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Krieg bis zur Erschöpfung?

Warum wir eine langfristige Strategie gegenüber Russland brauchen


von Wolfgang Zellner
Wolfgang Zellner, geb. 1953 in Selb, Dr. phil., Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und
Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Der russische Eroberungskrieg gegen die Ukraine geht in seinen vierten Monat. Und jenseits der
aktuellen militärischen Lage in der Ukraine und der weitgehend beantworteten Frage, warum und mit
welchem Ziel Russland diesen Krieg begonnen hat,[1] stellen sich längst weitergehende Fragen:
Worin besteht eigentlich der Charakter dieses Krieges, wer sind seine Teilnehmer? Welche
Auswirkungen wird dieser Krieg auf die internationalen Beziehungen haben? Wie lässt er sich
zumindest vorübergehend beenden? Und wie sollte man sich die eher lange Periode bis zu einem
dauerhaften Frieden vorstellen?
Einer Antwort auf die Frage nach dem Charakter des Krieges in der Ukraine kommt man nur näher,
wenn man einerseits zwischen dem militärischen Krieg und dem „Wirtschaftskrieg“ und andererseits
zwischen direkten und indirekten Teilnehmern unterscheidet. Was den militärisch ausgetragenen
Krieg betrifft, haben wir zwei direkte Teilnehmer: Russland und die Ukraine. Die Zahl der indirekten
Teilnehmer im Sinne von Waffenlieferungen und Ausbildung ist dagegen sehr viel größer und umfasst
auf Seiten der Ukraine das gesamte Nato-plus-Spektrum bis hin zu Japan und Südkorea, die die
Ukraine in der einen oder anderen Weise mit militärisch nutzbaren Gütern unterstützen. Wichtigster
politischer Verbündeter Russlands ist China („grenzenlose Freundschaft“), das aber bisher, soweit
erkennbar, keine militärische Unterstützung leistet. Demgegenüber halten sich Russlands formelle
Bündnispartner im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS,
Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan) erkennbar zurück. Selbst Belarus dient
lediglich als Aufmarschplatz und Abschussrampe, wagt aber nicht, in den Krieg einzugreifen.
Der Wirtschaftskrieg stellt eine eigenständige Dimension des Konflikts dar und wird zum Teil nicht
minder hart ausgetragen. Hier steht Russland als direkter Teilnehmer gegen den gesamten Westen,
also wiederum etwa 40 Staaten. Indirekt betroffen von den Sanktionen sind Staaten mit ganz
unterschiedlichen Interessenlagen und Handlungsspielräumen, der wichtigste darunter ist China. Setzt
man dieses Bild zusammen, erkennt man Züge eines indirekt geführten Weltkriegs, in dem nur noch
wenige Staaten oder Weltregionen ganz außerhalb des erweiterten Kriegsgeschehens stehen.
Dementsprechend sind auch die Auswirkungen globaler Natur. Krieg und Sanktionen führen zu einer
Verknappung von Rohstoffen fast jeder Art und einem substanziellen Anstieg der Rohstoffpreise. Da
die Ukraine und Russland bisher rund ein Drittel des Weltexports an Weizen bestritten haben, gilt dies
insbesondere für Nahrungsmittel. Es drohen große Hungerkatastrophen, insbesondere in Afrika.

Was bedeuten die globalen Abhängigkeitsverhältnisse?


