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OSHO

Das Buch der Geheimnisse


3. Auflage
Titel der Originalausgabe
The Bock of Secrets, Vol. I

Übersetzung: Swami Prem Nirvano,


Ma Deva Shanta, Swami Satyananda
Umschlaggestaltung: Ma Deva Bunda
Druck: Wiener Verlag, Himberg, Österreich
Printed in Austria
Copyright 1992 by Osho International Foundation
Copyright 1998, auch der Übersetzung und Fotos, Osho Verlag GmbH
All rights reserved. Published by arrangement with Osho International
Foundation, Bahnhofstraße 52, CH-8001 Zürch, Switzerland
Osho Photo an Cover: With permission of Osho International Foundation

ISBN 3-925205-91-8
Inhalt
Einleitung 5

1 Die Welt des Tantra 7

2 Der Weg des Yoga und der Weg des Tantra 33

3 Atem — der Nabel des Lebens 57

4 Die Täuschungsmanöver des Kopfes 83

5 Meister über Traum und Tod 109

6 Der Mensch ist Schlaf, seine Welt ist Traum 139

7 Liebe löst 165

8 Akzeptiere das Tier in dir — und werde zum Gott 191

9 Die Welt ist dein Zuhause 219

10 Man muß kein Genie sein, um Buddha zu werden 247

11 Die Reise nach innen 273

12 Jenseits vom Geist ist die Quelle 299

13 Auf das innere Zentrum stoßen 321

14 Und dann ... 347

15 Werde nicht wütend auf das Boot 375

16 Ein Irrer ist nur ein bißchen mehr verrückt als du 401

Über Osho 424


Einleitung
Vigyan Bhairav Tantra ist eine alte tantrische Schrift, die der in-
dischen Mythologie zufolge von Gott Shiva der Welt überbracht
wurde. Sie enthält nicht weniger als 112 Meditationstechniken. Sie
bilden die Grundlage aller Meditationstechniken überhaupt — so
sagt uns Osho. Jeder wird unter diesen Techniken mindestens
eine finden, die ihm angemessen ist. Wie ein Archäologe wert-
volle Funde aus den Tiefen der Geschichte zutage fördert und ihre
Bedeutung in einer neuzeitlichen Weise deutlich macht, so hat
Osho die uralten Texte des Vigyyan Bhairav Tantra mit der Ein-
sicht des Weisen durchdrungen und sie uns in einer klaren mo-
dernen Sprache erläutert. Wer seine Diskurse gelesen hat, wird
gewiß dazu angeregt, mit seinen Meditationstechniken zu expe-
ri mentieren. Das Buch der Geheimnisse gibt viele wertvolle prak-
tische Hinweise für jeden, der sich durch die Wissenschaft der
Meditation verwandeln möchte.
Tantra heißt Technik, so erklärt Osho. Es bedeutet „die Tech-
nik, die Methode, der Weg” und Vigyan Bhairav Tantra heißt „die
Technik, über das gewöhnliche Bewußtsein hinauszugelangen”.
Vigyan heißt Bewußtsein, und Bhairav ist der Zustand jenseits des
gewöhnlichen Bewußtseins. Man kennt Shiva auch als „Bhairav”,
und Devi, seine Gemahlin, als „Bhairavi” — als diejenigen, die alle
Dualität hinter sich gelassen haben. Shiva übermittelt Devi diese
112 Methoden; beide stehen in einer tiefen Liebesbeziehung zu-
einander.
„Nicht eine einzige Methode kann diesen 112 Methoden Shivas
hinzugefügt werden”, sagt Osho, „und dies Vigyan Bhairav Tantra
ist fünftausend Jahre alt.”

5
Die Welt des Tantra
[Sutra]

Devi fragt:

Oh Shiva, was ist deine Wirklichkeit?


Was ist dies von Wundern erfüllte Universum? Was ist der Same?
Wer hält das Rad des Alls im Gleichgewicht?
Was ist dies Leben jenseits von Form, das alle Form durchdringt?
Wie können wir vollends hineingelangen?
Hinaus über Raum und Zeit, Namen und Bezeichnungen?
Schaffe meinem Zweifel Klarheit!

7
Das Buch der Geheimnisse

Ein paar Dinge zur Einführung. Erstens: Die Welt des „Vigyana
Bhairava Tantra” ist nicht intellektuell. Sie ist nicht philosophisch.
Ideologie ist für sie bedeutungslos. In ihr geht es um Methoden
und Techniken, ganz und gar nicht um Prinzipien. Das Wort
„Tantra” heißt Technik, Methode, Weg. Es ist also keine Philoso-
phie — vergeßt das nicht. Es hat nichts mit intellektuellen Proble-
men und Fragestellungen zu tun. Es hat nichts mit dem „Warum”
der Dinge zu tun. Es hat etwas mit dem „Wie” zu tun — nicht da-
mit, was Wahrheit ist, sondern wie man zur Wahrheit gelangt.
„Tantra” heißt Technik. Diese Abhandlung ist also eine wissen-
schaftliche. Der Wissenschaft geht es nicht um das Warum, der
Wissenschaft geht es ums Wie. Das ist der grundlegende Unter-
schied zwischen Philosophie und Wissenschaft. Die Philosophie
fragt: „Warum ist diese Existenz?” Die Wissenschaft fragt: „Wie ist
diese Existenz?” Sobald man „Wie?” fragt, werden Methode und
Technik wichtig. Theorien werden bedeutungslos. Erfahrung wird
zum Mittelpunkt.
Tantra ist Wissenschaft. Tantra ist nicht Philosophie. Philoso-
phie zu verstehen ist nicht schwer, weil ihr dabei nur euren Intel-
lekt gebraucht. Wer Sprache versteht, wer Begrifflichkeit versteht,
der kann Philosophie verstehen. Man braucht sich nicht zu än-
dern, man braucht keine Transformation zu erfahren. Du kannst,
so wie du bist, Philosophie verstehen. Aber nicht Tantra.
Du wirst dich ändern müssen. Ja, was du brauchst, ist eine
Mutation! Solange du nicht anders bist, kann Tantra nicht ver-
standen werden; denn Tantra ist kein intellektuelles Konzept, es ist
eine Erfahrung. Solange du für diese Erfahrung nicht empfänglich,
bereit, verwundbar bist, kann sie dich nicht erreichen.
Philosophie ist Verstandessache. Der Kopf genügt, du brauchst
deine Gesamtheit nicht dazu. Tantra fordert dich in deiner Ge-
samtheit. Es ist eine tiefere Herausforderung. Du mußt dich mit
Haut und Haaren darauf einlassen. Es ist nicht fragmentarisch. Ein
anderes Verständnis, eine andere Einstellung, ein anderer Geist
sind erforderlich, um es zu empfangen.
Weil das so ist, sind Devis Fragen nur scheinbar philosophisch.
Tantra nimmt mit Devis Fragen seinen Anfang. All diese Fragen
können philosophisch aufgefaßt werden.
Kapitel 1

Tatsächlich kann jede Frage zweifach aufgefaßt werden: philo-


sophisch oder total; intellektuell oder existentiell. Wenn zum Bei-
spiel jemand fragt: „Was ist Liebe?”, kann man das intellektuell an-
gehen: man kann diskutieren, Theorien entwickeln, man kann
eine bestimmte Hypothese verteidigen. Man kann ein System, eine
Lehre entwickeln, ohne die Liebe überhaupt erfahren zu haben.
Eine Lehrmeinung zu entwickeln, dazu gehört keine Erfahrung.
Ganz im Gegenteil: Je weniger du weißt, desto besser, denn um
so unbedenklicher kannst du ein System aufstellen. Nur ein Blin-
der kann ohne weiteres definieren, was Licht ist. Wer keine Ah-
nung hat, ist kühn. Unwissenheit ist immer kühn. Wissen zögert.
Und je mehr du weißt, desto mehr verlierst du den Boden unter
den Füßen. Je mehr du weißt, desto mehr merkst du, wie unwis-
send du bist. Und wer wirklich weise ist, der wird unwissend. Er
wird so einfach wie ein Kind. Oder so einfach wie ein Idiot.
Je weniger du weißt, desto besser. Philosophisch zu sein, dog-
matisch zu sein, doktrinär zu sein, ist leicht. Ein Problem intel-
lektuell zu bewältigen, ist sehr einfach. Aber ein Problem exi-
stentiell zu bewältigen, nicht nur darüber nachzudenken, sondern
es zu durchleben, hindurchzugehen, zuzulassen, so daß es dich
verwandelt, das ist schwer. Das heißt: Um die Liebe zu kennen,
mußt du in der Liebe sein. Das ist gefährlich: denn du wirst nicht
bleiben, wer du bist. Die Erfahrung wird dich verwandeln. In dem
Moment, wo du in die Liebe hineingehst, gehst du in einen an-
deren Menschen hinein. Und wenn du herauskommst, kannst du
dein altes Gesicht nicht wiedererkennen. Es wird nicht mehr deins
sein. Ein Bruch ist geschehen: jetzt klafft eine Lücke. Der alte
Mensch ist tot, und der neue Mensch ist da. Das ist es, was Neu-
geburt heißt: zum zweitenmal geboren zu werden.
Tantra ist nicht-philosophisch und existentiell. So stellt Devi
zwar Fragen, die philosophisch scheinen, aber Shiva wird sie nicht
so beantworten. Es ist also besser, dies gleich von Anfang an zu
verstehen, weil ihr euch sonst verwundert fragen werdet, wieso
Shiva keine einzige Frage beantwortet. All die Fragen, die Devi
stellt - Shiva beantwortet nicht eine einzige!
Und dennoch antwortet er. Und wirklich: Nur er und kein an-
derer hat sie beantwortet, allerdings auf einer anderen Ebene. Devi
Das Buch der Geheimnisse

fragt: „Was ist deine Wirklichkeit, Herr?” Er wird es nicht beant-


worten. Statt dessen gibt er ihr eine Technik. Und wenn Devi
durch diese Technik geht, wird sie es wissen. Die Antwort ist also
indirekt, sie ist nicht direkt. Er wird nicht antworten: „Der oder
das bin ich.” Er gibt ihr eine Technik: Mach es, und du wirst es
wissen!
Für Tantra ist Tun Wissen, und ein anderes Wissen gibt es nicht.
Solange du nicht etwas tust, solange du dich nicht veränderst, so-
lange du nicht aus einem anderen Blickwinkel, mit anderen Au-
gen siehst, nicht in eine völlig andere Dimension als die des In-
tellekts hineingehst, gibt es keine Antwort. Es können zwar Ant-
worten geliefert werden — alles Lügen. Alle Philosophien sind
Lügen. Du stellst eine Frage, und die Philosophie gibt dir eine
Antwort. Sie mag dich befriedigen oder nicht. Wenn sie dich be-
friedigt, wirst du ein Anhänger dieser Philosophie, bleibst aber wie
du bist. Befriedigt sie dich nicht, suchst du weiter, nach einer an-
dern Philosophie, der du dich anschließen kannst. Aber du bleibst
der gleiche: sie berührt dich nicht im geringsten; sie verändert dich
nicht im geringsten.
Ob du nun also Hindu oder Moslem oder Christ oder Jaina bist,
es macht keinen Unterschied. Der wirkliche Mensch hinter der
Fassade des Hindus oder Moslems oder Christen ist der gleiche.
Nur die Worte sind verschieden, oder die Kleider. Der Mensch,
der da zur Kirche geht — oder zum Tempel oder zur Moschee —
ist der gleiche Mensch. Nur die Gesichter sind verschieden, und es
sind falsche Gesichter. Es sind Masken. Hinter den Masken findet
ihr den gleichen Menschen, die gleiche Wut, die gleiche Aggres-
sion, die gleiche Gewalt, die gleiche Gier, die gleiche Geilheit ...
alles genau gleich. Ist mohammedanische Sexualität anders als hin-
duistische Sexualität? Ist christliche Gewalt anders als hinduisti-
sche Gewalt? Es ist die gleiche! Die Wirklichkeit bleibt gleich.
Nur die Kleider sind verschieden.
Im Tantra geht es nicht um deine Kleider. Im Tantra geht es um
dich. Wenn du eine Frage stellst, zeigt Tantra dir, wo du bist. Es
zeigt dir auch, daß du nicht sehen kannst, wo immer du dich be-
findest ... darum fragst du ja. Ein Blinder fragt: „Was ist Licht?”
Und die Philosophie geht daran, zu beantworten, was Licht ist.

10
Kapitel 1

Tantra weiß nur so viel: daß einer, der fragt, was Licht ist, beweist,
daß er blind ist. Tantra geht daran, den Betreffenden zu opene-
ren, den Betreffenden zu verändern, so daß er sehen kann. Tantra
wird dir nicht sagen, was Licht ist. Tantra wird dir sagen, wie du
zur Einsicht gelangst, wie du das Augenlicht, wie du Sehkraft ge-
winnst. Ist die Sicht da, so ist auch die Antwort da. Tantra gibt dir
nicht die Antwort, Tantra gibt dir die Technik, wie du zur Ant-
wort gelangst.
Nun wird es keine intellektuelle Antwort mehr sein. Wenn du
einem Blinden etwas vom Licht erzählst, so ist das intellektuell.
Wenn der Blinde selbst sehen lernt, so ist es existentiell. Das mei-
ne ich, wenn ich Tantra existentiell nenne.
Shiva wird also Devis Fragen nicht beantworten. Und dennoch
wird er antworten. Das ist das erste.
Das zweite: Dies hier ist eine andere Sprache. Ihr müßt darü-
ber etwas wissen, bevor wir da hineingehen. Alle Tantra-Texte
sind Dialoge zwischen Shiva und Devi. Devi fragt, und Shiva ant-
wortet. Alle Tantra-Texte fangen so an. Warum? Warum dieses
Grundmuster? Es ist sehr bedeutsam. Es ist kein Dialog zwischen
einem Lehrer und seinem Jünger. Es ist ein Dialog zwischen zwei
Liebenden. Und damit weist Tantra auf etwas sehr Bedeutsames
hin: daß die tieferen Lehren nur dann gegeben werden können,
wenn zwischen beiden, zwischen dem Lehrenden und dem Ler-
nenden, Liebe da ist. Lernender und Lehrer müssen zutiefst zu
Liebenden werden. Nur dann kann das Höhere, das Jenseitige
zum Ausdruck kommen.
Es ist also eine Sprache der Liebe: Die Haltung des Lernenden
muß die der Liebe sein. Aber nicht nur das: denn auch Freunde
können Liebende sein. Im Tantra muß der Lernende zu reiner
Empfänglichkeit werden. Der Lernende muß von einer weibli-
chen Empfänglichkeit sein, nur so kann etwas geschehen. Man
braucht keine Frau zu sein, aber man muß in einer weiblich-emp-
fänglichen Haltung sein. Devi fragt. Das heißt: die weibliche Hal-
tung fragt. Warum wird soviel Wert auf eine weibliche Haltung
gelegt?
Mann und Frau sind nicht nur körperlich verschieden; sie sind
es auch psychologisch. Das Geschlecht macht nicht nur einen

11
Das Buch der Geheimnisse

körperlichen Unterschied, sondern auch einen seelischen. Die


weibliche Haltung bedeutet Empfänglichkeit - totale Empfäng-
lichkeit, Hingabe, Liebe. Ein Jünger braucht eine weibliche Ein-
stellung; andernfalls kann er nicht lernen. Du kannst fragen, aber
wenn du nicht offen bist, kannst du keine Antwort bekommen.
Du kannst eine Frage stellen und trotzdem verschlossen bleiben.
Dann kann die Antwort nicht in dich eindringen. Deine Türen
sind verschlossen: du bist tot. Du bist nicht offen.
Die weibliche Einstellung bedeutet eine schoßartige Empfäng-
lichkeit in der innersten Tiefe: so daß du aufnehmen kannst. Und
nicht nur das: es spielt noch viel mehr mit. Eine Frau empfängt
nicht nur etwas. Im Augenblick, da sie es empfängt, wird es Teil
ihres Körpers. Ein Kind wird gezeugt. Die Frau trägt eine Frucht
aus. Noch im Augenblick der Empfängnis ist das Kind Teil des
weiblichen Körpers geworden. Es ist nichts Fremdes, kein Fremd-
körper mehr. Es ist absorbiert worden. Von nun an lebt das Kind
nicht als etwas, das der Mutter hinzugefügt worden ist, sondern
einfach als Teil von ihr, einfach als Mutter. Und das Kind wird
nicht nur empfangen: Der weibliche Körper wird kreativ, das
Kind beginnt zu wachsen.
Ein Jünger muß empfänglich sein, wie ein Schoß. Was auch
immer empfangen wird, es darf nicht als totes Wissen aufgelesen
werden. Es muß in dir wachsen, es muß dir zu Fleisch und Kno-
chen werden. Es muß jetzt Teil von dir werden. Es muß wach-
sen! Dies Wachstum wird dich verändern, wird dich transfor-
mieren - dich, den Empfänger. Deshalb benutzt Tantra dieses
Mittel: Jeder Text beginnt damit, daß Devi eine Frage stellt und
Shiva darauf eingeht. Devi ist Shivas Gemahlin, sein weiblicher
Teil.
Und noch eins: die moderne Psychologie sagt heute, vor allem
die Tiefenpsychologie, daß der Mensch sowohl Mann als auch
Frau ist. Niemand ist nur männlich, und niemand ist nur weib-
lich. Jeder ist bisexuell. Beide Geschlechter sind vorhanden. Dies
ist im Westen eine sehr neue Erkenntnis, aber für Tantra war das
eines der grundlegendsten Dinge, über Tausende von Jahren hin-
weg. Ihr habt vielleicht schon einmal Darstellungen von Shiva als
Ardhanarishwar gesehen - halb Mann, halb Frau. Ein Konzept

12
Kapitel 1

wie dieses ist einmalig in der Geschichte der Menschheit: Shiva,


halb Mann, halb Frau.
Devi ist also nicht nur seine Gemahlin. Sie ist Shivas andere
Hälfte. Und solange der Lernende nicht zur anderen Hälfte des
Lehrers geworden ist, ist es unmöglich, die höheren Lehren, die
esoterischen Methoden zu vermitteln. Wenn du eins mit ihm
wirst, dann gibt es keine Zweifel mehr. Wenn du eins wirst mit
dem Lehrer, so total eins, so tief eins, dann gibt es weder Argu-
ment, noch Logik, noch Verstand. Du nimmst nur auf du wirst
zum Schoß. Und dann beginnt die Lehre in dir zu wachsen und
dich zu verändern.
Das ist der Grund, warum Tantra in der Sprache der Liebe ge-
schrieben ist. Über die Sprache der Liebe muß man etwas wissen:
Es gibt zwei Arten von Sprache, die Sprache der Logik und die
Sprache der Liebe. Die beiden unterscheiden sich grundlegend.
Die Sprache der Logik ist aggressiv, streitsüchtig, gewaltsam.
Wenn ich die Sprache der Logik verwende, übe ich Gewalt über
deinen Geist aus. Ich versuche dich zu überzeugen, zu bekehren,
eine Marionette aus dir zu machen. Ich habe „recht” mit meinem
Argument, und du hast „unrecht”. Logische Sprache ist egozen-
trisch. „Ich habe recht, und du hast unrecht, also muß ich bewei-
sen, daß ich recht habe und du nicht recht hast.” Du bist mir egal.
Mir ist allein mein Ego wichtig. Mein Ego hat immer recht.
Die Sprache der Liebe ist völlig anders. Es geht mir nicht um
mein Ego, es geht mir um dich. Es geht mir nicht darum, etwas zu
beweisen, mein Ego zu stärken. Es geht mir darum, dir zu helfen.
Es ist Hilfe aus Mitgefühl, so daß du wachsen kannst, so daß du
dich verwandeln kannst, so daß du neu geboren werden kannst.
Zweitens wird Logik immer intellektuell sein. Begriffe und
Grundsätze sind wichtig. Argumente sind wichtig. In der Sprache
der Liebe ist es nicht so wichtig, was gesagt wird, sondern eher die
Art, wie es gesagt wird. Das Gefäß, das Wort, ist nicht so wichtig.
Der Inhalt, die Botschaft, ist wichtiger. Es ist eine Zwiesprache von
Herz zu Herz, nicht eine Diskussion von Kopf zu Kopf. Es ist kei-
ne Debatte. Es ist Kommunion.
Es ist eine unverwechselbare Situation: Parvati, auf dem Schoß
von Shiva sitzend, und Shiva antwortet. Es ist ein Zwiegespräch

13
Das Buch der Geheimnisse

von Liebenden — ohne Konflikt, so als spräche Shiva mit sich


selbst.
Warum wird soviel Wert auf Liebe gelegt, auf die Sprache der
Liebe? Weil sich die ganze Gestalt ändert, wenn du Liebe für dei-
nen Lehrer empfindest: alles wird anders. Dann hörst du nicht auf
seine Worte. Dann trinkst du ihn. Dann werden Worte unwich-
tig. Und wirklich, die Stille zwischen den Worten wird mächtiger
als die Worte. Was er sagt, mag bedeutsam sein oder nicht: was
zählt, sind seine Augen, seine Gesten, ist sein Verständnis, seine
Liebe.
Deshalb also hat Tantra ein festes Muster, eine Struktur. Jeder
Text beginnt damit, daß Devi fragt und Shiva antwortet. Es wird
kein Streitgespräch sein; keine überflüssigen Worte. Es sind ganz
einfache, festgestellte Tatsachen, telegraphische Mitteilungen, die
nicht allgemein überzeugen wollen, die allein auf den andern be-
zogen sind.
Wenn du Shiva eine Frage stellst, aber verschlossen bist, dann
antwortet er dir nicht. Erst muß deine Verschlossenheit aufgebro-
chen werden. Er muß aggressiv sein. Deine Vorurteile, deine
festen Meinungen müssen zerstört werden. Solange du nicht end-
gültig mit deiner Vergangenheit aufgeräumt hast, kann dir nichts
gegeben werden. Aber auf seine Gemahlin Devi trifft dies nicht
zu: Für Devi gibt es keine Vergangenheit.
Vergiß nicht: wenn du tief liebst, hört dein Geist auf zu sein. Es
gibt keine Vergangenheit: der gegenwärtige Augenblick ist alles.
Wenn du liebst, ist die Gegenwart die einzige Zeit. Das Jetzt ist
alles — ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.
Devi ist einfach nur offen. Ohne Abwehr — nichts muß erst aus-
geräumt werden, nichts muß zerstört werden. Der Boden ist be-
reitet. Es braucht nur ein Samenkorn auf ihn geworfen zu wer-
den. Der Boden ist nicht nur bereitet, sondern er ist erwartungs-
voll, offen, er bittet darum, befruchtet zu werden. All diese Sätze,
über die wir sprechen werden, sind also telegraphisch. Es sind nur
Sutras. Aber jedes Sutra, jede telegraphische Botschaft, durch die
Shiva sich mitteilt, ist so viel wert wie die Veden, wie die Bibel,
wie der Koran. Jeder einzelne Satz kann das Fundament einer
großen Schrift werden. Schriften gehen logisch vor: sie müssen

14
Kapite1 1

Lehrsätze aufstellen, müssen verteidigen, argumentieren. Hier gibt


es keine Argumente, einfach nur Worte der Liebe.
Drittens: Die Worte Vigyana Bhairava Tantra bedeuten genau
dies: Die Technik, über das Bewußtsein hinauszugehen. Vigyana
bedeutet Bewußtsein, Bhairava bedeutet den Zustand jenseits des
Bewußtseins, und Tantra bedeutet Technik: die Technik, über das
Bewußtsein hinauszugelangen. Dies ist die oberste aller Lehren —
eine Lehre ohne jede Lehre.
Wir sind unbewußt. Daher geht es bei allen religiösen Lehren
darum, den Menschen aus der Unbewußtheit herauszubringen
und ihn bewußt zu machen. Bei Krishnamurti zum Beispiel, oder
im Zen, geht es darum, wie sich die Bewußtheit steigern läßt:
denn wir sind unbewußt. Wie also bewußter, wie wacher sein?
Wie aus der Unbewußtheit zur Bewußtheit gelangen? Aber Tan-
tra sagt,_ daß dies Dualität ist — Unbewußtheit und Bewußtheit.
Wenn man von der Unbewußtheit zur Bewußtheit übergeht, geht
man vom einen Pol der Dualität zum andern.
Geht über beide hinaus! Solange ihr nicht über beide hinaus-
geht, könnt ihr niemals das endgültig Höchste erreichen. Seid also
weder das Unbewußte, noch das Bewußte. Geht einfach darüber
hinaus. Seid einfach. Seid weder das Bewußte, noch das Unbe-
wußte: seid einfach. Das heißt, über Yoga hinauszugehen, über
Zen hinauszugehen, über jede Lehre hinauszugehen. Vigyana
heißt Bewußtsein und Bhairava ist ein spezifischer Ausdruck, ein
tantrischer Ausdruck, der denjenigen bezeichnet, der transzen-
diert hat. Darum wird Shiva auch Bhairava genannt, und Devi
Bhairavi — die, die die Dualität hinter sich gelassen haben.
Innerhalb unserer Erfahrung kann uns nur die Liebe einen Ah-
nungsschimmer davon geben. Darum wird die Liebe zur eigent-
lichen Grundtechnik für die Übertragung tantrischer Weisheit.
Innerhalb unserer Erfahrung können wir sagen, daß die Liebe das
einzige ist, was über Dualität hinausführt. Wenn zwei Menschen
einander lieben, dann hören sie in dem Maße auf, zwei zu sein,
wie sie tiefer in die Liebe hineingehen — sie werden immer mehr
eins. Und es kommt der Punkt, und es kommt ein Gipfel, wo sie
nur noch scheinbar zwei sind: innerlich sind sie eins. Die Dualität
ist überwunden.

15
Das Buch der Geheimnisse

Nur so verstanden gewinnt der Ausdruck von Jesus Bedeutung,


daß Gott die Liebe ist: sonst nicht. Innerhalb unserer Erfahrung
kommt die Liebe Gott am nächsten. Damit ist nicht gemeint, daß
Gott, wie die Christen es immer deuten, liebevoll ist, daß Gott ein
liebender Vater ist. Unsinn! „Gott ist Liebe” ist eine tantrische Aus-
sage, und bedeutet, daß die Liebe innerhalb unserer Erfahrung
diejenige Wirklichkeit ist, die Gott, die dem Göttlichen am näch-
sten kommt. Warum? Weil in der Liebe Einheit empfunden wird.
Die Körper bleiben getrennt, aber etwas jenseits der Körper ver-
schmilzt und wird eins.
Deshalb sehnt sich jeder nach dem Sex. Die wirkliche Sehn-
sucht gilt der Einheit, aber diese Einheit ist nicht sexuell. Im Sex
haben zwei Menschen nur das täuschende Gefühl, eins zu wer-
den, aber sie sind es nicht. Sie sind nur zusammengefügt. Aber für
einen einzigen Augenblick vergessen sich zwei Menschen inein-
ander, und eine gewisse körperliche Einheit wird empfunden.
Diese Sehnsucht ist okay, aber dabei stehenzubleiben, ist gefähr-
lich. Diese Sehnsucht zeigt einen tieferen Drang, Einheit zu er-
fahren.
In der Liebe geht das Innere auf einer höheren Ebene in den
anderen über und vereinigt sich mit ihm; ein Gefühl der Einheit
entsteht. Die Dualität löst sich auf. Nur in dieser nichtdualen Lie-
be können wir einen Ahnungsschimmer davon bekommen, was
der Zustand eines Bhairava ist. Wir können sagen, daß der Zu-
stand eines Bhairava absolute Liebe ohne Rückkehr ist. Vom Gip-
fel der Liebe gibt es kein Zurückfallen mehr. Es ist ein Verweilen
auf dem Gipfel.
Wir haben Shivas Wohnstätte auf dem Kailash-Berg errichtet.
Das ist nur symbolisch: Der höchste Gipfel ist der heiligste Gipfel.
Wir haben daraus Shivas Wohnstätte gemacht. Wir können dort
hinaufgehen, aber wir müssen wieder herunterkommen. Wir
können uns dort nicht häuslich einrichten. Wir können nur eine
Pilgerreise machen. Es ist eine Teerthyatra — eine Pilgerfahrt, eine
Reise. Wir können für kurze Augenblicke an den höchsten Gip-
fel rühren; danach müssen wir wieder zurückkommen.
In der Liebe geschieht diese heilige Pilgerreise; aber nicht für
alle, denn fast niemand geht über den Sex hinaus. So leben wir im

16
Kapite1 1

Tal weiter, im dunklen Tal. Manchmal steigt jemand auf den Gip-
fel der Liebe, fällt dann aber zurück, weil ihm so schwindlig wird.
So hoch, und du so niedrig; und wie schwer ist es, dort zu leben!
Wer geliebt hat, der weiß, wie schwer es ist, ständig in der Liebe
zu bleiben. Man muß immer wieder zurückkommen. Es ist Shi-
vas Wohnstätte. Er lebt dort. Es ist seine Heimat.
Ein Bhairava lebt in der Liebe: das ist seine Heimat. Wenn ich
sage, daß das seine Heimat ist, meine ich damit, daß er sich nicht
einmal der Liebe gewahr wird — denn wenn du auf dem Kailash
lebst, weißt du nicht, daß dies der Kailash ist, daß dies der Gipfel
ist. Der Gipfel wird zur Ebene. Shiva nimmt die Liebe nicht wahr.
Wir nehmen die Liebe wahr, weil wir in der Nicht-Liebe leben.
Und aufgrund des Kontrastes spüren wir die Liebe. Shiva ist Lie-
be. Ein Bhairava zu sein bedeutet, daß man zu Liebe geworden
ist, nicht, daß man liebt. Nun ist man Liebe, man lebt auf dem
Gipfel. Der Gipfel ist nun die Wohnstätte.
Wie aber wird dieser Gipfel möglich, der Gipfel jenseits von
Dualität, jenseits von Unbewußtheit, jenseits von Bewußtheit, jen-
seits von Körper und jenseits von Seele, jenseits von Welt und jen-
seits von sogenannter Moksha, Befreiung? Wie diesen Gipfel er-
reichen? Die Technik ist Tantra. Aber Tantra ist reine Technik. Es
ist also nicht leicht zu verstehen. Laßt uns erst die Fragen verste-
hen — was sagt Devi?
„Oh Shiva, was ist deine Wirklichkeit?”
Warum diese Frage? Ihr könnt die gleiche Frage stellen, aber es
würde nicht das gleiche bedeuten. Versucht also zu verstehen, war-
um Devi fragt: „Was ist deine Wirklichkeit?” Devis Liebe ist tief.
In tiefer Liebe begegnest du zum erstenmal der inneren Wirk-
lichkeit. Jetzt ist Shiva nicht mehr Formjetzt ist Shiva nicht mehr
Körper. Wenn du liebst, löst sich der Körper des Geliebten auf, er
verschwindet. Die Form ist nicht mehr, und das Formlose offen-
bart sich. Du stehst vor einem Abgrund. Darum haben wir solche
Angst vor der Liebe. Vor einem Körper haben wir keine Angst,
vor einem Gesicht haben wir keine Angst, vor einer Form haben
wir keine Angst. Aber vor einem Abgrund haben wir Angst.
Wenn du jemanden liebst, und wirklich liebst, verschwindet
sein Körper unweigerlich. In einigen wenigen Augenblicken des

17
Das Buch der Geheimnisse

Höhepunkts, des Gipfels, wird die Form sich auflösen, und durch
den Geliebten wirst du in das Formlose eingehen. Das ist der
Grund, warum wir Angst haben: Es ist der Fall ins Bodenlose.
Diese Frage kommt also nicht nur aus Neugierde: „Oh Shiva, was
ist deine Wirklichkeit?”
Devi muß sich in die Form verliebt haben. So fangt es immer
an. Sie muß diesen Mann als Mann geliebt haben, und nun, da die
Liebe gereift ist, da die Liebe zur Blüte gelangt ist, ist dieser Mann
verschwunden. Er ist formlos geworden. Jetzt ist er unauffindbar:
„Oh Shiva, was ist deine Wirklichkeit?” Es ist eine Frage, die in
einem sehr intensiven Augenblick der Liebe gestellt wird. Und
wenn Fragen gestellt werden, kommt es ganz darauf an, aus wel-
cher Haltung heraus sie gestellt werden.
Versetzt euch also in die Situation, in die Atmosphäre der Frage.
Parvati muß ratlos sein. Devi muß ratlos sein. Shiva ist ver-
schwunden. Wenn die Liebe ihren Höhepunkt erreicht, ver-
schwindet der Liebende. Warum geschieht das? Das geschieht,
weil in Wirklichkeit jeder formlos ist. Du bist kein Körper. Du be-
wegst dich als Körper, du lebst als Körper, aber du bist kein Körper.
Solange wir jemanden nur von außen sehen, ist er ein Körper. Die
Liebe dringt ins Innere ein, und wir sehen den andern nicht mehr
von außen. Liebe kann den andern so sehen, wie der andere sich
selbst von innen her sieht. Dann verschwindet die Form.
Ein Zen-Mönch, Rinzai, erlangte die Erleuchtung. Das erste,
was er aussprach war: „Wo ist mein Körper? Was ist aus meinem
Körper geworden?” Und er fing an, ihn zu suchen. Er rief seine
Schüler und sagte: „Geht und findet heraus, wo mein Körper ge-
blieben ist. Ich habe meinen Körper verloren.”
Er war ins Formlose eingegangen. Du bist ebenfalls eine form-
lose Existenz, aber du kennst dich nicht unmittelbar, sondern nur
durch die Augen anderer. Du kennst dich durch den Spiegel.
Schließ einmal, während du in den Spiegel blickst, die Augen und
überlege, und meditiere dann: Wenn es keinen Spiegel gäbe, wo-
her würdest du dann dein Gesicht kennen? Ohne Spiegel gäbe es
kein Gesicht. Du hast kein Gesicht. Spiegel geben dir Gesichter.
Stell dir eine Welt ohne Spiegel vor! Du bist allein, kein Spiegel
ist da, nicht einmal die Augen anderer können dir noch ein

18
Kapitel 1

Spiegel sein. Du bist allein auf einer einsamen Insel: nirgends


kannst du dich spiegeln. Hast du dann überhaupt ein Gesicht?
Oder einen Körper? Du kannst keinen haben. Und hast auch kei-
nen. Wir kennen uns selbst nur durch andere, und die anderen
können nur die äußere Form kennen. Deshalb identifizieren wir
uns damit.
Ein anderer Zen-Mystiker, Hui-Hai, pflegte zu seinen Schülern
zu sagen: „Wenn ihr beim Meditieren völlig euren Kopf verloren
habt, kommt sofort zu mir. Wenn ihr den Kopf verliert, kommt
augenblicklich zu mir. Wenn ihr das Gefühl bekommt, daß kein
Kopf mehr da ist, dann habt keine Angst; kommt augenblicklich
zu mir. Das ist der richtige Augenblick. Jetzt könnt ihr etwas ler-
nen.” Mit dem Kopf ist kein Lernen möglich. Der Kopf stellt sich
immer in den Weg.
Parvati. — Devi — fragt Shiva: „Oh Shiva, was ist deine Wirk-
lichkeit? Wer bist du?” Die Form ist verschwunden; daher die Fra-
ge. In der Liebe gehst du in den andern ein — als dieser. Nicht du
bist es, der antwortet. Ihr werdet eins, und zum erstenmal erfahrt
ihr den Abgrund — eine formlose Präsenz. Darum haben wir über
Jahrhunderte hinweg, viele viele Jahrhunderte lang, keine Statue,
kein Bild von Shiva gemacht. Wir haben nur Shivalingam, das
Symbol, abgebildet. Der Shivalingam ist nur eine formlose Form.
Wenn du jemanden liebst, wenn du in den andern hineingehst,
ist er nur noch eine leuchtende Gegenwart. Der Shivalingam ist
nur eine leuchtende Gegenwart, nur eine Aura von Licht.
Darum fragt Devi: Was ist deine Wirklichkeit? Was ist dies von
Wundern erfüllte Universum?"
Wir kennen das Universum, aber wir kennen es nicht als von
Wundern erfüllt. Kinder kennen es, Liebende kennen es. Manch-
mal kennen es Poeten und Irre. Wir wissen nicht, daß die Welt
voller Wunder ist. Alles ist nur Wiederholung — ohne Wunder,
ohne Poesie —, einfach nur platte Prosa. Die Welt erzeugt in euch
keinen Gesang, erzeugt in euch keinen Tanz•, sie läßt die Poesie
des Innern ungeboren. Das ganze Universum erscheint mecha-
nisch. Kinder betrachten es mit wunder-vollen Augen. Wenn die
Augen wunder-voll sind, ist das Universum wunder-voll.
Wenn du liebst, wirst du wieder wie die Kinder. Jesus sagt:

19
Das Buch der Geheimnisse

„Nur wenn ihr werdet wie die Kinder, werdet ihr das Himmel-
reich Gottes betreten.” Warum? Weil man nicht religiös sein kann,
solange das Universum nicht zum Wunder wird. Das Universum
läßt sich erklären; euer Ansatz ist dann wissenschaftlich. Das Uni-
versum ist bekannt oder unbekannt, aber was unbekannt ist, kann
jederzeit bekannt werden. Es ist nicht untrennbar. Das Universum
wird erst dann unkennbar, erst dann zum Geheimnis, wenn eure
Augen mit Wundern erfüllt sind.
Devi fragt: „Was ist dies von Wundern erfüllte Universum?”
Plötzlich also ein Spring von einer persönlichen Frage zu einer sehr
unpersönlichen. Sie hatte gefragt: ,Was ist deine Wirklichkeit?", und
nun plötzlich: „Was ist dies von Wundern erfüllte Universum?”
Wenn die Form verschwindet, wird der Mensch, den du liebst,
zum Universum, zum Formlosen, zum Unendlichen. Plötzlich
wird Devi gewahr, daß sie gar nicht Shivas wegen fragt; ihre Fra-
ge gilt dem ganzen Universum. Jetzt ist Shiva zum All geworden.
Jetzt kreisen alle Sterne in ihm und das gesamte Firmament, der
ganze Weltraum wird von ihm umhüllt. Jetzt ist er der allumfas-
sende Faktor, das „Große Allumfassende”. Karl Jaspers hat Gott
als das „Große Allumfassende” definiert.
Wenn du in die Liebe hineingehst, in die zuriefst intime Welt
der Liebe, dann verschwindet der Mensch, verschwindet die
Form, und der Geliebte ist nunmehr eine Tür zum Universum.
Deine Neugier ist vielleicht nur eine wissenschaftliche. Dann
mußt du deinen Weg durch die Logik nehmen, dann darfst du
nicht ans Formlose denken. Dann hüte dich vor dem Formlosen.
Dann gib dich mit der Form zufrieden. Daher gibt sich die Wis-
senschaft immer nur mit der Form ab. Wann immer der wissen-
schaftliche Geist mit etwas Formlosem konfrontiert wird, muß er
es zu Form zurechtschneiden. Solange es keine Form hat, ist es
bedeutungslos. Man verleihe ihm zuerst eine Form - eine defini-
tive Form; erst dann kann das Forschen losgehen. Solange es in
der Liebe noch Form gibt, ist sie noch nicht am Ende. Löst die
Form auf! Wenn die Dinge formlos werden, verschwommen,
ohne Grenzen - alles dringt in alles ein, das ganze Universum
wird zum All, zum Einen - dann, nur dann ist es ein von Wun-
dern erfülltes Universum.

20
Kapitel 1

„Was ist der Same?” fährt Devi fort; vom Universum kommt sie
auf die Frage: „Was ist der Same?” Dies formlose, von Wundern
erfüllte Universum — woher kommt es? Wo hat es seinen Ur-
sprung? Oder hat es gar keinen Ursprung? Was ist sein Same?
„ Wer hält das Rad des Alls im Gleichgewicht?” so fragt Devi. Das
Rad dreht sich und dreht sich — all diese enormen Wandlungen,
dies ständige Fließen! Aber wer hält es im Gleichgewicht? Wo ist
die Achse, der Mittelpunkt, der ruhende Pol?
Sie läßt ihm keine Zeit zu antworten ... Sie fragt immer
weiter, als frage sie gar niemanden, als spräche sie zu sich selbst.
„ Was ist dies Leben jenseits von Form, das alle Form durchdrintgt?
Wie können wir vollends hineingelangen? Hinaus über Raum und
Zeit, Namen und Bezeichnungen? Schaffe meinem Zweifel
Klarheit!”
Die Betonung liegt nicht so sehr auf dem Fragen, sondern auf
dem Zweifeln. „Schaffe meinem Zweifel Klarheit!” Dies ist sehr
bedeutsam. Wenn du eine intellektuelle Frage stellst, fragst du
nach einer definitiven Antwort, so daß dein Problem gelöst wird.
Aber Devi sagt: „Schaffe meinem Zweifel Klarheit!” Sie fragt nicht
wirklich um Antwort. Sie bittet um geistige Transformation; denn
ein zweifelnder Sinn wird ein zweifelnder Sinn bleiben, wie auch
immer die Antworten ausfallen mögen. Merkt es euch gut: ein
zweifelnder Sinn bleibt ein zweifelnder Sinn. Antworten sind
gleichgültig. Bekommst du eine Antwort, und du hast einen zwei-
felnden Geist, so wirst du sie anzweifeln. Gebe ich dir eine weitere
Antwort, wirst du sie ebenfalls anzweifeln. Du hast einen zweif-
lerischen Geist. Ein zweiflerischer Geist — das bedeutet, daß du
hinter alles ein Fragezeichen setzt.
Antworten nutzen also nichts. Du fragst mich: „Wer erschuf die
Welt"?, und ich sage dir: „A erschuf die Welt.” Daraufhin fragst
du unweigerlich, wer A erschuf. Das wirkliche Problem lautet also
nicht: Wie soll man Fragen beantworten? Das wirkliche Problem
lautet: Wie soll man den zweiflerischen Geist verändern? Wie ei-
nen Geist hervorbringen, der nicht zweifelt — oder der vertrauen
kann? So sagt Devi: „Schaffe meinem Zweifel Klarheit.”
Noch zwei oder drei Dinge. Wer eine Frage stellt, mag aus
vielerlei Gründen fragen. Einer davon mag einfach nur sein, daß

21
Das Buch der Geheimnisse

du eine Bestätigung willst. Du weißt schon die Antwort; du be-


sitzt sie bereits. Du möchtest nur bestätigt haben, daß deine Ant-
wort richtig ist. Dann ist deine Frage falsch, unecht. Es ist keine
Frage. Man kann eine Frage stellen, nicht weil man bereit ist, sich
zu verändern, sondern lediglich aus Neugierde.
Der Geist fragt immerzu weiter. Dem Geist kommen die Fra-
gen so, wie dem Baum die Blätter. Das ist die eigentliche Natur
des Geistes — zu fragen. Also fragt er immer weiter. Egal, was du
fragst. Wirf dem Geist irgendeinen Brocken hin, er macht eine
Frage daraus. Er ist eine Zerkleinerungsmaschine, die Fragen pro-
duziert. Gib ihm irgendwas: Er wird es zerstückeln und lauter Fra-
gen produzieren. Sobald eine Frage beantwortet ist, wird er aus
der Antwort viele neue Fragen herstellen. Die gesamte Ge-
schichte der Philosophie ist nichts anderes.
Bertrand Russell erinnert sich, als Kind geglaubt zu haben, daß
eines Tages, wenn er reif genug wäre, die gesamte Philosophie zu
verstehen, alle Fragen ausgeräumt wären. Später dann, als Acht-
zigjähriger, sagte er: „Jetzt kann ich sagen, daß meine Fragen be-
stehen blieben, so wie sie für mich als Kind bestanden.” Und vie-
le weitere Fragen sind aufgrund dieser philosophischen Theorien
entstanden. Und er sagte: „Als ichjung war, sagte ich immer, daß
Philosophie ein Forschen nach endgültigen Antworten sei. Heu-
te kann ich das nicht mehr behaupten. Es ist ein Forschen nach
endlosen Fragen.”
Eine Frage erzeugt eine Antwort plus viele Fragen. Der zwei-
felnde Geist ist das Problem. Parvati sagt: „Achte nicht auf meine
Fragen. Ich habe so viele Dinge gefragt: ,Was ist deine Wirklich-
keit? Was ist dies von Wundern erfüllte Universum? Was ist der
Same? Wer hält das Rad des Alls im Gleichgewicht? Was ist dies
Leben jenseits von Form? Wie können wir vollends hineingelan-
gen? Hinaus über Zeit und Raum? ' - Aber achte nicht auf meine
Fragen. Räume lieber meine Zweifel aus. Ich stelle die Fragen nur,
weil sie in meinem Kopf sind, ich stelle sie nur, um dir zu zeigen,
was in meinem Kopf vor sich geht, aber achte nicht zu sehr auf
sie. Wirklich, Antworten können mich nicht befriedigen. Wonach
ich verlange, ist, daß meine Zweifel sich klären.”
Aber wie können die Zweifel erhellt werden? Kann irgendeine

22
f

Kapitel 1

Antwort genügen? Gibt es irgendeine Antwort, die deine Zwei-


fel klären wird? Geist ist Zweifel. Es ist nicht so, daß der Geist
zweifelt. Geist ist Zweifel. Bevor sich der Geist nicht auflöst, kön-
nen die Zweifel nicht ausgeräumt werden.
Shiva wird antworten. Seine Antworten sind Techniken — die
ältesten, die urältesten Techniken überhaupt. Aber ihr könnt sie
auch die allermodernsten nennen, weil ihnen nichts mehr hinzu-
zufügen ist. Sie sind komplett — 112 Techniken. Mit ihnen sind
alle Möglichkeiten erschöpft, alle Methoden, den Geist auszuräu-
men, den Geist zu überwinden. Nicht eine einzige Technik könn-
te Shivas 112 Techniken hinzugefügt werden! Und dieses Buch,
das Vigyana Bhairava Tantra, ist fünftausend Jahre alt. Nichts ist
ihm hinzuzufügen. Es besteht keine Möglichkeit, ihm noch etwas
hinzuzufügen. Es ist erschöpfend, ihm fehlt nichts. Es ist das Al-
lerälteste und doch das Modernste, Neueste. Alt wie ein Gebirge,
scheinen diese Methoden ewig gültig. Und sie sind so neu wie der
Tautropfen vor Sonnenaufgang — so frisch. Diese 112 Methoden
der Meditation umfassen die gesamte Wissenschaft von der Trans-
formation des Geistes. Wir werden in sie eindringen, eine nach
der andern. Wir wollen zunächst versuchen, sie intellektuell zu
begreifen. Aber ihr dürft euren Intellekt nur als Instrument be-
nutzen; laßt ihn nicht den Meister sein. Benutzt ihn als Instru-
ment, etwas zu verstehen, aber erzeugt nicht noch mehr Schran-
ken durch ihn. Wenn wir über diese Techniken sprechen werden,
dann laßt nur alles vergangene Wissen, alle Bescheidwisserei bei-
seite, ganz gleich, was für Informationen ihr angehäuft habt. Laßt
sie beiseite. Sie sind nichts als Reisestaub in euren Kleidern.
Tretet diesen Methoden mit einem frischen Geist entgegen —
mit Wachheit, natürlich, aber ohne Kritik. Und kommt nicht zu
dem falschen Schluß, daß ein kritischer Geist ein wacher Geist sei.
Er ist es nicht. Denn sobald du ins Argumentieren kommst, hast
du deine Wachheit verloren, hast du deine Bewußtheit verloren.
Dann bist du nicht hier.
Diese Methoden gehören keiner Religion an. Vergeßt nicht —
sie sind nicht hinduistisch: genausowenig wie die Relativitäts-
theorie jüdisch ist, weil Einstein sie aufstellte. Und Radio und
Fernsehen sind nicht christlich. Niemand sagt: „Wie, du benutzt

23
Das Buch der Geheimnisse

Elektrizität? Das machen doch nur die Christen, denn der christ-
liche Geist hat sie entdeckt!" Die Wissenschaft gehört nicht den
Rassen und Religionen an. Und Tantra ist eine Wissenschaft.
Merkt euch also: Dies hier hat absolut nichts mit Hinduismus zu
tun. Diese Techniken wurden von Hindus entwickelt, aber des-
halb sind diese Techniken nicht hinduistisch. Deshalb werden in
diesen Techniken keine religiösen Rituale erwähnt. Es ist kein
Tempel für sie nötig. Du selbst bist Tempel genug. Du bist das La-
bor. Das ganze Experiment besteht darin, in dich hineinzugehen.
Glaube ist nicht nötig.
Dies ist nicht Religion. Dies ist Wissenschaft. Glaube ist nicht
nötig. Es ist nicht nötig, an den Koran oder an die Veden oder an
Buddha oder an Mahavir zu glauben. Nein, Glaube ist nicht nötig.
Nötig ist nur eine Abenteuerlust aufs Experimentieren, ein ge-
wisser Mut zum Experiment. Das ist das Schöne. Ein Moslem
kann diese Techniken praktizieren und wird zu den tieferen Be-
deutungen des Korans gelangen. Ein Hindu kann sie praktizieren
und wird zum erstenmal wissen, was die Veden eigentlich sind.
Und ein Jaina kann sie praktizieren, und ein Buddhist kann sie
praktizieren. Sie brauchen darum ihre Religion nicht aufzugeben.
Tantra wird sie erfüllen, wo immer sie sind. Tantra wird auf jedem
Pfad, für den man sich entscheiden kann, hilfreich sein.
Merkt es euch also gut: Tantra ist reine Wissenschaft. Du magst
ein Hindu sein oder Mohammedaner oder Parse — oder was im-
mer. Tantra rührt überhaupt nicht an deine Religion. Tantra sagt,
daß Religion eine gesellschaftliche Angelegenheit ist. Gehöre also
irgendeiner Religion an, gleichgültig welcher. Aber du kannst dich
verwandeln, und diese Verwandlung erfordert eine wissenschaft-
liche Methodologie. Wenn du krank bist, wenn du krank gewor-
den bist und Tuberkulose oder sonst etwas hast, dann macht es
keinen Unterschied, ob du Hindu oder Moslem bist. Der Tuber-
kulose ist dein Hinduismus, ist dein mohammedanischer oder
sonstiger Glaube, egal — ob politisch, gesellschaftlich oder religiös.
Tuberkulose muß wissenschaftlich behandelt werden. Es gibt kei-
ne hinduistische Tuberkulose, keine islamische Tuberkulose.
Du bist unwissend, du bist zerrissen, du schläfst: das ist Krank-
heit, eine spirituelle Krankheit. Diese Krankheit muß mit Tantra

24
Kapitel 1

behandelt werden. Wer du bist, ist gleichgültig, deine Anschau-


ungen sind gleichgültig. Du bist nur aus Zufall irgendwo geboren
worden, und ein anderer irgendwo anders. Das ist bloßer Zufall.
Deine Religion ist Zufall. Klammere dich also nicht daran.
Benutze ein paar wissenschaftliche Methoden, um dich zu trans-
formieren.
Tantra ist nicht sehr bekannt. Und selbst wenn es bekannt ist,
wird es mißverstanden. Dafür gibt es Gründe. Je höher und rei-
ner eine Wissenschaft, desto geringer die Möglichkeit, daß die
Massen davon erfahren. Wir wissen nur vom Hörensagen, was
Relativität ist, Relativitätstheorie. Es hat einmal geheißen, daß nur
zwölf Menschen sie zu Einsteins Lebzeiten verstanden haben. Auf
der ganzen Welt konnte nur ein Dutzend Geister sie verstehen.
Sogar für Albert Einstein war es schwer, sie jemandem anders ver-
ständlich zu machen, weil sie so hoch greift. Sie geht euch über
den Horizont. Aber sie ist verstehbar. Technisches, mathemati-
sches Wissen ist nötig, Schulung ist nötig, und sie kann verstan-
den werden. Aber Tantra ist schwerer, weil keine Schulung hel-
fen kann. Nur Transformation hilft.
Aus diesem Grund konnte Tantra nie von den Massen verstan-
den werden. Und immer, wenn etwas unverständlich ist, wird es
mißverstanden, denn das gibt das Gefühl: „Okay, ich verstehe.”
Man kann nicht einfach im Vakuum bleiben. Und dann verach-
tet man auch, was man nicht versteht, denn die Unfähigkeit, et-
was zu verstehen, wird als Beleidigung empfunden. Du kannst es
nicht verstehen! Du?! Du kannst es nicht verstehen? Das ist un-
möglich. Etwas muß an der Sache faul sein. Man fängt an, sie in
den Schmutz zu ziehen. Man fängt an, dummes Zeug zu reden
und hat dann das Gefühl: „Nun ist alles okay.”
Tantra ist also nicht verstanden worden, Tantra ist miß-
verstanden worden. Es ist so tief und so hoch, daß das unvermeid-
lich war. Und zweitens ist der tantrische Standpunkt überhaupt
amoralisch, weil Tantra über alle Dualität hinausgeht. Versteht bit-
te dieses Wort: moralisch, unmoralisch — amoralisch. Wir können
Moral verstehen, wir können Unmoral verstehen. Aber es wird
schwierig, wenn etwas amoralisch ist -jenseits von beidem.
Tantra ist amoralisch. Seht es einmal so: eine Medizin ist

25
Das Buch der Geheimnisse

amoralisch, weder moralisch noch unmoralisch. Gib sie einem


Dieb, und sie hilft, gib sie einem Heiligen, und sie wird helfen. Sie
wird keinen Unterschied machen zwischen dem Dieb und dem
Heiligen. Die Medizin kann nicht sagen: „Dieser ist ein Dieb, also
werde ich ihn töten; und dieser ist ein Heiliger, also werde ich ihn
heilen.” Eine Medizin ist etwas Wissenschaftliches. Ob du Dieb
bist oder Heiliger, ist unwichtig.
Tantra ist amoralisch. Tantra sagt, daß keine Moral nötig ist —
keine bestimmte Moral. Im Gegenteil — du bist unmoralisch, weil
du einen sehr gestörten Geist hast. Tantra macht es also nicht zur
Voraussetzung, daß du erst moralisch werden mußt, bevor du es
praktizieren kannst. Für Tantra ist das absurd.
Jemand ist krank, er fiebert, und der Arzt kommt und sagt:
„Werde erst dein Fieber los, werde erst ganz gesund. Nur dann
kann ich dir die Medizin geben.” Aber genau das geschieht. Ein
Dieb kommt zu einem Heiligen und sagt: „Ich bin ein Dieb. Sag
mir wie ich meditieren kann.” Der Heilige sagt: „Gibt erst deinen
Beruf auf. Wie kannst du meditieren, wenn du ein Dieb bleibst?”
Ein Alkoholiker kommt und sagt: „Ich bin Alkoholiker. Wie kann
ich meditieren?” Der Heilige sagt: „Die erste Bedingung ist: Gib
das Trinken auf, und dann kannst du meditieren.” Die Bedingun-
gen sind selbstmörderisch. Der Mensch ist deshalb Alkoholiker
oder ein Dieb oder sonst unmoralisch, weil er einen gestörten
Geist hat, einen kranken Geist, denn das sind die Auswirkungen,
die Konsequenzen eines kranken Geistes. Und er bekommt zu
hören: „Werde erst gesund, und dann kannst du meditieren.” Aber
wer braucht dann noch Meditation? Meditation ist Arznei, Me-
ditation ist Medizin.
Tantra ist amoralisch. Es fragt dich nicht, wer du bist. Allein daß
du Mensch bist, genügt. Wo immer du bist, was immer du bist,
du wirst akzeptiert.
Wähle eine Technik, die zu dir paßt, übe sie mit deiner ganzen
Energie aus, und du wirst nicht mehr derselbe Mensch sein.
Wirkliche, authentische Techniken sind immer so. Wenn ich Be-
dingungen stelle, beweist das, daß ich eine Pseudo-Technik habe.
Ich sage: „Erst tu dies und dann tu das, und dann ...” Und es sind
unmögliche Bedingungen; denn ein Dieb kann zwar die Objekte

26
Kapite11

ändern, aber er kann nicht mit dem Stehlen aufhören. Ein gieriger
Mensch kann die Objekte seiner Gier wechseln, aber er kann
nicht un-gierig werden. Man kann ihn zwingen, oder er kann sich
selbst zur Nicht-Gier zwingen, aber das auch nur aus einer ge-
wissen Gier heraus. Wenn ihm der Himmel versprochen wird,
versucht er vielleicht, nicht-gierig zu sein. Aber das ist Gier par
excellence. Das Paradies, Moksha — Befreiung, Satchitananda —
Sein, Bewußtsein, Seligkeit — das sind die neuen Objekte seiner
Gier.
Tantra sagt, man kann den Menschen nicht verändern, es sei
denn, man gibt ihm authentische Methoden, sich zu andern. Nur
durch predigen ändert sich nichts. Das läßt sich in der ganzen
Welt beobachten: Was immer Tantra sagt, steht überall geschrie-
ben. Überall wird es gepredigt, überall wird moralisiert; Priester,
Prediger, überall — die ganze Welt ist voll von ihnen. Und trotz-
dem ist alles so häßlich und so unmoralisch.
Warum ist das so? Das gleiche wäre der Fall mit euren Kran-
kenhäusern, wenn ihr sie den Priestern überlassen würdet. Sie
würden hingehen und zu predigen anfangen. Und sie würden je-
dem kranken Menschen das Gefühl geben: „Du bist dran schuld!
Du hast diese Krankheit erzeugt; jetzt sieh zu, daß sich das än-
dert!” Wenn den Predigern die Krankenhäuser überlassen wür-
den, was wäre dann die Situation in den Krankenhäusern? Genau
die gleiche Situation wie in der ganzen Welt.
Prediger predigen immer nur. Sie sagen den Leuten dauernd:
„Seid nicht wütend!” — ohne ihnen zu sagen, wie! Und wir haben
diese Belehrungen schon so oft gehört, daß wir nicht einmal dar-
auf kommen zu fragen: „Was sagst du da? Ich bin wütend, und du
sagst einfach: Sei nicht wütend!` Wie denn? Wenn ich wütend
bin, heißt das, daß ich Wut bin, und du sagst einfach so: Sei nicht
wütend!` Auf diese Art kann ich mich nur unterdrücken.”
Aber das erzeugt nur noch mehr Wut. Das erzeugt Schuldge-
fühle. Denn wenn du versuchst, dich zu ändern, und es gelingt
dir nicht, bekommst du Minderwertigkeitskomplexe. Du be-
kommst Schuldgefühle, weil es dir nicht gelingt. Du kannst dei-
ne Wut nicht besiegen; niemand kann das! Man braucht gewisse
Waffen, man braucht gewisse Techniken, denn deine Wut ist nur

27
Das Buch der Geheimnisse

ein Symptom für einen gestörten Geist. Verändere den gestörten


Geist, und das Symptom wird sich ändern. Die Wut zeigt nur an,
was innen ist. Ändere das Innere, und das Äußere wird sich
ändern.
Tantra hat also nichts mit eurer sogenannten Moral zu tun.
Wirklich, es ist hinterhältig und degradierend, Moral zu fordern.
Es ist unmenschlich. Wenn mich jemand aufsucht, und ich sage:
„Gib erst die Wut auf, gib erst den Sex auf, gib erst dies und das
auf”, dann bin ich unmenschlich. Es ist unmöglich, das zu tun.
Und diese Unmöglichkeit läßt in dem Betreffenden Selbstver-
achtung entstehen. Er fängt an, sich unterlegen zu fühlen. Er de-
gradiert sich innerlich selbst. Und wenn er das Unmögliche ver-
sucht, wird er zu einem Versager. Und wenn er versagt, ist er
überzeugt, ein Sünder zu sein.
Die Prediger haben der ganzen Welt eingeredet, daß „ihr alle-
samt Sünder seid”. Das ist gut für sie, denn wenn ihr nicht davon
überzeugt seid, kann ihr Geschäft nicht weitergehen. Ihr müßt
Sünder sein, nur dann können die Kirchen, Tempel und Mo-
scheen weiterflorieren. Eure Sündhaftigkeit ist für sie „Hochsai-
son”. Eure Schuldgefühle sind das Fundament der allerhöchsten
Kirchen. Je schuldiger ihr seid, desto höher schießen die Kirchen
in den Himmel. Sie sind auf eure Schuld gebaut, auf eure Sünden,
auf eure Minderwertigkeitskomplexe. Und so haben sie eine min-
derwertige Menschheit geschaffen.
I m Tantra geht es nicht um eure sogenannte Moralität, um
Gesellschaftsformen und dergleichen. Was nicht bedeutet, daß
Tantra sagt: Seid unmoralisch — absolut nicht! Tantra kümmert
sich so wenig um Moral, daß es euch nicht einmal sagen könnte:
Seid unmoralisch! Tantra gibt euch wissenschaftliche Techniken,
wie man den Geist verändert. Und ist der Geist erst einmal an-
ders, wird auch dein Charakter anders sein. Ändert sich erst ein-
mal die Basis deines Bauplans, ändert sich damit dein ganzes
Gebäude. Aufgrund dieser amoralischen Auffassung konnten eure
Scheinheiligen Tantra nicht ertragen. Sie alle richten sich gegen
Tantra, denn sollte es sich durchsetzen, dann hat der ganze Unfug,
der im Namen von Religion getrieben wird, doch ein Ende.
Seht es ganz klar: Das Christentum hat sich gegen den wissen-

28
T-

Kapitel 1

schaftlichen Fortschritt ausgesprochen gewehrt. Warum? Allein


deswegen, weil bei einem wissenschaftlichen Fortschritt in der
materiellen Welt die Zeit nicht mehr fern ist, wo die Wissenschaft
auch in den psychologischen und spirituellen Bereich eindringen
wird. Also kämpfte das Christentum gegen den wissenschaftlichen
Fortschritt an; denn wenn bekannt wird, daß man die Materie
durch Technik verändern kann, ist die Zeit nicht mehr fern, wo
bekannt wird, wie auch der Geist durch Technik verändert wer-
den kann — denn Geist ist nichts anderes als subtile Materie.
Das ist der Ausgangspunkt von Tantra: daß der Geist nichts an-
deres ist als feiner Stoff. Er ist veränderbar. Und hat sich erst ein-
mal der Geist verändert, dann hat sich die ganze Welt verändert.
Denn du siehst durch den Geist. Die Welt, die du siehst, siehst du
aufgrund einer bestimmten geistigen Form. Verändere den Geist
und schau hin: Die Welt hat sich verändert. Und wenn gar kein
Geist mehr da ist, so ist das für Tantra das Höchste: einen Zustand
herbeizuführen, wo es keinen Geist mehr gibt. Dann schaust du
auf die Welt ohne Vermittler. Wenn der Vermittler nicht mehr da
ist, begegnest du dem Wirklichen, weil nun niemand mehr zwi-
schen dir und dem Wi rklichen ist. Nun kann nichts mehr verzerrt
werden.
Tantra nennt also den Zustand, wo kein Geist mehr da ist, den
Zustand eines Bhairava, den Zustand des Nicht-Geistes. Zum er-
stenmal siehst du auf die Welt, auf das, was ist. Solange du einen
Geist hast, hörst du nicht auf, eine Welt zu erschaffen, hörst du
nicht auf, zu vergewaltigen, zu projizieren. Ändere also zuerst den
Geist und geh dann vom Geist zum Nicht-Geist über. Und diese
112 Methoden können jedem und allen helfen. Diese oder jene
Methode mag nichts für dich sein. Darum führt Shiva so viele Me-
thoden vor. Suche dir eine bestimmte Methode aus, die zu dir
paßt. Es ist nicht schwer, herauszufinden, welche zu dir paßt.
Wir wollen versuchen, jede Methode zu verstehen, und wie ihr
diejenige Methode auswählen könnt, die euch und euren Geist
verändern kann. Dies Verständnis, dies intellektuelle Verständnis,
wird eine Grundvoraussetzung sein, aber es ist nicht das Ziel. pro-
biert alles aus, worüber ich hier sprechen werde.
Wirklich, wenn man die richtige Methode ausprobiert, rastet

29
Das Buch der Geheimnisse

sie augenblicklich ein. Ich werde also hier jeden Tag über Metho-
den sprechen. Probiert sie aus. Spielt einfach mit ihnen: Geht nach
Hause und probiert sie aus. Die richtige Methode wird, sobald
man auf sie stößt, einfach einrasten. Etwas in dir explodiert, und
du weißt: Das ist für mich die richtige Methode. Aber es gehört
Anstrengung dazu, und eines Tages magst du überrascht feststel-
len, daß dich plötzlich eine bestimmte Methode erfaßt hat.
Während ich also hier sprechen werde, spielt ihr parallel dazu
mit diesen Methoden. Ich sage „spielt”, denn ihr dürft nicht allzu
ernst dabei sein. Spielt einfach! Etwas paßt vielleicht zu dir. Wenn
es zu dir paßt, dann nimm es ernst, dann geh tief hinein, intensiv,
ehrlich, mit deiner ganzen Energie, mit deiner ganzen Geistes-
kraft. Aber vorher spielt einfach nur.
Ich habe beobachtet, daß euer Geist offener ist, wenn ihr spielt.
Wenn ihr ernst seid, ist euer Geist weniger offen. Er ist verschlos-
sen. Spielt also nur. Seid nicht zu ernst: spielt nur. Und diese Me-
thoden sind einfach. Ihr könnt mit ihnen spielen. Nehmt eine
Methode und spielt damit wenigstens drei Tage lang. Wenn sie in
euch Anklang findet, entsteht in euch ein gewisses Wohlgefühl.
Wenn sie euch das Gefühl gibt, daß dies das Richtige für euch ist,
dann nehmt es ernst. Dann vergeßt all die andern; spielt nicht
mehr mit anderen Methoden. Bleibt bei dieser — zumindest drei
Monate lang. Es können Wunder geschehen. Es kommt einzig
und allein darauf an, daß die Technik zu dir paßt. Wenn die Tech-
nik nichts für dich ist, dann passiert nichts. Dann kannst du über
viele Leben hin damit weitermachen, ohne daß etwas passiert.
Wenn die Methode zu dir paßt, sind sogar drei Minuten schon
genug.
Diese 112 Methoden können also eine wunderbare Erfahrung
für euch werden; es kann aber auch beim bloßen Zuhören blei-
ben. Das kommt auf euch an. Ich werde alle Methoden unter al-
len möglichen Gesichtspunkten beschreiben, eine nach der an-
dern. Wenn ihr eine bestimmte Verwandtschaft mit einer von ih-
nen spürt, dann spielt drei Tage lang mit ihr: danach laßt es sein.
Habt ihr das Gefühl, daß sie paßt, daß etwas in euch einrastet,
dann macht damit drei Monate lang weiter. Das Leben ist ein
Wunder. Wenn ihr sein Mysterium noch nicht erfahren habt,

30
Kapitel 1

dann zeigt das nur, daß ihr die Technik noch nicht kennt, wie ihr
ihm näherkommen könnt.
Shiva stellt 112 Methoden vor. Das sind alle Methoden, die es
gibt. Wenn keine einrastet, und keine dir das Gefühl gibt, das
Richtige für dich zu sein, dann bleibt nichts mehr übrig. Vergeßt
das nicht. Dann kannst du die Spiritualität vergessen und so glück-
lich sein. Dann ist sie nichts für dich.
Aber diese 112 Methoden gelten für die gesamte Menschheit;
für alle Zeitalter, die vergangen sind, und für alle Zeitalter, die
noch kommen werden. Zu keiner Zeit hat es auch nur einen
Menschen gegeben, und es wird auch nie einen geben, der sagen
könnte: „Diese 112 Methoden sind allesamt nichts für mich.” Un-
möglich! Das ist unmöglich.
Jeder Typus ist berücksichtigt worden. Jedem nur denkbaren
Typus wird in Tantra eine Technik gegeben. Es gibt viele Metho-
den, für die es noch gar keinen Menschen gibt: sie sind für die Zu-
kunft. Es gibt viele Methoden, für die es heute keinen Menschen
mehr gibt: Sie galten für die Vergangenheit. Aber habt keine
Angst. Es gibt viele Methoden, die für euch da sind. Morgen be-
ginnen wir also mit dieser Reise.

31
Der Weg des. Yoga und der Weg des Tantra
[Fragen]

Es sind viele Fragen gestellt worden. Die erste:

Was ist der Unterschied zwischen traditionellem Yoga und Tantra?


Ist es das gleiche?

