unter den Gewerkschaften beanspruche. Sie
halte sich für die grundsätzlich überlegene, einzig echte Gewerkschaft Frankreichs. In ihren
Außenorientierungen und internen Strukturen sei sie allerdings erstarrt.
Demzufolge sei er - so fügte Kaspar hinzu - zu der Überzeugung gekommen, daß es für die
Gewerkschaftsbewegung unverzichtbar sei, den Arbeitnehmern eine gewerkschaftliche
Orientierung zu bieten, die sich als Alternative zur CGT eigne: ". .. Ia CGT m'est toujours
apparue comme une organisation arrogante, sectaire, totalitaire et figee ... je suis parvenu il Ia
conclusion qu'il etait essentiel pour le syndicalisme de construire unpöle alternatif il celui de
Ia CGT" (Kaspar 1994: 122).
Die Gründe für die Bemühungen um eine Kooperation zwischen der CFDT und den ande-
ren reformorientierten Gewerkschaften und die Erfolgsaussichten dieser Bemühungen wurden
von der CFDT für die verschiedenen Gewerkschaften spezifiziert.
Der wichtigste Partner der CFDT für einen Ausbau der Beziehungen zwischen den Ge-
werkschaften war die CGT-FO. Einer Kooperation dieser beiden Gewerkschaften maß die
CFDT eine besondere Bedeutung zu, weil die CGT-FO in ihrer programmatischen Orientie-
rung dem offiziellen Leitbild, das der gewerkschaftlichen Integration zugrunde liegen sollte,
sehr nahe kam (vergl. Kaspar 1994: 128). Auch die CGT-FO lege - so die Darstellung der
CFDT - Wert auf eine prinzipielle Unabhängigkeit der Gewerkschaften von den politischen
Parteien und bevorzuge eine reformorientierte, auf Verhandlungen und Vertragsabschlüsse
bezogene kontraktuelle Orientierung 140 .
Die Grenzen für eine Akzeptanz der Bemühungen der CFDT um eine Verbesserung der
Kooperation zur CGT-FO resultierten nach Meinung der CFDT daraus, daß die CFDT immer
noch in eine programmatische Nähe zur konfessionell orientierten CFTC gebracht wurde,
obwohl sie gegründet worden war, um der kirchlichen Bevormundung zu entkommen. Eine
offizielle Zusammenarbeit der CGT-FO mit der CFDT widersprach- so dieser Meinung nach
die Ansicht vieler militants der CGT-FO -dem klassischen anticlericalisme dieser Gewerk-
schaft. Die Zusammenarbeit mit der CFDT stand im Gegensatz zu einer ". .. conception ... tres
laieiste de Ia lai:cite ... ",wie sie der CGT-FO zugeordnet wurde (Goux /Le Corre 1990: 41 ).
140independance syndica/e bzw. politique contractuelle (vergl. Goux/Le Corre 1990: 41 ). Beide Organisationen
- die CFDT und die FO - " ... affichent Ia meme volonte de voir se developper le <<contrat >> ou Ia politique
contractuelle, concretisant ainsi une demarche resolument reformiste ... "(Kaspar 1994: 128).
266
Weiter wurde auf Grenzen für einen Erfolg der Kooperationsbemühungen der CFDT
hingewiesen, die - so die Einschätzung der CFDT - aus internen Kalkülen der CGT-FO
resultierten (Goux /Le Corre 1990: 42).
Der Zusammenhang zwischen innerorganisatorischen Entwicklungen in der CGT-FO und
ihrer Kooperationsbereitschaft mit anderen Gewerkschaften wird in dieser Untersuchung noch
behandelt werden.
Auch zwischen der CFDT und der FEN bestanden zu dem Zeitpunkt, zu dem. sich der
Vorsitzende der CFDT um eine Verbesserung der zwischengewerkschaftlichen Beziehungen
bemühte, erhebliche Übereinstimmungen. Sie resultieren vor allem daraus, daß die konzep-
tionellen Grundsätze übereinstimmen. Die von der FEN herausgestellten Leitbilder für die
eigene Orientierung, also eines syndicalisme de proposition sowie eines syndicalisme libre et
independant, entsprachen den offiziellen Orientierungen der CFDT ebenso wie der program-
matischen Konzeption, die denjenigen Gewerkschaften zugeordnet wurde, mit denen die
CFDT kooperieren wollte (vergl. Goux /Le Corre 1990: 42).
Die Beziehungen der CFDT zur CFTC erschienen ebenfalls wenig problematisch, auch
wenn die Gründung der CFDT als Abspaltung von der CFTC erfolgt war. Nach Ansicht der
CFDT fürchtete die CFTC ihre marginalisation in einer säkularisierten Gesellschaft. Hieraus
hätten sich erhebliche Bestandspobleme ergeben können. Demzufolge war es für die CFTC
eine Frage des Überlebens, wieder Anschluß an die CFDT zu suchen " ... pour participer a
l'effort de reconstruction du syndicalisme" (Kaspar 1994: 131).
Die Unterschiede zwischen der CFDT und der CFTC ergaben sich aus der engen Bindung
der christlichen Gewerkschaft an die katholische Kirche. Sie betrafen u.a. die Vorstellungen
zur Regelung der Arbeitszeit und zur Stellung der Frau im Arbeitsleben. Einigkeit zwischen
der CFDT und der CFTC bestand in den Vorstellungen über Veränderungen in den Regelun-
gen über die Maßnahmen zur Organisationssicherung der Gewerkschaften. Die CFTC
befürwortete ebenso wie die CFDT Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber 141 •
Auch mit der CGC gab es aus der Sicht der CFDT Übereinstimmungen, die eine Koopera-
tion beider Gewerkschaften nahelegten: Diese Übereinstimmungen lagen vor allem darin, daß
beide Gewerkschaften einer partnerschaftliehen gewerkschaftlichen Orientierung (partenari-
at) den Vorzug gaben und klassenkämpferischen Konzeptionen eine Absage erteilten. Der
Präsident der CGC - so die Feststellung der CFDT - favorisierte ausdrücklich eine Annähe-
rung der großen Gewerkschaften (etats-majors syndicaux), um die Wirksamkeit des Gewerk-
schaftswesens zu erhöhen. Damit befand er sich in Übereinstimmung mit der CFDT142 •
267
Die angesprochenen Gewerkschaften nahmen die Kooperationsbemühungen der CFDT
unterschiedlich auf. Es zeigte sich, daß für die unterschiedliche Akzeptanz der Kooperations-
gesuche wiederum nicht nur das Ausmaß der Übereinstimmung in der jeweiligen program-
matischen Orientierung von Bedeutung war, sondern auch organisationspolitische, insbeson-
dere führungspolitische Gesichtspunkte.
Die FEN begrüßte nicht nur den Vorschlag der CFDT, die zwischengewerkschaftliche
Kooperation zu vertiefen. Sie stellte diesem Vorschlag einen eigenen Vorschlag zur Seite.