Am 2. März 2022 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution,
die „die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine“ „auf das Schärfste“ missbilligt.[2]
Dem stimmten 141 Staaten zu, dagegen stimmten nur fünf (Belarus, Eritrea, Nordkorea, Russland und
Syrien), aber immerhin 35 enthielten sich, darunter China, Indien, Pakistan, Südafrika, Vietnam und
eine Reihe afrikanischer Staaten. Letztere Staatengruppe ist analytisch besonders interessant, da sie
nicht nur die Mehrheit der Weltbevölkerung, sondern eine Vielzahl ganz verschiedener und teils
widersprüchlicher Interessenlagen repräsentiert.
China stellt einen unverzichtbaren Rückhalt für Russland dar, und ohne Chinas Unterstützung wäre
Putins Krieg gegen die Ukraine nicht möglich. Beide Staaten eint die Gegnerschaft zum Westen und
der Wunsch, die globale Vormachtstellung der USA zu brechen. Aber auch die Unterschiede sind
gewaltig: Chinas entwickelte Industrie soll nach dem Willen seiner Führung in wenigen Jahren zur
Weltspitze aufschließen, während Russland kaum mehr als Rohstoffe produziert. Was auf den ersten
Blick nach einer perfekten Synergie aussieht, generiert bei näherem Hinsehen eine Reihe von
Widersprüchen. Denn China ist in weit höherem Maße wirtschaftlich mit dem Westen verflochten und
benötigt westliche Investitionsgüter, insbesondere Halbleiter. Daraus folgt, dass Peking mit dem
Westen über geoökonomische Fragen sprechen muss, wenn nötig auch über Moskaus Kopf hinweg.
Dazu kommen widersprüchliche Beziehungen zu Drittstaaten, insbesondere zu Indien, wo Russland
und China als indirekte Gegner fungieren.[3] Schließlich gibt es historische Bürden: Wladiwostok und
die „äußere Mandschurei“ gehörten bis Mitte der 1800er Jahre zu China. Und Maos Angst vor einem
(Nuklear-)Angriff der Sowjetunion, der ihn ab den frühen 1970er Jahren in ein Quasi-Bündnis mit den
USA führte, speiste sich eben auch aus der Sorge vor einem Deal der beiden großen Atommächte zu
Lasten des schwachen Chinas.[4] Mittlerweile haben sich die Rollen verkehrt: Heute nimmt Russland
die Position des schwachen Dritten ein.
Insofern wird es keine grenzenlose Unterstützung Chinas für Russland geben. Peking wird die gegen
Russland gerichteten Sanktionen nicht kompensieren, wenn dies negative Auswirkungen auf China
haben würde. Und China wird keine Eskalationsschritte Russlands unterstützen, etwa einen
Atomwaffeneinsatz, die seine eigenen zentralen Ziele wie die Vereinigung mit Taiwan infrage stellen
könnten. Bisher hat China den Reputationsverlust geduldig ertragen, der aus seiner Unterstützung der
russischen Aggression folgt. Aufhorchen ließ jedoch ein Interview mit dem ukrainischen
Außenminister Dmytro Kuleba, das die chinesischen Medien Ende April veröffentlichten. Dort
kritisiert Kuleba Russland scharf und äußerte: „Wir glauben, dass dieser Krieg nicht im Interesse
Chinas ist.“[5]
Indien hat eine lange Tradition der Kooperation mit der Sowjetunion und Russland einschließlich der
Lieferung von Atomkraftwerken und Waffen; Russland dient damit auch als Balancer gegenüber dem
Rivalen China, mit dem Indien seit Jahrzehnten einen ungelösten Grenzkonflikt austrägt. Besonders
delikat ist die Lage Vietnams, das mit von Russland gelieferten Fregatten, Korvetten und U-Booten
Abschreckung gegen China betreibt. Und im Falle Südafrikas haben viele alte ANC-Kader ihre
(militärische) Ausbildung noch in der Sowjetunion erhalten. Dazu kommt eine teils tiefverwurzelte
antiimperialistische und antiamerikanische Grundeinstellung, die auch in den Eliten anderer
afrikanischer Staaten vorherrscht.

