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KOCKU VON STUCKRAD

Überlegungen zur Transformation des


esoterischen Diskursfeldes seit der Aufklärung

Die Fragestellung des vorliegenden Bandes berührt Diskussionen, die in den Reli-
gions-, Kultur- und Geschichtswissenschaften seit langem kontrovers geführt wer-
den. Dabei geht es nicht nur um die Frage, was mit ‚Esoterik‘ gemeint ist, sondern
auch um das Verhältnis von Religion und Modernisierung im ‚Westen‘ einerseits
und im globalen Vergleich andererseits.1 Der folgende Beitrag präsentiert
Überlegungen zum besseren Verständnis des Ortes und der Funktion von Religion
und Esoterik im heutigen Europa. Im Anschluss an meine früheren Beiträge zur
diskurstheoretisch fundierten Analyse von Esoterik2 stelle ich einen Deutungsan-
satz zur Diskussion, der Religion, Säkularismus und Esoterik in ihrer Wechselwir-
kung in europäischen und nordamerikanischen Diskursfeldern verortet. Dieser
theoretische Ansatz geht von der Dynamik eines ‚doppelten Pluralismus‘ aus,
welcher die europäische Religionsgeschichte charakterisiert: ein religiöser Plura-
lismus einerseits und ein Pluralismus von gesellschaftlichen Systemen anderer-
seits.3 Innerhalb dieser pluralistischen Dynamik können wir Diskurse absoluten
Wissens sowie die Dynamik des Enthüllens verborgenen Wissens als ‚esoterische
Diskurse‘ ansprechen. Dabei haben wir es nicht zuletzt mit der Genealogie moder-
ner Identitäten in einem pluralistischen Wettstreit von Wissensansprüchen zu tun.4

1 Zur Problematisierung von ‚Moderne‘ und zum Konzept der multiple modernities siehe Shmuel
N. Eisenstadt: Comparative Civilizations and Multiple Modernities. 2 Bde. Leiden 2003; Mul-
tiple Modernities. Hg. v. dems. New Brunswick 2002. M.E. sollte man von diesem Konzept
noch einen Schritt weitergehen und die Existenz von multiple modernities nicht nur im inter-
kulturellen Vergleich, sondern auch innerhalb des europäischen Kulturraumes als gegeben be-
trachten.
2 Kocku von Stuckrad: Western Esotericism: Towards an Integrative Model of Interpretation. In:
Religion 35 (2005), S. 78–97; vgl. zuletzt von dems.: Locations of Knowledge in Medieval and
Early Modern Europe. Esoteric Discourse and Western Identities. Leiden, Boston 2010. Siehe
allgemein zum diskursiven Zusammenhang zwischen Religion und Modernisierungsprozessen
Kocku von Stuckrad: Secular Religion. A Discourse-Historical Approach to Religion in Con-
temporary Western Europe. In: Journal of Contemporary Religion 28 (2013), S. 1–14.
3 Stuckrad: Locations of Knowledge (wie Anm. 2), S. 7–23; Europäische Religionsgeschichte.
Ein mehrfacher Pluralismus. 2 Bde. Hg. v. Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke u. Kocku von
Stuckrad. Göttingen 2009; vgl. auch Monika Neugebauer-Wölk: Magieglaube und Esoterik.
Brauchen wir eine neue europäische Religionsgeschichte? In: Zauber und Magie. Hg. v.
Thomas Pfeiffer. Heidelberg 2010, S. 131–161. Zur notwendigen Verbindung zwischen Ge-
schichtswissenschaft und Religionswissenschaft, gerade im Hinblick auf die Esoterik als Teil
der europäischen Religionsgeschichte, vgl. dies.: Religion als Thema der Geschichtswissen-
schaft. In: Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung. Hg. v. Friedrich
Wilhelm Graf, Friedemann Voigt. Berlin, New York 2010, S. 259–280.
4 Stuckrad: Locations of Knowledge (wie Anm. 2), S. 43–64.

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Transformation des esoterischen Diskursfeldes 97

Um die diskursiven Veränderungen sichtbar zu machen, die sich in Europa seit


dem Aufkommen des Säkularismus im 18. Jahrhundert vollzogen haben, werde ich
nach einer kurzen Diskussion der Säkularisierungsthese vier Perspektiven auf die
Rekonfigurierung religiöser Diskursfelder vorstellen, die auch der Esoterik einen
neuen kulturellen Ort verliehen haben. Im letzten Abschnitt werde ich die disku-
tierten Deutungsinstrumente am Beispiel der modernen Naturwissenschaft veran-
schaulichen.

I Nach dem Scheitern der allgemeinen Säkularisierungsthese

Zahllose Bücher und tausende Artikel haben sich seit den ‚langen 1960er Jahren‘5
der Frage gewidmet, ob der Prozess der Säkularisierung, der in Westeuropa im 18.
Jahrhundert begann, unweigerlich zum Verschwinden von Religion in Europa und
in der westlichen Welt führen würde. Dies ist nicht der Ort, um die komplexe Dis-
kussion über die allgemeine Säkularisierungsthese und ihre unzähligen Varianten
zu führen.6 Ich beschränke mich daher auf einige Grundaspekte, die in der
gegenwärtigen Debatte von den meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lern geteilt werden.
Heute herrscht Konsens darüber, dass die allgemeine Säkularisierungsthese mit
der Erwartung eines unaufhaltbaren Niedergangs der Rolle von Religion in moder-
nen Gesellschaften durch die tatsächlichen Entwicklungen seit dem Ende des 20.
Jahrhunderts falsifiziert worden ist. Schaut man sich differenziertere oder ange-
passte Versionen der Säkularisierungsthese an, so gewinnt man indes einen ande-
ren Eindruck.7 Das Konzept der Säkularisierung kann dann auf unterschiedliche
Weise verwendet werden: abnehmende Teilnahme an Kirchenaktivitäten; Übertra-
gung von Kircheneigentum in Staatseigentum; Trennung von Kirche und Staat in
modernen Verfassungen; abnehmender Einfluss der institutionalisierten Religions-
gemeinschaften in der modernen Kultur oder auch religiöse Indifferenz. Es hängt
vom jeweiligen Zuschnitt der Fragestellung ab, ob wir einen Prozess von Säkulari-
sierung konstatieren und ob wir für die Entwicklung in Europa alle Charakteristika
oder nur einige von ihnen als gegeben interpretieren.
In jüngeren Diskussionen wird deutlich, dass der Begriff der Säkularisierung
selbst eher explanandum als explanans ist. Die Säkularisierungsthese kann das

5 Callum G. Brown: The Death of Christian Britain. London 2001.


6 Vgl. dazu etwa José Casanova: Public Religions in the Modern World. Chicago 1994; David
Herbert: Religion and Civil Society. Rethinking Public Religion in the Contemporary World.
Aldershot 2003, S. 29–61; The Secularization Debate. Hg. v. William H. Jr. Swatos, Daniel V.
A. Olson. Lanham 2000.
7 Wichtiger Vertreter dieser komplexen Interpretationslinie ist David Martin, vgl. ders.:
Secularization. Towards a Revised General Theory. Aldershot 2005. Siehe jetzt auch Steve
Bruce: Secularization. In Defence of an Unfashionable Theory. Oxford 2011.