Yannick Simbron, der damalige Generalsekretär der FEN, wiederholte und bekräftigte den
Vorschlag seines Vorgängers Jacques Pommatau aus dem Jahre 1986. Der Vorschlag erfolgte
auch deshalb, weil er sich dazu eignete, interne organisatorische Veränderungsmaßnahmen
der FEN zu flankiern. Die strukturell ausdifferenzierten Tendenzen innerhalb der FEN
blockierten sich und lähmten den Organisationsablauf:
"Mais force est de constater qu'il n'y a plus debat democratique mais opposition
systematique des Iendences .... Les militants constatent que Ia FEN est plus un
cartel de Iendences qu'une federations des syndicats. La diversite des professions,
celle de leur revendication, ne s'expriment plus dans Ia FEN maisau sein des ten-
dances, chacune figeant ses positions" (L 'Enseignement Public 1991: 5).
268
zusammenzubringen, die einem unabhängigen, demokratischen und reformorientierten
Gewerkschaftswesen zuzurechnen waren 143 .
Auf der Grundlage dieses Widerspruchs fiel es den Gegnern der recomposition innerhalb
der FEN leicht, den Vereinigungsvorschlag als trügerisch zu denunzieren. Den Befürwortern
zwischengewerkschaftlicher Kooperationsbeziehungen wurde vorgeworfen, eine ideologische
"CFDTisation de Ia FEN" (Stellungnahme der Ecole Emancipee (EE) in: L'Enseignement
Public 1990: 19) betreiben zu wollen. Es sei - so der Vorwurf derjenigen, die gegen eine
Verstärkung der zwischengewerkschaftlichen Beziehungen im vorgesehenen Umfang waren-
a priori vorauszusehen, wer auf den Vorschlag der FEN eingehe und wer nicht. Damit seien
dann auch die tatsächlich erwünschten Kooperationspartner benannt und die unerwünschten
Gewerkschaften faktisch ausgegrenzt. Somit richtete sich der Vorwurf an die Adresse der
Gewerkschaftsleitung, die beschuldigt wurde, hinter einer "ökumenischen" Fassade konkrete
organisationspolitische Bestrebungen zu verfolgen.
Auch der Vorwurf, eine zwischengewerkschaftliche Kooperation bestimmten Ausmaßes im
parteipolitischen Interesse vornehmen zu wollen, wurde gegenüber der Gewerkschaftsleitung
geäußert. Dieser Vorwurf knüpfte an eine Kritik an, die bereits in der ersten Phase der
recomposition geäußert wurde: "Elle cache derriere un recumenisme de fayade toutes !es
arrieres-pensees politiques qui ont prevalue dans toutes !es tantatives de recompositions
depuis trois ans" (Stellungnahme der Ecole Emancipee (EE) in: L'Enseignement Public 1990:
19).
Der Vorwurfrichtete sich wiederum an eine Organisationsleitung, die, um einer innerorga-
nisatorischen Pluralität vordergründig zu entsprechen, zunächst für eine Kooperation aller
repräsentativen Gewerkschaften plädierte, um dann- im Interesse des Vorschlags der CFDT
bzw. der ihr nahestehender politischen Partei PS - ein Leitbild zu propagieren, das die
Ausgrenzung der CGT implizierte.
Die CGT, die von den Kooperationsbemühungen der CFDT und der FEN (zumindest
programmatisch) ausgeschlossen blieb, ließ als Reaktion auf die Kooperationsbestrebungen
dieser beiden Gewerkschaften deutlich erkennen, daß sie eine Vertiefung der Beziehungen
zwischen der CGT und der FO anstrebte, um einer Isolierung zu entgehen. Das Vorgehen der
CGT ähnelte dem der CFDT. Die CGT versuchte, ihrem Kooperationswunsch mit dem
Hinweis auf eine faktische Kooperation mit der CGT-FO Nachdruck zu verleihen. Weiterhin
war sie bestrebt, die tatsächlichen Kooperationsbeziehungen dadurch zu befestigen, daß die
bestehenden Kooperationsformen einer konzeptionellen Orientierung zugeordnet wurden,
welche die Verbindung zwischen der CGT und der CGT-FO befestigte.
Die tatsächlichen Berührungspunkte der CGT und der CGT-FO bestanden vor allem in
gemeinsamen Aktionen und übereinstimmenden Forderungen beider Gewerkschaften. Es gab
143 "un syndicalisme unitaire, independant, democratique, reformiste" (L'Enseignement Public 1991: 5).
269
-so die Aussage des Vorsitzenden der CGT Henri Krasucki -sachliche Übereinstimmungen
(des convergences objectives) zwischen beiden Gewerkschaften, die es auszudehnen und
auszubauen galt (1990:15). Krasucki formulierte gegenüber der FO sehr deutlich eine
Aufforderung zur weitergehenden Kooperation. Es sei nicht vernünftig, so formulierte der
Vorsitzende der CGT in Anspielung auf die bestehenden gemeinsamen Interaktionen, wenn
sich die CGT -FO in ihren alltäglichen Kontakten auf die CGT hin orientiere, gleichzeitig aber
eine offizielle Annäherung beider Organisationen ausschließe. ,,Je dis donc qu'il n'est ni
raisonnable ni realiste pour une organisation d 'avoir une position plus revendicative qu ·avant
et de persister dans un refus de rapprochement" (Krasucki 1990: 15).
Als eine konzeptionelle Orientierung, die geeignet war, die Übereinstimmungen in den
grundsätzlichen Orientierungen beider Gewerkschaften aufzuzeigen, hob die CGT die
kämpferische Orientierung beider Gewerkschaften hervor. Dies geschah einmal dadurch, daß
die CGT die Konzeptionen der CFDT und der FEN als Ausdruck eines kapitalorientierten
syndicalisme d'accompagnement wertete, und diese Orientierung als eigentlich ungewerk-
schaftlich denunzierte (vergl. Viannet 1990). Dieser Orientierung wurde die Beobachtung
gegenübergestellt, daß sich die CGT-FO zunehmend von einer rein kontraktuellen zu einer
forderungsorientierten kämpferischen Organisation gewandelt habe. "Les positions de FO
sont plus revendicatives .. .ils affirmes une volonte combative plus grande que precedemment"
(Krasucki 1990:15). Damit wurde die CGT-FO in der Nähe der CGT plaziert.
Die FO wurde also von zwei Seiten umworben. Beide Seiten bedienten sich ähnlicher
Strategien. Die CFDT auf der einen und die CGT auf der anderen Seite wiesen zunächst auf
faktische Gemeinsamkeiten mit der CGT-FO hin. Sie ordneten diese Gemeinsamkeiten dann
einer gewerkschaftspolitischen Konzeption, einem Leitbild zu, das geeignet war, die eigene
Organisation zu integrieren, die gegnerische aber auszugrenzen. Dem Hinweis auf Überein-
stimmungen in der Reformorientierung von CFDT und CGT -FO stand der Hinweis auf die
gemeinsame Konfliktorientierung von CGT und CGT-FO gegenüber.