Wir haben es also mit einer komplexen globalen Konstellation unterschiedlicher Interessenlagen und
Abhängigkeiten zu tun, ohne deren Kenntnis man die verschiedenen Positionen zum Ukraine-Krieg
nicht erklären kann. Wissenschaftlich aufgearbeitet werden muss dies im Rahmen einer globalen
Konstellationsanalyse, so wie man dies nach dem Ende des Kalten Krieges für Europa versucht hat.[6]
Politisch ist eine weitaus aktivere Diplomatie mit Fokus auf den außereuropäischen Raum
erforderlich, getragen von dem Bewusstsein, dass Russland dort keineswegs so isoliert ist, wie wir das
gerne hätten.[7] Die Reise des Bundeskanzlers nach Japan Ende April und die deutsch-indischen
Regierungskonsultationen am 2. Mai 2022 waren erste Schritte in diese Richtung. Von
außerordentlicher Bedeutung für den weiteren Verlauf des Krieges ist dabei die Unterscheidung
zwischen direkten und indirekten Kriegsteilnehmern. Eine substanzielle Eskalationsgefahr besteht
darin, dass Nato-Staaten von indirekten zu direkten Kriegsteilnehmern werden können. Obwohl
zwischen dem heutigen Eskalationsniveau und dem Einsatz von Atomwaffen noch viele
Zwischenstufen liegen, ist ein Atomwaffeneinsatz durch Russland, zwar unwahrscheinlich, aber nicht
grundsätzlich auszuschließen.
Die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine durch die Nato, die mehrfach von der
ukrainischen Regierung gefordert wurde, würde mit Sicherheit den Kriegseintritt des Bündnisses
bedeuten. Denn die Durchsetzung einer solchen Zone würde nicht nur erfordern, russische
Kampfflugzeuge über der Ukraine auszuschalten, sondern auch russische Kampfflugzeuge über
Russland und jede russische bodengestützte Luftabwehr, die in den Luftraum über der Ukraine
hineinwirken könnten. Damit würde der Krieg Hunderte von Kilometern ins russische Territorium
hineinreichen.
Hier wird auch klar, dass die Interessen der Ukraine und die der Nato-Staaten bei aller Solidarität und
Unterstützung keineswegs deckungsgleich sind, sondern sich in relevanten Fragen unterscheiden. Ein
anderes Beispiel, das einen Kriegseintritt der Nato näher rücken lassen könnte, ist die Lieferung von
Kampfflugzeugen an die Ukraine. Als Polen MIG-29-Kampfflugzeuge anbot, die von der Nato via
Ramstein an die Ukraine geliefert werden sollten, lehnten die USA dies aus eben diesem Grund
umgehend ab.[8] Waffenlieferungen an die Ukraine sind notwendig, wenn dieses Land den Krieg
nicht verlieren soll. Jedoch muss bei jeder Lieferung sorgfältig bedacht werden, wo die rote Linie des
Kriegseintritts liegen könnte, deren Existenz ja nicht objektiver Natur, sondern das Ergebnis von
Wahrnehmungen ist. Panzer- und Flugabwehrraketen sowie Drohnen stellen sicherlich kein Problem
dar, auch nicht der Flugabwehrpanzer Gepard. Wohl auch nicht ältere Kampfpanzer, Schützenpanzer
(Marder) und Artillerie. Wo die rote Linie verlaufen könnte, ergibt sich im Wesentlichen aus den
Offensivfähigkeiten eines bestimmten Waffensystems, hängt aber nicht zuletzt auch von subjektiven
Bewertungen ab. Beleuchtet man genauer, was Nato-Staaten bisher an die Ukraine geliefert haben, so
bleibt alles diesseits der hier skizzierten roten Linie. Dennoch ist das Spektrum der Lieferungen
graduell ausgeweitet worden, das deutsche Vorgehen unterscheidet sich hier kaum von dem anderer
Nato-Staaten.
Wichtig ist zudem, dass die bedeutenderen europäischen Staats- und Regierungschefs, vor allem
Emmanuel Macron und Olaf Scholz, in regelmäßigem Kontakt mit Präsident Putin bleiben. Nur so
lässt sich das mit dem Krieg notwendig steigende Eskalationsniveau hinreichend eindämmen.