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Verhältnis von Religion und Modernisierung nicht hinreichend erklären; vielmehr


ist die These selbst Bestandteil der Genealogie moderner westlicher Identitäten und
Narrative. Darum ist es sinnvoll, bei der Analyse von Prozessen religiösen Wan-
dels die ‚Formierung des Säkularen‘8 direkt an die neue ‚Formierung des Religiö-
sen‘ in der modernen Welt zu koppeln. Dabei können wir uns der Terminologie
José Casanovas anschließen, der eine „grundsätzliche analytische Unterscheidung“
vorschlägt „between ‚the secular‘ as a central modern epistemic category, ‚secula-
rization‘ as an analytical conceptualization of modern world-historical processes,
and ‚secularism‘ as a worldview“.9 Nähert man sich dem Phänomen aus dieser
Richtung, so erkennt man, dass der Säkularismus keineswegs das Ende der Reli-
gion mit sich gebracht hat; vielmehr haben die kulturellen Prozesse, welche den
Säkularismus hervorbrachten, auch dem Religiösen einen neuen Ort im kulturellen
Diskurs gegeben.
In ähnlicher Weise notiert auch David Herbert, dass das Verhältnis von Religion
und Moderne anders formuliert werden sollte, als es die Säkularisierungsthese
vorgibt. Auch wenn Modernisierung „tends to weaken the power of traditional
religious institutions because of the diversification of channels and forms of com-
munication in modernity“,10 führt doch die Mediatisierung moderner Kommunika-
tion nicht zwangsläufig zu Säkularisierung.
Rather, religion as discourse can become the central medium of public communication. And
even in cases where religion does not become the dominant language of protest […] religious
discourses and practices can still thrive alongside advanced technology, mass literacy and ur-
banization. Thus, in both cases, and to borrow Foucault’s […] metaphor derived from the
French Revolution, cutting off the head of the king does not destroy power but disperses it
more widely through the system. Indeed, it may even intensify its disciplinary effects. So with
religion, whose modern discursive power may even exceed its traditional institutionalized
power.11

Mit dem Begriff des Diskurses ist ein Hinweis gegeben, wie wir die Schwierigkeiten
der Säkularisierungsthese möglicherweise vermeiden können. Ich habe an anderer
Stelle dafür geworben, eine diskursive Religionswissenschaft zu erarbeiten, die
Religion als Kommunikation betrachtet, die in diskursiven Prozessen und in religi-

8 Der Ausdruck verweist auf Talal Asad: Formations of the Secular. Christianity, Islam, Moder-
nity. Stanford 2003. Zu Asads wichtigen Diskussionsbeiträgen siehe Powers of the Secular
Modern. Talal Asad and His Interlocutors. Hg. v. David Scott, Charles Hirschkind. Stanford
2006. Zur Formierung des Säkularismus siehe ferner Charles Taylor: A Secular Age. Cam-
bridge 2007; sowie als jüngste Beiträge The Power of Religion in the Public Sphere. Judith
Butler u.a. Hg. v. Eduardo Mendieta, Jonathan van Antwerpen. New York 2011; Rethinking
Secularism. Hg. v. Craig Calhoun, Mark Juergensmeyer u. Jonathan Van Antwerpen. Oxford
2011.
9 José Casanova: The Secular and Secularisms. In: Social Research 76/4 (2009), S. 1049–1066,
hier S. 1049.
10 Herbert: Religion and Civil Society (wie Anm. 6), S. 58.
11 Ebd., S. 58f.

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ösen Feldern Deutungen hervorbringt und legitimiert.12 Bei den kulturellen und po-
litischen Veränderungen seit dem 18. Jahrhundert in Europa haben wir es aus die-
ser Sicht mit einem dialektischen Prozess der Umformung des säkularen und reli-
giösen Diskursfeldes zu tun, nicht jedoch mit einer unaufhaltbaren Säkularisierung.
Die Kritik an gängigen Säkularisierungstheorien hat noch nicht zu einem Kon-
sens geführt über ein Modell, das den Zusammenhang von Religion und Moderne
besser abbilden würde. Manche sprechen von einer „Rückkehr der Religion“ (als
wenn ‚Religion‘ eine Zeit lang verschwunden gewesen wäre), andere von „Entsä-
kularisierung“ oder vom „Postsäkularen“ (als wenn Säkularisierung stattgefunden
habe, aber nun durch etwas anderes abgelöst werde). Es gilt abzuwarten, welches
theoretische Modell sich in Zukunft wird etablieren können. Im folgenden Ab-
schnitt werde ich einige Überlegungen präsentieren, wie die Transformation des
religiösen und säkularen Diskursfeldes konkret gedacht werden kann. Dies hat
direkte Auswirkung auf den Ort von Esoterik in modernen westlichen Gesell-
schaften.

II Die Umformung religiöser und säkularer Diskursfelder:


Vier Perspektiven

Betrachtet man Religion als ein sich ständig wandelndes Diskursfeld, dessen Dy-
namik den Ort und die Funktion von Religion in der modernen Welt bestimmt, so
stellt sich die Frage, wie man die Transformation dieses Diskursfeldes im Laufe
der letzten dreihundert Jahre begrifflich fassen und analysieren kann. Um diese
Frage zu klären, werde ich im Folgenden vier „Perspektiven religiösen Wandels“
diskutieren, welche nicht nur die Wege und Formen diskursiver Veränderung be-
nennen, sondern auch die wichtigsten kulturellen Systeme identifizieren, in denen
sich jene Veränderungen materialisieren und sichtbar werden. In diesen Systemen
ist dann auch das Datenmaterial zu suchen, mit dem die diskursiven Veränderun-
gen beschrieben werden können. Meine These ist, dass die religiöse Landschaft in
Europa seit der Aufklärung eine Neustrukturierung erfahren hat durch (a) neue

12 Vgl. dazu Kocku von Stuckrad: Discursive Study of Religion. From States of the Mind to
Communication and Action. In: Method & Theory in the Study of Religion 15 (2003), S. 255–
271; sowie ders.: Reflections on the Limits of Reflection. An Invitation to Discursive Study of
Religion. In: Method and Theory in the Study of Religion 22 (2010), S. 156–169. Dieser An-
satz lässt sich ohne weiteres kombinieren mit neueren Überlegungen zur Dispositivanalyse;
siehe Andrea D. Bührmann, Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld 2008;
Siegfried Jäger, Florentine Maier: Theoretical and Methodological Aspects of Foucauldian
Critical Discourse Analysis and Dispositive Analysis. In: Methods of Critical Discourse Analy-
sis. Hg. v. Ruth Wodak, Michael Meyer. 2. Aufl. London 2010, S. 34–61. Zur Diskurstheorie
in der Geschichtswissenschaft siehe insb. Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Dis-
kursanalyse. Frankfurt a.M. 2003, sowie Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. 2.
Aufl. Frankfurt a.M., New York 2009.

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Formen von Vergemeinschaftung, (b) die Verwissenschaftlichung religiöser Deu-


tungen, (c) neue Formen ästhetischer Repräsentation und (d) die Herausbildung
von neuen öffentlichen Räumen, welche die Neutralität des demokratischen Ver-
fassungsstaates im 20. und 21. Jahrhundert herausfordern. Die den vier Perspekti-
ven unterliegenden Prozesse können als Vergemeinschaftung, Verwissenschaftli-
chung, Ästhetisierung und Formierung von Öffentlichkeit beschrieben werden.