33
Das Buch der Geheimnisse

Tantra und Yoga unterscheiden sich grundsätzlich. Beide führen


zum gleichen Ziel, aber ihre Wege sind nicht nur verschieden,
sondern entgegengesetzt. Das muß also ganz klar verstanden wer-
den.
Auch Yoga ist eine Methodologie, eine Technik, und keine Phi-
losophie. Wie Tantra beruht auch Yoga auf Handeln, Methode,
Technik. Auch im Yoga führt das Tun zum Sein, nur ist der Pro-
zeß hier anders. Im Yoga muß man kämpfen; Yoga ist der Weg
des Kriegers. Auf dem Weg des Tantra kommt Kämpfen über-
haupt nicht in Frage. Im Gegenteil, hier muß man alles zulassen —
mit Bewußtheit.
Yoga ist Unterdrückung mit Bewußtheit: Tantra ist Zulassen mit
Bewußtheit. Tantra sagt: Was du bist, das Höchste ist nicht gegen
dich. Alles ist Wachstum: Du kannst zum Höchsten heranwach-
sen. Zwischen dir und der Wirklichkeit besteht kein Gegensatz.
Du gehörst zu dir. Es ist also kein Kampf nötig, kein Konflikt, kei-
ne Auseinandersetzung mit der Natur. Du mußt die Natur nut-
zen; du mußt alles nutzen, was du bist, um es zu transzendieren.
I m Yoga mußt du gegen dich ankämpfen, um über dich hin-
auszuwachsen. Im Yoga sind Welt und Moksha — das, was du
bist, und das, was du sein kannst — zwei entgegengesetzte Din-
ge. Unterdrücke, bekämpfe, vernichte das, was du bist, auf daß
du wirst, was du sein kannst. Transzendieren bedeutet im Yoga
Tod: Du mußt sterben, damit dein wahres Wesen geboren wer-
den kann.
In den Augen von Tantra ist Yoga ein endgültiger Selbstmord.
Du mußt dein natürliches Selbst töten — deinen Körper, deine In-
stinkte, deine Wünsche, alles. Tantra sagt: Akzeptiere dich so, wie
du bist. Es ist ein tiefes Ja-Sagen. Schaffe keine Kluft zwischen dir
und dem Wirklichen, zwischen Welt und Nirvana. Schaffe keine
Kluft. Für Tantra ist keine Kluft da. Kein Tod ist nötig. Zur Neu-
geburt ist kein Tod nötig, sondern Transzendenz. Und um trans-
zendieren zu können, mußt du von dir selbst Gebrauch machen.
Zum Beispiel vom Sex, der elementaren Energie, durch die du
geboren wurdest, mit der du geboren wirst. Die Zellen, aus denen
du bestehst, sind im Grunde sexuell: daher kreisen die Gedanken
des Menschen immer um den Sex. Im Yoga mußt du gegen diese

34
Kapitel 2

Energie ankämpfen, und durch diesen Kampf entsteht ein ande-


res Zentrum in dir. Je mehr du kämpfst, desto mehr kristallisiert
sich in dir ein neues Zentrum heraus. Der Sex ist nun nicht mehr
dein Zentrum; dein Kampf gegen den Sex — freilich bewußt — er-
zeugt in dir ein neues Daseinszentrum, eine Gewichtsverschie-
bung, einen neuen Kristallisationspunkt. Dann ist deine Energie
nicht mehr sexuell, sondern du transformierst sie zu Kampf ge-
gen den Sex. Eine andere Energie entsteht, und damit ein anderes
Daseinszentrum.
Für Tantra mußt du deine Sexenergie nutzen. Bekämpfe sie
nicht, verfeinere sie. Denke nicht in Begriffen von Feindschaft,
freunde dich mit ihr an. Es ist deine Energie. Sie ist nicht böse, sie
ist nicht schlecht. Jede Energie ist einfach natürlich. Sie kann für
und sie kann gegen dich genutzt werden. Du kannst einen Block
daraus machen, eine Schranke, oder du kannst eine Stufe daraus
machen. Sie kann genutzt werden. Richtig genutzt, wird sie dein
Freund: falsch genutzt, wird sie dein Feind. Aber in Wirklichkeit
ist sie weder-noch. Energie ist einfach natürlich. Aber so, wie der
gewöhnliche Mensch mit dem Sex umgeht, macht er sich ihn
zum Feind, der ihn zerstört. Man reibt sich einfach damit auf.
Yoga hat den Gegenstandpunkt eingenommen. Gewöhnlich zer-
stört man sich durch seine Triebe — also sagt Yoga: Hör mit dem
Begehren auf. Sei begierdelos. Bekämpfe die Begierde und inte-
griere dich, bis du wunschlos bist.
Tantra sagt: Mach dir deine Begierde bewußt, ohne sie zu
bekämpfen. Geh voll bewußt in die Begierde hinein, dann gehst
du über sie hinaus. Du bist in ihr und doch nicht in ihr. Du gehst
hindurch, bleibst aber außerhalb.
Yoga zieht deshalb so an, weil es der üblichen Einstellung ge-
nau widerspricht: und gerade darum kann der gewöhnliche Ver-
stand die Sprache von Yoga verstehen. Du weißt, wie der Sex
dich seit jeher zerstört, wie sich alles um ihn dreht, als wärest du
sein Sklave, seine Marionette. Du weißt das aus eigener Erfah-
rung. Wenn Yoga also sagt: „Kämpfe dagegen an! ”, verstehst du
diese Sprache sofort. Das ist der Reiz, der vordergründige Reiz
des Yoga.
Tantra ist nicht so attraktiv. Tantra scheint problematisch: Wie

35
Das Buch der Geheimnisse

kann man den Trieb zulassen, ohne von ihm überwältigt zu wer-
den? Wie kann man im Sexakt bewußt sein, ganz und gar wach?
Das macht Angst. Das scheint gefährlich. Nicht, daß es gefährlich
ist, aber nach allem, was du vom Sex weißt, kommt dir das ge-
fährlich vor. Du kennst dich, du weißt, wie du dich täuschen
kannst. Du weißt sehr genau, wie listig du bist. Du kannst dich
auf ein Verlangen einlassen — auf Sex, auf alles mögliche — und dir
dabei selber vormachen, daß du es mit voller Bewußtheit tust.
Darum scheint es gefährlich.
Die Gefahr liegt nicht im Tantra, die Gefahr liegt in dir. Und
der Reiz des Yoga kommt auch aus dir, aus deiner gewöhnlichen
Einstellung, deiner sex-verdrängten, sex-ausgehungerten, sex-
überfluteten Einstellung. Yoga reizt, weil die übliche Einstellung
zum Sex ungesund ist. Wäre die Menschheit besser dran und
wäre sie sexuell gesund, ganz natürlich, ganz normal, dann läge
der Fall anders. Wir sind nicht natürlich, wir sind nicht normal.
Wir sind absolut anormal, ungesund, ja geradezu geisteskrank.
Aber weil alle andern auch so sind, merken wir es nicht. Unsere
Geisteskrankheit ist so normal, daß es eher anormal ist, wenn ei-
r mal nicht geisteskrank ist. Ein Buddha ist für uns anormal, ein
Jesus ist für uns anormal. Solche Leute gehören nicht zu uns. Un-
sere „Normalität” ist eine Krankheit, und gerade sie macht Yoga
so anziehend. Sobald ihr den Sex natürlich nehmen könnt, ohne
ihn mit Philosophie zu verbrämen, ohne Ideologie für oder wi-
der, sobald ihr den Sex so nehmen könnt wie eure Hände, eure
Augen, genauso selbstverständlich, dann wird Tantra interessant.
Und nur dann kann Tantra vielen helfen. Aber Tantra ist irn Kom-
men. Früher oder später wird Tantra in den Massen explodieren,
denn zum erstenmal ist die Zeit reif — reif dafür, den Sex ganz
natürlich zu nehmen. Vermutlich wird diese Explosion aus dem
Westen kommen, denn Freud, Jung und Reich haben ihr den Bo-
den bereitet. Sie wußten nichts von Tantra, aber sie haben den
richtigen Boden bestellt, auf dem Tantra gedeihen kann. Die west-
liche Psychologie ist zu dem Schluß gekommen, daß die
grundsätzliche Krankheit des Menschen irgendwie mit dem Sex
zu tun hat, daß die grundsätzliche Gestörtheit des Menschen sei-
ne Sexfixiertheit ist.

36
Kapitel 2

Erst also wenn sich diese Sexorientiertheit aufgelöst hat, kann


der Mensch natürlich und normal sein. Der Mensch ist nur we-
gen seiner Einstellung zum Sex durcheinander geraten. Du
brauchst aber überhaupt keine Einstellung zu haben – erst dann
bist du natürlich. Hast du eine Einstellung zu deinen Augen? Sind
sie böse oder göttlich? Bist du für oder gegen die Augen? Da hast
du keine Einstellung! Und genau darum sind deine Augen normal.
Nehmt einmal an, die Augen seien böse. Dann wird das Sehen
problematisch. Dann gewinnt das Sehen die gleiche Problematik
wie bisher der Sex. Dann würdet ihr plötzlich sehen wollen, wür-
det euch danach sehnen und euch, wenn ihr es tätet, schuldig
fühlen! Jedesmal bekämt ihr Schuldgefühle, denn ihr hättet et-
was Schlimmes getan, eine Sünde begangen. Am liebsten würdet
ihr euch eure Seh-Instrumente ausreißen, eure Augen ausste-
chen. Und je mehr ihr gegen sie wüten würdet, desto mehr wür-
den sie ins Zentrum rücken. Und so begänne ein ganz absurder
Teufelskreis: ihr würdet immer mehr sehen wollen und euch
gleichzeitig immer schuldiger fühlen. Das ist es, was mit dem Sex
passiert ist.
Tantra sagt: Akzeptiere dich, egal was du bist. Dies ist die
Grundnote: totales Akzeptieren. Und nur durch totales Akzep-
tieren kannst du wachsen. Nutze also jede deiner Energien. Wie
kannst du das? Erst akzeptiere sie; dann finde heraus, was diese
Energien sind, was Sex ist, was es mit diesem Phänomen auf sich
hat. Wir sind nicht damit vertraut. Wir wissen über den Sex, was
uns andere erzählt haben; wir mögen zwar den Sexakt kennen,
aber wir tun es meist mit Schuldgefühlen, verklemmt, in aller Eile.
Etwas, das man schleunigst hinter sich bringt. Der Sexakt ist für
euch kein Akt der Liebe. Er macht euch nicht glücklich, aber sein
lassen könnt ihr ' s auch nicht. Je mehr ihr ihm ausweichen wollt,
desto attraktiver wird Sex. Je mehr ihr ihn ablehnt, desto mehr
zieht er euch an.
Ihr könnt den Sex nicht aus der Welt schaffen .; aber mit dieser
feindseligen Haltung, dieser Vernichtungswut, zerstört ihr genau
die Geistigkeit, die Bewußtheit, die Empfindsamkeit, die allein zu
einem Verständnis führen könnte. So macht ihr ohne jede Sensi-
bilität weiter, ohne jedes Verständnis. Nur eine tiefe Sensibilität

37
Das Buch der Geheimnisse

kann verstehen, nur eine tiefe Einfühlung, nur ein tiefes Mitge-
hen kann überhaupt verstehen. Du kannst den Sex nur verstehen,
wenn du in ihn hineingehst, so wie ein Dichter einen Blumen-
garten betritt — nur so. Wenn dir die Blumen Schuldgefühle ma-
chen, dann gehst du zwar durch den Garten, aber tust es mit ge-
schlossenen Augen und wie von einer tiefen, wahnsinnigen Hast
getrieben. Nur raus aus dem Garten! Wie kann man da bewußt
bleiben?
Tantra sagt also, akzeptiere dich, egal was du bist. Du bist ein
vielschichtiges Mysterium: Akzeptiere alles und gehe mit jeder
Energie mit, in tiefer Sensibilität, Bewußtheit, Liebe, Einsicht. Fol-
ge ihr! Dann wird jedes Verlangen zum Vehikel, das über sich
selbst hinausführt. Dann wird dir jede Energie zur Hilfe. Und
dann ist genau diese Welt das Nirvana, dann ist genau dieser Kör-
per der Tempel — ein Heiligtum, eine heilige Stätte. Yoga ist Ver-
neinung; Tantra ist Bejahung. Yoga denkt dualistisch: daher das
Wort „Yoga”, welches bedeutet: „zwei Dinge werden zusam-
mengefügt”, „zwei Dinge unter einem Joch”. Diese Zweiheit, die-
se Dualität bleibt immer bestehen. Für Tantra gibt es überhaupt
keine Dualität. Wenn Dualität existiert, können die zwei Seiten
nie zusammenkommen; was man auch anstellt, sie werden zwei-
erlei bleiben, und so geht der Zwist weiter, der Dualismus bleibt
bestehen.
Wenn Welt und Gott zweierlei sind, können sie nie zusammen
kommen. Nur wenn sie in Wirklichkeit nicht zwei sind, sondern
nur so erscheinen, können sie auch vereint werden. Wenn Kör-
per und Seele zwei sind, können sie nicht zusammenkommen.
Wenn du und Gott zweierlei seid, könnt ihr nie vereint sein, son-
dern müßt entzweit bleiben.
Für Tantra gibt es Dualität nicht — oder allenfalls als Schein.
Warum also den Schein verstärken? Tantra fragt: Warum diesen
Schein der Dualität noch fördern? Löst ihn jetzt gleich auf! Seid
eins! Im Akzeptieren wirst du eins, nicht durch Kampf. Akzep-
tiere die Welt, akzeptiere den Körper, akzeptiere alles, was in ihm
wohnt. Stelle kein anderes Zentrum in dir her, denn für Tantra ist
dies andere Zentrum nichts weiter als das Ego. Für Tantra, vergeßt
das nicht, ist es nichts als das Ego. Bau kein Ego auf. Sei dir ledig

38
Kapitel 2

lich bewußt, was du bist. Wenn du kämpfst, kommt Ego auf.


Daher gibt es kaum einen Yogi, der kein Egoist wäre. Kaum
möglich! Die Yogis mögen noch so viel von Egolosigkeit reden,
aber sie können nicht egolos sein. Ihre Methode selbst produziert
Ego. Kampf ist ihre Methode. Wer kämpft, schafft zwangsläufig
Ego. Und je mehr man kämpft, desto stärker wird das Ego. Und
gewinnt man den Kampf gar, dann bekommt man das größte Ego
überhaupt.
Tantra sagt: Kämpfe nicht! So hat das Ego keine Chance. Wenn
wir Tantra verstehen wollen, tauchen viele Probleme auf: denn
für uns bedeutet Kampflosigkeit soviel wie Gehenlassen. Kein
Kampf, das heißt für uns Zügellosigkeit. Das macht uns Angst. Le-
ben für Leben haben wir lässig dahingelebt, und es hat uns nichts
eingebracht. Aber das tantrische Gehenlassen ist nicht unser Ge-
henlassen. Tantra sagt: Laß dich gehen, aber bewußt.
Du bist zum Beispiel wütend. Tantra sagt nun nicht, daß du
nicht wütend sein darfst. Tantra sagt, sei aus vollem Herzen wü-
tend, aber sei bewußt dabei. Tantra ist nicht gegen Wut. Tantra ist
nur gegen spirituelle Verschlafenheit, spirituelle Unbewußtheit.
Sei bewußt und sei wütend. Und dies ist das Geheimnis seiner
Methode: daß die Wut durch deine Bewußtheit transformiert
wird — sie wird zu Mitgefühl. Tantra sagt also, daß die Wut nicht
dein Feind ist. Sie ist Mitgefühl im Keim. Die gleiche Wut, die
gleiche Energie, wird zu Mitgefühl.
Wenn du gegen sie ankämpfst, hat das Mitgefühl keine Chance.
Wenn du sie also mit Erfolg bekämpfst und unterdrückst, bist du
ein toter Mann. Es ist zwar keine Wut mehr da — denn du hast sie
unterdrückt —, aber es ist auch kein Mitgefühl möglich, weil Mit-
gefühl nur aus der Wut entstehen kann. Wenn du dich erfolgreich
unterdrückst — was unmöglich ist! —, dann ist kein Sex mehr da,
aber auch keine Liebe, denn wo der Sex tot ist, ist keine Energie
da, die zu Liebe werden könnte. Du wirst also sexlos sein, aber
auch ohne Liebe. Und dann ist alles sinnlos, denn ohne Liebe gibt
es keine Göttlichkeit, ohne Liebe gibt es keine Erlösung, und ohne
Liebe gibt es auch keine Freiheit.
Tantra sagt, daß man gerade diese Energien verwandeln muß.
Man kann es auch so sagen: Wenn du gegen die Welt bist, dann

39
Das Buch der Geheimnisse

gibt es kein Nirvana, weil genau diese Welt zu Nirvana umge-


wandelt wird. Dann bist du gegen die elementaren Energien, die
die Quelle sind.
Die tantrische Alchemie sagt also: Kämpfe nicht. Befreunde
dich mit allen Energien, die dir geschenkt wurden. Heiße sie will-
kommen. Sei der Wut, dem Sex, der Gier dankbar. Sei dankbar
dafür, denn dies sind deine versteckten Quellen. Sie könnten
transformiert, sie können erschlossen werden. Und wird der Sex
transformiert, wird Liebe daraus. Das Gift darin, das Häßliche ist
fort.
Die Saatform ist häßlich, aber wenn sie sich regt, keimt und auf-
blüht, entsteht Schönheit. Wirf nicht die Samenkörner fort, denn
damit wirfst du auch die Blumen fort, die in ihnen stecken. Sie
sind zwar noch nicht da, haben sich noch nicht gezeigt; sie sind
noch nicht sichtbar, noch nicht manifest, aber da sind sie. Nutze
den Samen, damit du in den Genuß der Blumen kommst. Fang
also mit dem Akzeptieren an, mit Einfühlsamkeit, Verständnis und
Wachheit. Dann kannst du dich gehenlassen.
Noch etwas — etwas wirklich sehr Merkwürdiges, aber dies ist
eine der tiefsten Einsichten im Tantra — daß nämlich alles, was du
für deinen Feind hältst, Gier, Wut, Sex oder was immer, nur durch
deine feindliche Einstellung zum Feind wird. Nimm sie als göttli-
che Gaben und geh sie mit einem sehr dankbaren Herzen an.
Zum Beispiel hat Tantra viele Techniken für die Transformation
der Sexenergie entwickelt. Geh in den Sexakt hinein, als beträtest
du den Tempel Gottes. Nimm den Sexakt als Gebet, als Medita-
tion. Empfinde seine Heiligkeit.
Das ist der Grund, warum in Khajuraho, warum in Puri, in Ko-
nark jeder Tempel Maithun-Skulpturen hat. Die Darstellung des
Sexaktes an den Wänden von Tempeln? — das wirkt obszön, vor
allem für Christen, Mohammedaner und Jainas. Nicht zu glau-
ben, absurd! Was hat ein Tempel mit Maithun-Darstellungen zu
tun? An den Außenwänden der Khajuraho Tempel ist jede er-
denkliche Spielart des Sexaktes in Stein dargestellt. Warum? Die
Christen könnten sich keine Kirchenwand mit Khajuraho-Skulp-
turen vorstellen. Nicht auszudenken!
Die Hindus haben heute auch Schuldgefühle, denn die Vor-

40
Kapitel 2

stellungswelt der modernen Hindus ist von den Christen geprägt


worden. Sie sind „Hindu-Christen”, und das ist schlimm; Christ
zu sein, das geht noch an, aber ein Hindu-Christ zu sein ist einfach
krank. Sie haben Schuldgefühle! Ein führender Hindu,
Purshottamdas Tandon, hat sogar angeregt, diese Tempel zu zer-
stören, da sie nicht „zu uns” gehörten. Und wirklich, sie scheinen
nicht zu uns zu gehören, denn Tantra ist schon lange, schon seit
Jahrhunderten, aus unserem Herzen verbannt. Tantra war nicht
die Hauptströmung. Yoga war die Hauptströmung, und für Yoga
ist Khajuraho unvorstellbar: es muß zerstört werden.
Tantra sagt: Gehe in den Sexakt hinein wie in einen heiligen
Tempel — und also haben sie den Sexakt auch in ihren heiligen
Tempeln dargestellt. Mit andern Worten: Wenn du in den Sexakt
hineingehst wie in einen heiligen Tempel, muß auch der Sex zu-
gegen sein, wenn du einen heiligen Tempel betrittst: so wird bei-
des miteinander verbunden, assoziiert. Nur so kannst du ahnen,
daß die Welt und das Göttliche nicht zwei widerstreitende Ele-
mente sind, sondern eins. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus,
sondern sind polare Gegensätze, die einander ergänzen und nur
aus dieser Polarität heraus existieren können. Geht die Polarität
verloren, geht die ganze Welt verloren. Seht die tiefe Einheit, die
alles erfaßt, seht nicht nur die Einzelpole. Seht den Strom, der in-
nen fließt und sie zu Einem macht.
Im Tantra ist alles heilig. Denkt daran: Im Tantra ist alles heilig;
nichts ist ihm unheilig. Man kann es auch so sagen: dem unreli-
giösen Menschen ist nichts heilig; dem sogenannten religiösen
Menschen ist das eine heilig und das andere nicht: und im Tantra
ist alles heili g.
Vor ein paar Tagen war ein christlicher Missionar bei mir; er
sagte: „Gott hat die Welt erschaffen.” Ich fragte: „Wer erschuf die
Sünde?” Er sagte: „Der Teufel.” Ich fragte: „Wer schuf den Teu-
fel?” Da wußte er nicht weiter. Er sagte: „Natürlich Gott; Gott er-
schuf den Teufel!”
Der Teufel erschafft die Sünde, und Gott erschafft den Teufel:
Wer ist also der Schuldige? Der Teufel oder Gott? Aber das dua-
listische Konzept führt immer zu solchen Absurditäten. Für Tan-
tra sind Gott und Teufel nicht zwei. Wirklich, für Tantra gibt es

41
Das Buch der Geheimnisse

nichts, das „Teufel” genannt werden könnte: alles ist göttlich, alles
ist heilig. Und das scheint der richtige Standpunkt zu sein, der tief-
gehendste. Denn sollte irgend etwas auf dieser Welt unheilig sein,
woher kommt es dann und wie kann es überhaupt existieren?
Es gibt also zwei Alternativen. Erstens die des Atheisten, der
sagt: Alles ist unheilig. Das ist okay; er ist ein Nicht-Dualist, er
sieht nichts Heiliges in der Welt. Und es gibt die Alternative des
Tantrikers, der sagt: Alles ist heilig. Auch er ist ein Nicht-Dualist.
Aber die sogenannten religiösen Leute dazwischen sind nicht
wirklich religiös. Sie sind weder religiös noch areligiös, weil sie
i mmer im Zwiespalt leben. Und ihre ganze Theologie dient nur
dazu, die Widersprüche zu vereinen – aber diese Widersprüche
lassen sich nicht vereinen.
Ist auch nur eine einzige Zelle, ein einziges Atom in diesem
Universum ungöttlich, dann wird die ganze Welt damit ungött-
lich: denn wie kann dies ungöttliche Atom in einer göttlichen
Welt existieren? Wie kann es überhaupt da sein? Alles trägt es; um
da sein zu können, muß es von allem getragen werden. Und
wenn dies ungöttliche Element auf all die göttlichen Elemente
angewiesen ist, wo liegt dann der Unterschied zwischen ihm und
ihnen? Entweder ist die Welt also restlos göttlich – ohne Ausnah-
me –, oder sie ist ungöttlich. Es gibt keinen Mittelweg.
Tantra sagt, daß alles heilig ist; darum ist Tantra uns so fremd.
Tantra ist der tiefste nicht-dualistische Standpunkt, den es gibt –
sofern man es noch einen Standpunkt nennen kann. Es ist keiner,
denn jeder Standpunkt ist zwangsläufig dualistisch. Tantra ist ge-
gen nichts gerichtet, ist also auch kein Standpunkt mehr. Tantra
ist gefühlte Einheit, gelebte Einheit.
Dies sind also die beiden Wege -- Yoga und Tantra. Tantra zieht
deshalb weniger an, weil wir so verkrüppelt sind. Aber sobald der
Mensch innerlich gesund wird und nicht mehr chaotisch ist, ge-
winnt Tantra seine Schönheit zurück. Nur so ein Mensch kann
verstehen, was Tantra ist. Die Attraktion von Yoga liegt an unse-
rer verworrenen Einstellung.
Vergeßt nie: Es ist letztlich immer der Kopf, der etwas attraktiv
und unattraktiv macht. Du selbst bist der entscheidende Faktor.
Die Ansätze unterscheiden sich. Ich sage nicht, daß man durch

.42
Kapitel 2

Yoga nicht auch ankommen kann. Man kann auch durch Yoga an-
kommen, aber nicht durch das modische Yoga. Das heute übliche
Yoga ist in Wirklichkeit kein Yoga, sondern das, was kranke
Gemüter daraus gemacht haben. Yoga kann als authentischer Weg
zum Allerhöchsten führen, aber auch nur dann, wenn deine Ein-
stellung gesund ist, wenn du keine krankhafte und verkrüppelte
Einstellung hast. Dann wird Yoga zu etwas ganz anderem.
Mahavir zum Beispiel ging den Weg des Yoga, aber er unter-
drückte den Sex nicht. Er hatte ihn kennengelernt, er hatte ihn
durchlebt, er war tief mit ihm vertraut. Aber Sex wurde sinnlos,
also ließ er ihn sein. Buddha ging den Weg des Yoga, aber er hat
gelebt, er war tief mit der Welt vertraut. Er kämpfte nicht gegen
sie an.
Was du erfahren hast, davon bist du frei. Es fällt ab wie welkes
Laub. Das ist nicht Entsagung; mit Kampf hat das nichts zu tun.
Seht Buddhas Gesicht: Es ist nicht das Gesicht eines Kämpfers. Er
hat keinen Kampf hinter sich. Er ist so entspannt! Sein Gesicht ist
geradezu der Inbegriff der Entspannung: konfliktlos. Seht euch
eure Yogis an: Kampf ist ihnen ins Gesicht geschrieben. In ihnen
herrscht Aufruhr. Sie sitzen auf Vulkanen. Seht ihnen in die Au-
gen, ins Gesicht, und ihr werdet es spüren. Sie haben all ihre
Krankheiten rief unterdrückt, nicht transzendiert.
In einer gesunden Welt in der jeder authentisch lebt, individuell
und ohne andere nachzuahmen, jeder auf eigene Weise, sind bei-
de Wege möglich. Dann könnt ihr jene tiefe Sensibilität erfahren,
die über jedes Verlangen hinausgeht: ihr kommt an den Punkt,
wo alles Verlangen unsinnig wird und abfällt. Auch Yoga kann ein
Weg dahin sein, aber das nur in einer Welt, in der auch Tantra
möglich ist — vergeßt das nicht. Wir brauchen eine gesunde Ein-
stellung, einen natürlichen Menschen. Für so eine Welt, für so ei-
nen Menschen, können sowohl Tantra wie Yoga zur Transzen-
denz der Wünsche führen.
Für unsere sogenannte kranke Gesellschaft sind weder Yoga
noch Tantra ein Weg, denn wenn wir Yoga wählen, dann nicht,
weil wir über unsere Begierden hinaus sind ... nein! Sie sind sehr
wohl noch da: sie gehen nicht von selbst weg. Wir verdrängen sie
einfach.

43
Das Buch der Geheimnisse

Yoga wird so zu einer Technik der Unterdrückung. Und


wählen wir Tantra, dann aus Berechnung, aus dem Wahn heraus,
uns nun austoben zu können. Weder Yoga noch Tantra bringen
also etwas, solange wir geisteskrank sind. Beides führt zu Illusio-
nen. Eine gesunde Einstellung, vor allem zur Sexualität, ist die
Voraussetzung. Danach ist es nicht weiter schwierig, sich seinen
Weg zu wählen. Yoga oder Tantra — beides ist recht.
Es gibt zwei Typen von Menschen — grundsätzlich den männ-
lichen und den weiblichen Typ; ich meine das nicht biologisch,
sondern psychologisch. Für die, deren Psychologie im wesentli-
chen männlich ist — aggressiv, gewaltsam, extrovertiert -, ist Yoga
der Weg. Für diejenigen, die im wesentlichen feminin sind — emp-
fänglich, passiv, nicht-gewalttätig —, ist Tantra der Weg. Merkt es
euch so: für Tantra ist die Urmutter, sind Kali, Tara und all die De-
vis, Bhairavis (weibliche Gottheiten) zentral wichtig. Im Yoga
stößt man nirgends auf den Namen einer weiblichen Gottheit.
Tantra hat weibliche Gottheiten, Yoga hat männliche Götter. Yoga
ist nach außen gerichtete Energie. Tantra ist nach innen gerichte-
te Energie. Die moderne Psychologie würde sagen, daß Yoga ex-
trovertiert ist und Tantra introvertiert. Es kommt auf die Persön-
lichkeit an. Bist du introvertiert, dann ist Kampf nichts für dich.
Bist du extrovertiert, ist Kampf dein Weg.
Aber wir sind ganz einfach chaotisch: wir sind in einem heillo-
sen Durcheinander. Darum hilft uns auch nichts. Im Gegenteil,
alles verwirrt uns nur noch mehr. Yoga verwirrt euch, Tantra ver-
wirrt euch. Jede Arznei bringt eine neue Krankheit, weil ein
Kranker sie wählt. Was immer er entscheidet, ist krank und un-
gesund. Ich meine also nicht, daß man durch Yoga nicht zur Er-
leuchtung kommen könnte; ich hebe Tantra hier lediglich deshalb
hervor, weil wir verstehen wollen, was Tantra überhaupt ist.

Eine weitere Frage:

Wie kann einer, der den Weg der Hingabe geht, unter 112 Methoden
die richtige für sich herausfinden?

Für den Weg des Willens gibt es Techniken — eben diese 112.

44
Kapitel 2

Für den Weg der Hingabe ist Hingabe selbst die Methode, und es
gibt keine andere. Methode heißt Nicht-Hingabe, denn Metho-
de bedeutet, auf sich selbst gestellt zu sein. Du tust etwas: die
Technik ist vorgegeben, nun kannst du sie anwenden. Auf dem
Weg der Hingabe bist du nicht mehr da, kannst also gar nichts
tun. Du hast das Höchste getan, das Letzte: du hast dich ganz aus-
geliefert. Auf dem Weg der Hingabe ist Hingabe der einzige Weg.
All diese 112 Methoden erfordern einen gewissen Willen: et-
was muß von dir aus getan werden. Du manipulierst deine Ener-
gie, du balancierst deine Energie aus, du schaffst ein Zentrum in
deinem Chaos. Du tust etwas. Daß du dir Mühe gibst, ist we-
sentlich, fundamental, unerläßlich. Auf dem Weg der Hingabe ist
nur eines nötig: dich aufzugeben. Wir wollen tief in diese 112 Me-
thoden eindringen, und so lohnt es sich, etwas über die Hingabe
zu sagen; denn Hingabe kennt keine Methode. In diesen 112 Me-
thoden wird nichts über Hingabe gesagt. Warum hat Shiva nichts
über sie gesagt? Weil es nichts zu sagen gibt. Bhairavi selbst, Devi
selbst, ist nicht durch eine Methode zu Shiva gelangt. Sie hat sich
ihm einfach nur hingegeben. Das ist wichtig hervorzuheben: Sie
stellt diese Fragen etwa nicht um ihrer selbst willen. Sie stellt die-
se Fragen für die gesamte Menschheit. Sie ist bei Shiva angekom-
men, ist schon in seinem Schoß, liegt schon in seiner Umarmung.
Sie ist langst eins mit ihm. Und doch fragt sie.
Bedenkt also: sie fragt Shiva nicht um ihrer selbst willen; das
braucht sie nicht. Sie fragt für die gesamte Menschheit. Aber war-
um muß sie erst Shiva fragen, wo sie doch selbst erleuchtet ist?
Kann sie nicht selbst zur Menschheit sprechen? Nun, sie ist auf
dem Weg der Hingabe angekommen, also weiß sie nichts von
Methoden. Sie selbst ist dem Weg der Liebe gefolgt. Liebe an sich
genügt! Liebe braucht weiter nichts. Devi ist durch die Liebe an-
gekommen, also weiß sie nichts von irgendwelchen Methoden,
Techniken. Darum fragt sie.
Shiva spricht also von 112 Methoden. Auch er sagt nichts von
Hingabe, weil Hingabe nicht wirklich eine Methode ist. Ihr lie-
fert euch erst aus, wenn jede Methode fehlschlägt, wenn ihr durch
keine Methode weiterkommt: Du hast dein Bestes versucht, hast
umsonst an jede Tür geklopft: du hast es auf allen Wegen

45
Das Buch der Geheimnisse

versucht, und kein Weg führt weiter; du hast überhaupt alles ge-
tan, was du nur tun konntest, und nun bist du hilflos. In dieser to-
talen Hilflosigkeit lieferst du dich aus.
Auf dem Weg der Hingabe gibt es also keine Methode. Aber
was ist dann Hingabe, und wie funktioniert sie? Und wenn Hin-
gabe funktioniert, wozu dann 112 Methoden? „Wozu die Mühe?”
fragt sich der Kopf. „Dann okay! Wenn es mit Hingabe geht, ist
es doch besser, sich auszuliefern. Warum sich mit Methoden ab-
strampeln? Und wer weiß, welche Methode nun ausgerechnet für
mich gut ist? Es mag viele Leben dauern, bis ich das herausfinde.
Besser also, ich gebe mich hin.” Aber das ist nicht so leicht. Gut,
aber schwer, das Allerschwerste von der Welt. Methoden sind
nicht schwierig. Sie sind leicht. Man kann trainieren. Aber Hin-
gabe kann man nicht trainieren. Kein Training! Du kannst nicht
fragen: „ Wie kann ich üben, mich hinzugeben?” — die Frage wäre
absurd. Wie kannst du fragen, wie man das macht? Kannst du fra-
gen, wie man liebt?
Entweder ist die Liebe da oder nicht, aber du kannst nicht fra-
gen, wie man liebt. Und wenn es dir einer beibringen will, wirst
du — vergiß das nicht — niemals lieben können. Hast du erst eine
Technik für die Liebe, dann klammerst du dich daran. Darum
können Schauspieler nicht lieben. Sie kennen so viele Techniken,
so viele Methoden ... und wir alle sind Schauspieler! Beherrschst
du den Trick, wie man liebt, kann keine Liebe mehr aufblühen,
denn jetzt kannst du eine Fassade errichten, kannst etwas vor-
spielen, und damit hältst du dich raus. Du bist nicht mehr inner-
lich beteiligt. Du hast dich in Sicherheit gebracht ... Liebe heißt,
total offen, verwundbar zu sein. Das ist gefährlich. Das macht un-
sicher. Man kann nicht fragen, wie man liebt. Man kann nicht fra-
gen, wie man sich hingibt. Es geschieht! Liebe geschieht, Hingabe
geschieht. Liebe und Hingabe sind im Kern eins.
Aber was sind sie? Da wir nicht wissen, wie man sich ausliefert,
können wir zumindest nachschauen, wie wir uns davor schützen,
wie wir uns dagegen sperren, uns auszuliefern. So viel läßt sich er-
kennen, und das führt schon etwas weiter. Wie kommt es, daß du
dich noch nie ausgeliefert hast? Was ist deine „Technik”, dich nicht
auszuliefern? Wenn du dich noch nie der Liebe ausgeliefert hast,

46
Kapitel 2

dann ist die wirkliche Frage nicht, wie man das macht, sondern
wie du es bisher geschafft hast, die Liebe zu umgehen. Was ist
dein Trick, deine Technik, deine Strategie – deine Verteidigungs-
strategie, mit der du ohne Liebe gelebt hast? Das kann erkannt
und verstanden werden.
Das erste: Wir leben mit dem Ego, im Ego, wir sind im Ego
zentriert. Ich bin, ohne zu wissen, wer „ich” bin. Ich höre nicht
auf zu erklären, daß „ich bin”. Dieses „ich bin” ist eine Lüge, weil
ich gar nicht weiß, wer ich bin. Und solange ich nicht weiß, wer
ich bin, wie kann ich da „ich” sagen? Dies „ich” ist ein Pseudo-Ich.
Dies falsche Ich ist das Ego; es ist ein Abwehrmechanismus. Es
schützt dich davor, dich auszuliefern. Du kannst dich niemandem
und nichts hingeben, aber dir diesen Schutzmechanismus klar-
machen, das kannst du. Wenn du ihn dir klargemacht hast, löst er
sich auf. Nach und nach entziehst du ihm immer mehr deine Un-
terstützung, und eines Tages fühlst du plötzlich: „Ich bin nicht.”
Noch im gleichen Augenblick geschieht die Selbst-Auslieferung.
Versuche also herauszufinden, ob du bist. Wirklich – gibt es in dir
irgendein Zentrum, das du „mein Ich” nennen kannst? Geh rief
in dich hinein, hör nicht auf nachzuforschen, wo dies „Ich” ist, wo
dieses Ego ist.
Rinzai ging zu seinem Lehrer, seinem Guru, und sagte: „Gib
mir Freiheit!” Der Lehrer sagte: „Bring dich selbst her. Wenn du
bist, werde ich dich frei machen. Bist du jedoch nicht, wie kann
ich dich dann befreien? Dann bist du schon frei. Und Freiheit ”,
fuhr der Guru fort, „ist nicht deine Freiheit. Freiheit ist in Wirk-
lichkeit Freiheit von dir. Geh also und finde heraus, wo dies „Ich”
ist, wo du bist; dann komm zu mir. Das ist deine Meditation. Geh
und meditiere.”
Der Schüler Rinzai geht also und meditiert – Wochen, Mona-
te – und kommt dann wieder. Er sagt: „Ich bin nicht der Körper.
Das ist alles, was ich herausgefunden habe.” Also sagte der Guru:
„Um so viel bist du freier geworden. Geh zurück. Suche weiter.”
Er versucht es erneut, meditiert und findet heraus: „Ich bin nicht
mein Geist, denn ich kann meine Gedanken beobachten. Also ist
der Beobachter und das, was er beobachtet, nicht dasselbe. Ich bin
nicht mein Geist.” Da sagt sein Guru: „Jetzt bist du zu dreiviertel

47
Das Buch der Geheimnisse

frei. Jetzt geh noch einmal und finde heraus, wer du nun eigent-
lich bist."
Da dachte er sich: „Ich bin nicht mein Körper. Ich bin nicht
mein Geist.” Er hatte viel gelesen, studiert, er war gut informiert,
also dachte er: „Wenn ich nicht mein Körper und nicht mein Geist
bin, muß ich meine Seele sein, mein Atman.” Er meditierte, und
er fand heraus, daß es kein Atman gab, keine Seele: denn dies At-
man, diese Seele, war nichts weiter als eine gespeicherte Informa-
tion — nur Ideologie, Worte, Philosophie.
Da kam er eines Tages angerannt und rief „Jetzt bin ich nicht
mehr da!” Da sagte sein Guru:.,Soll ich dich nun die Methoden
der Freiheit lehren?" Rinzai sagte: „Ich bin frei, weil ich nicht
mehr bin. Da ist niemand mehr, der unfrei ist, ich bin nur eine
weite Leere, ein Nichts. ”
Nur ein Nichts kann frei sein. Wenn du ein Etwas bist, bist du
unfrei. So lange du bist bist du Sklave. Nur ein Vakuum, ein lee-
rer Raum, kann frei sein, läßt sich nicht binden. Rinzai kam an-
gerannt und sagte: „Ich bin nicht mehr. Ich kann mich nirgends
finden.” Das ist Freiheit. Und zum erstenmal berührte er die Füße
seines Gurus ... zum allererstenmal! Nicht tatsächlich — er hatte
es schon oft getan —, aber der Guru sagte: „Zum erstenmal hast du
meine Füße berührt.”
Rinzai fragte: „Warum sagst du zum erstenmal`? Ich habe dei-
ne Füße schon so oft berührt!” Der Guru sagte: „Aber da warst du
noch da — wie kannst du meine Füße berühren, wenn du vor-
handen bist? Wie kannst du meine Füße berühren, solange du da
bist?” Das Ich kann keinem die Füße berühren, auch wenn es so
tut; es berührt — auf Umwegen — nur immer seine eigenen Füße.
„Du hast zum erstenmal mir die Füße berührt”, sagte der Lehrer,
„weil du jetzt nicht mehr bist. Und es ist auch das letztemal”, sag-
te der Lehrer. „Das erste- und das letztemal.”
Ausgeliefert hast du dich erst, wenn du nicht mehr bist: Du
kannst dich also nicht hingeben. Darum ist Hingabe keine Tech-
nik. Du kannst dich nicht hingeben — du selbst bist das Hinder-
nis. Wenn du nicht bist, ist Hingabe da. Du und Hingabe, das geht
nicht zusammen, es gibt keine Koexistenz zwischen dir und der
Hingabe. Entweder du oder Hingabe. Finde also heraus, wo du

48
Kapitel 2

bist, wer du bist. Diese Suche führt zu vielen, vielen überra-


schenden Entdeckungen.
Raman Maharshi pflegte zu sagen: „Frag dich – ,Wer bin ich?"
Er wurde mißverstanden. Selbst seine engsten Jünger haben die
Bedeutung nicht erfaßt. Sie glaubten, daß dies Nachfragen tatsäch-
lich dazu führt, herauszufinden, ,wer ich bin'. Ganz und gar nicht!
Wenn du immer weiterfragst „Wer bin ich?", mußt du zwangs-
läufig zu dem Schluß kommen, daß du nicht bist. Du entdeckst
nicht, wer du bist, sondern daß du dich auflöst. Ich habe schon vie-
len Leuten diese Technik gegeben und dann kommen sie nach
ein bis zwei Monaten wieder und sagen: „Ich weiß immer noch
nicht, wer ich bin. Die Frage ist immer noch dieselbe. Es gibt kei-
ne Antwort."
Dann sage ich immer: „Mach weiter. Eines Tages wird die Ant-
wort kommen ... Und sie hoffen, daß sie kommt. Es kommt kei-
ne. Eine Antwort in dem Sinne, daß du „das und das bist", wird
nicht kommen. Nur die Frage löst sich auf, und damit auch der,
der fragen kann: „Wer bin ich?" und dann weißt du's. Wenn das
„Ich" nicht mehr ist, öffnet sich das wirkliche Ich. Wenn das Ego
fort ist, begegnest du zum erstenmal deinem Wesen. Dies Wesen
ist leer. Dann kannst du dich hingeben; dann hast du dich hinge-
geben. Jetzt bist du Hingabe. Es gibt also keine Techniken – oder
nur negative Techniken wie diese: nachzuforschen „wer ich bin".
Wie funktioniert Hingabe? Wenn du dich hingibst, was passiert?
Wir werden bald sehen, wie Methoden funktionieren, werden tief
in sie eindringen und verstehen lernen, wie sie arbeiten. Sie funk-
tionieren wissenschaftlich. Wie aber funktioniert Hingabe?
Wenn du dich hingibst, wirst du zum Tal. Als ein Ego bist du
ein Gipfel. Ego bedeutet, daß du über allen andern stehst: du bist
jemand. Ob die andern dich anerkennen oder nicht – das steht auf
einem anderen Blatt. Du jedenfalls weißt, daß du über allen an-
dern stehst. Du ragst wie ein Gipfel: nichts reicht an dich heran.
Wenn man sich hingibt, wird man wie ein Tal. Man wird zur
Tiefe, nicht Höhe. In einen solchen Menschen beginnt die ganze
Schöpfung sich zu ergießen, von allen Seiten her. Die ganze
Schöpfung! Er ist reines Vakuum, nur ein Abgrund, eine Schlucht,
bodenlos. Die ganze Schöpfung strömt von überallher in ihn. Man

49
Das Buch der Geheimnisse

kann sagen, Gott dränge von allen Seiten zu ihm hin, dringe in
ihn ein, durch jede Pore, erfülle ihn ganz. Diese Hingabe, dies
Zum-Tal-Werden„ zum Abgrund, dies Sich-Ausliefern, kann auf
manche Weise erfahren werden. Es kann in kleinem Umfang ge-
schehen, es kann in großem Umfang geschehen. Selbst bei einer
geringeren Form der Hingabe kann man es fühlen. Sich einem
Guru hinzugeben, ist eine geringere Form der Hingabe, aber du
beginnst es auch hier zu fühlen, weil der Guru augenblicklich in
dich einzuströmen beginnt. Wenn du dich ihm hingibst, spürst du
seine Energie sofort in dich einströmen. Wenn du keine Energie
in dich einströmen fühlst, dann sei dir bewußt, daß du dich ihm
noch nicht einmal in dieser geringen Form hingegeben hast. Du
hast dich überhaupt nicht ausgeliefert.
Es gibt da viele Geschichten, die schwierig zu verstehen sind,
weil wir nicht wissen, was sich abspielt. Mahakashyap kam zu
Buddha, und Buddha brauchte nur seinen Kopf zu berühren, und
es passierte, und Mahakashyap begann zu tanzen. Ananda fragte
Buddha: „Was ist mit ihm passiert? Und ich bin seit vierzig Jahren
bei dir! Ist er verrückt? Oder hält er uns nur zum Narren? Was ist
los mit ihm? Und ich habe deine Füße tausend — und abertau-
sendmal berührt!”
Natürlich, einem Ananda mußte er verrückt oder unecht er-
scheinen. Ananda war seit vierzig Jahren bei Buddha: aber da gab
es ein Problem. Er war sein älterer Bruder — Buddhas Stiefbruder:
Das war das Problem. Als Ananda zu Buddha kam, war dies das
erste, was er zu Buddha sagte: „Ich bin dein älterer Bruder, und
wenn du mich einweihen willst, werde ich dein Jünger. Doch ge-
währe mir drei Dinge, ehe ich dein Jünger werde, denn danach
kann ich nicht mehr fordern. Erstens: Ich will immer bei dir sein.
Versprich mir dies. Du kannst nicht zu mir sagen: Geh woanders
hin`. Ich werde dir überallhin folgen. Zweitens: Ich will im glei-
chen Zimmer mit dir schlafen. Du kannst nicht zu mir sagen:
,Geh hinaus!` Ich werde dir folgen wie dein Schatten. Und drit-
tens: Ich kann bringen, wen ich will, und wann immer ich will,
sogar uni Mitternacht, und du wirst ihm antworten müssen. Du
kannst nicht sagen: Nichtjetzt. ' Und diese drei Versprechen mußt
du mir geben, so lange ich noch dein älterer Bruder bin, denn bin

50
Kapitel 2

ich erst einmal dein Jünger, muß ich dir folgen. Du bist immer
noch der Jüngere von uns beiden, also mußt du mir dies verspre-
chen."
Also versprach es Buddha - und dann wurde genau das zum
Problem. Das war das Problem! Vierzigjahre lang war Ananda
mit Buddha, aber er konnte sich ihm nie ausliefern, denn das ist
nicht der Geist der Hingabe. Ananda fragte viele, viele Male:
„Wann werde ich ankommen?” Buddha sagte: „Nicht bevor ich
tot bin.” Und Ananda gelangte tatsächlich erst zur Erleuchtung,
als Buddha gestorben war.
Was passierte plötzlich mit diesem Mahakashyap? Ist Buddha
ungerecht? Zieht er Mahakashyap vor? Nein! Er strömt, strömt
unentwegt. Aber du mußt ein Teil sein, ein Schoß, um ihn zu
empfangen. Wenn du über ihm stehst, wie kannst du ihn emp-
fangen? Diese strömende Energie kann dich so nicht erreichen.
Sie geht an dir vorbei. Verbeuge dich also. Selbst bei einer gerin-
gen Hingabe an einen Guru beginnt die Energie zu fließen. Plötz-
lich, augenblicklich wirst du zum Gefäß einer großen Kraft. Es
gibt da Tausende von Geschichten: einfach nur durch eine
Berührung, durch einen Blick, wurde jemand erleuchtet. Das
kommt uns irrational vor. Wie ist das möglich? Es ist möglich! Ein
bloßer Blick in deine Augen kann dein ganzes Wesen verwan-
deln, aber die Verwandlung kann nur geschehen, wenn deine Au-
gen leer sind wie ein Tal. Wenn du den Blick des Lehrers augen-
blicklich aufnehmen kannst, wirst du ein anderer. Dies also sind
geringere Formen der Hingabe, die der totalen Hingabe voraus-
gehen und dich darauf vorbereiten. Sobald du einmal erfahren
hast, daß du durch Hingabe etwas Unbekanntes erfährst, etwas
Unglaubliches, Unerwartetes, nie Erträumtes, dann bist du bereit
für eine größere Hingabe. Und das ist die Arbeit eines Guru - dir
zu kleinen Formen der Hingabe zu verhelfen, damit du Mut sam-
meln kannst, zu einer größeren Hingabe, zur totalen Hingabe.

Die letzte Frage:

Was sind die genauen Anzeichen, an denen man erkennt, welche be-
stimmte Technik zum Allerhöchsten führt?

51
Das Buch der Geheimnisse

Es gibt Anzeichen. Das erste ist: du nimmst plötzlich eine neue


Identität in dir wahr. Du bist nicht mehr der gleiche. Wenn die
Technik zu dir paßt, bist du augenblicklich ein anderer Mensch.
Du bist nicht mehr der alte Ehemann, die alte Ehefrau, der alte
Ladenbesitzer. Egal, was du bist, wenn die Methode zu dir paßt,
bist du ein anderer Mensch. Das ist das erste Anzeichen. Wenn
du dir also komisch vorkommst, dann wisse, daß etwas mit dir vor
sich geht. Wenn du der gleiche bleibst und du keine Fremdheit
verspürst, dann schlägt die Methode nicht an. Das ist der erste
Hinweis: Wenn sie paßt, wirst du augenblicklich zu einem andern
Menschen. Plötzlich passiert es: Du siehst die Welt mit anderen
Augen. Die Augen sind die gleichen, aber der Sehende dahinter ist
anders.
Zweitens: Alles, was Spannungen und Konflikte verursacht, be-
ginnt fortzufallen. Nicht, daß nach jahrelanger Übung der Tech-
nik deine Konflikte, Ängste, Spannungen wegfallen — nein! Wenn
die Methode zu dir paßt, fangen sie augenblicklich an, wegzufal-
len. Du fühlst eine neue Lebendigkeit; du fühlst dich erleichtert!
Du fühlst, daß sich die Schwerkraft umgekehrt hat, wenn die
Technik zu dir paßt. Jetzt zieht dich die Erde nicht mehr nach un-
ten, sondern der Himmel zieht dich nach oben. W ie fühlt man
sich, wenn ein Flugzeug abhebt? Alles wird durcheinanderge-
bracht. Plötzlich gibt es einen Ruck, und die Schwerkraft wird auf-
gehoben. Jetzt zieht die Erde dich nicht mehr. Du entfernst dich
von der Schwerkraft.
Der gleiche Ruck passiert, wenn eine Meditations Technik zu
dir paßt. Plötzlich hebst du ab. Plötzlich hast du das Gefühl, daß
die Erde keine Macht mehr hat. Es gibt keine Schwerkraft mehr.
Sie zieht dich nicht hinunter. Du wirst hochgezogen. In der reli-
giösen Terminologie heißt dies „Gnade”. Es gibt zwei Kräfte:
„Gravitation” und „Gnade”. „Gnade” heißt, daß du nach oben ge-
zogen wirst. „Gravitation” heißt, daß du nach unten gezogen
wirst.
Darum haben viele Leute beim Meditieren plötzlich das Ge-
fühl, schwerelos zu werden, das Gefiihl einer inneren „Levitation”.
Viele haben mir davon berichtet: „Merkwürdig — wir schließen
die Augen und haben das Gefühl, ein wenig über der Erde zu

52
Kapite12

schweben, dreißig Zentimeter, einen halben Meter, sogar einen


Meter über der Erde. Und wenn wir die Augen aufmachen, sind
wir am Boden; schließen wir sie, steigen wir auf. Was ist das? Bei
offenen Augen sind wir auf ebener Erde und sind überhaupt nicht
aufgestiegen."
Der Körper bleibt am Boden — trotzdem hebst du ab. Es ist in
Wirklichkeit ein Ziehen von oben. Wenn die Technik zu dir paßt,
bist du hochgezogen worden, weil der Zweck jeder Technik ist,
dir den Sog nach oben zu eröffnen. Das bedeutet „Technik” hier:
dich der Kraft verfügbar zu machen, die dich hochziehen kann.
Wenn sie also paßt, weißt du: Du bist schwerelos geworden. Drit-
tens: Was immer du nun tust, gleich was es ist, wie trivial es auch
sein mag — es wird anders sein. Du wirst anders gehen, du wirst
anders sitzen, du wirst anders essen. Alles wird anders sein. Die-
sen Unterschied wirst du überall spüren. Manchmal führt das zu
Angst. Man möchte wieder zurück und derselbe sein, denn auf
das Alte war man so gut eingespielt. Es war eine Routinewelt,
langweilig zwar, aber du hast gut funktioniert. Nun fühlst du
überall einen Abstand. Du hast das Gefühl, deine Leistungsfähig-
keit verloren zu haben. Du hast das Gefühl, an Brauchbarkeit ein-
gebüßt zu haben. Du hast das Gefühl, überall ein Außenseiter zu
sein. Durch diese Phase muß man hindurch. Du wirst deinen
Rhythmus wiederfinden. Du hast dich verändert: die Welt dage-
gen nicht, also paßt du nicht mehr hinein. Merk dir also das drit-
te: Wenn die Technik zu dir paßt, paßt du nicht mehr in die Welt.
Du wirst „unpassend”. Überall klappert es, fehlt eine Schraube.
Überall hast du das Gefühl, als hätte ein Erdbeben stattgefunden;
doch alles ist gleichgebheben, und nur du, du bist ein anderer ge-
worden. Aber du wirst dich auch wieder einstimmen, auf einer
anderen Ebene, einer höheren Ebene.
Die Störung macht sich ebenso bemerkbar wie bei der sexuel-
len Reifwerdung des Kindes. Um vierzehn oder fünfzehn herum
fühlt sich jeder junge Mensch seltsam. Eine neue Kraft ist aufge-
treten — der Sex. Sie war vorher nicht da — oder sie war es doch,
nur verborgen. Nun ist das Kind zum erstenmal offen geworden
für eine neue Art von Kraft. Darum werden Kinder sehr linkisch,
wenn sie sexuell reif werden. Sie sind im Nirgendwo. Sie sind

53
Das Buch der Geheimnisse

nicht mehr Kinder und noch keine Erwachsenen, sondern da-


zwischen, im Niemandsland. Wenn sie mit kleineren Kindern
spielen, fühlen sie sich unwohl: Sie sind erwachsen geworden.
Wenn sie sich mit Erwachsenen anfreunden, fühlen sie sich auch
unwohl: Sie sind immer noch Kinder. Sie passen zu niemandem.
Das gleiche passiert, wenn du deine Technik gefunden hast: Eine
neue Energiequelle wird erschlossen, die größer ist als der Sex. Du
bist wieder in einer Übergangsphase. Jetzt paßt du nicht mehr in
diese Welt weltlicher Menschen hinein. Du bist kein Kind mehr,
und doch paßt du noch nicht in die Welt der Weisen. Du bist
„noch kein Mann” — und so dazwischen fühlst du dich unwohl.
Wenn also eine Technik zu dir paßt, werden sich diese drei
Dinge zeigen. Aber du hast sicher nicht damit gerechnet, daß ich
solche Sachen sagen würde. Du hast erwartet, ich würde sagen,
daß du stiller und ruhiger würdest, und nun sage ich genau das
Gegenteil: daß du verstörter wirst. Wenn die Technik paßt, wirst
du unangepaßter, nicht stiller. Die Stille kommt später. Und wenn
du still wirst, statt aufgewühlt zu werden, dann mach dir klar, daß
das nicht die Wirkung dieser Technik ist: du hast sie nur in deine
Routine integriert.
Darum ziehen die Menschen es vor, zu beten statt zu meditie-
ren, weil Beten Trost spendet; dein Gebet paßt sich dir an; es paßt
dich deiner Umwelt an. Das Beten hat früher praktisch genau das
getan, was heute die Psychoanalytiker tun. Wenn du gestört bist,
mildern sie die Störung ab, passen dich dem Schema besser an, der
Gesellschaft, der Familie. Nach ein, zwei, drei Jahren Psychoana-
lyse bist du nicht gesund, sondern besser angepaßt. Gebete tun das
gleiche, die Priester tun das gleiche: Sie machen dich angepaßter.
Dein Kind ist gestorben, und du bist erschüttert und gehst zu
einem Priester. Er sagt: „Sei getrost! Wen Gott liebt, den ruft er
früh zu sich.” Du gibst dich zufrieden: dein Kind ist „heimgeru-
fen” worden. Gott liebt es besonders. Oder der Priester sagt: „Sei
ruhigen Herzens. Die Seele stirbt nie. Dein Kind ist im Himmel.”
Erst vor ein paar Tagen kam eine Frau zu mir; ihr Mann war
erst vor einem Monat gestorben. Sie war fassungslos. Sie kam zu
mir und sagte: „Gib mir bitte nur die Garantie, daß er an einem
schönen Ort wiedergeboren worden ist, daß alles okay ist. Versi-

54
Kapitel 2

chere mir nur, daß er nicht zur Hölle gefahren oder zum Tier ge-
worden ist, sondern daß er im Himmel ist, ein Gott oder sowas.
Wenn du mir nur so viel versichern kannst, dann ist alles okay.
Dann kann ich es aushalten. Sonst bin ich todunglücklich."
Da würde ein Priester sagen: „Klar, dein Mann ist als Gott im
siebten Himmel wiedergeboren worden, und er ist sehr glücklich.
Und er erwartet dich schon.”
Gebete sind Mittel der Anpassung, sie erleichtern. Meditation
ist Wissenschaft. Sie verhilft dir nicht zur Anpassung. Sie verhilft
dir zur Transformation. Darum nenne ich diese drei Anzeichen,
die als Hinweise für ihre Wirkung auftreten. Zur Stille wird es
auch kommen, aber das wird nicht Anpassung sein. Die Stille
kommt als ein inneres Aufblühen. Solche Stille ist keine Anpas-
sung an die Gesellschaft, an die Familie, an die Welt, an das Ge-
schäft ... nein! Diese Stille ist wahr, sie ist im Einklang mit dem
All, und nicht mit der Gesellschaft, der Familie usw. Dann blüht
zwischen dir und der Totalität eine tiefe Harmonie auf. Dann wird
Stille sein. Aber das kommt später. Erst wirst du aufgestört, erst
wirst du verrückt: denn du bist verrückt — auch wenn es dir nicht
bewußt ist.
Wenn eine Technik paßt, macht sie dir alles bewußt, was du
bist. Deine Anarchie, dein Denken, deinen Wahnsinn, alles
kommt ans Licht. Du bist nur ein dunkler Wirrwarr. Paßt die
Technik, wird alles plötzlich Licht, und das ganze Durcheinander
wird deutlich. Zum erstenmal wirst du dir begegnen, so wie du
bist. Du möchtest lieber das Licht ausschalten und dich wieder ins
Bett legen. Es ist zum Fürchten! Das ist der Punkt, wo der Guru
gebraucht wird. Er sagt: „Hab keine Angst. Das ist nur am Anfang
so.
Und lauf nicht weg! Anfangs zeigt dir dies Licht, was du bist,
und wenn du immer weitergehen kannst, verwandelt es dich lang-
sam zu dem, was du sein kannst.

55
Atem —der Nabel des Lebens
Sutras]

Shiva antwortet:

1. Strahlende, diese Erfahrung mag dir zwischen zwei Atemzügen


dämmern. Nachdem der Atem hereingekommen ist (unten ist, und
kurz bevor er wieder nach oben steigt (nach außen geht) — die
Wohltat.

2. Wenn sich der Atem von unten nach oben kehrt und dann
wiederum, wenn er sich von oben nach unten kehrt — durch diese
beiden Wendungen, erkenne!

3. Oder, wann immer der einströmende Atem mit dem aus-


strömenden Atem zusammenfließt, in diesem Augenblick berühre
das energielose, energieerfüllte Zentrum.

4. Oder, wenn der Atem ganz draußen ist, oder ganz drinnen, und
von allein stillsteht — in solch einer universalen Pause verschwindet
das eigene kleine Selbst. Dies ist schwierig nur für den Unreinen.

57
Das Buch der Geheimnisse

Die Wahrheit ist immer hier. Sie ist schon da. Sie ist nicht ein
Ziel in der Zukunft. Die Wahrheit — das bist du, ganz genau hier
und jetzt. Sie ist nicht etwas, das erschaffen oder ausgedacht oder
gesucht werden muß. Versteht dies ganz klar; dann sind diese
Techniken leicht zu verstehen und auch auszuführen.
Dein Geist ist ein Wunsch-Mechanismus. Dein Geist befindet
sich immer im Wunschzustand — immer sucht er etwas, immer
verlangt er etwas. Sein Ziel ist immer in der Zukunft: um die Ge-
genwart kümmert sich der Geist überhaupt nicht. In diesen Mo-
ment kann der Geist nicht hineingehen, da hat er keinen Raum.
Der Geist braucht die Zukunft, um sich zu bewegen. Er kann ent-
weder in die Vergangenheit oder in die Zukunft gehen. In der Ge-
genwart kann er sich nicht bewegen, da ist kein Raum. Die Wahr-
heit ist in der Gegenwart, und der Geist ist immer in der Zukunft
oder in der Vergangenheit. So kommen Geist und Wahrheit nie
zusammen.
Wenn du weltliche Ziele hast, ist es nicht so schwierig. Da ist
das Problem nicht absurd, da kann es gelöst werden. Aber wenn
du nach der Wahrheit suchst, wird dieses Suchen selbst unsinnig
— weil die Wahrheit hier und jetzt ist, dein Geist aber immer dann
und dort. Da gibt es kein Zusammentreffen. Versteht also das er-
ste: Ihr könnt die Wahrheit nicht suchen. Ihr könnt sie finden,
aber suchen könnt ihr sie nicht. Das Suchen selbst ist das Hinder-
nis.
I m gleichen Moment, wo du zu suchen anfängst, hast du dich
von der Gegenwart entfernt, auch von dir selbst, weil du immer in
der Gegenwart bist. Der Sucher ist immer in der Gegenwart und
das Suchen immer in der Zukunft. Du wirst, was auch immer du
suchst, nicht finden. Laotse sagt: „Suche nicht, sonst verfehlst du
es. Du darfst nicht suchen, dann findest du.” All diese Techniken
Shivas holen euren Geist einfach nur aus Vergangenheit und Zu-
kunft in die Gegenwart zurück. Das, was ihr sucht, ist bereits da.
Es ist bereits der Fall. Der Geist muß vom Suchen auf das Nicht-
Suchen umgelenkt werden. Das ist schwierig. Wenn man darü-
ber intellektuell nachdenkt, ist es sehr schwierig — Wie soll man
das Denken vom Suchen zum Nicht-Suchen umlenken? — denn
dann macht der Kopf sogar aus dem Nicht-Suchen ein Ziel! Dann

58
Kapitel 3

sagt er: „Jetzt will ich nicht mehr suchen, jetzt wünsche ich mir
die Wunschlosigkeit.” Das Suchen ist wieder dabei. Das Verlan-
gen hat sich durch die Hintertür wieder eingeschlichen. Die ei-
nen haben weltliche Ziele, die andern glauben, nicht-weltliche
Ziele zu haben, aber alle Ziele sind weltlich, weil Suchen gleich
Welt ist.
Man kann also nicht etwas Nicht-Weltliches suchen. Im Au-
genblick wo ihr sucht, wird es weltlich. Wenn ihr nach Gott sucht,
wird Gott zu einem Teil der Welt. Wenn ihr nach Moksha sucht,
Nirvana, dann wird eure Befreiung Teil der Welt. Eure Befreiung
ist dann nicht etwas, das über die Welt hinausgeht, weil Suchen
gleich Welt ist, weil Verlangen gleich Welt ist. Ihr könnt also nicht
nach Nirvana verlangen; ihr könnt nicht die Begierdelosigkeit be-
gehren. Wenn ihr das intellektuell zu verstehen sucht, wird es
zum Rätsel.
Shiva sagt nichts darüber. Er geht gleich dazu über, euch Tech-
niken zu geben. Sie sind nicht intellektuell. Er sagt nicht etwa zu
Devi: „Die Wahrheit ist hier. Suche sie nicht, und du wirst sie fin-
den.” Er gibt sofort Techniken. Diese Techniken sind nicht intel-
lektuell. Mach sie, und dein Geist wird sich umkehren. Die Wen-
dung ist nur eine Folge, nur ein Nebenprodukt — nicht ein Ziel.
Die Umkehr ist nur ein Nebenprodukt.
Wenn du eine Technik befolgst, kehrt dein Geist auf seiner Rei-
se in die Zukunft oder Vergangenheit um. Plötzlich findest du
dich in der Gegenwart wieder. Darum haben Buddha, Lao Tse,
Krishna euch Techniken gegeben. Aber sie führen ihre Techniken
immer mit intellektuellen Konzepten ein. Nur Shiva macht es an-
ders. Er gibt sofort Techniken, ohne intellektuelle Einführung,
denn er weiß: Der Intellekt ist trickreich, ist das Gerissenste über-
haupt. Er kann aus allem ein Problem machen. Jetzt wird das
Nicht-Suchen zum Problem.
Es gibt Leute, die mich fragen, wie man nicht begehrt. Sie be-
gehren die Begierdelosigkeit. Sie haben irgendwelches spirituel-
les Geschwätz gehört oder gelesen, daß man die Seligkeit erlangt,
wenn man ohne Begierden ist. „Wenn du nichts begehrst, bist du
frei, wenn du nichts begehrst, hört alles Leid auf.” Jetzt begehren
sie diesen leidlosen Zustand — und fragen, wie man nicht begehrt!