Damit stellt sich die Frage, wie ein Ende oder auch nur eine Unterbrechung dieses Krieges aussehen
könnten. Nachdem die russische Offensive auf Kiew und die Nordukraine zurückgeschlagen wurde,
steht fest, dass Russland nicht in der Lage ist, die Ukraine rasch zu erobern. Die wichtigsten Gründe
dafür liegen in gravierenden Fehleinschätzungen der russischen Führung, der grassierenden, jede
Kampfkraft untergrabenden Korruption, der technischen Unterlegenheit des russischen Geräts, der
unzulänglichen Logistik der russischen Streitkräfte sowie deren schwacher Moral und Führung. Aber
auch die Ukraine ist selbst mit größter westlicher Unterstützung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
stark genug, um Russland zu „besiegen“ – für die Ukraine würde das wohl bedeuten, Russland zum
Verlassen ukrainischen Territoriums zu zwingen, möglicherweise einschließlich der Krim. Unklar ist
auch, was für Russland als „Sieg“ gälte – eine Eroberung des Ostens und des Südens der Ukraine mit
einer Landbrücke nach Transnistrien? Sergej Karaganow, ein Berater von Putin und Außenminister
Sergej Lawrow, geht davon aus, dass das Ergebnis des Krieges die „Teilung der Ukraine bedeuten
wird“.[9] Das heißt, dass es wahrscheinlich keinen Sieg geben wird, sondern einen noch Monate,
möglicherweise sogar noch Jahre andauernden Kampf, der erst mit der Erschöpfung beider Seiten
enden wird. Auf Seiten der Ukraine könnte die Erschöpfung in einem Übermaß an menschlichen
Verlusten, insbesondere unter der Zivilbevölkerung, bestehen. Auf russischer Seite würde die
Erschöpfung weniger einen Mangel an Material bedeuten – davon ist noch viel vorhanden –, sondern
an ausgebildeten Kämpfern. Schon jetzt ist der Mangel an einsatzfähigen Soldaten derart spürbar, dass
die russischen Streitkräfte in Transnistrien und Syrien rekrutieren sowie Soldaten aus Georgien und
Söldner der Wagner-Gruppe aus Afrika abziehen müssen.
Eine derartige beiderseitige Erschöpfung der Kräfte könnte zu einem zumindest vorläufigen
Waffenstillstand führen. Allerdings ist dies auch genau der Punkt, an dem es für die russische Seite
angesichts eines als Niederlage empfundenen Patts verführerisch sein könnte, weiter zu eskalieren.
„Und wenn das Gefühl da ist, dass wir den *** verlieren, dann, so glaube ich, gibt es eine definitive
Möglichkeit einer Eskalation“, so Karaganow im Interview.[10] Gerade in einer solchen Situation sind
daher klare Botschaften der USA und der Nato an Russland und entschlossene diplomatische
Anstrengungen notwendig.

Wie erreicht und sichert man einen Waffenstillstand?