1 Vergemeinschaftung

Um das Verhältnis von öffentlichen und privaten Räumen in modernen westlichen


Gesellschaften zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick auf die Formen von
Gemeinschaft werfen, wie sie seit der Aufklärung entstanden sind. Diesen Prozess
als ‚Vergemeinschaftung‘ zu beschreiben schließt an bei der einflussreichen sozi-
ologischen Unterscheidung zwischen primären und sekundären Gruppenverbänden.
Einer der ersten, der diese konzeptionelle Abgrenzung vornahm, war Ferdinand
Tönnies.13 Er unterschied die ‚Gemeinschaft‘, vergleichbar mit der primären Grup-
penbindung vormoderner Gesellschaften, von der ‚Gesellschaft‘, welche im
Grunde mit den unpersönlichen Gruppenbindungen korrespondiert, wie sie die
modernen Stadtgesellschaften ausgebildet haben. 1890 nahm Georg Simmel diese
Unterscheidung auf und führte zwei Grundtypen von Gruppen ein – einerseits jene
Gruppen, in denen persönliche Eigenschaften die Verhältnisse bestimmen (Freund-
schaft, Verwandtschaft etc.), andererseits jene Gruppen, die durch die offizielle
Position eines Individuums beherrscht werden.14
Max Weber war es, der das heutige soziologische Verständnis dieser Begriffe
etablierte. Er definierte ‚Vergemeinschaftung‘ als „eine soziale Beziehung […],
wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im
Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder
traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht“.15 Hiervon grenzte er
den Begriff ‚Vergesellschaftung‘ folgendermaßen ab: „‚Vergesellschaftung‘ soll
eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Han-
delns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder
auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.“16 Mit dieser idealtypischen
Beschreibung der Organisation sozialen Handelns lassen sich auch neue Formen

13 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Leipzig 1887.


14 Georg Simmel: Über sociale Differenzierung. In: Georg Simmel: Gesamtausgabe. Bd. 2. Hg. v.
Heinz-Jürgen Dahme. Frankfurt a.M. 1989.
15 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1922, S. 21; siehe auch Martin Riesebrodt:
Religiöse Vergemeinschaftungen. In: Max Webers ‚Religionssystematik‘. Hg. v. Hans G. Kip-
penberg, Martin Riesebrodt. Tübingen 2001, S. 101–117.
16 Ebd.; Weber weist darauf hin, dass „[d]ie große Mehrzahl sozialer Beziehungen aber […] teils
den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung“ hat (Weber: Wirt-
schaft und Gesellschaft [wie Anm. 15], S. 22).

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der Vergemeinschaftung analysieren, wie sie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts
herausgebildet haben.
Ein Weiteres kommt hinzu: In der soziologischen Diskussion über die Entste-
hung moderner westlicher Sozialformen spielt der Begriff der Individualisierung
eine entscheidende Rolle. Wir haben es hier mit einem Paradox zu tun, denn auf
der einen Seite will es das gängige Narrativ, dass Modernisierung zu einer erhöhten
Individualisierung und zu einer Hinwendung zum inneren Selbst als Quelle religiö-
ser Erfahrung geführt habe. Charles Taylor und Anthony Giddens halten dieses
disembedding für ein Grundmerkmal von Modernisierung. Giddens definiert dis-
embedding als „the ‚lifting out‘ of social relations from local contexts of interac-
tion and their restructuring across indefinite spans of time-space“.17 Auf der ande-
ren Seite ist die These der Individualisierung schwer in Einklang zu bringen mit
der These, dass Religionen im 20. Jahrhundert massiv die öffentlichen Räume
beherrschen.18 Vielleicht lässt sich der Widerspruch auflösen, wenn man bedenkt,
dass ‚entbettete‘ religiöse Identitäten nicht notwendigerweise privat sein müssen.
Die These der Individualisierung ist selbst Teil einer Verlusterzählung von Mo-
derne als ‚Ende von Gemeinschaft und Sinn‘. Wir sollten demgegenüber in Rech-
nung stellen, dass auf diskursiven Feldern neue Akteure auftreten können, die
Zugang zu symbolischen Formen von Kapital suchen, einschließlich Akteuren mit
einer individualistischen Botschaft.
Nicht selten können wir beobachten, dass Individualisierung gerade nicht zu
solipsistischen Formen religiöser Erfahrung geführt hat, sondern – wie Emile
Durkheim schon vor hundert Jahren prognostizierte – zu einer Ideologie des Indi-
viduums und zu neuen Gemeinschaften, welche Individualität propagieren. Das
vielleicht beste Beispiel hierfür ist die so genannte New-Age-Bewegung, in der die
religiöse Suche hochgradig individualisiert ist und gleichsam von den Mitgliedern
erwartet wird. Zugleich ist jedoch das Spektrum von Texten und Erfahrungen für
die Teilnehmer durchaus beschränkt und geradezu kanonisiert – ein Phänonomen,
das Olav Hammer den „individualistischen Imperativ“ nennt.19 Auch andere, neue
Formen von Gemeinschaft stehen den individualisierten Sinnsuchern zur Verfü-
gung, einschließlich Lesegemeinschaften (von popularisierter Wissenschaft bis hin

17 Anthony Giddens: Consequences of Modernity. Stanford 1990, S. 21. Zum Phänomen eines
‚globalisierten‘ disembedding siehe William A. Stahl: Religious Opposition to Globalization.
In: Religion, Globalization, and Culture. Hg. v. Peter Beyer, Lori Beaman. Leiden, Boston
2007, S. 335–353, hier S. 345f.
18 Als einflussreichen Essay mit der dahinterstehenden These des Öffentlich-Werdens von Reli-
gion siehe Casanova: Public Religions in the Modern World (wie Anm. 6).
19 Olav Hammer: I Did It My Way? Individual Choice and Social Conformity in New Age Reli-
gion. In: Religions of Modernity. Relocating the Sacred to the Self and the Digital. Hg. v. Stef
Aupers, Dick Houtman. Leiden, Boston 2010, S. 49–67. Zu Prozessen von Gemeinschaftsbil-
dung im Neopaganismus siehe auch Sarah M. Pike: Earthly Bodies, Magical Selves. Contem-
porary Pagans and the Search for Community. Berkeley 2001.