Die CGT- FO verhielt sich auch gegenüber diesem Versuch einer Intensivierung der zwi-
schengewerkschaftlichen Beziehungen auf der Grundlage von faktischen Kooperationsbezie-
ungen und angeblichen Gemeinsamkeiten in den ideologischen Grundlagen zurückhaltend.
Die Argumentationsmuster der Gewerkschaften ähnelten denen aus dem Jahre 1986.
Nur wurden die Gründe für die Ablehnung der Kooperationsgesuche noch deutlicher als bei
dem vorausgegangenen Einigungsversuch.
Die Auseinandersetzung mit der CFDT - und bedingt auch mit der FEN - führte die CGT-
FO, indem sie den Gewerkschaften, von denen die Kooperationsangebote kamen, bestimmte
gewerkschaftspolitische Orientierungen und Leitbilder zuordnete, mit denen sie dann die
Vorstellungen kontrastierte, die ihrer eigenen Orientierung entsprachen.
Während es der CFDT darum ging, Übereinstimmungen mit der CGT-FO herauszustellen,
bemühte sich die CGT -FO eher darum, Unterschiede zwischen den beiden Gewerkschaften zu
betonen.
270
Die CGT-FO aktivierte hierzu ein gewerkschaftspolitisches Leitbild, das die Beziehungen
zwischen den Gewerkschaften und dem politischen System betraf.
Die gewerkschaftspolitische Orientierung der CFDT wurde von der FO als syndicalisme de
proposition gekennzeichnet. Die CGT-FO stellte die CFDT als einen Verband dar, der seine
Vorstellungen und Forderungen vor allem dadurch durchzusetzen versuche, daß er sie
zunächst der ihm politisch nahestehenden Regierungspartei unterbreite. Die Partei nehme
dann diese Forderungen auf und sorge dafür, daß sie Gesetzeskraft erhielten. Die Gewerk-
schaft wiederum trage zur Implementierung der Gesetze bei. Die Gewerkschaft mache sich
aber auf diesem Wege- wie sich anläßlich einer Kampagne der CFDT für eine contribution
sociale generalisee (CSG) gezeigt habe- zum Instrument der Regierung und der sie tragenden
politischen Parteien. Sie stehe in der Verpflichtung, die Regierung zu unterstützen.
Damit aber- so der Vorwurf der CGT-FO gegenüber der CFDT- höre diese Gewerkschaft
auf, eine Gewerkschaft im eigentlichen Sinne zu sein. Sie werde zu einer politischen Kraft
(mouvement politique), zu einemparti syndical (vergl. Jenet 1990).
Eine solche Gewerkschaft sehe es - so der Vorwurf- nicht mehr als ihre Aufgabe an,
offensiv Forderungen zu stellen. Sie entwickele sich vielmehr zu einer Iobbyistischen
Gewerkschaft, die nach Einfluß im politischen Raum strebe 144• Einem solchen parti syndical
fehlte jedoch die eigentliche Aufgabenstellung einer Gewerkschaft. Er verfolge einen
syndicalisme integre und bemühe sich- wie eine politische (Volks-) Partei -um die Vertre-
tung und den Ausgleich möglichst vieler heterogener Interessen. Demgegenüber aber habe
eine eigentliche Gewerkschaft - so die CGT-FO - eine partikulare Interessenvertretung der
Arbeitnehmer zu leisten und nicht auf fiktive Gemeinwohlinteressen Rücksicht zu nehmen.
Nur unter diesen Voraussetzungen könne eine Gewerkschaft für sich in Anspruch nehmen,
frei und unabhängig zu sein.
Aus der Sicht der CGT-FO folgten also die CFDT- und mit ihr die FEN- einem Leitbild
gewerkschaftlicher Partizipation, das zur vollständigen Integration der Gewerkschaft in
Betrieb und Gesellschaft führe. Es bestehe eine tendance participationniste. Dieses Leitbild
habe seine Wurzeln in der katholischen Soziallehre. Damit zeige sich, daß sich die CFDT
noch nicht endgültig von der CFTC gelöst habe. Sie sei ebenfalls weiterhin kirchlich orientiert
und nicht im eigentlichen Sinne unabhängig.
Gleiches galt- aus der Sicht der CGT-FO- auch für die CGT. Da diese Gewerkschaft aber
als eigentlich und vorsätzlich parteiunterworfen galt, wurde ihr die Bezeichnung tendence
courroie de Iransmission zugeordnet.
Das eigene Selbstverständnis brachte die CGT-FO dadurch zum Ausdruck, daß sie das
Leitbild gewerkschaftlicher Unabhängigkeit und Selbständigkeit (l'independance,
l'autonomie) propagierte und ausschließlich für sich in Anspruch nahm. Nur dieses Leitbild
271
war nach Ansicht der CGT-FO in der Lage, ein gewerkschaftliches Gegengewicht in den
Betrieben und in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten und auf diese Weise langfristig Erfolge
zu erzielen.
Auf der Grundlage dieser Unterscheidungen lehnte es die CGT-FO demzufolge ab, auf die
Vorschläge der CFDT und der FEN einzugehen. Die Absicht, einenpole syndicale democra-
tique zu konstituieren, kam ihrer Ansicht zufolge dem Versuch gleich, die Gewerkschaftsbe-
wegung auf einen Konsens mit der Regierung und den Arbeitgebern zu verpflichten 145 .
Hinzu kam, daß die Gründe für die Ablehung des Kooperationswunsches der CFDT und
der FEN ebenfalls geeignet waren, einer Abgrenzung gegenüber der CGT zu dienen (vergl.
Blondell991: 2). Der Vorsitzende der CGT-FO stellte explizit eine Verbindung zwischen den
gewerkschaftspolitischen Orientierungen der CFDT und der FEN auf der einen und der CGT
auf der anderen Seite her, indem er betonte, daß beide Orientierungen den Kalkülen der
politischen Parteien folgten. Die sozialistische Partei - so Blonde) ausdrücklich - folge, wenn
sie den Vorschlag für eine recomposition syndicale unterbreite, ebenfalls der leninistischen
Konzeption der courroie de transmission (Blonde), zit. nach Le Monde vom 27 .1. 1990).
Die Funktion dieser Abgrenzung gegenüber Kooperationswünschen jeglicher Art bestand
wiederum nicht nur darin, der CGT-FO Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu verleihen,
sondern auch darin, bestimmten organisationspolitischen Zielen zu dienen, welche die
Leitung dieser Gewerkschaft verfolgte.