Neben der Erschöpfung beider Seiten wird es aber auch internationaler Vermittlung bedürfen, um
einen Waffenstillstand zu erreichen. Die Vereinten Nationen waren hier, mit Ausnahme einer
zusammen mit dem Roten Kreuz durchgeführten, begrenzten Evakuierungsaktion aus Mariupol,
bislang wenig erfolgreich. Das bedeutet aber nicht, dass die UNO nicht in Zukunft eine größere Rolle
spielen könnte. Daneben sticht unter den potentiell vermittlungsfähigen Staaten die Türkei hervor, die
bereits als Gastgeber für russisch-ukrainische Verhandlungen fungierte. Sie ist Mitglied der Nato,
beteiligt sich aber nicht an den Sanktionen und hält den Luftraum für russische Flugzeuge offen.[11]
Auch eine gemeinsame Vermittlungsinitiative der Vereinten Nationen und der Türkei ist denkbar.
Eine deutsche Vermittlungsrolle, etwa in Fortsetzung der Arbeit des Normandie-Formats, ist hingegen
kaum vorstellbar. Da Deutschland zu den Waffenlieferanten der Ukraine gehört, dürfte es für Russland
kaum als Vermittler akzeptabel sein. Die ukrainische Regierung hat im Zusammenhang mit der
Beendigung des Krieges mehrfach den Begriff der „Garantiemächte“ in die Diskussion eingebracht,
was die Bundesregierung positiv aufgenommen hat. Allerdings ist völlig unklar, was genau unter einer
„Garantiemacht“ zu verstehen ist, die nicht der militärischen Beistandspflicht nach Artikel 5 des
Nordatlantikvertrages entspricht. Fest steht nur, dass die Garantiemächte des Budapester Abkommens
von 1994 (Großbritannien, Russland und die USA), in dem die Ukraine auf Atomwaffen verzichtete,
nichts getan haben, um das Land vor dem Überfall durch Russland zu schützen. Auch was einen
künftigen Waffenstillstand betrifft, sind so gut wie alle Parameter unklar. Wir wissen nicht, wann es
zu einem Waffenstillstand kommt, noch wie intrusiv seine Regelungen sein werden und auch nicht, ob
die Kriegsparteien bereit sind, sie einzuhalten. Unklar ist auch, wie lang die Kontaktlinie sein wird,
entlang derer Waffenstillstandsmaßnahmen gelten sollen. Und schließlich ist offen, von welchen
Institutionen Waffenstillstand und Konfliktmanagement organisiert und überwacht werden sollen.
Die Erfahrungen des vom Minsker Abkommen von 2015 vorgesehenen Waffenstillstandsregimes in
der Ostukraine erlauben eine Vorstellung davon, wie schwierig es sein wird, einen künftigen
Waffenstillstand durchzusetzen. Damals ergab sich aus einer Kontaktlinie von 420 Kilometern und
einer Überwachungszone von jeweils 50 Kilometern Tiefe ein Gebiet von etwa 42 000
Quadratkilometern, vergleichbar mit der Größe der Schweiz. Diese Zone wurde bis zum Beginn des
Krieges am 24. Februar von 515 Beobachtern der Besonderen Beobachtungsmission (SMM) der
OSZE in der Ukraine überwacht, hinzu kam Personal für den Betrieb der Beobachtungstechnik.[12]
Laut der Beobachtungsmission wurde dieses Waffenstillstandsregime täglich mehrere hundert bis
mehrere tausend Mal verletzt, wobei auch kleinste Verletzungen gezählt wurden. Die Kontaktlinie
eines künftigen Waffenstillstandsregimes dürfte um ein Vielfaches länger und damit schwerer zu
überwachen sein und das Regime noch brüchiger als es beim Minsker Waffenstillstandsabkommen der
Fall war.
Ungeachtet all dieser Fragen sollte man sich schon jetzt auf einen Waffenstillstand vorbereiten und
dabei kann Deutschland Wesentliches beitragen. Konkret bedeutet das, konzeptionelle Alternativen
auszuarbeiten sowie Gerät und Personal bereitzustellen. Zudem ist, wenn man die Kosten für die
SMM von jährlich mindestens 150 Mio. Euro hochrechnet, mit jährlichen Kosten von bis zu einer
Mrd. Euro zu rechnen – eine enorme Herausforderung für die EU. Bei all dem muss man sich
allerdings bewusst sein, dass ein Waffenstillstand in der Ukraine tragischerweise wahrscheinlich nicht
von Dauer sein wird. Vielmehr werden ihn beide Seiten nutzen, um sich für die nächste Runde des
Krieges zu rüsten. Diese prekäre Situation, in der sich heißer Krieg und instabiler Waffenstillstand
abwechseln, kann sehr lange dauern, möglicherweise ein Jahrzehnt – oder länger. Denn ein wirklich
dauerhafter Friede scheint erst nach einem Regimewechsel in Russland möglich. Ob und wann ein
solcher stattfindet, ist derzeit jedoch völlig offen. Insofern ist der vielfach zu hörende Ruf nach einem
Sieg gegenwärtig völlig substanzlos und irreführend. Vielmehr haben wir es auf lange Sicht mit einer
extrem schwierigen und volatilen Lage zu tun.
Jenseits periodischer Waffenstillstände könnten die westlichen Sanktionen, die umfassendsten aller
Zeiten, längerfristig den Krieg entscheiden und sogar Grundlagen für einen Regimewechsel in
Russland schaffen.
Schon kurz- und mittelfristig wird es für Russland immer schwieriger werden, seine
Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten und die in der Ukraine erlittenen Verluste wieder
wettzumachen. Auch wenn die Produktion etwa von Folgemodellen des T-72-Kampfpanzers auf
sowjetischer Technologie aufbaut, sind doch bestimmte Baugruppen, beispielsweise für die
Zielerfassung und -verfolgung notwendig, für die man elektronische Halbleiter braucht. Damit aber ist
Russland abhängig von China und dem Westen, denn das Gros der elektronischen Bauteile, die
Russland in Rüstungsgütern verbaut, kommt von dort. Da Chips jetzt unter die westlichen Sanktionen
fallen, würde China bei einer fortgesetzten Lieferung derselben an die russische Rüstungsindustrie
Gefahr laufen, selbst von westlichen Halbleitern und, nicht weniger wichtig, von Ausrüstungen für die
Halbleiterindustrie abgeschnitten zu werden. Auf diese Importe aus dem Westen ist China aber
angewiesen, da es diese Dinge vielfach nicht selbst herstellen kann.[13] Der Umstand, dass Halbleiter
und entsprechende Ausrüstung im Umfang von aktuell mehr als 300 Mrd. US-Dollar den größten
Importposten Chinas noch vor Energieträgern und Nahrungsmitteln bilden, verdeutlicht die Dimension
des Problems. Ein westlicher Chipboykott Chinas würde sich – siehe das Schicksal von Huawei –, auf
die gesamte chinesische Telekommunikationsindustrie sowie viele andere Industrien und damit auf ein
wichtiges Segment des chinesischen Exports auswirken. China wird es sich also zweimal überlegen,
diese Importe zu riskieren.