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zur Harry-Potter-Serie)20 und virtuelle Gemeinschaften, die im Zuge der Internetre-


volution entstanden sind.21

2 Verwissenschaftlichung

Eine zweite Perspektive auf die Umformung des religiösen Diskursfeldes besteht
im Prozess der Verwissenschaftlichung. In diesem vielschichtigen Prozess stehen
Konzepte von zugeschriebenem und legitimiertem Wissen im Mittelpunkt. Wichtig
ist zunächst, dass im Laufe der letzten einhundertfünfzig Jahre die Religionswis-
senschaft als akademische Disziplin an westeuropäischen Universitäten etabliert
worden ist. Dies führte zu einer Professionalisierung von Religionswissen und zu
einer interdisziplinären Behandlung des Themas in Anthropologie (Ethnologie),
Soziologie, Geschichtswissenschaft (zunächst vor allem Altertumswissenschaft)
und Vergleichender Religionswissenschaft. Ein enormer Zuwachs an Quellenmate-
rial durch kritische Editionen – sowohl für Fachleute als für Laien – ist seit dem
19. Jahrhundert ein weiteres Merkmal der hier beschriebenen Dynamik.22
Clifford Geertz, Hayden White und andere haben darauf hingewiesen, dass
Religionswissenschaftler immer auch Autoren sind, deren Werk Einfluss ausübt
auf ihren Forschungsgegenstand.23 Mit anderen Worten: Im Zuge des linguistic
turn und der writing-culture-Debatte hat die Religionswissenschaft ihre imaginierte
Rolle als schlichte Beobachterin eingebüßt, und Wissenschaftler betraten religiöse
Diskursfelder als Akteure mit eigenen Interessen. Sie standardisieren, normieren
und verbreiten Wissensbestände über Religion in einem so hohen Maße, dass sie
bisweilen geradezu als Religionsstifter anzusprechen sind. Dies gilt insbesondere

20 Zu früheren Formen von Lesegemeinschaften siehe Stephen Colclough: Consuming Texts.


Readers and Reading Communities, 1695–1860. Basingstoke 2007. Zu popularisierter Wissen-
schaft, die einen großen Einfluss auf die moderne Esoterik ausübt, siehe Peter J. Bowler: Sci-
ence for All. The Popularization of Science in Early Twentieth-Century Britain. Chicago 2009;
Jane Gregory, Steve Miller: Science in Public. Communication, Culture, and Credibility. Lon-
don 1998; Mary Midgley: Science as Salvation. A Modern Myth and its Meaning. London
1992 und vor allem Elizabeth Leane: Reading Popular Physics. Disciplinary Skirmishes and
Textual Strategies. Aldershot 2007.
21 Siehe dazu etwa Felicia Wu Song: Virtual Communities. Bowling Alone, Online Together.
New York 2009; Virtual Social Networks. Mediated, Massive and Multiplayer Sites. Hg. v.
Niki Panteli. Basingstoke 2009; Dongyoung Sohn: Social Network Structures and the Internet.
Collective Dynamics in Virtual Communities. Amherst 2008; Religions of Modernity. Relo-
cating the Sacred to the Self and the Digital. Hg. v. Stef Aupers, Dick Houtman. Leiden, Bos-
ton 2010.
22 Ausführlich dazu Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religions-
wissenschaft und Moderne. München 1997.
23 Clifford Geertz: Works and Lives. The Anthropologist as Author. Cambridge 1989; Hayden
White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore
1973; siehe auch Friedrich H. Tenbruck: Die Religion im Maelstrom der Reflexion. In: Reli-
gion und Kultur: Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 33
(1993), S. 31–67.

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für die Theosophische Gesellschaft, die moderne Hexenbewegung, den Neopaga-


nismus, den modernen westlichen Schamanismus und andere kulturelle Milieus im
Kontext der New-Age-Bewegung. Diese Gruppen und Bewegungen sind durch
historische Theorien zur nichtchristlichen Geschichte europäischer Kultur maß-
geblich beeinflusst worden.24
Der Prozess der Verwissenschaftlichung hat jedoch noch eine andere wichtige
Dimension. Seit dem 18. Jahrhundert ist eine Episteme (im Sinne Foucaults) ent-
standen, welche die Methoden und Theorien der Naturwissenschaft als das einzige
legitime Wissen über die Welt anerkennt. In einer Bewegung, die ich ‚polemische
Disjunktion‘ nenne, sind Wissenskulturen, die noch in der frühen Neuzeit eng
zusammen gehörten, polemisch gegeneinander in Stellung gebracht worden und
galten fortan als sich ausschließende Gegensätze: Astrologie gegen Astronomie,
Alchemie gegen Chemie oder Magie gegen Naturwissenschaft. Zugleich jedoch
stellen wir fest, dass religiöse und metaphysische Elemente früherer Naturfor-
schung noch immer Teil des metaphorischen und funktionalen Arsenals moderner
Naturwissenschaft sind, eine Bewegung, die ich ‚subkutane Kontinuität‘ nenne.25
Wie ich noch erläutern werde, können Naturwissenschaftler auf religiösen Diskurs-
feldern als Interpreten der ‚letzten Dinge‘ auftreten und damit religiöse Sinnzu-
schreibungen liefern, welche die Grenzen wissenschaftlicher Argumentation deut-
lich überschreiten.
Die neue Episteme führte auch dazu, dass religiöse Akteure nun zu naturwissen-
schaftlichen Erklärungen greifen müssen, um ihre Wissensansprüche zu legitimie-
ren. Erneut ist das Diskursfeld ‚Esoterik‘ ein ausgesprochen gutes Beispiel hierfür,
von der Theosophischen Gesellschaft bis hin zum New Age.26 Doch der Zwang zur
wissenschaftlichen Begründung ist auch in anderen religiösen Kontexten sichtbar.
Die Römisch-Katholische Kirche ist selbst Akteur auf diesem Feld, etwa wenn sie
behauptet, es gäbe wissenschaftliche Beweise für die Unwirksamkeit von Kondo-
men gegen HIV/AIDS.27 Die päpstliche Akademie der Wissenschaften organisiert
regelmäßig Konferenzen, die eine Brücke schlagen zwischen religiösen Interessen

24 Ich habe dies am Beispiel des Schamanismus erörtert in: Kocku von Stuckrad: Schamanismus
und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen. Leuven 2003, S. 279–
284; z.B. des Neopaganismus und der modernen Hexenreligion siehe Ronald Hutton: The Tri-
umph of the Moon. A History of Modern Pagan Witchcraft. Oxford 1999, sowie jüngst ders.:
Writing the History of Witchcraft. A Personal View. In: The Pomegranate. The International
Journal of Pagan Studies 12 (2010), S. 239–262.
25 Siehe Kocku von Stuckrad: „Zo zijn we niet getrouwd“. Religie, natuurwetenschap en de
radicalisering van de moderniteit. Antrittsvorlesung für den Lehrstuhl Religionswissenschaft,
Universität von Groningen. Groningen 2010.
26 Zum New Age siehe Olav Hammer: Claiming Knowledge. Strategies of Epistemology from
Theosophy to the New Age. Leiden, Boston 2001, S. 201–330 (Kap. „Scientism as a Language
of Faith“).
27 Siehe Gustavo Benavides: Western Religion and the Self-Canceling of Modernity. In: Journal
of Religion in Europe 1 (2008), S. 85–115, hier S. 104f.

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und naturwissenschaftlicher Erklärung. Ein repräsentatives Beispiel ist die „Studi-


enwoche zur Astrobiologie“ im Jahr 2009. Im Programmheft heißt es:
Astrobiology is the study of life’s relationship to the rest of the cosmos: its major themes in-
clude the origin of life and its precursor materials, the evolution of life on Earth, its future pro-
spects on and off the Earth, and the occurrence of life elsewhere. Behind each of these themes
is a multidisciplinary set of questions involving physics, chemistry, biology, geology, astron-
omy, planetology, and other fields, each of which connects more or less strongly to the central
questions of astrobiology.28

Dieses Beispiel zeigt nicht nur die Dynamik von Verwissenschaftlichung. Es macht
auch deutlich, dass die modernen esoterischen Diskursfelder – in diesem Fall die
‚mystische Astronomie‘ – auf allen Seiten offen sind und keineswegs nur durch
marginale Akteure bevölkert werden.