Wenn ein offizielles gewerkschaftspolitisches Leitbild propagiert wurde, das nachdrücklich
dazu aufforderte, der reformorientierten Gewerkschaft CFDT ebeno wie der kommunistischen
Gewerkschaft CGT eine Absage zu erteilen, konnten interne gewerkschaftspolitische
Strömungen, deren Träger einer dieser beiden Orientierungen den Vorzug gaben, davon
abgehalten werden, entsprechenden Kooperationsangeboten dieser Gewerkschaften zu folgen.
Gewerkschaftliche Strömungen innerhalb der CGT-FO mit einer programmatischen Affi-
nität zur CFDT bzw. zur CGT wurden in Schach gehalten. Dies geschah dadurch, daß die
Kooperationsangebote dieser Gewerkschaften abgelehnt wurden, weil die programmatischen
Orientierungen der CGT und der CFDT keine gewerkschaftliche Unabhängigkeit gewährlei-
steten. Vielmehr sei - so die Argumentation der Leitung der CGT-FO - zu befürchten, daß
eine Übernahme solcher Orientierungen dazu führe, daß die Gewerkschaften den politischen
Parteien zu- oder sogar untergeordnet würden. Den Akteuren, die innerhalb der CGT-FO
solche programmatischen Orientierungen favorisierten, wurde es auf diese Weise verwehrt,
im Zuge einer zwischengewerkschaftlicher Kooperation mit der CFDT oder der CGT durch
die Aufwertung der eigenen ideologischen Konzeption Profil zu gewinnnen und am Ende
sogar mit organisatorischen Eigenständigkeit zu drohen.
145"Le prolongement d'une demarche qui tend il instituer un syndicalisme de consensus ill'egard des politiques
gouvernementales et patronales" (Blonde!, zit. nach: Le Monde vom 27.1. !990: 24).
272
Wie die Leitung der FEN in der ersten Phase der recomposition syndicale stellte die Lei-
tung der CGT-FO in der zweiten Phase die zwischengewerkschaftlichen Beziehungen in den
Dienst des eigenen Leitungsanspruchs. Dies geschah in beiden Fällen durch die Pointierung
eines Leitbilds, das entsprechende integrierende bzw. desintegrierende Wirkungen hatte. In
der ersten Phase der recomposition syndicale beabsichtigte die Führung der FEN, auf der
Grundlage eines bestimmten Leitbilds Beziehungen zu anderen Gewerkschaften zu knüpfen
und auf diese Weise die innergewerkschaftliche Opposition zu neutralisieren. In der zweiten
Phase der recomposition syndicale war der Führung der CGT-FO daran gelegen, auf der
Grundlage eines bestimmten Leitbilds die Beziehungen zu anderen Gewerkschaften zu
unterbinden. Sie wollte auf diese Weise verhindern, daß innergewerkschaftliche Strömungen
Auftrieb erhielten, die ihr den Führungsanspruch hätten streitig machen können.
Die Bedeutung von Maßnahmen zur organisationspolitischen Einbindung der Strömungen
innerhalb der CGT- FO zeigte sich im Verlauf der Debatte um die recomposition syndicale.
Die Vertreter der unterschiedlichen Strömungen artikulienen unterschiedliche Präferenzen für
die Aufuahme bzw. Fortsetzung von Interorganisationsbeziehungen zu anderen Gewerk-
schaften.
So zeigte sich M. Michel Huc, der Generalsekretär der Metallarbeitergewerkschaft inner-
halb der CGT-FO (Secretaire General de Ia Federation de Ia Metallurgie FO) den vorliegen-
den Kooperationsangeboten gegenüber aufgeschlossen. Es setzte sich damit in Gegensatz zur
Leitung der CGT-FO, die gegenüber einer Kooperation mit anderen Gewerkschaften starke
Vorbehalte angemeldet hatte. Huc hatte bei der zurückliegenden Wahl des neuen Generalse-
kretärs der CGT-FO Claude Pitous, den Gegenkandidaten von Mare Blondel, unterstützt.
Pitous galt als reformorientiert (Jeanperrin: 1987). In einem Interview mit der Zeitung Le
Monde (23.1.1990) betonte Huc, als er auf das Kooperationsangebot der CFDT angesprochen
wurde, daß es notwendig sei, sich aufgeschlossen gegenüber denjenigen zu zeigen, deren
Gewerkschaftsverständnis nicht im Widerspruch zur Orientierung der CGT-FO stehe.
Auf die konkrete Frage, ob nicht die europäische Einigung und die Änderungen in Osteuro-
pa eine recomposition syndicale notwendig machten, wies Huc - im Einklang mit der Leitung
seiner Gewerkschaft - pflichtgemäß zunächst auf die parteipolitischen Interessen der PS hin,
die eine solche recomposition syndicale angeblich nahelegten.
Gleichzeitig aber erwähnte Huc auch Veränderungen in der Umwelt der gewerkschaftlichen
Organisationen, die einen verstärkten Diskussionsbedarf mit den reformorientierten Gewerk-
schaften nahelegten. Der offiziellen Warnung vor einer parteipolitischen Intervention folgte
der deutliche Hinweis darauf, daß sich die CGT-FO gegenüber den Kooperationsangeboten
der CFDT und der FEN nicht verschließen dürfe. Mit diesen Gewerk~chaften bestünden
nämlich weitgehende Übereinstimmungen in den gewerkschaftspolitischen Orientierung. Die
Übereinstimmung zwischen der CGT-FO und der CFDT bzw. der FEN in wichtigen Be-
standteilen einer reformorientierten Konzeption sei so wichtig, daß die Bedenken, die aus den
273
parteipolitischen Hintergründen des Kooperationsangebots resultierten, zurückgestellt werden
könnten:
Während sich Huc also auf der einen Seite gegenüber den Kooperationsangeboten der
reformorientierten Gewerkschaften nicht verweigern wollte und sich solchen Angeboten
gegenüber sogar aufgeschlossen verhielt, lehnte er jede Annäherung an die CGT entschieden
ab. Huc sprach in einem Brief an Mare Blonde! deutliche Warnungen für den Fall aus, daß
sich die CGT-FO nicht deutlicher von der CGT abgrenze. Schon die gemeinsamen Demon-
strationen mit der CGT stünden - so Huc - im Widerspruch zum Selbstverständnis der CGT-
FO. Die FO verliere auf diese Weise ihre Unabhängigkeit. Eine Fortsetzung solcher gemein-
samen Aktionen führe unweigerlich zum Bruch innerhalb der F0 146 •
Andere Stimmen aus der CGT-FO wiesen ebenfalls warnend auf die gemeinsamen Aktio-
nen der CGT-FO mit der CGT hin und betonten ihre vehemente Opposition gegen solche
Kontakte. Auch in diesen Äußerungen wurden kooperative Interorganisationsbeziehungen zur
CFDT nicht ausgeschlossen (vergl.: Jacques Maire 1990).