59
Das Buch der Geheimnisse

Ihr Kopf führt sie an der Nase herum. Sie begehren immer noch,
nur hat sich jetzt das Ziel verändert. Früher wollten sie Geld,
Ruhm, Ansehen, Macht. Jetzt wollen sie das Nicht-Wollen. Nur
das Objekt hat sich verändert, sie selbst aber bleiben gleich, und
ihr Wollen auch, nur ist es jetzt versteckter. Aus diesem Grund be-
ginnt Shiva ohne jede Einführung sofort. Er spricht sofort von
Techniken. Befolgt man diese Techniken, lenken sie das Denken
um: es wird auf die Gegenwart gerichtet. Und wenn das Denken
zur Gegenwart kommt, bleibt es stehen. Es ist nicht mehr. Du
kannst in der Gegenwart kein Denker sein. Das ist unmöglich.
Wie könntest du im Hier und Jetzt denken? Die Gedanken ste-
hen still, weil sie sich nicht bewegen können. Die Gegenwart hat
keinen Spielraum; du kannst nicht denken. Wie kannst du dich
im jetzigen Augenblick bewegen? Der Geist bleibt stehen; du bist
im Nicht-Geist.
Vor allem ist also wichtig, wie man ins Hier und Jetzt gelangt.
Du kannst es versuchen, aber die Mühe wird umsonst sein – denn
wenn du mit Absicht in der Gegenwart sein willst, dann hat dich
diese Absicht schon in die Zukunft gebracht. Wenn du fragst, wie
du in der Gegenwart sein kannst, fragst du wieder nach der Zu-
kunft. Während du fragst: „ Wie kann ich gegenwärtig sein? Wie
hier und jetzt sein?”, geht dieser Augenblick verloren, und die Ge-
danken plappern schon und träumen von der Zukunft: eines Ta-
ges bist du soweit, daß es keine Bewegung, kein Motiv, kein Su-
chen mehr gibt, sondern nur noch Seligkeit. Darum also: „Wie
komme ich in die Gegenwart?”
Shiva sagt darüber nichts. Er gibt dir einfach eine Technik. Mach
sie, und plötzlich findest du dich hier und jetzt wieder. Und dein
Hier-und-Jetzt-Sei ist die Wahrheit, ist die Freiheit, ist dein Nir-
vana. Die ersten neun Techniken beschäftigen sich mit dem At-
men. Laßt uns also erst ein wenig über das Atmen lernen; danach
gehen wir auf die Techniken ein.
Wir atmen ständig, vom Augenblick der Geburt bis zum Au-
genblick des Todes. Alles andere zwischen diesen beiden Punk-
ten ändert sich. Alles ändert sich, nichts bleibt gleich: das einzig
Beständige zwischen Geburt und Tod ist das Atmen. Aus dem
Kind wird ein Jugendlicher; der Jugendliche wird alt, krank, sein

60
Kapitel 3

Körper verfällt: alles verändert sich. Mal glücklich, mal elend und
leidend: Ständig ändert sich alles. Aber was auch immer zwischen
diesen beiden Punkten geschieht — man muß atmen. Ob glück-
lich oder unglücklich, jung oder alt, erfolgreich oder erfolglos —
gleich, was du bist, eines ist gewiß: Zwischen Geburt und Tod at-
mest du.
Das Atmen ist ein ständiger Fluß: keine Lücke ist möglich.
Wenn du auch nur für einen Augenblick zu atmen vergißt, bist
du nicht mehr. Darum hängt das Atmen auch nicht von dir ab,
denn sonst würde es problematisch. Jemand könnte für einen Mo-
ment das Atmen vergessen, und was dann? In Wirklichkeit also
atmest nicht du, weil du dazu nicht gebraucht wirst. Schläfst du
tief, geht das Atmen weiter. Bist du unbewußt — das Atmen geht
weiter; liegst du im Koma — das Atmen geht weiter. Du wirst
nicht gebraucht: Das Atmen geht auch ohne dich weiter. Das At-
men ist eine Konstante deines Daseins — das ist also das erste. Und
das Atmen ist wesentlich und fundamental — das ist das zweite.
Du kannst nicht ohne Atem leben. So sind Atem und Leben
gleichbedeutend. Das Atmen ist der Mechanismus des Lebens,
und das Leben ist tief mit dem Atmen verbunden. Darum nen-
nen wir beides in Indien Prana. Wir haben ein Wort für beides.
Prana bedeutet Vitalität, Lebenskraft: Dein Leben ist dein Atem.
Drittens: Dein Atem ist eine Brücke zwischen dir und deinem
Körper, er verbindet dich, verknüpft dich mit deinem Körper. Er
ist auch eine Brücke zwischen dir und dem Universum. Dein
Körper ist nichts anderes als das zu dir gekommene Universum,
das, was dir am nächsten ist.
Dein Körper ist Teil des Universums. Alles im Körper ist Teil
des Universums -jedes Teilchen, jede Zelle. Er ist das, was dich
dem Universum am nächsten bringt. Dein Körper ist dir der al-
lernächste Zugang zum Universum. Der Atem ist die Brücke.
Wenn die Brücke unterbrochen ist, bist du nicht mehr im Körper.
Wenn die Brücke unterbrochen ist, bist du nicht mehr im Uni-
versum. Dann gehst du in eine unbekannte Dimension; dann be-
findest du dich nicht mehr im Raum und in der Zeit. Drittens also
ist der Atem die Brücke zwischen dir, dem Raum und der Zeit.
Der Atem ist daher von höchster Bedeutung — das Wichtigste

61
Das Buch der Geheimnisse

überhaupt. Daher haben die ersten neun Techniken mit dem At-
men zu tun. Durch sie kommst du plötzlich in die Gegenwart,
triffst du plötzlich auf die Quelle des Lebens, kannst du Zeit und
Raum hinter dir lassen. Durch bestimmte Atemtechniken wirst
du in der Welt sein und zugleich jenseits von ihr.
Der Atem hat zwei Pole — der eine ist dort, wo er den Körper
und das Universum berührt, und der andere dort, wo er dich
berührt, und damit das, was über das Universum hinausgeht. Wir
kennen nur den einen Teil des Atems. Wir kennen ihn nur dort,
wo er ins Universum, in den Körper geht. Aber er geht jedesmal
vom Körper zum Nicht-Körper, vom Nicht-Körper zum Körper.
Den anderen Punkt kennen wir nicht. Wenn man sich den ande-
ren Punkt bewußt macht, das andere Ende der Brücke, den ande-
ren Brückenkopf, wird man plötzlich verwandelt, in eine andere
Dimension versetzt.
Aber bedenkt: Shiva spricht nicht von Yoga, sondern von Tan-
tra. Yoga arbeitet ebenfalls mit dem Atem, aber die Techniken von
Yoga und Tantra unterscheiden sich grundsätzlich. Yoga will das
Atmen systematisieren. Wenn du dein Atmen systematisierst,
macht dich das gesünder. Wenn du dein Atmen systematisierst
und die Geheimnisse des Atmens kennst, verlängert sich dein Le-
ben: du wirst gesünder und lebst länger. Du wirst stärker, ener-
giegeladener, vitaler — lebendig, jung, frisch. Aber darum geht es
beim Tantra nicht. Im Tantra geht es nicht um irgendeine Syste-
matisierung des Atmens, sondern allein darum, den Atem als
Technik dafür zu nutzen, sich nach innen zu wenden. Man muß
keinen bestimmten Atemstil üben, weder ein bestimmtes Atem-
system, noch einen bestimmten Atemrhythmus — nein! Man
nimmt das Atmen so, wie es ist. Man muß sich dabei nur gewis-
se Punkte bewußt machen.
Es gibt da gewisse Punkte, aber wir sind uns ihrer nicht bewußt.
Wir atmen seit eh und je, wir werden atmend geboren und wir
sterben atmend, aber wir sind uns dieser Punkte nicht bewußt.
Und das ist seltsam. Der Mensch forscht, dringt rief in den Welt-
raum vor, fährt zum Mond. Der Mensch will immer weiter von
der Erde ins All dringen und kennt nicht das, was ihm im Leben
am nächsten ist. Es gibt beim Atmen bestimmte Punkte, die ihr

62
Kapite13

euch noch nie bewußt gemacht habt, und diese Punkte sind Türen
- die allernächsten Türen, die euch in eine andere Welt hinein-
führen können, in ein anderes Dasein, ein anderes Bewußtsein.
Aber sie sind sehr versteckt.
Einen Mond zu beobachten ist nicht sehr schwer. Selbst den
Mond zu erreichen ist nicht sehr schwer: Das ist nur eine Reise
im Groben. Man braucht dazu die Technologie des Maschinen-
zeitalters, man braucht spezialisiertes Wissen, und dann geht's. At-
men ist euch das allernächste, und je näher ein Objekt, desto
schwerer ist es zu erkennen. Je näher, desto schwieriger; je offen-
sichtlicher, desto schwieriger. Es ist euch so nah, daß es schon kei-
nen Raum mehr zwischen euch und eurem Atmen gibt. Oder,
der Abstand ist so gering, daß eine äußerst scharfsichtige Beob-
achtung dazu gehört, bevor man bestimmter Punkte gewahr wird.
Um diese Punkte geht es bei diesen Techniken. Jetzt also jede
Technik im einzelnen:

Shiva antwortet:

Strahlende, diese Erfahrung mag dir zwischen zwei Atemzügen


dämmern. Nachdem der Atem hereingekommen ist (unten ist,
und kurz bevor er wieder nach oben steigt (nach außen geht -
die Wohltat.

Das ist die Technik: „Strahlende, diese Erfahrung mag dir zwi-
schen zwei Atemzügen dämmern.” Nachdem der Atem herein-
gekommen, das heißt unten ist, und kurz bevor er nach außen
geht, das heißt aufsteigt - „die Wohltat”. Richte deine Bewußtheit
auf das, was zwischen diesen zwei Punkten ist - und dann das Er-
eignis ... Wenn dein Atem hereinkommt, schau zu. Wenn dein
Atem hereinkommt, beobachte! Für einen einzigen Moment, oder
den tausendsten Teil eines Moments, ist kein Atem da: ehe er sich
aufwärts wendet, ehe er nach außen geht. Der Atem kommt her-
ein - dann kommt ein gewisser Punkt, und das Atmen steht still.
Danach geht der Atem hinaus. Wenn der Atem hinausgeht, bleibt
das Atmen wiederum für einen einzigen Moment - oder den
Bruchteil eines Moments - stehen. Dann wieder das Einatmen.

63
Das Buch der Geheimnisse

Ehe der Atem sich wendet, nach innen oder außen, kommt ein
Moment, wo du nicht atmest. In diesem Moment ist das Ereignis
möglich, denn wenn du nicht atmest, bist du nicht in der Welt.
Macht euch das klar: Wenn du nicht atmest, bist du tot: du bist
zwar noch, aber tot. Aber der Augenblick ist von so kurzer Dau-
er, daß du es nie bemerkst.
Für Tantra ist jeder Atem, der nach außen geht, ein Tod, und
jeder neue Atemzug ist eine Neugeburt. Einströmender Atem ist
Wiedergeburt, ausströmender Atem ist Tod. Der ausströmende
Atem ist gleichbedeutend mit Tod: der einströmende Atem ist
gleichbedeutend mit Leben. Mit jedem Atemzug stirbst du also
und wirst wiedergeboren. Die Lücke dazwischen ist von sehr kur-
zer Dauer, aber eine scharfe, unbestechlich wache Beobachtung
kann dir die Lücke bewußt machen. Wenn du die Lücke spüren
kannst, so sagte Shiva — „die Wohltat”. Dann ist nichts anderes
nötig. Du bist gesegnet. Du hast erkannt: die Sache ist passiert.
Du brauchst das Atmen nicht zu üben. Lasse es, wie es ist. Wie
kann eine Technik so einfach sein?! Es sieht einfach aus, nicht
wahr? Eine so einfache Technik soll zur Wahrheit führen? Die
Wahrheit zu erkennen heißt: das zu erkennen, was weder gebo-
ren wird noch stirbt, jenes ewige Element, das immer ist. Den Ein-
Atem, den Aus-Atem kannst du erkennen, aber die Lücke da-
zwischen erkennst du nie.
Versuche es. Plötzlich wird dir der Punkt bewußt. Und du
kannst ihn finden: er ist bereits da. Nichts braucht dir oder deiner
Struktur hinzugefügt zu werden: Alles ist schon da. Alles ist schon
da, außer der Bewußtheit. Wo also anfangen? Werde dir zunächst
des einströmenden Atems bewußt: beobachte ihn, vergiß alles an-
dere und beobachte den Ein-Atem — einfach nur das Strömen.
Wenn der Atem deine Nasenlöcher berührt, spüre ihn dort. Dann
laß den Atem einströmen. Gehe voll bewußt mit dem Atem mit.
Wenn du mit dem Atem tief nach innen gehst, bleibe am Ball.
Eile ihm nicht voraus; folge ihm nicht nach, begleite ihn nur.
Denk daran: Laufe nicht vor und folge nicht wie ein Schatten,
sondern gehe mit ihm mit.
Atem und Bewußtheit müssen quasi eins werden. Der Atem
kommt herein: Du gehst mit. Nur so ist es möglich, den Punkt

64
Kapite13

zwischen zwei Atemzügen zu erhaschen. Es wird nicht leicht sein.


Gehe mit dem Atem hinein, hinaus: ein - aus, ein - aus. Buddha
vor allem hat damit gearbeitet, und so ist diese Methode heute
eine buddhistische, die als „Anapanasati Yoga” bekannt ist. Und
Buddhas Erleuchtung beruhte auf dieser Technik - allein auf ihr.
Alle Seher der Welt sind durch irgendeine Technik zur Er-
leuchtung gelangt, und jede ist in diesen 112 enthalten. Diese er-
ste ist eine buddhistische Technik. Buddha hat gesagt: „Mach dir
deinen Atem bewußt, wie er hereinkommt, wie er hinausgeht:
ein - aus, ein - aus.” Er erwähnte nie die Lücke, denn das ist nicht
nötig. Buddha wollte nicht, daß eure Aufmerksamkeit durch den
Gedanken an die Lücke gestört wird. Also sagte er einfach: „Seid
bewußt - wenn der Atem hereinkommt, geht mit ihm, und wenn
er hinausgeht, geht mit ihm. Einfach nur dies: Geht mit dem
Atem hinein, hinaus.” Er verlor kein Wort über den anderen
Aspekt dieser Technik.
Der Grund ist, daß Buddha zu sehr einfachen Menschen sprach.
Und selbst seine wenigen Worte genügten, um das Verlangen
nach dem Intervall zu erzeugen. Dieser Wunsch, in das Intervall
zu kommen, schränkt die Aufmerksamkeit ein, denn dann wirst
du vorauseilen. Der Atem kommt herein, aber du bist ihm schon
voraus, weil du an der Lücke interessiert bist, die gleich kommen
muß! Buddha erwähnt sie also nie, Buddhas Technik beschränkt
sich auf die eine Hälfte.
Aber die andere Hälfte kommt automatisch. Wenn deine
Atembewußtheit ständig weiterwächst, stößt du eines Tages un-
verhofft auf das Intervall. Die Aufmerksamkeit wird scharf, tief
und intensiv, deine Bewußtheit schließt die ganze Welt aus, bis
auf den Atem, der ein - und ausströmt; dein Atem wird zu deiner
Welt, zur gesamten Arena deines Bewußtseins - und so stößt du
zwangsläufig auf die Lücke, in der kein Atem da ist. Wenn du
ganz beim Atem bist, wie könnte dir entgehen, wann kein Atem
da ist? Dir wird plötzlich bewußt, daß kein Atem da ist. Das ist
der Augenblick, da du spürst, daß der Atem weder hinausgeht
noch hereinkommt, sondern völlig still steht. In diesem Stillstand
- „die Wohltat”.
Diese eine Technik war für Millionen genug. Ganz Asien hat

65
Das Buch der Geheimnisse

über Jahrhunderte mit dieser Technik experimentiert und gelebt.


Tibet, China, Japan, Burma, Thailand, Ceylon, ganz Asien, außer
Indien, hat sich an diese Technik gehalten — an eine einzige Tech-
nik —, und Tausende und aber Tausende haben so zur Erleuchtung
gefunden. Und dabei ist sie erst die allererste Technik!
Aber unglücklicherweise haben die Hindus sie vermieden, weil
sie mit Buddhas Namen verknüpft ist. Je bekannter sie als eine
buddhistische Methode wurde, desto mehr verdrängten die Hin-
dus sie. Und nicht nur deshalb: es gibt noch einen anderen Grund.
Weil Shiva diese Technik als erste nennt, haben viele Buddhisten
behauptet, dieses Buch, „Vigyana Bhairava Tantra”, sei buddhi-
stisch, nicht hinduistisch.
Es ist weder hinduistisch noch buddhistisch, und eine Technik
ist nur eine Technik. Buddha hat sie benutzt: aber sie stand jedem
offen. Buddha wurde zwar zum Buddha durch diese Technik,
aber die Technik selbst war schon vor Buddha da. Probiert sie aus.
Sie gehört zu den einfachsten überhaupt — das heißt: einfach im
Vergleich zu anderen Techniken, nicht einfach für euch. Andere
Techniken werden schwieriger sein, darum wird sie als erste er-
wähnt.

Die zweite Technik:


(all diese neun Techniken sind Atemtechniken)

Wenn sich der Atem von unten nach oben kehrt, und dann
wiederum, wenn er sich von oben nach unten kehrt — durch diese
beide Wendungen, erkenne!

Das ist das gleiche, aber mit einem feinen Unterschied. Die Be-
tonung liegt jetzt nicht auf der Lücke, sondern auf dem Wende-
punkt. Ein — und ausströmender Atem bilden einen Kreis. Ihr
dürft nicht vergessen, daß es sich nicht um zwei parallele Linien
handelt. Wir stellen uns hier immer zwei parallele Linien vor —
einströmender Atem und ausströmender Atem. Das stimmt nicht.
Der einströmende Atem ist die eine Hälfte des Kreises; der aus-
strömende Atem ist die andere.
Das müßt ihr verstehen. Erstens: Ein — und Ausatmen bilden

66
Kapitel 3

einen Kreis, nicht parallele Linien; denn parallele Linien treffen


sich nirgends. Zweitens: Ein — und ausströmender Atem sind nicht
zwei Atemzüge, sondern einer. Der Atem, der einströmt, strömt
auch aus; es muß also innen einen Wendepunkt geben. Irgendwo
muß er sich wenden. Es muß einen Punkt geben, wo der herein-
kommende Atem auszuströmen beginnt.
Warum legt er soviel Wert auf den Wendepunkt? Denn, so sagt
Shiva: „Wenn sich der Atem von unten nach oben kehrt, und
dann wiederum, wenn er sich von oben nach unten kehrt — durch
diese beiden Wendungen, erkenne!” Sehr einfach: aber er sagt
viel: Erkenne die Wendung, und du erkennst das Selbst ...
Warum ist das Selbst in der „Wendung” zu erkennen? Wer Au-
tofahren kann, weiß was eine Gangschaltung ist. Immer wenn du
in einen anderen Gang schaltest, mußt du durch den Leerlauf ge-
hen, der überhaupt kein Gang ist. Vom ersten Gang schaltest du in
den zweiten und vom zweiten in den dritten, aber du mußt im-
mer durch den Leerlauf. Dieser Leerlauf ist ein Wendepunkt. In
diesem Wendepunkt wird der erste zum zweiten Gang und der
zweite zum dritten. Wenn dein Atem hereinkommt und dann
hinausgeht, muß er erst durch den Leerlauf: anders geht es nicht.
Er durchquert neutrales Territorium.
In diesem neutralen Territorium bist du weder Körper noch
Seele, weder körperlich noch geistig, weil das Körperliche ebenso
ein Gang deines Daseins ist wie das Geistige. Du gehst von Gang
zu Gang, aber du mußt auch einen Leerlauf haben, wo du weder
Körper noch Geist bist. In diesem neutralen Gang bist du einfach:
Du bist reines Dasein, unberührt, einfach, unverkörpert, ohne
eine geistige Form.
Darum die Betonung des Wendepunktes. Der Mensch ist eine
Maschine, eine große, sehr komplizierte Maschine. Du hast viele
Gänge im Körper, viele Gänge im Hirn. Du bist dir nicht bewußt,
was für ein großartiger Mechanismus du bist, aber du bist eine
großartige Maschine. Und es ist gut, daß dir das nicht bewußt ist,
sonst würdest du verrückt. Der Körper ist eine so große Maschi-
ne, daß die Wissenschaftler sagen: Wenn wir eine Fabrik nach
dem Modell des menschlichen Körpers bauen wollten, würden
dazu sechs Quadratkilometer Land benötigt. Und der Lärm wäre

67
Das Buch der Geheimnisse

so groß, daß ein Umkreis von hundertfünfzig Quadratkilometern


davon belästigt würde.
Der Körper ist eine große mechanische Einrichtung, die größ-
te überhaupt. Ihr habt Millionen und aber Millionen von Zellen,
und jede Zelle lebt. Ihr seid eine Riesenstadt von siebzig Millionen
Zellen: Es leben siebzig Millionen Einwohner in euch, und die
ganze Stadt funktioniert sehr still und glatt. Jeden Moment ist der
Mechanismus in Gang. Er ist sehr kompliziert.
Diese Techniken werden sich in vielen Punkten auf euren Kör-
permechanismus und euren geistigen Mechanismus beziehen.
Aber die Betonung wird immer auf solchen Punkten liegen, wo
ihr plötzlich nicht mehr Teil des Mechanismus seid. Vergeßt das
nicht. Plötzlich bist du nicht mehr Teil des Mechanismus! Es gibt
Augenblicke, wo du die Gänge wechselst.
Zum Beispiel wechselst du beim Einschlafen die Gänge, denn
tagsüber brauchst du für dein Wachbewußtsein einen anderen
Mechanismus. Ein anderer Teil des Hirns funktioniert. Wenn du
einschläfst, tritt dieser Teil außer Kraft. Ein anderer Teil des Hirns
schaltet sich ein, und dazwischen ist eine Lücke, eine Pause, ein
Wendepunkt — Gangschaltung! Morgens, wenn du wieder auf-
wachst — Gangschaltung! Oder, du sitzt ganz ruhig da, und plötz-
lich sagt einer etwas und du wirst wütend — Gangschaltung! Alles
ändert sich plötzlich.
Wenn du wütend wirst, ändert sich plötzlich dein Atem, er
wird gereizt, chaotisch. Ein Zittern kommt hinein; dir ist, als wür-
dest du ersticken. Der ganze Körper will etwas tun, etwas ka-
puttmachen, damit das Erstickungsgefühl verschwindet. Dein
Atem wechselt, dein Puls wechselt den Rhythmus. Bestimmte
Chemikalien schießen ins Blut. Das ganze Drüsensystem ändert
sich. Wenn du wütend wirst, bist du ein anderer Mensch. Ein Wa-
gen steht still: Du startest ihn. Lege keinen Gang ein, laß ihn un
Leerlauf. Er kann schnurren und vibrieren, aber sich nicht bewe-
gen: er wird heiß. Genauso wirst du auch heiß, wenn du wütend
bist und nichts tun kannst. Der Lauf-Mechanismus, der Tu-Me-
chanismus ist eingeschaltet — aber du tust nichts: Du läufst heiß.
Du bist ein Mechanismus, aber natürlich nicht nur ein Mechanis-
mus. Du bist mehr, aber dies Mehr muß gefunden werden. Wenn

68
Kapitel 3

du einen Gang einlegst, ändert sich innen alles. Wechselst du den


Gang, gibt es einen Wendepunkt.
Shiva sagt: „Wenn sich der Atem von unten nach oben kehrt,
und dann wiederum, wenn er sich von oben nach unten kehrt -
durch diese beiden Wendungen, erkenne!” Achte auf den Wen-
depunkt. Aber es ist ein sehr kurzer; es gehört eine sehr scharfe
Beobachtung dazu. Und wir können überhaupt nicht beobach-
ten; wir merken nichts. Wenn ich dir sage: „Betrachte diese Blu-
me, die ich dir gebe”, dann kannst du das nicht. Einen Augenblick
lang siehst du sie, und dann denkst du schon an etwas anderes,
vielleicht etwas über die Blume, aber es wird nicht die Blume sein.
Du magst über die Blume nachdenken, darüber, wie schön sie ist
- und bist schon weitergewandert. Nun ist die Blume nicht mehr
in deinem Betrachtungsfeld: es hat sich verändert. Du magst sa-
gen, daß sie rot, blau, weiß ist, aber damit bist du schon weiter. Be-
trachten heißt: ohne ein Wort dabei bleiben, ohne innere Verba-
lisierung, ohne inneres Plappern. Nur eins: dabeibleiben. Wenn du
drei Minuten lang bei einer Blume verharren kannst, ganz und
gar, ohne Geistesregung, wird es passieren - „die Wohltat”. Du er-
kennst.
Aber wir sind überhaupt keine Betrachter. Wir sind nicht be-
wußt, wir sind nicht wach: wir können auf nichts achten. Wir
springen immer nur herum. Dies ist Teil unseres Erbes - unseres
Affenerbes. Unser Hirn ist lediglich der Nachwuchs des Affenge-
hirns. Den Affen in uns gibt es immer noch. Er springt ständig von
einem Ast zum andern; der Affe kann nicht stillsitzen. Darum be-
stand Buddha so sehr darauf, daß man einfach nur dasitzen soll,
ohne jede Bewegung, denn dann kann der Affe in uns nicht mehr
herumtoben.
In Japan kennen sie eine besondere Form der Meditation, „Za-
Zen” genannt. Das heißt: nur dasitzen, nichts tun. Keine Bewe-
gung. Man sitzt da wie eine Statue - tot, reglos. Aber es ist gar
nicht nötig, jahrelang wie eine Statue dazusitzen. Wenn du auf die
Wendepunkte deiner Atemzüge aufmerksam geworden bist,
ohne daß sich der Geist regt, geht die Tür auf. Du gelangst in dein
eigenes Inneres, in das innere Jenseits.
Warum sind diese Wendepunkte so wichtig? Sie sind deshalb

69
Das Buch der Geheimnisse

wichtig, weil der Atem dir am Wendepunkt gestattet, eine ande-


re Richtung einzuschlagen. Er war mit dir, als er hereinkam; er
wird mit dir sein, wenn er wieder hinausgeht. Aber am Wende-
punkt ist er nicht mit dir, und du bist nicht mit ihm. In diesem
Moment ist der Atem losgelöst von dir und du von ihm. Wenn
Atem Leben ist, dann bist du jetzt tot. Wenn Atem dein Körper
ist, dann bist du jetzt Nicht-Körper. Wenn Atem dein Geist ist,
dann bist du Nicht-Geist — in diesem Moment.
Habt ihr schon einmal festgestellt, daß das Denken plötzlich ste-
henbleibt, wenn ihr den Atem anhaltet? Wenn du in diesem Mo-
ment zu atmen aufhörst, stehen die Gedanken still. Dein Gesicht
kann jetzt nicht funktionieren. Ein plötzlicher Stop im Atmen,
und der Geist steht still. Warum? Weil er ausgekuppelt wird. Nur
solange der Atem strömt, ist er mit dem Geist, mit dem Körper
verknüpft: bei nichtströmendem Atem wird der Geist ausgekup-
pelt. Jetzt bist du im Leerlauf. Der Wagen läuft: der Motor läuft.
Der Wagen macht Geräusche, er ist startbereit. Aber es ist kein
Gang drin. Der Körper des Wagens ist nicht mit der Mechanik
des Wagens verkuppelt. Der Wagen ist in zwei Teile geteilt. Er ist
fahrbereit, aber der Fahrmechanismus ist nicht mit ihm verkup-
pelt.
Das gleiche geschieht, wenn der Atem sich wendet: du bist
nicht mehr mit ihm verkuppelt. In diesem Augenblick kann dir
leicht bewußt werden, wer du bist. Was ist dies „Seiende”? Was
ist dies „Dasein”? Wer wohnt in diesem Gehäuse des Körpers?
Wer ist der Herr? Bin ich nur das Haus, oder gibt es da auch einen
Hausherrn? Bin ich nur der Mechanismus, oder ist dieser Me-
chanismus auch von etwas anderem durchdrungen? In dieser
Lücke des Wendepunktes — so sagt Shiva — „erkenne!” Er sagt,
werde dir einfach der Wendung bewußt, und du erkennst das, was
dich wirklich beseelt, wirst zur verwirklichten Seele.

Die dritte Technik:

Oder, wann immer der einströmende Atem mit dem ausströmenden


Atem zusammenfließt, in diesem Augenblick berühre das energie-
lose, energieerfiillte Zentrum.

70
Kapitel 3

Wir sind aufgeteilt in Mittelpunkt und Umkreis, in Zentrum


und Peripherie. Der Körper ist die Peripherie. Wir kennen den
Körper, wir kennen die Peripherie. Wir kennen die Außenseite,
aber wissen nicht, wo der Mittelpunkt ist. Wenn das Ausatmen
mit dem Einatmen verschmilzt, wenn sie eins werden, wenn du
nicht mehr unterscheiden kannst, was Ein - und Ausatmen ist,
wenn es schwierig wird, abzugrenzen und zu bestimmen, ob der
Atem nach außen oder nach innen strömt, wenn der Atem ganz
innen ist und anfängt, nach außen zu gehen, gibt es einen Au-
genblick der Verschmelzung. Er geht weder nach außen noch
nach innen. Der Atem ist statisch. Wenn er hinausgeht, ist er dy-
namisch: wenn er hereinkommt, ist er dynamisch. Wenn er kei-
nes von beiden ist, wenn er stillsteht, unbeweglich, dann bist du
dem Zentrum nahe. Der Verschmelzungspunkt des ein- und aus-
strömenden Atems ist dein Zentrum.
Seht es einmal so: Wenn der Atem hereinkommt, wo geht er
hin? Er geht in dein Zentrum. Er berührt dein Zentrum. Wenn er
hinausgeht, von wo her tut er das? Er geht von deinem Zentrum
aus. Dein Zentrum muß berührt werden. Darum sagen die taoi-
stischen Mystiker und die Zen-Mystiker, daß nicht der Kopf euer
Zentrum ist, sondern der Nabel. Der Atem geht in den Nabel und
von da wieder hinaus. Er geht zum Zentrum.
Wie ich schon sagte, ist der Atem eine Brücke zwischen dir und
deinem Körper. Du kennst den Körper, weißt aber nicht, wo dein
Zentrum ist. Der Atem geht ständig ins Zentrum und wieder hin-
aus. Aber wir holen nicht tief genug Atem, und so geht er nor-
malerweise nicht wirklich zum Zentrum. Wenigstens bisher nicht.
Darum fühlt sich jeder „dezentralisiert”; keiner hat eine Mitte. In
der gesamten Moderne haben alle, die sich überhaupt Gedanken
machen, das Gefühl, daß die Mitte fehlt.
Seht euch ein schlafendes Kind an. Betrachtet seinen Atem. Der
Atem geht hinein; der Unterleib hebt sich. Die Brust bleibt un-
berührt. Darum haben Kinder keine Brust, sondern nur einen
Bauch - einen sehr dynamischen Bauch. Der Atem kommt her-
ein, und der Unterleib hebt sich: der Atem geht hinaus, und der
Unterleib senkt sich. Der Unterleib bewegt sich. Kinder sind in
ihrem Zentrum, am Mittelpunkt. Darum sind sie so glücklich, so

71
Das Buch der Geheimnisse

selig, so voller Energie, niemals müde, überschäumend, und im-


mer im gegenwärtigen Augenblick, ohne Vergangenheit, ohne
Zukunft.
Ein Kind kann wütend sein: Wenn es wütend ist, ist es total wü-
tend: es wird zur Wut. So ist sogar seine Wut etwas Schönes.
Wenn man total wütend wird, hat Wut ihre eigene Schönheit,
denn etwas Totales ist immer schön.
Ihr dagegen könnt nicht wütend und schön zugleich sein. Euch
macht es häßlich, so wie alles Fragmentarische häßlich macht.
Und das ist nicht nur mit der Wut so: Auch eure Liebe macht
euch häßlich, denn auch da seid ihr nicht total. Sieh einmal im
Liebesakt in den Spiegel, sieh dir ins Gesicht: es wird häßlich, tier-
haft aussehen. Selbst Liebe verzerrt dein Gesicht. Warum? Sogar
Liebe ist Konflikt. Du hältst etwas zurück, du gibst nur sehr gei-
zig. Selbst in deiner Liebe bist du nicht total. Du schenkst nicht
rückhaltlos, nicht von ganzem Herzen.
Ein Kind ist selbst in seiner Wut und Aggression total. Sein Ge-
sicht wird strahlend schön. Es ist hier und jetzt. Seine Wut hat
nichts mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft zu tun; das
Kind kalkuliert nicht, es ist einfach wütend. Das Kind ist in sei-
nem Zentrum. Wer im Zentrum ist, ist immer total: Was du tust,
das tust du total. Ob gut oder schlecht, es ist total. Wenn du bruch-
stückhaft bist, wenn du deine Mitte verloren hast, ist alles, was du
tust, zwangsläufig nur ein Fragment von dir. In nichts total, bist
du in allem nur teilweise. Und das Fragment ist gegen das Ganze:
Das macht dich häßlich.
Wir alle waren einmal Kinder. Warum wird unser Atem fla-
cher, je älter wir werden? Warum geht er nie in den Unterleib,
berührt er niemals den Nabel? Je weiter er nach unten geht, desto
weniger flach ist er. Aber er geht nur bis in die Brust und dann
wieder hinaus, nie bis ins Zentrum. Ihr habt Angst vor dem Zen-
trum, denn wer in sein Zentrum geht, wird total. Für alle, die gern
nur teilweise da sein möchten, ist dies die richtige Technik, eine
fragmentarische Existenz zu führen.
Du liebst: wenn du vom Zentrum her atmest, wirst du dabei to-
tal mitfließen. Davor hast du Angst, so verletzbar zu sein, so offen
für einen anderen, ganz gleich wer. Du magst ihn deinen Lieb-

72
Kapitel 3

haber nennen, du magst sie deine Geliebte nennen, aber du hast


Angst: Der andere ist da! Wenn du total verletzbar bist, offen,
dann weißt du nicht, was geschehen wird. Dann bist du da — voll
da, ganz anders als bisher. Du hast Angst, jemandem so völlig aus-
geliefert zu sein. Du kannst nicht atmen; du kannst nicht tief
Atem holen. Du kannst dein Atmen nicht entspannen, so daß es
bis zum Zentrum geht — denn je mehr sich dein Atem dem Zen-
trum nähert, desto totaler wird dein Handeln.
Da du Angst davor hast, total zu sein, atmest du flach. Du at-
mest nur minimal, nicht maximal. Darum erscheint dir das Leben
so leblos. Wenn du minimal atmest, wird das Leben leblos. Du
lebst am Minimum, nicht am Maximum. Du kannst auch mit
dem Maximum leben; dann fließt das Leben über. Aber das bringt
Schwierigkeiten. Nun kannst du kein Ehemann, keine Ehefrau
mehr sein; wenn das Leben überfließt, wird 's schwierig. Wenn das
Leben überfließt, fließt die Liebe über. Dann kannst du dich nicht
an einen Menschen binden, dann wirst du dich überallhin ver-
strömen; du dringst in alle Dimensionen ein. Diese Gefahr wit-
tert der Verstand und hält es daher für besser, gar nicht zu leben:
je lebloser, desto sicherer. Und je lebloser, desto mehr ist alles un-
ter Kontrolle: so bleibst du Herr der Dinge. Du hast das Gefühl,
am Steuer zu sein, weil du dich kontrollieren kannst. Du kannst
deine Wut kontrollieren, du kannst deine Liebe kontrollieren, du
kannst alles kontrollieren. Aber diese Kontrolle ist nur so lange
möglich, wie du deine Energie aufs Minimum drosselst.
Jeder muß irgendwann einmal Momente erfahren haben, wo
die Energie plötzlich vom Minimum zum Maximum hoch-
schießt. Du fährst ins Gebirge. Plötzlich bist du raus aus der Stadt
und ihrem Gefängnis und fühlst dich frei. Der Himmel ist un-
endlich, die Wälder sind grün und die Höhen berühren die Wol-
ken. Plötzlich holst du tief Luft. Es wird dir vielleicht nicht ein-
mal bewußt. Wenn du das nächstemal in die Berge fährst, achte
darauf: Es sind nicht die Berge, es ist dein Atem! Du holst tief Luft.
Du sagst: Ahhh! Du berührst dein Zentrum, du wirst für einen
Augenblick total, und alles ist Seligkeit. Diese Seligkeit kommt
nicht von den Bergen her. Diese Seligkeit kommt aus deiner ei-
genen Mitte. Du hast sie plötzlich berührt.

73
Das Buch der Geheimnisse

In der Stadt warst du ängstlich. Überall waren die anderen, und


du hattest dich in der Kontrolle. Du konntest nicht weinen, du
kenntest nicht lachen. Was für ein Unglück! Du konntest nicht
auf der Straße singen und tanzen. Du hattest Angst. Irgendwo war
ein Polizist in der Nahe, oder der Priester oder der Richter, oder
der Politiker oder die Respektsperson. Irgend jemand war gleich
um die Ecke, und so konntest du nicht einfach nur auf der Straße
tanzen.
Bertrand Russell sagt irgendwo: „Ich liebe die Zivilisation, aber
wir haben sehr teuer dafür bezahlt.” Man kann nicht auf der
Straße tanzen, aber man kann in die Berge fahren, und dort kann
man plötzlich tanzen. Du bist allein mit dem Himmel, und der
Himmel ist kein Gefängnis. Er tut sich immer weiter auf, öffnet
und öffnet sich — riesig, unendlich. Plötzlich holst du tief Luft: die
Luft berührt deine Mitte — und Seligkeit! Aber das hält nicht lan-
ge an. In ein oder zwei Stunden sind die Berge wieder ver-
schwunden. Du magst noch da sein, aber die Berge sind weg. Dei-
ne Sorgen sind wieder da. Du denkst daran, zu Hause anzurufen,
einen Brief an deine Frau zu schreiben, oder Vorbereitungen für
deine Abreise in drei Tagen zu treffen. Du bist kaum angekom-
men und bereitest schon die Abreise vor. Da bist du wieder. Dies
Luftholen kam nicht wirklich von dir. Es ist einfach passiert. Auf-
grund der veränderten Situation passierte die Gangschaltung. Du
warst in einer neuen Situation. Du konntest nicht mehr wie sonst
atmen, und so kam für einen Augenblick ein neuer Atem herein.
Er berührte deine Mitte; darum hast du dich selig gefühlt.
Shiva sagt, daß du in jedem Augenblick das Zentrum berührst,
oder es jedenfalls berühren kannst. Mache tiefe, langsame Atem-
züge. Berühre das Zentrum; atme nicht aus der Brust. Es ist ein
Trick, Zivilisation, Erziehung, Moral — sie haben das flache Atmen
erfunden. Es ist gut, rief bis ins Zentrum zu gehen, denn sonst
bleibt der Atem flach.
Der Mensch kann erst dann wirklich rief atmen, wenn er auf-
hört, den Sex zu verdrängen. Wenn der Atem tief in den Unter-
leib geht, gibt er dem Sex-Zentrum Energie. Er berührt das Sex-
Zentrum; er massiert das Sex-Zentrum von innen. Das Sex-Zen-
trum wird aktiver, lebendiger. Die Zivilisation hat Angst vor dem

74
Kapitel 3

Sex. Wir erlauben unseren Kindern nicht, mit ihrem Sex-Zen-


trum in Berührung zu kommen — mit ihren Sexualorganen. Wir
sagen: „Hände weg! Nicht anfassen!”
Beobachte ein Kind, wenn es seine Sexualorgane berührt, und
sag dann: „Halt!” und beobachte seinen Atem. Wenn du sagst:
„Halt! Nicht anfassen!” wird sein Atem augenblicklich flach: denn
es ist nicht nur die Hand, die das Sex-Zentrum berührt: Tief drin-
nen tut es auch der Atem. Und wenn der Atem es immerzu
berührt, ist es schwierig, die Hand davon abzuhalten. Wenn die
Hand damit aufhören soll, dann muß notwendig auch der Atem
damit aufhören, dann darf er nicht tief gehen. Er muß flach blei-
ben.
Wir haben Angst vor dem Sex. Der untere Teil des Körpers ist
nicht nur körperlich tiefer, er ist auch wertmäßig tiefer. Er wird
als „niedrig” verdammt: Geh ja nicht tief, bleib flach!
Unglücklicherweise können wir nur nach unten atmen! Ginge
es nach den Moralpredigern, würden sie den ganzen Atemappa-
rat ändern. Sie würden euch nur nach oben in den Kopf atmen
lassen. Dann würdet ihr den Sex gar nicht erst bemerken. Wenn
wir eine sexlose Menschheit wollen, dann müssen wir das Atem-
system verändern: Der Atem muß in den Kopf gehen, zum Sa-
hasra, zum siebten Zentrum im Kopf, und dann wieder zurück in
den Mund. Das sollte der Weg sein: vom Mund zum Sahasra. Es
darf nicht tief nach unten gehen, denn unten droht Gefahr. Je tie-
fer du gehst, desto näher kommst du an die tieferen Schichten der
Biologie heran. Du kommst zu deinem Zentrum, und dies Zen-
trum ist gleich nach dem Sex-Zentrum — in engster Nachbar-
schaft. Das muß so sein, denn Sex ist Leben.
Seht es einmal so: Atem ist Leben von oben nach unten; Sex ist
Leben genau von der anderen Ecke her — von unten nach oben. Es
strömt eine Sexenergie und es strömt eine Atemenergie in dir. Der
Atemweg ist im Oberkörper, und der Sexweg ist im Unterkörper.
Wenn sie zusammentreffen, erzeugen sie Leben; wenn sie zu-
sammentreffen, erzeugen sie Biologie, Bio-Energie. Wenn du also
Angst vor dem Sex hast, mußt du die beiden auseinander halten.
Verhindere, daß sie zusammenkommen. Der zivilisierte Mensch
ist in Wirklichkeit ein kastrierter Mensch. Darum wissen wir

75
Das Buch der Geheimnisse

nichts vom Atmen, und darum wird es euch schwerfallen, dies Su-
tra zu verstehen.
Shiva sagt: „Oder, wann immer der einströmende Atem mit
dem ausströmenden Atem zusammenfließt, in diesen Augenblick
berühre das energielose, energieerfüllte Zentrum.” Er benutzt sehr
widersprüchliche Begriffe: „Energielos, energieerfüllt.” Energie-
los — weil weder dein Körper noch dein Geist deinem Zentrum
Energie geben können. Deine Körperenergie befindet sich nicht
dort, deine geistige Energie befindet sich nicht dort, und so ver-
standen ist es „energielos” in bezug auf deine Identität, wie du
dich kennst. Aber es ist energieerfüllt, weil ihm die kosmische
Energiequelle zur Verfügung steht und gar nicht auf deine Kör-
perenergie angewiesen ist.
Deine Körperenergie ist nur Brennstoffenergie. Sie ist nur Ben-
zin. Du ißt etwas, du trinkst etwas: Das erzeugt Energie. Damit
gibst du lediglich dem Körper Brennstoff. Hör auf zu essen und
zu trinken, und dein Körper fällt tot um; nicht gleich jetzt — es
wird mindestens drei Monate dauern, denn du hast Benzin-
reserven. Du hast viel Energie akkumuliert; der Körper kann min-
destens drei Monate weiterlaufen ohne zu tanken. Er läuft und
läuft: er hat einen Reservetank. Im Notfall, irgendeinem Notfall —
könntest du ihn brauchen. Das ist Brennstoffenergie. Dein Zen-
trum bekommt keine Brennstoffenergie. Darum nennt Shiva es
„energielos”. Es ist nicht von deinem Essen und Trinken abhän-
gig. Es ist mit der kosmischen Quelle verbunden; es ist kosmische
Energie, daher spricht er von dem „energielosen, energieerfüllten
Zentrum”. In dem Moment, da du das Zentrum fühlen kannst,
genau den Punkt, von wo aus der Atem ein — und ausströmt, wo
er verschmilzt, wo die Atemzüge verschmelzen — wenn dir die-
ses Zentrum bewußt wird, dann ... die Erleuchtung.

Die vierte Technik:

Oder, wenn der Atem ganz draußen ist oder ganz drinnen,
und von allein stillsteht — in solch einer universalen Pause
verschwindet das eigene kleine Selbst. Dies ist schwierig nur
für den Unreinen.

76
Kapitel 3

Aber dann ist es für jeden schwierig, denn er sagt: „Dies ist
schwierig nur für den Unreinen. ” Wer ist aber schon rein? Es ist
schwierig für euch. Ihr könnt diese Technik nicht praktizieren.
Aber manchmal stößt man plötzlich darauf. Du fährst Auto und
plötzlich merkst du, daß gleich ein Unfall passiert. Der Atem
stockt. Hast du grade ausgeatmet, bleibt der Atem draußen. Hast
du grade eingeatmet, bleibt er drinnen. In einer solchen Situation
kannst du nicht atmen. Das kannst du dir nicht leisten. Alles steht
still, fällt ab von dir.
„Oder, wenn der Atem ganz draußen ist, oder ganz drinnen,
und von allein stillsteht - in solch einer universalen Pause ver-
schwindet das eigene kleine Selbst. ” Dein „kleines Selbst” ist nur
ein täglicher Gebrauchsgegenstand. In Krisensituationen kannst
du dich nicht daran erinnern: Wer du bist - dein Name, dein
Konto, dein Prestige -, all das löst sich einfach in Dunst auf. Dein
Wagen fährt genau auf einen anderen Wagen zu; noch einen Mo-
ment, und der Tod ist da. In diesem Moment entsteht eine Pause.
Selbst für den „Unreinen” wird es eine Pause geben. Plötzlich
steht der Atem still. Wenn du in diesem Moment bewußt bleibst,
kannst du das Ziel erreichen.
Die Zen-Mönche in Japan haben sehr viel mit dieser Methode
experimentiert. Darum kommen uns ihre Methoden so ausgefal-
len, so absurd, so merkwürdig vor. Sie machen die überraschend-
sten Dinge: ein Lehrer wirft zum Beispiel jemanden aus dem
Haus. Oder der Lehrer schlägt plötzlich auf den Schüler ein, ohne
jeden Sinn und Zweck, ohne Grund.
Du hast eben noch neben deinem Lehrer gesessen, und alles
war okay. Ihr habt nur so geplaudert, und plötzlich gibt er dir ei-
nen Schlag - um die Pause zu erzeugen. Gäbe es irgendeinen
Grund, könnte die Pause nicht entstehen. Hättest du deinen Leh-
rer beschimpft und er hätte dich daraufhin geschlagen, dann gäbe
es eine Kausalität. Dein Kopf versteht: „Ich habe ihn beleidigt, nun
schlägt er mich.” Das war zu erwarten gewesen, es entsteht also
keine Lücke. Aber vergiß nicht: Ein Zen-Lehrer wird dich, wenn
du ihn beleidigst, nicht schlagen; er wird lachen, weil dann sein
Gelächter die Lücke erzeugt. Du hast ihn beschimpft und ihm
lauter unverschämte Dinge gesagt und hast mit seiner Wut

77
Das Buch der Geheimnisse

gerechnet: Aber er fängt zu lachen oder zu tanzen an. Das ist un-
verhofft: das erzeugt eine Pause. Du kannst es nicht verstehen.
Was er nicht verstehen kann, davor stutzt der Geist. Und wenn
der Geist stillsteht, steht der Atem still. Es gilt für beide Richtun-
gen: steht der Atem still, steht der Geist still: steht der Geist still,
steht der Atem still.
Du hast den Lehrer bewundert, hast dich wohl gefühlt und
gedacht, jetzt muß er aber mit mir zufrieden sein`. Und dann
nimmt er seinen Stock und schlägt dich, und zwar gnadenlos,
denn Zen-Meister sind gnadenlos. Er schlägt dich, und du weißt
nicht, was los ist. Dein Denken steht still, es gibt eine Pause.
Wenn du sie zu nutzen weißt, kannst du zu deinem Selbst vor-
dringen.
Es gibt viele Geschichten, wie jemand zur Buddhaschaft ge-
langte, weil ihm der Lehrer plötzlich einen Hieb versetzte. Ihr fin-
det das unbegreiflich: „Was für ein Unsinn? Wie soll man zur
Buddhaschaft gelangen, wenn man von jemandem verprügelt
oder aus dem Fenster geworfen wird? Selbst wenn mich jemand
töten würde, könnte ich dadurch keine Buddhaschaft erlangen.”
Aber wenn ihr diese Technik versteht, werdet ihr es leicht be-
greifen können. Vor allem im Westen wird Zen in den letzten
dreißig oder vierzig Jahren immer beliebter, zur Mode. Aber be-
vor sie im Westen diese Technik nicht verstehen, können sie auch
Zen nicht verstehen. Sie können zwar nachahmen, aber Nachah-
mung bringt nichts. Im Gegenteil, sie ist gefährlich. Dies sind kei-
ne Dinge, die man nachahmen kann.
Die gesamte Zen-Methodik beruht auf der vierten Technik Shi-
vas. Aber unglücklicherweise müssen wir heute den Zen aus Japan
i mportieren, weil wir in Indien die ganze Tradition verloren ha-
ben; wir kennen sie nicht mehr. Shiva war der Experte par excel-
lence in dieser Methode. Als er kam, um Devi zu heiraten, mit
seinem ganzen Gefolge, seinem Barat, da muß es der ganzen Stadt
den Atem verschlagen haben, die ganze Stadt stand still!
Devis Vater war nicht gewillt, seine Tochter an diesen Hippie
zu verheiraten. Shiva war der Ur-Hippie. Devis Vater war total
gegen ihn, und kein Vater der Welt hätte diese Ehe zugelassen,
keiner! Wir dürfen es Devis Vater nicht übelnehmen; kein Vater

78
Kapitel 3

würde die Ehe mit Shiva billigen. Aber dann bestand Devi darauf,
und er mußte einwilligen — widerstrebend, unglücklich, aber er
willigte ein.
Dann kam die ganze Hochzeitprozession. Es heißt, daß alle
rannten, um Shiva und seine Prozession zu sehen. Das gesamte
Barat mußte LSD genommen haben, Marihuana. Alle waren an-
getörnt. Und wirklich, LSD und Marihuana sind kleine Fische:
Shiva mit seinen Freunden und Schülern waren im absoluten Psy-
chedelikum: Soma rasa. Aldous Huxley hat den Inbegriff aller
Drogen nur Shiva zu Ehren „Soma” genannt. Alle waren an-
getörnt, tanzten und schrien und lachten. Die ganze Stadt rannte
davon. Sie muß diese Pause, den Stillstand gespürt haben.
Alles Plötzliche, Unerwartete, Unglaubliche kann für den Un-
reinen die Pause erzeugen. Aber für den Reinen sind solche Din-
ge nicht nötig. Für den Reinen ist die Pause immer da. Die Pause
währt immer! Viele Male bleibt dem reinen Geist der Atem ste-
hen, viele Male! Wenn dein Geist rein ist — und „rein” heißt, daß
du nichts verlangst, begehrst, herbeisehnst, daß du schweigend
rein, unschuldig rein bist — dann kannst du einfach nur dasitzen,
und plötzlich bleibt dein Atem einfach stehen.
Vergeßt nicht: Damit sich der Geist bewegen kann, braucht er
die Atembewegungen. Ein schneller Gedankenablauf braucht eine
schnelle Atembewegung. Darum geht der Atem so schnell, wenn
du wütend bist. Im Sexakt wird das Atmen schneller. Darum steht
in der Ayurveda, daß Sex lebensverkürzend wirkt: dein Leben
wird laut Ayurveda durch zuviel beschnitten, denn die Ayurveda
mißt das Leben nach Atemzügen. Wenn dein Atem zu schnell
geht, wird dein Leben verkürzt.
Die modernen Mediziner sagen, daß Sex für den Kreislauf gut
ist, daß er zur Entspannung verhilft, und daß derjenige, der den
Sex verdrängt, Schwierigkeiten bekommt, vor allem Herzbe-
schwerden. Und sie haben recht. Und die Ayurveda hat auch
recht. Das scheint widersprüchlich, aber die Ayurveda wurde vor
fünftausend Jahren geschrieben, wo jedermann hart arbeitete. Das
Leben bestand aus Schwerarbeit, man brauchte also keine Ent-
spannungsübungen, man brauchte den Blutkreislauf nicht künst-
lich anzuregen.

79
Das Buch der Geheimnisse

Aber heute ist für die Menschen, die keine körperliche Schwer-
arbeit tun, der Sex die einzige Schwerarbeit. Darum hat auch die
moderne Medizin recht, die den modernen Menschen betrifft. Er
strengt sich körperlich nicht so an, und da bietet der Sex die nöti-
ge Anstrengung: das Herz schlägt schneller, der Kreislauf wird an-
geregt, der Atem geht tief, bis zum Zentrum. Darum fühlt man
sich nach dem Geschlechtsverkehr entspannt und kann leicht ein-
schlafen. Freud nennt den Sex das beste Beruhigungsmittel: und
das ist er auch, wenigstens für den modernen Menschen. Im Sex
geht der Atem also schneller, in der Wut auch. Im Sex ist der Geist
voller Verlangen, Wollust — „Unreinheit”. Wenn der Geist rein ist
und kein Verlangen, kein Suchen, keine Motivation in ihm ist —
du willst nirgendwo hin, sondern bleibst nur im Hier und Jetzt,
ein Teich von Unschuld, den nicht die leiseste Welle kräuselt —
dann hört das Atmen automatisch au£ Es ist nicht mehr nötig.
Auf diesem Weg verschwindet das kleine Selbst, und du ge-
langst zum höheren Selbst, zum Allerhöchsten Selbst.

80
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Die Täuschungsmanöver des Kopfes
[Fragen]

Wie ist es möglich, zur Erleuchtung zu gelangen, nur indem man


sich einen bestimmten Punkt im Atemprozeß bewußt macht?
Wie ist es möglich, vom Unbewußten befreit zu werden, einfach
indem man auf eine so winzige, kurze Lücke im , Atem achtet?

83
Das Buch der Geheimnisse

Diese Frage ist wichtig, und sie ist sicher schon in vielen Köp-
fen aufgetaucht. Hier gibt es also vieles zu verstehen. Erstens: daß
die Spiritualität für eine schwierige Errungenschaft gehalten wird.
Sie ist weder-noch, das heißt, sie ist weder schwierig, noch eine
Errungenschaft. Was immer du bist, du bist schon spirituell: dei-
nem Wesen braucht nichts Neues hinzugefügt zu werden. Und
nichts von deinem Wesen braucht verworfen zu werden. Du bist
so perfekt wie nur möglich. Nicht, daß du irgendwann in der Zu-
kunft einmal perfekt sein wirst, nicht, daß du dich furchtbar an-
strengen mußt, um du selbst zu sein! Es ist keine Reise irgend-
wohin; es geht nirgends hin. Du bist schon angekommen. Das,
was es zu erreichen gibt, ist schon erreicht. Laß diese Vorstellung
tief einsinken, nur dann kannst du verstehen, warum so einfache
Techniken helfen können.
Wenn Spiritualität eine Errungenschaft ist, dann wird es natür-
lich schwierig — nicht nur schwierig, sondern unmöglich. Wenn
du nicht schon spirituell bist, kannst du es nie sein. Du kannst es
nie sein, denn wie soll einer, der nicht schon spirituell ist, spiritu-
ell werden? Wenn du nicht schon göttlich bist, dann führt kein
Weg dorthin. Und du kannst anstellen, was du willst — niemand,
der nicht bereits göttlich ist, kann Göttlichkeit erzeugen. Un-
möglich!
Aber es ist alles ganz anders: du bist schon das, was du erreichen
willst. Hier und jetzt, in diesem Augenblick, bist du das, was man
„das Göttliche” nennt. Das Letzte und Höchste ist hier, es findet
bereits statt. Aus diesem Grund können einfache Techniken hel-
fen. Es ist keine Errungenschaft, sondern eine Entdeckung. Es ist
versteckt, und zwar in ganz, ganz kleinen Dingen.
Die Persona ist wie Kleider. So wie dein Körper da ist und in
Kleidern steckt, genauso ist deine Spiritualität da und steckt ge-
wissermaßen in Kleidern. Diese Kleider sind deine Persönlichkeit.
Du kannst hier und jetzt ganz nackt sein, und genauso kannst du
auch in deiner Spiritualität ganz nackt sein. Aber du weißt nicht,
was diese Kleider sind. Du weißt nicht, inwiefern du in ihnen ver-
steckt bist; du weißt nicht, wie du nackt sein kannst. Du lebst
schon so lange in deinen Kleidern — viele, viele Leben lang hast
du schon mit Kleidern gelebt und dich mit den Kleidern identifi-

84
Kapitel 4

ziert -, daß du sie jetzt nicht mehr für Kleider hältst. Du glaubst,
diese Kleidung, das wärst du. Das ist das einzige Hindernis.
Zum Beispiel besitzt du einen Schatz, hast es aber vergessen
oder noch nicht erkannt und gehst auf die Straße betteln. Du bist
ein Bettler. Wenn jemand sagt: „Geh nach Hause und schau dich
dort um, du brauchst kein Bettler zu sein, du kannst gleich jetzt
ein Kaiser sein”, dann antwortet der Bettler natürlich: „Was redest
du da für Unsinn? Wie kann ich in diesem Augenblick ein Kaiser
sein? Ich bettle seit Jahren und bin immer noch ein Bettler, und
selbst wenn ich das ganze Leben lang weiter bettle, werde ich
trotzdem kein Kaiser sein. Wie absurd und unlogisch, daß ich jetzt
in diesem Augenblick ein Kaiser sein könnte!”
Ausgeschlossen - der Bettler kann es nicht glauben. Warum?
Weil die Bettel-Haltung eine lange Gewohnheit ist. Aber wenn
der Schatz wirklich im Haus versteckt ist, dann kann er gehoben
werden, einfach indem man ein bißchen gräbt, ein bißchen Erde
wegräumt. Und augenblicklich ist man kein Bettler mehr, man ist
ein Kaiser.
Genauso ist es mit der Spiritualität. Sie ist ein verborgener
Schatz. Nichts braucht irgendwo in der Zukunft erreicht zu wer-
den. Du weißt es noch nicht, aber sie ist vorhanden, ist schon in
dir. Du bist der Schatz, aber du gehst weiter betteln. Einfache
Techniken können also helfen. Ein wenig zu graben, ein bißchen
Erde beiseite zu räumen, das ist keine große Anstrengung; du
kannst augenblicklich zum Kaiser werden. Du brauchst nur ein
bißchen zu graben und Erde wegzuräumen. Und wenn ich sage,
„Erde wegräumen”, dann meine ich das nicht nur symbolisch.
Dein Körper gehört buchstäblich der Erde an, und du hast dich
mit dem Körper identifiziert. Räume diese Erde etwas zur Seite,
grabe ein Loch hinein, und du wirst den Schatz erkennen.
Darum wird sich diese Frage vielen, ja, jedem stellen: „Eine so
belanglose Technik wie diese - nur auf den Atem zu achten, auf
das Ein - und Ausatmen und die Pause dazwischen -, ist das ge-
nug?” So etwas Einfaches! Reicht das zur Erleuchtung? Soll das
der einzige Unterschied zwischen dir und Buddha sein, daß du
die Lücke zwischen zwei Atemzügen noch nicht wahrgenommen
hast, Buddha aber schon? Das soll alles sein? Das scheint absurd.

85
Das Buch der Geheimnisse

Die Entfernung zwischen einem Buddha und dir ist unendlich.


Der Abstand ist grenzenlos. Der Abstand zwischen einem Bettler
und einem Kaiser ist unendlich, aber aus dem Bettler kann im
Handumdrehen ein Kaiser werden, wenn der Schatz schon heim-
lich da ist.
Buddha war ein Bettler wie ihr. Er war nicht schon immer ein
Buddha. Zu einem bestimmten Zeitpunkt starb der Bettler und
wurde zum Herrn. Das ist in Wirklichkeit kein allmählicher Pro-
zeß. Nicht, daß Buddha so lange gespart hat, bis er eines Tages
kein Bettler mehr, sondern ein Kaiser war. Nein, ein Bettler kann
nie zum Kaiser werden, wenn es eine Frage des Sparens ist; dann
bleibt er Bettler. Er mag ein reicher Bettler werden, aber er wird
Bettler bleiben. Und ein reicher Bettler ist ein größerer Bettler als
ein armer.
Plötzlich, eines Tages, entdeckt Buddha den inneren Schatz.
Nun ist er kein Bettler mehr und wird Herr. Der Abstand zwi-
schen Gautam Siddhartha und Gautam Buddha ist unendlich. Es
ist die gleiche Entfernung wie zwischen euch und einem Buddha.
Aber der Schatz ist in euch verborgen, so gut wie er in Buddha
verborgen war.
Eine kleine, eine sehr kleine Technik kann helfen. Oder nehmt
ein anderes Beispiel: jemand wird mit blinden, kranken Augen ge-
boren. Für einen Blinden ist die Welt etwas anderes. Eine kleine
Operation kann die Sache andern, nur die Augen müssen geheilt
werden. Sobald die Augen geheilt sind, ist der Sehende hinter ih-
nen verborgen und kann anfangen, durch die Augen zu sehen.
Der Sehende ist bereits da: Es fehlen nur Fenster. Du bist in ei-
nem Haus ohne Fenster. Du kannst ein Loch in die Wand bre-
chen und plötzlich nach draußen sehen.
Wir sind schon das, was wir sein werden, was wir sein sollen,
was wir zu sein bestimmt sind. Die Zukunft ist bereits in der
Gegenwart verborgen, deine ganze Möglichkeit ist in Saatform
hier. Es muß nur ein Fenster aufgebrochen werden. Nur ein klei-
ner chirurgischer Eingriff ist nötig. Wenn du dies verstehen
kannst, daß die Spiritualität bereits da ist, daß sie schon der Fall ist,
dann stellt sich die Frage gar nicht, wie eine so kleine Anstren-
gung helfen kann.

86
Kapitel 4

Wirklich, es gehört keine große Mühe dazu. Nur ganz geringe


Anstrengungen sind nötig, und je geringer, desto besser. Und
wenn du mühelos arbeitest, noch besser. Darum passiert es oft,
sehr oft, daß es in dem Maße schwieriger wird, wie du dich an-
strengst. Gerade deine Anstrengung, deine Anspannung, dein Be-
schäftigtsein, deine Sehnsucht, deine Erwartung wird zur Schran-
ke. Aber mit einer ganz beiläufigen Anstrengung geht es, mit je-
ner „mühelosen Mühe”, wie es im Zen heißt — so handeln, als täte
man nichts. Je besessener du bist, desto geringer die Chance, denn
wo eine Nadel nötig ist, gebrauchst du ein Schwert. Das Schwert
wird nichts ausrichten. Es mag zwar größer sein, aber wo eine Na-
del nötig ist, nützt ein Schwert nichts.
Geht zu einem Schlachter — er hat sehr große Werkzeuge; und
geht dann zu einem Gehirnchirurgen — dort findet ihr nicht so
große Instrumente. Und solltet ihr sie doch finden, dann rennt so
schnell wie möglich davon! Ein Hirnchirurg ist kein Schlachter. Er
braucht sehr kleine Instrumente -je kleiner, desto besser. Spiritu-
elle Techniken sind noch subtiler. Sie sind nicht grob. Sie dürfen es
nicht sein, weil diese Chirurgie noch subtiler ist. Im Hirn hat der
Chirurg immer noch mit der groben Materie zu tun, aber wenn
man auf spirituellen Ebenen arbeitet, dann wird die Chirurgie im-
mer ästhetischer. Da gibt es keine grobe Materie. Sie wird fein-
stofflich: das ist das eine. Zum zweiten fragst du, wie etwas so Klei-
nes einen so riesigen Schritt ermöglichen soll? Diese Frage ist ir-
rational, unwissenschaftlich. Heute weiß die Wissenschaft, daß je
kleiner das Partikel, je atomarer, desto explosiver wird es, mit an-
deren Worten: desto größer. Je kleiner es ist, desto größer die Wir-
kung. Hätte man sich vor 1945 vorstellen können, hätte sich ein
einfallsreicher Dichter oder Träumer träumen lassen, daß zwei
Atomexplosionen zwei große Städte in Japan vollständig ausra-
dieren würden, Hiroshima und Nagasaki? Zweihunderttausend
Menschen wurden binnen Sekunden einfach ausgelöscht. Und
was war die explosive Kraft dahinter? Ein Atom! Der allerkleinste
Teil sprengte zwei große Städte in die Luft. Ein Atom kann man
nicht sehen. Nicht nur mit den Augen kann man es nicht sehen —
es gibt gar kein Mittel, es zu sehen; das Atom läßt sich mit keinem
Instrument sehen. Wir können nur die Auswirkungen sehen.

87
Das Buch der Geheimnisse

Glaubt also nicht, der Himalaja wäre größer, weil er ein so


großes Volumen hat. Der Himalaja ist, gemessen an einer atoma-
ren Explosion, einfach machtlos. Ein einziges kleines Atom kann
den Himalaja wegwischen. Ein großes Volumen an grobem Stoff
ist nicht unbedingt Kraft. Im Gegenteil, je kleiner die Einheit, de-
sto durchschlagskräftiger. Je kleiner die Einheit, desto mehr Kraft
steckt darin.
Diese „kleinen” Techniken sind atomar. Wer es mit „größeren”
versucht, weiß nichts von Atomwissenschaft. Ist jemand, der mit
Atomen arbeitet, deshalb unbedeutender, weil er sich mit kleinen
Dingen abgibt, und jemand, der mit dem Himalaja zu tun hat,
darum sehr bedeutend? Hitler hat mit großen Massen gearbeitet.
Mao arbeitete mit großen Massen. Und ein Einstein und Planck
arbeiteten in ihren Labors mit kleinen Materie-Einheiten — Ener-
giepartikeln. Aber letzten Endes waren die Politiker vor Einsteins
Entdeckung impotent. Sie arbeiteten in großem Rahmen, aber sie
kannten noch nicht das Geheimnis der kleinen Einheit.
Moralisten wirken immer in großem Rahmen, aber das sind
grobe Dimensionen. Die Sache sieht sehr groß aus. Sie verbrin-
gen ihr ganzes Leben mit Moralisieren, praktizieren dies und je-
nes, sie üben sich in Sanyam, Kontrolle: sie kontrollieren immer
nur. Das ganze Bauwerk sieht sehr groß aus.
Tantra hat damit nichts zu schaffen. Tantra hat mit den atoma-
ren Geheimnissen des menschlichen Wesens zu tun, des mensch-
lichen Geistes, des menschlichen Bewußtseins. Und Tantra weiß
von den Geheimnissen des Atoms. Seine Methoden sind atomar.
Wer sie beherrscht — ihr Ergebnis ist explosiv, kosmisch.
Noch etwas ist wichtig. Wenn du sagst: „Wie kommt es, daß
man durch eine so kleine, einfache Übung erleuchtet werden
kann?”, dann verrät das, daß du sie nicht probiert hast, denn hät-
test du es, würdest du die Übung nicht klein nennen, nicht ein-
fach. Es scheint nur so, weil die ganze Übung mit zwei oder drei
Sätzen gesagt werden kann.
Kennt ihr die Atomformel? Zwei oder drei Worte, und die
ganze Formel ist ausgedrückt. Und wer diese zwei oder drei Wor-
te verstehen kann, wer mit ihnen umgehen kann, kann die ganze
Erde zerstören. Aber die Formel ist winzig.