3 Ästhetisierung

Die dritte hier zu behandelnde Perspekive auf religiösen Wandel durch die Ver-
schränkung von religiösen und säkularen Diskursfeldern nenne ich Ästhetisierung.
Als Ergebnis des cultural turn wurde Ästhetik als analytisches Konzept eingeführt,
das sich deutlich von der dominanten Philosophie von Kunst und Schönheit unter-
schied. Der Begriff geht auf Aristoteles’ Konzept von aisthesis zurück, welches
sich auf den Prozess von Sinneswahrnehmung und der Zuschreibung von Bedeu-
tung an Wahrnehmungen bezieht.29 Als ein theoretisches Konzept in der Religions-
und Kulturwissenschaft stellt der Begriff der Religionsästhetik eine kritische Re-
aktion dar auf (protestantische) Konzeptionalisierungen von Religion als Text,
Glaube, sowie Bezugnahmen auf ‚körperlose‘ persönliche Bewusstseinszustände.
Das Forschungsfeld hat sich in direkter Nähe zu Theorien der Performanz, materi-
eller Kultur und Körperlichkeit entwickelt, doch auch zur Anthropologie der Sinne,
historischer Anthropologie und Medienwissenschaft. Ästhetische Zugangsweisen
analysieren die Rolle der Sinne und des Körpers in religiösen Diskursen, und sie
rekonstruieren die Geschichte ästhetischer Formen ebenso wie die Beziehung zwi-
schen Religion und Kunst.30

28 The Pontifical Academy of Sciences. Study Week on Astrobiology, 6–10 November 2009,
Casino Pio IV. Vatican City: The Pontifical Academy of Sciences, 2009, S. 3. Online zugäng-
lich unter URL: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_academies/acdscien/2009/book
let_astrobiology_17.pdf [02.10.2010].
29 Die Literatur ist umfangreich. Siehe etwa Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhes-
tik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001; Horst Bredekamp: Theorie des Bild-
akts. Berlin 2010; Übersicht in Birgit Meyer, Jojada Verrips: Aesthetics. In: Keywords in Reli-
gion. Media and Culture. Hg. v. David Morgan. London 2008, S. 20–30.
30 Hubert Cancik, Hubert Mohr: Religionsästhetik. In: Handbuch religionswissenschaftlicher
Grundbegriffe. Hg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow u. Matthias Laubscher. Bd. 1. Stutt-
gart 1988, S. 121–156; Susanne Lanwerd: Religionsästhetik. Studien zum Verhältnis von Sym-
bol und Sinnlichkeit. Würzburg 2002; Alexandra Grieser: Aesthetics. In: Vocabulary for the

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Theoretiker der Moderne haben darauf hingewiesen, dass Ästhetisierung ein


entscheidendes Element des Modernisierungsprozesses ist. Sie beziehen sich dabei
auf eine Zunahme von Stilisierung, Design und ‚Künstlichkeit‘ in allen Lebensbe-
reichen. Wissenschaftler haben dies für die Alltagswelt und die „ästhetische Refle-
xivität“ in der Postmoderne untersucht,31 für die politische Bedeutung von Ästhe-
tik, oder auch für die geänderte Subjektivität und die „Technologien des Selbst“ in
der Moderne.32
Doch die zentrale Verbindung zwischen Religion und ästhetischen Aspekten
von Modernisierung ist nur selten in den Blick genommen worden. Es war sicher
kein Zufall, dass das 18. Jahrhundert die Ästhetik in doppelter Weise etablierte –
als akademische Disziplin und als ein Kunstideal. Die Verbindung zwischen religi-
ösen und säkularen Diskursfeldern in der Moderne steht also in der Tradition von
Aufklärung und romantischer Ästhetik. Friedrich Schleiermachers Neudefinition
von Religion in ästhetischen Begriffen kam in diesem Prozess eine hohe Bedeu-
tung zu. Durch seine radikale Ästhetisierung von Religion als Erfahrung lieferte
Schleiermacher die Vorlage für religionswissenschaftliche Definitionen von Reli-
gion, doch auch für romantische Diskussionen über Kunst, Natur und Wissen-
schaft.33
Als Referenzrahmen kann Religionsästhetik uns helfen, den Ort von Religion in
säkularen Diskursen besser zu verstehen. Im 20. Jahrhundert war Kunst noch we-
niger als zuvor Trägerin von Schönheit, sondern vor allem auch Trägerin von
Wahrheit und Bedeutung, und in dieser Eigenschaft übernahm sie Funktionen, die
davor mit dem religiösen Feld assoziiert waren. Ein hervorragendes Beispiel hier-
für sind die diskursiven Transfers und Neukonfigurationen zwischen Naturwissen-
schaft, Okkultismus und Kunst in der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Um 1900 wurden wissenschaftliche Entdeckungen wie n-Dimensionalität, Rönt-
genstrahlen und Elektromagnetismus in okkultistischen Diskursen aufgenommen
und durch Künstler der Avantgarde als ‚okkulte vierte Dimension‘, ‚hellsichtige
Röntgen-Vision‘ oder ‚Gedankenvibration‘ in ihren Werken verarbeitet.34

Study of Religion. Hg. v. Robert Segal, Kocku von Stuckrad. 3 Bde. Leiden, Boston 2013 [im
Erscheinen].
31 Ulrich Beck, Anthony Giddens u. Scott Lash: Reflexive Modernization. Politics, Tradition and
Aesthetics in the Modern Social Order. Cambridge 1994.
32 Michel Foucault: Aesthetics, Method, and Epistemology. In: Essential Works of Foucault,
1954–1984. Bd. 2. Hg. v. James D. Faubion. London 2000.
33 Siehe dazu Interpreting Religion. The Significance of Friedrich Schleiermacher’s ‚Reden über
die Religion‘ for Religious Studies and Theology. Hg. v. Dietrich Korsch, Amber L. Griffioen.
Tübingen 2011. Zur Ästhetik der Romantik und ihrem Verhältnis zur Esoterik siehe auch Linda
Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im
18. Jahrhundert. Heidelberg 2002.
34 Tessel M. Bauduin: Science, Occultism and the Art of the Avant-Garde in the Early Twentieth
Century. In: Journal of Religion in Europe 5/1 (2012) [im Druck]; siehe auch Trancemedien
und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf die Moderne. Hg. v. Marcus Hahn, Erhard
Schüttpelz. Bielefeld 2009.