Die Organisationsleitung der FO bediente sich also der Abgrenzung gegenüber den anderen
repräsentativen Gewerkschaften, um ihre Eigenständigkeit zu verdeutlichen und auf diese
Weise internen Fraktionierungen "die Flügel zu stutzen". Die Stabilität einer nur mit knapper
Mehrheit gewählten Organisationsleitung wurde dadurch zu erreichen versucht, daß die
Angebote zur zwischengewerkschaftlichen Kooperation auf der Grundlage programmatischer
Gemeinsamkeiten abgelehnt wurden. Die Ablehnung von Interorganisationsbeziehungen zu
den anderen repräsentativen Gewerkschaften diente der Stabilisierung der Intraorganisations-
beziehungen. Sie stärkte die Dominanz der Organisationsleitung der CGT-FO.
Das dominierende Leitbild organisationspolitischer Unabhängigkeit und Eigenständigkeit,
das die Leitung der CGT-FO ihrem Handeln zugrunde legte, erhielt dadurch Nachdruck und
Anschaulichkeit, daß es auf die Bedrohung durch parteipolitische Interventionsversuche
146 "Si cette folle aventure devait se poursuivre, nul doute que nous arriverons II une rupture" (La Voix du
Metal/urgiste vom 26.11.1990, zit. nach: Revue de Ia Presse No. 1994). Weitere Gründe dafiir, eine "Unab-
hängigkeit gegenüber links" zu fordern, ergaben sich nach Meinung der reformorientierten Kräfte innerhalb
der FO auch daraus, daß sich die Organisationsleitung eine interne Auseinandersetzung innerhalb der Lehrer-
gewerkschaft der FO (SNDI-FO) zugunsten der trotzkistischen Orientierung (SNUDI-FO) entschieden hatte
(vergl. Liberation vom 26.1. 1990: ,,Avec le SNUDI, c'est Ia totalite des syndicats de l'enseignement et de Ia
recherche FO qui tombent dans I'escarcelle du PCI.")
274
bezogen wurde. Der Hinweis auf die Politisierung der Kooperationsgesuche legitimierte die
Ablehnung der Kooperationsangebote. Indem auf eine parteipolitische Steuerung der
Kooperationsbemühungen hingewiesen werden konnte, hielt die Leitung der CGT-FO ein
wichtiges Argument in der Hand, um Annäherungsversuche anderer Gewerkschaften
zurückzuweisen und gleichzeitig die eigene Stellung festigen zu können.
Die Unabhängigkeit der gewerkschaftlichen Inter- und Intraorganisationsbeziehungen
gegenüber externen Interventionen durch politische Parteien gehörte zu den unbestrittenen
identitätsstiftenden Grundsätzen der CGT-FO. Dieser Grundsatz konnte nicht in Zweifel
gezogen werden. Indem die Leitung der CGT-FO diesen Grundsatz als Begründung fiir eine
Ablehnung der zwischengewerkschaftlichen Kooperationsbeziehungen heranzog, bediente sie
sich einer Argumentation, mit der sie sich inmitten von internen Fraktionierungen gegen
Kritik immunisierte und gleichzeitig die eigene Führungsposition stärkte.
Die Bemühungen um die recomposition syndicale waren nicht erfolgreich. Jean Kaspar
gestand in seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1994 diesen Mißerfolg ein: "Quatre ans apres,
on n'a pas beaucoup avance. La concurrence prime toujours sur Ia cooperation" (Kaspar
1994: 126).
Der Mißerfolg zeigte sich einmal darin, daß Kaspar im Jahre 1992 auf internen Druck von
seiner Position als Generalsekretär zurücktrat. Seine Bemühungen, der gegen ihn gerichteten
Kampagne der Destabilisierung seiner Führung der CFDT durch Erfolge auf dem Gebiete der
zwischengewerkschaftlichen Beziehungen entgegenzutreten, scheiterten. Das (vorläufige)
Ergebnis seiner Bemühungen wurde vielmehr so interpretiert, daß es dazu beitrug, seine
Führungstätigkeit zu beenden.
Kaspar beschwerte sich im nachhinein darüber, daß seine Absichten mißverstanden, umin-
terpretiert und dadurch letztlich gegen ihn verwendet wurden.
Seine Bemühungen um einen pole syndical democratique wurden als Gefahrdung der
Identität der CFDT gedeutet. Sein Eintreten fiir eine reformorientierte gewerkschaftliche
Orientierung wurde als Mangel an Visionen angesehen 147 • Seine Suche nach Konsens galt als
Ausdruck politischer Schwäche.
Allerdings hatte Kaspar solchen Vorwürfen auch keine realen Erfolge entgegenzusetzen.
Die Beziehungen zwischen den Gewerkschaften wurden weder zahlreicher noch besser. Ein
Teil der innerorganisatorische Differenzierungen verfestigte sich sogar zu eigenständigen
Organisationen.
Mouriaux hielt die Bemühungen um eine recomposition syndicale aus der Sicht des Jahres
1996 nicht nur fiir erfolglos, sondern betonte sogar paradoxe Wirkungen der Bemühungen um
zwischengewerkschaftliche Kooperation (1996b: 184). Die Gewerkschaft des Erziehungswe-
sens brach im Jahre 1992 auseinander. Einige dissentierende Gewerkschaften, voran die der
275
Tendenz UA zugeordnete SNES, bildeten den Grundstock fiir die Gründung der linksgerich-
teten FSU, die seitdem im Schulwesen über einen erheblichen Einfluß verfiigt. Im Jahre 1993
erzielte die FSU bei Sozialwahlen in wichtigen Bereichen ein besseres Ergebnis als die
verbliebenen Teile der FEN (vergl. Mouriaux 1996a: 110). Diese FEN bildeten ihrerseits den
Kern fiir die Gründung eines Gewerkschaftsverbands UNSA, dem sich weitere Gewerk-
schaften von Bediensteten im Staatswesens anschlossen. 1994 wurde dieser Gewerkschafts-
verband UNSA fiir den Bereich des Staatsdienstes (fonction publique di:tat) als repräsentativ
anerkannt.
Die ideologische Nähe dieser Gewerkschaft zur CFDT fiihrte zu engeren Beziehungen
beider Gewerkschaftsverbände, ohne daß sich hieraus aber - wie Mouriaux feststellte - weitere
verbindende Wirkungen fiir die zwischenorganisatorischen Beziehungen ergaben: "Un axe
CFDT-UNSA existe mais sans veritable dynamisme propre" (Mouriaux 1996b: 184).