88
Kapitel 4

Auch dies sind Formeln; wenn man also nur die Formel sieht,
erscheint sie ganz klein und einfach. Das ist sie nicht! Probiere sie
aus! Wenn du es tust, dann weißt du, daß es nicht so einfach ist. Es
sieht einfach aus, gehört aber zum Allertiefsten. Laßt uns den Vor-
gang analysieren, dann werdet ihr verstehen.
Wenn ihr einatmet, fühlt ihr nie den Atem. Ihr habt nie den
Atem gefühlt! Das werdet ihr sofort bestreiten und sagen: „Das
stimmt nicht. Wir mögen nicht ständig drauf achten, aber fühlen
tun wir ihn.” Nein, ihr fühlt den Atem nicht: Ihr fühlt nur sein
Strömen.
Das meint Shiva nicht, wenn er sagt: „Nehmt ihn wahr.” Seht
euch das Meer an: Wellen sind da, ihr seht die Wellen. Aber die-
se Wellen werden von der Luft erzeugt, dem Wind. Aber den
Wind seht ihr nicht. Ihr seht nur die Auswirkung auf dem Was-
ser. Wenn ihr Atem holt, berührt er die Nasenflügel. Ihr fühlt die
Nasenflügel, aber nie den Atem. Er geht hinunter: Ihr fühlt ihn
strömen. Er kommt zurück: Wieder fühlt ihr ihn strömen. Den
Atem fühlt ihr nie. Ihr fühlt nur seine Berührung, wenn er durch-
kommt. Anfangs müßt ihr sein Vorbeikommen wahrnehmen.
Und wenn ihr das vollkommen könnt — erst dann — werdet ihr
nach und nach den Atem selbst wahrnehmen. Und wenn ihr den
Atem wahrnehmt, könnt ihr auch die Lücke, das Intervall bewußt
wahrnehmen. Es ist nicht so leicht, wie es aussieht. Es ist nicht so
leicht!
Für Tantra, für die ganze indische Spiritualität, gibt es Bewußt-
seinsschichten. Wenn ich dich umarme, nimmst du zuerst meine
Berühumg auf deinem Körper wahr — nicht meine Liebe. Meine
Liebe ist weniger grob. Und gewöhnlich nehmen wir Liebe über-
haupt nicht wahr. Wir nehmen nur Körperbewegungen wahr.
Wir kennen liebevolle Gesten, wir kennen lieblose Gesten — aber
Liebe selbst erkennen wir nie. Wenn ich dich küsse, nimmst du
die Berührung wahr, nicht meine Liebe, diese Liebe ist etwas sehr
Feines. Und solange du nicht meine Liebe wahrnimmst, ist der
Kuß einfach tot, er bedeutet nichts. Nur wenn du meine Liebe
wahrnehmen kannst, nur dann kannst du auch mich wahrneh-
men, denn das ist wieder eine tiefere Schicht.
Der Atem kommt herein: du fühlst seine Berührung, nicht den

89
Das Buch der Geheimnisse

Atem selbst. Aber du bist dir nicht einmal dieser Berührung be-
wußt. Nur wenn etwas nicht stimmt, wenn du Probleme mit dem
Atem hast, dann spürst du ihn; sonst aber nimmst du ihn nicht
wahr. Der erste Schritt ist also, sich das passieren des Atems be-
wußt zu machen, seine Berührung zu spüren. Dadurch wächst
deine Empfindsamkeit. Es wird Jahre dauern, so empfindsam zu
werden, daß man nicht nur die Berührung, sondern die Atembe-
wegung selbst erkennt. Dann, so sagt Tantra, hat man das Prana
kennengelernt — die Lebens-Energie. Und nur dann erscheint
auch die Lücke, wo der Atem anhält, wo der Atem sich nicht be-
wegt — oder das Zentrum, an das der Atem rührt, oder der Fu-
sionspunkt, oder der Wendepunkt, wo der einströmende Atem
sich wieder nach außen wendet. Es wird schwer sein; es ist nicht
so leicht.
Nur wenn du es ausprobierst, wenn du wirklich in das Zentrum
gehst, wirst du wissen, wie schwierig es ist. Buddha brauchte sechs
Jahre dazu, um zu diesem Zentrum jenseits des Atems zu kom-
men. Um zu diesem Wendepunkt zu gelangen, benötigte er eine
lange, entbehrungsreiche Reise von sechs Jahren. Dann geschah
es. Mahavir arbeitete zwölf Jahre daran, ehe es geschah. Aber die
Formel ist einfach, und theoretisch kann es jetzt gleich geschehen
— theoretisch, vergiß das nicht. Theoretisch gibt es da keine Hin-
dernisse, warum also nicht gleich jetzt? Du bist das Hindernis. Es
liegt nur an dir, daß es nicht in diesem Augenblick passiert. Der
Schatz ist da; die Methode ist dir bekannt: Du kannst graben. Aber
du willst gar nicht graben. Selbst diese Frage ist ein Trick, um
nicht graben zu müssen, denn dein Kopf sagt: „So etwas Einfa-
ches? Sei kein Dummkopf. Wie kannst du durch so etwas Einfa-
ches zum Buddha werden? Das kann doch nicht sein!” Also tust
du gar nichts, denn wie kann das angehen? Der Kopf ist voller
Tricks. Sage ich, daß es sehr schwer ist, sagt er, daß es so schwer
ist, daß du es nicht schaffen kannst. Sage ich, es ist sehr leicht, sagt
der Kopf: „Das ist zu leicht! Da können nur Narren drauf reinfal-
len.” Der Kopf rationalisiert immer nur und rennt vor dem Tun
davon. Der Kopf schafft Hindernisse. Du blockierst dich, wenn
du glaubst, es sei zu einfach oder zu schwer — denn was dann?
Wenn du nichts Leichtes und nichts Schweres tun kannst, was tust

90
Kapitel 4

du dann überhaupt? Sag es mir! Wenn du gerne etwas Schwieri-


ges machen willst — ich mache es schwierig für dich. Wenn du
gerne etwas Leichtes machen willst — ich mache es einfach. Es ist
beides zugleich. Es kommt auf die Auslegung an. Aber eines ist
wichtig: daß du es auch wirklich tust. Und wenn du es nicht tust,
wird dein Kopf immer Erklärungen dafür finden. Theoretisch ist
es hier und jetzt möglich. Tatsächlich kann dich nichts hindern.
Trotzdem gibt es Schranken, auch wenn sie nicht tatsächlich da
sein mögen. Sie mögen einfach nur psychologisch sein. Sie mö-
gen einfach nur deine Illusionen sein. Aber sind sie da. Wenn ich
dir sage: „Hab keine Angst — geh zu! Das Ding, was du für eine
Schlange hältst, ist keine Schlange, sondern ein Strick”, so ist trotz-
dem die Angst da. Für dich sieht es wie eine Schlange aus.
Egal, was ich sage, es wird nicht helfen: du zitterst, du möchtest
davonlaufen und fliehen. Ich sage, es ist nur ein Strick, aber dein
Kopf wird sagen: „Dieser Mann steckt sicher mit der Schlange un-
ter einer Decke, da kann etwas nicht stimmen. Dieser Mann treibt
mich zur Schlange hin. Vielleicht will er, daß ich sterbe, oder was
weiß ich!” Daß ich dich so hartnäckig überzeugen will, es sei nur
ein Strick, beweist dir nur, daß ich ein Interesse daran habe, dich
der Schlange zuzutreiben. Wenn ich dir sage, daß es theoretisch
möglich ist, den Strickjetzt gleich als Strick zu erkennen, produ-
ziert der Kopf lauter Probleme.
In Wirklichkeit gibt es kein Dilemma, in Wirklichkeit gibt es
kein Problem. Es hat nie eins gegeben und wird nie eins geben.
Probleme gibt es nur im Kopf: aber ihr seht die Wirklichkeit nur
mit dem Kopf an. Und so wird die Wirklichkeit zum Problem.
Euer Geist arbeitet wie ein Prisma. Er spaltet und macht Proble-
me. Und nicht nur das: er findet Lösungen, die nur noch zu tie-
feren Problemen führen, denn in Wirklichkeit gibt es gar keine
Probleme, die gelöst werden müßten. Die Wirklichkeit ist absolut
unproblematisch. Es gibt kein Problem. Aber ihr könnt nichts
ohne Problem sehen. Wo ihr auch hinblickt, erzeugt ihr Proble-
me: euer Blick enthält schon das Problem. Ich habe euch diese
Atemtechnik erklärt: jetzt sagt der Kopf „Das ist zu einfach.”
Warum? Warum nennt der Kopf es zu einfach?
Als die Dampfmaschine erfunden wurde, wollte niemand es

91
Das Buch der Geheimnisse

glauben. Es sah zu einfach aus — nicht zu glauben. Der gleiche


Dampf, den ihr aus der Küche kanntet, vom Wasserkessel her,
der gleiche Dampf sollte eine Lokomotive antreiben und viele
Hunderte von Passagieren dazu — ein solches Gewicht? Der glei-
che Dampf, den man so gut kannte? Nicht zu glauben! Wißt ihr,
was in England passierte? Als der erste Zug losfuhr, wollte nie-
mand einsteigen — kein Mensch! Es waren viele Leute überredet
und bestochen worden, sie hatten Geld bekommen, damit sie
sich in den Zug setzten. Und im letzten Augenblick rannten sie
davon. Sie sagten: „Erstens kann Dampf keine solchen Wunder
tun. Etwas so Einfaches wie Dampf kann nicht solche Wunder
tun. Und wenn die Lokomotive doch fährt, heißt das, daß ir-
gendwo der Teufel am Werk ist. Der Teufel treibt das ganze an,
nicht der Dampf. Und wer garantiert uns, daß das Ding auch
wieder stehenbleibt, wenn es erst einmal fährt?” Es konnte keine
Garantie gegeben werden, denn es war der allererste Zug. Nie
zuvor hatte einer gehalten. Es war nur eine Wahrscheinlichkeit.
Es gab keine Erfahrung, keine Wissenschaft, die sagen konnte: Ja,
er wird halten. Theoretisch würde er anhalten, aber die Leute
waren nicht an Theorien interessiert: sie wollten wissen, ob es ir-
gendeine konkrete Erfahrung gab, derzufolge ein Zug anhielt:
„Wenn er nie wieder anhält, was wird dann aus uns, die darin
sitzen?”
Also wurden zwölf Verbrecher als Passagiere aus dem Gefäng-
nis geholt. Die mußten sowieso sterben, die waren ja sowieso zum
Tode verurteilt, da gab es also kein Problem, falls der Zug nicht
anhielt. So würden nur der verrückte Lokomotivführer, der ans
Anhalten glaubte, plus der Wissenschaftler, der das Ding erfun-
den hatte, plus diese zwölf Passagiere, die ja sowieso sterben muß-
ten, dabei draufgehen.
„Etwas so Einfaches wie Dampf!” sagte man damals. Aber heu-
te sagt es niemand mehr, denn heute funktioniert es, und alle wis-
sen es. Alles ist einfach: die Wirklichkeit ist einfach. Sie sieht nur
kompliziert aus, wenn man es nicht weiß: ansonsten ist alles ein-
fach. Sobald du das weißt, wird es einfach. Aber es zu erkennen,
muß schwierig sein — nicht der Wirklichkeit wegen, deswegen
nicht, sondern eures Kopfes wegen. Diese Technik ist einfach,

92
Kapite14

aber nicht für euch. Euer Kopf wird Schwierigkeiten machen. Pro-
biert es nur!

Jemand anderes fragt:

Wenn ich dieser Methode folge, auf meinen Atem zu achten, wenn
ich also nur auf mein Atmen achtgebe, dann kann ich nichts anderes
tun. Meine ganze Aufmerksamkeit ist daraufgerichtet. Und wenn
ich etwas anderes tue, dann kann ich nicht auf mein Atmen achten.

Das stimmt, und darum mußt du anfangs eine bestimmte Zeit


wählen, morgens oder abends, oder wann immer du willst. Mache
eine Stunde lang nur diese Übung und sonst nichts. Hast du dich
einmal an sie gewöhnt, dann wird es keine Probleme mehr geben,
dann kannst du auf der Straße gehen und trotzdem auf deinen
Atem achten. Es gibt einen Unterschied zwischen Bewußtheit
und Aufmerksamkeit. Wenn du auf eine Sache aufmerksam bist,
dann ist das exklusiv; du mußt deine Aufmerksamkeit allem an-
deren entziehen. Es ist also in Wirklichkeit eine Anspannung.
Aufmerksamkeit heißt daher Anspannung. Du achtest auf ein
Ding auf Kosten von allen anderen Dingen. Wenn du auf dein
Atmen achtest, kannst du nicht auf das Gehen oder Autofahren
achten. Versuche es also nicht, während du Auto fährst, denn du
kannst nicht auf beides zugleich achten. Aufmerksamkeit gilt aus-
schließlich einer Sache. Bewußtheit ist etwas ganz anderes. Sie ist
nicht exklusiv. Nicht Aufmerksamkeit, sondern Wahrnehmung -
einfach nur bewußt sein. Bewußt bist du, wenn du alles in deine
Bewußtheit einschließt. Dein Atmen findet in deiner Bewußtheit
statt; du bist unterwegs, und jemand kommt vorbei, und auch
dafür bist du bewußt. Jemand macht Lärm auf der Straße, ir-
gendwo fährt ein Zug vorbei, ein Flugzeug: alles ist mit einge-
schlossen. Bewußtheit schließt ein, Aufmerksamkeit schließt aus.
Aber anfangs muß es Aufmerksamkeit sein.
Versuche es also erst zu ganz bestimmten Zeiten. Achte eine
Stunde lang nur auf deinen Atem. Nach und nach wird deine Auf-
merksamkeit zu Bewußtheit. Danach mache einfache Übungen
- zum Beispiel gehe spazieren: mit voller Bewußtheit, sowohl für

93
Das Buch der Geheimnisse

dein Gehen wie für dein Atmen. Schaffe keinen Konflikt zwi-
schen dem Gehen und dem Atmen. Beobachte beides; es ist nicht
schwierig.
Schaut, ich kann zum Beispiel meine ganze Aufmerksamkeit
auf ein Gesicht hier richten. Wenn ich nur ein Gesicht ansehe, exi-
stieren alle anderen Gesichter hier nicht für mich. Wenn ich mei-
ne Aufmerksamkeit auf ein Gesicht richte, sind alle anderen aus-
geklammert. Wenn ich meine Aufmerksamkeit nur auf die Nase
in diesem Gesicht richte, dann wird das übrige Gesicht ausge-
klammert. Ich kann meine Aufmerksamkeit auf einen einzigen
Punkt verengen.
Das Umgekehrte ist auch möglich. Ich nehme das ganze Ge-
sicht wahr, und dann sind auch Augen und Nase und alles übrige
da. Dann verschiebe ich meinen Brennpunkt: ich sehe euch nicht
als Individuen, sondern als Gruppe. Dann ist meine Aufmerk-
samkeit auf die ganze Gruppe gerichtet. Wenn ich zwischen euch
und dem Lärm auf der Straße einen Unterschied mache, dann
klammere ich die Straße aus. Ich kann aber euch und die Straße
als ein Ganzes betrachten, dann kann ich euch und auch die Straße
bewußt wahrnehmen. Ich kann den ganzen Kosmos bewußt
wahrnehmen. Es kommt auf den Blickwinkel an, darauf, daß er
immer größer und weiter wird. Fangt aber erst mit Aufmerksam-
keit an und vergeßt nicht, daß ihr in die Bewußtheit hineinwach-
sen müßt. Legt also eine bestimmte kurze Zeit fest: der Morgen
ist gut, weil man dann frisch ist, die Energien sind unverbraucht,
alles erwacht. Am Morgen bist du lebendiger. Die Physiologen sa-
gen, daß du morgens nicht nur lebendiger bist, sondern sogar et-
was größer als am Abend. Wenn du einen Meter achtzig groß bist,
dann bist du am Morgen einen Meter einundachtzig. Und abends
bist du wieder einen Meter achtzig. Ein Zentimeter ist verloren-
gegangen, denn dein Rückgrat schrumpft, wenn es müde ist. Mor-
gens bist du also frischjung, sprühend vor Energie.
Am besten setzt du die Meditation nicht an die letzte Stelle in
deinem Tagesplan, sondern an die erste. Wenn es dann keine
Anstrengung mehr ist, eine ganze Stunde völlig ins Atmen ver-
sunken dazusitzen, bewußt, aufmerksam, wenn du dir gewiß bist,
daß du ohne Mühe aufs Atmen achten kannst und es auch ent-

94
Kapitel 4

spannt und ohne Zwang genießt, dann hast du den Bogen raus.
Füge dann etwas anderes hinzu — zum Beispiel Spazierengehen.
Achte auf beides, und mach allmählich immer mehr. Nach einer
gewissen Zeit wirst du ständig auf deinen Atem achten können,
sogar wenn du schläfst. Und solange du ihn nicht auch im Schlaf
beobachten kannst, lernst du nicht seine Tiefen kennen. Aber es
wird geschehen: mit der Zeit wirst du es können. Man muß ge-
duldig sein und die Sache auf richtige Art und Weise beginnen.
Das mußt du, denn dein gerissener Verstand wird dir immer ein-
flüstern wollen, falsch anzufangen, damit du nach zwei, drei Tagen
aufhören und sagen kannst: Hoffnungsloser Fall. Der Verstand
will dir einen falschen Start geben. Achte darauf, daß du es richtig
anfängst, denn damit ist es schon halb getan. Aber wir fangen
falsch an.
Du weißt genau, wie schwierig es ist, aufmerksam zu bleiben,
denn du weißt, wie fest du schläfst. Wenn du also gleich auf dein
Atmen achten willst, während du etwas anderes tust, dann geht es
nicht. Und dann hörst du nicht etwa mit dieser anderen Beschäf-
tigung auf, sondern achtest nicht mehr auf den Atem. Mach dir
also keine unnötigen Probleme. Irgendwo in vierundzwanzig
Stunden läßt sich eine kleine Ecke finden. Vierzig Minuten genü-
gen, da kannst du diese Technik ausprobieren. Aber der Verstand
findet viele Ausreden. Der Verstand sagt: „Woher die Zeit neh-
men? Es gibt so schon Arbeit genug zu tun. Wo ist die Zeit dazu?”
Oder: „Es ist jetzt nicht möglich, verschiebe es auf später. Irgend-
wann in Zukunft, wenn es mir besser paßt, werde ich es tun.”
Hüte dich vor dem, was dir dein Verstand sagt. Vertraue dem
Verstand nicht allzu sehr. Und wir bezweifeln den Verstand nie.
Wir können alles anzweifeln, nur nicht unseren eigenen Verstand.
Selbst die Leute, die immerzu von Skepsis, Zweifel und Ver-
nunft reden — selbst sie bezweifeln nie ihren eigenen Verstand. Und
euer Verstand hat euch dahin gebracht, wo ihr jetzt seid. Wenn
ihr in der Hölle lebt, hat euch euer Verstand dahin gebracht, und
ihr zweifelt nie an diesem Führer! Ihr könnt jeden Lehrer, jeden
Meister bezweifeln, aber ihr bezweifelt nie euren Verstand. Ohne
geringstes Zögern macht ihr ihn zum Guru. Und der Verstand hat
euch in das Chaos, in das Elend gebracht, das ihr seid. Wenn ihr

95
Das Buch der Geheimnisse

irgend etwas anzweifeln wollt, zweifelt zunächst an eurem eige-


nen Verstand. Und wann immer euch euer Verstand etwas sagt,
überlegt erst.
Ist es wahr, daß du keine Zeit hast? Wirklich? Du hast keine
Zeit zu meditieren, keine Stunde für die Meditation übrig? Über-
lege noch mal. Stelle dir immer wieder die Frage: „Ist es wahr, daß
ich keine Zeit habe?”
Ich kann das nicht sehen. Ich habe noch nie einen Menschen
gesehen, der nicht Zeit genug hätte, mehr als genug! Ich sehe
Menschen, die Karten spielen und sagen: „Wir schlagen die Zeit
tot.” Sie gehen ins Kino und sagen: „Was sollen wir sonst tun?” Sie
schlagen sich die Zeit um die Ohren, klatschen, lesen die gleiche
Zeitung immer wieder, reden das gleiche Zeug, das sie schon ihr
ganzes Leben lang geredet haben, und sagen: „Wir haben keine
Zeit.” Für unnötige Dinge haben sie Zeit genug. Warum?
Bei überflüssigen Dingen ist der Denkapparat außer Gefahr. So-
bald du aber an Meditation denkst, wird der Verstand mißtrauisch.
Jetzt begibst du dich auf gefährliches Gebiet, denn Meditation be-
deutet den Tod des Verstandes. Wenn du dich in Meditation be-
gibst, muß sich dein Geist früher oder später auflösen, völlig zur
Ruhe begeben. Also wird der Verstand hellhörig und fängt an, dir
viele Dinge zu erzählen: „Wo ist die Zeit dafür? Und selbst wenn
Zeit dafür da ist, gibt es wichtigere Dinge zu tun. Verschiebe es
erst einmal auf später, meditieren kannst du dann immer noch,
Geld ist wichtiger. Spare erst Geld, dann kannst du soviel medi-
tieren, wie du willst. Wie kannst du ohne Geld meditieren? Erst
sorge für Geld, später kannst du dann meditieren.”
Du glaubst, daß Meditation leicht aufgeschoben werden kann,
denn sie hat nichts mit deinem unmittelbaren Überleben zu tun.
Brot kann nicht aufgeschoben werden, sonst stirbst du. Geld läßt
sich nicht aufschieben, du brauchst es für deine Grundbedürfnis-
se. Meditation läßt sich aufschieben. Sie hat nichts mit deinem
Überleben zu tun. Du kannst ohne sie überleben. Wirklich, du
kannst leicht ohne sie überleben.
I m selben Augenblick, wo du in tiefe Meditation gehst, wirst
du nicht überleben -jedenfalls nicht hier auf dieser Erde. Du wirst
verschwinden. Vom Kreislauf dieses Lebens, dieses Rades wirst du

96
Kapitel 4

verschwinden. Meditation ist wie Tod, und davor fürchtet sich


dein Kopf. Meditation ist wie Liebe, daher fürchtet sich dein Kopf.
„Schieb es auf”, sagt er. Und du kannst es bis in alle Ewigkeit auf-
schieben. Dein Verstand sagt laufend solche Dinge. Und glaube
nicht, ich rede hier von anderen Leuten. Ich rede ganz speziell
von dir.
Mir sind schon viele intelligente Leute begegnet, die immer
nur sehr unintelligent über Meditation reden. Zum Beispiel der
Mann aus Delhi, der ein wichtiger Regierungsbeamter ist und der
allein zu dem Zweck herkam, das Meditieren zu lernen. Er war
von Delhi gekommen und blieb sieben Tage. Ich sagte ihm, er
solle zum Morgenmeditationskurs gehen, am Chowpatty Beach
hier in Bombay, aber er sagte: „Das wird schwierig, so früh kann
ich nicht aufstehen.” Und er wird nie darüber nachdenken, was
ihm sein Verstand sagt. Ist das so schwer? Ihr werdet zugeben, die
Übung kann sehr einfach sein, aber euer Verstand ist nicht so ein-
fach. Der Verstand sagt: „Wie kann ich morgens um sechs auf-
stehen?”
Ich war in einer sehr großen Stadt, und der Finanzminister die-
ser Stadt suchte mich um elf Uhr nachts auf. Ich ging gerade zu
Bett, und er kam und sagte: „Nein, es ist dringend. Ich bin sehr
verstört. Es ist eine Frage von Leben und Tod. Bitte gib mir we-
nigstens eine halbe Stunde. Bring mir das Meditieren bei, sonst
begehe ich noch Selbstmord. Ich bin sehr durcheinander. Und ich
bin so frustriert, daß mit meinem Innenleben irgend etwas pas-
sieren muß. Meine Welt geht unter!” Ich sagte zu ihm: „Komm
morgen um fünf Uhr wieder.” Er sagte: „Das ist unmöglich.” Es ist
eine Frage von Leben und Tod, aber um fünf Uhr aufstehen kann
er nicht. Er sagte: „So früh stehe ich ja nie auf.” „Okay”, sagte ich,
„dann eben um zehn.” Er sagte: „Das ist auch schwierig, denn um
halb elf muß ich im Büro sein.”
Er kann sich nicht einen Tag frei nehmen — und es geht um Le-
ben und Tod. Also fragte ich ihn: „Ist es eine Frage von Leben
oder Tod für dich oder für mich? Um wen geht es hier?” Und er
war kein unintelligenter Mensch. Er war ziemlich intelligent.
Solche Tricks sind sehr intelligent.
Glaub also nicht, daß dein Kopf nicht die gleichen Tricks spielt.

97
Das Buch der Geheimnisse

Er ist sehr intelligent. Aber weil du glaubst, es sei dein Kopf, hast
du nie Zweifel an ihm. Es ist aber nicht dein Kopf: er ist nur ein
gesellschaftliches Produkt. Er ist nicht deiner. Er ist dir mitgege-
ben worden; er ist dir aufgezwungen worden. Du bist auf eine be-
stimmte Weise erzogen und konditioniert worden. Von frühester
Kindheit an ist dein Kopf von anderen geprägt worden — von El-
tern, Gesellschaft, Lehrern. Die Vergangenheit prägt deinen Kopf,
beeinflußt deinen Kopf. Die tote Vergangenheit zwängt sich stän-
dig den Lebenden auf. Lehrer sind nur die Agenten, die Agenten
der Toten gegen die Lebenden. Sie zwingen euch ständig etwas
auf. Aber dein Geist ist dir so eng vertraut, der Abstand ist so ge-
ring, daß du dich mit ihm identifizierst.
Du sagst: „Ich bin ein Hindu.” Überleg es dir, denk noch einmal
nach. Du bist kein Hindu! Du bist zum Hindu gestempelt wor-
den. Du bist nur als ein einfaches, unschuldiges Wesen geboren
worden, nicht als Hindu, nicht als Mohammedaner. Aber dir wur-
de ein mohammedanischer Stempel aufgedrückt, ein hinduisti-
scher Stempel. Du bist in eine besondere Form gezwängt, ge-
bunden, eingekerkert worden, und dann fügt das Leben dieser
Einstellung immer mehr hinzu, und dein Kopf wird schwer, er
belastet dich schwer. Du kannst nichts tun; dein Denken fängt an,
dir sein Gesetz aufzuerlegen. Es verleibt sich deine Erfahrungen
ein. Ständig beeinflußt deine Vergangenheit jeden deiner gegen-
wärtigen Augenblicke. Wenn ich dir etwas sage, dann wirst du
darüber nicht auf eine frische Weise nachdenken, auf eine offene
Weise. Dein alter Geist, deine Vergangenheit wird sich dazwi-
schenschieben, wird anfangen, dafür oder dagegen zu reden, zu
plappern.
Vergeßt nicht, euer Geist gehört nicht euch. Euer Körper gehört
nicht euch. Er kommt von euren Eltern. Euer Verstand gehört
ebensowenig euch. Auch er kommt von den Eltern. Wer bist du?
Entweder ist man mit dem Körper oder mit dem Geist identi-
fiziert. Du hältst dich für jung, du hältst dich für alt: du hältst dich
für einen Hindu, du hältst dich für einen Jaina, für einen Parsen.
Das bist du nicht! Du wurdest als reines Bewußtsein geboren. Dies
alles sind Gefängnisse. Diese Techniken, die euch so einfach
erscheinen, sind nur deshalb nicht so einfach, weil der Verstand

98
Kapitel 4

dauernd Komplikationen und schwierige Probleme erzeugt.


Erst vor wenigen Tagen kam ein Mann zu mir und sagte: „Ich
mache deine Meditationstechnik, aber sage mir, aus welcher un-
serer heiligen Schriften sie kommt. Wenn du mich überzeugen
kannst, daß sie nicht gegen unsere Heilige Schrift verstößt, würde
es mir sehr viel leichter fallen.”
Aber warum fällt es dir leichter, wenn es irgendwo geschrieben
steht? Weil dann dein Kopf keine Probleme macht und sagen kann:
„Okay, das ist unsere Tradition, also mach 's.” Steht es aber nir-
gendwo geschrieben, sagt der Kopf: „Was tust du?” und lehnt es ab.
Ich fragte den Mann: „Du hast diese Methode nun drei Mona-
te gemacht — wie fühlst du dich?” Er sagte: „Wunderbar, ausge-
zeichnet. Aber sag mir, gib mir die Autorisierung der Heiligen
Schrift.” Sein eigenes Gefühl genügt nicht. Er sagt: „Ich fühle mich
großartig, ich bin stiller geworden, friedlicher, liebevoller. Ich füh-
le mich wunderbar.” Aber sein eigenes Gefühl hat keine Autorität.
Der Verstand fordert eine Autorität aus der Vergangenheit.
Ich sagte ihm: „Es steht nirgendwo geschrieben. Vielmehr wird
in den Schriften so manches dagegen gesagt.” Da wurde sein Ge-
sicht traurig, und er sagte: „Dann wird es schwierig für mich, da-
mit weiterzumachen.”
Warum hat seine eigene Erfahrung keinen Wert? Die Vergan-
genheit, die Konditionierung, das herrschende Denken kontrol-
lieren euch ständig und zerstören eure Gegenwart. Vergeßt das
nicht und paßt auf. Seid skeptisch und bezweifelt euren eigenen
Verstand. Traut ihm nicht. Und nur wenn ihr so reif sein könnt,
eurem Verstand nicht zu trauen, werden diese Techniken einfach,
werden sie helfen und wirken; sie werden Wunder wirken; sie
können Wunder wirken.
Diese Techniken, diese Methoden lassen sich intellektuell über-
haupt nicht verstehen. Ich versuche hier das Unmögliche. Aber
warum versuche ich es? Wenn sie sich doch nicht intellektuell ver-
stehen lassen, warum rede ich dann überhaupt zu euch? Sie kön-
nen zwar intellektuell nicht verstanden werden, aber es gibt kei-
nen anderen Weg, euch auf gewisse Techniken aufmerksam zu
machen, die euer Leben total verändern können. Ihr könnt nur
den Intellekt verstehen, und das ist das Problem. Ihr könnt nichts

99
Das Buch der Geheimnisse

anderes verstehen; ihr könnt nur den Intellekt verstehen. Und die-
se Techniken lassen sich intellektuell nicht verstehen. Wie also
kommunizieren?
Entweder müßt ihr verstehen lernen, ohne daß sich der Intel-
lekt einmischt, oder es muß ein Weg gefunden werden, diese
Techniken intellektuell verständlich zu machen. Letzteres ist nicht
möglich, aber ersteres ist möglich.
Du mußt mit dem Intellekt beginnen, aber darfst nicht an ihm
festhalten. Wenn ich sage: „Tu es!” — dann versuche es zu tun. So-
bald dann etwas in dir losgeht, kannst du deinen Intellekt beisei-
te lassen und mich direkt, ohne den Intellekt, erreichen. Ohne
Meditation, ohne Meditierenden. Aber du mußt anfangen, etwas
zu tun. Reden können wir bis in alle Ewigkeit. Dein Kopf kann
mit vielem Zeug vollgestopft werden, aber das bringt nichts, son-
dern schadet, denn du wirst zu viel wissen. Und wenn du zu viel
weißt, verwirrt dich das. Es ist nicht gut, soviel zu wissen. Es ist
besser, weniger zu wissen, es dafür aber auszuführen. Eine einzi-
ge Technik kann genügen: Es hilft immer, etwas zu tun. Warum
ist das so schwierig?
Tief unten hast du Angst. Tust du es, meldet sich die Angst, daß
etwas aufhören könnte, was bisher war. Es mag paradox erschei-
nen: aber ich bin vielen begegnet, sehr vielen Menschen, die glau-
ben, sich andern zu wollen. Sie sagen, daß sie Meditationen brau-
chen. Sie bitten um eine riefe Transformation. Aber tief drinnen
haben sie auch Angst. Sie denken gespalten, doppelt. Sie haben ei-
nen gespaltenen Geist. Sie fragen immer, was sie tun sollen, ohne
es je zu tun. Warum aber fragen sie dann immer wieder? Nur um
sich vorzumachen, daß sie tatsächlich an ihrer Veränderung inter-
essiert sind.
Das verleiht eine Fassade, es gibt den Anschein, wirklich ehr-
lich an der eigenen Veränderung interessiert zu sein. Darum stel-
len sie Fragen, darum gehen sie von einem Guru zum anderen,
suchen und probieren, ohne je etwas zu tun. Tief innen haben sie
Angst.
Erich Fromm hat ein Buch geschrieben, „Die Furcht vor der Frei-
heit”. Der Titel scheint widersprüchlich. Alle glauben, die Freiheit
zu wollen; jeder glaubt, daß es ihm um Freiheit geht, in dieser wie

100
Kapitel 4

auch in jener Welt. Wir wollen Moksha, die Befreiung, wir wol-
len von aller Beschränkung, von aller Knechtschaft frei werden.
Wir wollen total frei sein. Sagen wir. Aber Erich Fromm sagt, daß
der Mensch Angst vor der Freiheit hat. Wir wollen sie; jedenfalls
sagen wir immer, daß wir sie wollen, überzeugen uns immer, daß
wir sie wollen, aber in Wirklichkeit haben wir Angst vor der Frei-
heit. Wir wollen sie nicht! Warum? Woher diese Spaltung?
Freiheit bringt Angst, und Meditation ist die tiefste Freiheit, die
es gibt. Da wirst du nicht nur von äußeren Beschränkungen frei,
du wirst aus der inneren Knechtschaft befreit, vom Geist selbst,
auf dem alle Knechtschaft beruht. Du wirst von der gesamten Ver-
gangenheit befreit. Im Augenblick, wo du keinen Geist mehr hast,
ist die Vergangenheit verschwunden. Du hast die Geschichte
transzendiert. Jetzt gibt es keine Gesellschaft mehr, keine Religion,
keine Schrift, keine Tradition, denn sie alle haben ihr Obdach im
Geist. Jetzt gibt es keine Vergangenheit mehr, keine Zukunft,
denn Vergangenheit und Zukunft sind Teil des Geistes, des Ge-
dächtnisses, der Vorstellungswelt.
Dann bist du hier und jetzt in der Gegenwart. Jetzt gibt es kei-
ne Zukunft mehr. Jetzt gibt es nur noch jetzt und jetzt und jetzt —
ewiges Jetzt. Nun bist du völlig befreit; du hast alle Tradition trans-
zendiert, alle Geschichte, den Körper, den Geist, alles. Man wird
frei von allem Furchterregenden. So viel Freiheit?! Wo wirst du
dann sein? Kannst du in solcher Freiheit existieren? Kannst du
dein kleines Ich, dein Ego behalten in einer solchen Freiheit, einer
solchen unermeßlichen Weite? Wirst du dann noch sagen kön-
nen: „Ich bin”?
Du kannst sagen: „Ich bin eingesperrt”, weil du deine Grenzen
erkennst. Ohne Gefängnis aber gibt es keine Grenzen mehr. Du
wirst einfach zum Zustand: einfache Nichtheit, Leere. Das macht
dir Angst; und darum redet man immer nur vom Meditieren —
wie man es macht — und bleibt dabei, es nicht zu tun.
Alle Fragen kommen aus dieser Angst. Fühlt diese Angst, denn
wenn ihr sie erkennt, wird sie verschwinden. Solange ihr sie nicht
erkennt, wird sie weitergehen. Bist du bereit zu sterben, im spiri-
tuellen Sinn? Bist du bereit, nicht zu sein?
Wann immer jemand zu Buddha kam, sagte er: „Dies ist die

10 1
Das Buch der Geheimnisse

Grundwahrheit: daß du nicht bist. Und weil du nicht bist, kannst


du nicht sterben, kannst du nicht geboren werden. Und weil du
nicht bist, kannst du nicht im Leid, nicht in der Knechtschaft ge-
fangen sein. Bist du bereit, dies zu akzeptieren?" Jedesmal fragte
Buddha dies: „Bist du bereit, das zu akzeptieren? Wenn du nicht
dazu bereit bist, dann fange jetzt noch nicht zu meditieren an; ver-
suche erst herauszufinden, ob du in Wirklichkeit bist oder ob du
nicht bist. Meditiere zunächst darüber. Gibt es ein Selbst? Gibt es
innen irgendeine Substanz, oder bist du nur ein zusammenge-
setztes Phänomen?”
Wenn du nachforschst, wirst du finden, daß dein Körper etwas
Zusammengesetztes ist. Ein wenig kommt von deiner Mutter, ein
wenig von deinem Vater und alles übrige vom Essen. Das ist dein
Körper?! Dieser Körper bist du nicht: da ist kein Selbst. Versenke
dich in das, was dein Geist ist: Ein bißchen kommt von hier, ein
bißchen von dort ... in deinem Kopf ist nichts, was originell wäre.
Ein reines Sammelsurium.
Finde heraus, ob es in deinem Kopf irgendein Selbst gibt. Wenn
du tief gehst, findest du heraus, daß deine Identität genau einer
Zwiebel gleicht. Du schälst die eine Haut ab, und es zeigt sich die
nächste; du schälst die nächste Schicht ab, und es kommt wieder
eine andere. Schicht um Schicht schälst du sie, und schließlich
kommst du zu einem Nichts. Wenn alle Schalen fallen, ist nichts
im Innern. Körper und Geist sind wie Zwiebeln. Hast du sowohl
Körper wie Geist geschält, dann wirst du einem Nichts begegnen,
einem Abgrund einer bodenlosen Leere. Buddha nannte sie
Shu-nya.
Auf diese Shunya zu treffen, auf diese Leere zu stoßen, macht
Angst. Diese Angst ist also da, und darum meditieren wir nie. Wir
reden davon, aber wir tun nie etwas. Diese Angst ist da. Was du
auch tust, diese Angst bleibt — es sei denn, du stellst dich ihr. Das
ist die einzige Möglichkeit. Hast du dich deiner Nichtheit erst ein-
mal gestellt, hast du erst einmal erfahren, daß du im Innern nur
reiner Raum bist, Shunya, dann wird es keine An g st mehr geben!
Dann kann es keine Angst mehr geben, weil diese Shunya, diese
Leere, nicht zerstört werden kann. Diese Leere wird nicht ster-
ben. Alles, was sterben muß, existiert nicht: es ist nichts als Zwie-

102
Kapitel 4

belschalen. Das ist der Grund, warum dich, wenn du in tiefer Me-
ditation dieser Nichtheit näherkommst, die Angst überfällt und
du zu zittern beginnst. Man hat das Gefühl, gleich zu sterben.
Man möchte davonlaufen, vor dieser Nichtheit, zurück in die
Welt. Und viele gehen zurück: und dann wenden sie sich nie wie-
der nach innen. Und soviel ich sehen kann, hat jeder von euch in
irgendeinem Leben es schon einmal mit einer meditativen Tech-
nik probiert. Ihr seid schon einmal der Nichtheit nahegewesen,
und dann hat euch die Angst gepackt und ihr seid davongerannt.
Und ganz rief in euren Erinnerungen steckt dieser Denkzettel.
Und das ist jetzt der Block. Jedesmal, wenn du jetzt wieder ans
Meditieren denkst, funkt tief in deinem Unterbewußten jene ver-
gangene Erinnerung und sagt: „Mach weiter mit dem Denken,
handle nicht. Du hast es schon einmal gemacht.”
Es ist schwer, einen Menschen zu finden — und ich habe schon
in viele hineingeschaut —, der es nicht schon ein — oder zweimal in
irgendeinem Leben mit dem Meditieren versucht hätte. Die Er-
innerung ist da, aber sie ist dir nicht bewußt. Dir ist nicht klar, wo
diese Erinnerung steckt. Sie ist da. Jedesmal, wenn du etwas zu
tun beginnst, wird sie zur Schranke, und dann hält dich dies und
jenes davon ab, alles mögliche. Wenn du also wirklich am Medi-
tieren interessiert bist, spüre zuerst deine eigene Angst. Sei ehr-
lich: Hast du Angst?
Wenn du Angst hast, dann muß zunächst etwas mit dieser
Angst passieren, nicht mit der Meditation. Buddha kannte da vie-
le Hilfsmittel. Zum Beispiel sagte jemand: „Ich habe Angst vor
dem Meditieren.” (Und dies ist ein Muß: Du mußt dem Lehrer
sagen, daß du Angst hast; du kannst den Lehrer nicht täuschen,
und das ist auch nicht nötig. Sonst täuschst du dich nur selbst.)
Wenn ihm also jemand sagte, daß er vorm Meditieren Angst hät-
te, sagte Buddha jedesmal: „Du erfüllst jetzt die erste Vorausset-
zung. Wenn du selbst zugibst, Angst vor dem Meditieren zu ha-
ben, dann ist etwas möglich: denn du hast etwas sehr Tiefes ent-
deckt. Was ist also die Angst? Meditiere über sie. Gehe und grabe
aus, woher sie kommt, was ihr Ursprung ist.”
Alle Angst ist im Grunde Angst vor dem Tod — alle Angst! Egal
in welcher Form und Spielart, egal in welcher Gestalt, unter

103
Das Buch der Geheimnisse

welchem Namen — alle Angst ist Todesangst. Wenn du in die


Tiefe gehst, wirst du finden, daß du Angst vor dem Tod hast.
Wenn man dann zu Buddha kam und sagte: „Ich habe Angst vor
dem Tod, so viel habe ich herausgefunden”, dann sagte Buddha:
„Nun gehe zum Ghat, zur Verbrennungsstätte, und meditiere vor
einem Scheiterhaufen. Es sterben täglich Leute: Sie werden ver-
brannt. Halte dich einfach dort am Marghat auf und meditiere vor
dem brennenden Scheiterhaufen. Wenn die Familienmitglieder
fort sind, bleibe du da. Schau einfach ins Feuer, auf die brennen-
de Leiche. Wenn alles in Rauch aufgeht, dann sieh tief hinein.
Denke nicht nach: Meditiere lediglich drei Monate lang, oder
sechs, oder neun. Und nur, wenn es dir zur Gewißheit geworden
ist, daß kein Weg am Tod vorbeigeht, wenn absolut feststeht, daß
der Tod einfach zum Leben gehört, daß Leben Tod bedeutet, daß
der Tod kommen wird und daß es da keinen Ausweg gibt und du
schon in ihm bist, nur dann komme wieder zu mir.”
Wenn du über den Tod meditiert hast, wenn du jeden Tag, Tag
und Nacht, gesehen hast, wie Leichen verbrannt werden, sich in
Asche auflösen, wie nur Rauch zurückbleibt und verfliegt; wenn
du darüber monatelang meditiert hast, wird sich eine Gewißheit
einstellen — die Gewißheit, daß der Tod sicher ist. Es ist in Wahr-
heit die einzige Gewißheit. Das einzig Gewisse im Leben ist der
Tod. Alles andere mag ungewiß sein, mag sein oder nicht sein,
aber über den Tod läßt sich nicht sagen: vielleicht, vielleicht auch
nicht. Er geschieht. Er wird geschehen. Er ist bereits geschehen.
I m gleichen Augenblick, da du ins Leben getreten bist, hast du
den Tod betreten. Jetzt läßt sich daran nichts mehr ändern.
Wenn der Tod gewiß ist, gibt es keine Angst mehr. Angst hat
man immer nur vor Dingen, die sich ändern lassen. Wenn der
Tod sein muß, verschwindet die Angst. Solange du am Tod etwas
ändern kannst, solange bleibt die Angst. Wenn sich nichts ändern
läßt, wenn du schon in ihre bist, dann ist es absolut gewiß, daß die
Angst verschwindet. Und sobald die Angst vor dem Tod ver-
schwunden war, erlaubte Buddha dir, zu meditieren. Er sagte
dann: „Jetzt kannst du meditieren.” Geht also auch tief in euch
hinein. Und sich diese Techniken anzuhören hat nur dann einen
Sinn, wenn deine inneren Schranken durchbrochen sind, wenn

104
Kapitel4

die inneren Ängste verschwinden und du dir sicher bist, daß der
Tod eine Wirklichkeit ist. Wenn du also in Meditation stirbst, gibt
es keine Angst: Der Tod steht fest. Selbst wenn sich beim Medi-
tieren der Tod einstellt, hast du keine Angst. Erst dann kannst du
in die Meditation hineingehen, und dann kannst du mit Rake-
tengeschwindigkeit vorwärtskommen, weil die Schranken nicht
mehr da sind.
Zeit ist erforderlich, nicht der Entfernung, sondern dieser
Schranken wegen. Du kannst in diesem Augenblick hinkommen,
wenn keine Schranke mehr da ist. Du bist schon da, wäre die
Schranke nicht. Es ist ein Hindernisrennen, und du baust dir im-
mer mehr Hindernisse auf. Du fühlst dich gut, wenn du ein Hin-
dernis überwindest. Dann hast du das gute Gefühl, jetzt eine Hür-
de genommen zu haben. Und das Idiotische daran ist, daß die
Hürde überhaupt erst von dir aufgestellt wurde. Es hat sie nie ge-
geben. Du baust immer neue Hürden auf, springst hinüber, fühlst
dich dann gut, baust wieder neue auf und springst wieder. Du
drehst dich im Kreis und kommst so nie und nimmer zur Mitte.
Der Kopf baut Hürden auf, weil er Angst hat. Er wird mit vie-
len Erklärungen aufwarten, warum du nicht meditierst; glaube ih-
nen nicht. Geh tief nach innen; finde den eigentlichen Grund her-
aus. Warum redet jemand ständig vom Essen, ohne je einen Bis-
sen zu sich zu nehmen? Warum macht er das? Ist der Mann
verrückt?
Ein anderer spricht ewig von der Liebe und liebt niemals. Und
wieder ein anderer redet von wieder etwas anderem, und nie tut
er etwas. Das Darüber-Reden wird zur Manie. Es wird zwanghaft.
Man macht immer weiter, man verwechselt das Reden mit dem
Tun. Indem du redest, hast du das Gefühl, etwas zu tun, und das
erleichtert dich. Also tust du etwas — wenigstens reden, wenigstens
lesen, wenigstens zuhören. Das ist nicht mit Tun gemeint. Das ist
Vorspiegelung falscher Tatsachen. Fallt nicht darauf herein.
Ich will über diese 112 Methoden hier nicht deshalb reden, um
euren Geist zu füttern, nicht um eurer Allgemeinbildung willen,
nicht um euch besser zu informieren. Ich will keine Gelehrten
aus euch machen. Ich rede hier, um euch eine bestimmte Tech-
nik zu vermitteln, die euer Leben ändern kann. Welche Methode

105
Das Buch der Geheimnisse

dich auch ansprechen mag — rede nicht darüber, mach sie! Sei still,
mach sie! Dein Kopf wird mit vielen Fragen kommen. Forsche
zunächst gründlich nach, bevor du mich etwas fragst. Forsche im-
mer erst in die Tiefe, ob diese Fragen wirklich wichtig sind, oder
ob der Kopf nur seine Spiegelfechtereien treibt.
Erst probiere, und dann frage. Dann wird deine Frage praktisch.
Und ich weiß, welche Frage aus dem Tun heraus gestellt wurde
und welche nur aus Neugier, nur aus dem Intellekt. Mit der Zeit
werde ich also eure intellektuellen Fragen überhaupt nicht mehr
beantworten. Tut was. Dann werden eure Fragen sinnvoll sein.
Fragen wie diese: „Was, so eine einfache Übung ... ?” sind nicht
aus dem Tun heraus gestellt worden. Es ist nicht so einfach. Und
doch muß ich es jetzt am Ende wieder sagen: Du bist bereits die
Wahrheit! Du mußt nur aufwachen! Du brauchst nirgendwo an-
ders hinzugehen. Und in dich hineingehen kannst du jetzt sofort.
Wenn du deinen Geist beiseite lassen kannst, betrittst du das Hier
und Jetzt.
Diese Techniken sind dafür gedacht, den Geist auszuschalten.
Diese Techniken sind nicht wirklich Meditationstechniken: sie
sind dazu da, den Geist auszuschalten. Ist der Geist erst einmal
nicht mehr da, bist du da.

106
Meister über Traum und Tod
[Sutras]

5. Die Aufmerksamkeit zwischen den Augenbrauen: Laß das


Denken vor dein geistiges Auge treten. Laß deine Form sich füllen
mit Atemessenz bis zum Scheitel des Kopfes — und von dort
niederregnen als Licht.

6. Wenn in weltlicher Aktivität lenke die Aufmerksamkeit


zwischen zwei Atemzüge, und dies übend wirst du in wenigen
Tagen neu geboren.

7. Mit unspürbarem Atem in der Mitte der Stirn: Sobald er das


Herz erreicht im Augenblick des Schlafes, hast du Gewalt über die
Träume und selbst über den Tod.

8. Mit äußerster Hingabe zentriere dich auf die beiden


Verknüpfungspunkte des Atems und erkenne den Erkennenden.

9. Lege dich hin wie tot. Wutentbrannt, verharre so.


Oder. Starre, ohne mit der Wimper zu zucken.
Oder. Sauge etwas und werde zum Saugen.

10 9
Das Buch der Geheimnisse

Als Pythagoras, einer der großen Philosophen Griechenlands,


nach Ägypten kam, um sich dort einer Schule anzuschließen — ei-
ner geheimen esoterischen Mysterienschule —, wurde er abge-
wiesen. Und Pythagoras war einer der größten Geister, die es je
gab. Er begriff nicht. Er bewarb sich wieder und wieder, aber ihm
wurde gesagt, daß er nicht eher zugelassen würde, als bis er sich ei-
ner bestimmten Schulung von Fasten- und Atemübungen unter-
zogen hätte.
Pythagoras soll gesagt haben: „Ich bin um des Wissens willen
hier, keiner Disziplin wegen.” Aber die Schulautoritäten sagten:
„Wir können dir kein Wissen geben, bevor du dich nicht verän-
dert hast. Und im übrigen sind wir gar nicht an Wissen interes-
siert. Wir sind an konkreter Erfahrung interessiert. Und kein Wis-
sen ist Wissen, bevor es nicht erlebt und erfahren wurde. Du mußt
vierzig Tage lang fasten und dabei ständig auf eine ganz bestimmte
Weise atmen; und eine ganz bestimmte Aufinerksamkeit muß auf
ganz bestimmte Punkte gerichtet sein.
Es gab keinen anderen Weg; Pythagoras mußte sich diesen
Übungen unterziehen. Nachdem er vierzig Tage gefastet und ge-
atmet hatte, bewußt, aufmerksam, wurde er aufgenommen. Py-
thagoras soll gesagt haben: „Der, den ihr einlaßt ist nicht mehr
Pythagoras. Ich bin ein anderer Mensch. Ich bin neugeboren. Und
ihr wart im Recht und ich im Unrecht, denn mein ganzer Stand-
punkt war intellektuell. Durch diese Reinigungsübung hat sich
meine Daseinsmitte verschoben. Sie hat sich vom Intellekt zum
Herzen hinunter bewegt. Jetzt kann ich die Dinge fühlen. Vor die-
sem Training konnte ich nur mit dem Intellekt verstehen, nur
durch den Kopf. Jetzt kann ich fühlen. Jetzt ist die Wahrheit für
mich kein Begriff mehr, sondern Leben. Sie ist für mich nun kei-
ne Philosophie mehr, sondern eine Erfahrung — existenziell.”
Was war dies für eine Schulung, die er durchmachte? Es war
diese fünfte Technik, die Pythagoras aufgetragen wurde. Man gab
sie ihm in Ägypten, aber die Technik ist indisch.

Die fünfte Technik:

Die Aufmerksamkeit zwischen den Augenbrauen: Laß das Denken

11 0
Kapitel 5

vor dein geistiges Auge treten. Laß deine Form sich füllen mit
Atemessenz bis zum Scheitel des Kopfes — und von dort nieder-
regnen als Licht.

Dies also war die Technik, die man Pythagoras gab. Pythagoras
brachte diese Technik nach Griechenland. Und tatsächlich wurde
er zum Ursprung, zur Quelle aller Mystik des Abendlandes. Er ist
der Vater aller Mystik des Westens.
Diese Technik gehört zu den ganz tiefen Methoden. Versucht,
sie zu verstehen: „Die Aufmerksamkeit zwischen den Augen-
brauen ...” Die moderne Physiologie, die wissenschaftliche For-
schung sagt, daß sich zwischen den Augenbrauen eine Drüse be-
findet, die der mysteriöseste Teil des Körpers ist. Diese Drüse, ge-
nannt Zirbeldrüse, ist das „Dritte Auge” der Tibetaner — Shivaneta:
„Das Auge Shivas”, das tantrische Auge. Zwischen unseren zwei
Augen existiert ein drittes, aber es ist nicht in Funktion. Es ist da
und kann jederzeit in Funktion treten. Nur funktioniert es nicht
von Natur aus. Man muß etwas tun, damit es sich öffnet. Es ist
nicht blind. Es ist nur geschlossen. Diese Technik soll das dritte
Auge öffnen.
„Die Aufmerksamkeit zwischen den Augenbrauen_ ” Schließe
die Augen und lenke beide Augen auf die Mitte zwischen den
Augenbrauen; blicke mit geschlossenen Augen genau auf die Mit-
te, so als würdest du mit offenen Augen hinsehen. Richte deine
Aufmerksamkeit total darauf.
Dies ist eine der einfachsten Methoden, aufmerksam zu sein.
Auf keinen anderen Teil des Körpers läßt sich die Aufmerksam-
keit so leicht richten. Diese Drüse nimmt Bewußtheit in sich auf,
wie sonst nichts anderes. Wenn du die Aufmerksamkeit darauf
richtest, werden deine beiden Augen vom dritten Auge hypno-
tisiert. Sie werden starr, können sich nicht bewegen. Dich auf ir-
gendeinen anderen Teil des Körpers zu konzentrieren, fällt
schwerer. Dies dritte Auge zieht Aufmerksamkeit auf sich, ja
erzwingt sie. Es ist wie ein Magnet. Alle Methodenlehren der
Welt haben davon Gebrauch gemacht. Es ist die einfachste Me-
thode, die Aufmerksamkeit zu schulen; denn nicht nur du
bemühst dich um Aufmerksamkeit, die Drüse selbst hilft dir

11 1
Das Buch der Geheimnisse

dabei. Sie ist ein Magnet. Sie zieht Aufmerksamkeit zwingend an


und absorbiert sie.
In alten tantrischen Schriften heißt es, daß für das dritte Auge
Wachheit die Nahrung ist. Es hat Hunger: Seit vielen, vielen Le-
ben schon ist es hungrig. Wenn du ihm Aufmerksamkeit schenkst,
wird es lebendig. Es lebt auf. Es bekommt Nahrung. Und sobald
du weißt, daß Aufmerksamkeit Nahrung für es ist, daß deine Auf-
merksamkeit von der Drüse selbst magnetisch angezogen, ange-
saugt, geschluckt wird, dann ist Aufmerksamkeit nicht mehr
schwierig. Man muß nur den richtigen Punkt kennen. Schließe
also die Augen, laß deine Augen zur Mitte wandern, und fühle
den Punkt. Wenn du dem Punkt nahekommst, werden plötzlich
deine Augen starr. Wenn es schwierig wird, sie zu bewegen, weißt
du, daß du den richtigen Punkt getroffen hast.
„Die Aufmerksamkeit zwischen den Augenbrauen: Laß das
Denken vor dein geistiges Auge treten ...” Wenn dieser Grad der
Aufmerksamkeit erreicht ist, wirst du zum erstenmal ein seltsa-
mes Phänomen erfahren. Zum erstenmal wirst du deine Gedan-
ken vor dir ablaufen sehen; du wirst zum Zuschauer. Genau wie
auf einer Filmleinwand: Gedanken spulen ab, und du bist Zu-
schauer. Sobald deine Aufmerksamkeit auf das Zentrum des drit-
ten Auges eingestellt ist, wirst du augenblicklich zum Zeugen dei-
ner Gedanken.
Normalerweise bist du nicht Zeuge, sondern mit dem Denken
identifiziert. Wenn Wut da ist, wirst du zur Wut. Wenn ein Ge-
danke kommt, bist du nicht Zuschauer, du wirst eins mit dem Ge-
danken, identifizierst dich und gehst mit. Du wirst zu dem Ge-
danken, du nimmst seine Form an. Regt sich der Sex, wirst du
zum Sex, ist es Wut, wirst du Wut, ist es Gier, wirst du Gier.
Gleich welcher Gedanke kommt, du wirst es. Du kennst keinen
Abstand zwischen dir und dem, was du denkst. Aber auf das drit-
te Auge konzentriert, wirst du plötzlich zum Zeugen. Durch das
dritte Auge kannst du die Gedanken wie Wolken am Himmel se-
hen oder wie Passanten auf der Straße. Du sitzt am Fenster und
schaust in den Himmel oder siehst den Leuten auf der Straße zu:
du bist nicht identifiziert. Du hast Abstand, bist ein Beobachter auf
dem Berg — unbeteiligt. Wenn jetzt die Wut kommt, kannst du

11 2
sie wie einen Gegenstand betrachten. Jetzt hast du nicht das Ge-
fühl, daß du die Wut bist, du hast das Gefühl, von der Wut um-
geben zu sein — eine Wolke von Wut hat sich um dich gelegt.
Aber du bist nicht die Wut — und wenn du nicht die Wut bist,
wird die Wut machtlos. Sie kann dich nicht berühren; du bleibst
unberührt. Die Wut wird kommen und gehen, und du ruhst in
deiner Mitte.
Diese fünfte Technik ist eine Technik, den Zeugen zu ent-
decken. „Die Aufmerksamkeit zwischen den Augenbrauen: Laß
das Denken vor dein geistiges Auge treten.” Nun besieh dir dei-
ne Gedanken, nun begegne deinen Gedanken. „Laß deine Form
sich füllen mit Atemessenz bis zum Scheitel des Kopfes — und von
dort als Licht niederregnen.” Wenn sich die Aufmerksamkeit auf
das dritte Auge konzentriert, zwischen den Augenbrauen, dann
geschieht zweierlei. Erstens wirst du plötzlich zum Zeugen. Und
du wirst im dritten Auge zentriert sein.
Versuche, Zeuge zu sein. Gleich was geschieht, versuche ein
Zeuge zu sein. Du bist krank, der Körper schmerzt und tut weh,
du leidest und fühlst dich elend, egal, was es ist: sei ein Zeuge. Was
immer geschieht, identifiziere dich nicht damit. Sei Zeuge — sei
Beobachter. Wenn dann das Zeugesein möglich wird, hast du dei-
ne Energie im dritten Auge konzentriert.
Und zweitens ist es auch umgekehrt möglich: daß du, wenn du
deine Energie im dritten Auge konzentrierst, zum Zeugen wirst.
Diese beiden Dinge gehören zusammen. Das erste ist also: indem
du im dritten Auge zentriert bist, stellt sich das betrachtende Selbst
ein. Jetzt kannst du deinen Gedanken begegnen. Dies ist das erste.
Und das zweite ist, daß du nun die feinen, unmerklichen Schwin-
gungen des Atmens spüren kannst. Jetzt kannst du die Form des
Atmens, die eigentliche Essenz des Atems spüren. Versucht
zunächst zu verstehen, was mit „Form” gemeint ist und was mit
„Atemessenz”. Wenn du atmest, atmest du nicht nur Luft. Die
Wissenschaft sagt, daß du nur Luft atmest — nur Sauerstoff, Was-
serstoff und all die anderen Gase in ihrer Verbindung als „Luft”.
Sie sagt, daß du „Luft” atmest. Tantra dagegen sagt, daß die Luft
nur der Träger ist, nicht das Eigentliche. Ihr atmet Prana — Le-
benskraft. Die Luft ist nur das Medium, Prana ist ihr Inhalt. Du

11 3
Das Buch der Geheimnisse

atmest Prana, nicht nur Luft. Die moderne Wissenschaft ist im-
mer noch nicht in der Lage zu beantworten, ob es so etwas wie
Prana gibt. Aber es gibt Forscher, die auf etwas Mysteriöses ge-
stoßen sind. Atem ist nicht einfach Luft: das haben viele moderne
Wissenschaftler auch schon entdeckt. Vor allem ein Name muß
hier genannt werden — Wilhelm Reich, ein deutscher Psychologe,
der es „Orgon-Energie” nannte. Das ist dasselbe wie Prana. Er
sagt, daß beim Atmen die Luft nur der Behälter ist, in dem ein
mysteriöser Inhalt steckt, der Orgon oder Prana oder elan vital ge-
nannt werden kann. Aber das ist sehr feinstofflich. Es ist in Wirk-
lichkeit nicht stofflich. Die Luft ist das Stoffliche; der Behälter ist
stofflich. Aber etwas Feines, Nichtstoffliches durchströmt ihn.
Man kann es an seinen Auswirkungen spüren. Wenn du mit ei-
nem sehr lebendigen Menschen zusammen bist, fühlst du eine be-
stimmte Vitalität in dir aufsteigen. Wenn du mit einem sehr kran-
ken Menschen zusammen bist, fühlst du dich leergesogen, als wäre
dir etwas weggenommen worden. Warum fühlst du dich so müde,
wenn du ins Krankenhaus gehst? Du wirst von allen Seiten aus-
gesaugt. Die ganze Atmosphäre dort ist krank, und jeder braucht
elan vita4 braucht Prana. Im Krankenhaus also fließt plötzlich dein
Prana ab. Warum fühlst du dich manchmal dem Ersticken nahe,
wenn du in einer Menschenmenge bist? Weil dir dein Prana ab-
gesaugt wird. Wenn du allein bist unter dem Himmel am Mor-
gen, unter den Bäumen, fühlst du dich plötzlich voller Lebenskraft
— Prana. Jeder braucht einen gewissen Raum für sich. Wenn du
diesen Raum nicht bekommst, wird dir Prana abgesaugt.
Wilhelm Reich hat viel damit experimentiert, aber er wurde für
verrückt erklärt. Die Wissenschaft hat ihren eigenen Aberglau-
ben, sie ist sehr orthodox. Die Wissenschaft kann noch nicht glau-
ben, daß es noch etwas mehr gibt als nur Luft, aber in Indien hat
man damit seit Jahrhunderten experimentiert. Ihr habt vielleicht
schon davon gehört oder gelesen, daß jemand ins Samadhi einge-
hen konnte, ins kosmische Bewußtsein, und zwar unter der Erde,
tagelang, ohne jede Luftzufuhr.
I m Jahre 1880 ist jemand in Ägypten in ein solches unterirdi-
sches Samadhi gegangen — und blieb vierzig Jahre darin! Die, die
ihn begraben hatten, starben einer nach dem anderen — er sollte

11 4
Kapitel 5

1920 wieder aus seinem Samadhi auftauchen, vierzig Jahre später.


1920 glaubte kein Mensch, ihn noch am Leben zu finden, aber
man grub ihn lebendig aus. Er lebte noch zehn Jahre weiter. Er
war etwas blaß geworden, aber er lebte.
Er wurde von Ärzten und anderen gefragt, was sein Geheimnis
sei. Er sagte: „Das wissen wir nicht, wir wissen nur, daß das Prana
überall fließen und hinkommen kann.” Wo Luft nicht eindringen
kann, kann Prana hingelangen. Sobald man in der Lage ist, Prana
direkt aufzunehmen, ohne den Träger, kann man sogar für Jahr-
hunderte ins Samadhi gehen.
Auf das dritte Auge zentriert, kann man plötzlich die eigentliche
Essenz des Atems wahrnehmen, nicht den Atem, sondern seine
eigentliche Essenz, das Prana. Und wenn man die Essenz des
Atems, das Prana, wahrnehmen kann, ist man an dem Punkt an-
gelangt, von dem aus der Sprung, der Durchbruch geschieht. Das
Sutra sagt: „Laß deine Form sich füllen mit Atemessenz bis zum
Scheitel des Kopfes ...” Und wenn du gelernt hast, die Essenz des
Atems, das Prana, wahrzunehmen, dann stell dir vor, wie dein
Kopf damit gefüllt ist. Stell es dir einfach vor. Du brauchst dir
keinerlei Mühe zu geben.
Ich will euch erklären, wie die Einbildung funktioniert: Wenn
du im Zentrum des dritten Auges konzentriert bist, bilde dir et-
was ein — und es geschieht. Augenblicklich. Wie es jetzt steht, ist
eure Einbildungskraft einfach impotent. Ihr stellt euch Dinge vor
und nichts geschieht. Aber manchmal passieren auch im täglichen
Leben unbewußt gewisse Dinge: du denkst gerade an deinen
Freund, und plötzlich klopft es! Du nennst es Zufall, daß der
Freund gekommen ist; manchmal wirkt es wie Zufall. Aber ver-
suche von jetzt an, darauf zu achten, und analysiere das Ganze.
Jedesmal, wenn deine Imagination Wirklichkeit wird, geh nach
innen und beobachte. Irgendwie muß sich deine Aufmerksamkeit
in der Nähe des dritten Auges befunden haben; denn ein solcher
Zufall ist kein Zufall. Es sieht nur so aus, weil du von diesen ver-
borgenen Vorgängen nichts weißt. Dein Denken muß sich unbe-
wußt dem dritten Auge genähert haben. Wenn dein Bewußtsein
im dritten Auge ist, genügt die bloße Vorstellung, irgendein Phä-
nomen herbeizuführen.

11 5
Das Buch der Geheimnisse

Dies Sutra sagt, wenn du zwischen den Augenbrauen zentriert


bist und du die Essenz des Atems spürst, dann kannst du „deine
Form sich mit Atemessenz füllen lassen”. Stell dir jetzt vor, daß
diese Essenz deinen ganzen Kopf anfüllt, vor allem die höchste
Stelle des Kopfes, des Sahasra, das höchste psychische Zentrum.
Und im selben Augenblick, wo du es dir vorstellst, ist es so.
„ ... laß von dort niederregnen als Licht.” Diese Prana-Essenz
regnet als Licht vom Scheitel deines Kopfes herab. Und unter die-
sem Regen von Licht wirst du erfrischt, neugeboren, vollkommen
neu. Genau das ist mit „innerer Neugeburt ” gemeint. Zwei Din-
ge also: Erstens: zentriert im dritten Auge wird deine Einbil-
dungskraft stark, machtvoll. Darum wird dabei so viel Wert auf
„Reinheit” gelegt: sei rein, ehe du mit solchen Übungen beginnst.
Nun ist aber „Reinheit” für Tantra kein moralisches Konzept.
„Reinheit” ist wichtig, weil deine Einbildungskraft gefährlich wer-
den kann, wenn du im dritten Auge zentriert und nicht rein bist
— gefährlich für dich und gefährlich für andere. Wenn du daran
denkst, einen anderen umzubringen, wenn du solche Vorstellun-
gen im Kopf hast, genügt die bloße Vorstellung, um den Mann zu
töten. Darum wird so viel Wert darauf gelegt, zuerst rein zu sein.
Pythagoras mußte erst fasten und bestimmte Atemübungen
machen — genau diese Atemübungen, denn hier befindet man
sich auf sehr gefährlichem Terrain. Denn Macht bringt Gefahr.
Und wenn dein Denken unrein ist, werden deine unreinen Ge-
danken die Macht an sich reißen, sobald du sie erhältst. Du hast
dir schon oft vorgestellt, wie du jemanden tötest. Aber zum Glück
wirkt sich diese Einbildung nicht aus. Täte sie es und würde au-
genblicklich in die Tat umgesetzt, dann wäre es gefährlich — nicht
nur für andere, sondern auch für dich: denn wie oft hast du schon
an Selbstmord gedacht! Wenn sich der Geist im dritten Auge zen-
triert, genügt der Gedanke an Selbstmord, daß Selbstmord ge-
schieht. Du hast keine Zeit, etwas daran zu ändern. Es passiert au-
genblicklich.
Ihr habt vielleicht schon einmal gesehen, wie jemand hypnoti-
siert wird: Was der Hypnotiseur sagt, befolgt der Hypnotisierte
sofort. Wie absurd der Befehl auch sein mag, wie irrational oder
sogar unmöglich — der Hypnotisierte befolgt ihn. Was passiert?

11 6
Kapitel 5

Diese fünfte Technik ist die Grundlage aller Hypnose. Wenn je-
mand hypnotisiert wird, bekommt er gesagt, daß er seine Augen
auf einen bestimmten Punkt richten soll, auf ein Licht, einen
Fleck an der Wand oder auf die Augen des Hypnotiseurs. Wenn
du deine Augen auf einen bestimmten Punkt richtest, strömt dein
Bewußtsein nach drei Minuten dem dritten Auge zu. Und sobald
deine innere Aufmerksamkeit zum dritten Auge geht, verändert
sich dein Gesicht. Der Hypnotiseur erkennt, wann sich dein Ge-
sicht verändert: Plötzlich verschwindet alle Vitalität daraus. Es er-
lischt, wie im Tiefschlaf. Der Hypnotiseur erkennt sofort, wann
dein Gesicht seinen Ausdruck, seine Lebendigkeit verliert. Und
das bedeutet, daß jetzt die Bewußtheit vom dritten Auge aufge-
sogen wird. Dein Gesicht ist abgestorben; die ganze Energie
strömt dem Zentrum des dritten Auges zu.
Damit weiß der Hypnotiseur, daß alles, was er sagt, auch ge-
schehen wird. Er sagt zum Beispiel: „Jetzt fällst du in einen tiefen
Schlaf ...” - und augenblicklich tust du es. Er sagt: „Jetzt wirst du
bewußtlos” - augenblicklich wirst du bewußtlos. Jetzt kann alles
geschehen. Wenn er sagt: „Jetzt bist du zu Napoleon oder Hitler
geworden”, dann wirst du es. Du wirst dich wie ein Napoleon be-
nehmen, du wirst wie ein Napoleon reden. Deine Gesten werden
anders. Dein Unbewußtes nimmt den Befehl an und stellt die ent-
sprechende Wirklichkeit her. Wenn du an etwas leidest, kann dir
jetzt befohlen werden, daß dein Leiden verschwindet, und es wird
verschwinden. Oder, es kann auch ein neues Leiden erzeugt wer-
den. Der Hypnotiseur kann dir einen einfachen Kiesel auf die
Hand tun und sagen: „Es ist Feuer auf deiner Hand” - und du
wirst eine ungeheure Hitze empfinden; deine Hand wird ver-
brannt, nicht nur im Kopf, sondern wirklich. Deine Haut wird
tatsächlich verbrannt. Du wirst ein Gefühl von Brennen haben.
Was passiert? Es ist kein Feuer da, nur ein einfacher Stein - kalt.
Wie, wie kommt es zur Verbrennung? Du bist in deinem dritten
Auge zentriert; deine Vorstellungskraft empfängt Befehle vom
Hypnotiseur, und sie werden aktualisiert. Wenn der Hyptnotiseur
sagt: „Jetzt bist du tot”, wirst du augenblicklich sterben. Dein Herz
bleibt stehen. Es wird stehenbleiben!
Es geschieht durch das dritte Auge. Im dritten Auge sind

11 7
Das Buch der Geheimnisse

Vorstellung und Verwirklichung nicht zweierlei. Vorstellung ist


Tatsache: Stelle dir etwas vor, und es ist so. Es gibt keine Lücke
zwischen Traum und Wirklichkeit! Träume etwas, und es wird
Wirklichkeit werden. Darum hat Shankara gesagt, daß die ganze
Welt nichts weiter ist als der Traum Gottes — ein Traum der Gott-
heit! Denn das Göttliche ist im dritten Auge konzentriert —
immer, ewig. Was immer also das Göttliche träumt, es wird wirk-
lich. Wenn du dich im dritten Auge zentriert hast, wird alles, was
du träumst, wirklich.
Sariputta kam zu Buddha. Er meditierte tief, und es kamen ihm
viele Dinge, viele Visionen, so wie es jedem ergeht, der in tiefer
Meditation ist. Er sah plötzlich unzählige Himmel, Höllen, Engel ;
Götter und Dämonen. Und sie waren wirklich, so wirklich, daß
er zu Buddha lief und ihm berichtete, was für Visionen er da ge-
rade gehabt hätte. Aber Buddha sagte: „Es ist nichts — nichts als
Träume, lauter Träume!” Aber Sariputta sagte: „Sie sind so wirk-
lich, wie kann ich sie da Träume nennen? Wenn ich eine Blume
in meiner Vision sehe, ist sie wirklicher als jede Blume der Welt.
Der Duft ist da, ich kann sie berühren. Du”, sagte er zu Buddha,
„bist lange nicht so wirklich. So eine Blume ist wirklicher als du,
obwohl du direkt vor mir bist: wie soll ich also unterscheiden, was
wirklich ist und was Traum?” Buddha sagte: „Jetzt, wo du im drit-
ten Auge zentriert bist, sind Traum und Wirklichkeit eins. Was
i mmer du träumst, wird wirklich sein und umgekehrt auch.”
Für jemanden, der im dritten Auge zentriert ist, werden Träu-
me wirklich, und die ganze Wirklichkeit wird zum bloßen
Traum; denn wenn dein Traum wirklich werden kann, dann
weißt du, daß es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen
Traum und Wirklichkeit gibt. Wenn also Shankara sagt, daß die-
se ganze Welt nur Maja ist, ein Traum Gottes, dann ist das keine
theoretische Behauptung, keine philosophische Theorie. Es ist
vielmehr die innere Erfahrung von einem, der im dritten Auge
zentriert ist.
Wenn du also im dritten Auge zentriert bist, dann stelle dir vor,
daß die Essenz des Prana von der höchsten Stelle deines Kopfes
aus auf dich niederregnet, so als säßest du unter einem Baum und
es würden Blüten niederregnen, oder unterm Himmel, und plötz-

11 8
Kapite15

lich regnet es aus einer Wolke; oder du sitzt in der Morgen-


dämmerung, und die Sonne geht auf und ihre Strahlen regnen auf
dich. Stelle es dir vor und augenblicklich regnet es auf dich herab,
ein Schauer von Licht fällt vom Scheitel deines Kopfes. Dieser Re-
gen erfrischt dich, schenkt dir eine Neugeburt. Du bist neu gebo-
ren.