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106 Kocku von Stuckrad

4 Die Herausbildung von neuen öffentlichen Räumen

Eines der zentralen Elemente des dominanten Säkularisierungsnarrativs ist die


Überzeugung, dass Säkularismus und Aufklärung eine Antwort waren auf die
verheerenden Religionskriege im Gefolge der Reformation. Natürlich stimmt es,
dass wichtige Vertreter der Aufklärung wie Jean-Jacques Rousseau und Immanuel
Kant ihre Religionskritik auf eben jenes Konfliktpotenzial des religiösen Irrationa-
lismus gründeten. Sie wollten den Einfluss von Religion begrenzen, doch zugleich
hielten sie an einer religion civile oder einer Vernunftreligion als einem notwendi-
gen sozialen Band in zukünftigen demokratischen Verfassungen fest. Eine ‚gute
Religion‘ dient demnach den Idealen des modernen säkularen Staates.
Auch wenn die Verfassungen europäischer Staaten keineswegs einheitlich sind,
wenn es um das Verhältnis von Religion und Staat geht,35 können wir doch allge-
mein festhalten, dass diese Verfassungen um einen Ausgleich zwischen Freiheit
von Religion und Freiheit der Religion bemüht sind. Dem Staat und seiner Legisla-
tive wurde dabei die Rolle des neutralen Beobachters und Schiedsrichters in religi-
ösen Angelegenheiten zugewiesen. Dieses verfassungsrechtliche Ideal wurde sehr
bald in eine Meistererzählung mit beinahe mythischen Ausmaßen verwandelt, etwa
im Kampfbegriff der „radikalen Aufklärung“.36 Dieses wirkmächtige Verständnis
von Religion und Staat hat die tatsächliche Verstrickung von religiösen und säkula-
ren Diskursen in Politik und Recht der Moderne verschleiert. Von einem diskursi-
ven Ansatz her ist die juristische Regulierung von Religion eine Materialisierung
und Fortsetzung europäischer Ideen über Religion, deren Genealogie bis ins römi-
sche Recht und die Ursprünge christlicher Staatsmacht zurückreichen. Modernes
Verfassungsrecht „created a model of religious plurality in which the idea of the
right religion, as a shared societal property, lived on“.37 Die Annahme, Religion
diene dem Allgemeinwohl, ist eine Konstante europäischer Religionsgeschichte.
Die damit eng verbundene Frage, ob Religion öffentlich oder privat sei, hat deren
politische und rechtliche Regulierung gleichfalls beeinflusst, von der römischen
Antike bis heute.
Ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang wichtig: Die Frage der
Herausbildung des öffentlichen Raumes hat die soziologische und philosophische
Diskussion des 20. Jahrhunderts wiederholt beschäftigt.38 Denker wie Jürgen

35 Christian Walter: Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive.


Tübingen 2006; Sabine Riedel: Models of Church-State Relations in European Democracies.
In: Journal of Religion in Europe 1 (2008), S. 251–272.
36 Ein Beispiel hierfür ist Jonathan Israel: A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and
the Intellectual Origins of Modern Democracy. Princeton 2010.
37 Hans G. Kippenberg: Europe. Arena of Pluralization and Diversification of Religions. In:
Journal of Religion in Europe 1 (2008), S. 133–155, hier S. 143.
38 Wichtige Beiträge sind Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied 1962;
Casanova: Public Religions in the Modern World (wie Anm. 6); Taylor: A Secular Age (wie
Anm. 8); Butler u.a.: The Power of Religion in the Public Sphere (wie Anm. 8).

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Transformation des esoterischen Diskursfeldes 107

Habermas betrachten das 18. Jahrhundert als den Geburtsort des öffentlichen Rau-
mes, in dem demokratische zivile Gesellschaften gedeihen können. Dieses Ver-
ständnis eines einheitlichen öffentlichen Raumes wurde durch andere Wissen-
schaftler in Zweifel gezogen. Das Konzept sollte denn auch durch ein Modell
ersetzt werden, das von einer Vielfalt mitunter konfligierender öffentlicher Räume
ausgeht.39 Doch auch wenn die Eigenschaften öffentlicher Räume, welche die
modernen westlichen Gesellschaften beherrschen, noch einer genaueren Analyse
harren, besteht unter heutigen Wissenschaftlern zumindestens Einverständnis dar-
über, dass die letzten dreihundert Jahre eine neue Form von öffentlichen Räumen
hervorgebracht haben, die davor so nicht zu beobachten war.
Der diese Entwicklung vorantreibende Prozess des in neuen Formen Öffentlich-
Werdens auch von Religion hat soziale Arenen geschaffen, welche die verfassungs-
rechtliche Trennung von Religion und Staat zunehmend in Frage stellen. Neue
rechtliche Formen ermöglichen es privaten Religionen, öffentliche Räume zu be-
setzen,40 beispielsweise durch ziviles Engagement in non-governmental organiza-
tions (NGO’s) oder durch radikale öffentliche Handlungen und Forderungen. Die
neue öffentliche Präsenz von Religion hat ein völlig anderes Gesicht als die traditi-
onelle Staatsreligion. Heute wird der öffentliche Status von Religion in Parlamen-
ten und Gerichtssälen neu verhandelt. Neue Akteure betreten die diskursiven Fel-
der und streiten um den Zugang zu sozialem und symbolischem Kapital, wobei
Politiker und Wissenschaftler nicht selten Allianzen schmieden oder einander
diametral gegenüber stehen. Wenn Richter Definitionen von Religion anwenden
oder die öffentliche Sichtbarkeit von Religion (Schleier, Kruzifixe) beurteilen
müssen und damit aktiv in die Ausbalancierung konfligierender Freiheitsrechte ein-
greifen, ist die Trennung von Religion und Staat zur bloßen Fassade geworden.41
Erneut können wir konstatieren, dass der Säkularismus – zweifellos eines der
wichtigsten ideologischen Fundamente des modernen Verfassungsstaates – nicht zu
einer Kontrolle von Religion geführt hat, sondern zu einer Neuordnung des religiö-
sen Diskursfeldes.
Die von mir vorgestellten vier Perspektiven geben uns einen Referenzrahmen an
die Hand, mit dessen Hilfe wir den Ort von Religion in modernen westlichen Ge-
sellschaften besser analysieren können. Im letzten Abschnitt dieses Beitrags
möchte ich das entwickelte Deutungsinstrument auf ein Thema des heutigen esote-
rischen Diskurses anwenden. Mein Beispiel kann ich hier keineswegs erschöpfend

39 Siehe dazu Herbert: Religion and Civil Society (wie Anm. 6), S. 96–103.
40 José Casanova nennt dies die „Entprivatisierung von Religion“ (Casanova: Public Religions in
the Modern World [wie Anm. 6], S. 5f).
41 Siehe dazu Die verrechtlichte Religion. Der Öffentlichkeitsstatus von Religionsgemeinschaf-
ten. Hg. v. Hans G. Kippenberg, Gunnar Folke Schuppert. Tübingen 2005; Astrid Reuter:
Charting the Boundaries of the Religious Field. Legal Conflicts over Religion as Struggles over
Blurring Borders. In: Journal of Religion in Europe 2 (2009), S. 1–20; After Secular Law. Hg.
v. Winnifred Fallers Sullivan u.a. Stanford 2011.

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108 Kocku von Stuckrad

behandeln; vielmehr geht es mir darum, schlaglichtartig zu zeigen, wie die ver-
schiedenen Dynamiken diskursiver Transformation zugleich auftreten konnten und
wie dadurch die frühneuzeitliche Esoterik im 20. und 21. Jahrhundert in neuer
Form weiterlebte.