Der CFDT war es nicht nur nicht gelungen, die gewerkschaftlichen Kräfte zusammenzufiih-
ren. Vielmehr entstanden durch die Abspaltung von der CFDT zusätzliche Gewerkschaften
und zwar im Post- und Fernmeldewesen Solidaires, Unitaires, Democratiques (SUD) und im
Gesundheitsbereich: Coordonner, rassembler, construire (CRC). Der Versuch, die Gewerk-
schaften zusammenzufiihren, fiihrte zu einer noch größeren Zersplitterung der gewerkschaftli-
chen Kräfte: "La recomposition a abouti a un eparpillement plus grand des forces syndicales"
(Mouriaux !996b: 184; vergl. auch Rehfeldt 1997: S. 78ff.).
Der Hinweis auf die parteipolitischen Interessen an einer zwischengewerkschaftlichen
Kooperation hatte offensichtlich dazu beigetragen, daß diese Kooperation nicht zustande kam.
Die zwischengewerkschaftliche Kooperation hätte sich günstig auf den Organisationsgrad und
auf die Durchsetzungsfah.igkeit der Gewerkschaften auswirken können. Sie hätte auch einer
Forderung nach mehr "Tarifautonomie" Nachdruck und Glaubwürdigkeit verleihen können.
Da diese Kooperation nicht zustande kam, erschien die staatliche Intervention auf Dauer
unumgänglich zu sein. Der Staat fand weiterhin Bedingungen vor, die seine fortlaufende
Intervention in die Arbeitsbeziehungen rechtfertigten. Er konnte zusätzlich darauf hinweisen,
daß entscheidende politische Akteure die zwischengewerkschaftliche Kooperation gewünscht
und gefordert hatten, eine solche Kooperation aber nicht zustande gekommen war. Die
Tatsache, daß es eben diese parteipolitischen Interessen waren, welche die Begründung dafiir
geliefert hatten, daß eine zwischengewerkschaftliche Kooperation von entscheidenden
Akteuren verweigert werden konnte, fand keine Beachtung. Der Staat konnte seine Interven-
tionen fortsetzen und ausweiten, ohne daß das Handeln wichtiger politischer Akteure einer
grundlegenden Kritik unterzogen wurde. Kritisiert wurden weiterhin vor allem die Gewerk-
schaften, denen man die Schuld fiir die division syndicale aufbürdete.
276
7.5 Zusammenfassung. Interpretationen staatlicher Intervention: OffiZielle
Zielsetzung und paradoxe Handlungsfolgen oder inoffiZielle Zielsetzung und
intendierte Handlungsfolgen?
Die staatlichen Normierungen der kollektiven Arbeitsbeziehungen in Frankreich werden
offiziell in der Absicht vorgenommen, die Tarifautonomie zu fördern. Diese Förderung soll
angeblich die lange Tradition staatlicher Interventionen in die Arbeitsbeziehungen korrigie-
ren. Unter dem Eindruck der Befunde dieser Untersuchung muß bestritten werden, daß der
Staat diese Zielsetzung tatsächlich verfolgt. Die staatlichen Normierungen stärken die
repräsentativen Gewerkschaften und schatten sie gegenüber anderen nicht als repräsentativ
anerkannten Verbänden ab. Den Gewerkschaften fällt es leichter, betriebliche und sektorale
Verhandlungskompetenz beanspruchen und aufrecht erhalten zu können, wenn sie als
repräsentativ anerkannt sind. Unter dieser Voraussetzung erhalten sie auch eine Kollektivver-
tragsfähigkeit mit weitreichenden Kompetenzen für die einzelne Organisation. Die Entschei-
dungen dieser repräsentativen Gewerkschaft können - wenn überhaupt - erst im nachhinein
korrigiert werden. Eine vorhergehende Abstimmung des gewerkschaftlichen Handeins fordert
und fördert der Gesetzgeber nicht. Der Gesetzgeber verzichtet durch seine Bestimmungen zur
Repräsentativität auch darauf, eine tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften
zu fordern oder zu fördern. Im Gegenteil: Die Vertretungsbefugnisse werden einzelnen
Gewerkschaften auch dann übertragen, wenn sie nur über wenig Mitglieder verfügen. Der
Staat schafft dadurch, daß er den Gewerkschaften - weitgehend unabhängig von ihren
Mitgliederzahlen - Unterstützungsleistungen zukommen lässt, keinerlei Anreize, Mitglieder-
werbung zu betreiben. Die Gewerkschaften verlieren immer mehr Mitglieder, so daß sie
letztlich ihre Vertretungsfunktionen überhaupt nicht mehr wahrnehmen können, obwohl diese
Funktionen nicht reale Durchsetzungsfähigkeit, sondern lediglich voraussetzt, daß wenige
Gewerkschaftsmitglieder und Gewerkschaftsvertreter auf Betriebsebene vorhanden sind. Der
Staat stellt sich mit den neueren Modifikationen seiner arbeitsrechtlichen Normierung auf
diese Entwicklung ein. Er korrigiert sie nicht. Die Gewerkschaften sind nicht in der Lage, die
Entwicklung durch zwischengewerkschaftliche Kooperationsbeziehungen aufzuhalten oder
gar umzukehren. Die einzelorientierte Befestigung kollektiven gewerkschaftlichen Handeins
führt dazu, daß ein "Kooperationszwang" entfällt. Die Versuche einzelner Richtungsgewerk-
schaften, die zwischengewerkschaftliche Kooperation systematisch zu fördern, scheitern.
Diejenigen kollektiven und individuellen Akteure, die keine Kooperationsvorteile zu erzielen
hoffen, verdächtigen die kooperationsbereiten Akteure, nur ihren eigenen Vorteil zu suchen
und hierbei noch parteipolitischen Vorgaben zu folgen. Die ideologische Spaltung der
Gewerkschaften, die inklusive Kooperationen nicht möglich macht, erhöht die Plausibilität
einer solchen Argumentation. Die staatlichen Akteure können sich nicht von dem Verdacht
freisprechen, ebenfalls in einem partikularen Interesse zu handeln und nicht eine gewerk-
schaftliche Kooperation, sondern letztlich wiederum nur eine Spaltung der Gewerkschaften
begünstigen zu wollen.
277
Ebenso wie bei der Interpretation der kollektiven Arbeitsbeziehungen für Belgien fallt es
auch für Frankreich schwer, den offiziellen Angeben über die staatliche Zielsetzung zu
folgen. Die Maßnahmen, die angeblich der "Förderung der Tarifautonomie", der "Favorisie-
rung der Vertragspolitik", der ,,Entpolitisierung" und der "Entstaatlichung" dienen sollten,
fiihrten zu einer Schwächung der tariflichen Verhandlungskompetenz der Gewerkschaften zu
einer Ausweitung und Stärkung des staatlichen Einflusses.