Die sechste Technik:

Wenn in weltlicher Aktivität, lenke die Aufmerksamkeit zwischen


zwei Atemzüge, und dies übend wirst du in wenigen Tagen neu
geboren.

„Wenn in weltlicher Aktivität, lenke die Aufmerksamkeit zwi-


schen zwei Atemzüge ...” Achte nicht auf die Atemzüge, lenke
die Aufmerksamkeit zwischen sie. Ein Atemzug ist hereinge-
kommen; ehe er zurückkehrt, ehe er ausgeatmet wird, entsteht
die Lücke — das Intervall. Ein Atemzug ist hinausgegangen und
ehe ein neuer hereinkommt: die Lücke. „Wenn in weltlicher Ak-
tivität, lenke die Aufmerksamkeit zwischen zwei Atemzüge, und
dies übend wirst du in wenigen Tagen neu geboren.” Aber dies
muß pausenlos geschehen! Diese sechste Technik muß ununter-
brochen getan werden. Darum wird extra erwähnt: „Wenn in
weltlicher Aktivität ..." Was immer du tust, richte deine Auf-
merksamkeit auf die Lücke zwischen zwei Atemzügen, aber es
muß getan werden, während du anderweitig beschäftigt bist.
Wir haben schon eine Technik besprochen, die sehr ähnlich ist.
Jetzt gibt es nur diesen einen Unterschied: daß es geschehen muß,
während du etwas anderes tust, etwas in der Außenwelt. Du darfst
es nicht in Isolation üben. Diese Übung muß getan werden,
während du etwas anderes tust. Du ißt gerade; iß weiter, aber ach-
te auf die Lücke. Du gehst schlafen: Leg dich hin und laß den
Schlaf kommen, aber vergiß nicht, auf die Lücke zu achten. War-
um „in Aktivität”? Weil Aktivität dich ablenkt. Aktivität erfordert
deine ständige Aufmerksamkeit. Laß dich aber trotzdem nicht ab-
lenken. Bleib auf die Lücke fixiert, aber ohne mit dem, was du
sonst machst, aufzuhören: Laß es weitergehen. Du wirst auf zwei

11 9
Das Buch der Geheimnisse

Ebenen leben — Tun und Sein. Wir haben zwei Daseinsebenen:


die Welt des Tuns und die Welt des Seins, Peripherie und Zen-
trum. Mache an der Peripherie weiter, an der Außenseite, und
bleibe dabei. Aber arbeite auch im Mittelpunkt aufmerksam wei-
ter. Was wird geschehen? Deine Aktivität wird zum Theater, als
würdest du eine Rolle spielen.
Du spielst eine Rolle, etwa auf der Bühne. Du stellst den Gott
Ram dar, oder Christus. Du handelst, als wärest du Christus oder
Ram, bleibst aber trotzdem du selbst. Innen weißt du, wer du bist.
An der Außenseite stellst du Ram, Christus oder sonstwen dar. Du
weißt, daß du nicht Ram bist, du spielst ihn nur. Du weißt, wer
du bist. Dein Bewußtsein ist in dir zentriert, während deine Akti-
vität an der Außenseite weitergeht.
Wenn diese Methode praktiziert wird, wird dein Leben zu ei-
nem ständigen Theater. Du wirst zum Schauspieler, der seine Rol-
len spielt, bleibst aber immer in der Lücke zentriert. Wenn du die
Lücke vergißt, dann spielst du deine Rollen nicht mehr, dann bist
du deine Rolle. Dann ist es kein Theater mehr: Du hast es mit
dem Leben verwechselt.
Und genau das haben wir getan. Jeder glaubt, das Leben zu le-
ben. Es ist kein Leben; es ist nur eine Rolle, eine Bühnenrolle, die
dir von der Gesellschaft gegeben wurde, von den Umständen, von
der Kultur, der Tradition, von Land und Lage. Dir wurde eine
Rolle gegeben. Du spielst sie; aber du hast dich mit ihr identifi-
ziert. Und um diese Identifikation zu brechen — die Technik!
Krishna hat viele Namen. Krishna ist einer der größten Schau-
spieler. Er ist ständig in sich selbst zentriert und spielt dabei — spielt
viele Spiele, viele Rollen, aber völlig unernst. Ernst kommt aus der
Identifikation. Wenn du wirklich auf der Bühne zum Ram wirst,
dann muß es Probleme geben. Diese Probleme kommen vom
Ernstnehmen. Wenn dir Sita entführt wird, kannst du einen Herz-
schlag bekommen, und das ganze Stück muß abgebrochen wer-
den. Wenn du wirklich zu Ram wirst, ist dir ein Herzinfarkt ge-
wiß, das Herz wird sogar stehenbleiben.
Aber du bist nur ein Schauspieler. Sita wird entführt, aber dir
wird niemand entführt. Du gehst nach Hause und legst dich fried-
lich ins Bett. Nicht einmal im Traum kommt dir das Gefühl, dir

12 0
Kapitel 5

sei Sita entführt worden. Als Sita wirklich entführt wurde, da


weinte und schrie sogar ein Ram und fragte die Bäume: „Wo ist
Sita, meine Geliebte? Wer hat sie mir geraubt?” Aber genau das
ist der Punkt, den man verstehen muß: Wenn Ram wirklich weint
und die Bäume fragt, hat er sich identifiziert. Dann ist er nicht
mehr Ram, ist nicht mehr ein Gott.
Genau das muß man sich klarmachen: daß für Ram sein wirk-
liches Leben auch nur eine Rolle war. Ihr habt Schauspieler gese-
hen, die Ram gespielt haben, aber Ram selbst war auch nur ein
Schauspieler — auf einer größeren Bühne, natürlich. Indien hat
hierzu eine wunderschöne Geschichte. Ich finde diese Geschich-
te einmalig. So etwas gibt es nicht noch einmal auf der ganzen
Welt. Es heißt, daß Valmiki das Ramayana schrieb, noch ehe Ram
geboren wurde, und daß Ram ihm dann folgen mußte. Das erste,
was Ram tat, war also in Wirklichkeit auch nur ein Theaterstück.
Die Geschichte wurde geschrieben, ehe Ram geboren wurde, und
Ram mußte sie befolgen, es blieb ihm nichts anderes übrig! Wenn
ein Mann wie Valmiki die Story schreibt, muß ein Ram folgen.
Alles stand also sozusagen schon vorher fest. Sita mußte entführt
werden, und der Krieg mußte stattfinden.
Wenn ihr dies verstehen könnt, dann könnt ihr auch die Theo-
rie der Bestimmung verstehen — Bhagya, Schicksal. Sie hat einen
sehr tiefen Sinn. ,Und der Sinn ist der, daß du dein Leben als Thea-
ter erlebst, wenn du alles im Leben als vorherbestimmt nimmst.
Wenn du die Rolle Rams spielst, kannst du sie nicht ändern. Al-
les ist festgelegt, sogar der Dialog. Wenn du etwas zu Sita sagst,
sprichst du nur bereits Festgelegtes nach. Du kannst nichts ändern,
wenn dir das Leben als festgelegt erscheint:
Zum Beispiel: Du mußt an einem bestimmten Tag sterben. Er
ist festgelegt. Und wenn du stirbst, wirst du weinen, aber auch das
ist festgelegt. Und so und so viele Menschen werden bei dir sein:
Auch das steht fest. Wenn alles festgelegt ist, wird alles zum Thea-
ter. Wenn alles festgelegt ist, heißt das, daß du es nur in Szene zu
setzen brauchst.
Diese Technik, die sechste Technik, soll ein Psychodrama aus
dir machen — ein bloßes Spiel. Du bist auf die Lücke zwischen
den Atemzügen zentriert, und das Leben geht weiter — an der

12 1
Das Buch der Geheimnisse

Peripherie. Wenn deine Bewußtheit im Zentrum ist, dann ist sie


nicht wirklich an der Peripherie; das ist dann nur eine Zweit — Be-
wußtheit. Alles passiert nur irgendwo am Rand deiner Aufmerk-
samkeit. Du fühlst und weißt es, aber es ist nicht wichtig. Es ist,
als würde es nicht dir geschehen. Ich will es wiederholen: wenn
du diese sechste Technik praktizierst, wird sich dein ganzes Leben
so abspielen, als passierte es nicht dir, sondern einem andern.

Die siebte Technik:

Mit unspürbarem Atem in der Mitte der Stirn. Sobald er das Herz
erreicht, im Augenblick des Schlafes, hast du Gewalt über die Träu-
me und selbst über den Tod.

Du gerätst in immer tiefere Schichten. „Mit unspürbarem Atem


in der Mitte der Stirn ...” — wenn du das dritte Auge kennst, dann
kennst du den unspürbaren Atem, den unsichtbaren Atem in der
Mitte der Stirn, und kennst auch das Niederregnen — daß die
Energie als Licht niederregnet: „... Sobald er das Herz er-
reicht,” er, der Regen nämlich — „im Augenblick des Schlafes,
hast du Gewalt über die Träume und selbst über den Tod.” Ver-
steh diese Technik in drei Schritten. Erstens mußt du in der Lage
sein, im Atem das Prana wahrzunehmen, seinen unspürbaren Teil,
seinen unsichtbaren Teil, seinen nichtstofflichen Teil. Das ge-
schieht, wenn du deine Aufmerksamkeit zwischen deine Augen-
brauen lenkst. Dann ist es leicht. Auch wenn du auf die Lücke
achtest, geschieht es, aber dann ist es weniger leicht. Wenn du dir
das Nabelzentrum bewußt machst, wo der Atem hinströmt und
das er berührt, bevor er wieder ausströmt, dann ist es auch mög-
lich, aber es ist nicht so einfach. Der leichteste Punkt, das unsicht-
bare Element im Atem wahrzunehmen, ist die Zentrierung im
dritten Auge. Aber egal, wo du zentriert bist, du wirst es wahr-
nehmen. Du beginnst zu spüren, wie das Prana in dich fließt.
Wenn du das Prana in dich einströmen fühlst, kannst du sogar
erkennen, wann du sterben wirst. Wenn du den unsichtbaren Teil
deines Atems fühlen kannst, wirst du sechs Monate vor deinem
Todestag wissen, wann du stirbst. Warum sagen so viele Weisen

122
Kapitel 5

ihren Todestag voraus? Es ist leicht, denn wenn du den Inhalt des
Atems sehen kannst, das Prana, das in dich strömt, dann spürst du
den Augenblick, wo sich der Prozeß umkehrt. Ehe du stirbst,
sechs Monate zuvor, kehrt sich der Prozeß um. Das Prana beginnt
aus dir herauszuströmen. Dann bringt es der Atem nicht mehr mit
herein. Im Gegenteil, der Atem nimmt es mit hinaus — der gleiche
Atem!
Ihr spürt es nicht, weil ihr das unsichtbare Element nicht er-
kennt. Ihr kennt nur das Sichtbare, nur das Vehikel, und das bleibt
gleich. Normalerweise bringt der Atem das Prana herein und läßt
es dort zurück. Dann kehrt das Vehikel leer um, füllt sich mit Pra-
na und geht wieder hinein. Der einströmende und der ausströ-
mende Atem sind also nicht dasselbe, vergeßt das nicht. Ein — und
ausströmender Atem sind als Vehikel gleich, aber der einströ-
mende Atem ist mit Prana gefüllt, und der ausströmende Atem
ist leer. Ist das Prana absorbiert, wird der Atem leer. Das Umge-
kehrte geschieht, wenn du dich deinem Tod näherst. Der einströ-
mende Atem wird „pranalos”, leer. Weil dein Körper kein Prana
mehr aus dem Kosmos absorbieren kann, stirbst du. Du brauchst
es nicht mehr. Der ganze, Prozeß hat sich umgekehrt. Und wenn
der Atem ausströmt, nimmt er dein Prana mit. Jemand, der ge-
lernt hat, das Unsichtbare zu sehen, kann augenblicklich seinen
Todestag erkennen. Sechs Monate zuvor kehrt sich der Prozeß
um.
Dies Sutra ist sehr, sehr bedeutsam: „Mit unspürbarem Atem in
der Mitte der Stirn: Sobald er das Herz erreicht, im Augenblick
des Schlafes, hast du Gewalt über die Träume und selbst über den
Tod.” Diese Technik muß geübt werden, während du einschläfst:
nur dann, zu keiner andern Zeit. Das ist der richtige Augenblick
für diese Technik. Du schläfst langsam ein, langsam, ganz langsam
übermannt dich der Schlaf. In wenigen Augenblicken löst sich
dein Bewußtsein auf, hörst du auf wahrzunehmen. Bevor dieser
Augenblick eintrat, achte auf den Atem und seine unsichtbare Es-
senz, das Prana, und fühle, wie es ins Herz geht.
Bleibe bei dem Gefühl, wie es zum Herzen geht, immer näher
zum Herzen. Das Prana verbreitet sich vom Herzen aus über den
ganzen Körper. Fühle, fühle immerzu, wie das Prana ins Herz

12 3
Das Buch der Geheimnisse

geht, und laß den Schlaf kommen, während du es weiter fühlst.


Du bleibst bei dem Gefühl, läßt den Schlaf kommen und ertrinkst
darin.
Wenn dies geschieht — daß du den unsichtbaren Atem ins Herz
kommen spürst, während dich der Schlaf überkommt, dann wirst
du in deinen Träumen bewußt bleiben. Du wirst wissen, daß du
träumst. Gewöhnlich wissen wir nicht, daß wir träumen.
Während du träumst, hältst du es für Wirklichkeit. Auch das liegt
am dritten Auge. Habt ihr schon einmal beobachtet, wie jemand
schläft? Die Augen sind nach oben gerollt und auf das dritte Auge
gerichtet. Wenn ihr es noch nie gesehen habt, schaut es euch ein-
mal an.
Dein Kind schläft: Zieh eines seiner Augenlider hoch und schau
nach, wo die Augen sind. Seine Pupillen sind nach oben gerich-
tet, aufs dritte Auge. Ich sage: Seht es euch bei Kindern an, nicht
bei Erwachsenen, denn denen kann man nicht trauen, ihr Schlaf
ist nicht tief. Sie glauben nur, daß sie schlafen. Seht euch Kinder
an: Ihre Augen drehen sich nach oben. Sie richten sich auf das drit-
te Auge. Aufgrund dieser Zentrierung im dritten Auge haltet ihr
eure Träume für wirklich. Ihr könnt sie nicht als Träume erfah-
ren. Sie sind wirklich. Erst am Morgen, wenn ihr aufwacht, wißt
ihr Bescheid, dann wißt ihr: „Ich habe geträumt.”
Aber das ist eine späte Wahrnehmung. Ihr könnt beim Träu-
men nicht wahrnehmen, daß ihr träumt. Wenn ihr es wahr-
nehmt, entstehen zwei Schichten: der Traum ist zugleich mit
dem Wachbewußtsein da, du bist bewußt dabei. Für jemanden,
der in seinen Träumen bewußt ist, eignet sich dies Sutra ausge-
zeichnet. Es sagt:„ ... du hast Gewalt über die Träume und selbst
über den Tod."
Wer beim Träumen bewußt werden kann, der kann zweierlei
tun. Er kann erstens Träume erzeugen. Das geht normalerweise
nicht. Wie machtlos der Mensch ist — ihr könnt nicht einmal
Träume erzeugen! Ihr könnt es nicht, könnt nicht träumen, was
ihr wollt. Da seid ihr ohnmächtig, seid nur Opfer der Träume,
nicht ihre Schöpfer. Ein Traum geschieht. Da kann man nichts
machen, kann ihn weder anhalten noch erschaffen.
Aber wer sich beim Einschlafen erinnert, wie sein Herz mit

12 4
Kapitel 5

Prana gefüllt wird, mit jedem Atemzug vom Prana berührt wird,
ständig, der wird zum Meister seiner Träume. Und dies ist eine
ganz seltene Meisterschaft! So einer kann träumen, was immer er
will, er nimmt sich nur beim Einschlafen vor, was er träumen will,
und genau das kommt. Oder er sagt sich: „Diesen Traum will ich
nicht haben”, und er träumt ihn nicht.
Aber wozu zum Meister seiner Träume werden? Ist das nicht
nutzlos? Nein, es ist nicht nutzlos. Bist du nämlich erst einmal
Herr deiner Träume, dann wirst du gar nicht mehr träumen.
Dann ist es absurd. Wenn du Herr deiner Träume bist, hört das
Träumen auf. Es ist nicht mehr nötig. Und wenn es kein Träumen
mehr gibt, hat dein Schlaf eine völlig andere Qualität, nämlich die
Qualität des Todes.
Der Tod ist ein tiefer Schlaf. Wenn dein Schlaf so tief werden
kann wie der Tod, dann bedeutet dies, daß es kein Träumen mehr
gibt. Träumen macht den Schlaf oberflächlich. Der Träume we-
gen bleibst du an der Oberfläche. Weil du an den Träumen hän-
genbleibst, bewegst du dich nur an der Oberfläche. Wenn es kei-
ne Träume mehr gibt, versinkst du einfach im Meer, dringst du in
seine Tiefen vor.
I m Tod ist es ebenso. Darum hat es in Indien immer geheißen,
daß der Schlaf ein kurzer Tod, und der Tod ein langer Schlaf ist.
Der Qualität nach sind beide gleich. Schlaf ist ein Tod von Tag zu
Tag. Der Tod ist ein Phänomen von Leben zu Leben, ein Schlaf
von Leben zu Leben. Jeden Tag wirst du müde, fällst du in Schlaf
und gewinnst am Morgen deine Vitalität zurück, deine Leben-
digkeit. Du wirst wiedergeboren. Nach einem Leben von 70 oder
80 Jahren bist du völlig erschöpft. Jetzt reichen solche kurzfristi-
gen Tode nicht mehr aus. Du brauchst einen langen Tod. Nach
diesem großen Tod — oder großen Schlaf — wirst du dann mit ei-
nem vollkommen neuen Körper wiedergeboren.
Wenn du einmal den traumlosen Schlaf kennst und ihn bewußt
erfährst, gibt es keine Todesangst mehr. Niemand ist je gestorben,
und niemand kann sterben: Das ist die einzige Unmöglichkeit.
Erst gestern sagte ich euch, daß der Tod die einzige Gewißheit ist,
und jetzt sage ich euch, daß der Tod unmöglich ist. Niemand ist je
gestorben, und niemand kann sterben: Das ist die einzige

12 5
Das Buch der Geheimnisse

Unmöglichkeit. Warum sage ich das? Weil das Universum Leben


ist. Du wirst wieder und wieder geboren, aber der Schlaf geht je-
desmal so tief, daß du deine alte Identität vergißt. Dein Geist wird
von Erinnerungen reingewaschen.
Denkt es euch einmal so: Du gehst heute schlafen. Und nun
gibt es eine Art Mechanismus — und bald werden wir tatsächlich
so etwas haben! —, der löschen kann, genau wie beim Tonband-
gerät, der also das Band löschen kann, so daß alles Aufgenomme-
ne nicht mehr existiert. Das gleiche ist mit dem Gedächtnis mög-
lich, denn das Gedächtnis ist tatsächlich nur eine tiefere Tonband-
aufnahme. Früher oder später werden wir ein Gerät erfinden, das
man sich auf den Kopf setzen kann und das unser Gehirn völlig
säubert. Am nächsten Morgen bist du nicht mehr der gleiche
Mensch, weil du dich nicht mehr erinnern wirst, euer gestern
schlafen ging. Dann kommt dein Schlaf einem Tod gleich. Es
klafft eine Lücke. Du kannst dich nicht mehr entsinnen, wer
schlafen ging. Das geschieht ganz natürlich. Wenn du stirbst und
dann wiedergeboren wirst, kannst du dich nicht entsinnen, wer
starb. Du fängst von vorne an.
Mit dieser Technik wirst du also erstens Meister deiner Träu-
me — mit andern Worten: Das Träumen hört auf. Oder wenn du
träumen willst, kannst du auch das, aber es wird ein willentliches
Träumen sein. Es wird nicht unfreiwillig sein, es wird dir nicht
aufgezwungen sein. Du bist nicht sein Opfer. Dann wird dein
Schlaf wie Tod sein. Dann wirst du wissen, daß Tod Schlaf ist.
Darum sagt dies Sutra: „ ... hast du Gewalt über die Träume und
selbst über den Tod.” Jetzt weißt du, daß der Tod nur ein langer
Schlaf ist — der hilft und schön ist, weil er dir ein neues Leben gibt.
Er gibt dir alles frisch zurück. Der Tod hört nun für dich auf.
Wenn es mit dem Träumen vorbei ist, ist es mit dem Tod vorbei.
Es bedeutet aber noch etwas anderes, Macht über den Tod,
Herrschaft über den Tod zu gewinnen. Wenn du erfährst, daß der
Tod nur ein Schlaf ist, wirst du ihn lenken können. Wenn du dei-
ne Träume lenken kannst, kannst du auch deinen Tod lenken. Du
kannst wählen, wo du wiedergeboren wirst — wem, wann, in wel-
cher Form. So wirst du auch zum Meister über deine Geburt.
Buddha starb. Ich spreche nicht von seinem letzten, sondern von

12 6
Kapitel 5

seinem vorletzten Leben - vor seinem Leben als Buddha. Ehe er


starb, sagte er: „Ich werde die und die Eltern haben. Dies wird
meine Mutter sein, dies mein Vater, aber meine Mutter wird so-
fort sterben, wenn ich geboren werde. Vor meiner Geburt wird
meine Mutter folgende Träume haben ...” Nicht nur gewinnst
du Macht über deine Träume, du gewinnst auch Macht über die
Träume anderer! Buddha konnte also zum Beispiel sagen: „Die
und die Träume werden kommen. Wenn ich im Mutterleib bin,
wird meine Mutter folgendes träumen. Wenn also von nun an ir-
gendwo eine Mutter folgenden Traum haben wird, kann sie dar-
an erkennen, daß ich ihr geboren werde.”
Und so geschah es. Buddhas Mutter träumte genau die gleiche
Folge von Träumen. Die Sequenz war in ganz Indien bekannt,
denn das war keine alltägliche Behauptung. Alle wußten davon,
vor allem diejenigen, die an Religion interessiert waren, an den
letzten Lebensdingen, an den esoterischen Dimensionen des Le-
bens. Es war bekannt; und auch damals wurden schon Träume ge-
deutet. Freud war nicht der erste Traum-Interpret und ganz ge-
wiß nicht der tiefste. Er war nur im Westen der erste. Buddhas
Vater berief also sofort Traumdeuter, all die Freuds und Jungs die-
ser Tage, und fragte sie: „Was bedeutet diese Traumfolge? Ich
fürchte mich. Solche Träume sind ungewöhnlich, und sie wie-
derholen sich, in der gleichen Reihenfolge. Es gibt eins, zwei, drei,
vier, fünf, sechs Träume, die sich ständig wiederholen. Die glei-
chen Träume, als liefe ständig der gleiche Film. Was ist los?”
Da sagten sie ihm: „Du wirst Vater einer großen Seele werden
- von einem, der ein Buddha sein wird. Aber deine Gemahlin ist
in Gefahr, denn wenn dieser Buddha geboren wird, kann die Mut-
ter kaum überleben.” Der Vater fragte: „Warum”? Der Traum-
deuter sagte: „Wir können nicht sagen warum, aber diese Seele,
deren Geburt bevorsteht, hat prophezeit, daß, wenn sie geboren
wird, die Mutter augenblicklich stirbt.”
Später wurde Buddha gefragt: „Warum starb deine Mutter so-
fort?” Er sagte: „Einen Buddha zur Welt zu bringen ist ein so
großes Ereignis, daß alles andere danach schal wird. Daher kann
die Mutter nicht überleben. Sie muß wiedergeboren werden, um
von vorn anzufangen. Es ist ein solcher Höhepunkt, einem

12 7
Das Buch der Geheimnisse

Buddha das Leben zu schenken, es ist ein solcher Gipfel, daß die
Mutter danach nicht mehr leben kann."
Also starb die Mutter. Und Buddha hatte in seinem vorigen Le-
ben gesagt, daß er geboren werde, während seine Mutter unter ei-
ner Palme stehen würde. Und so geschah es auch. Die Mutter
stand unter einer Palme — und Buddha wurde geboren. Und er
hatte weiter gesagt: „Ich werde geboren, während meine Mutter
unter einer Palme steht, und ich werde sieben Schritte tun. Ich
werde augenblicklich laufen. Dieses sind die Zeichen, die ich euch
gebe, damit ihr erkennt, daß ein Buddha geboren wurde.” Und so
führte er die ganze Regie.
Und das ist nicht nur bei Buddha so. Es ist das gleiche mit Jesus,
mit Mahavir, mit vielen anderen. Jeder Teerthankera der Jainas
kündigte in seinem vorletzten Leben an, wie er geboren würde.
Sie gaben bestimmte Traum-Sequenzen an, bestimmte Zeichen,
und sagten genau voraus, wie es geschehen würde.
Du kannst Regie führen. Kannst du einmal deine Träume diri-
gieren, kannst du alles dirigieren, denn Träume sind genau der
Stoff, aus dem die Welt gemacht ist. Diese Welt besteht aus dem
gleichen Stoff wie die Träume. Kannst du erst einmal deine Träu-
me lenken, kannst du über alles Regie führen. Dies Sutra sagt:
„ ... selbst über den Tod.” Dann kann man sich eine bestimmte
Geburt, ein bestimmtes Leben geben. Wir sind bloße Opfer. Wir
wissen nicht, warum wir geboren werden, warum wir sterben.
Wer führt Regie über uns? Und warum? Es scheint keine Grün-
de zu geben. Es scheint alles Chaos zu sein, reiner Zufall. Es liegt
daran, daß wir nicht die Herren sind. Sind wir erst einmal die
Meister, wird es anders sein.

Die achte Technik:

Mit äuß erster Hingabe zentriere dich auf die beiden Verknüpfungs-
punkte des Atems und erkenne den Erkennenden.

Die Techniken unterscheiden sich nur leicht: es gibt leichte Ab-


wandlungen, die, was die Technik betrifft, nur fein sein mögen,
die aber für euch einen großen Unterschied ausmachen. Ein ein-

128
Kapitel 5

ziges Wort macht einen großen Unterschied. „Mit äußerster Hin-


gabe zentriere dich auf die beiden Verknüpfungspunkte des
Atems ...” Der einströmende Atem hat seinen Verknüpfungs-
punkt dort, wo er sich umkehrt, der ausströmende Atem auch.
Was die beiden Wendepunkte betrifft (und wir haben über diese
Wendepunkte schon gesprochen), wird nun ein kleiner Unter-
schied gemacht - das heißt, klein in der Technik, nicht für euch.
Nur eine Bedingung wird hinzugefügt: „Mit äußerster Hingabe. ”
Und damit ändert sich die ganze Technik. In ihrer ersten Form
war keine Rede von Hingabe, es war lediglich eine wissenschaft-
liche Methode. Du wendest sie an, und sie funktioniert. Aber es
gibt Menschen, die solche trockenen, wissenschaftlichen Metho-
den nicht mögen, die herzorientiert sind, die der Welt der Hin-
gabe angehören, und für sie ist diese leichte Abwandlung gedacht:
„Mit äußerster Hingabe zentriere dich auf die beiden Verknüp-
fungspunkte des Atems und erkenne den Erkennenden.”
Wenn du nicht vom Schlag des Wissenschaftlers bist, wenn du
kein wissenschaftlicher Kopf bist, dann versuche es mit dieser
„äußersten Hingabe” - mit Inbrunst, Liebe, Vertrauen -, „zen-
triere dich auf die beiden Verknüpfungspunkte des Atems und er-
kenne den Erkennenden”.
Aber wie? Du kannst dich einer bestimmten Person hingeben:
einem Krishna, einem Christus. Aber Hingabe an dich selbst, an
diese Verknüpfungspunkte des Atems? Das scheint ein absolut un-
geeignetes Objekt für Hingabe zu sein. Aber es kommt darauf an.
Tantra sagt, daß der Körper der Tempel ist. Dein Körper ist der
Tempel des Göttlichen, die Wohnung des Göttlichen; behandle
deinen Körper also nicht wie ein Objekt. Er ist heilig, er ist ge-
weiht. Und wenn du Atem holst, bist nicht nur du es, der einatmet
- es ist der Gott in dir. Du ißt, du bewegst dich, du gehst. Sieh es
einmal so: Nicht du bist es, es ist Gott, der sich in dir bewegt. So
wird es ganz und gar zu einer Sache der Hingabe! Es heißt von
vielen Weisen, daß sie ihren Körper liebten. Sie gingen mit ihren
Körpern um, als gehörte er ihren Geliebten. Du kannst du deinen
Körper entweder lieben oder wie einen Mechanismus behandeln,
je nachdem. Du kannst ihn mit Schuld - und Sündegefühlen be-
handeln, als etwas Schmutziges. Du kannst ihn aber auch als etwas

12 9
Das Buch der Geheimnisse

Wunderbares behandeln, als ein Wunder, als Wohnstätte des


Göttlichen. Es kommt auf dich an. Wenn du deinen Körper als
Tempel sehen kannst, ist diese Technik für dich geeignet — „mit
äußerster Hingabe ...”
Versuch es. Während du ißt, versuche es. Denke nicht, du ißt,
sondern daß das Göttliche in dir ißt. Und sieh dir den Unterschied
an. Du ißt das gleiche, du bist der gleiche. Aber augenblicklich
wird alles anders: Du gibst Gott zu essen. Oder du badest — eine
ganz gewöhnliche, triviale Sache. Aber ändere deine Einstellung,
fühle, daß du dem Göttlichen in dir ein Bad gibst! Dann wird die-
se Technik leicht: „Mit äußerster Hingabe zentriere dich auf die
beiden Verknüpfungspunkte des Atems und erkenne den Erken-
nenden.”

Die neunte Technik:

Lege dich hin wie tot. Wutentbrannt, verharre so.


Oder. Starre, ohne mit der Wimper zu zucken.
Oder. Sauge etwas und werde zum Saugen.

„Lege dich hin wie tot ...” Versuche es: Plötzlich bist du tot.
Verlasse den Körper! Bewege ihn nicht: denn du bist tot. Stell dir
einfach vor, daß du tot bist. Du kannst den Körper nicht rühren,
du kannst die Augen nicht bewegen, du kannst nicht weinen, du
kannst nicht schreien, du kannst gar nichts tun. Du bist einfach
tot. Und dann sieh, wie sich das anfühlt. Aber du darfst dich nicht
betrügen. Das ist möglich — du kannst mogeln, aber das darfst du
nicht. Wenn eine Mücke kommt, dann mußt du den Körper wie
tot behandeln. Dies ist eine der allergebräuchlichsten Techniken,
eine der meistgebrauchten überhaupt.
Raman Maharshi gelangte durch diese Technik zu seiner Er-
leuchtung. Aber für ihn war es gar keine Technik, ihm passierte
es spontan, mitten im Alltag, plötzlich. Aber er mußte es in einem
früheren Leben lange geübt haben, denn nichts passiert spontan.
Alles hat eine Kausalkette, eine Kausalität. Plötzlich fühlte Raman
eines nachts — er war noch ganz jung, gerade vierzehn oder fünf-
zehn —, daß er sterben würde. Und das war ihm eine solche

13 0
Kapite15

Gewißheit, daß der Tod schon eingetreten war. Er konnte seinen


Körper nicht bewegen, er hatte das Gefühl, gelähmt zu sein. Dann
hatte er plötzlich ein Erstickungsgefühl, und er wußte, daß nun
das Herz aussetzen würde. Er konnte nicht einmal rufen und an-
dere wissen lassen: „Ich sterbe!” Das kommt manchmal in Alp-
träumen vor: Du kannst nicht rufen, kannst dich nicht rühren.
Selbst wenn du dann aufwachst, kannst du ein paar Augenblicke
lang nichts tun. Genau das passierte: er besaß absolute Macht über
sein Bewußtsein, aber keinerlei Macht über seinen Körper. Er
wußte, daß er da war — daß er gegenwärtig war, bewußt, wach,
aber er wußte auch, daß er starb. Und die Gewißheit war so ge-
wiß, daß es einfach keine andere Möglichkeit gab, also gab er ein-
fach auf. Er schloß die Augen und verharrte so, um einfach nur
zu sterben. Er wartete nur darauf zu sterben. Nach und nach wur-
de der Körper steif. Der Körper starb, aber nun geschah ein Rät-
sel. Er wußte, der Körper war gestorben, aber er war da, und er
wußte es. Er wußte, daß er lebte und daß der Körper gestorben
war. Allmählich kam er zurück. Am Morgen war der Körper wie-
der wie zuvor, aber es war nicht mehr der gleiche Mensch, der
zurückkam, denn er hatte den Tod erfahren. Er hatte ein anderes
Reich kennengelernt, eine andere Bewußtseinsdimension.
Er lief von zu Hause weg. Dieses Todeserlebnis hatte ihn völlig
verändert. Er wurde einer der ganz wenigen Erleuchteten dieses
Zeitalters.
Dies ist die Technik. Raman geschah es spontan. Aber euch
wird es nicht spontan passieren. Aber versucht es. In irgendeinem
Leben mag es spontan werden. Vielleicht geschieht es ja, wenn du
es versuchst. Und wenn nicht, die Mühe ist nicht umsonst. Es ist
in dir, es bleibt in dir als Saat. Irgendwann, wenn die Zeit reif ist
und der Regen fällt, wird sie aufgehen.
Mit allem Spontanen ist es so: irgendwann wurde die Saat gesät,
aber die Zeit war nicht reif, der Regen blieb aus. In einem andern
Leben ist die Zeit gekommen, bist du reifer, erfahrener, ent-
täuschter von der Welt. Dann plötzlich, in einer bestimmten Si-
tuation, fällt der Regen, und die Saat explodiert.
„Lege dich hin wie tot. Wutentbrannt, verharre so.” Natürlich,
wenn du stirbst, wird das kein glücklicher Augenblick sein. Es

13 1
Das Buch der Geheimnisse

wird kein seliges Gefühl sein, tot dazuliegen. Angst wird dich
übermannen, Wut oder Frustration wird sich melden, Trauer,
Kummer, Qual, was immer. Es wird von Individuum zu Indivi-
duum verschieden sein.
Das Sutra sagt: „Wutentbrannt, verharre so.” Wenn du dich wü-
tend fühlst, bleibe so. Wenn du traurig bist, bleibe so. Wenn du
Angst hast, Furcht, bleibe so. Du bist tot und kannst nichts tun,
verharre also darin. Gleich, was für Gedanken kommen, der Kör-
per ist tot, und du kannst einfach nichts tun - also bleibe so.
Diese Worte sind wunderschön. Wenn du ein paar Minuten so
verharren kannst, wirst du plötzlich fühlen, daß sich alles verän-
dert hat. Aber wir fangen an, uns zu bewegen. Wenn sich in uns
eine Emotion rührt, regt sich der Körper sofort. Darum heißt es
„Emotion” : Sie erzeugt „motio” - Bewegung - im Körper. Wenn
du wütend bist, fängt dein Körper plötzlich an, sich zu bewegen.
Bist du traurig, bewegt sich der Körper. Darum heißt es „Emo-
tion” - weil sie im Körper Bewegung hervorruft. Fühl dich tot
und erlaube keiner Emotion, den Körper zu bewegen. Laß sie da
sein, aber du „verharre so” - unbeweglich, tot. Was immer da ist
- keine Bewegung. Bleibe so! Keine Bewegung!
„Oder: Starre, ohne mit der Wimper zu zucken.” Dies ohne mit
der Wimper zu zucken, war die Methode von Meher Baba. Jah-
relang starrte er nur seine Zimmerdecke an, jahrelang, wie tot,
ohne mit der Wimper zu zucken, ohne die Augen zu bewegen.
Lange lag er so. Die Augen starren zu lassen ist gut, weil man so
wieder im dritten Auge zentriert wird. Und wenn du erst einmal
im dritten Auge fixiert bist, kannst du mit keiner Wimper zucken,
selbst wenn du wolltest. Die Lider werden starr.
Meher Baba gelangte so zur Erleuchtung - und ihr wundert
euch, wie es mit so unbedeutenden Techniken möglich ist! Aber
er starrte drei Jahre lang die Zimmerdecke an, ohne sonst etwas
zu tun. Drei Jahre ist eine lange Zeit. Macht es einmal drei Mi-
nuten lang, und es wird sein wie drei Jahre. Die drei Minuten wer-
den euch sehr, sehr lang werden. Es ist, als ginge die Zeit nicht
weiter, als stünde die Uhr still.
Meher Baba starrte und starrte und starrte. Nach und nach blie-
ben die Gedanken stehen, blieb alle Bewegung stehen, und er

13 2
Kapitel 5

wurde zu reinem Bewußtsein. Er wurde reines Starren. Danach


blieb er sein ganzes Leben lang still. Er wurde durch dieses Starren
innerlich so still, daß es ihm unmöglich wurde, wieder Worte zu
formulieren.
Meher Baba kam nach Amerika. Es gab dort einen Mann, der
lesen konnte, was andere dachten. Und er war einer der einma-
ligsten Gedankenleser. Er konnte sich vor dich hinsetzen, die Au-
gen schließen und sich nach wenigen Minuten so auf dich ein-
stellen, daß er aufschreiben konnte, was du gerade dachtest. Er
wurde unzählige Male auf die Probe gestellt, und er hatte immer
recht, es stimmte immer. Also brachte man ihn zu Meher Baba.
Er saß dort — und dies war die einzige Schlappe in seinem Leben,
das einzige Mal, wo er versagte. Man kann aber auch nicht sagen,
daß es ein Versagen war. Er starrte und starrte und strengte sich an
und kam ins Schwitzen. Aber er konnte nicht ein einziges Wort
auffangen.
Mit dem Stift in der Hand saß er da und sagte: „Was ist das für
ein Mensch? Ich kann nichts lesen, weil es da nichts zu lesen gibt:
dieser Mann ist absolut leer. Ich vergesse sogar, daß da jemand vor
mir sitzt. Wenn ich die Augen schließe, muß ich sie wieder auf-
machen, um nachzusehen, ob der Mann noch da ist oder ob er
sich aus dem Staub gemacht hat — und finde den Mann vor mir
sitzen. Er denkt überhaupt nicht!” Dies Starren, dies ständige Star-
ren, hatte seinen Geist völlig zum Stillstand gebracht.
„Oder: Starre, ohne mit der Wimper zu zucken. Oder: Sauge
etwas und werde zum Saugen.” Dies sind Variationen. Alles ist ge-
eignet. Sei tot — das genügt.
„Wutentbrannt”, und dann: „verharre so.” Selbst dieser Aspekt
schon kann zur Technik gemacht werden. Du bist in Wut: lege
dich hin, bleibe in der Wut. Weiche ihr nicht aus, tu nichts, bleib
einfach unbeweglich.
Davon redet Krishnamurti immer; seine ganze Technik beruht
auf diesem einen: „Wutentbrannt, verharre so.” Wenn du wütend
bist, dann sei wütend und bleib dabei, lauf nicht davor weg. Wenn
du das kannst, geht die Wut weg, und danach bist du ein anderer
Mensch. Wenn du Angst hast, tu nichts, bleib dabei, verharre so.
Die Angst geht weg, und du bist danach ein anderer. Und wenn

133
Das Buch der Geheimnisse

du erst einmal der Angst ins Auge gesehen hast, ohne von ihr be-
wegt zu werden, wirst du ihr Herr.
„Oder: Starre, ohne mit der Wimper zu zucken. Oder: Sauge
etwas, und werde zum Saugen.” Letzteres ist rein körperlich und
ganz leicht zu machen, denn Saugen ist das erste, was ein Kind
tun muß. Saugen ist die erste Handlung im Leben. Wenn das
Kind geboren wird, fängt es zu weinen an. Ihr mögt noch nicht
weiter darüber nachgedacht haben, warum das Kind weint. In
Wirklichkeit weint es nicht: das klingt nur so. Es saugt Luft ein.
Und wenn das Kind nicht weinen kann, ist es nach wenigen Mi-
nuten tot, denn das Weinen ist sein erster Versuch, Luft einzu-
saugen. Im Mutterleib hat das Kind nicht geatmet. Es hat gelebt,
ohne zu atmen. Es hat das gleiche getan, was Yogis unter der Erde
tun: Es bekam Prana, ohne zu atmen — reines Prana von der Mut-
ter.
Daher ist die Liebe zwischen Kind und Mutter etwas ganz an-
deres als jede andere Form von Liebe, weil die reinste Energie —
Prana — beide verbindet. Und nun ist das vorbei! Eine subtile pra-
nische Beziehung hatte beide verbunden, die Mutter hatte ihr Pra-
na dem Kind gegeben, und das Kind brauchte so nicht zu atmen.
Bei der Geburt wird es aus der Mutter in eine unbekannte Welt
gestoßen. Von nun an kann das Prana — die Energie — es nicht
mehr so leicht erreichen. Es muß selbst atmen.
Der erste Schrei ist die Anstrengung zu saugen, und danach
saugt es Milch aus der Mutterbrust. Dies sind eure ersten Hand-
lungen. Alles andere kommt erst später. Dies sind die ersten Le-
bensakte. Ihr könnt eine Technik aus ihnen machen: Dies Sutra
sagt: „Oder: Sauge etwas und werde zum Saugen.” Sauge etwas:
Sauge einfach die Luft ein, aber vergiß die Luft und werde zum
Saugen. Was bedeutet das? Wenn du normalerweise etwas saugst,
bist du der Saugende, nicht das Saugen. Du stehst hinter dem Sau-
gen und tust es.
Dies Sutra sagt, daß du nicht dahinter stehen darfst, daß du im
Saugen aufgehen und es werden sollst. Das kannst du mit allem
versuchen: Wenn du rennst, werde das Rennen, sei nicht der Ren-
nende. Werde zum Rennen, und vergiß den Rennenden. Fühle,
daß es keinen Rennenden gibt, sondern nur den Vorgang des

13 4
Kapitel 5

Rennens. Du bist der Vorgang, ein flußähnlicher Vorgang des


Rennens, und niemand ist innen. Innen ist es still, und es gibt nur
den Vorgang.
Saugen ist gut, aber nicht leicht, weil wir völlig vergessen ha-
ben, was Saugen heißt, auch wenn wir ständig nach Ersatz dafür
suchen. Die Mutterbrust wird von der Zigarette ersetzt; so könnt
ihr weitersaugen. Sie ist nichts als der Nippel, die Mutterbrust mit
dem Nippel. Und wenn der warme Rauch einströmt, ist das ge-
nau wie warme Milch.
Diejenigen, die nicht nach Herzenslust an der Mutterbrust sau-
gen durften, werden später zu Rauchern. Das ist Ersatz; aber der
Ersatz tut`s auch. Während du eine Zigarette rauchst, werde das
Saugen. Vergiß die Zigarette, vergiß den Raucher. Werde das Rau-
chen.
Es gibt das Objekt, an dem du saugst, es gibt das Subjekt, das
saugt, und dazwischen den Vorgang des Saugens. Werde zum Sau-
gen. Werde zu dem Vorgang. Versuche es. Du mußt vieles aus-
probieren, um herauszufinden, was für dich paßt.
Du trinkst Wasser. Das kalte Wasser kommt herein — werde
zum Trinken. Trinke nicht das Wasser. Vergiß das Wasser; vergiß
dich selbst und deinen Durst. Werde ganz einfach Trinken, zum
Vorgang selbst. Werde die Kühle, die Berührung, das Einströmen,
das Saugen, das zum Vorgang gehört.
Warum nicht? Was kann passieren? Wenn du zum Saugen
wirst, was passiert dann? Wenn es dir gelingt, wirst du augen-
blicklich zum neugeborenen Kind, unschuldig wie am ersten Tag;
denn Saugen kam zu allererst. Du wirst in gewisser Weise regre-
dieren; aber diese Sehnsucht ist sowieso da. Der Mensch sehnt
sich nach dem Saugen zurück. Er unternimmt alles mögliche, aber
nichts fruchtet, weil der eigentliche Punkt nicht verstanden wird.
Solange du nicht zum Saugen wirst, kann nichts helfen. Versuch
es also.
Ich habe diese Methode einmal einem Mann gegeben. Er hat-
te schon viele Methoden versucht. Dann kam er zu mir; ich frag-
te ihn: „Wenn ich dir nur eine einzige Sache freistellen würde, was
wäre das?” Und ich ließ ihn die Augen schließen, er sollte ant-
worten ohne nachzudenken. Er bekam Angst, zögerte, und so

13 5
Das Buch der Geheimnisse

machte ich ihm Mut: „Hab keine Angst, zögere nicht. Sei offen
und sag's mir.” Er sagte: „Es ist absurd, aber vor mir taucht eine
Brust auf.” Und da hatte er Schuldgefühle. Also sagte ich: „Fühle
dich nicht schuldig, eine Brust ist nichts Verkehrtes, es gibt kaum
etwas Schöneres — warum sich schuldig fühlen?”
Aber er sagte: „Das war schon immer eine fixe Idee von mir.”
Und er fragte: „Sag mir bitte erst — du kannst mir dann gleich dei-
ne Technik und Methode geben — sag mir erst, warum ich so an
der Frauenbrust interessiert bin? Immer wenn ich eine Frau sehe,
sehe ich als erstes ihre Brust. Der ganze übrige Körper ist
zweitrangig.”
Und das geht nicht nur ihm so. So ist es mit jedem — mit prak-
tisch jedem. Und es ist auch natürlich, weil die Brust der Mutter
die erste Berührung mit dem Universum war. Sie ist elementar.
Der erste Kontakt mit dem Universum war die Brust der Mutter.
Das ist der Grund, warum Brüste so attraktiv sind. Sie sehen schön
aus, sie ziehen an, sie haben eine magnetische Kraft. Diese Mag-
netkraft kommt aus dem Unbewußten. Es war dein erster Kon-
takt auf der Welt, und zwar ein überaus angenehmer. Es fühlte
sich so schön an. Die Brust gab dir Nahrung, augenblickliche Vi-
talität, Liebe, alles. Der Kontakt war sanft, empfangend, einladend.
Und das ist dir tief in Erinnerung geblieben.
Also sagte ich zu dem Mann: „Jetzt will ich dir die Methode ge-
ben.” Und genau das war die Methode, die ich ihm gab: „Sauge
etwas, und werde zum Saugen.” Ich sagte zu ihm: „Schließe ein-
fach die Augen. Stelle dir die Brust deiner Mutter vor oder von
einer anderen Frau, die du magst. Stelle sie dir vor und fange an zu
saugen, als ob eine wirkliche Brust da wäre.” Er fing zu saugen an.
Binnen drei Tagen saugte er so schnell, so wahnsinnig, er war so
hingerissen davon, daß er mir sagte: „Es ist zum Problem gewor-
den. Ich möchte am liebsten den ganzen Tag lang saugen. Und es
ist so schön, und es entsteht eine so tiefe Ruhe dadurch!”
Innerhalb von drei Monaten wurde das Saugen zu einer sehr,
sehr stillen Gebärde. Die Lippen bewegten sich nicht mehr. Man
hätte niemals erraten können, daß er da etwas tat. Es hatte ein in-
neres Saugen eingesetzt. Er saugte den ganzen Tag lang. Es wur-
de ein Mantra, ein Japa, eine ständige Wiederholung. Nach drei

13 6
Kapitel s

Monaten kam er zu mir und sagte: „Etwas Seltsames geschieht mit


mir. Etwas Süßes tropft mir ständig aus dem Kopf herunter auf
meine Zunge — so unglaublich süß und energiebringend, daß ich
nicht mehr zu essen brauche. Ich habe keinen Hunger mehr. Ich
esse nur noch aus Höflichkeit, aus Rücksicht auf meine Familie.
Aber ich bekomme ständig etwas zugeführt — etwas so Süßes, so
Lebenspendendes!”
Ich sagte ihm, er solle weitermachen. Noch drei Monate, und er
kam eines Tages ganz außer sich und tanzend zu mir und sagte:
„Das Saugen hat aufgehört, aber ich bin ein anderer Mensch. Ich
bin nicht mehr derselbe Mensch, der zu dir kam. In mir ist ir-
gendeine Tür aufgegangen. Etwas ist zerbrochen, und es ist kein
Verlangen mehr da. Jetzt will ich gar nichts mehr — nicht einmal
Gott, nicht einmal Moksha, Befreiung. Ich will überhaupt nichts
mehr. Jetzt ist alles okay, so wie es ist. Ich akzeptiere es und bin
selig.”
Versucht es: Saugen und zum Saugen werden. Es kann vielen
helfen, denn es ist so elementar.

13 7
Der Mensch ist Schlaf, seine Welt ist Traum
[Fragen]

Jemand hat die Frage gestellt:

Kannst du uns bitte erklären, was es noch für andere Möglichkeiten


gibt, sich das Träumen bewußt zu machen?

13 9
Das Buch der Geheimnisse

Diese Frage ist wichtig für alle, die an Meditation interessiert


sind, weil Meditation in Wirklichkeit ein Transzendieren des
Traumprozesses ist. Ihr träumt fortwährend, nicht nur nachts,
nicht nur im Schlaf, ihr träumt den ganzen Tag lang. Das ist das
erste, was ihr verstehen müßt: Während ihr wach seid, träumt ihr
trotzdem weiter.
Du brauchst nur irgendwann am Tage einmal die Augen zu
schließen.
m Entspanne den Körper, und du wirst das Träumen im
Innern erkennen. Es verschwindet nie. Es wird lediglich durch un-
sere täglichen Beschäftigungen verdrängt. Es ist wie mit den Ster-
nen am Tage. Nachts sind die Sterne zu sehen, tagsüber nicht: aber
sie sind immer da, sie werden nur vom Sonnenlicht bestrahlt.
Steigt man in einen tiefen Brunnen, so kann man die Sterne am
Himmel sogar am Tag sehen. Eine bestimmte Dunkelheit ist
nötig, um die Sterne sehen zu können. Steige also in einen tiefen
Brunnen, und schaue vom Boden nach oben, und du wirst die
Sterne auch am Tage sehen können. Die Sterne sind immer da.
Das gleiche gilt für's Träumen. Nicht, daß du nur im Schlaf
träumst. Du kannst die Träume im Schlaf nur leichter bemerken,
weil die Tagesaktivität aufgehört hat. So wird diese innere Tätig-
keit sichtbar und fühlbar. Aber wenn du morgens aufstehst, geht
das Träumen innen weiter, während du nach außen hin aktiv
wirst.
Diese dauernde Aktivität, die Tagesaktivität, unterdrückt das
Träumen nur. Das Träumen ist da. Schließe die Augen, entspan-
ne dich in einem Lehnstuhl, und plötzlich kannst du fühlen: Die
Sterne sind da, sie sind nirgendwohin verschwunden. Die Träu-
me sind immer da, du träumst unentwegt. Der zweite Punkt:
Wenn das Träumen nie aufhört, kannst du nicht wirklich „wach”
genannt werden. Nachts schläfst du mehr, am Tage weniger ...
der Unterschied ist relativ. Denn wenn das Träumen bleibt, kannst
du nicht wirklich wach genannt werden. Das Träumen legt einen
Schleier über dein Bewußtsein. Dieser Schleier ist wie Rauch, er
hüllt dich ein. Wenn du träumst, kannst du nicht wirklich wach
sein, sei es nachts oder tagsüber. Das zweite ist also: Du kannst
überhaupt nur wach genannt werden, wenn es überhaupt kein
Träumen mehr gibt.

14 0
Kapitel 6

Wir nennen Buddha den Erwachten. Was ist dies „Erwachen”?


Dies Erwachen ist in Wirklichkeit das Aufhören des inneren Träu-
mens. Es ist kein Traum mehr im Inneren da. Du gehst nach in-
nen, aber es ist kein Traum mehr da. So, als gäbe es am Himmel
keine Sterne mehr, als wäre er zu reinem Raum geworden. Wenn
es kein Träumen mehr gibt, wirst du zu reinem Raum.
Diese Reinheit, diese Unschuld, diese nicht-träumende Be-
wußtheit ist es, was als „Erleuchtung” bekannt ist — als „Erwa-
chen”. Seit Urzeiten und überall auf der Welt, ob in Ost oder
West, sagt die spirituelle Erfahrung, daß der Mensch schläft. Jesus
sagt dies, Buddha sagt es, die Upanischaden reden davon: Der
Mensch schläft. Während du also nachts schläfst, ist dein Schlaf
nur ein relativ tieferes Schlafen, und am Tage ein relativ flacheres.
Spirituell gesehen schläft der Mensch immer. Das muß verstan-
den werden.
Was ist damit gemeint? In diesem Jahrhundert war es vor allem
Gurdjieff, der diese Tatsache — daß der Mensch schläft — betont
hat. „Der Mensch”, sagt er, „ist eher eine Art Schlaf. Jeder ist im
Tiefschlaf.”
Wie kommt er zu dieser Behauptung? Du weißt nicht, kannst
dich nicht erinnern, wer du bist. Weißt du, wer du bist? Wenn du
auf der Straße einen Menschen triffst und ihn fragst, wer er ist und
er es dir nicht beantworten kann, was wirst du denken? Du wirst
denken, daß er entweder verrückt ist oder betrunken oder daß er
einfach schläft. Wenn er nicht beantworten kann, wer er ist, was
wirst du dann von ihm halten? Aber auf der spirituellen Ebene ist
das bei jedem so. Du kannst nicht sagen, wer du bist. Dies ist
zunächst damit gemeint, wenn Gurdjieff oder Jesus oder sonstje-
mand sagt, daß der Mensch schläft. Du bist dir nicht deiner selbst
bewußt. Du kennst dich selber nicht: du bist dir nie begegnet. Du
kennst viele Dinge in der objektiven Welt, aber du kennst das
Subjekt nicht. Dein Geisteszustand ist so, als würdest du dir einen
Film ansehen. Der Film läuft auf der Leinwand, und du bist so
darin versunken, daß nur noch der Film für dich existiert — die
Story, alles, was sich auf der Leinwand abspielt. Wenn dich dann
jemand fragt, wer du bist, kannst du nichts sagen.
Das Träumen ist einfach ein Film — reiner Film! Geist, der die

14 1
Das Buch der Geheimnisse

Welt widerspiegelt. Im Spiegel des Geistes wird die Welt reflek-


tiert: Genau das ist Träumen. Und ihr seid so darin verwickelt, so
damit identifiziert, daß ihr völlig vergessen habt, wer ihr seid. Das
ist mit „schlafend” gemeint: der Träumer ist in dem Traum ver-
loren, du siehst alles, nur nicht dich selbst, fühlst alles, nur nicht
dich selbst, du weißt alles, nur nichts von dir selbst. Dieses Nicht-
von-sich-selbst-Wissen ist der Schlaf. Nur wenn das Träumen völ-
lig aufhört, kannst du zu dir selbst erwachen. Du hast es sicher
schon manchmal gefühlt, wenn du dir z.B. drei Stunden lang ei-
nen Film angesehen hast und der Film dann plötzlich aufhört und
du plötzlich wieder zu dir kommst und dich erinnerst, daß drei
Stunden vorbei sind und daß es nur ein Film war. Du bemerkst
deine Tränen ... du hast geweint, weil der Film so tragisch für dich
war, oder weil du so gelacht hast, oder was immer - und nun
mußt du über dich selbst lachen. Was für ein Unsinn! Es war doch
nur ein Film, eine Geschichte! Da war etwas auf der Leinwand -
nur ein Spiel von Licht und Schatten, nur ein Spiel der Elektrizi-
tät. Jetzt lachst du, jetzt bist du wieder zu dir gekommen. Aber
wo warst du während dieser drei Stunden?
Du warst nicht in deinem Zentrum. Du warst weit abgewan-
dert zur Peripherie: Dort, wo sich der Film abspielte, dorthin
warst du gegangen. Du warst nicht in deinem Zentrum, du warst
nicht bei dir selbst. Du warst woanders.
Das passiert auch bei Träumen; das ganze Leben ist so. Das
Filmgeschehen dauert nur drei Stunden, aber dies Träumen währt
Leben über Leben. Selbst wenn plötzlich das Träumen anhielte,
würdest du nicht erkennen können, wer du bist. Plötzlich würde
dir ganz mulmig, ja, du hättest Angst. Du würdest gern schnell
wieder in den Traum schlüpfen, weil du den kennst. Da ist dir al-
les vertraut, da bist du gut angepaßt.
Aber wenn dies passiert, gibt es einen Weg - im Zen als „der
schnelle Weg” bekannt - der zu plötzlicher Erleuchtung führt. Es
gibt unter diesen 112 Methoden Techniken, viele Techniken, die
zu einer plötzlichen Erleuchtung verhelfen können. Aber das
könnte zu viel auf einmal werden. Ihr mögt nicht in der Lage sein,
es auszuhalten. Ihr könntet einfach nur explodieren, sogar ster-
ben, denn ihr habt so lange im Traum gelebt, daß ihr keine En * n-

142
Kapitel 6

nerung mehr daran habt, wer ihr seid, wenn das Träumen fort-
fällt.
Wenn diese ganze Welt plötzlich verschwinden sollte und du
allein übrig bliebest, wäre das ein solcher Schock für dich, daß du
sterben würdest. Das gleiche wäre der Fall, wenn plötzlich alles
Träumen aus dem Bewußtsein verschwinden würde. Deine Welt
würde verschwinden, denn deine Welt war dein Traum. Wir sind
nicht wirklich in der Welt. Oder besser, „die Welt” besteht für uns
nicht aus äußeren Dingen, sondern aus unseren Träumen. Jeder
lebt also in seiner eigenen Traumwelt.
Vergeßt nicht: Es ist nicht ein und dieselbe Welt, von der wir
alle reden. Geographisch ist sie es, aber psychologisch gibt es so
viele Welten, wie es Köpfe gibt. Jeder Kopf ist eine Welt für sich.
Und wenn dein Träumen verschwindet, verschwindet deine Welt.
Ohne Träume kannst du praktisch nicht leben. Darum werden
plötzliche Methoden im allgemeinen nicht benutzt. Nur allmäh-
liche Methoden werden benutzt.
Es ist aber gut, dies festzuhalten: allmähliche Methoden werden
nicht deshalb benutzt, weil ein allmähliches Fortschreiten nötig
wäre. Nein, du kannst sofort in diesem Augenblick in die Er-
kenntnis springen. Nichts kann dich hindern. Es hat nie ein Hin-
dernis gegeben. Du bist schon die Erkenntnis, du kannst in die-
sem Augenblick hineinspringen. Aber das kann sich als gefährlich
erweisen, ja tödlich. Du magst nicht fähig sein, es auszuhalten. Es
wird einfach zu viel für dich sein.
Du bist nur auf falsche Träume eingestellt. Der Wirklichkeit
kannst du nicht ins Gesicht sehen, du kannst ihr nicht begegnen.
Du bist eine Treibhauspflanze. Du kannst nur in deinen Träumen
leben. Sie helfen dir auf so manche Weise. Es sind nicht einfach
nur Träume: Für dich ist es Wirklichkeit.
Allmähliche Methoden werden also nicht deshalb benützt, weil
zur Erkenntnis etwa die Zeit benötigt würde — zur Erkenntnis ist
keine Zeit nötig! Zur Erkenntnis ist überhaupt keine Zeit nötig.
Erkenntnis ist nicht etwas, das irgendwann in der Zukunft erreicht
werden muß: aber mit langsamen Methoden wirst du sie in der
Zukunft erreichen. Was bewirken also die langsamen Methoden?
Sie helfen dir nicht wirklich, die Erkenntnis zu realisieren — sie

14 3
Das Buch der Geheimnisse

helfen dir, sie zu ertragen! Sie machen dich fähig, stark, so daß du
es, wenn sich das Ereignis ereignet, ertragen kannst.
Es gibt sieben Methoden, durch die du dir sofortigen Zugang
zur Erleuchtung erzwingen kannst. Aber du wirst sie nicht ertra-
gen können. Du kannst blind werden ... zu viel des Lichts! Oder
du magst plötzlich sterben ... zu viel der Seligkeit! Dieser Traum,
dieser tiefe Schlaf, in dem wir uns befinden — wie können wir
über ihn hinausgelangen? Wenn man das will, ist diese Frage
wichtig.
„Kannst du uns bitte erklären, was es noch für andere Mög-
lichkeiten gibt, sich das Träumen bewußt zu machen?”
Ich will noch zwei weitere Methoden besprechen. Eine be-
sprachen wir gestern. Heute noch zwei weitere, die sogar noch
einfacher sind.
Die eine war, mit dem Schauspielern anzufangen, sich so zu
verhalten, als wäre die Welt einfach nur ein Traum. Was du auch
tust, vergiß nicht: Dies ist ein Traum. Während du ißt, vergiß
nicht — dies ist ein Traum. Während du gehst, vergiß nicht — dies
ist ein Traum. Behalte es ständig im Gedächtnis, während du wach
bist: alles ist Traum. Das ist der Grund, warum die Welt Maja ge-
nannt worden ist — eine Illusion, Traum. Das ist keine philoso-
phische Behauptung.
Unglücklicherweise hat man Shankara, als er ins Englische,
Deutsche und Französische übersetzt wurde, in die westlichen
Sprachen, für einen Philosophen gehalten. Das hat zu vielen Irr-
tümern geführt. Im Westen gibt es solche Philosophen, zum Bei-
spiel Berkeley, die sagen, daß die Welt nur ein Traum ist, eine Pro-
jektion des Geistes. Aber das ist eine philosophische Theorie.
Berkeley stellt das als eine Hypothese auf.
Wenn dagegen Shankara davon spricht, daß die Welt ein
Traum ist, dann ist das nicht Philosophie — keine Theorie. Shan-
kara bietet es als Hilfe an, als Unterstützung einer bestimmten
Meditation, und zwar folgender: Wenn du dich im Traum dar-
an erinnern willst, daß dies ein Traum ist, dann mußt du das im
Wachzustand üben. So, wie es jetzt ist, kannst du dich beim Träu-
men nicht daran erinnern, daß du träumst. Für dich ist es Wirk-
lichkeit.

14 4
Kapitel 6

Warum hältst du es für Wirklichkeit? Weil du tagsüber alles für


Wirklichkeit hältst. Das ist zur Überzeugung geworden, zur
festen Überzeugung. Du hast ein Bad genommen, als du wach
warst — das war wirklich. Du hast gegessen, als du wach warst —
das war wirklich. Du hast mit einem Freund gesprochen, als du
wach warst — das war wirklich. Den ganzen Tag lang, dein ganzes
Leben lang ist dies deine Einstellung in allem, was du denkst: daß
„dies wirklich ist”. Es steht fest, und das wird zur fixen Idee in dei-
ner Vorstellungswelt.
Wenn du also nachts träumst, läuft diese feste Einstellung wei-
ter, daß „dies wirklich ist”. Laßt uns also zunächst analysieren. Es
muß eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Traum und Wirklichkeit
geben, sonst wäre diese Einstellung kaum möglich. Ich sehe euch.
Dann schließe ich die Augen und stelle mir einen Traum vor, in
dem ich euch sehe. Diese beiden Arten von Sehen unterscheiden
sich nicht. Wenn ich euch tatsächlich sehe — was tue ich? Euer Bild
wird in meinen Augen gespiegelt. Ich sehe nicht euch. Erst wird
euer Bild in meinen Augen gespiegelt, und dann wird dies Bild
durch geheimnisvolle Vorgänge transformiert — und die Wissen-
schaft ist bis heute noch nicht fähig zu sagen, wie. Dies Bild wird
chemisch transformiert und irgendwohin ins Hirn befördert, aber
die Wissenschaft weiß noch nicht wohin, wo genau das geschieht.
Es geschieht nicht in den Augen; die Augen sind nur Fenster. Ich
sehe euch nicht mit den Augen, ich sehe euch durch die Augen.
In den Augen werdet ihr widergespiegelt. Ihr mögt ein Bild sein,
ihr mögt eine Wirklichkeit sein, ihr mögt ein Traum sein. Vergeßt
nicht: Träume sind dreidimensional. Ich erkenne ein Bild als Bild,
weil es zweidimensional ist. Träume sind dreidimensional, sie se-
hen also genauso aus wie ihr. Und die Augen können nicht sagen,
ob das, was sie sehen, nun wirklich oder unwirklich ist. Es gibt
keine Möglichkeit, das zu beurteilen. Die Augen sind nicht die
Schiedsrichter.
Danach wird das Bild in chemische Wellen umgesetzt. Diese
chemischen Wellen sind auch elektrische Wellen. Sie gehen ir-
gendwohin ins Hirn. Der Punkt, wo genau die Augen mit der
Oberfläche des Gesehenen in Kontakt kommen, ist immer noch
unbekannt. Mich erreichen nur Wellen, die dann dekodiert

14 5
Das Buch der Geheimnisse

werden. Dann wiederum dekodiere ich sie, und auf diese Weise
weiß ich, was passiert.
Ich bin immer innen, und ihr seid immer außen, und es gibt
kein Zusammentreffen. Ob ihr also wirklich seid oder nur ein
Traum, ist ein Problem. Selbstjetzt, in diesem Augenblick, besteht
keine Möglichkeit zu beurteilen, ob ich träume oder ob ihr wirk-
lich vorhanden seid.
Wie könnt ihr, während ihr mir zuhört, sagen, daß ihr mir wirk-
lich zuhört? Daß ihr nicht etwa träumt? Es gibt keine Möglich-
keit. So kommt es, daß die Einstellung, an der ihr den ganzen Tag
über festhaltet, auch in die Nacht mit hineingenommen wird.
Und während ihr träumt, haltet ihr es für wirklich.
Versucht es einmal umgekehrt; genau das meint Shankara. Er
sagt, die ganze Welt ist eine Illusion; er sagt, die ganze Welt ist ein
einziges Träumen. Aber wir sind Dummköpfe. Wenn Shankara
sagt: „Es ist alles Traum”, dann sagen wir: „Wozu dann noch et-
was tun?” Wenn es doch nur ein Traum ist, dann brauchen wir
nicht zu essen. Warum dann immer weiteressen, wenn wir es
doch träumen? Also eßt nicht. Aber dann vergeßt nicht, daß es
auch ein Traum ist, wenn ihr hungrig seid. Oder eßt und wenn es
zuviel war, erinnert euch: Es ist ja nur ein Traum.
Shankara sagt nicht, daß ihr etwas an dem Traum verändern
sollt, vergeßt das nicht: denn wenn man sich die Mühe macht, den
Traum zu verändern, dann basiert das wieder auf der falschen An-
nahme, daß er Wirklichkeit ist. Wozu sonst etwas daran ändern?
Shankara sagt nur, daß alles so, wie es ist, Traum ist.
Vergeßt also nicht: Tut nichts, um es zu ändern. Erinnert euch
nur immer daran; versucht, drei Wochen lang ständig im Ge-
dächtnis zu behalten, daß alles, was ihr tut, nur ein Traum ist. Am
Anfang ist das sehr schwer. Ihr werdet wieder und wieder in das
alte Denkmuster verfallen und denken, daß dies Wirklichkeit ist.
Ihr werdet euch ständig aufwecken müssen, um euch daran zu er-
innern, daß dies ein Traum ist. Wenn ihr diese Einstellung drei
Wochen lang ständig durchhalten könnt, dann werdet ihr euch in
der vierten oder fünften Woche plötzlich, irgendwann eines
Nachts, während des Träumens daran erinnern, daß „dies ein
Traum ist”.