III Beispiele diskursiver Transformation: Esoterik und Genforschung

Fragen zur ‚Tiefenstruktur des Kosmos‘ haben esoterische Diskurse seit der Antike
immer wieder beschäftigt. Diese konnten sich auf Vorstellungen von der sprachli-
chen Kodierung des Universums beziehen, von der schöpferischen Kraft des Gött-
lichen, oder auf die Erfahrungsdimension unseres Wissens von Natur und Welt.
Die damit einhergehenden Debatten hatten seit dem Mittelalter und der frühen
Neuzeit maßgeblichen Einfluss auf die Ausformung moderner Identitäten im Wes-
ten. Zentrale philosophische und wissenschaftliche Alternativen wurden in diesem
Zusammenhang formuliert, wobei der jüdischen und christlichen Kabbalah eine
oftmals unterschätzte Bedeutung zukam.42
Dass der Kosmos aus Buchstaben und Zahlen aufgebaut ist, dass die Kabbalah
‚Torah‘ als Gewebe von ontologisch bedeutsamen Trägern von Wahrheit betrach-
tete, und dass der ‚Code‘ des Lebens nicht nur entziffert, sondern auch magisch
verändert werden kann, ist die Grundüberzeugung einflussreicher religiöser, philo-
sophischer und wissenschaftlicher Strömungen der europäischen Geistesgeschich-
te. Interessant für unseren Zusammenhang hier ist die Beobachtung, dass auch die
Lebenswissenschaften – life sciences – des 20. und 21. Jahrhunderts in diese
longue durée gehören. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht sind die Lebenswissen-
schaften, in denen es unter anderem um die Entzifferung des menschlichen Ge-
noms geht, Beispiele für das Lesen und Schreiben des Buches der Natur.43 Meta-
phern der Kodierung und Dekodierung prägen die öffentlichen Debatten über den
Fortschritt der Biologie und die in Aussicht gestellte Möglichkeit der Schöpfung
von Leben. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass wissenschaftliche Metaphern –
wie Philipp Sarasin auf der Grundlage von Ludwik Flecks Wissenssoziologie zu
Recht argumentiert – keineswegs ‚nur Metaphern‘ sind. Vielmehr zeigen Meta-
phern, wie eine Gesellschaft Realität und anerkanntes Wissen strukturiert.44 Ich

42 Stuckrad: Locations of Knowledge (wie Anm. 2).


43 Siehe dazu Kocku von Stuckrad: Rewriting the Book of Nature. Kabbalah and the Metaphors
of Contemporary Life-Sciences. In: Journal for the Study of Religion, Nature, and Culture 2
(2008), S. 419–442; Lily E. Kay: In the Beginning was the Word? The Genetic Code and the
Book of Life. In: The Science Study Reader. Hg. v. Mario Biagioli. London 1999, S. 224–233.
44 Philipp Sarasin: Infizierte Körper, kontaminierte Sprachen. Metaphern als Gegenstand der
Wissenschaftsgeschichte. In: Ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt
a.M. 2003, S. 191–230. Siehe auch die klassische Studie von George Lakoff, Mark Johnson:
Metaphors We Live By. 2. überarb. Aufl. Chicago 2003 [zuerst 1980].

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Transformation des esoterischen Diskursfeldes 109

will dies anhand von zwei wissenschaftlichen Ereignissen illustrieren, die in den
letzten Jahren eine breite Öffentlichkeit erreichten.

1 Das Human Genome Project und die Sprache Gottes

Am 26. Juni 2000 feierte das Weiße Haus in Washington in einer Pressekonferenz
den Abschluss der ersten Phase des Human Genome Project und damit die voll-
ständige Entzifferung des menschlichen Genoms. Auf der Pressekonferenz spra-
chen der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton, der Direktor des Human
Genome Project, Dr. Francis C. Collins sowie Dr. J. Craig Venter, Direktor der
Celera Genomics, einer Firma, die am Wettlauf um die Entzifferung des Genoms
ebenfalls beteiligt war. Der damalige britische Premierminister Tony Blair nahm
über eine Konferenzschaltung an der Veranstaltung teil. Bill Clintons Darstellung
der wissenschaftlichen Leistung des Projektes ist aufschlussreich:
Today’s announcement represents more than just an epoch-making triumph of science and rea-
son. After all, when Galileo discovered he could use the tools of mathematics and mechanics to
understand the motion of celestial bodies, he felt, in the words of one eminent researcher, that
he had learned the language in which God created the universe. – Today we are learning the
language in which God created life. We are gaining ever more awe for the complexity, the
beauty, the wonder of God’s most divine and sacred gift.45

Trotz des überschwänglichen Pathos in dieser Aussage ist Clinton sich durchaus
der Tatsache bewusst, dass das Human Genome Project möglicherweise theolo-
gisch und ethisch definierte Grenzen überschreiten könnte. Wenn Menschen die
Sprache Gottes lernen, können sie sie auch schreiben. Deshalb warnt er seine
Zuhörer:
The third horizon that lies before us is one that science cannot approach alone. It is the horizon
that represents the ethical, moral and spiritual dimension of the power we now possess. We
must not shrink from exploring that far frontier of science. But as we consider how to use new
discoveries, we must also not retreat from our oldest and most cherished human values.46

Francis S. Collins ist sich über das Potenzial seines Unternehmens ebenfalls im
Klaren. In seiner Rede am selben Ort bringt er die Sache auf den Punkt: „Alexan-
der Pope wrote: ‚Know then, thyself. Presume not God to scan. The proper study
of mankind is man.‘ What more powerful form of study of mankind could there be
than to read our own instruction book?“47 Man darf natürlich bezweifeln, ob
Alexander Popes Ermahnung ein Mittel gegen die befürchteten Auswüchse des

45 Anonym: Reading the Book of Life. White House Remarks On Decoding of Genome. In: The
New York Times online, 27.06.2000 (URL: http://www.nytimes.com/2000/06/27/science/
reading-the-book-of-life-white-house-remarks-on-decoding-of-genome.html?pagewanted=all
[23.02.2011]).
46 Ebd.
47 Ebd.

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110 Kocku von Stuckrad

Genomprojektes ist, doch Collins’ Sorgen treten hier deutlich zu Tage. Er fährt
fort: „Today we celebrate the revelation of the first draft of the human book of
life.“ Doch erneut plagen ihn Zweifel, und er fügt schnell hinzu: „It is humbling
for me and awe-inspiring to realize that we have caught the first glimpse of our
own instruction book, previously known only to God. What a profound responsibi-
lity it is to do this work. Historians will consider this a turning point.“48 Das wer-
den sie ganz sicher, doch der Wendepunkt ist ein anderer, als Collins es beschreibt:
Was wir hier sehen, ist das vorläufig letzte Kapitel der langen Geschichte einer
Suche nach dem „Scan Gottes“, wie Alexander Pope es formulierte.