Die Wirkungen der staatlichen Normierungen verlangen deshalb nach einer anderen Inter-
pretation. Anstatt paradoxe Handlungsfolgen zu registrieren, erscheint es eher angebracht,
darauf hinzuweisen, daß der Staat mit seinen Normierungen Zielsetzungen verfolgt, welchen
die Absicht zugrunde liegt, genau die Wirkungen zu erzielen, die sich tatsächlich auch
eingestellt haben. Die Interpretation staatlichen Handeins verweist dann auch für Frankreich
darauf, daß sich der Staat mit seinen Normierungen auf die besondere Situation des Gewerk-
schaftspluralismus eingestellt hat und ihn benutzt, um seine Absicht, die kollektiven Arbeits-
beziehungen möglichst auch inhaltlich zu gestalten, erfolgreich durchzuführen und gleichzei-
tig gegen Kritik zu immunisieren. Die Schwäche und Zerplitterung der Gewerkschaften gibt
ihm Veranlassung, in die Arbeitsbeziehungen zu intervenieren, ohne daß deutlich wird, daß
gerade die staatlichen Maßnahmen zur Schwächung und Zersplitterung der Gewerkschaften
entscheidend beigetragen haben. Der Staat formiert die Gewerkschaften in einer Weise, daß
es ihnen kaum ratsam erscheint, gegen staatliches Handeln zu opponieren. Die Gewerk-
schaftsapparate räumen das Feld der Kollektivverhandlungen und werden vom Staat so
ausgestattet, daß es ihren Funktionsträgem leicht fallt, diesen Rückzug vorzunehmen. Hierbei
geht allerdings ein Funktionswandel der Gewerkschaften vonstatten, den der Staat mit zu
verantworten hat, ohne daß er zur Verantwortung gezogen wird.
Die "eigentliche" Zielsetzung des Staates liegt nicht darin, "Tarifautonomie" zu gewähren,
sondern die kollektiven Akteure und ihr Handeln auf die staatlichen Vorstellungen auszu-
richten. Dem wird nicht dadurch entsprochen, daß der industrielle Konflikt "autonom"
geregelt wird, sondern dadurch, daß der Staat seinen Einfluß auf die Arbeitsbeziehungen
beibehält oder sogar noch ausdehnt. Der Staat will nicht nur "Herr des Verfahrens", sondern
auch ,,Herr der Inhalte" sein und bleiben.
Die Ausstattung einzelner repräsentativer Gewerkschaften mit Verhandlungs- und Ver-
tragskompetenz hat nicht dazu gefiihrt, die kollektive Verhandlungs- und Vertragsautonomie
zu stärken, sondern eher deren Schwächung bewirkt.
Die Bestimmungen zur Repräsentativität haben eine Vereinzelung gewerkschaftlichen
Handeins bewirkt, welche die bestehende pluralistische Fragmentierung verstärkt hat. Sie
verhinderten auch den Aufbau autonomer Arbeitsbeziehungen, die neben das staatliche
Autoritätszentrum treten könnten und ihm nicht untergeordnet sind.
Die Bestimmungen zur Repräsentativität stellten also einen Zustand auf Dauer, auf den
Y annakourou in ihrer Interpretation staatlichen Handeins hingewiesen hat: "... le systeme
etatique fran9ais opere uneveritable projection: celle d'un modele a cinq composantes, qui a
278
intensifie Ia faiblesse endogene du mouvement syndical et a ainsi facilite son integration dans
le systeme etatique" (Y annakourou 1995: 177).
Mouriaux vertrat bereits im Jahre 1985 die These, daß der Staat bestrebt sei, seine Herr-
schaft dadurch zu konservieren, daß der Aufbau anderer "gesellschaftlicher" Herrschaftszen-
tren verhindert werde. Die staatlichen Normierungen dienten dazu, den Zustand der Frag-
mentierung zu erhalten. Um diese Zielsetzung zu erreichen, wähle der Staat absichtlich
Steuerungsinstumente, "qui reduirait et fragmenterait toute expression en provenance de Ia
societe civile .... " (1985: 187). Zivilgesellschaftliche Selbständigkeit solle vermieden werden.
Die Entwicklung am Ende der 90er Jahre bestätigt diese These. Die festgestellte Zielsetzung
staatlichen Handeins erscheint im Bereich der kollektiven Arbeitsbeziehungen als inoffizielle
Zielsetzung, die der Staat mit seinen Normierungen nachdrücklich und erfolgreich verfolgt.
Der Erfolg ist auch dadurch zu erklären, daß die Zielsetzung inoffiziell bleibt und der
richtungsgewerkschaftliche Pluralismus sich bestens dazu eignet, die eigentlichen Zielsetzun-
gen des Staates zu verbergen und auf diese Weise das staatliche Handeln zu legitimieren.
279
8 Gesamtzusammenfassung
In der Bundesrepublik Deutschland erfolgt die organisierte Interessenvertretung der Arbeit-
nehmer vor allem durch Gewerkschaften, die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB)
zusammengefaßt sind. Diese sind nach dem Industrieverbandsprinzip strukturiert und nehmen
für sich in Anspruch, Einheitsgewerkschaften zu sein. Die Interessen der Arbeitnehmer einer
Branche sollen, unabhängig davon, welchen weltanschaulichen Orientierungen sie zuzuord-
nen sind, einheitlich vertreten werden. In der vorliegenden Arbeit wurde zunächst untersucht,
mit welchen rechtlichen Normierungen diese Art der Interessenvertretung geregelt wird und
welche Zielsetzungen hierbei verfolgt werden.
In der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung wird zwischen verfassungsgemäß ge-
schützten Koalitionen und tariff"ahigen Berufsverbänden unterschieden. In Deutschland wird
durch Art. 9 Abs.3 GG ein Koalitionspluralismus verfassungsrechtlich garantiert. Die
Koalitionen der Arbeitnehmer haben bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen, um als
tariffähige Gewerkschaften anerkannt zu werden. Zu diesen Voraussetzungen zählt insbeson-
dere die "Druckausübungsfähigkeit" bzw. "soziale Mächtigkeit" der Koalitionen. Hierdurch
soll gewährleistet sein, daß die Gewerkschaften zusammen mit den Arbeitgebern ihre
Aufgabe der Verhandlung und Vereinbarung von Tarifverträgen gleichgewichtig wahrnehmen
können. Zwischen den Kontrahenten soll "Waffengleichheit" herrschen. Die "Druckaus-
übungsfähigkeit" ist unterschiedlich definiert worden. Letztlich wird es aber von der
Rechtsprechung als unverzichtbar angesehen, daß die Koalitionen der Arbeitnehmer, die als
tariffähige Gewerkschaften Anerkennung finden wollen, bereits über eine schlagkräftige
Organisation verfügen. Sie müssen ferner den Nachweis erbringen, daß sie an der Gestaltung
von Tarifverträgen bereits aktiv beteiligt waren.