14 6
Kapitel 6

Dies ist die eine Möglichkeit, mit Bewußtsein, mit Wachheit


ins Träumen einzudringen. Wenn du dich nachts beim Träumen
daran erinnerst, daß du träumst, dann brauchst du dir tagsüber
nicht mehr die Mühe zu machen, dich zu erinnern, daß auch dies
ein Traum ist. Dann weißt du es.
Anfangs wird die Übung nur en. „so-tun-als-ob” sein. Anfangs
vertraust du einfach nur darauf, daß alles ein Traum ist. Aber wenn
du dich im Traum daran erinnern kannst, daß alles Traum ist, wird
es zur Tatsache. Dann hast du morgens beim Aufstehen nicht
mehr das Gefühl, vom Schlaf aufzuwachen, sondern aus einem
Traumzustand in den andern zu gehen. Dann wird es zu einer
Wirklichkeit. Und wenn rund um die Uhr alles zu Traum wird,
und du es fühlst und es nicht vergißt, dann ruhst du in deinem
Zentrum. Nun ist dein Bewußtsein ein Pfeil in beide Richtungen.
Du nimmst die Träume wahr, und wenn du sie als Träume
wahrnimmst, beginnst du auch, den Träumer wahrzunehmen, das
Subjekt. Solange die Träume für dich Wirklichkeit sind, kannst
du das Subjekt nicht wahrnehmen. Wenn der Film wirklich ge-
worden ist, vergißt du dich selbst. Erst wenn der Film anhält und
du erkennst, daß er unwirklich war, bricht deine Wirklichkeit her-
vor, bricht sie aus. Jetzt kannst du dich selbst wahrnehmen. Das
ist die eine Möglichkeit.
Noch mal: Dies ist eine der ältesten indischen Methoden. Da-
rum haben wir hier in Indien betont, daß die Welt unwirklich sei.
Wir meinen das nicht philosophisch: wir sagen damit nicht, daß
dies Haus hier unwirklich sei, daß du also durch die Wand gehen
könntest. Das meinen wir damit nicht! Wenn wir sagen, daß dies
Haus unwirklich ist, dann nur als Mittel zum Zweck der Be-
wußtmachung, nicht, um die Existenz des Hauses zu widerlegen.
Berkeley hat also auch behauptet, die ganze Welt sei nur ein
Traum. Eines Tages, eines Morgens, ging er mit Dr. Johnson spa-
zieren. Dr. Johnson war ein unerbittlicher Realist, und als Berke-
ley sagte: „Haben Sie von meiner Theorie gehört? Ich arbeite sie
gerade aus: Mein Gefühl ist, daß die ganze Welt unwirklich ist
und daß ihre Wirklichkeit unbeweisbar ist. Und die Beweisschuld
liegt bei denen, die behaupten, sie sei wirklich. Ich sage, sie ist un-
wirklich — wie die Träume.”

14 7
Das Buch der Geheimnisse

Johnson war kein Philosoph, aber er verfügte über eine sehr


scharfe Logik. Sie gingen auf der Straße, sie machten gerade einen
Morgenspaziergang auf einer einsamen Landstraße. Plötzlich er-
greift Johnson einen Stein und wirft ihn Berkeley auf den Fuß.
Blut fließt, und Berkeley schreit auf. Johnson sagt: „Warum schrei-
en Sie so, wo doch der Stein nur ein Traum ist? Sie können sagen,
was Sie wollen, Sie glauben doch an die Wirklichkeit des Steines.
Was Sie sagen, das ist die eine Sache, aber Ihr Verhalten ist etwas
anderes — das Gegenteil. Wenn Ihr Haus nur ein Traum ist, wohin
kehren Sie dann zurück? Wohin kehren Sie nach Ihrem Morgen-
spaziergang zurück? Wenn Ihre Frau nur ein Traum ist, werden
Sie ihr nicht wiederbegegnen.”
Realisten haben immer so argumentiert. Aber einem Shankara
können sie nicht mit solchen Argumenten kommen, denn er
spricht von keiner philosophischen Theorie. Er sagt nicht etwas
über die äußere Wirklichkeit aus, er sagt nichts über das Univer-
sum. Es ist vielmehr ein Mittel, deine Einstellung zu verändern,
deine eingefahrene Grundhaltung, damit du die Welt auf eine an-
dere, eine ganz und gar andere Weise wahrnimmst. Das ist ein
Problem — und zwar ist es immer das gleiche Problem mit der in-
dischen Denkweise. Denn für das indische Denken ist alles nur
eine Hilfestellung zur Meditation. Wir kümmern uns nicht um
„wahr oder unwahr”. Uns interessiert, ob etwas als Mittel taugt,
den Menschen umzuformen.
Darin liegt ein ausdrücklicher Unterschied zur westlichen
Denkweise. Wenn dort eine Theorie aufgestellt wird, geht es dar-
um, ob sie wahr oder unwahr ist, ob es sich logisch beweisen läßt
oder nicht. Wenn wir dagegen eine Behauptung aufstellen, inter-
essiert uns nicht ihre Wahrheit — uns interessiert ihre Brauchbar-
keit, ihre Fähigkeit, den menschlichen Geist umzuformen. Wahr
oder unwahr — in Wirklichkeit ist sie keins von beiden: Sie ist le-
diglich ein Mittel.
Ich habe draußen Blumen gesehen. Am Morgen geht die Son-
ne auf, und alles ist einfach unbeschreiblich schön. Aber du bist
nie draußen gewesen und hast noch nie Blumen gesehen und
noch nie die Morgensonne. Du hast nie den offenen Himmel ge-
sehen, du weißt nicht, was Schönheit ist. Du hast bisher in einem

14 8
Kapitel 6

geschlossenen Gefängnis gelebt. Ich will dich hinausführen unter


den offenen Himmel und mit diesen Blumen bekanntmachen.
Wie soll ich es anstellen?
Du weißt nicht, was Blumen sind. Ich rede von Blumen. Du
denkst: „Er spinnt. Es gibt keine Blumen.” Ich rede von der Mor-
gensonne. Du denkst: „Er ist ein Visionär. Er hat Visionen und
Träume. Er ist ein Poet.” Ich rede vom offenen Himmel: du lachst
nur. Lachst mich aus und sagst: „Wo soll denn dieser offene Him-
mel sein? Es gibt nur Wände und Wände und wieder Wände.”
Was soll ich also tun? Ich muß mir einen Trick einfallen lassen,
den du verstehen kannst und der dir hilft, nach draußen zu gehen.
Also rufe ich: „Feuer!” und renne los. Das reißt dich mit, du rennst
hinterher und kommst so nach draußen. Hinterher wirst du wis-
sen, daß meine Aussage weder wahr noch falsch war. Es war ein-
fach ein Mittel. Dann wirst du wissen, was Blumen. sind und wirst
mir verzeihen.
Buddha hat es so gehalten, Mahavir hat es so gehalten, Shiva hat
es so gehalten und Shankara auch. Wir können ihnen hinterher
verzeihen. Wir haben ihnen noch jedesmal verziehen, denn wenn
wir erst einmal draußen sind, wissen wir, was sie für uns getan ha-
ben. Und dann werden wir verstehen, daß es sinnlos war, erst mit
ihnen zu streiten, denn es handelte sich um kein theoretisches
Streitproblem.
Es gab nirgendwo ein Feuer, aber wir konnten nur diese Spra-
che verstehen. Die Blumen gab es, aber wir konnten die Sprache
der Blumen nicht verstehen. Diese Symbolik war für uns bedeu-
tungslos.
Dies ist also die eine Möglichkeit. Dann gibt es noch eine an-
dere, am entgegengesetzten Pol. Die erste Methode bildet den ei-
nen Pol, die andere ist der entsprechende Gegenpol. Die eine ist,
in sich ein Gefühl zu entwickeln, sich daran zu erinnern, daß al-
les ein Traum ist. Die andere ist, überhaupt nicht an die Welt zu
denken, sondern sich ständig zu erinnern, daß du bist.
Gurdjieff benutzte diese zweite Technik. Sie kommt aus der
Sufi Tradition, aus dem Islam. Dort wurde sie bis in große Tiefen
entwickelt. Sag dir ständig: „Ich bin” — in allem, was du tust. Du
trinkst Wasser, du ißt dein Essen: erinnere dich — „Ich bin”. Iß

14 9
Das Buch der Geheimnisse

weiter und erinnere dich weiter: „Ich bin, ich bin.” Vergiß es nicht!
Es ist schwierig, weil du bereits zu wissen glaubst, daß du bist.
Wozu es sich also ständig ins Gedächtnis rufen? Du erinnerst dich
nie daran, aber es ist eine sehr, sehr starke Technik. Wenn du spa-
zierengehst, erinnere dich: „Ich bin.” Laß das Gehen da sein, geh
weiter. Aber bleibe ununterbrochen auf diese Selbsterinnerung fi-
xiert, auf dies „Ich bin, ich bin, ich bin”. Vergiß es nicht. Du hörst
mir zu, mache es gleich hier! Du hörst mir zu: sei nicht so völlig
eingetaucht, beteiligt, identifiziert. Was immer ich sage, erinnere
dich daran, hör nicht auf, dich zu erinnern. Das Zuhören ist da,
Wörter sind da, jemand, der redet — und du ... „Ich bin, ich bin,
ich bin” ... laß dies „Ich bin” zum ständigen Teil deines Bewußt-
seins werden.
Das ist sehr schwer. Du kannst dich nicht einmal eine Minute
lang daran erinnern. Versuche es. Sieh auf deine Armbanduhr, und
schau auf die Zeiger, die sich bewegen. Eine Sekunde, zwei Se-
kunden, drei Sekunden — hör nicht auf hinzusehen. Tu zweierlei:
Schau auf den Sekundenzeiger und erinnere dich ständig an dies
„Ich bin, ich bin”. Erinnere dich jede Sekunde daran: „Ich bin.”
Nach fünf oder sechs Sekunden wirst du feststellen, daß du es ver-
gessen hast. Plötzlich stellst du fest, daß viele Sekunden verstri-
chen sind, ohne daß du dich an dies „Ich bin” erinnert hast.
Sich auch nur eine einzige volle Minute zu erinnern, kommt
einem Wunder gleich. Und wenn du dich eine Minute lang erin-
nern kannst, ist das die richtige Methode für dich. Dann mach sie.
Durch sie wirst du fähig, über das Träumen hinauszugehen und
zu erkennen, daß Träume Träume sind.
Wie funktioniert es? Wenn du dich den ganzen Tag über an das
„Ich bin” erinnern kannst, dann dringt es auch bis in deinen Schlaf.
Und dann wirst du dich auch im Traum ständig erinnern: „Ich
bin.” Wenn du dich an dies „Ich bin” im Traum erinnern kannst,
wird der Traum plötzlich zum Traum. Dann kann der Traum
dich nicht mehr täuschen. Dann kann der Traum nicht mehr als
Wirklichkeit erfahren werden. Und so sieht der Mechanismus
aus: Der Traum wird nur deshalb als Wirklichkeit erfahren, weil
du es versäumst, dich an dich selbst zu erinnern. Du verfehlst das
„Ich bin”. Wenn keine Selbst-Erinnerung da ist, dann ist Traum

15 0
Kapitel 6

für dich Wirklichkeit. Wenn die Erinnerung an dich selbst da ist,


dann wird die Wirklichkeit — die sogenannte Wirklichkeit — zu
einem bloßen Traum.
Dies ist der ganze Unterschied zwischen Träumen und Wirk-
lichkeit. Für die meditative Einstellung, oder für die Wissenschaft
der Meditation, ist dies der einzige Unterschied. Wenn du bist,
dann ist deine ganze bisherige Wirklichkeit nur ein Traum. Wenn
du nicht bist, dann wird dein Träumen zur Wirklichkeit. Nagar-
juna sagt: „Jetzt bin ich, jetzt ist die Welt nicht mehr. Während ich
nicht war, war die Welt. Nur eines kann existieren.” Was nicht
etwa heißt, daß die Welt verschwunden ist. Nagarjuna redet nicht
von dieser Welt. Er redet von der Welt des Träumens. Entweder
kannst du da sein — oder das Träumen. Beides zugleich geht nicht.
Der erste Schritt wird also sein, dich ständig daran zu erinnern,
daß „Ich bin”. Einfach nur „Ich bin”. Sag nicht „Ram”, sag nicht
„Shyam”. Benutze keinen Namen, denn du bist das alles nicht.
Sage nur: „Ich bin.”
Probiere es in jeder beliebigen Tätigkeit aus, und fühle es auch.
Je mehr du innen wirklich wirst, desto unwirklicher wird die Welt
rings um dich. Die Wirklichkeit wird das „Ich” und die Welt wird
unwirklich. Entweder ist die Welt wirklich, oder das Ich ist wirk-
lich, beides zusammen geht nicht. Im Augenblick fühlst du, daß
du nur ein Traum bist, und dann ist die Welt wirklich. Verlagere
das Gewicht. Werde du wirklich — und die Welt wird unwirklich
werden.
Gurdjieff arbeitete ständig mit dieser Methode. Sein Meister-
schüler, P. D. Ouspenski, berichtet, daß Gurdjieff ihn drei Mona-
te lang mit dieser Methode bearbeitet hatte, und nachdem er sich
ununterbrochen an dies „Ich bin, ich bin, ich bin” erinnert hatte,
stand plötzlich alles still. Gedanken, Träume, alles blieb stehen.
Nur eine einzige Melodie war in ihm, wie eine ewige Musik: „Ich
bin, ich bin, ich bin.” Aber nun war es keine Anstrengung mehr.
Es war eine unentwegte spontane Tätigkeit... „Ich bin”. Da for-
derte Gurdjieff ihn auf, mit ihm aus dem Haus zu gehen, denn
drei Monate lang hatte er nicht aus dem Haus gedurft — er war
eingesperrt gewesen.
Nun sagte Gurdjieff: „Komm mit.” Sie wohnten in einer

15 1
Das Buch der Geheimnisse

russischen Stadt — Tiflis. Gurdjieff rief ihn heraus, und sie gingen
auf die Straße. Ouspensky schreibt in seinem Tagebuch: „Zum er-
stenmal begriff ich, was Jesus meint, wenn er sagt, daß der Mensch
schläft. Die ganze Stadt kam mir vor, als schliefe sie. Die Leute lie-
fen im Schlaf herum, die Krämer verkauften ihre Waren im
Schlaf, die Kunden kauften im Schlaf. Die ganze Stadt schlief. Ich
sah Gurdjieff an: Er allein war wach. Die ganze Stadt schlief. Sie
waren wütend, sie stritten sich, sie liebten sich, sie kauften und
verkauften, sie taten und machten alles mögliche.” Ouspensky sagt
weiter: „Jetzt konnte ich plötzlich ihre Gesichter sehen, ihre Au-
gen: Sie schliefen! Sie waren nicht da, das innere Zentrum fehlte.
Es war einfach nicht da.” Ouspensky sagte zu Gurdjieff: „Ich will
hier nie wieder herkommen — was ist mit der Stadt passiert? Alle
scheinen zu schlafen oder unter Drogen zu stehen.” Gurdjieff sag-
te: „Mit der Stadt ist nichts passiert. Etwas ist mit dir passiert. Du
bist nicht mehr betäubt. Die Stadt ist wie immer, sie ist der gleiche
Ort, wo du vor drei Monaten herumgelaufen bist. Aber du konn-
test nicht sehen, daß die andern Leute schliefen, weil du selber
schliefst. Jetzt kannst du es sehen, weil eine gewisse Bewußtheit
in dich gekommen ist. Dadurch, daß du drei Monate lang ständig
dies „Ich bin” geübt hast, bist du zu einem ganz geringen Grade
bewußt geworden. Du bist bewußter geworden. Ein Teil deines
Bewußtseins ist über das Träumen hinausgegangen. Darum
kannst du sehen, daß jeder schläft und wie tot, wie betäubt her-
umläuft, wie hypnotisiert.”
Ouspensky sagt: „Ich konnte das gar nicht aushalten — dies Phä-
nomen, daß alle schlafen! Was immer sie tun, sie sind nicht ver-
antwortlich.” Wirklich nicht! Wie können sie verantwortlich sein?
Nach Hause zurückgekehrt, fragte er Gurdjieff: „Was ist los? Spielt
hier irgendein Betrug mit? Hast du etwas mit mir angestellt, daß
mir die ganze Stadt wie schlafend erscheint? Ich kann meinen ei-
genen Augen nicht trauen.”
Aber das wird jedem so ergehen. Wenn du dich an dich selbst
erinnern kannst, dann wirst du erkennen, daß niemand sonst sich
an sich selbst erinnert, und daß sich alle so bewegen. Die ganze
Welt schläft. Aber fang damit an, während du wach bist. Wann
i mmer du dich erinnern kannst, fang an: „Ich bin ...” Ich meine

152
Kapite16

es nicht so, daß ihr anfangen sollt, die Worte „Ich bin” zu wie-
derholen, sondern es geht um das entsprechende Gefühl. Nimmst
du ein Bad, dann fühle „Ich bin”. Laß die Berührung der kalten
Dusche da sein und bleibe dahinter, fühle es und erinnere dich
„Ich bin”. Noch einmal: Du brauchst es nicht wörtlich zu wie-
derholen. Das kannst du zwar, aber diese Wiederholung wird dir
keine Bewußtheit bringen. Wiederholung kann dich sogar noch
tiefer in den Schlaf wiegen. Es gibt viele Leute, die ständig irgend
etwas wiederholen. Sie wiederholen „Ram-Ram-Ram”, und
wenn sie es ohne Bewußtheit tun, dann wird aus diesem „Ram-
Ram-Ram” einfach nur ein Schlafmittel. Sie können dann besser
schlafen.
Aus diesem Grund hat Mahesh Yogi eine solche Anziehungs-
kraft im Westen, denn er gibt Mantras zu wiederholen auf. Und
i m Westen ist das Einschlafen zu einem der größten Probleme
überhaupt geworden. Der Schlaf ist völlig gestört. Der natürliche
Schlaf ist verschwunden. Man kann nur noch mit Beruhigungs-
mitteln und Schlaftabletten einschlafen, andernfalls ist Schlaf un-
möglich geworden. Das ist der Grund für die Anziehungskraft
von Mahesh Yogi: Denn wenn man ständig etwas wiederholt,
verhilft das zu einem tiefen Schlaf. Das ist alles.
Die sogenannte Transzendentale Meditation ist also nichts wei-
ter als eine psychologische Schlaftablette. Sie ist lediglich ein Be-
ruhigungsmittel. Sie hilft, aber sie verhilft nur zum Schlaf, nicht
zur Meditation. Man kann gut schlafen. Es kommt ein ruhigerer
Schlaf dabei heraus. Das ist gut, hat aber mit Meditation nicht das
geringste zu tun. Wenn man ständig ein Wort wiederholt, erzeugt
das eine gewisse Langeweile. Und Langeweile ist gut fürs Ein-
schlafen.
Alles, was monoton ist, was sich wiederholt, ist zum Einschlafen
gut. Das Kind im Mutterleib schläft neun Monate lang ununter-
brochen; ihr wißt vielleicht nicht, warum das so ist: der Grund ist
nur das „Tick Tack, Tick-Tack” vom Herzen der Mutter. Ständig
derselbe Rhythmus, der Herzschlag — es gibt nichts Monotone-
res. Der gleiche Rhythmus, ständig wiederholt, betäubt das Kind.
Es schläft ununterbrochen.
Darum legt die Mutter, sobald ihr Kind schreit, seinen Kopf an

15 3
Das Buch der Geheimnisse

ihr Herz. Da fühlt es sich plötzlich wohl und versinkt in Schlaf.


Auch das liegt wieder am Herzschlag. Das Kind wird wieder Teil
des Mutterleibes. Darum schlummerst du auch später noch ein,
wenn deine Frau oder deine Geliebte sich deinen Kopf ans Herz
legt: der monotone Herzschlag .. .
Die Psychologen empfehlen, sich auf die Uhr zu konzentrie-
ren, wenn man nicht einschlafen kann. Konzentriere dich auf das
„Tick-Tack, Tick Tack” der Uhr: sie ahmt den Herzschlag nach,
und du wirst einschlafen können. Alles, was sich wiederholt, schlä-
fert ein.
Dies „Ich bin”, dies ständig erinnerte „Ich bin”, ist also kein ver-
bales Mantra. Es soll nicht verbal wiederholt werden. Du mußt es
fühlen! Sensibilisiere dich für dein Da-sein. Wenn du jemandem
die Hand berührst, berühre nicht nur seine Hand: fühle auch dei-
ne Berührung, fühle auch dich selbst: daß du hier in dieser
Berührung bist, völlig gegenwärtig. Während du ißt, iß nicht ein-
fach nur, fühle auch, wie du ißt. Dies Gefühl, diese Sensibilität,
muß tiefer und tiefer in dich eindringen.
Plötzlich eines Tages bist du wach in deinem Zentrum, dein
Zentrum funktioniert zum erstenmal. Und dann wird die ganze
Welt zum Traum. Und gleichzeitig kannst du erkennen, daß die
Träume Träume sind. Und wenn du weißt, daß Träume Träume
sind, hört alles Träumen auf. Es kann nur so lange weitergehen,
wie es für wirklich gehalten wird. Es hört auf, sobald es als un-
wirklich erkannt wird.
Und wenn einmal das Träumen in dir aufhört, bist du ein an-
derer Mensch. Der alte Mensch ist tot, der schlafende Mensch ist
tot. Das menschliche Wesen, daß du bisher warst, das bist du nicht
mehr. Du wirst zum erstenmal bewußt. Zum erstenmal bist allein
du auf der ganzen schlafenden Welt wach. Du wirst zum Buddha,
zum Erwachten.
In dieser Wachheit gibt es kein Unglück mehr. Nach diesem
Erwachen gibt es keinen Tod mehr. Durch dies Erwachen gibt es
keine Angst mehr. Du wirst zum erstenmal frei von allem. Frei
zu sein von Schlaf, frei zu sein vom Träumen, heißt frei sein von
allem. Du erreichst die Freiheit. Haß, Wut, Gier verschwinden.
Du wirst zu reiner Liebe. Nicht liebevoll, du wirst Liebe.

154
Kapitel 6

Noch eine weitere Frage — und es ist fast die gleiche:

Wenn wir nur Schauspieler in einem Stück sind, das schon


geschrieben wurde, wie kann uns Meditation dann transformieren,
ohne daß das Stück selbst schon einen Akt enthält, der unsere
Transformation zu einem bestimmten Zeitpunkt vorsieht?
Und wenn es einen solchen Akt bereits gibt, der nur darauf wartet,
sich zu seiner vorbestimmten Zeit zu entfalten, warum dann
meditieren? Warum sich dann überhaupt die Mühe machen?

Es ist die gleiche Frage; sie enthält den gleichen Trugschluß. Ich
sage ja nicht, daß alles vorherbestimmt ist. Ich stelle das nicht als
Theorie auf, um das Universum zu erklären. Es ist nur ein Hilfs-
mittel.
In Indien hat man schon seit jeher mit diesem Trick gearbeitet.
Damit ist aber nicht gemeint, daß alles tatsächlich vorherbestimmt
ist. Keinesfalls. Mein einziger Grund, das so zu behaupten, ist der,
daß euch alles zum Traum wird, wenn ihr alles für vorherbe-
sti mmt haltet. Wenn ihr die Dinge einmal so seht, wenn ihr ein-
mal annehmt, daß alles vorherbestimmt ist — zum Beispiel auch,
daß ihr an einem bestimmten Tag sterben werdet — dann wird al-
les zum Traum.
Es ist nicht vorherbestimmt. Es steht nicht fest. Niemand hat
ein solches Interesse an dir, und das Universum hat nicht die ge-
ringste Ahnung von dir und wann du sterben wirst. Es kann nichts
damit anfangen — dein Tod ist für das Universum völlig irrelevant.
Halte dich nicht für so wichtig, daß das ganze Universum den
Tag deines Todes vorherbestimmt — die Zeit, die Minute, die Se-
kunde — nein! Du bist nicht der Nabel der Welt. Es macht für das
Universum keinen Unterschied, ob du da bist oder nicht. Aber
dieser Trugschluß sitzt sehr rief in euch drin. Er entsteht in der
Kindheit und wird später unbewußt.
Ein Kind wird geboren. Es hat der Welt nichts zu geben, muß
aber vieles nehmen. Es kann nicht zurückzahlen, es kann nichts
zurückgeben. Es ist so machtlos — einfach hilflos. Es braucht Nah-
rung, es braucht Liebe, es braucht Geborgenheit, es braucht Wär-
me. Alles das muß bereitgestellt werden.

155
Das Buch der Geheimnisse

Ein Kind wird absolut hilflos geboren — vor allem das Kind des
Menschen. Kein Tier ist so hilflos. Darum könnte kein Tier eine
Familie gründen. Es ist auch nicht nötig. Aber das Kind des Men-
schen ist so hilflos, so ganz und gar hilflos, daß es nicht ohne eine
Mutter existieren könnte, die es schützt, ohne einen Vater, eine
Gesellschaft. Es kann nicht allein existieren. Es würde sofort ster-
ben.
Es ist so abhängig! Es braucht Liebe, es braucht Nahrung, es
braucht alles, und es fordert alles. Und die Mutter versorgt es da-
mit, der Vater versorgt es damit, die Familie versorgt es. Das Kind
fängt an zu glauben, daß es der Mittelpunkt der Welt sei. Alles
muß ihm geliefert werden, es muß nur fordern. Zu fordern ist die
einzige Mühe, die es sich machen muß.
So fängt das Kind an, sich für den Mittelpunkt zu halten, und
alles passiert seinetwegen. Die ganze Existenz scheint seinetwe-
gen da zu sein. Die ganze Existenz hat nur darauf gewartet, daß
es komme und fordere, und alles wird erfüllt ... Es ist notwendig,
daß seine Forderungen erfüllt werden, sonst stirbt es. Aber diese
Notwendigkeit wird ihm sehr gefährlich. Es wächst auf mit die-
ser Einstellung, daß „ich der Mittelpunkt” bin. Nach und nach
verlangt es immer mehr. Die Bedürfnisse eines Kindes sind sehr
einfach: sie können erfüllt werden. Aber mit zunehmendem Al-
ter werden seine Forderungen komplexer. Manchmal wird es
nicht möglich sein, sie zu erfüllen, ihnen nachzukommen — abso-
lut unmöglich. Es mag nach dem Mond fragen oder dergleichen.
Je älter es wird, desto komplexer seine Forderungen — uner-
füllbar. Dann setzt die Frustration ein, und das Kind fängt an zu
glauben, daß es betrogen wird. Es war bisher doch selbstver-
ständlich, daß es der Nabel der Welt war! Jetzt kommen Proble-
me auf, und nach und nach wird es vom Thron gestoßen. Es wird
entthront. Sobald es erwachsen ist, wird es endgültig entthront.
Dann weiß es, daß es nicht der Mittelpunkt ist. Aber tief unten
i m Unbewußten setzt sich die Vorstellung fort, daß es der Mit-
telpunkt ist.
Die Leute kommen her und fragen mich, ob ihr Schicksal fest-
gelegt sei. Was sie in Wirklichkeit fragen ist: sind sie so wichtig,
so bedeutsam für das Universum, daß ihr Geschick von vorn-

15 6
Kapite16

herein festgelegt werden muß: „Was ist der Sinn meines Daseins?”
fragen sie mich. „Wozu wurde ich erschaffen?” Dieser kindliche
Unfug, daß du das Zentrum der Welt bist, führt zu Fragen wie:
„Zu welchem Zweck wurde ich erschaffen?” Du bist zu keinem
Zweck erschaffen worden. Und es ist gut so, daß du nicht zu ei-
nem Zweck erschaffen wurdest; sonst wärst du nämlich eine Ma-
schine. Eine Maschine wird zu einem Zweck erschaffen. Der
Mensch wird zu keinem Zweck erschaffen, zu nichts — nein! Der
Mensch ist nichts als ein Luxus, ein Überfluß der Schöpfung. Al-
les ist einfach da. Die Blumen sind da und die Sterne sind da und
du bist da. Alles ist einfach nur ein Überfließen, eine Freude, ein
Jubel der Schöpfung — ohne jeden Zweck.
Aber diese Schicksalstheorie, diese Bestimmung, führt zu Pro-
blemen, denn wir nehmen es nicht als Theorie. Wir glauben, al-
les sei tatsächlich vorherbestimmt; aber nichts ist vorherbestimmt.
Diese Methode allerdings benutzt es als Mittel. Wenn es darin
heißt, daß alles vorherbestimmt sei, wird euch das nicht als eine
Theorie gesagt. Die Absicht dabei ist: wenn du das Leben als
Theater nimmst, als vorherbestimmt, dann wird es zum Traum.
Wenn ich zum Beispiel wüßte, daß ich an dem und dem Tage, an
dem und dem Abend zu euch sprechen würde und daß die Wor-
te, die ich dann zu euch sagen würde, vorherbestimmt wären, und
das stünde so fest, daß sich nichts daran ändern ließe, daß ich nicht
ein einziges neues Wort würde sagen können, dann habe ich
plötzlich mit diesem ganzen Vorgang nichts mehr zu tun, denn
dann bin ich nicht mehr die Quelle des Handelns. Wenn alles vor-
herbestimmt ist, und wenn jedes Wort vom Universum selbst ge-
sagt wird, oder vom Göttlichen, oder wie immer ihr es nennen
wollt, dann bin ich nicht mehr der Ursprung davon. Dann kann
ich zum Zuschauer werden — zum einfachen Zuschauer.
Wenn du das Leben als vorherbestimmt verstehst, dann kannst
du es beobachten. Dann bist du nicht hineinverwickelt. Bist du
ein Versager, so war es vorherbestimmt; hast du Erfolg, so war es
vorherbestimmt. Wenn beides vorherbestimmt ist, bekommt es
den gleichen Wert, dann wird es synonym. Dann ist der eine
Ram, der andere Ravan, und alles ist vorherbestimmt. Ravan
braucht sich nicht schuldig zu fühlen, Ram braucht sich nicht

15 7
Das Buch der Geheimnisse

überlegen zu fühlen. Alles ist vorherbestimmt, also seid ihr nur


Schauspieler. Ihr seid nur auf der Bühne und spielt eine Rolle. Nur
um dir das Gefühl zu geben, daß du eine Rolle spielst, um dir das
Gefühl zu geben, daß alles nur ein vorher festgelegtes Schema ist,
das erfüllt werden muß, nur um dir dies Gefühl zu geben, auf daß
du dich davon freimachen kannst - nur dazu dient dies Hilfsmit-
tel. Es fällt sehr schwer, weil wir so sehr daran gewöhnt sind, an
das Schicksal als Theorie zu glauben, und zwar nicht nur als Theo-
rie, sondern als Gesetzmäßigkeit. Wir können eine Einstellung,
die diese Theorien und Gesetze nur als Hilfsmittel ansieht, nicht
begreifen.
Ich will euch dies erklären. Ein Beispiel wird euch dabei helfen.
Ich befand mich einmal in einer Stadt, und es kam ein Mann zu
mir, ein Moslem. Aber ich wußte das nicht, ich hatte es nicht be-
merkt, daß er ein Moslem war. Er war wie ein Hindu gekleidet.
Er sah nicht nur wie ein Hindu aus, er sprach auch ganz wie ein
Hindu. Er war kein typischer Mohammedaner. Er stellte mir eine
Frage. Er sagte: „Die Mohammedaner und Christen sagen, es gäbe
nur ein Leben. Die Hindus, Buddhisten und Jainas sagen, es gäbe
viele Leben - eine lange Folge von Leben, und daß man immer
wieder von neuem geboren würde, bis man erlöst wird. Was sagst
du dazu? Wenn Jesus ein erleuchteter Mann war, muß er es doch
gewußt haben. Oder Mohammed, oder Moses - sie müssen es
auch gewußt haben, wenn sie wirklich Erleuchtete waren. Und
wenn du sagst, daß sie recht hatten, was ist dann mit Mahavir,
Krishna, Buddha und Shankara? Eins steht fest - daß sie nicht al-
lesamt erleuchtet gewesen sein können.
Wenn die Christen recht haben, dann hat Buddha unrecht,
Krishna unrecht, Mahavir unrecht. Und wenn Mahavir, Buddha
und Krishna recht haben, dann haben Mohammed, Jesus und
Moses unrecht. Sag also. Ich bin sehr verwirrt, völlig durcheinan-
der, ich tappe im Dunkeln. Entweder es gibt viele Leben, oder es
gibt nur eins. Wie können beide Seiten recht haben?” Er war ein
sehr intelligenter Mann, der viel studiert hatte, also sagte er: „Du
kommst mir nicht einfach damit davon, daß du sagst, beide hät-
ten recht. Beide können nicht recht haben. Das wäre unlogisch.
Beides kann nicht stimmen.”

158
Kapitel 6

Aber ich sagte: „Das braucht es auch nicht. Dein Ansatz stimmt
absolut nicht. Beides sind Mittel: keins von beiden stimmt, keins
von beiden ist falsch. Beides sind Hilfsmittel.” Er hatte keine Ah-
nung, was ich mit „Hilfsmittel” meinte.
Mohammed, Jesus und Moses sprachen zu einem ganz be-
sti mmten Menschentyp: Buddha, Mahavir und Krishna dagegen
sprachen zu einem völlig anderen Zeitgeist. Es gibt in Wirklich-
keit nur zwei Grundreligionen: die hinduistische und die jüdische.
Alle Religionen, die aus Indien stammen, alle Religionen, die aus
dem Hinduismus stammen, glauben an die Wiedergeburt, an vie-
le Geburten; und alle Religionen, die aus dem jüdischen Denken
geboren wurden — der Islam, das Christentum — glauben an nur
ein einziges Leben. Es handelt sich hier um zwei verschiedene
Methoden, Hilfestellungen.
Versucht, dies zu verstehen. Weil unsere Vorstellungen so ein-
gefahren sind, sehen wir diese Dinge als selbstverständliche Wahr-
heiten an, nicht als methodische Mittel. Und so kommen laufend
Leute zu mir und sagen: „An einem Tag sagst du, dies sei richtig,
und am nächsten sagst du, das sei richtig, und beides kann nicht
richtig sein.” Natürlich, beides kann nicht richtig sein, aber nie-
mand behauptet, beides sei richtig. Ich kümmere mich überhaupt
nicht darum, was richtig und was falsch ist. Mich kümmert allein,
welches Mittel wirkt.
In Indien wirkte dies Mittel der vielen Leben. Warum? Da gibt
es vieles zu erwähnen. Alle Religionen, die im Westen geboren
wurden, vor allem aus dem jüdischen Denken, waren Arme-Leu-
te-Religionen. Ihre Propheten waren ungebildet. Jesus war unge-
bildet, Mohammed war ungebildet, Moses war ungebildet. Sie alle
waren ungebildet, unkultiviert, einfach, und sie redeten zu Mas-
sen, die nicht die geringste Bildung besaßen, die arm waren. Sie
waren nicht reich.
Für einen armen Menschen ist aber ein Leben mehr als genug
... mehr als genug! Er nagt am Hungertuch, er stirbt. Wenn du
ihm erzählst, daß er noch viele Leben vor sich hat, daß er noch
viele Male wiedergeboren werden wird, daß er sich in einem Rad
von tausend und einem Leben befindet, wird der arme Mann sich
nur frustriert abwenden. „Was sagst du da?” wird der arme Marin

15 9
Das Buch der Geheimnisse

fragen. „Ein Leben ist mir schon zu viel, erzähl mir also nichts von
Tausenden von Leben, von Millionen von Leben. Bitte sag nicht
so etwas! Gib uns den Himmel gleich nach diesem Leben!” Gott
wird für ihn nur real, wenn er ihn gleich nach diesem Leben er-
reichen kann — sofort!
Buddha, Mahavir, Krishna sprachen zu einer sehr reichen Ge-
sellschaft. Das ist heute sehr schwer zu verstehen, weil sich das
Rad völlig gewendet hat. Heute ist der Westen reich und der
Osten arm. Damals war der Westen arm und der Osten reich.
Alle Avatare der Hindus, alle T'eerthankeras, die Weltlehrer der
Jainas, alle Buddhas waren Prinzen. Sie gehörten königlichen Fa-
milien an. Sie. waren kultiviert, gebildet, vornehm, auf jede er-
denkliche Weise verfeinert. Man konnte einen Buddha nicht noch
mehr verfeinern. Er war absolut vornehm, kultiviert, gebildet. Es
gab da nichts hinzuzufügen, selbst vom heutigen Standpunkt aus.
Sie sprachen also zu einer Gesellschaft, die reich war, und eine
reiche Gesellschaft hat andere Probleme. Für eine reiche Gesell-
schaft ist „Genuß” unbedeutend, ist ein „Himmel” uninteressant.
Für eine arme Gesellschaft ist der Himmel äußerst wichtig. Wenn
die Gesellschaft schon im Himmel lebt, wird der Himmel unin-
teressant. Man darf ihnen also nicht mit so etwas kommen. Man
kann auf diese Weise keinen Drang wecken, etwas für das Para-
dies zu tun. Sie sind schon drin — und langweilen sich!
Buddha, Mahavir, Krishna reden also nicht vom Himmel. Sie
reden von der Freiheit. Sie reden nicht von einer angenehmen
Welt im Jenseits. Sie reden von einer transzendentalen Welt, wo
es weder Schmerz noch Genuß gibt. Der Himmel von Jesus hät-
te sie nicht gereizt. Sie waren schon darin.
Und zweitens ist für einen Reichen das wirkliche Problem die
Langeweile. Einem Armen muß man für die Zukunft Genuß ver-
sprechen. Für einen Armen ist Leiden das Problem. Dem Reichen
ist das Leiden kein Problem, dem Reichen ist Langeweile das Pro-
blem. Er findet alle Genüsse langweilig.
Mahavir, Buddha und Krishna haben alle drei diese Langewei-
le genutzt und gesagt: „Wenn ihr nichts unternehmt, werdet ihr
wieder und wieder geboren. Dies Rad dreht sich weiter. Vergeßt
nicht: Das gleiche Leben wird sich wiederholen. Der gleiche Sex,

16 0
Kapitel 6

der gleiche Reichtum, das gleiche Essen, die gleichen Paläste, wie-
der und wieder. Tausendundeinmal wirst du dich mit dem Rad
drehen."
Für einen reichen Menschen, der alle Genüsse kennengelernt
hat, ist das keine angenehme Aussicht, diese Wiederholung. Wie-
derholung ist sein Problem. Das ist sein Leiden. Er will etwas Neu-
es, und Mahavir und Buddha sagen: „Es gibt nichts Neues. Diese
Welt ist alt. Nichts ist neu unter dem Himmel. Alles ist uralt. Und
du hast von alledem schon früher gekostet und wirst immer wie-
der davon kosten. Du bist in einem Rad und drehst dich. Steig aus,
wage den Absprung von diesem Rad!”
Wenn man für den Reichen einen Trick finden kann, der sein
Gefühl der Langeweile verstärkt, dann ist das der einzige Weg,
ihn zur Meditation zu bewegen. Wenn man zu einem armen
Menschen zu Langeweile spricht, redet man sinnloses Zeug. Ein
armer Mensch hat nie Langeweile! Nie und nimmer. Nur ein Rei-
cher ist gelangweilt. Ein Armer ist nie gelangweilt: Er denkt im-
mer an die Zukunft. Etwas wird geschehen, und dann wird alles in
Ordnung sein. Der arme Mensch braucht ein Versprechen, aber
wenn die Verheißung noch sehr lange auf sich warten läßt, wird
sie bedeutungslos. Sie muß unmittelbar bevorstehen.
Jesus soll gesagt haben: „Noch zu meinen Lebzeiten, noch zu eu-
ren Lebzeiten werdet ihr das Himmelreich Gottes erblicken!” Die-
se Aussage verfolgt die Christenheit seit zweitausend Jahren wie ein
Gespenst, diese Worte von Jesus: „Noch in eurem Leben, sehr bald,
werdet ihr das Himmelreich Gottes erblicken!” Und bis heute ist
das Himmelreich Gottes noch nicht eingetreten; was also hat er ge-
meint? Und er hatte gesagt: „Die Welt wird bald enden, verliert
also keine Zeit! Die Zeit ist knapp.” Jesus hatte gesagt: „Die Zeit ist
sehr knapp. Es ist töricht, sie zu verschwenden. Der Untergang der
Welt steht unmittelbar bevor, und ihr werdet euch verantworten
müssen — bekehrt euch also!” Jesus schuf eine Atmosphäre der
Dringlichkeit mit Hilfe der Vorstellung von einem Leben. Er wuß-
te Bescheid, genauso gut wie Buddha und Mahavir. Was genau sie
wußten, wird nirgends gesagt. Bekannt ist nur, was für Tricks sie
sich ausdachten. Dies war ein Trick, um Unmittelbarkeit herzu-
stellen, Dringlichkeit, damit die Leute anfingen, etwas zu tun.

16 1
Das Buch der Geheimnisse

Indien dagegen war ein altes Land — und reich. Zukunftsver-


heißungen hätten keine Dringlichkeit erzeugt. Es gab nur einen
einzigen Weg, ein Gefühl der Dringlichkeit herzustellen, und das
war, noch mehr Langeweile zu erzeugen. Wenn ein Mensch das
Gefühl hat, daß er wieder und wieder geboren wird, wieder und
wieder, ad infinitum, ewig, kommt er sofort angelaufen und fragt:
„Wie — wie kann ich nur von diesem Rad erlöst werden? Das ist
einfach zu viel! Ich kann da nicht mehr weiter mitmachen, denn
alles, was es kennenzulernen gibt, habe ich satt. Wenn sich das
wiederholen soll, ist es ein Alptraum. Ich will das nicht noch mal
wiederholen. Ich will etwas Neues.” Buddha und Mahavir sagen
also: „Es gibt nichts Neues unter diesem Himmel. Alles ist alt und
wiederholt sich. Und ihr habt euch seit vielen, vielen Leben wie-
derholt, und ihr werdet euch noch viele, viele weitere Leben wie-
derholen. Hütet euch vor der Wiederholung. Hütet euch vor eu-
rer Langeweile und wagt den Sprung. ”
Der Trick ist ein anderer, aber der Zweck ist der gleiche: wage
den Sprung! Setze dich in Bewegung! Verwandle dich! Was im-
mer du bist, werde ein anderer als du bist.
Wenn wir religiöse Aussagen als Hilfsmittel, als Tricks verste-
hen, dann gibt es keinen Widerspruch mehr. — Dann meinen Je-
sus und Krishna, Mohammed und Mahavir, alle das gleiche. Sie
entwickeln andere Routen für andere Menschen, andere Metho-
den für andere Geister, andere Reize für andere Erwartungen.
Aber es sind keine Prinzipien, über die sich streiten und argu-
mentieren ließe; es sind Hilfsmittel, die genutzt, überwunden und
fortgeworfen werden müssen.

162
Liebe löst
(Sutras]

10. Während des Liebesspiels, süße Prinzessin, geh in der


Umarmung auf wie im immer währenden Leben.

11.Schließe die Türen deiner Sinne, wenn du das Krabbeln


einer Ameise spürst. Dann.

12 Sitzend auf einem Bett oder Kissen, laß dich schwerelos


werden, jenseits des Geistes

16 5
Das Buch der Geheimnisse

Der Mensch hat eine Mitte, aber er lebt nicht darin — er lebt
nicht im Zentrum. Das erzeugt eine innere Spannung, ständiges
Chaos, ständige Qual. Du bist nicht, wo du sein solltest; du bist
nicht richtig im Gleichgewicht. Du bist aus dem Gleichgewicht,
und dies Aus-dem-Gleichgewicht-Sein, dieses Ohne-Mitte-Sein,
ist die Basis aller geistigen Verspannungen. Wenn es zuviel wird,
wird man verrückt. Ein Verrückter ist einer, der völlig aus sich
selbst herausgerückt ist. Der erleuchtete Mensch ist genau das Ge-
genteil von einem Verrückten. Er ruht in seiner Mitte. Ihr seid da-
zwischen. Ihr seid nicht ganz aus euch gerückt, ver-rückt, und ihr
seid auch nicht in eurer Mitte. Ihr bewegt euch im Zwischenfeld.
Manchmal rückt ihr weit, weit weg, so daß ihr für Momente ver-
rückt seid. In der Wut, im Sex, in allem was euch zu weit von
euch selber wegführt, seid ihr für Momente verrückt. Dann ist
kein Unterschied zwischen euch und einem Verrückten. Der Un-
terschied ist nur, daß er ständig dort ist und ihr nur zeitweilig. Ihr
kommt wieder zurück.
Wenn du wütend bist, ist das Verrücktheit, nur keine perma-
nente. Qualitativ gibt es da keinen Unterschied, nur quantitativ.
Die Qualität ist gleich. Manchmal kommt ihr also an den Wahn-
sinn heran, und manchmal, wenn ihr ganz entspannt seid, total
entspannt, berührt ihr auch euer Zentrum. Das sind die seligen
Augenblicke. Es gibt sie. Darin seid ihr genau wie ein Buddha oder
Krishna, aber nur zeitweilig, momentan. Ihr bleibt nicht dort. Ja,
i m gleichen Moment, wo ihr wahrnehmt, daß ihr selig seid, seid
ihr schon wieder weiter. Es währt so kurz, daß die Seligkeit schon
vorbei ist, wenn ihr sie erkennt.
'
Wir schwanken ständig zwischen diesen beiden Polen, aber dies
Schwanken ist gefährlich. Dies Schwanken ist gefährlich, weil du
so kein Selbstbild von dir herstellen kannst, kein festes Selbstbild.
Du weißt nicht, wer du bist. Wenn du in dir ständig zwischen
Wahnsinn und Zentriertheit hin- und herschwankst, wenn dies
Schwanken nie aufhört, weißt du nicht, wer du bist — schwer zu
sagen. Darum bekommst du sogar Angst, wenn dir ein seliger Au-
genblick bevorsteht, und du möchtest dich irgendwo dazwischen
verankern.
Genau das meinen wir mit dem „Durchschnittsmenschen”: er

16 6
Kapitel 7

reicht in seiner Wut nie an den Wahnsinn heran, und rührt auch
nie an jene totale Freiheit, jene höchste Ekstase. Er weicht nie von
seinem festen Image ab. Der Durchschnittsmensch ist in Wirk-
lichkeit ein toter Mensch, zwischen diesen zwei Punkten. Darum
sind alle außergewöhnlichen Menschen - große Künstler, Maler,
Dichter - nicht normal. Sie sind sehr fließend. Manchmal rühren
sie an die Mitte, manchmal werden sie verrückt. Blitzschnell
wechseln sie von einem zum andern. Natürlich ist ihre Qual un-
geheuer, ihre Spannung enorm. Sie müssen zwischen zwei Wel-
. ten leben, sie verändern sich ständig. Darum haben sie das Gefühl,
keine Identität zu haben. Sie fühlen sich, wie Colin Wilson es aus-
drückt, als „Außenseiter”. In unserer Welt der Normalität sind sie
Außenseiter.
Es wird uns helfen, diese vier Typen zu definieren: zunächst
den Normalmenschen, der eine gefestigte, solide Identität hat, der
weiß, wer er ist - er ist Arzt, Ingenieur, Professor, ein frommer
Mensch usw. -, er weiß, wer er ist, und entfernt sich nie davon.
Er klebt ständig an seinem Selbstbild, an seinem Image. Dann
kommen die Menschen mit dem fließenden Selbstbild, die Dich-
ter, Künstler, Maler, Sänger. Sie wissen nicht, wer sie sind. Manch-
mal sind sie ganz normal, manchmal werden sie verrückt, manch-
mal rühren sie an die Ekstase eines Buddha. Drittens gibt es die,
die permanent wahnsinnig sind. Sie sind außer sich geraten und
kommen nie mehr nach Hause zurück. Sie wissen nicht einmal
mehr, daß sie ein Zuhause haben. Und viertens die, die zu Hause
angelangt sind ... Buddha, Christus, Krishna.
Diese vierte Kategorie - die „Angekommenen” - sind die völ-
lig entspannten Menschen. In ihrem Bewußtsein gibt es keine
Spannung mehr, keine Anstrengung, kein Verlangen. Kurz gesagt,
es gibt kein „Werden” mehr. Sie wollen nichts mehr werden. Sie
sind, sie waren ... aber sie werden nicht! Und sie sind mit ihrem
Dasein glücklich. Was immer sie sind, sie sind es zufrieden. Sie
wollen nichts daran ändern, wollen nirgendwo hin. Sie haben kei-
ne Zukunft. Dieser jetzige Augenblick ist für sie Ewigkeit. Ohne
Sehnsucht, ohne Wunsch. Das heißt nun nicht, daß ein Buddha
nicht ißt oder ein Buddha nicht schläft. Er ißt, er schläft - aber das
sind keine Wünsche. Ein Buddha projiziert diese Wünsche nicht:

16 7
Das Buch der Geheimnisse

Er ißt nicht morgen, er ißt heute. Vergeßt dies nicht: Ihr eßt im-
mer erst morgen, in der Zukunft, in der Vergangenheit, gestern.
Ganz selten nur eßt ihr heute ... Während ihr eßt, wandern die
Gedanken woanders hin. Während ihr einzuschlafen versucht,
denkt ihr ans morgige Essen oder erinnert euch an Vergangenes.
Ein Buddha ißt heute. Diesen Moment lebt er. Er projiziert
nicht sein Leben in die Zukunft: Es gibt für ihn keine; denn die
Zukunft kommt als Gegenwart, immer heute, immer jetzt.
Buddha ißt auch, aber nie im Geiste, macht euch das klar. Es gibt
für ihn kein zerebrales Essen. Ihr eßt ständig im Hirn. Das ist ab-
surd, denn das Hirn ist nicht fürs Essen gedacht. All eure Zentren
sind durcheinander. Euer gesamtes Körper-Geist-Arrangement ist
chaotisch, ist verrückt.
Ein Buddha ißt, aber er denkt nie ans Essen. Und das gilt für al-
les. Ein Buddha ist so gewöhnlich wie ihr, während er ißt. Glaubt
nicht, daß ein Buddha nicht ißt, oder in der heißen Sonne nicht
schwitzt, oder im kalten Wind nicht friert. Er fühlt es, aber fühlt
es immer nur gegenwärtig, niemals zukünftig. Es gibt kein Wer-
den. Wo kein Werden ist, ist keine Spannung. Das müßt ihr ganz
klar verstehen. Wenn es kein Werden gibt, wie kann es da ir-
gendeine Spannung geben? Spannung heißt, daß du etwas ande-
res sein möchtest als du bist.
Du bist A und möchtest B sein. Du bist arm und möchtest reich
sein; du bist häßlich und möchtest schön sein, oder du bist dumm
und möchtest weise sein. Was immer du dir wünschst, was im-
mer dein Verlangen ist, die Form bleibt gleich: A will zu B wer-
den. Was immer du bist, du bist damit nicht zufrieden. Um zu-
frieden zu sein, ist etwas anderes nötig: dies ist das feste Muster
der Wunschhaltung. Wenn du es bekommst, sagt der Verstand so-
fort, daß es nicht genügt, daß etwas anderes nötig ist. Das Denken
eilt immer weiter. Was immer du bekommst, wird wertlos; im
Augenblick, wo du es bekommst, ist es wertlos. Das ist Verlangen.
Buddha hat es Trishna genannt, „Werden”. Ihr eilt von einem Le-
ben zum andern weiter, von einer Welt zur andern, und das hört
nie auf. Es kann so weitergehen, ad infinitum. Da gibt es kein
Ende. Das Verlangen, das Wünschen kennt kein Ende. Aber wenn
es kein Werden mehr gibt, wenn du dich total so akzeptierst, wie

168
Kapite1 7

du bist — häßlich oder schön, weise oder dumm, reich oder arm,
ganz gleich wie du bist — wenn du es in seiner Totalität akzeptierst,
hört das Werden auf. Dann fällt alle Spannung ab. Dann kann
Spannung nicht mehr existieren. Dann gibt es keine Qual mehr,
du fühlst dich wohl, du hast keine Sorgen mehr. Dieser nicht wer-
dende Geist ist Geist, der sich im Selbst gesammelt hat.
Genau am entgegengesetzten Pol befindet sich der Wahnsinni-
ge. Er hat kein Sein, er ist nur noch ein Werden. Er hat vergessen,
wer er ist. Das A ist völlig vergessen, und er versucht, B zu sein. Er
weiß nicht mehr, wer er ist, er kennt nur noch das gewünschte
Ziel. Er lebt nicht hier und jetzt: er lebt woanders. Darum kommt
er uns verrückt vor, wahnsinnig, denn wir leben in dieser Welt,
und er lebt in seiner Traumwelt. Er gehört nicht eurer Welt an, er
lebt woanders. Er hat seine Wirklichkeit, hier und jetzt, vollkom-
men vergessen. Und indem er sich selbst vergessen hat, hat er die
Welt um sich herum vergessen, die wirklich ist. Er lebt in einer
unwirklichen Welt. Für ihn ist das die einzige Wirklichkeit.
Ein Buddha lebt ständig jetzt im Sein und der Wahnsinnige ge-
nau umgekehrt; er lebt nie im Hier und Jetzt, im Sein, sondern
immer im Werden — irgendwo am Horizont. Dies sind die bei-
den polaren Gegensätze.
Bedenkt also, daß der Wahnsinnige nicht euer Gegenteil ist —
er ist das Gegenteil eines Buddha. Und bedenkt auch, daß der
Buddha nicht euer Gegensatz ist, sondern der des Wahnsinnigen.
Ihr seid dazwischen. Ihr seid beides, vermischt. Ihr habt Wahn-
sinn, und ihr habt Augenblicke der Erleuchtung, aber beides ver-
mengt.
Manchmal passiert es, daß ihr von selbst einen Blick in das Zen-
trum erhascht, und zwar wenn ihr entspannt seid. Es gibt Mo-
mente, wo ihr euch entspannt. Du liebst einen Menschen: Für ei-
nige Augenblicke, für einen einzigen Augenblick ist der geliebte
Mensch bei dir. Es war ein langer Wunsch, eine lange Mühe, und
schließlich ist der geliebte Mensch mit dir. Einen Augenblick lang
tritt der Geist ab. Du hast dich lange darum bemüht, mit dem Ge-
liebten zusammenzusein. Deine Gedanken haben sich gesehnt
und gesehnt und gesehnt, du hast ständig und ständig an den Ge-
liebten gedacht. Jetzt ist der geliebte Mensch da, und plötzlich

169
Das Buch der Geheimnisse

kann der Kopf nicht mehr denken. Der alte Vorgang kann nicht
mehr weitergehen. Du hast dich nach dem Geliebten gesehnt,
nun ist er da, und jetzt bleibt der Geist einfach stehen.
In dem Moment, wo der Geliebte da ist, hört das Sehnen auf.
Du bist entspannt. Plötzlich bist du auf dich zurückgeworfen. Und
solange der geliebte Mensch dich nicht auf dich selbst zurückwirft,
ist es keine Liebe. Solange du in der Gegenwart des Geliebten
nicht du selbst wirst, ist es nicht Liebe. Solange dein Geist in der
Gegenwart des Geliebten nicht völlig zu arbeiten aufhört, ist es
nicht Liebe.
Manchmal geschieht es, daß der Geist stillsteht und alles Wün-
g
schen für einen Au enblick fort ist. Liebe ist wunschlos. Versucht,
das zu verstehen: Ihr mögt nach Liebe verlangen, aber Liebe selbst
ist ohne Verlangen. Wenn die Liebe kommt, ist kein Verlangen
da. Der Geist ist still, ruhig, entspannt, kein Werden mehr, kein
Ziel.
Aber dies geschieht nur für wenige Augenblicke, wenn über-
haupt. Wenn du wirklich je geliebt hast, dann war es ein paar Au-
genblicke lang so. Es kommt als Schock. Der Geist funktioniert
nicht mehr, weil seine ganze Funktion nutzlos und absurd wird.
Derjenige, nach dem du dich gesehnt hast, ist da, und nun weißt
du nicht mehr, was du tun sollst.
Ein paar Augenblicke steht der ganze Mechanismus still. Du
bist völlig in dir entspannt. Du hast dein Sein, deine Mitte berührt,
und fühlst dich an der Quelle allen Wohlbefindens. Glückselig-
keit erfüllt dich: Ein Duft hüllt dich ein. Plötzlich bist du nicht
mehr der Mensch, der du warst.
Darum verändert die Liebe so sehr. Wenn du hebst, kannst du
es nicht verbergen. Das ist unmöglich. Wenn du liebst, sieht man
dir das an. Deine Augen, dein Gesicht, dein Gang, die Art wie du
sitzt, alles verrät es, weil du nicht mehr der gleiche bist. Kein
Wünschen mehr. Für ein paar Augenblicke bist du ein Buddha.
Das kann nicht lange währen, weil es nur ein Schock ist. Der Geist
findet augenblicklich Schliche und Vorwände, um wieder denken
zu können. Zum Beispiel mag der Geist zu denken anfangen, daß
du nun dein Ziel erreicht hast, deine Liebe erreicht hast ... was
nun, was sollst du jetzt machen? Dann fängt das Spekulieren über

170
Kapitel 7

die Zukunft an, das Argumentieren geht los. Du denkst: „Heute


habe ich den geliebten Menschen gefunden, aber wird er auch
morgen noch da sein?” Der Geist hat seine Arbeit wieder aufge-
nommen. Und sobald der Geist wieder zu arbeiten anfängt, bist
du wieder ins Werden geraten.
Manchmal hört man auch ohne Liebe, einfach aus Müdigkeit
und Erschöpfung, zu wünschen auf und wird auf sich selbst
zurückgeworfen. Wenn du nicht von dir selbst entfernt bist, bist
du notgedrungen bei deinem Selbst, ganz gleich aus welchem
Grund. Wenn man total müde und erschöpft ist, wenn man nicht
einmal mehr denken oder wünschen mag, wenn man ohne jede
Hoffnung frustriert ist, dann fühlt man sich plötzlich zu Hause.
Jetzt geht es nirgends mehr hin. Alle Tore sind verschlossen, die
Hoffnung ist fort und mit ihr das Wünschen, mit ihr das Werden.
Es wird nicht lange dauern, weil dein Geist seine Mechanik hat. Er
kann sich für einige Augenblicke abschalten, aber dann wird er
plötzlich wieder lebendig, weil du ohne Hoffnung nicht existie-
ren kannst: Irgendeine Hoffnung mußt du finden. Du kannst
nicht ohne Wunsch leben. Und weil du nicht weißt, wie du ohne
Wunsch existieren kannst, mußt du dir einen erfinden.
In jeder beliebigen Situation, bei der dein Geist plötzlich aus-
setzt, bist du in deinem Zentrum. Du machst Urlaub im Wald
oder in den Bergen oder am Meer: Plötzlich funktioniert die
Denkmaschine nicht mehr. Das Büro, die Ehefrau, der Ehemann
- alles weg. Plötzlich ist eine völlig neue Situation da, und der
Geist braucht Zeit, um sich neu zu orientieren, um sich anzu-
passen. Er ist aus dem Trott gekommen. Die Situation ist so neu,
daß du dich losläßt, und plötzlich bist du in deinem Zentrum. In
solchen Momenten wirst du zum Buddha: aber es sind nur Mo-
mente. Sie werden dich hinterher verfolgen, und du möchtest sie
gerne wieder herstellen, immer von neuem. Aber vergiß nicht:
Es geschah spontan, du kannst es also nicht wiederholen. Und je
mehr du es versuchst, desto unmöglicher wird es. Das ergeht
jedem so. Du warst verliebt, und bei der ersten Begegnung setzte
dein Geist plötzlich aus. Dann habt ihr geheiratet. Warum? Um
diese wunderbaren Augenblicke immer wieder zu erleben. Aber
als sie geschahen, da wart ihr nicht verheiratet, und in der Ehe

171
Das Buch der Geheimnisse

können sie nicht passieren, weil die ganze Situation jetzt anders
ist. Wenn zwei Menschen sich zum erstenmal begegnen, ist die
ganze Situation neu. Der Kopf findet sich nicht zurecht, so sehr
sind sie überwältigt, so sehr von der neuen Erfahrung erfüllt, von
dem neuen Leben, dem unerwarteten Blühen! Aber gleich
danach fängt der Kopf zu arbeiten an, und beide denken: „Was
für ein herrlicher Augenblick! Den möchte ich jeden Tag wie-
derholen, also sollte ich heiraten.” Der Kopf zerstört alles. Ehe
heißt Kopf. Liebe ist spontan: Ehe ist Kalkül. Heiraten ist etwas
Mathematisches. Jetzt wartet ihr auf diese Augenblicke, aber sie
kommen nie wieder. Darum ist jeder verheiratete Mann, jede
verheiratete Frau frustriert, denn sie warten auf Dinge, die früher
tatsächlich geschehen sind. Warum geschehen sie nicht mehr?
Sie können es nicht, weil die ganze Situation dafür fehlt. Jetzt
seid ihr euch nicht mehr neu; jetzt ist keine Spontaneität mehr
da, jetzt ist die Liebe Routine. Jetzt ist alles Erwartung und For-
derung. Jetzt ist Liebe Pflicht, kein Spaß mehr. Anfangs war sie
Spaß. Jetzt ist sie Pflicht. Und Pflicht kann euch nicht das glei-
che Glücksgefühl geben wie Spaß. Unmöglich! Und das ganze
Ding hat der Kopf ausgeheckt. Jetzt erwartet ihr immer etwas,
und je mehr ihr erwartet, desto geringer die Chance, daß es pas-
siert.
Das passiert überall, nicht nur in der Ehe. Du gehst zu einem
Guru, und die Erfahrung ist neu für dich. Seine Präsenz, seine
Worte, seine Art zu leben ist neu. Plötzlich steht dein Denken still.
Und dann denkst du: „Das ist der Mann für mich, da muß ich je-
den Tag hin.” Dann bist du mit ihm verheiratet. Nach und nach
setzt die Frustration ein, weil du eine Pflicht, eine Routine daraus
gemacht hast. Jetzt kommen diese Erfahrungen nicht mehr, und
du glaubst, daß dieser Mann dich betrogen hat oder daß du ir-
gendwie zum Narren gehalten worden bist. Nun denkst du: „Die
erste Erfahrung war Halluzination, ich muß hypnotisiert gewesen
sein oder so was ähnliches. Es war nicht echt.” Es war echt. Dein
routiniertes Denken macht es unecht. Und nun willst du es her-
beizwingen; aber als es das erstemal geschah, hattest du keine Er-
wartungen. Du warst ohne alle Erwartungen gekommen. Du
warst einfach offen für alles.

172
Kapitel 7

Jetzt kommst du jeden Tag mit Erwartungen, mit festen Vor-


stellungen her. So kann es nicht passieren. Es passiert nur bei einer
offenen Einstellung: Es passiert immer nur in einer neuen Situa-
tion. Was nicht heißt, daß du deine Situation täglich andern mußt;
es heißt nur, daß du deinem Kopf nicht erlauben darfst, ein Mu-
ster zu schaffen. Dann ist deine Frau jeden Tag neu, dein Mann
jeden Tag neu. Aber erlaube deinem Geist nicht, ein Muster aus
Erwartungen zu weben; erlaube deinem Geist nicht, in die Zu-
kunft zu wandern. Dann ist dein Guru jeden Tag neu, dein
Freund jeden Tag neu. Und auf der Welt ist immer alles neu,
außer dem Kopf. Der Kopf ist das einzig Alte. Er ist immer alt.
Die Sonne geht jeden Tag neu auf. Es ist nicht die alte Sonne. Der
Mond ist neu; der Tag, die Nacht, die Blumen, die Bäume, alles
ist neu, nur nicht euer Kopf. Euer Kopf ist immer alt — denkt dar-
an: immer — weil der Kopf die Vergangenheit braucht, die akku-
mulierte Erfahrung, die projizierte Erfahrung. Der Kopf braucht
Vergangenheit und das Leben Gegenwart. Das Leben ist immer
selig, der Kopf nie. Wann immer du deinen Kopf zuläßt, geht das
Elend los.
Solche spontanen Momente wiederholen sich nicht. Was also
tun? Wie sich ständig entspannen? Diese drei Sutras geben Ant-
wort: drei Techniken, die sich mit dem Wohlbefinden, die sich
mit der Entspannung der Nerven beschäftigen.
Wie im Sein bleiben? Wie nicht ins Werden abwandern?
Schwer, mühsam, aber diese Techniken können helfen. Diese
Techniken werden dich auf dich selbst zurückwerfen.

Die erste Technik:

Während des Liebesspiels, süße Prinzessin, geh in der Umarmung


auf wie im immerwährenden Leben.