2 Synthetische Biologie und der Mensch als Schöpfer

Ich komme damit zu einem weiteren wichtigen Ereignis der jüngsten Wissen-
schaftsgeschichte, diesmal eng verbunden mit J. Craig Venter als Vertreter der
Forschungsrichtung ‚synthetische Biologie‘. Nach seinem Engagement in der Ent-
zifferung des menschlichen Genoms (wenn auch in Konkurrenz zu Collins) wandte
sich Venter verschiedenen neuen Unternehmungen zu. Mit einem Budget von 100
Millionen US-Dollar von Celera und anderen Investoren startete er ein non-profit-
Unternehmen, die J. Craig Venter Science Foundation. Diese Stiftung erlaubte ihm
das freie Verfolgen seiner wissenschaftlichen Visionen und Ziele, ohne Rücksicht
auf universitäre oder ökonomische Begrenzungen. Im Jahr 2002 gründete die Stif-
tung das Institute for Biological Energy Alternatives in Rockville, Maryland. Im
Mai 2010 gelang es Venters Team, erstmals eine vollständig synthetische Zelle zu
schaffen und damit eine neue Lebensform. In der New York Times heißt es dazu:
At a press conference Thursday, Dr. Venter described the converted cell as „the first self-repli-
cating species we’ve had on the planet whose parent is a computer.“ „This is a philosophical
advance as much as a technical advance“, he said, suggesting that the „synthetic cell“ raised
new questions about the nature of life. […] „It’s very powerful to be able to reconstruct and
own every letter in a genome because that means you can put in different genes“, said Gerald
Joyce, a biologist at the Scripps Research Institute in La Jolla, Calif. In response to the scien-
tific report, President Obama asked the White House bioethics commission on Thursday to
complete a study of the issues raised by synthetic biology within six months and report back to
him on its findings. He said the new development raised „genuine concerns“, though he did not
specify them further.49

In dieser kleinen Geschichte steckt indes noch mehr aufschlussreiches Material für
unsere Analyse. Als sie die Zelle synthetisierten, schleusten Venter und sein Team
nämlich mehrere Erkennungsmerkmale in das Genom ein. Diese markers produzie-
ren keine Proteine, vielmehr enthalten sie die Namen der 46 am Projekt beteiligten

48 Ebd.
49 Nicholas Wade: Researchers Say They Created a ‚Synthetic Cell‘. In: The New York Times on-
line, 20.05.2010 (URL: http://www.nytimes.com/2010/05/21/science/21cell.html?ref=science
[23.02.2011]).

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Wissenschaftler sowie eine Reihe von Zitaten, geschrieben in einem geheimen


Code. Auch der Schlüssel zur Entzifferung des Codes ist enthalten. Man muss den
Code knacken, um die Botschaften zu verstehen. Doch Venter lüftet den Schleier
des Geheimnisses schon ein wenig und nennt die folgenden Zitate: „To live, to err,
to fall, to triumph, to recreate life out of life“ aus James Joyces A Portrait of the
Artist as a Young Man; „See things not as they are but as they might be“, entnom-
men der Biographie des Kernphysikers Robert Oppenheimer mit dem Titel Ameri-
can Prometheus; und schließlich die berühmten Worte des Physikers Richard
Feynman: „What I cannot build I cannot understand.“50
Kodierung und Dekodierung, das Lesen und Schreiben des Buches der Natur
und des Buches des Lebens, das Motiv des Menschen als Schöpfer, die Herstellung
des Golems und die damit verbundenen ethischen Fragen – all dies ist Teil der
Geistes-, Religions-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte Europas. Es ist dieses
Erbe, auf welchem Venter, Collins und andere, bewusst oder unbewusst, aufbauen.
Venter selbst bestreitet dabei, Leben geschaffen zu haben. „We’ve created the first
synthetic cell“, hält er fest. „We definitely have not created life from scratch be-
cause we used a recipient cell to boot up the synthetic chromosome.“51 Der New
Scientist kommentiert dies folgendermaßen:
Whether you agree or not is a philosophical question, not a scientific one as there is no biologi-
cal difference between synthetic bacteria and the real thing, says Andy Ellington, a synthetic
biologist at the University of Texas in Austin. „The bacteria didn’t have a soul, and there
wasn’t some animistic property of the bacteria that changed“, he says.52

Nun ist es also ein vages Konzept von ‚Seele‘, das die Wissenschaftler beschwö-
ren, um die theologische Legitimität ihres Projektes sicherzustellen. Die Beant-
wortung der „philosophischen Frage“ können sie dann getrost anderen überlassen.
Doch es würde zu weit führen, wollte ich diesen Faden weiter verfolgen.
Stattdessen gilt es nun, die Ergebnisse der diskutierten Beispiele festzuhalten. Die
Forschungen der Lebenswissenschaften und der synthetischen Biologie machen
deutlich, wie die vier von mir genannten Dynamiken diskursiver Transformation
gemeinsam und in gegenseitiger Abhängigkeit ihre Wirkung entfalten. Die Bei-
spiele zeigen auf mehreren Ebenen den Prozess der Verwissenschaftlichung; sie
offenbaren jedoch auch, wie unser Wissen von der Natur ästhetisch präsentiert und
kommuniziert wird. Zudem finden die Debatten in einem öffentlichen Raum statt,
in dem Politiker, Naturwissenschaftler und ein großes interessiertes Publikum die
Bedeutung von popularisierten Wissensbeständen und deren religiös-ethische Im-
plikationen aushandeln. Die hiermit einhergehenden Wissensansprüche über-

50 Siehe Ewen Callaway: Immaculate Creation: Birth of the First Synthetic Cell. In: New Scien-
tist, 20.05.2010 (URL: http://www.newscientist.com/article/dn18942-immaculate-creation-
birth-of-the-first-synthetic-cell.html [23.02.2011]).
51 Ebd.
52 Ebd.

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112 Kocku von Stuckrad

schreiten dabei ganz deutlich die Grenzen empirischen Modelldenkens in den


Naturwissenschaften, womit sie sich einreihen in die lange Geschichte esoterischer
Suche nach dem zentralen Schlüssel zu den letzten Geheimnissen des Kosmos und
der Geschichte der Menschheit.
Zum Schluss möchte ich auf einen weiteren Denker verweisen, der in der heuti-
gen Diskussion über die Deutung des Kosmos geradezu Kultstatus hat. Stephen W.
Hawking, gefeierter Physiker und Autor popularisierender wissenschaftlicher Bü-
cher, hat sich nämlich auf dieselbe wissenschaftliche Reise begeben wie J. Craig
Venter und Francis S. Collins. Auch Hawking überschreitet die Grenzen wissen-
schaftlicher Argumentation und übernimmt gelegentlich die Rolle des religiösen
Experten und esoterischen Lehrers:
Ever since the dawn of civilization, people have not been content to see events as unconnected
and inexplicable. They have craved an understanding of the underlying order in the world. To-
day we still yearn to know why we are here and where we have come from. Humanity’s deep-
est desire for knowledge is justification enough for our continuing quest. And our goal is
nothing less then a complete description of the universe we live in.53

Hawking knüpft hier wörtlich an gnostische Erkenntnis- und Erlösungsszenarien


an, womit die Dynamik esoterischer Diskurse in der heutigen westlichen Kultur
erneut sichtbar wird. Kein Wunder also, dass er sein Ziel ganz unbescheiden for-
muliert: „A complete, consistent, unified theory is only the first step: our goal is a
complete understanding of the events around us, and of our own existence.“54

53 Stephen W. Hawking: A Brief History of Time. From the Big Bang to Black Holes. London
1988, S. 15.
54 Ebd., S. 187.

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