Die Anerkennung einer Koalition der Arbeitnehmer als tariffähige Gewerkschaft bietet
einige Vorteile. Zu dem "primären" Gewerkschaftsrechten der tarifbezogenen Interessenver-
tretung kommen "sekundäre" Gewerkschaftsrechte hinzu. Bestimmte Aufgaben der Interes-
senvertretung, die aus den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes, des Arbeits- und
Sozialgerichtsgesetzes, des Personalvertretungsgesetzes und des Arbeitsförderungsgesetzes
resultieren, bleiben ebenfalls den Arbeitnehmerberufsverbänden vorbehalten, die "Druckaus-
übungsfähigkeit" bewiesen und demzufolge als "tariffähige" Gewerkschaften Anerkennung
gefunden haben. Die Rechtsprechung legt also einen einheitlichen Gewerkschaftsbegriff
zugrunde, obwohl die Befähigung zur Wahrnehmung unterschiedlicher Funktionen zur
Diskussion steht. Die Organisation, die nicht "tariffähig" ist, darf auch die anderen Aufgaben
nicht wahrnehmen, obwohl es ihr hierzu nicht unbedingt an Kompetenz fehlt.
Die beschriebenen rechtlichen Regelungen haben in der rechtswissenschaftliehen und in der
verbandstheoretischen Diskussion große Aufmerksamkeit und z.T. erhebliche Kritik erfahren.
In der rechtswissenschaftliehen Diskussion wird darauf hingewiesen, daß es den kleineren
280
Verbänden durch die beschriebenen rechtlichen Regelungen verwehrt wird, eine gleichbe-
rechtigte Interessenvertretung zu leisten. Weil den etablierten Gewerkschaften bestimmte
wichtige Vertretungsfunktionen vorbehalten bleiben, erscheint es kaum möglich, daß kleinere
Verbände zu Gewerkschaften werden, welche die strengen Maßstäbe erfüllen können, die als
Voraussetzung für den Erwerb der TaritTähigkeit und die daran anschließenden "sekundären"
Befugnisse genannt werden. Mit welchen Argumenten sollen kleinere Verbände Mitglieder
werben, wenn es ihnen untersagt ist, wichtige Funktionen auszuüben. Somit wird ein
Gewerkschaftspluralismus faktisch ausgeschlossen, während gleichzeitig ein Koalitionsplura-
lismus verfassungsrechtlich vorgegeben ist.
In diesem Zusammenhang wird von den Kritikern der rechtlichen Normierung darauf
hingewiesen, daß die offizielle Begründung, mit der die Einschränkung der Tariffähigkeit auf
bestimmte etablierte Gewerkschaften vorgenommen wird, in Zweifel zu ziehen ist. Es wird
bezweifelt, daß die offiziell befürchteten nachteiligen Folgen für die Interessenvertretung der
Arbeitnehmer, die Gestaltung der Tarifbeziehungen und die Inhalte der Tarifverträge
tatsächlich auch eintreffen würden, wenn die Tariffähigkeit auf eine andere Weise bestimmt
und die Annahme der Einheitlichkeit des Gewerkschaftsbegriffs aufgegeben würde. Es wird
auch bezweifelt, ob der Status quo der tariflichen Regelung so günstig zu beurteilen sei, daß
Veränderungen in den Selektionsformen tariffähiger Gewerkschaften nur zu V erschlechterun-
gen der Tarifbeziehungen und der Inhalte der Tarifverträge führen würde. Demzufolge wird
auch in Zweifel gezogen, daß die rechtliche Unterstützung des Status quo aufrecht erhalten
werden muß.
Die Vorzüge bzw. Nachteile von einheitsgewerkschaftlich-monopolistischen oder plurali-
stischen Vertretungsformen der Arbeitnehmer sind in der verbandstheoretischen und
verbandssoziologischen Diskussion im Zusammenhang mit der Debatte um den neo-
korporatistischen Ansatz erörtert worden. Ein wichtiges Merkmal dieser Steuerungskonzepti-
on ist, daß die Interessenvertretung der Arbeitnehmer durch (monopolistische) überbetriebli-
che Einheitsgewerkschaften als encompassing organizations wahrgenommen wird. Solchen
Gewerkschaften gewährt der Staat Organisationssicherung, weil sie Kompromißfähigkeit und
Verantwortlichkeitlichkeit in Aussicht stellen.
Die verbandstheoretische Diskusion stand lange unter dem Eindruck der Vorzüge der neo-
korporatistischen Steuerungskonzeption. Es zeigte sich allerdings, daß die positiven Ver-
bandsleistungen durch encompassing organizations nur erbracht werden können, wenn
bestimmte Randbedingungen hierfür die Voraussetzungen schaffen. Liegen diese nicht vor,
kann auch nicht von einer unbedingten Überlegenheit einer Interessenvertretung durch
monopolistische Einheitsgewerkschaften ausgegangen werden. Demzufolge wird zu bestim-
men versucht, unter welchen Bedingungen eine (monopolistische) einheitsgewerkschaftliche
Form der Interessenvertretung einer Interessenvertretung durch mehrere gleichberechtigte
Gewerkschaften überlegen ist. Es wird also untersucht, ob und unter welchen Bedingungen
ein intraorganisatorischer Interessenausgleich einem interorganisatorischen Interessenaus-
281
gleich vorzuziehen ist. Der Gewerkschaftspluralismus gilt nicht mehr als die grundsätzlich
unterlegene Regelungsform, vielmehr kann ihm unter bestimmten Bedingungen der Vorzug
gegeben werden.
Die Zweifel daran, daß die Interessenvertretung durch überbetriebliche Einheitsgewerk-
schaften in jedem Fall geeignet ist, erfolgreiche Tarifbeziehungen zu gewährleisten und
verantwortliche Tarifverträge herbeizuführen, haben die Kritiker der rechtlichen Regelungen
der kollektiven Interessenvertretung in der Bundesrepublik Deutschland zu einer weiteren
Überlegung veranlaßt Die Kritiker regen an, nicht nur darauf zu achten, ob es dem Staat
gelingt, mit den bestehenden rechtlichen Regelungen seine offizielle Zielsetzung zu verfol-
gen, also stabile prozedurale und für die wirtschaftliche Entwicklung günstige substantielle
Tarifuormen herbeizuführen und machen darauf aufmerksam, daß weitere inoffizielle
Zielsetzungen des Staates Beachtung finden müssen, um die Eignung und die Kontinuität der
rechtlichen Regelungen erklären zu können. Als eine solche inoffizielle Zielsetzung wird die
Begünstigung der im DGB zusammengeschlossenen Einheitsgewerkschaften angesehen.
Diese Begünstigung führt zu rechtlichen Normen, die unabhängig davon in Kraft gesetzt
werden, ob es auf der Grundlage dieser Normen auch möglich ist, die offiziell angestrebte
Zielsetzung zu erreichen. Die inoffizielle Zielsetzung besteht also dann darin, mit der
rechtlichen Regelung einen Gewerkschaftspluralismus zu erschweren, wenn nicht gar
unmöglich zu machen, um die DGB-Gewerkschaften zu befestigen. Die o