Mit Sanktionen zum Regimewechsel?


Doch Sanktionen brauchen Zeit, um zu wirken, und niemand weiß wie lange. Noch länger wird es
dauern, bis die Bedingungen für einen Regimewechsel in Russland herangereift sein werden, und auch
hier werden wirtschaftliche Faktoren von zentraler Bedeutung sein. Sollte es überhaupt zu einem
Regime Change in Russland kommen, dann wird dieser wahrscheinlich weder von unten durch
demokratische Kräfte noch von oben durch Fraktionen von Herrschaftsträgern – Militärs,
Geheimdienste, also sogenannte Silowiki – ausgelöst werden, sondern durch unzufriedene Kräfte an
der russischen Peripherie: „Wenn Russlands ökonomische Schwierigkeiten den Punkt erreichen, dass
seine regionalen Gouverneure anfangen, mit Putin zu brechen, und die wirtschaftliche Ordnung, die
Putins Sicherheitsstaat über mehr als 20 Jahre aufrechterhalten hat, zusammenzubrechen beginnt, dann
könnten die Silowiki zu dem Schluss kommen, dass der Kreml die Kontrolle über das Land verliert
und dass ihre eigene Zukunft bedroht ist.“[14] Bis dahin kann es aber noch lange dauern, weshalb es
einer Übergangsstrategie im Umgang mit Russland bedarf.