Während du geliebt wirst, süße Prinzessin, geh in das Lieben


ein wie in immerwährendes Leben ... Shiva fängt mit der Liebe
an. Diese erste Entspannungs-Technik hat mit Liebe zu tun, weil
die Liebe euch in eurer Erfahrung das nächste ist; da entspannt ihr
euch am ehesten. Wenn ihr nicht lieben könnt, könnt ihr auch

173
Das Buch der Geheimnisse

nicht entspannen. Wenn ihr euch entspannen könnt, wird euer


Leben von Liebe erfüllt sein.
Warum kann ein verkrampfter Mensch nicht lieben? Weil er
i mmer irgendwelche Absichten hat. Er kann zwar Geld verdie-
nen, aber nicht lieben, weil Liebe keinen Zweck erfüllt. Liebe ist
keine Ware. Man kann sie nicht horten, nicht auf sein Konto le-
gen, man kann damit nicht sein Ego aufbauen. Liebe ist wirklich
die absurdeste Beschäftigung überhaupt. Sie ist absolut absichts-
los, will nichts außer sich selbst. Sie existiert um ihretwillen, und
für nichts sonst.
Ihr verdient Geldfür etwas; es ist ein Mittel zum Zweck. Ihr
baut ein Haus fürjemanden, der einmal darin wohnen soll — es ist
ein Mittel. Liebe ist kein Mittel. Wofür liebt ihr? Zu welchem
Zweck? Liebe ist ein Selbstzweck. Ein Mensch, der kalkuliert, der
logisch denkt, der nur Absichten kennt, kann daher nicht lieben;
und er ist immer angespannt, weil sich jede Absicht immer erst
in Zukunft erfüllen kann, niemals hier und jetzt. Du baust ein
Haus: Du kannst nicht jetzt gleich darin wohnen. Erst mußt du
es bauen. Wohnen kannst du darin erst in der Zukunft, nicht jetzt.
Du verdienst Geld: Ein Vermögen hast du erst in der Zukunft,
nicht jetzt. Mittel mußt du jetzt benutzen, Ziele liegen in der Zu-
kunft.
Liebe ist immer hier. Da gibt es keine Zukunft. Darum sind sich
Liebe und Meditation so nahe. Und darum sind sich auch Tod und
Meditation so nahe. Denn auch der Tod ist immer hier und jetzt.
Er kann nie in der Zukunft eintreten. Kannst du in der Zukunft
sterben? Sterben kannst du nur jetzt. Niemand ist je in der Zu-
kunft gestorben. Wie kann man in der Zukunft sterben? Oder in
der Vergangenheit? Die Vergangenheit ist vorbei. Sie ist nicht
mehr, also kannst du auch in ihr nicht sterben. Die Zukunft ist
noch nicht, wie also könnte man in ihr sterben?
Der Tod geschieht immer nur in der Gegenwart. Tod, Liebe,
Meditation — sie alle geschehen in der Gegenwart. Wenn du also
Angst vor dem Tod hast, kannst du nicht lieben. Wenn du Angst
vor der Liebe hast, kannst du nicht meditieren; und wenn du
Angst vor dem Meditieren hast, wird dein Leben nutzlos sein —
nutzlos nicht im Sinne von Absichten, sondern nutzlos in dem

174
Kapite1 7

Sinne, daß du niemals sein wahres Glück erfahren wirst. Du wirst


umsonst gelebt haben.
Ihr mögt es seltsam finden, daß diese drei zusammenhängen:
Liebe, Meditation und Tod. Es ist nicht seltsam. Es sind sehr ver-
wandte Erfahrungen. Wenn du also in eine davon hineingehen
kannst, kannst du auch in die beiden anderen hineingehen. Shiva
beginnt mit Liebe. Er sagt: „Während des Liebesspiels, süße Prin-
zessin, geh in der Umarmung auf wie im immerwährenden Le-
ben.”
Was ist gemeint? Vieles. Zunächst: Während ihr euch liebt, hat
die Vergangenheit aufgehört, und die Zukunft ist noch nicht. Ihr
bewegt euch in der Dimension der Gegenwart. Ihr seid im Jetzt.
Habt ihr je einen Menschen geliebt? Wenn ja, dann wißt ihr auch,
daß dann der Kopf nicht anwesend ist. Darum sagen die soge-
nannten klugen Leute, daß Liebe blind macht, kopflos, verrückt.
Sie haben im Grunde recht. Liebende sind blind, denn sie haben
keine Augen für die Zukunft, und sie können nicht berechnen,
was sie tun. Sie sind blind: Sie können nicht die Vergangenheit se-
hen. Was passiert, wenn Menschen lieben? Sie leben ganz im Hier
und Jetzt, ohne an Vergangenheit oder Zukunft zu denken, ohne
an die Konsequenzen zu denken. Darum sagt man, sie seien blind,
und sie sind es auch! Sie sind blind für alle, die kalkulieren — und
Seher für alle, die nicht kalkulieren. Wer nicht kalkuliert, kann die
Liebe als das wirkliche Auge erkennen, als die wahre Sehweise.
Das erste also: Im Augenblick der Liebe hören Vergangenheit
und Zukunft auf. Und zweitens gibt es hier eine sehr delikate Sa-
che zu verstehen: Kann man, wenn es weder Vergangenheit noch
Zukunft gibt, diesen Augenblick noch „Gegenwart” nennen? Ge-
genwart gibt es nur zwischen den beiden, zwischen Vergangen-
heit und Zukunft. Sie ist relativ. Wenn es weder Vergangenheit
noch Zukunft gibt, was für einen Sinn hat es dann, von Gegen-
wart zu sprechen? Es wird sinnlos. Darum spricht Shiva nicht von
„Gegenwart”, er sagt: „Immerwährendes Leben.” Er meint Ewig-
keit — daß du in die Ewigkeit eingehen sollst.
Wir teilen die Zeit in drei Abschnitte auf — Vergangenheit, Ge-
genwart, Zukunft. Diese Einteilung ist verkehrt, absolut verkehrt.
Zeit besteht in Wirklichkeit nur aus Vergangenheit und Zukunft.

175
Das Buch der Geheimnisse

Die Gegenwart ist nicht Teil der Zeit. Die Gegenwart ist Teil der
Ewigkeit. Alles Vergangene ist Zeit und alles, was kommen wird,
ist Zelt. Das, was ist, ist nicht Zelt; denn es geht nie vorbei. Es ist
immer da. Das Jetzt ist immer hier. Es ist immer hier! Dieses Jetzt
ist ewig.
Wenn du von der Vergangenheit her kommst, gelangst du nie
in die Gegenwart. Aus der Vergangenheit geht der Weg immer
nur in die "Zukunft. Es kommt nie ein Augenblick, der gegenwär-
tig ist. Aus der Vergangenheit gehst du immer nur in die Zukunft.
Aus der Gegenwart kannst du niemals in die Zukunft gehen. Aus
der Gegenwart gehst du tiefer und tiefer, mehr und mehr in Ge-
genwart hinein. Das ist mit„ immerwährendes Leben" gemeint.
Wir können es auch so sagen: Aus der Vergangenheit zur Zu-
kunft — das ist Zeit. Zeit heißt, daß ihr euch auf einer Ebene be-
wegt, auf einer geraden Linie; wir können auch sagen: horizon-
tal. Sobald man in der Gegenwart ist, verändert sich die Dimen-
sion: man bewegt sich vertikal — aufwärts oder abwärts, entweder
in die Höhe oder in die Tiefe, aber nie horizontal. Ein Buddha,
ein Shiva lebt in der Ewigkeit, nicht in der Zeit. Jesus wurde ge-
fragt: „Was wird in deinem Reich Gottes passieren?” Der Mann,
der diese Frage stellte, wollte nichts über die Zeit wissen. Er woll-
te wissen, was aus seinen Wünschen würde, ob sie wohl erfüllt
würden. Er wollte wissen, ob es da ein ewiges Leben oder einen
Tod geben würde, ob es dort auch Elend oder Vorgesetzte und
Untergebene geben würde ... kurz er wollte Dinge wissen, die
von dieser Welt waren. Und Jesus antwortete – seine Antwort er-
innert eher an einen Zen-Mönch -:„Es wird dort keine Zeit mehr
geben."
Der Mann, der diese Antwort bekam, wird sie kaum begriffen
haben. „Es wird dort keine Zeit mehr geben” — das ist alles, was
Jesus dazu sagte. Es wird dort keine Zeit mehr geben, weil die Zeit
horizontal ist, und das Reich Gottes ist vertikal: es ist ewig. Es ist
immer hier! Du brauchst dich nur aus der Zeit fortzubegeben, um
es zu betreten.
Liebe ist also die erste Tür. Durch sie kannst du die Zeit verlas-
sen. Und darum willjeder geliebt werden, will jeder lieben. Und
kein Mensch weiß, warum die Liebe so wichtig ist, warum die

17 6
Kapitel 7

Sehnsucht nach Liebe so tief ist. Und solange du dies nicht richtig
verstehst, kannst du weder lieben noch geliebt werden, denn die
Liebe ist eines der tiefsten Dinge auf dieser Erde. Wir glauben im-
mer, jeder wäre fähig zu lieben — so wie er ist. Das ist nicht der
Fall: Es ist nicht so. Deswegen seid ihr so frustriert. Liebe ist eine
ganz andere Dimension. Wenn ihr einen Menschen in der Di-
mension der Zeit lieben wollt, ist es vergebliche Liebesmüh. In der
Zeit ist Liebe nicht möglich.
Mir fällt eine Anekdote ein. Meera war voller Liebe für Krish-
na. Sie war eine verheiratete Frau, die Gemahlin eines Fürsten.
Der Fürst wurde eifersüchtig auf Krishna. Krishna gab es nicht
mehr. Krishna war gar nicht mehr gegenwärtig, war kein physi-
scher Körper. Zwischen der physischen Existenz von Krishna und
der physischen Existenz von Meera lagen fünftausend Jahre! Wie
konnte Meera also wirkliche Liebe für Krishna empfinden? Der
Zeitabstand war etwas groß ...
Eines Tages fragte der Fürst seine Meera, fragte ihr Mann sie:
„Du redest immer von deiner Liebe, du tanzt und singst immer
um Krishna herum, aber wo ist er? In wen bist du denn so ver-
liebt? Mit wem redest du die ganze Zeit?” Meera redete nämlich
mit Krishna, sang und lachte, stritt sich sogar mit ihm. Sie erschien
wie eine Verrückte. In unseren Augen war sie es. Der Fürst sagte:
„Bist du verrückt geworden? Wo ist dein Krishna? Wen liebst du?
Mit wem unterhältst du dich? Und ich bin hieb und mich hast du
ganz vergessen.” Meera sagte: „Krishna ist hier du nicht: denn
Krishna ist ewig, du nicht. Er wird immer hier sein, er war immer
hier, er ist hier. Du wirst nicht hier sein, du warst nie hier, nicht
einen einzigen Tag warst du hier. Du wirst nicht einen Tag hier
sein. Wie kann ich also glauben, daß es dich zwischen diesen
Nicht-Existenzen geben soll? Wie ist eine Existenz zwischen zwei
Nicht-Existenzen möglich?”
Der Fürst ist in der Zeit, aber Krishna ist in der Ewigkeit. Man
kann also dem Fürsten physisch nahe sein, aber die Entfernung ist
trotzdem unüberwindbar. Du wirst weit von ihm entfernt sein.
Du magst zeitlich sehr, sehr weit von Krishna entfernt sein, aber
du kannst ihm nahe sein — nur in einer ganz anderen Dimension
natürlich.

17 7
Das Buch der Geheimnisse

Ich sehe geradeaus und sehe vor mir eine Wand: ich bewege
meine Augen weiter, und da ist ein Himmel. Wenn ihr in der Di-
mension der Zeit seht, ist immer eine Wand da. Wenn ihr über
die Zeit hinaus seht, ist da ein offener Himmel — unendlich. Lie-
be öffnet die Unendlichkeit, das Immerwährende der Existenz.
Wer also je geliebt hat, für den kann Liebe zur Meditationstech-
nik werden. Und genau dies ist die Technik: „Während du geliebt
wirst, süße Prinzessin, gehe in der Umarmung auf wie im im-
merwährenden Leben.”
Bleibe bei der Liebe nicht abseits — draußen. Werde zum Lie-
ben, und gehe in die Ewigkeit ein. Wenn du jemanden liebst, bist
du dann noch als der Liebende da? Wenn ja, dann bist du in der
Zeit, und die Liebe ist unecht, nur pseudo. Wenn du immer noch 1

da bist und sagen kannst, „Ich bin”, dann mögt ihr euch zwar kör-
perlich nahe sein, aber spirituell seid ihr meilenweit voneinander
entfernt.
Wenn du liebst, darfst du nicht sein, sondern es darf nur Liebe
da sein, nur das Lieben selbst. Werdet zum Lieben. Wenn du den
Geliebten oder die Geliebte umarmst, werde zur Umarmung.
Wenn du küßt, sei weder Küssender noch Geküßter. Werde zum
Kuß. Vergiß das Ego vollkommen: Löse es im Liebesakt auf. Geh
so tief in den Akt hinein, daß der Agierende nicht mehr ist. Und
wer nicht im Lieben aufgehen kann, der kann noch weniger im
Essen oder Laufen aufgehen — weil die Liebe der einfachste Weg
ist, das Ego aufzulösen. Darum können Egoisten nicht lieben. Sie
mögen davon reden; sie mögen davon singen; sie mögen darüber
schreiben; aber sie können nicht leben. Das Ego kann nicht he-
ben!
Shiva sagt: „Werde zum Lieben. Werde in der Umarmung zur
Umarmung, werde zum Kuß. Vergiß dich so total, daß du sagen
kannst:,Ich bin nicht mehr, nur noch die Liebe ist. ` Dann schlägt
nicht mehr dein Herz, sondern die Liebe. Dann kreist nicht mehr
das Blut in den Adern: Liebe kreist in deinen Adern. Und nicht
mehr die Augen sehen: Die Liebe sieht. Dann strecken sich nicht
mehr die Hände zur Berührung aus: Die Liebe sucht die
Berührung.
Werde zur Liebe und geh ein in das immerwährende Leben.

178
Kapitel 7

Die Liebe verändert plötzlich deine Dimension. Du wirst aus der


Zeit hinausgeworfen und siehst dich der Ewigkeit gegenüber. Lie-
be kann zu einer riefen Meditation werden — zur tiefsten über-
haupt. Liebende können manchmal erfahren, was Heilige nie er-
fahren haben. Und Liebende haben jenes Zentrum berührt, das
viele Yogis umsonst gesucht haben. Aber es wird nur ein schnel-
les Aufleuchten sein, es sei denn, du transformierst diese Liebe zu
Meditation. Tantra bedeutet dies: die Transformation der Liebe
zu Meditation. Und jetzt könnt ihr verstehen, warum Tantra so
viel von Liebe spricht. Warum? Weil Liebe die einfachste, die
natürliche Tür ist, durch die man diese Welt transzendieren kann,
die horizontale Dimension.
Seht euch Shiva mit seiner Gemahlin Devi an. Seht sie euch an!
Sie scheinen nicht zwei zu sein, sie sind eins. Ihre Vereinigung ist
so tief, daß sie sogar in Symbolen ausgedrückt wurde. Wir alle
kennen das Shivalinga. Es ist ein phallisches Symbol — Shivas Ge-
schlechtsorgan. Aber es steht nicht für sich. Es steht auf Devis Va-
gina.
Die Hindus der alten Zeit waren sehr kühn. Wer heute ein Shi-
vahnga sieht, denkt nicht mehr daran, daß es ein phallisches Sym-
bol ist. Wir haben es vergessen. Wir haben es völlig zu verdrängen
versucht.
C. G. Jung erinnert sich in seiner Autobiographie, in seinen Me-
moiren, an einen sehr schönen und witzigen Vorfall. Auf seiner
Indienreise kam er auch nach Konark, und im Tempel von Ko-
nark gab es viele, viele Shivalingas, lauter phallische Symbole. Der
Pundit, der ihn herumführte, erklärte ihm alles — nur nicht das
Shivahnga. Und es gab davon so viele, daß es schwierig war, sie zu
übersehen. Jung wußte genau Bescheid, aber nur um den Pundit
zu necken, fragte er immer wieder: „Und was ist das?” Bis ihm
schließlich der Pundit ins Ohr flüsterte: „Bitte fragen Sie mich
nicht hier vor allen Leuten, ich will Ihnen das später erklären. Es
ist etwas Privates. ”
Jung muß innerlich gelacht haben: das sind die Hindus von
heute! Als sie dann draußen waren, näherte sich ihm der Pundit
und sagte: „Es war nicht gut von Ihnen, vor den anderen zu fra-
gen. Aber ich will es Ihnen verraten. Es ist ein Geheimnis.” Und

17 9
Das Buch der Geheimnisse

dann flüsterte er Jung ins Ohr: „Das sind unsere privaten Teile.”
Als Jung zurückkam, traf er einen großen Gelehrten, einen
großen Kenner der östlichen Weltanschauung, der Mythologie
und Philosophie des Orients - Heinrich Zimmer. Er erzählte
Zimmer diese Anekdote. Zimmer gehört zu den begabtesten Gei-
stern, die je versuchten, in das indische Denken einzudringen. Er
war ein Liebhaber Indiens und der indischen Denkungsart, der
asiatischen, nicht-logischen, mystischen Weltanschauung. Als er
dies von Jung hörte, lachte er und sagte: „Das ist endlich mal etwas
anderes. Ich habe immer nur von großen Indern gehört - Bud-
dha, Krishna, Mahavir. Was Sie mir erzählen, handelt zur Ab-
wechslung mal nicht von, den großen Indern, sondern einfach von
Indern.”
Liebe ist für Shiva das große Tor. Und für ihn ist Sex nichts Ver-
dammungswürdiges. Für ihn ist Sex der Same und Liebe die Blü-
te. Wer den Samen verdammt, verdammt auch die Blüte. Sex
kann zu Liebe werden. Wenn er nicht zu Liebe wird, ist er ver-
krüppelt. Verdammt seine Verkrüppelung, aber nicht den Sex
selbst. Er muß zur Liebe aufblühen. Sex muß zu Liebe werden.
Wenn es nicht geschieht, dann liegt es nicht am Sex, dann hegt es
an euch.
Sex darf nicht Sex bleiben; das ist die Lehre von Tantra. Er muß
zu Liebe verwandelt werden. Und Liebe darf auch nicht Liebe
bleiben. Sie muß zu Licht verwandelt werden, zu meditativer Er-
fahrung, zum letzten, höchsten, mystischen Gipfel. Wie kann man
die Liebe verwandeln? Sei der Akt, und vergiß den Agierenden.
Wenn du liebst, sei die Liebe - einfach Liebe. Dann ist es nicht
deine Liebe oder meine Liebe oder die Liebe von sonst jeman-
dem. Es ist einfach Liebe. Wenn du nicht da bist, wenn du der ur-
sprünglichen Quelle oder Strömung ausgeliefert bist und dann
liebst, dann bist nicht du es, der hebt. Wenn die Liebe dich ver-
schlungen hat, bist du verschwunden. Du bist zu reiner, strömen-
der Energie geworden.
D. fl. Lawrence, einer der schöpferischsten Menschen dieses
Zeitalters, war - ob er es wußte oder nicht - ein Adept des Tan-
tra. Er wurde im Westen völlig verurteilt. Seine Bücher wurden
verboten. Es gab viele Gerichtsverfahren, nur weil er gesagt hatte:

180
Kapitel 7

„Sexenergie ist die einzige Energie. Und wenn man sie verdammt
und verdrängt, wendet man sich gegen das Universum, und dann
wird man nie die höhere Blüte dieser Energie kennenlernen kön-
nen. Und wenn sie unterdrückt wird, wird sie häßlich, und dies
ist der Teufelskreis.”
Priester, Moralisten, sogenannte religiöse Menschen, Päpste,
Shankaracharyas und dergleichen, verdammen immerzu den Sex.
Sie nennen ihn etwas Häßliches. Ja, wenn ihr ihn unterdrückt,
wird er häßlich! Und dann sagen sie: „Seht! Was wir gesagt haben,
stimmt. Ihr beweist es ja. Seht doch nur, was ihr da treibt: es ist
häßlich, und ihr wißt genau, daß es häßlich ist.” Aber es ist nicht
der Sex, der häßlich ist. Es sind diese Priester, die ihn häßlich ge-
macht haben. Und haben sie ihn erst einmal abstoßend gemacht,
dann haben sie recht. Und da sie recht haben, wird er immer noch
abstoßender ...
Sex ist eine unschuldige Energie -- es ist das Leben, das in euch
fließt, die Schöpfung, die in euch lebt. Verkrüppelt sie nicht. Er-
laubt ihr, sich zu voller Höhe zu entwickeln. Und das heißt: Sex
muß zu Liebe werden. Was ist der Unterschied? Wenn ihr nur
Sex im Kopf habt, beutet ihr den andern aus. Der andere wird
zum Instrument, das benutzt und fortgeworfen wird. Wenn Sex
zu Liebe wird, dann ist der andere kein Instrument, dann dient er
nicht zur Ausbeutung, dann ist der andere in Wirklichkeit gar
nicht „der andere”. Wenn du liebst, dann nicht der Selbstsucht zu-
liebe, sondern weil dir der andere wichtig, unersetzlich ist.
Nicht, daß du ihn etwa ausbeutest, nein! Im Gegenteil, ihr seid
beide in einer tiefen gemeinsamen Erfahrung verbunden. Ihr seid
Partner in einer tiefen Erfahrung, seid weder Ausbeuter noch Aus-
gebeutete. Ihr helft einander, in eine andere Welt der Liebe hin-
einzugehen. Sex ist Ausbeutung. Liebe heißt: gemeinsam eine an-
dere Welt betreten.
Wenn dies nicht nur momentan geschieht, sondern meditativ
wird - und das heißt: Wenn ihr euch völlig selbst vergessen könnt,
so daß der Liebende und der Geliebte verschwinden und nur
noch die Liebe fließt -, dann, so sagt Shiva, ist euch immer-
währendes Leben gewiß.

181
Das Buch der Geheimnisse

Die zweite Technik:

Schließe die Türen deiner Sinne, wenn du das Krabbeln einer


Ameise spürst. Dann.

Das sieht sehr einfach aus, ist es aber nicht. Ich will es noch ein-
mal lesen: „Schließe die Türen deiner Sinne, wenn du das Krab-
beln einer Ameise spürst. Dann. ” Dies ist nur ein Beispiel: Alles
andere tut es auch. Verschließe die Tore der Sinne, wenn du eine
Ameise krabbeln fühlst, und dann — dann — wird die Sache pas-
sieren. Was will Shiva damit sagen?
Du hast einen Dorn im Fuß. Es ist schmerzhaft, es tut weh.
Oder, eine Ameise läuft dir übers Bein. Du spürst es und willst
sie abschütteln. Nimm, was du willst. Du hast eine Wunde: es
ist schmerzhaft! Du hast Kopfschmerzen oder irgendwelche an-
deren Schmerzen — es kommt nicht darauf an, was es ist. Sie ist
nur ein Beispiel, diese krabbelnde Ameise. Shiva sagt: „Schließe
die Türen deiner Sinne, wenn du das Krabbeln einer Ameise
spürst.” Was immer du gerade spürst — verschließe alle Tore dei-
ner Sinne.
Was mußt du tun? Mach die Augen zu, und bilde dir ein, daß
du blind bist und nicht sehen kannst. Verschließe die Ohren und
stell dir vor, daß du nicht hören kannst. Verschließe einfach alle
fünf Sinne. Wie aber kannst du sie verschließen? Es ist leicht. Höre
einen Moment lang zu atmen auf, und alle Sinne werden ver-
schlossen sein! Wenn du zu atmen aufhörst und alle Sinne ver-
schlossen sind, wo ist dann dies Krabbeln? Wo ist die Ameise?
Plötzlich bist du außerhalb — weit entfernt.
Ein Freund von mir, ein alter Freund — er war sehr alt —, fiel ein-
mal die Treppe hinunter. Die Ärzte sagten, daß er für drei Mona-
te nicht mehr würde aufstehen können, daß er drei Monate lang
still liegen müsse. Und er war ein sehr unruhiger Mensch: es war
nicht leicht für ihn. Ich ging ihn besuchen, und er sagte: „Bete für
mich, und segne mich, damit ich sterben kann, denn diese drei
Monate sind schlimmer als der Tod. Ich kann nicht wie ein Stein
hier liegen.” Und die andern sagten: „Rühr dich nicht.” Ich sagte
zu ihm: „Das ist eine wunderbare Gelegenheit. Mach einfach die

182
Kapitel 7

Augen zu und denke, du bist ein Stein. Du kannst dich nicht be-
wegen. Wie denn? Du bist ein Stein, einfach ein Stein, eine Statue!
Schließe die Augen. Fühl dich jetzt gleich wie ein Stein, eine Sta-
tue." Er wollte wissen, was passieren würde. Ich sagte: „Versuch`s
nur. Ich sitze ja hier. Und es ist sowieso nichts zu ändern, absolut
nichts! Du mußt ja doch drei Monate hier liegen. Also versuch`s.”
Er hätte es nie und nimmer versucht, aber die Situation war so
ausweglos, daß er sagte: „Okay, ich will es versuchen, vielleicht
kommt ja etwas dabei heraus. Aber ich glaub` es nicht”, sagte er.
„Ich kann nicht glauben, daß es irgend etwas bringen soll, nur weil
ich mir denke, daß ich wie ein Stein bin, tot wie eine Statue. Aber
ich will es versuchen.” Und so versuchte er es.
Ich glaubte so wenig wie er, daß irgend etwas passieren würde,
denn so war er nun mal. Aber manchmal, wenn man in einer un-
möglichen Situation ist, hoffnungslos, passieren gewisse Dinge. Er
schloß die Augen. Ich wartete, weil ich damit rechnete, daß er sie
in zwei oder drei Minuten wieder aufmachen und sagen würde:
„Es ist nichts passiert.” Aber er machte die Augen nicht auf, und es
vergingen dreißig Minuten. Und ich konnte fühlen und sehen,
daß er zu einer Statue geworden war. Alle Spannungen auf seiner
Stirn verschwanden. Sein Gesicht war verändert. Ich mußte ge-
hen, aber er machte die Augen nicht auf. Er war so still, als wäre
er tot. Sein Atem wurde ruhig und da ich gehen mußte, sagte ich:
„Ich will jetzt gehen, mache also bitte die Augen auf und sage mir,
was passiert ist.” Als er sie aufschlug, war er ein anderer Mensch.
Und er sagte: „Das ist ein Wunder! Was hast du mit mir ge-
macht?” Ich sagte zu ihm: „Ich habe überhaupt nichts gemacht.”
Er sagte: „Du mußt etwas gemacht haben, denn dies ist ein Wun-
der. Als ich anfing, mich wie ein Stein, wie eine Statue zu fühlen,
bekam ich plötzlich das Gefühl, daß ich meine Hände nicht mehr
bewegen konnte, selbst wenn ich es wollte. Ich wollte meine Au-
gen so oft aufschlagen, aber sie waren wie Stein, also konnte ich es
nicht. Ich machte mir sogar schon Sorgen, was du wohl denken
würdest, weil es so lange dauerte, aber was konnte ich tun? Ich
habe mich in dieser halben Stunde nicht rühren können. Und als
jede Bewegung aufhörte, verschwand plötzlich die Welt, und ich
war allein, tief unten in mir selbst. Da verschwand der Schmerz.”

183
Das Buch der Geheimnisse

Er hatte starke Schmerzen, konnte nachts ohne Tabletten nicht


schlafen. Aber der Schmerz verschwand. Ich fragte ihn, wie es sich
anfühlte, als der Schmerz verschwand. Er sagte: „Zuerst bemerk-
te ich, daß er sich entfernte. Der Schmerz war noch da, aber sehr
weit weg, als passierte er einem anderen. Und dann, ganz, ganz
allmählich, verschwand er, als ob sich jemand entfernen würde,
bis man ihn nicht mehr sieht. Der Schmerz verschwand! Minde-
stens zehn Minuten lang war kein Schmerz mehr da. Wie kann
ein Steinkörper Schmerzen haben?”
Dies Sutra sagt: „Schließe die Türen deiner Sinne”: Werde wie
Stein, der Welt verschlossen. Wenn du der Welt verschlossen bist,
dann bist du tatsächlich auch deinem eigenen Körper verschlos-
sen, denn dein Körper ist nicht Teil von dir; er ist Teil der Welt.
Wenn du der Welt völlig verschlossen bist, bist du auch deinem

Körper verschlossen. „Dann , so sagt Shiva, „dann passiert es.”
Probiere es also an deinem Körper aus. Jeder Anlaß ist recht. Es
braucht keine Ameise auf dir zu krabbeln: sonst denkst du: Wenn
eine Ameise kommt, will ich meditieren." Und so hilfsbereite
Ameisen sind schwer zu finden. Es ist also alles recht. Du liegst
auf dem Betr, du fühlst die kühlen Bettlaken; werde wie tot. Plötz-
lich verschwinden die Laken, weit, weiter, immer weiter, bis sie
ganz verschwinden. Dein Bett verschwindet, dein Zimmer ver-
schwindet, die ganze Welt verschwindet. Du bist verschlossen, tot,
ein Stein, bist wie eine Leibnitz'sche Monade ohne Fensterloch —
kein Fenster! Du kannst dich nicht rühren!
Und dann, wenn du dich nicht mehr bewegen kannst, wirst du
auf dich selbst zurückgeworfen, bist du in dir selbst zentriert. Jetzt
kannst du zum erstenmal von deinem Zentrum her sehen. Und
sobald du nur einmal von deinem Zentrum her gesehen hast,
kannst du nie wieder derselbe sein.

Die dritte Technik:

Sitzend auf einem Bett oder Kissen, laß dich schwerelos werden,
jenseits des Geistes.

Ihr sitzt hier: Fühlt einfach, daß ihr schwerelos geworden seid.

184
Kapitel 7

Es ist kein Gewicht mehr da. Ihr werdet spüren, daß es irgendwo
noch Gewicht gibt, aber fühlt euch weiter in diese Gewichtslo-
sigkeit hinein. Es kommt. Es kommt ein Augenblick, wo man sich
gewichtslos fühlt. Wenn es kein Gewicht mehr gibt, ist man kein
Körper mehr weil das Gewicht zum Körper gehört, nicht zu dir.
Du bist schwerelos.
Damit hat man schon viele Experimente gemacht: Wissen-
schaftler auf der ganzen Welt haben versucht, einen Sterbenden
zu wiegen. Wenn es einen Unterschied gäbe, wenn das Gewicht
des Lebenden größer und das Gewicht des Toten geringer wäre,
dann könnte die Wissenschaft sagen, daß sich etwas aus dem Kör-
per entfernt hat, daß die Seele oder das Selbst oder das Etwas, das
vorher vorhanden war, nicht mehr da ist; denn für die Wissen-
schaft kann nichts Gewichtsloses existieren — nichts!
Gewicht ist eine Grundeigenschaft aller Materie. Sogar Son-
nenstrahlen haben Gewicht, ein sehr, sehr leichtes, ganz geringes,
kaum zu wiegen, aber die Wissenschaftler haben sie gewogen.
Wenn man die Sonnenstrahlen wiegt, die ein Feld von fünf Qua-
dratmeilen bedecken, kommt ihr Gewicht dem eines Haares
gleich. Sonnenstrahlen haben also tatsächlich Gewicht: man hat
sie gewogen. Für die Wissenschaft kann es nichts Gewichtsloses
geben. Und wenn es etwas Gewichtsloses gibt, dann ist es nicht
stofflich, es kann nicht Materie sein. Und die Wissenschaft der
letzten zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre hat geglaubt, daß es
nichts gibt außer Materie.
Wenn also ein Mensch stirbt und etwas entweicht, dann muß
das Gewicht sich ändern. Aber es ändert sich nie. Das Gewicht
bleibt gleich. Manchmal nimmt es sogar zu; das ist das Problem.
Der lebende Mensch wiegt weniger, und der Tote gewinnt an
Gewicht. Das hat zu neuen Problemen geführt, denn was man
wirklich herausfinden wollte, war, ob Gewicht verloren ging.
Dann könnte man sagen, daß etwas entwichen ist. Aber es schi-
en im Gegenteil, daß etwas hereingekommen war. Was passiert?
Gewicht ist stofflich, aber du bist kein Gewicht. Du bist nicht
stofflich.
Um diese Technik der Gewichtslosigkeit auszuprobieren, mußt
du dir nur einbilden, gewichtslos zu sein, und nicht nur einbilden,

185
Das Buch der Geheimnisse

sondern auch fühlen, daß dein Körper gewichtslos geworden ist.


Wenn du es immer weiter fühlst, kommt ein Augenblick, wo du
plötzlich erkennst, daß du gewichtslos bist. Du bist es tatsächlich,
also kannst du es auch jederzeit erkennen. Du brauchst dir bloß
eine Situation herzustellen, in der du wieder fühlen kannst, daß
du gewichtslos bist.
Du mußt dich enthypnotisieren. Deine Hypnose besteht in
dem Glauben, daß „ich ein Körper bin und daß ich darum Ge-
wicht habe”. Wenn du dich enthypnotisieren kannst, bis hin zu
der Erkenntnis, daß du kein Körper bist, dann spürst du kein Ge-
wicht mehr. Und wenn du kein Gewicht mehr spürst, bist du über
den Geist hinausgegangen. Shiva sagt: „Sitzend auf einem Bett
oder Kissen, laß dich schwerelos werden, jenseits des Geistes.”
Dann kann es passieren. Das Gehirn hat auch ein Gewicht: Es ist
bei jedem verschieden.
Es gab eine Zeit, wo behauptet wurde: Je gewichtiger das Ge-
hirn, desto intelligenter der Mensch. Und im allgemeinen stimmt
das; es gilt aber nicht absolut, denn manchmal hat es sehr große
Menschen mit sehr kleinen Gehirnen gegeben, und manchmal
hat das Gehirn irgendwelcher dummen Idioten sehr viel gewo-
gen. Aber im allgemeinen stimmt es, denn wenn du einen größe-
ren geistigen Mechanismus hast, wiegst du mehr. Das Gehirn hat
also auch sein Gewicht, aber dein Bewußtsein ist gewichtslos. Um
dies Bewußtsein zu fühlen, mußt du dich gewichtslos fühlen. Ver-
suche es also: du kannst es im Gehen, im Sitzen, im Schlafen aus-
probieren.
Ein paar Beobachtungen: Warum gewinnt ein toter Körper
manchmal an Gewicht? Weil in dem Augenblick, wo das Be-
wußtsein den Körper verläßt, der Körper schutzlos wird. Viele
Dinge können plötzlich in ihn eindringen, die nicht eindringen
konnten, weil du da warst. Viele Schwingungen können in einen
toten Körper eintreten, die nicht in dich eindringen können. Du
warst da, der Körper lebte, leistete vielen Dingen Widerstand. So
kommt es vor, daß, wenn du krank wirst, eine lange Kette daraus
entstehen kann — eine Krankheit führt zur anderen. Denn sobald
du krank bist, wirst du ungeschützt, verwundbar, widerstandslos.
Dann kann alles mögliche eindringen. Deine Anwesenheit hilft

186
Kapitel 7

dem Körper. So also kann ein toter Körper manchmal an Gewicht


gewinnen. Im Moment, wo du ihn verläßt, kann alles mögliche
in den Körper eindringen.
Zweitens: Wenn du glücklich bist, fühlst du dich jedesmal leich-
ter, wenn du traurig bist, fühlst du dich schwerer, so als würde dich
etwas herunterziehen. Die Gravitation wird viel stärker. Wenn du
traurig bist, hast du mehr Gewicht. Wenn du glücklich bist, wirst
du leicht. Du fühlst es. Warum? Weil du deinen Körper voll-
kommen vergißt, immer wenn du glücklich bist, immer wenn du
einen seligen Moment erlebst. Wenn du traurig bist und leidest,
kannst du den Körper nicht vergessen. Du fühlst sein Gewicht. Er
zieht dich herunter — hinunter zur Erde, als würdest du Wurzeln
schlagen. Du kannst dich nicht mehr bewegen: Du hast Wurzeln
in der Erde. Im Glück bist du gewichtslos. In Kummer, Traurig-
keit, wirst du schwer.
Wenn du in tiefer Meditation deinen Körper völlig vergißt,
kannst du gewichtslos aufsteigen. Sogar der Körper kann sich mit
dir heben. Es ist schon oft vorgekommen. Die Wissenschaftler ha-
ben in Bolivien eine Frau beobachtet. Sie steigt beim Meditieren
über einen Meter hoch — und das kann man heute wissenschaft-
lich bestätigen! Es sind viele Filme, viele Fotos davon gemacht
worden. Vor Tausenden und aber Tausenden von Zuschauern
steigt diese Frau plötzlich auf, und die Schwerkraft wird gleich
Null, wird aufgehoben. Und bis heute gibt es keine Erklärung
dafür. Aber die gleiche Frau kann nicht aufsteigen, wenn sie nicht
in Meditation ist. Und wenn ihre Meditation gestört wird, fällt sie
plötzlich herunter.
Was passiert? In tiefer Meditation vergißt du deinen Körper
ganz und gar, und die Identifikation wird gebrochen. Der Körper
ist etwas sehr Kleines: du dagegen bist sehr groß. Du hast unend-
liche Macht. Der Körper ist nichts, verglichen mit dir. Es ist so,
wie wenn ein Kaiser sich mit seinem Sklaven identifiziert hat, so
daß der Sklave betteln geht und der Kaiser betteln geht. Der Skla-
ve weint, und auch der Kaiser weint. Wenn der Sklave sagt: „Ich
bin niemand”, sagt der Kaiser: „Ich bin niemand.” Hat der Kaiser
einmal sein wirkliches Wesen erkannt, hat er erkannt, daß er ein
Kaiser ist, und dieser Mann nur ein Sklave, dann ändert sich

18 7
Das Buch der Geheimnisse

plötzlich das Bild. Du bist eine unendliche Macht, die sich mit ei-
nem sehr endlichen Körper identifiziert hat. Sobald du dein Selbst
erkennst, wird die Gewichtslosigkeit größer und das Gewicht des
Körpers geringer. Dann hebst du ab: der Körper kann aufsteigen.
Es gibt viele Geschichten, die noch nicht wissenschaftlich be-
wiesen werden können, die aber eines Tages bewiesen sein wer-
den; und wenn eine Frau mehr als einen Meter hoch steigen
kann, dann gibt es keine Schranke. Dann kann ein anderer drei-
hundert Meter aufsteigen, und wieder ein anderer völlig im Kos-
mos aufgehen. Theoretisch gibt es da kein Problem: Ein Meter
oder hundert Meter oder tausend Meter machen keinen Unter-
schied.
Es gibt Geschichten über Ram und über viele andere, die völlig,
mitsamt dem Körper verschwunden sind. Ihre Körper wurden nie
tot aufgefunden. Mohammed verschwand völlig — nicht nur mit
seinem Körper: es heißt sogar, mit seinem Pferd! Diese Geschich-
ten erscheinen unglaublich, sie erscheinen mythologisch — aber
sie müssen nicht unbedingt mythologisch sein. Sobald du die Kraft
der Schwerelosigkeit kennst, bist du zum Meister über die Gravi-
tation geworden. Du kannst sie gebrauchen, sie ist dir zu Dien-
sten. Du kannst völlig mit deinem Körper verschwinden.
Aber die Schwerelosigkeit fällt uns nicht so leicht. Die Technik
des Siddhasan, die Sitzposition Buddhas, ist am besten dazu ge-
eignet, schwerelos zu sein. Du setzt dich auf die Erde, nicht auf ei-
nen Stuhl oder sonst ein Sitzmöbel, sondern einfach auf den Fuß-
boden. Und es ist gut, wenn der Boden nicht aus Zement oder ir-
gendeinem künstlichen Material besteht. Sitze einfach auf der F
Erde, so daß du der Natur so nah wie möglich bist. Es ist gut,
wenn du nackt dasitzen kannst. Setze dich nackt auf die Erde, in
der Buddha-Position, Siddhasan, weil Siddhasan die beste Position
dafür ist, sich gewichtslos zu machen. Warum? Weil du mehr r
Gewicht spürst, wenn sich dein Körper vor — oder zurücklehnt.
Dann wird eine größere Fläche des Körpers von der Schwerkraft
betroffen. Wenn ich auf diesem Sessel sitze, dann wird eine größe-
re Fläche meines Körpers von der Gravitation erfaßt. s

I m Stehen wird am wenigsten Fläche berührt, aber man kann


nicht sehr lange stehen. Mahavir meditierte immer stehend — im-

188
Kapitel 7

mer, denn so wird der Gravitation die geringste Fläche dargebo-


ten: Nur deine Füße berühren den Boden. Wenn du aufrecht auf
den Füßen stehst, beeinflußt dich die Gravitation am wenigsten —
und Gravitation heißt Gewicht.
Wenn du fest verschränkt in der Buddhaposition sitzt — mit ver-
schränkten Beinen, mit verschränkten Armen — so hilft auch das,
denn dann entsteht ein Kreislauf deiner inneren Elektrizität. Rich-
te dein Rückgrat dabei auf.
Jetzt werdet ihr verstehen, warum immer soviel Wert auf ein
aufrechtes Rückgrat gelegt wird, denn mit aufrechtem Rückgrat
wird eine geringere Fläche von der Schwerkraft betroffen, die
Gravitation zieht dich weniger herunter. Bringe dich mit ge-
schlossenen Augen völlig ins Gleichgewicht, sammle dich. Lehne
dich nach rechts, fühle die Schwerkraft: Lehne dich nach links,
und fühle die Schwerkraft: Lehne dich nach vorn, und fühle die
Schwerkraft: lehne dich zurück, und fühle die Schwerkraft. Finde
dann die Mitte, wo du den Zug der Schwerkraft am wenigsten
fühlst, wo du das geringste Gewicht fühlst, und bleibe dann dort.
Nun vergiß den Körper und fühle, daß du kein Gewicht hast. Du
bist gewichtslos. Bleib dann bei diesem Gefühl der Gewichtslo-
sigkeit. Plötzlich wirst du schwerelos. Plötzlich bist du nicht mehr
der Körper, plötzlich bist du in einer anderen Welt der Körperlo-
sigkeit.
Gewichtslosigkeit ist Körperlosigkeit. Dann gelangst du auch
über den Geist hinaus. Der Geist ist ebenfalls Teil des Körpers,
Teil der Materie. Materie hat Gewicht: du dagegen hast kein Ge-
wicht. Und darauf beruht diese Technik.
Versucht es mit einer von diesen dreien, aber bleibt ein paar
Tage lang dabei, damit ihr herausfinden könnt, ob es funktioniert
oder nicht.

18 9
Akzeptiere das Tier in dir —
und werde zum Gott
[Fragen]

Unter anderem wurde folgende Frage gestellt:

Was meint Tantra mit der „Reinigung des Geistes«;


„Reinheit des Geistes`; als Grundvoraussetzung für alles
weitere Vorankommen?

19 1
Das Buch der Geheimnisse

Alles, was im allgemeinen unter „Reinheit” verstanden wird,


hat nichts mit dem zu tun, was es für Tantra bedeutet. Gewöhn-
lich teilen wir alles in Gut und Böse auf. Diese Unterscheidung
mag aus allen möglichen Gründen gemacht werden — hygieni-
schen, moralischen oder sonstwelchen — aber wir trennen das Le-
ben immer in zwei Hälften: gut und schlecht. Gewöhnlich mei-
nen wir mit „Reinheit” das „Gute”. Die „schlechten” Eigenschaf-
ten sind nicht erlaubt, und die „guten” Eigenschaften sind
erwünscht. Aber für Tantra ist diese Unterscheidung in „Gut” und
„Böse” bedeutungslos. Tantra betrachtet das Leben ohne jede
Dichotomie, ohne jede Dualität, ohne jede Teilung. Was meint
Tantra also dann mit „Reinheit”? — eine sehr wichtige Frage.
Fragt ihr einen Heiligen, so sagt der, daß alle Wut, aller Sex, alle
Gier schlecht ist. Fragt ihr Gurdjieff, so sagt er, daß Negativität
schlecht ist, daß jede Emotion, die negativ ist, schlecht ist, und daß
es gut ist, positiv zu sein. Wenn ihr die Jainas, Buddhisten, Chri-
sten, Hindus oder Moslems fragt, werden sie alle Gut und Böse
jeweils anders definieren. Aber Definitionen haben sie. Sie nen-
nen gewisse Dinge gut und gewisse Dinge schlecht. Es fiele ihnen
also nicht schwer zu definieren, was Reinheit ist. Was immer sie
für gut halten ist rein, was immer sie für schlecht halten ist unrein.
Aber im Tantra wird es zu einem tiefen Problem. Tantra macht
keine oberflächliche Unterscheidung zwischen Gut und Böse.
Was ist dann also Reinheit? Tantra sagt, daß es unrein ist, wenn
man aufteilt, und daß es rein ist, wenn man in Ungeteiltheit lebt.
I m Tantra bedeutet Reinheit also Unschuld — Unschuld, die kei-
ne Unterscheidungen macht.
Seht euch ein Kind an: Ihr nennt es rein. Es wird wütend, es ist
gierig — warum nennt ihr es also rein? Was ist an der Kindheit rein?
Unschuld! Und im Geist eines Kindes gibt es keine Trennlinien.
Denn das Kind ist sich keiner Trennung zwischen gut und schlecht
bewußt. Dies Nicht-Wissen ist Unschuld. Selbst wenn es wütend
wird, weiß es nichts von seiner Wut. Es ist ein reiner, einfacher Akt.
Er passiert, und wenn die Wut geht, geht sie ganz. Nichts bleibt
zurück. Das Kind ist wieder wie zuvor, so, als hätte es die Wut nie
gegeben. Seine Reinheit bleibt davon unberührt. Seine Reinheit
bleibt die gleiche. Ein Kind ist also rein, weil es nicht denkt.

19 2
Kapitel 8

Je mehr das Denken zunimmt, desto mehr verliert das Kind sei-
ne Reinheit. Dann wird die Wut Absicht, sie ist nicht mehr spon-
tan. Jetzt unterdrückt das Kind manchmal seine Wut, wenn die
Situation es nicht erlaubt. Und wenn die Wut unterdrückt wird,
dann wird sie manchmal auch auf eine andere Situation übertra-
gen. Nun wird man wütend, wenn es dafür gar keinen Grund
gibt, weil die unterdrückte Wut irgendein Ventil braucht. Und da-
mit wird alles unrein, weil sich nun das Denken eingeschlichen
hat.
Ein Kind kann in unseren Augen ein Dieb sein, aber vor sich
selbst ist ein Kind niemals ein Dieb, weil die bloße Vorstellung,
daß die Dinge einzelnen Menschen gehören, noch nicht in ihm
existiert. Wenn es deine Uhr nimmt, dein Geld oder sonst etwas,
ist das für das Kind kein Diebstahl, weil die bloße Vorstellung von
Eigentum für es nicht existiert. Sein Diebstahl ist rein, wohingegen
sogar euer Nicht-Diebstahl unrein ist; denn der Kopf ist da.
Tantra sagt, daß man rein ist, wenn man wieder zu einem Kind
wird. Natürlich ist man kein Kind, sondern lediglich wie ein Kind.
Da gibt es sowohl einen Unterschied als auch eine Ähnlichkeit.
Die Ähnlichkeit ist die wiedergewonnene Unschuld. Man ist wie-
der wie ein Kind. Ein Kind geht nackt: Kein Mensch empfindet es
als Nacktheit, weil ein Kind sich seines Körpers noch nicht be-
wußt ist. Seine Nacktheit unterscheidet sich wesentlich von eurer
Nacktheit. Ihr seid euch eures Körpers bewußt.
Der Weise muß diese Unschuld wiedergewinnen. Mahavir
steht wieder nackt da. Seine Nacktheit hat wieder die gleiche Un-
schuldsqualität. Er hat seinen Körper vergessen; er ist nicht mehr
der Körper.
Aber es gibt auch einen Unterschied, und zwar einen sehr
großen. Das Kind weiß einfach überhaupt nichts; das macht seine
Unschuld aus. Aber der Weise ist weise: Das macht seine Un-
schuld aus.
Das Kind wird sich eines Tages seines Körpers bewußt und
empfindet dann seine Nacktheit. Es wird sie zu verstecken suchen,
wird sich schuldig fühlen, sich schämen. Es wird bewußt. Seine
Unschuld ist also eine Unschuld des Nichtwissens. Wissen wird
sie zerstören.

193
Das Buch der Geheimnisse

Das ist die Bedeutung der biblischen Geschichte der Vertrei-


bung von Adam und Eva aus dem Paradies. Sie waren nackt wie
die Kinder. Sie waren sich ihres Körpers nicht bewußt, sie wuß-
ten nichts von Wut, Gier, Wollust, Sex, von überhaupt nichts. Sie
waren unbewußt. Sie waren wie Kinder — unschuldig.
Aber Gott hatte ihnen verboten, die Frucht vom Baum der Er-
kenntnis zu essen. Der Baum der Erkenntnis war verboten, aber
sie aßen trotzdem davon — denn alles Verbotene wird reizvoll.
Alles Verbotene wird verlockend! Sie lebten in einem großen
Garten mit unzähligen Bäumen, aber der Baum der Erkenntnis
wurde wichtiger als alle anderen, und zwar deshalb, weil er ver-
boten war. Tatsächlich machte allein dieses Verbot seine Attrak-
tion aus, seinen Reiz. Sie waren wie magnetisiert, hypnotisiert
von dem Baum. Sie konnten ihm nicht ausweichen. Sie mußten
davon essen.
Aber diese Geschichte ist deshalb schön, weil der Baum „Baum
der Erkenntnis” heißt. Kaum hatten sie von der Frucht des Bau-
mes gegessen, wurden sie nicht-unschuldig. Sie wurden bewußt:
es wurde ihnen bewußt, daß sie nackt waren. Sofort versuchte Eva,
ihren Körper zu verstecken. Und als sie sich des Körpers bewußt
wurden, nahmen sie alles andere auch wahr -Wut, Wollust, Gier,
alles ... Sie waren nun erwachsen, und so wurden sie aus dem
Garten verstoßen.
In der Bibel ist Wissen also gleich Sünde. Sie wurden wegen ih-
res Wissens aus dem Garten verstoßen, bestraft. Nur wenn sie
wieder wie Kinder würden, unschuldig, unwissend, könnten sie
wieder in den Garten hinein. Sie können das Reich Gottes erst
dann wieder betreten, wenn diese Bedingung erfüllt ist: wieder
unschuldig werden! Die ganze Sache ist nichts weniger als die Ge-
schichte der Menschheit. Jedes Kind wird aus dem Garten Eden
verstoßen, nicht nur Adam und Eva. Jedes Kind lebt seine Kind-
heit in Unschuld, ohne das geringste zu wissen. Es ist rein, aber es
ist die Reinheit der Unwissenheit. Sie kann nicht immer währen.
Solange sie nicht zur Reinheit des Wissens wird, ist sie wertlos.
Sie muß verschwinden. Früher oder später muß man in den Ap-
fel des Wissens beißen.
Jedes Kind wird von der Frucht des Wissens essen müssen; im

19 4
Kapitel 18

Garten Eden ging das noch leicht, da gab es einfach einen Baum.
Zum Ersatz für den Baum haben wir heute Schulen und Univer-
sitäten. Jedes Kind muß da durch, muß nicht-unschuldig werden,
muß seine Unschuld verlieren. Um überhaupt in der Welt zu exi-
stieren, braucht man Wissen. Zum bloßen Überleben braucht
man Wissen, wir können nicht ohne Wissen existieren. Und mit
dem Wissen kommt auch die Spaltung. Ihr fangt an, zwischen
Gut und Schlecht zu unterscheiden.
Für Tantra ist das Unreine also die Unterscheidung zwischen
Gut und Böse. Vorher bist du rein, nachher bist du rein, dazwi-
schen bist du unrein. Aber Wissen ist ein notwendiges Übel. Ihr
könnt es nicht umgehen. Man muß da durch, das gehört zum Le-
ben. Aber: Man muß nicht immer darin bleiben. Man kann dar-
über hinausgehen. Transzendenz macht dich wieder rein und un-
schuldig. Wenn alle Unterscheidungen ihre Bedeutung verlieren,
wenn das W issen, welches zwischen Gut und Böse unterscheidet,
nicht mehr ist, könntest du wieder mit unschuldigen Augen auf
die Welt blicken.
Jesus sagt: „Nur wenn ihr wieder wie die Kinder werdet, könnt
ihr in mein Himmelreich eingehen.” „Nur wenn ihr wieder wie
die Kinder werdet... ”" — das ist die Reinheit des Tantra. Lao Tse
sagt: „Nur ein Daumenbreit an Unterscheidung, und es gibt Him-
mel und Hölle.”
Un-Geteiltheit ist der Geist des Weisen — nicht die geringste
Teilung. Ein Weiser weiß nicht, was gut oder was schlecht ist. Er
ist wie ein Kind — aber auch wieder nicht, denn er hat die Spal-
tung kennengelernt. Er ist durch diese Spaltung gegangen und hat
sie transzendiert. Er ist darüber hinausgegangen. Er hat die Dun-
kelheit und das Licht gesehen, aber jetzt ist er darüber hinaus —
jetzt sieht er Dunkelheit als Teil des Lichts und Licht als Teil der
Dunkelheit. Jetzt gibt es keine Teilung mehr. Licht und Dunkel
sind beides eins geworden — Abstufungen ein und desselben Phä-
nomens. Jetzt sieht er alles als Nuancen eines gemeinsamen
Ganzen. Wie entgegengesetzt sie auch sind, sie sind nicht zwei.
Leben und Tod, Liebe und Haß, Gut und Böse, alles ist nur Teil
eines einzigen Phänomens, einer einzigen Energie. Der Unter-
schied ist nur gradweise, und ein Trennstrich kann nirgends

195
Das Buch der Geheimnisse

gezogen werden. Man kann keine Linie ziehen, daß „von hier an”
unterschieden wird. Es gibt kein Unterscheiden.
Was ist gut? Was ist schlecht? Von wo aus kann man es defi-
nieren und als getrennt markieren? Es gehört immer zusammen.
Es sind nur verschiedene Grade ein und derselben Erscheinung.
Sobald dies bewußt empfunden wird, wird der Geist wieder rein.
Das ist die Reinheit, die Tantra meint. Ich will tantrische Reinheit
also als Unschuld definieren, nicht als Gut-sein.
Unschuld kann unwissend sein. Dann ist sie wertlos, und man
muß sie verlieren; man muß daraus verstoßen werden, sonst kann
man nicht reifen. Die Unschuld aufgeben und das Wissen trans-
zendieren, beides gehört zum Reifungsprozeß dazu, zum wirkli-
chen Erwachsen werden. Geht also da hindurch, bleibt dabei nicht
stehen, geht weiter! Geht immer weiter. Es kommt der Tag, wo
ihr beides hinter euch gelassen habt.
Darum ist tantrische Reinheit so schwer zu verstehen; sie kann
leicht mißverstanden werden. Sie ist etwas sehr Delikates. Einen
tantrischen Weisen zu erkennen, ist praktisch unmöglich. Ge-
wöhnliche Heilige und Weise sind zu erkennen, denn sie folgen
euch — euren Maßstäben, euren Definitionen, eurer Moral. Ein
tantrischer Weiser ist überhaupt nicht zu erkennen, weil er alle
Unterscheidungen hinter sich gelassen hat. So überliefert uns die
gesamte Geschichte des menschlichen Wachstums praktisch gar
nichts über tantrische Weise. Nichts wird über sie gesagt oder auf-
geschrieben; denn es ist sehr schwer, sie überhaupt zu erkennen.
Konfuzius kam zu Lao Tse. Der Geist von Lao Tse ist der Geist
eines Erwachten, eines Weisen im tantrischen Sinne. Er hat das
Wort Tantra nie gekannt, das Wort selbst würde ihm nichts sagen.
Er hat nichts von Tantra gewußt, aber was er gesagt hat, ist reines
Tantra. Konfuzius repräsentiert unsere Geisteshaltung. Er ist unser
Erzrepräsentant. Er denkt ununterbrochen in Begriffen: von Gut
und Böse, was man tun sollte und was nicht. Er ist ein Legalist —
der größte Legalist aller Zeiten. Er suchte Lao Tse auf und fragte
ihn: „Was ist gut? Was sollte man tun? Was ist schlecht? Definie-
re bitte klar.”
Lao Tse sagte, daß Definitionen alles durcheinanderbringen,
weil definieren unterscheiden bedeutet: dies ist dies, und das ist

196
Kapitel 8

das. Du grenzt ab und sagst: A ist A und B ist B. Damit hast du es


entzwei geschnitten. Du sagst, A kann nicht B sein und hast da-
mit eine Trennung, eine Spaltung erzeugt — und die Schöpfung
ist eins! A wird ständig zu B, A geht ständig zu B über. Leben wird
immer zu Tod, Leben geht immer in den Tod über, wie also kann
man da definieren? Kindheit geht in Jugend über und Jugend in
Alter, Gesundheit geht in Krankheit über und Krankheit in Ge-
sundheit. Wo will man da den Trennstrich ziehen?
Leben ist eine einzige Bewegung. Und sobald ihr definiert,
bringt ihr alles durcheinander, weil Definitionen tot sind, und das
Leben eine lebendige Bewegung ist. Definitionen stimmen also
nie. Lao Tse sagt, daß das Definieren Unwahrheit schafft: „Defi-
niere also nicht. Sage nicht, was gut und was schlecht ist.”
Da fragte Konfuzius: „Was sagst du da? Wie soll man dann die
Menschen führen und lenken? Wie kann man sie dann lehren?
Wie kann man sie moralisch und gut machen?”
Lao Tse antwortete: „Wenn jemand einen anderen gut machen
will, dann ist das in meinen Augen eine Sünde. Wer bist du, an-
dere zu führen? Wer bist du zu lenken? Und je mehr Führer, de-
sto mehr Verwirrung. Überlasse jedem sich selbst. Wer bist du?”
So eine Haltung scheint gefährlich. Sie ist es auch! Keine Ge-
sellschaft darf auf solche Haltungen gegründet werden. Konfuzius
ließ nicht locker, aber Lao Tse antwortete nur kurz und bündig:
„Die Natur genügt, Moral ist nicht nötig. Die Natur ist spontan,
die Natur genügt. Es werden keine aufgesetzten Regeln und Ge-
setze gebraucht. Unschuld ist genug. Wissen ist nicht nötig.”
Konfuzius ging sehr verstört von dannen. Er konnte nächtelang
nicht schlafen, und seine Schüler fragten ihn: „Erzähle uns von der
Begegnung. Was ist geschehen?” Konfuzius antwortete: „Er ist
kein Mensch, er ist ein Monster., ein Drachen. Er ist kein Mensch.
Meidet die Gegend, wo er sich aufhält. Wo immer ihr hört, daß
Lao Tse in der Nähe ist, dann flieht von dem Ort. Er wird euch
völlig um den Verstand bringen.”
Und das stimmt. Denn für Tantra geht es einzig darum, wie
man über den Verstand hinausgelangt. Tantra muß unweigerlich
den Verstand zerstören. Der Verstand lebt aus Definitionen, Ge-
setzen, Regeln. Alles Denken ist Ordnen. Aber vergeßt nicht —

19 7
Das Buch der Geheimnisse

Tantra ist darum nicht Unordnung. Und das ist ein sehr feiner
Punkt, den man verstehen muß.
Konfuzius konnte Lao Tse nicht verstehen. Als er gegangen
wag lachte Lao Tse aus vollem Halse, so daß ihn seine Jünger frag-
ten: „Was lachst du so, was ist denn passiert?” Lao Tse soll gesagt
haben: „Der Verstand ist ein solches Brett vorm Kopf! Selbst der
Verstand eines Konfuzius ist ein Brett vorm Kopf. Er hat mich
überhaupt nicht verstanden, und was immer er über mich sagen
mag, wird ein Mißverständnis sein. Er glaubt, daß er Ordnung in
die Welt bringt. Man kann die Welt nicht in Ordnung bringen.
Sie hat schon eine innewohnende Ordnung, und die ist immer da.
Wer künstlich eine Ordnung herstellen will, stiftet nur Unord-
nung.” Lao Tse sagte: „Er denkt jetzt, daß ich Unordnung schaffe;
und dabei ist er es, der die Unordnung schafft. Ich bin gegen jede
aufgezwungene Ordnung, weil ich an eine spontane Disziplin
glaube, die automatisch kommt und wächst. Sie braucht nicht auf-
erlegt zu werden.”
Genauso sieht Tantra die Dinge. Für Tantra ist Unschuld gleich
Spontaneität, Sahajata — du bist du selbst, ohne jeden Zwang. Sei
einfach du selbst, und wachse wie ein Baum; nicht wie der Baum
eurer Gärten, sondern wie der Baum eurer Wälder, wildwach-
send, ohne geführt zu werden; denn geführt werden heißt ver-
führt werden — für Tantra ist jede Führung Verführung —, nicht
geführt also, nicht behütet, nicht gelenkt, nicht motiviert, sondern
einfach nur wachsend.
Das innere Gesetz genügt. Ein anderes Gesetz ist nicht nötig.
Und wenn du ein anderes Gesetz brauchst, so zeigt das nur, daß
du das innere Gesetz noch nicht kennst. Du hast den Kontakt mit
ihm verloren. Das Wahre ist also nicht etwas Aufgezwungenes.
Das Wahre ist es, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, wieder
zum Zentrum zurückzukehren, wieder nach Hause zurückzu-
kehren, und so das wirkliche, das innere Gesetz zu finden. Aber
nach Auffassung der öffentlichen Moral, der Religionen, der so-
genannten Religionen, muß die Ordnung erzwungen werden,
muß „das Gute” von oben erzwungen werden, von außen. Alle
Religionen, Moralprediger, Priester und Päpste halten euch für
böse von Geburt an, das dürft ihr nicht vergessen. Sie glauben

198
Kapitel 8

nicht an das Gute im Menschen. Sie glauben nicht an irgendein


gutes Inneres. Sie halten euch für verdorben — so daß ihr gar nicht
gut sein könnt, es sei denn, daß ihr dazu erzogen werdet, es sei
denn, daß ihr von außen zum Guten gezwungen werdet. Daß es
von innen kommen könnte, ist ausgeschlossen.
Für die Priester, die frommen Leute, die Moralisten seid ihr von
Natur aus schlecht. Das Gute ist eine Disziplin, die von außen er-
zwungen wird. So, wie ihr seid, seid ihr ein einziges Chaos. Sie
sind es, die da Ordnung hineinbringen müssen! Sie stiften Ord-
nung — und gerade sie sind es, die die ganze Welt durcheinander-
gebracht haben, die ein Chaos, ein Irrenhaus aus ihr gemacht ha-
ben, nur weil sie jahrhundertelang nichts anderes taten, als für
Ordnung und Disziplin zu sorgen. Sie haben euch so sehr belehrt,
daß ihr, die Belehrten, verrückt geworden seid. Tantra glaubt dar-
an, daß ihr von innen her gut seid. Merkt euch diesen Unter-
schied. Tantra sagt, daß jeder gut geboren wird, daß das Gute eure
Natur ist. Das ist tatsächlich so! Ihr seid bereits gut. Was ihr
braucht, ist natürliches Wachstum. Ihr braucht keinerlei Zwang.
Darum gilt nichts für schlecht. Wenn Wut da ist, wenn Sex da ist,
wenn Gier da ist, dann sind, so sagt Tantra, auch diese Dinge gut.
Alles was fehlt, ist dies: daß ihr nicht in euch selbst zentriert seid:
darum wißt ihr diese Dinge nicht zu nutzen. Nur deshalb!
Wut ist nichts Schlechtes. Das wahre Problem ist, daß ihr dann
nicht bei euch seid: nur darum richtet Wut Unheil an. Wenn ihr
dabei in euch anwesend sei, wird Wut zu einer gesunden Ener-
gie, wird Wut etwas Gesundes. Wut, zu Energie transformiert,
wird gut. Alles, was es gibt, ist gut. Tantra glaubt an das innewoh-
nende Gute von allem. Alles ist heilig. Nichts ist unheilig, und
nichts ist böse. Für Tantra gibt es keinen Teufel, sondern nur gött-
liche Existenz.
Die Religionen können ohne den Teufel nicht auskommen. Sie
brauchen einen Gott, und sie brauchen auch einen Teufel. Laßt
euch nicht täuschen, wenn in ihren Tempeln nur ein Gott zu fin-
den ist. Gleich hinter dem Gott versteckt ist der Teufel, und kei-
ne Religion kann ohne Teufel auskommen.
Irgend etwas muß verdammt werden, etwas muß bekämpft
werden, etwas muß zerstört werden. Das Ganze wird nie

199
Das Buch der Geheimnisse

akzeptiert, sondern immer nur ein Teil. Das ist grundsätzlich so.
Keine Religion akzeptiert euch total, sondern immer nur teil-
weise. Es heißt: „Wir akzeptieren eure Liebe, aber nicht euren
Haß. Rottet den Haß aus.” Und das ist ein sehr tiefes Problem,
denn wenn ihr den Haß völlig zerstört, wird dabei auch die Lie-
be zerstört, weil es nicht zwei verschiedene Dinge sind. Es heißt:
„Wir akzeptieren eure Friedlichkeit, aber wir akzeptieren nicht
eure Wut.” Zerstört die Wut, und alle Lebendigkeit wird mit zer-
stört. Dann wird man ein stiller, aber kein lebendiger Mensch —
eine bloße Leiche. Eine solche Stille ist nicht Leben. Sie ist Fried-
hofsstille. Alle Religionen spalten euch in zwei Teile: das Böse
und das Göttliche. Sie sind für das Göttliche und gegen das Böse.
Das Böse muß ausgerottet werden! Wer ihnen also bis zur letz-
ten Konsequenz folgt, der macht am Ende die Entdeckung, daß
er, wenn er schließlich den Teufel zerstört hat, damit auch Gott
zerstört hat. Aber niemand befolgt die Religionen wirklich. Das
kann auch niemand, weil diese Lehre von vornherein absurd ist.
Was macht man also? Alle tun nur so, als ob. Darum so viel Heu-
chelei. Heuchelei ist das Werk der Religionen. Ihr könnt das, was
sie euch lehren, gar nicht tun, also werdet ihr zu Heuchlern.
Würdet ihr ihnen folgen, würde es euch umbringen; folgt ihr ih-
nen aber nicht, fühlt ihr euch schuldig, denn ihr seid „unreligiös”.
Was also tun?
Der schlaue Kopf macht einen Kompromiß. Er macht Lippen-
bekenntnisse und sagt: „Ich folge euch ja” und macht weiter, was
er will. Man hält an der Wut fest, am Sex, am Geiz, aber ver-
dammt den Geiz, die Wut, den Sex als schlecht, nennt ihn Sünde.
Das ist Heuchelei. Die ganze Welt ist heuchlerisch geworden.
Kein Mensch ist ehrlich. Ehe nicht diese Religionen verschwin-
den, die euch schizophren machen, kann niemand ehrlich sein.
Das scheint paradox, weil doch alle Religionen die Ehrlichkeit pre-
digen. Dabei sind sie die Ursache aller Unehrlichkeit. Sie machen
euch unehrlich: denn sie fordern unmögliche Dinge von euch, die
ihr gar nicht tun könnt, und machen euch so zu Heuchlern.
Tantra akzeptiert euch in eurer Totalität, in eurer Ganzheit,
denn Tantra sagt: Entweder du akzeptierst etwas ganz oder lehnst
es ganz ab. Es gibt kein Zwischending. Ein Mensch ist etwas

200
Kapitel 8

Ganzes, ein organisches Ganzes. Man kann ihn nicht aufspalten.


Man kann nicht sagen: „Diese Seite an ihm akzeptieren wir nicht”,
weil das, was man dabei ablehnt, organisch mit dem zusammen-
hängt, was man akzeptiert.
Das wäre so, als zeigte jemand auf meinen Körper und sagte:
„Den Blutkreislauf akzeptieren wir, aber das Geräusch, das das
Herz dabei macht, nicht. Dieses ewige Pochen können wir nicht
ertragen. Daß sein Blut kreist, das akzeptieren wir, das ist okay;
das macht keinen Lärm.” Aber mein Blutkreislauf geht durch
mein Herz, und mein Herzschlag hängt untrennbar mit meinem
Blutkreislauf zusammen. Das eine bringt das andere mit sich.
Was soll ich also tun? Mein Herz und mein Blutkreislauf sind
eine organische Einheit. Sie sind nicht zwei, sie sind ein Ganzes.
Akzeptiert mich entweder ganz, oder verwerft mich ganz. Aber
versucht nicht, mich zu teilen, weil ihr dann nur Unwahrheit er-
zeugt, eine tiefe Unwahrheit. Wenn ihr meinen Herzschlag stän-
dig verdammt, dann fange ich auch an, ihn zu verdammen. Aber
ohne ihn kann mein Blut nicht zirkulieren, ohne ihn kann ich
nicht leben. Was also tun? Laß alles beim alten, behaupte aber
gleichzeitig etwas zu sein, das du nicht bist, das du nicht sein
kannst.
Es ist leicht zu erkennen, wie Herz und Blutkreislauf zusam-
menhängen. Aber es ist schwer zu erkennen, wie Liebe und Haß
zusammenhängen. Sie sind eins. Wenn du jemanden liebst, was
machst du? Es ist Teil eines organischen Vorgangs, wie das Ausat-
men. Wenn du jemanden liebst, was tust du? Du gehst hinaus,
ihm entgegen. Es ist wie Ausatmen. Wenn du jemanden haßt, ist
es wie Einatmen.
Wenn du hebst, wirst du von jemandem angezogen. Wenn du
haßt, wirst du abgestoßen. Anziehung und Abstoßung sind zwei
Wellen ein und derselben Bewegung. Anziehung und Abstoßung
sind nicht zweierlei, sie sind nicht zu trennen. Man kann nicht sa-
gen: „Einatmen darfst du, aber ausatmen nicht” — oder umgekehrt.
„Hier ist nur eines erlaubt. Entweder atme aus oder ein, beides
darfst du nicht.” Aber wie sollst du einatmen, wenn du nicht aus-
atmen darfst? Und wenn du nicht hassen darfst, kannst du auch
nicht lieben.