In den vergangenen 30 Jahren haben viele, den Autor dieser Zeilen eingeschlossen, für den Aufbau
einer kooperativen Sicherheitsordnung in Europa geworben. An eine solche ist derzeit jedoch
überhaupt nicht zu denken. Wir haben gegenwärtig keine Ordnung, sondern blutiges Chaos, und daran
wird sich in nächster Zeit wenig ändern. Wir müssen daher einerseits verhindern, dass die Putin-
Aggression siegt, und andererseits, dass das Chaos vollständig aus den Fugen gerät und das
Eskalationsniveau immer weiter steigt. Das ist – so ernüchternd es klingt – alles, was aus
friedenspolitischer Perspektive derzeit möglich ist. Erst wenn sich die russische Politik grundlegend
ändert, und das wird ohne einen Regimewechsel nicht der Fall sein, können wir wieder über eine
kooperative Sicherheitsordnung nachdenken. Bis dahin können Jahrzehnte vergehen. Diese lange
Übergangsperiode dürfen wir jedoch nicht passiv erleiden, sondern müssen sie, so schwer es ist, aktiv
gestalten. Kampf, Konflikt und Kooperation schließen sich nicht aus, sondern lassen sich kombinieren.
Staaten, die zumindest indirekt militärisch miteinander kämpfen wie die USA und Russland, können
und sollten auf anderen Ebenen zum wechselseitigen Vorteil kooperieren.
Ein Beispiel dafür ist das Nuklearabkommen mit dem Iran. Es ist auch im gemeinsamen Interesse der
USA und Russlands, ein START-Folgeabkommen zur Begrenzung der strategischen Atomwaffen
auszuhandeln. Unterlässt man beides, werden wir eine progressive nukleare Proliferation erleben, die
weder im Interesse der USA noch Russlands oder Chinas liegt. Das gilt auch für alle anderen globalen
Probleme vom Klimawandel bis zu Pandemien.
Das heißt, dass wir uns von der überholten Alternative – Kampf oder Kooperation – lösen müssen.
Man wird gleichzeitig kooperieren, konkurrieren und kämpfen, jeweils auf unterschiedlichen Ebenen.
Diese Vorstellung ist unserem Denken noch ungewohnt, sie ist aber notwendig. Daraus folgt, dass
man sich genau überlegen sollte, aus welchen internationalen Organisationen man Russland rauswirft
und aus welchen nicht.
Ein solcher Wandel im Denken verdeutlicht aber auch, dass es ausgesprochen problematisch ist, wenn
sich Politikerinnen und Politiker öffentlich mit einem möglichen Regimewechsel in Russland
auseinandersetzen. Wir sind gezwungen, mit der Regierung der Russischen Föderation zu verhandeln
und deren Präsident heißt nun einmal Wladimir Putin. Dennoch ist es notwendig, dass sich die
Wissenschaft einschlägig mit Optionen eines Regime Change in Russland beschäftigt. Es sollte nicht
noch einmal passieren, dass wir glauben, ein Land zu verstehen, in Wirklichkeit aber noch nicht
einmal die programmatischen Schriften seiner Repräsentanten gelesen haben. Wir brauchen vielmehr
in jeder Hinsicht längerfristig angelegte Strategien – in Politik wie Wissenschaft.
[1]
 Vgl. Wolfgang Zellner, Der Zwang zur Abschreckung: Das Dilemma des Westens, in: „Blätter“, 4/2022, S.
67-74
[2]
 United Nations, General Assembly, Resolution adopted by the General Assembly on 2 March 2022,
A/RES/ES-11/1.
[3]
 Vgl. Odd Arne Westad, The Next Sino-Russian Split? Beijing will Ultimately Come to Regret its Support of
Moscow, www.foreignaffairs.com, 5.4.2022.
[4]
 Vgl. Henry Kissinger, China, München 2011, hier Kap. 3 und Kap. 9 ff.
[5]
 Kuleba will Sicherheitsgarantien: China veröffentlicht russlandkritisches Interview, www.n-tv.de, 1.5.2022.
[6]
 Wolfgang Heydrich u.a. (Hg.), Sicherheitspolitik Deutschlands: Neue Konstellationen, Risiken, Instrumente,
Baden-Baden 1992.
[7]
 Vgl. Christoph Heusgen, Es reicht nicht, immer nur als Letzter das Nötigste zu tun. Warum Deutschland die
außenpolitische Zurückhaltung aufgeben und Führung übernehmen muss, in: „Der Spiegel“, 30.4.2022.
[8]
 „Als wären wir Ukrainer”, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 10.3.2022.
[9]
 Sergei Karaganov, Russia cannot afford to lose, so we need a kind of victory, RIAC, 4.4.2022.
[10
 Ebd. (Übersetzung durch den Autor). Da es in Russland verboten ist, die „Spezialoperation“ in der Ukraine
Krieg zu nennen, wird stattdessen das Zeichen *** benutzt.
[11]
 Vgl. dazu auch den Beitrag von Susanne Güsten in dieser Ausgabe.
[12
 Vgl. Claus Neukirch, The Special Monitoring Mission to Ukraine in Its Second Year: Ongoing OSCE Conflict
Management in Ukraine, in: IFSH (Hg.), OSCE Yearbook 2015, Baden-Baden 2016, S. 231 sowie OSCE
Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), Status Report, 7.2.2022.
[13]
 Die modernsten Ausrüstungen zur Chipherstellung, etwa die EUV (Extreme Ultraviolet)-
Belichtungsmaschinen des konkurrenzlosen niederländischen Herstellers ASLM, die zur Herstellung von Chips
im kleinsten Nanometer (nm)-Bereich unabdingbar sind, werden bereits nicht mehr nach China geliefert, anders
als die eine Generation älteren DUV (Deep Ultraviolet)-Maschinen. US-Bemühungen um eine Verschärfung des
Regimes sind im Gange (vgl. www.aslm.com).
[14]
 Andrei Soldatov und Irina Borogan, Could the Siloviki Challenge Putin? What It Would Take for a Coup by
Kremlin Insiders, in: „Foreign Affairs“, 11.4.2022 (Übersetzung d. A.).

Aus: »Blätter« 6/2022, S. 61-68

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