201
Das Buch der Geheimnisse

Tantra sagt, daß wir den ganzen Menschen akzeptieren sollen,


weil der Mensch eine organische Einheit ist. Der Mensch ist eine
tiefe Ganzheit: Nichts an ihm darf gebrochen werden. Und es
muß so sein — denn wenn der Mensch keine organische Einheit
ist, dann kann nichts in diesem Universum eine organische Ein-
heit sein. Der Mensch ist die Krone aller organischen Ganzheit.
Der Stein auf der Straße ist ein Ganzes. Der Baum ist ein Ganzes.
Die Blume und der Vogel sind Ganzheiten. Alles ist eine Einheit.
Warum also nicht der Mensch? Und der Mensch ist der Höhe-
punkt, die großartigste Einheit überhaupt, ein sehr komplexes, or-
ganisches Ganzes. Wirklich, man darf nichts an ihm ablehnen!
Tantra sagt: Wir akzeptieren dich so, wie du bist. Was aber nicht
heißt, daß du dich nicht zu ändern brauchst. Was nicht heißt, daß
du jetzt aufhören sollst zu wachsen. Ganz im Gegenteil heißt das,
daß wir den Wurzelboden von allem Wachstum akzeptieren. Jetzt
darfst du wachsen, aber dieses Wachsen wird nichts mit deiner
Entscheidung zu tun haben. Dies Wachsen wird ein Wachsen
ohne eigene Wahl sein.
Seht! Wenn zum Beispiel ein Buddha erleuchtet wird, können
wir fragen: „Was ist aus seiner Wut geworden? Er war wütend, er
war sexuell, wohin ist sein Sex also verschwunden? Wohin ist sei-
ne Wut verschwunden? Wo ist seine Gier?” Wir können jetzt kei-
ne Wut mehr in ihm erkennen — in einem Erleuchteten bleibt
keine Spur von Wut zurück.
Könnt ihr den Schlamm in der Lotus-Blüte erkennen? Der Lo-
tus kommt aus dem Schlamm! Wenn du noch nie gesehen hast,
wie ein Lotus aus dem Schlamm emporwächst, und man bringt
dir eine Lotusblüte, kannst du dir dann vorstellen, daß diese schö-
ne Lotusblüte auf dem ganz gewöhnlichen Schlamm eines Tei-
ches gewachsen ist? Dieser wunderschöne Lotus soll aus dem häß-
lichen Schlamm kommen? Ist in ihr noch irgendwo eine Spur von
Schlamm zu erkennen? Er ist da — aber transformiert. Ihr Duft
kommt aus eben diesem häßlichen Schlamm. Das rosige Weiß der
Blütenblätter kommt aus eben diesem häßlichen Schlamm. Wenn
du diese Lotusblüte wieder im Schlamm vergräbst, wird sie in we-
nigen Tagen wieder von ihrer Mutter verschlungen sein. Dann
wirst du wieder nicht erkennen können, was aus diesem Lotus ge-

202
Kapitel 8

worden ist. Wo - wo ist der Duft? Wo sind diese schönen Blü-


tenblätter?
Ihr könnt euch in einem Buddha nicht wiedererkennen, aber
der Mensch in ihm ist da. Natürlich auf einer bedeutenderen und
höheren Ebene - transformiert. Der Sex ist da, die Wut ist da, der
Haß ist da. Alles, was zum Menschen gehört, ist da ... ein Mensch
wie du - aber zu seiner höchsten Höhe herangewachsen. Er ist zu
einer Lotusblüte geworden: Der Schlamm ist nicht mehr zu er-
kennen. Aber das heißt nicht, daß der Schlamm nicht da wäre. Er
ist da, aber nicht als Schlamm. Es ist etwas Höheres daraus ge-
worden.
Darum kann man bei einem Buddha weder Haß noch Liebe
spüren. Dies zu verstehen wird noch schwieriger, weil ein Bud-
dha so voller Liebe scheint - er haßt nie, er ist immer still, niemals
wütend. Aber seine Stille ist anders als eure Stille. Es kann nicht
das gleiche sein. Was ist eure Stille? Einstein sagt irgendwo, daß
unser Friede nichts anderes ist als Vorbereitung zum Kriege. Zwi-
schen zwei Kriegen ist eine Lücke des Friedens, aber dieser Frie-
de ist kein wirklicher Friede. Er ist nur eine Pause zwischen zwei
Kriegen und wird so zum kalten Krieg. Somit haben wir nur zwei
Arten von Krieg - den heißen und den kalten.
Nach dem zweiten Weltkrieg begannen Rußland und Amerika
einen kalten Krieg. Es war kein Friede, sondern die Vorbereitung
eines neuen Krieges. Sie rüsteten auf. Jeder Krieg verwüstet, zer-
stört. Ihr müßt wieder Kräfte sammeln, also braucht ihr eine Pau-
se, ein Intervall. Aber wenn wirklich der Krieg aus der Welt ver-
schwindet, dann wird auch dieser Frieden verschwinden, der doch
nur ein kalter Krieg ist; denn er währt nur für die Zeit zwischen
zwei Kriegen. Wenn aller Krieg völlig verschwindet, kann es den
kalten Krieg, den wir Frieden nennen, nicht mehr geben.
Was ist eure Stille? Nur eine Vorbereitung zwischen zwei Wut-
ausbrüchen. Wenn ihr entspannt zu sein scheint, was ist es wirk-
lich? Seid ihr wirklich entspannt, wirklich gelöst, oder sammelt
ihr nur neue Kräfte für eine neue Explosion, einen neuen Aus-
bruch? Wut ist Energieverschwendung, also braucht ihr hinterher
wieder Zeit. Wenn ihr wütend werdet, könnt ihr nicht sofort da-
nach wieder wütend werden. Wenn ihr in den Sexakt geht, könnt

203
Das Buch der Geheimnisse

ihr ihn nicht sofort wiederholen. Ihr braucht Zeit, ihr braucht eine
Periode von Brahmacharya, Enthaltsamkeit, mindestens zwei bis
drei Tage. Es kommt auf das Alter an. Diese Enthaltsamkeit ist kei-
ne wirkliche Enthaltsamkeit: Ihr sammelt nur neue Kräfte. Zwi-
schen zwei sexuellen Akten kann es kein Brahmacharya geben.
Ihr nennt die Zeit zwischen zwei Mahlzeiten „Fasten”. Darum
sagt man im Englischen für Frühstück „breakfast”, „Fastenbre-
chen”. Aber was ist das für ein Fasten? Ihr habt nur einen neuen
Anlauf genommen. Ihr könnt nicht unentwegt Essen in euch hin-
einstopfen. Ihr braucht eine Pause, aber diese Pause ist kein Fa-
sten. Sie ist in Wirklichkeit die Vorbereitung auf eine neue Mahl-
zeit, kein Fasten.
Wenn wir also still sind, dann nur zwischen zwei Wutanfällen.
Wenn wir gelöst sind, dann nur zwischen zwei Gipfeln der An-
spannung. Wenn wir enthaltsam sind, dann nur zwischen zwei
Sexakten. Wenn wir lieben, dann nur zwischen zwei Haßaus-
brüchen.
Vergeßt das nicht. Wenn Buddha also still ist, dann dürft ihr das
nicht mit eurer Stille verwechseln. Denn wenn die Wut ver-
schwunden ist, dann ist auch die Stille verschwunden. Sie gehören
zusammen, sie können nicht getrennt werden. Wenn also ein
Buddha ein Brahmachari ist, ein enthaltsamer Mensch, dann dürft
ihr das nicht mit eurer Enthaltsamkeit verwechseln. Ist der Sex
verschwunden, dann ist auch die Enthaltsamkeit fort. Beides
gehört zusammen, also ist beides gemeinsam verschwunden. Mit
einem Buddha tritt ein völlig neues Wesen auf, wie ihr es euch
überhaupt nicht vorstellen könnt. Ihr könnt euch nur die Zwie-
gespaltenheit vorstellen, die ihr von euch selbst kennt. Ihr könnt
euch nicht vorstellen, was für eine Art von Mensch das ist, was
mit ihm geschehen ist.
Die ganze Energie ist auf eine andere Ebene gehoben worden,
eine andere Seinsebene. Der Schlamm ist zum Lotus geworden,
aber er ist nach wie vor vorhanden. Der Schlamm ist nicht aus
dem Lotus entfernt worden, er wurde transformiert.
Alle eure inneren Energien werden also von Tantra akzeptiert.
Tantra will absolut nichts verworfen wissen; Tantra will nur eines:
Transformation. Und Tantra sagt, daß der erste Schritt ist, alles zu

204
Kapite18

akzeptieren. Dieser erste Schritt ist sehr schwierig - alles zu ak-


zeptieren. Vielleicht wirst du jeden Tag mehrere Male wütend,
und es fällt dir sehr schwer, deine Wut zu akzeptieren. Wütend
zu werden, ist sehr leicht: deine Wut zu akzeptieren, ist sehr
schwer. Warum? Mit dem Wütendwerden hast du keine solche
Schwierigkeiten, warum hast du dann soviel Schwierigkeiten, es
zu akzeptieren? Wütend zu werden, ist für dich weniger schlimm,
als es zu akzeptieren. Jeder hält sich für einen guten Menschen,
und Wut ist nur etwas Momentanes. Sie kommt und geht. Sie zer-
stört dein Selbstbild nicht, für dich bleibst du weiterhin gut. Du
sagst, daß es eben passiert ist. Das zerstört aber dein Ego nicht.
Die verschlagenen Leute bereuen also sofort. Erst werden sie
wütend, und hinterher bereuen sie. Sie bitten um Verzeihung. Das
sind die Schlauen. Warum nenne ich sie schlau? Weil ihre Wut
ihr Selbstbild ins Schwanken bringt. Es ist ihnen unbehaglich zu-
mute. Plötzlich denken sie: „Ich - und wütend? Bin ich so
schlecht, daß ich wütend werde?” Das Image des „guten Men-
schen” kommt ins Wanken. Jetzt muß er es wieder herstellen. Au-
genblicklich sagt er: „Dies war schlecht von mir. Ich will's nicht
wieder tun, verzeih` mir.” Indem er um Vergebung bittet, wird
sein Selbstbild repariert. Er ist wieder okay, wieder da, wo er vor
der Wut war. Er hat seine Wut weggewischt, indem er um Ver-
zeihung bat. Er hat sich nur deshalb schlecht genannt, um gut blei-
ben zu können.
Darum könnt ihr es euch leisten, ganze Leben lang wütend zu
sein, sexuell zu sein, besitzergreifend zu sein, dies und das zu sein
- ohne es je zu akzeptieren. Das ist der Trick des Verstandes. Was
immer ihr tut - es spielt sich ja nur an der Peripherie ab! Im Mit-
telpunkt bleibst du gut. Wenn du aber akzeptierst, daß „Ich voll
Wut stecke”, dann bist du damit böse bis in den Kern. Dann ist
das nicht mehr nur ein Wütendwerden, dann ist es nicht nur mo-
mentan. Vielmehr erkennst du die Wut dann als einen Teil dei-
ner Verfassung. Dann ist es nicht mehr der andere, der dich zur
Wut reizt, dann ist die Wut auch da, wenn du allein bist. Auch
wenn du nicht wütend bist, ist Wut da, die Wut ist deine Energie
- ein Teil von dir.
Es ist nicht so, daß sie manchmal aufkommt und dann wieder

205
Das Buch der Geheimnisse

verpufft — nein! Sie kann nicht aufflammen, wenn sie nicht so-
wieso da ist. Ihr könnt dies Licht hier anschalten, ihr könnt es aus-
schalten, aber der Strom muß dauernd da sein. Ist kein Strom da,
könnt ihr es weder an — noch ausschalten. Der Strom, der Wut-
strom, ist immer da, der Sexstrom ist immer da, der Gierstrom ist
immer da. Ihr könnt ihn anschalten, ihr könnt ihn ausschalten. Ihr
ändert euch, je nach Situation, aber innerlich bleibt ihr gleich. Ak-
zeptieren heißt nun, daß deine Wut kein momentaner Akt mehr
ist, sondern daß du diese Wut bist. Sex ist nicht nur ein Akt, du
bist Sex. Gier ist nicht nur ein Akt: du bist Gier. Dies zu akzeptie-
ren heißt, dein Selbstbild über den Haufen zu werfen. Und wir
alle haben uns wunderschöne Selbstbilder gebastelt. Jeder hat sich
ein wunderschönes Selbstbild aufgebaut — ausgesprochen schön.
Und nichts, was du tust, kann es antasten. Du beschützt es im-
merzu. Dein Image ist geschützt, also kannst du dich wohlfühlen.
Darum kannst du wütend werden, kannst du sexuell werden,
ohne daß es dich weiter stört. Aber wenn du akzeptierst und sagst:
„Ich bin Sex, ich bin Wut, ich bin Gier”, dann bricht dein Selbst-
bild augenblicklich zusammen.
Tantra sagt, daß dies der erste Schritt ist, und der schwierigste —
nämlich dich zu akzeptieren, ganz gleich, was du bist. Manchmal
versuchen wir zwar, uns zu akzeptieren, aber wenn, dann ge-
schieht es doch nur wieder aus Kalkül. Unsere Schlauheit sitzt rief
und ist subtil, unser Verstand kennt feine Schliche des Betrugs.
Manchmal akzeptierst du und sagst: „Ja, ich bin wütend.” Aber
daß du es akzeptierst, liegt nur daran, daß du schon daran denkst,
die Wut zu überwinden. Dann akzeptierst du und sagst: „Okay,
ich bin wütend. Und nun sag mir, wie ich es überwinden kann.”
Du akzeptierst den Sex, um nicht mehr sexuell sein zu müssen.
Sobald du vorhast, dich zu verändern, kannst du dich akzeptieren
— weil auch jetzt wieder dein Selbstbild aufrechterhalten bleibt,
nämlich durch die Zukunft.
Du bist gewalttätig und möchtest gerne gewaltlos werden. Also
akzeptierst du es und sagst: „Okay, ich bin gewalttätig. Heute bin
ich noch gewalttätig, aber morgen bin ich gewaltlos, komme was
da wolle.” Wie willst du da gewaltlos werden? Du vertagst dein
Selbstbild auf die Zukunft. Du stellst dich dir nicht so vor, wie du

206
Kapitel 8

jetzt bist, du stellst dich dir im Licht deines Ideals vor — gewaltlos,
voller Liebe und Mitgefühl. Damit bist du in der Zukunft. Die-
se Gegenwart ist nur dazu da, zur Vergangenheit zu werden.
Dein wahres Selbst ist in der Zukunft, also identifizierst du dich
immer nur mit Idealen. Diese Ideale sind auch nur wieder Schli-
che, der Wirklichkeit auszuweichen. Du bist gewalttätig: Das ist
jetzt so. Und die Gegenwart ist das einzige, was existentiell ist:
die Zukunft ist nicht. Deine Ideale sind nur Träume. Sie sind
Tricks, dich zu vertrösten, deine Gedanken auf etwas anderes zu
lenken.
Du bist gewalttätig. Das ist eine Tatsache, akzeptiere sie also.
Und versuche nun nicht, nicht gewaltsam zu sein. Ein gewaltsa-
mer Mensch kann nicht nicht-gewaltsam werden. Wie denn?
Schau tief hinein — du bist gewaltsam, wie kannst du also gewalt-
los sein? Alles, was du tust, wird von diesem gewalttätigen Men-
schen getan — aber auch alles! Selbst in deiner Bemühung, ge-
waltlos zu sein, stammt die Bemühung von einem, der gewalttätig
ist. Du bist gewaltsam, also wirst du auch bei deinem Versuch, ge-
waltlos zu sein, gewaltsam sein. Noch in dem Bemühen, gewalt-
los zu sein, wirst du jede Form von Gewalt anwenden.
Darum schließt du dich diesen Leuten an, die nach Gewaltlo-
sigkeit streben: Sie mögen nicht gewaltlos mit anderen sein, aber
sie sind es mit sich selbst, sie ermorden sich selbst. Und je mehr
sie gegen sich selbst wüten, desto gefeierter sind sie. Wenn sie to-
tal verrückt und selbstmörderisch geworden sind, sagt die Gesell-
schaft: „Dies sind die wahren Weisen!” Aber sie haben nur den
Gegenstand ihrer Gewalt verschoben, sonst nichts. Sie waren
früher mit anderen gewaltsam, jetzt sind sie es mit sich selbst. Aber
die Gewalt ist da. Und wenn du gegen einen anderen Gewalt an-
wendest, kann das Gesetz einschreiten, können die Gerichte hel-
fen, wird dich die Gesellschaft verdammen. Aber wenn du die Ge-
walt gegen dich selbst richtest, gibt es keine Gesetze. Kein Gesetz
kann dich vor dir selbst schützen. Wenn der Mensch gegen sich
selbst ist, gibt es keinen Schutz. Da ist nichts zu machen. Und es
kümmert auch niemanden, denn es ist deine Sache. Niemand an-
ders ist betroffen, es ist deine Sache. Sogenannte Mönche, soge-
nannte Heilige, haben seit je Gewalt gegen sich selbst verübt. Das

20 7
Das Buch der Geheimnisse

interessiert niemanden. „Macht meinetwegen weiter”, sagen die


Leute, „es ist eure Sache.”
Wenn dein Geist von Habgier bestimmt wird, wie kannst du
dann nicht-gierig sein? Der Gierige bleibt gierig. Was immer von
ihm getan wird, um die Gier zu überwinden, wird nicht helfen.
Natürlich können wir neue Formen der Gier entwickeln. Einen
Geizhals kann man fragen: „Wozu willst du immer nur Geld an-
häufen? Du wirst sterben und kannst dein Geld nicht mitneh-
men.” So argumentieren nämlich die frommen Moralapostel —
daß du dein Geld nicht mitnehmen kannst. Könnte man es nun
aber doch, dann bräche diese ganze Logik zusammen. Natürlich
spürt der Geizhals das Zwingende dieser Logik und sagt: „Klar,
ich kann meinen Reichtum nicht mitnehmen!” Aber in Wirk-
lichkeit möchte er es. Und so gewinnt der Priester Einfluß. Er be-
weist ihm, daß es Unsinn ist, Dinge anzuhäufen, die nicht über
den Tod hinaus mitgenommen werden können. Er sagt: „Ich wer-
de dir zeigen, wie du Dinge anhäufst, die du mitnehmen kannst.
Tugend kannst du mitnehmen, Punya, gute Taten, kannst du mit-
nehmen, milde Gaben kannst du mitnehmen, aber deinen Reich-
tum nicht. Spende also dein Geld.”
Aber das ist ein Appell an seine Gier. Das heißt mit anderen
Worten: Jetzt geben wir dir bessere Dinge, die du über den Tod
hinaus mitnehmen kannst. Der Appell tut seine Wirkung. Der
Habgierige denkt: „Du hast recht. Der Tod ist gewiß, und daran ist
nichts zu ändern; ich muß also etwas tun, was ich mitnehmen
kann. Ich muß mir auch in der Welt drüben ein Konto anlegen.
Diese Welt, dies Konto, das ich hier habe, kann ich nicht ewig be-
halten.” So ähnlich redet er ständig.
Geht die heiligen Schriften durch — sie appellieren an eure Hab-
gier. Sie sagen: „Was vergeudet ihr eure Zeit mit den Genüssen
des Augenblicks?” Die Betonung liegt auf „Augenblick”. Findet
also irgendwelche ewigen Genüsse, dann ist alles okay. Sie sind
also nicht gegen Genüsse überhaupt. Sie sind nur dagegen, daß sie
momentan sind. Seht ihr die Gier? Manchmal läßt sich vielleicht
ein ungieriger Mensch finden, der sich an momentanen Genüs-
sen freut, aber unter euren Heiligen werdet ihr nicht einen einzi-
gen finden, der nicht nach ewigen Genüssen verlangt und strebt.

208
Kapitel 8

Ihre Gier ist weit größer. Unter gewöhnlichen Menschen mag ein
ungieriger Mensch zu finden sein, aber unter euren sogenannten
Heiligen könnt ihr keinen ungierigen Menschen finden. Sie wol-
len auch Genüsse, aber sie sind gieriger als ihr. Ihr gebt euch mit
momentanen Genüssen zufrieden, sie nicht. Ihre Gier ist größer.
Ihre Gier ist nur durch ewige Genüsse zu befriedigen.
Grenzenlose Gier will grenzenlose Genüsse, denkt daran. Be-
grenzte Gier wird durch begrenzten Genuß befriedigt. Sie wer-
den euch fragen: „Was gebt ihr euch mit einer Frau ab? Sie ist
nichts als Knochen und Blut. Schaut tiefer in die Frau, die ihr liebt
- woraus besteht sie?” Sie haben nichts gegen die Frau, sie haben
etwas gegen die Knochen, das Blut, gegen den Körper. Aber wenn
die Frau aus Gold ist, dann ist es okay. Sie wollen eine Frau aus
Gold!
Solche Frauen sind aber in dieser Welt nicht zu finden, also er-
finden die Gierigen eine andere Welt. Sie sagen: „Im Himmel, da
gibt es goldene Jungfrauen, Apsaras, die schön sind und nie al-
tern.” Im Himmel der Hindus bleiben die himmlischen Mädchen,
die Apsaras, i mmer sechzehn Jahre alt. Sie werden nie älter. Sie
sind immer sechzehn. Nicht weniger, nicht mehr. Was ver-
schwendet ihr also eure Zeit mit diesen gewöhnlichen Frauen? -
denkt an den Himmel! Sie sind also nicht gegen den Genuß. In
Wirklichkeit sind sie gegen den vergänglichen Genuß.
Wenn Gott aus irgendeiner Laune heraus dieser Welt ewige
Genüsse schenken würde, würde der ganze Bau eurer Religion
zusammenbrechen; der ganze Reiz wäre weg. Wenn es einen
Weg gäbe, Bankkonten ins Jenseits mitzunehmen, dann wäre kein
Mensch mehr daran interessiert, Bankkonten irn Jenseits anzule-
gen. Der Tod ist also ein guter Geschäftsfreund der Priester. Ein
gieriger Mensch rennt von einer Gier zur anderen. Wenn du ihm
erzählst und ihm plausibel machst, daß es seine Habgier ist, was
ihn unglücklich macht und daß er sich die Seligkeit damit erhan-
deln kann, daß er die Habgier aufgibt, dann versucht er es viel-
leicht damit, denn das geht nicht wirklich gegen seine Habgier.
Du lockst seine Gier mit neuen Genüssen. Seine Gier kann zu
neuen Weidegründen weiterziehen. Tantra sagt also, daß ein gie-
riger Sinn nicht nicht-gierig werden kann, daß ein gewalttätiger

20 9
Das Buch der Geheimnisse

Sinn nicht nicht-gewaltsam werden kann. Aber das macht sehr


hoffnungslos. Wenn es so ist, ist nichts zu machen. Wofür steht
Tantra dann? Wenn ein gieriger Sinn nicht ungierig werden kann,
und ein gewaltsamer Sinn nicht gewaltlos, und ein sexbesessener
Sinn nicht vom Sex loskommt, wenn da nichts zu machen ist,
wofür steht Tantra dann? Tantra sagt nicht, daß nicht etwas getan
werden könnte. Aber das passiert auf einer völlig anderen Ebene.
Ein gieriger Mensch muß zunächst einsehen, daß er gierig ist
und das auch akzeptieren, und nicht versuchen, nicht-gierig zu
sein. Der gierige Mensch muß tief in sich hineinschauen, um die
Tiefe seiner Gier auszuloten; und er darf nicht vor ihr davonlau-
fen, sondern muß mit ihr leben, darf sich nicht in Ideale flüchten,
zum idealen Gegenteil, zum Gegensatz-Ideal. Er muß bei der Ge-
genwart bleiben, ganz in die Gier eintauchen, die Gier erforschen,
die Gier verstehen, und auf keine Weise versuchen, vor ihr da-
vonzulaufen. Wenn du bei deiner Gier bleiben kannst, werden
viele Dinge geschehen. Wenn du bei deiner Gier bleiben kannst,
bei deinem Sex, bei deiner Wut, wird sich dein Ego auflösen. Das
wird das erste sein — und was für ein großes Wunder das ist!
Viele kommen zu mir und wollen wissen, wie man egolos wird.
Ihr könnt nicht egolos sein, weil ihr euch die Wurzeln eures Egos
anschauen müßt, bevor ihr es sehen könnt. Ihr seid gierig, glaubt
aber, es nicht zu sein: Das ist das Ego. Wenn du gierig bist und
auch weißt und total akzeptierst, daß du gierig bist, wieviel Bo-
den gibst du dann noch deinem Ego? Wenn du wütend bist und
sagst, daß du wütend bist — es nicht etwa andern sagst, sondern
tief in dir selbst fühlst und deine Hilflosigkeit dazu — wieviel Bo-
den hat dann die Wut noch? Wenn du sexuell bist, akzeptiere es.
Was immer da ist, akzeptiere es.
Die Natur nicht zu akzeptieren — das bringt das Ego hervor;
dein Sosein, dein Tathata nicht zu akzeptieren — das, was du bist.
Wenn du es akzeptierst, wird das Ego nicht mehr da sein. Wenn
du es nicht akzeptierst, wenn du es verwirfst, wenn du Ideale da-
gegensetzt, dann kommt das Ego. Ideale sind der Stoff, aus dem
das Ego gemacht ist.
Akzeptiere dich selbst. Aber dann kommst du dir ja vor wie ein
Tier! Du wirst dir nicht wie ein Mensch vorkommen, denn dein

21 0
Kapite18

Konzept vom Menschen beruht auf deinen Idealen. Darum kön-


nen wir es nicht lassen, andere zu ermahnen, nicht wie die Tiere
zu sein — dabei ist jeder ein Tier! Was kann man tun? Du bist ein
Tier. Akzeptiere deine Animalität. Und im gleichen Augenblick,
wo du deine Animalität akzeptierst, hast du den ersten Schritt ge-
tan, über das Tier in dir hinauszugehen. Denn kein Tier weiß, daß
es ein Tier ist. Nur der Mensch kann es wissen. Und damit trans-
zendiert er es. Ihr könnt es nicht transzendieren, indem ihr es ab-
leugnet. Akzeptiert es. Wenn es akzeptiert worden ist, werdet ihr
plötzlich merken, daß ihr es transzendiert habt. Wer akzeptiert
denn? Wer ist es, der das ganze akzeptiert? Die Instanz, die ak-
zeptiert, ist dieselbe, die auch transzendiert. Was ihr leugnet, mit
dem bleibt ihr auf gleicher Stufe. Was ihr akzeptiert, das laßt ihr
hinter euch. Akzeptieren heißt Transzendieren. Und wer sich
selbst total akzeptiert, wird plötzlich in sein Zentrum gestoßen.
Dann geht es nirgends mehr hin, dann könnt ihr euch nicht mehr
von eurem Sosein entfernen, von eurer Natur, und damit seid ihr
bei eurer Mitte angelangt. Alle diese tantrischen Techniken, die
wir diskutieren und zu verstehen suchen, sind verschiedene Me-
thoden, euch auf euer Zentrum zurückzuwerfen, euch von der
Peripherie herunterzustoßen. Und ihr versucht alles mögliche, um
eurem Zentrum auszuweichen. Ideale sind gute Ausreden. Idea-
listen sind die subtilsten Egoisten, die es überhaupt gibt.
Vieles passiert da. Du bist aggressiv und legst dir ein Ideal der
Aggressionslosigkeit zu. Nun brauchst du nicht mehr in dich hin-
einzuschauen, in deine Gewalttätigkeit. Wozu auch? Nun
brauchst du ja nur noch eines zu tun — immerzu über Gewaltlo-
sigkeit nachzudenken, nachzulesen und sie so gut es geht zu prak-
tizieren. Du sagst dir: „Finger weg von der Gewalt.” In Wirklich-
keit aber bist du gewaltsam. Auf diese Weise gehst du dir selbst
aus dem Weg. Du kannst dich an der Peripherie verstecken, aber
so kommst du nie in dein Zentrum. Das ist das eine.
Zweitens darfst du, wenn du dir das Ideal der Gewaltlosigkeit
aufstellst, andere verdammen. Jetzt geht das ganz leicht. Du be-
sitzt das Ideal, mit dem du andere messen kannst. Und du kannst
zu jedem sagen: „Du bist gewaltsam.” Indien hat viele solcher
Ideale aufgestellt. Darum blickt Indien immer auf die ganze

21 1
Das Buch der Geheimnisse

übrige Welt herab. Ganz Indien verdammt und verurteilt. Es ver-


dammt die ganze Welt ständig. Alle andern sind so aggressiv! Nur
Indien ist gewaltlos. Kein Mensch hier scheint mir gewaltlos zu
sein, aber das Ideal ist ausgezeichnet geeignet, andere zu verdam-
men. Es verändert einen nie selbst, aber man kann gut andere ver-
dammen, weil man das Ideal besitzt, den Maßstab. Und sollte man
selbst aggressiv werden, so kann man es immer rationalisieren. Die
eigene Aggressivität, das ist etwas ganz anderes!
In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren ist Indien oft ge-
nug mit Gewalt vorgegangen, aber wir haben unsere eigene Ge-
walt nie verdammt. Wir haben sie stets mit den schönsten Be-
griffen zu bemänteln und zu rationalisieren gewußt. Wenn wir in
Bengalen Gewalt anwenden, in Bangladesh, dann sagen wir, daß
es uns nur um die Freiheit der Leute dort geht. Wenn wir in
Kaschmir Gewalt anwenden, dann nur, um den Kaschmiris zu
helfen.
Aber alle Kriegsanstifter reden die gleiche Sprache. Wenn Ame-
rika Gewalt in Vietnam anwendet, dann geschieht es, „diesen ar-
men Menschen” zu helfen. Niemand tut es im eigenen Interesse.
Niemand ist es je gewesen. Wir sind immer nur aggressiv, um an-
dern zu helfen. Selbst wenn ich dich töte, dann nur zu deinem
Besten. Um dir zu helfen. Und selbst wenn du dabei draufgehst,
selbst wenn ich dich töte, dann vergiß bitte nicht, daß es mein Er-
barmen mit dir ist. Sogar zu deinem eigenen Besten kann ich dich
töten. Verurteilt also die ganze Welt ruhig weiter ...
Als Indien Goa überfiel, als Indien Krieg gegen China führte,
kritisierte Bertrand Russell unseren Nehru und sagte: „Wo ist jetzt
eure Gewaltlosigkeit? Ihr seid doch das Gandhi Volk! Wo ist jetzt
eure Gewaltlosigkeit?” Nehru antwortete darauf, indem er Ber-
trand Russells Buch in Indien verbot. Das Buch, das Russell
schrieb, wurde verboten. Das ist unser Geist der Gewaltlosigkeit.
Das war eine gute Diskussion. Das Buch hätte umsonst verteilt
werden sollen — denn Russell argumentierte sehr schön. Er sagte:
„Ihr seid ein gewaltsames Volk. Eure Gewaltlosigkeit war nur poli-
tisch. Euer Gandhi war kein Weiser. Er war nur ein diplomatischer
Kopf. Und ihr alle redet von Gewaltlosigkeit, aber sobald der rich-
tige Augenblick kommt, werdet ihr gewaltsam. Wenn andere

21 2
Kapitel 8

Krieg führen, setzt ihr euch aufs hohe Roß und verdammt die
ganze Welt als aggressiv."
Das gilt für Individuen, für Gesellschaften, für Kulturen, für Na-
tionen. Wenn man Ideale hat, braucht man sich nicht zu ändern.
Man kann immer hoffen, in Zukunft von den Idealen selbst ver-
ändert zu werden. Und darüber hinaus darf man die andern stän-
dig verdammen.
Tantra sagt: Bleibe bei dir. Was immer du bist, akzeptiere es.
Verdamme nicht dich, verdamme nicht andere. Verdammung ist
zwecklos. Energien lassen sich so nicht verändern.
Der erste Schritt ist Akzeptieren. Bleibe beim Tatsächlichen.
Das ist sehr wissenschaftlich. Bleibe bei dem Faktum der Wut, der
Gier, des Sex. Und lerne das Tatsächliche in seiner ganzen Tatsäch-
lichkeit kennen. Streife sie nicht nur so obenhin, sondern erken-
ne die Tatsache in ihrer Totalität, in ihrer totalen Tatsächlichkeit.
Geh bis in die Wurzeln hinein. Und vergiß nicht, daß du alles
transzendierst, was du bis in die Wurzeln erkannt hast. Wenn du
deinen Sex bis in die Wurzeln kennst, wirst du ihn meistern.
Wenn du deine Wut bis in die Wurzeln erkannt hast, wirst du ihr
Meister. Dann wird Wut zum bloßen Werkzeug — du kannst sie
nutzen.
Mir fällt hier Gurdjieff ein. Gurdjieff lehrte seine Schüler „auf
die rechte Art” wütend zu sein. Von Buddha kennen wir das Wort
von der „rechten Meditation”, vom „rechten Denken”, von der
„rechten Kontemplation”. Von Mahavir stammt die Lehre von
„der rechten Sicht und dem rechten Wissen. ” Gurdjieff lehrte die
„rechte Wut und die rechte Gier”, und diese Lehre war von der
alten Tantra-Tradition beeinflußt. Gurdjieff wurde im Westen sehr
verdammt, weil er für den Westen ein lebendiges Tantra-Symbol
war. Er lehrte die „rechte Wut”. Er lehrte, wie man total wütend
sein konnte. Wenn jemand wütend wurde, sagte er: „Weiter! Hal-
te nicht zurück, laß es in seiner Totalität heraus. Geh rein. Werde
zu Wut. Bremse dich nicht, bleib nicht draußen stehen. Spring tief
hinein. Laß deinen ganzen Körper zur Flamme, zu Feuer wer-
den.”
Ihr seid noch nie so tief gegangen, und ihr habt es nie bei
jemandem beobachtet, weil sich jeder mehr oder weniger gut

21 3
Das Buch der Geheimnisse

benimmt, zivilisiert. Niemand ist ursprünglich. Jeder ahmt mehr


oder weniger nach. Kein Mensch ist ursprünglich!
Wenn ihr ganz in der Wut aufgehen könntet, würdet ihr ein-
fach zu Feuer, zu einem einzigen Brennen. Das Feuer wäre so tief,
die Flammen wären so tief, daß Vergangenheit und Zukunft au-
genblicklich aufhören würden zu existieren. Ihr würdet zu einer
Flamme von Gegenwart. Und wenn jede Zelle in dir entflammt
ist und jeder Teil deines Körpers zu Feuer geworden ist, wenn du
Wut bist (nicht nur wütend), dann, so sagt Gurdjieff „Sei bewußt.
Unterdrücke es nicht, sei jetzt bewußt. Sei dir jetzt plötzlich be-
wußt, was aus dir geworden ist, was Wut tatsächlich ist.”
In diesem Moment totaler Gegenwärtigkeit kann man plötz-
lich bewußt werden und über die Absurdität der ganzen Sache la-
chen, über die Narrheit, die Dummheit der ganzen Sache. Aber
das ist nicht mehr Verdrängung, das ist Lachen. Du kannst über
dich selbst lachen, weil du dich transzendiert hast. Nie wieder
wird die Wut dich überwältigen können ...
Du hast die Wut in ihrer Ganzheit kennengelernt und konn-
test trotzdem lachen und konntest trotzdem über sie hinausgehen.
Du konntest deine Wut von jenseits deiner Wut her sehen. Hast
du nur einmal ihre Totalität gesehen, weißt du, was Wut ist. Und
jetzt weißt du auch, daß du selbst dann noch, wenn deine ganze
Energie zu Wut verwandelt wird, ein Beobachter, ein Zeuge blei-
ben kannst. Darum hast du nun keine Angst mehr. Vergeßt nicht:
Nur was man nicht kennt, erweckt Angst. Das Dunkle weckt im-
mer Angst. Ihr habt Angst vor eurer eigenen Wut. Darum sagen
die Leute immer, wir sollen die Wut unterdrücken: Es könnte an-
deren schaden. Aber das ist nicht der wahre Grund. Der wahre
Grund ist, daß sie Angst vor ihrer Wut haben: Was könnte pas-
sieren, wenn sie wirklich wütend werden? — sie wissen es nicht!
Sie haben Angst vor sich selber. Sie haben die Wut nie kennenge-
lernt. Es lauert etwas fürchterliches im Innern, wovor sie Angst
haben. Darum passen sie sich lammfromm der Gesellschaft an, ih-
rer Kultur, ihrer Erziehung und sagen: „Wir dürfen nicht wütend
werden, Wut ist böse, sie tut anderen weh.”
Ihr habt Angst vor eurer Wut, ihr habt Angst vor eurem Sex.
Ihr seid nie ganz in den Sex hineingegangen. Ihr seid nie so total

214
Kapitel 8

in den Sex hineingegangen, daß ihr euch ganz vergessen habt. Ihr
wart immer da, die Gedanken waren immer dabei. Und wenn die
Gedanken im Sex noch dabei sind, dann ist der Sexakt nur pseu-
do, Mache. Das Denken muß sich auflösen; man muß ganz Kör-
per werden. Es darf kein Denken mehr da sein. Wenn das Den-
ken noch da ist, ist man geteilt. Dann heißt Sex nichts weiter, als
einen Überschuß Energie loszuwerden. Ein Dampfablassen,
nichts weiter. Aber ihr habt Angst, total im Sex zu sein: Darum
paßt ihr euch an, zieht ihr mit der Gesellschaft am selben Strang
und sagt, daß der Sex schlecht sei. Ihr habt Angst!
Warum habt ihr Angst? Ihr begebt euch nicht ganz in den Sex
hinein und wißt deshalb nicht, was ihr dann vielleicht anstellen
könntet, was passieren, was für eine animalische Kraft in euch
hochkommen könnte; ihr wißt nicht, in was für Abgründe euch
euer Unbewußtes werfen könnte. Ihr wißt es nicht! Ihr seid nicht
mehr Herr der Sache; ihr habt euch nicht mehr unter Kontrolle.
Euer Selbstbild könnte kaputtgehen. Darum kontrolliert ihr den
Sexakt. Und die beste Methode, ihn zu kontrollieren, ist es, im
Kopf zu bleiben. Den Sexakt zwar zuzulassen, aber nur lokal. Ver-
sucht den Unterschied zwischen lokal und total zu verstehen. Tan-
tra sagt, daß ein Sexakt dann lokal ist, wenn nur das Sexzentrum
betroffen ist. Er ist lokal, eine lokale Entladung. Das Sexzentrum
speichert immerzu Energie. Wenn sie überfließt, mußt du sie frei-
setzen. Sonst entstehen Spannungen, entsteht eine Last. Du gibst
sie frei, aber das ist eine lokale Entspannung. Dein ganzer Körper,
dein ganzes Selbst ist nicht davon betroffen. Ein nicht-lokales, ein
totales Bei-der-Sache-Sein bedeutet, daß jede Faser deines Kör-
per, jede Zelle deines Körpers, daß alles, was du bist, mit hinein-
kommt. Dein ganzes Wesen ist sexuell geworden, nicht nur dein
Sexzentrum.
Aber das macht Angst, denn nun ist alles möglich. Und du
weißt nicht, was passieren kann, weil du deine Totalität nie ken-
nengelernt hast. Du könntest Dinge tun, die du dir jetzt gar nicht
vorstellen kannst.
Dein Unbewußtes wird explodieren. Du wirst nicht nur zu ei-
nem Tier, sondern zu vielen Tieren, denn du hast viele Leben
hinter dir, du bist durch viele Tierkörper gegangen. Du könntest

215
Das Buch der Geheimnisse

heulen wie ein Wolf: du könntest kreischen; du könntest brüllen


wie ein Löwe. Du weißt nicht, was noch alles ...
Alles ist möglich — und daher die Angst. Du mußt in Kontrolle
bleiben, und darum verlierst du dich nie in etwas, darum lernst
du nie etwas kennen. Und was du nicht kennengelernt hast,
kannst du nicht hinter dir lassen.
Akzeptiere; gehe tief, tief bis zu den Wurzeln hinunter. Das ist
Tantra. Tantra steht für tiefe Erfahrungen. Alles Erfahrene kann
transzendiert werden; alles Verdrängte kann nie und nimmer
transzendiert werden.

216
Die Welt ist dein Zuhause
Sutras]

13. Oder stelle dir die fünffarbigen Augen auf dem Rade
des Pfaus als deine fünf Sinne im unendlichen Raum vor.
Laß nun ihre Schönheit in dir verschmelzen.

Oder aber mit jedem beliebigen Punkt im Raum, oder auf einer
Wand, bis sich der Punkt auflöst. Dann erfüllt sich dein Wunsch
nach einem anderen.

14. Lenke deine ganze Aufmerksamkeit auf den Nerv, der mitten
durch dein Rückgratgeht fein wie der Blütenfaden des Lotus. Und
werde so transformiert.

21 9
Das Buch der Geheimnisse

Der Mensch wird mit einer Mitte geboren, aber er hat sie voll-
kommen vergessen. Der Mensch kann leben, ohne seine Mitte zu
kennen, aber der Mensch kann nicht leben, ohne eine Mitte zu
haben. Die Mitte ist die Brücke zwischen Mensch und Schöpfung.
Sie ist die Wurzel. Du magst sie nicht kennen; ob sie gekannt wird
oder nicht, ist für das Dasein der Mitte unerheblich. Aber wenn
du sie nicht kennst, wirst du ein wurzelloses Leben führen - ent-
wurzelt. Du fühlst keinen Boden unter dir; du fühlst nicht die
Erde: du fühlst dich nicht zu Hause im Universum. Du bist hei-
matlos.
Natürlich, die Mitte ist da, aber da du sie nicht kennst, wird dein
Leben nur ein Dahintreiben sein - sinnlos, leer, ziellos. Du wirst
das Gefühl haben, ohne Leben zu leben, schleppend, nur auf den
Tod wartend. Du kannst es von Moment zu Moment aufschie-
ben, aber du weißt sehr genau, daß dies Aufschieben nirgendwo-
hin führt. Du läßt nur die Zeit verstreichen, und dies Gefühl tie-
fer Frustration wird dich wie ein Schatten verfolgen. Der Mensch
wird mit einer Mitte geboren, aber nicht mit dem Wissen um sei-
ne Mitte. Dieses Wissen muß erworben werden.
Du hast dies Zentrum. Das Zentrum ist da - du kannst ohne es
nicht existieren. Wie könntest du ohne es sein? Wie könntest du
ohne eine Brücke zwischen dir und der Existenz sein? - oder dir
und „Gott"?, wenn dir das Wort lieber ist. Ohne eine tiefe Ver-
bindung kannst du nicht existieren. Du hast Wurzeln im Göttli-
chen. Jeden Augenblick lebst du durch diese Wurzeln, aber diese
Wurzeln sind unter der Erde. Wie bei jedem Baum sind die Wur-
zeln unter der Erde. Der Baum weiß nichts von seinen Wurzeln.
Auch du hast Wurzeln. Diese Verwurzelung - das ist deine Mit-
te. Wenn ich sage, daß der Mensch damit geboren wurde, meine
ich, daß du die Möglichkeit hast, dir deiner Wurzeln bewußt zu
werden. Wenn sie dir bewußt werden, wird dein Leben wirklich:
andernfalls bleibt dein Leben wie ein tiefer Schlaf - ein Traum.
Das, was Abraham Maslow „Selbstaktualisierung” genannt hat,
ist in Wirklichkeit nichts anderes, als sich seines inneren Zentrums
bewußt zu werden, der Tatsache, daß man mit dem ganzen Uni-
versum verknüpft ist, daß man Wurzeln hat und nicht allein ist.
Kein Atom, sondern Teil dieses kosmischen Ganzen, daß diese

22 0
Kapitel 9

Welt kein Exil ist. Du bist kein Fremder: dies Universum ist dei-
ne Heimat. Aber solange du nicht deine Wurzeln findest, dein
Zentrum, bleibt dies Universum dir fremd und unvertraut.
Sartre sagt, daß der Mensch lebt, als wäre er in diese Welt ge-
worfen worden. Natürlich, wenn du dein Zentrum nicht kennst,
wirst du eine „Geworfenheit” erleben, so als wärest du tatsächlich
in die Welt hineingeworfen worden. Du bist ein Außenseiter: du
gehörst nicht in diese Welt, und diese Welt gehört nicht zu dir.
Dann muß Angst, Unruhe und Seelennot die unausbleibliche Fol-
ge sein. Der Mensch als Außenseiter im Universum muß notge-
drungen eine tiefe Angst, Furcht, Qual und Bedrängnis empfin-
den. Sein ganzes Leben wird zum Kampf, zum Krieg, und zwar
zu einem Krieg, der ohnehin fehlschlagen muß. Der Mensch
kann ihn nicht gewinnen, denn das Teil kann nie gegen das Ganze
gewinnen.
Du hast gegen die Existenz keine Chance. Du hast nur mit ihr
eine Chance, niemals gegen sie. Und das ist der Unterschied zwi-
schen einem religiösen und einem nicht-religiösen Menschen. Ein
nicht-religiöser Mensch ist gegen das Universum, ein religiöser
Mensch ist mit dem Universum. Ein religiöser Mensch fühlt sich
zu Hause. Er fühlt sich nicht in die Welt hineingeworfen, er fühlt
sich als Gewächs der Welt. Merkt euch den Unterschied zwischen
Geworfenheit und Gewachsenheit. Wenn Sartre sagt, daß der
Mensch in die Welt geworfen wurde, so zeigt schon das Wort,
schon der ganze Ausdruck, daß du nicht hierher gehörst. Und das
Wort, die Wortwahl „geworfen” bedeutet, daß du ohne deine Ein-
willigung gezwungen wurdest. So erscheint diese Welt als feind-
lich, und Angst ist die Folge. Das kann nur anders sein, wenn du
nicht in die Welt geworfen wurdest, sondern als ein Teil, d. h. or-
ganisch aus ihr gewachsen bist. Wirklich, man kann den Men-
schen einen Auswuchs` des Universums nennen — gewachsen in
eine bestimmte Dimension hinein, die wir menschlich` nennen.
Das Universum wächst in vielen Formen: in Bäumen, Bergen,
Sternen, in Planeten, in vielen Dimensionen. Der Mensch ist
ebenfalls eine Dimension seines Wachstums. Das Universum ma-
nifestiert sich in vielen, vielen Dimensionen. Der Mensch ist eine
seiner Dimensionen, so gut wie der Berg und der Gipfel. Kein

22 1
Das Buch der Geheimnisse

Baum wird sich seiner Wurzeln bewußt; kein Tier wird sich sei-
ner Wurzeln bewußt, darum kennen sie keine Angst.
Wenn du dir deiner Wurzeln nicht bewußt bist, deines Zen-
trums, kannst du auch nicht todes-bewußt sein. Der Tod existiert
nur für den Menschen, und zwar, weil der Mensch sich seiner
Wurzeln bewußt werden kann, seines Zentrums, seiner Totalität
und seiner Verwurzelung im Universum.
Wenn du ohne ein Zentrum lebst, wenn du dich als Außensei-
ter fühlst, dann ist Angst die Folge. Wenn du dich aber wie zu
Hause fühlst, als ein Wachstumsprodukt, eine Verwirklichung des
Potentials der Existenz selbst, so als wäre die Existenz durch dich
zur Bewußtheit gelangt, als hätte sie in dir Bewußtsein gewonnen;
wenn du so empfindest, wenn du das wirklich erkennst, dann
wirst du selig sein.
Seligkeit ist die Folge einer organischen Einheit mit dem Uni-
versum, und Angst ist die Folge von Feindseligkeit. Aber solange
du das Zentrum nicht kennst, mußt du notwendig eine „Gewor-
fenheit” empfinden, als wäre dir das Leben aufgezwungen wor-
den. Dieses vorhandene Zentrum - auch wenn der Mensch sich
dessen nicht bewußt ist - ist der Gegenstand dieser Sutras, über
die wir sprechen wollen. Aber erst noch zwei oder drei Dinge, be-
vor wir uns wieder der Vigyana Bhairava Tantra zuwenden, und
den Techniken, die das Zentrum betreffen. Das eine: Wenn der
Mensch geboren wird, ist er an einem bestimmten Punkt ver-
wurzelt, in einem bestimmten Chakra oder Zentrum, und zwar
im Nabel. Die Japaner nennen es Hara, daher der Ausdruck Ha-
rakiri. Harakiri heißt Selbstmord. Wörtlich bedeutet das Wort: das
Hara töten, die Achse, das Zentrum. Hara ist das Zentrum. Hara-
kiri bedeutet, das Zentrum zerstören. Aber in gewisser Weise ha-
ben wir alle Harakiri begangen. Wir haben zwar das Zentrum
nicht zerstört, aber wir haben es vergessen oder uns nie daran er-
innert. Es ist da und wartet, und wir sind immer weiter davon ab-
getrieben.
Wem ein Kind geboren wird, ist es im Hara, im Nabel ver-
wurzelt. Es lebt durch das Hara. Seht euch ein atmendes Kind an:
sein Nabel hebt und senkt sich. Es atmet mit dem Bauch, es lebt
aus dem Bauch - nicht aus dem Kopf, nicht aus dem Herzen.

22 2
T

Kapite19

Aber nach und nach wird es sich davon entfernen müssen.


Zunächst wird ein anderes Zentrum entwickelt, nämlich das Herz,
das Zentrum der Gefühle. Das Kind lernt die Liebe kennen, es
wird geliebt, und daraus entwickelt sich ein anderes Zentrum.
Dies Zentrum ist nicht das wirkliche Zentrum, dies Zentrum ist
ein Nebenprodukt. Darum sagen die Psychologen, daß ein Kind,
das nicht geliebt wird, niemals wird lieben können. Wenn ein
Kind in einer lieblosen Situation groß wird, in einer Atmosphäre
der Gefühlskälte, ohne einen Menschen, der es liebt und ihm
Wärme spendet, dann wird es selbst niemanden in seinem Leben
lieben können, weil sich das entsprechende Zentrum nicht ent-
faltet hat. Mutterliebe, Vaterliebe, Familie und Gesellschaft helfen
mit, dies Zentrum zu entwickeln. Dies Zentrum kommt später,
man wird nicht damit geboren. Wenn dir nicht geholfen wird, es
zu entfalten, wird es niemals wachsen. Vielen, vielen Menschen
fehlt dies Liebeszentrum. Sie reden zwar von Liebe und glauben
auch zu lieben, aber ihnen fehlt das Zentrum dazu. Wie also kön-
nen sie lieben? Eine liebesfähige Mutter ist nicht leicht zu haben,
ganz und gar nicht, und es ist selten, einen liebenden Vater zu fin-
den. Jeder Vater, jede Mutter glaubt, daß er oder sie liebt. Es ist
nicht so leicht. Liebe wächst nicht so leicht, wirklich nicht. Aber
wenn die Liebe nicht von Anfang an für das Kind da ist, wird es
niemals selbst lieben können.
Darum lebt die ganze Menschheit ohne Liebe. Ihr produziert
laufend Kinder, aber wißt nicht, wie ihr ihnen ein Liebeszentrum
geben könnt. Statt dessen erzwingt die Gesellschaft, je zivilisier-
ter sie ist, ein drittes Zentrum, nämlich den Intellekt. Das ur-
sprüngliche Zentrum ist der Nabel. Damit wird ein Kind gebo-
ren; dies Zentrum ist also keine Folgeerscheinung. Kein Leben ist
ohne es möglich, also wird es mitgegeben. Das zweite Zentrum
ist eine spätere Erscheinung. Wenn das Kind Liebe bekommt, er-
widert es die Liebe. In dieser Erwiderung wächst das Zentrum
heran. Das ist das Herzzentrum. Das dritte Zentrum ist Verstand,
Intellekt, Kopf. Erziehung, Logik und Disziplin schaffen dieses
Zentrum, das ebenfalls ein Nebenprodukt ist.
Aber wir leben in diesem dritten Zentrum. Das zweite fehlt uns
fast völlig — oder es funktioniert nicht, selbst wenn es da ist. Selbst

223
Das Buch der Geheimnisse

wenn es manchmal funktioniert, funktioniert es unregelmäßig.


Aber das dritte Zentrum, der Kopf, wird zum eigentlichen Motor
im Leben, weil das ganze Leben darauf aufbaut. Es ist zweckori-
entiert. Ihr braucht es für das Denken, für die Logik, für den Ver-
stand. Somit wird früher oder später jeder kopforientiert: Du
fängst an, im Kopf zu leben.
Kopf, Herz, Nabel — das sind die drei Zentren. Das Nabelzen-
trum ist mitgegeben, ist ursprünglich. Das Herz kann sich ent-
wickeln; und es ist gut, wenn das geschieht, aus vielen Gründen.
Auch der Verstand muß entwickelt werden, aber das darf nicht
auf Kosten des Herzens geschehen, denn sonst fehlt euch das Bin-
deglied, und ihr könnt nicht wieder zum Nabel zurückkommen.
Die Entwicklung geht vom Verstand über die Existenz zum Sein.
Versucht es einmal so zu verstehen:
Das Nabelzentrum ist im Sein, das Herzzentrum im Gefühl:
das Kopfzentrum im Wissen. Das Wissen ist am weitesten vom
Sein entfernt, das Fühlen ist ihm näher. Wenn dir das Gefühls-
zentrum fehlt, dann ist es schwierig, eine Brücke zwischen
Verstand und Sein herzustellen, wirklich sehr schwierig. Darum
kann ein Mensch, der liebt, leichter erkennen, daß er in der Welt
zu Hause ist, als ein Mensch, der durch den Intellekt lebt.
Die westliche Kultur hat im wesentlichen das Kopfzentrum be-
tont. Darum ist man im Westen so rief um den Menschen be-
sorgt. Und diese tiefe Besorgnis gilt seiner Heimatlosigkeit, seiner
Leere, seiner Wurzellosigkeit. Simone Weil hat ein Buch ge-
schrieben: „Der Mensch braucht Wurzeln”. Der westliche Mensch
fühlt sich entwurzelt. Der Grund dafür ist, daß der Kopf zum
Mittelpunkt geworden ist. Das Herz wurde nicht entwickelt. Es
fehlt.
Das Herz, das in dir schlägt, ist nicht dein Herz: es dient nur ei-
ner physiologischen Funktion. Wenn du also den Herzschlag
spürst, darfst du nicht glauben, daß du deshalb schon ein Herz
hast. Herz ist etwas anderes. „Herz” bedeutet die Fähigkeit zu
fühlen. „Kopf” bedeutet die Fähigkeit zu wissen; und „Sein” be-
deutet die Fähigkeit, eins zu sein — mit etwas eins zu sein. Reli-
gion hat mit dem Sein zu tun; Dichtung mit dem Herzen; Philo-
sophie und Wissenschaft haben mit dem Kopf zu tun. Diese

224
Kapitel19

beiden Zentren, Herz und Kopf, sind periphere Zentr en, keine
wirklichen, sondern unechte Zentren. Das wirkliche Zentrum ist
Nabel - das Hara. Wie aber wieder dahin gelangen? Oder: wie es
verwirklichen?
Es kommt manchmal vor - selten, zufällig kommt es vor -, daß
ihr dem Hara nahekommt. Ein solcher Moment ist sehr tief und
selig. Zum Beispiel kommst du im Sex manchmal in die Nähe des
Hara, weil deine geistige Energie, dein Bewußtsein im Sex, wieder
nach unten geht. Du mußt deinen Kopf hinter dir lassen - und
du fällst nach unten. In einem tiefen sexuellen Orgasmus ge-
schieht es manchmal, daß du deinem Hara nahekommst. Darum
ist der Sex so faszinierend. Es ist nicht wirklich- der Sex, was dir
die Erfahrung von Seligkeit verschafft. Es ist in Wirklichkeit das
Hara.
Wenn du zum Sexzentrum herunterfällst, kommst du durch das
Hara, berührst du es. Aber für den modernen Menschen ist selbst
Sex unmöglich geworden, denn für den modernen Menschen ist
sogar der Sex eine Hirnfunktion, eine mentale Sache. Sogar der
Sex ist in den Kopf gestiegen; der Mensch denkt über ihn nach.
Daher so viele Filme, so viele Romane, so viel Literatur, so viel
Pornographie und dergleichen. Der Mensch denkt über Sex nach,
aber das ist absurd. Sex ist eine Erfahrung; man kann nicht darü-
ber nachdenken. Und wenn man darüber nachzudenken beginnt,
wird es immer schwerer, ihn zu leben, denn er hat nichts mit dem
Kopf zu tun. Den Kopf braucht man dazu nicht. Und je weniger
der moderne Mensch tief in den Sex hineingehen kann, desto
mehr denkt er darüber nach. Es wird zum Teufelskreis. Und je
mehr er darüber nachdenkt, desto mehr wird Sex zur zerebalen
Angelegenheit. Dann wird sogar Sex absurd. Er ist im Westen ab-
surd geworden, zur langweiligen Routine. Nichts kommt dabei
heraus, man frönt nur einer alten Gewohnheit und fühlt sich am
Ende frustriert, betrogen. Warum? In Wirklichkeit darum, weil
das Bewußtsein nicht mehr nach unten, zurück zum Zentrum,
fließt.
Nur wenn das Hara berührt wird, empfindest du Seligkeit.
Gleich aus welchem Grund das Hara berührt wird, du fühlst Se-
ligkeit. Ein Krieger im Kampf berührt manchmal das Hara:

22 5
Das Buch der Geheimnisse

freilich nicht moderne Soldaten, weil sie überhaupt keine Krieger


sind. Jemand, der eine Bombe über einer Stadt abwirft, schläft. Er
ist kein Krieger, er ist kein Kämpfer. Er ist kein Kshatriya, kein Ar-
juna im Kampf.
Manchmal, am Rande des Todes, wird man auf das Hara
zurückgeworfen. Für einen Krieger, der mit dem Schwert kämpft,
ist jeden Augenblick der Tod möglich. Wer weiß, ob er im näch-
sten Augenblick noch lebt. Und wer mit dem Schwert kämpft,
kann nicht denken. Wenn du denkst, wird es dich nicht mehr ge-
ben. Du mußt handeln, ohne zu denken, weil zum Denken Zeit
nötig ist. Wenn du mit dem Schwert kämpfst, kannst du nicht
denken. Wenn du denkst, gewinnt der andere, und du bist nicht
mehr. Es ist keine Zeit zum Denken, und der Kopf braucht Zeit;
und weil keine Zeit zum Denken ist, und Denken Tod bedeutet,
fällt das Bewußtsein vom Kopf hinunter zum Hara. Der Krieger
erfährt das als Glückseligkeit. Darum übt der Krieg eine solche
Faszination aus. Sex und Krieg sind seit je die Hauptattraktionen,
und der Grund ist: Ihr berührt dabei das Hara. Bei jeder Gefahr
berührt man das Hara.
Nietzsche sagt: „Lebe gefährlich!” Warum? Weil du bei Gefahr
auf das Hara zurückgeworfen wirst. Du kannst nicht denken. Du
kannst die Dinge nicht im Kopf ausarbeiten. Du mußt augen-
blicklich handeln.
Eine Schlange kriecht vorbei. Plötzlich siehst du die Schlange,
und ein Sprung geschieht. Da gibt es kein Überlegen, „daß da eine
Schlange ist”. Da gibt es keinen Syllogismus. Du überlegst nicht
erst im Kopf: „Hier ist eine Schlange — und Schlangen sind ge-
fährlich. Also muß ich springen.” Es gibt kein logisches Denken
dieser Art. Würdest du so denken, dann würdest du nicht über-
leben. Du kannst nicht überlegen. Du mußt sofort und spontan
handeln. Erst kommt das Handeln, dann die Überlegung. Bist du
gesprungen, kannst du überlegen.
I m gewöhnlichen Leben, wenn keine Gefahr herrscht, überlegt
ihr erst und handelt dann. Bei Gefahr dreht sich der ganze Vor-
gang um: erst handeln, dann denken. Dies Handeln vor allem
Denken wirft euch auf euer ursprüngliches Zentrum zurück — das
Hara. Daher die Faszination der Gefahr.

226
Kapitel 9

Du fährst Auto, wirst schneller und immer schneller, bis plötz-


lich jeder Augenblick gefährlich wird. Jeden Moment kann es vor-
bei sein. In diesem Moment der Hochspannung, wo Leben und
Tod so nah wie möglich zusammengerückt sind — zwei ganz nahe
Punkte und du in der Mitte — bleibt das Denken stehen. Du bist
auf das Hara zurückgeworfen. Das ist die Faszination der Autos,
der Rennfahrerei. Oder du bist Spieler und hast alles auf eine Kar-
te gesetzt der Verstand setzt aus — höchste Gefahr. Der nächste Au-
genblick kann dich zum Bettler machen. Das Hirn setzt aus. Du
wirst auf das Hara zurückgeworfen. Gefahren ziehen an, weil euer
Alltags-Bewußtsein bei Gefahr nicht funktionieren kann. Gefahr
geht tief. Denken ist nicht nötig. Du wirst zum Nicht-Denken. Du
bist! Du bist bewußt, aber ohne jedes Denken. Das ist der Augen-
blick der Meditation. Was Spieler wirklich im Spiel suchen, ist ein
meditativer Bewußtseinszustand. In Gefahr, im Kampf, in Duel-
len, in Kriegen, hat der Mensch seit je nur Gefahren gesucht — me-
ditative Zustande.
Ein plötzliches Glücksgefühl bricht aus, explodiert in dir und rie-
selt in dir nieder. Aber das alles sind plötzliche Zufallsereignisse. Ei-
nes steht fest: Wann immer du selig bist, bist du dem Hara nahe.
Das ist gewiß, egal aus welchem Anlaß. Der Auslöser ist unwich-
tig. Wann immer du in die Nähe des ursprünglichen Zentrums
kommst, erfüllt dich Glückseligkeit.
Bei diesen Sutras geht es darum, die Verwurzelung im Hara, im
Zentrum, wissenschaftlich, methodisch herbeizuführen — nicht zu-
fällig, nicht momentan, sondern als Dauerzustand. Du kannst stän-
dig im Hara sein. Das kann dein Wurzelgrund werden. Wie du das
herbeiführst und wie du das schaffst, darum geht es in diesen Sutras.
Nehmen wir uns nun das erste Sutra vor — eine weitere Me-
thode, die diesen Punkt oder dies Zentrum betrifft. Zunächst:

Oder stelle dir die fünffarbigen Augen auf dem Rade des Pfaus
als deine fünf Sinne im unendlichen Raum vor. Laß nun ihre
Schönheit in dir verschmelzen.
Oder aber mit jedem beliebigen Punkt im Raum, oder auf einer
Wand, bis sich der Punkt auflöst. Dann erfüllt sich dein Wunsch
nach einem anderen.

22 7
Das Buch der Geheimnisse

Alle diese Sutras haben damit zu tun, wie man das innere Zen-
trum erreicht. Dabei ist der Grundmechanismus, die Grundtech-
nik diese: Wenn du außerhalb, egal wo — im Kopf, im Herzen
oder selbst an einer Wand draußen — ein Zentrum herstellen und
dich total darauf konzentrieren kannst, so daß die ganze Welt aus-
geklammert und vergessen wird und nur noch ein Punkt in dei-
nem Bewußtsein zurückbleibt, dann wirst du plötzlich auf dein
inneres Zentrum zurückgeworfen.
Wie funktioniert das? Das müßt ihr zunächst verstehen. Euer
Denken ist nichts als ein Vagabundieren, ein Herumwandern. Es
bleibt nie bei einem Punkt. Es ist immer in Gang, in Bewegung,
unterwegs, aber nie an einem Punkt. Es geht von einem Gedan-
ken zum andern weiter, von A nach B. Aber es ist nie bei A, nie bei
B, sondern immer unterwegs. Vergeßt es nicht: Das Denken ist
i mmer unterwegs, in der Hoffnung, irgendwo anzukommen,
ohne es je zu tun. Es kann nicht ankommen! Die Struktur des
Denkens selbst ist Bewegung. Es kann nur vorwärts gehen. Das
ist die dem Geist innewohnende Natur. Der geistige Prozeß an
sich ist Bewegung. Von A nach B und B nach C geht es immer
weiter, ohne anzuhalten.
Wenn du bei A oder B oder sonstwo anhältst, wird sich der
Geist wehren. Er wird verlangen, daß du weitergehst, denn bleibst
du stehen, stirbt er augenblicklich. Er kann nur in der Bewegung
überleben. Geist heißt Prozeß. Wenn du anhältst und nicht wei-
tergehst, fällt der Geist tot um. Er ist nicht mehr da. Nur noch Be-
wußtsein bleibt übrig.
Bewußtsein ist deine Natur, Geist ist deine Beschäftigung. So
wie das Gehen. Das ist schwer zu verstehen, weil wir glauben, daß
der Geist etwas Substantielles ist; wir halten den Geist für eine
Substanz. Er ist keine. Geist ist nur eine Tätigkeit. Es wäre also
besser, ihn statt Geist „Geisten ” zu nennen. Er ist ein Vorgang, wie
das Gehen. Gehen ist ein Vorgang. Bleibst du stehen, gibt es kein
Gehen. Du kannst nicht sagen, daß jetzt das Gehen sitzt. Es gibt
kein Gehen mehr. Wenn du anhältst, ist kein Gehen mehr da, das
Gehen hat nun aufgehört. Du hast zwar noch Beine, aber kein
Gehen mehr. Beine können gehen. Aber wenn du anhältst, gibt
es nur noch Beine, aber kein Gehen mehr.

22 8
Kapitel9

Das Bewußtsein ist wie Beine — es ist deine Natur. Geist ist
wie Gehen — nur ein Vorgang. Wenn sich Bewußtsein von ei-
nem Ort zum anderen bewegt, dann ist dieser Vorgang „Geist”.
Wenn sich Bewußtsein von A nach B und von B nach C bewegt,
ist diese Bewegung „Geist”. Wenn du die Bewegung anhältst, ist
kein Geist mehr da. Du bist bewußt, aber es ist kein Geist da.
Du hast Beine, aber kein Gehen. Das Gehen ist eine Funktion,
eine Tätigkeit. Geist ist ebenfalls eine Funktion, eine Tätigkeit.
Wenn du ihn irgendwo anhältst, fängt der Geist an zu kämpfen.
Der Geist wird sagen: „Mach weiter!”
Der Geist wird auf jede erdenkliche Weise versuchen, dich
vorwärts oder rückwärts zu treiben, oder sonstwohin, nur wei-
ter! Ganz gleich wohin, nur bleib nirgendwo an einem Punkt
stehen. Wenn du aber hartnäckig bleibst und nicht auf den Geist
hörst, wird es schwierig, denn bisher hast du immer gehorcht.
Du hast dem Geist nie Befehle gegeben. Du warst nie Herr im
Haus. Das kannst du auch nicht, weil du dich in Wirklichkeit
nie vom Geist losgelöst hast. Du denkst, daß du dein Geist bist.
Dieser Trugschluß, daß du der Geist seist, gibt dem Geist totale
Freiheit, denn dann ist niemand da, der ihn beherrscht, kontrol-
liert. Es ist niemand da! Der Geist selbst wird zum Herrn. Er
mag sich als Meister aufführen, aber diese Meisterschaft ist nur
eine scheinbare. Versuche es nur einmal, und du kannst diese
Meisterschaft brechen. Sie ist unecht.
Der Geist ist nur ein Sklave, der vorgibt, Meister zu sein, und
zwar schon seit langem, seit vielen Leben, so daß sogar der wirk-
liche Herr den Sklaven für den Herren hält. Das ist nur ein Glau-
be. Probiere das Gegenteil aus, und du wirst erkennen, daß dieser
Glaube völlig unbegründet war.
Dies erste Sutra sagt: „Stelle dir die fünffarbigen Augen auf dem
Rade des Pfaus als deine fünf Sinne im unendlichen Raum vor.
Laß nun ihre Schönheit in dir verschmelzen.” Stelle dir deine fünf
Sinne als fünf Farben vor, und diese fünf Farben füllen den ganzen
Raum — wunderschöne Farben, lebendig, über den unendlichen
Raum gebreitet. Dann gehe in diese Farben hinein. Gehe nach in-
nen; fühle einen Mittelpunkt heraus, wo sich alle diese fünf Far-
ben in dir treffen. Das ist zwar nur eine Vorstellung, aber sie hilft.

22 9
Das Buch der Geheimnisse

Stelle dir diese fünf Farben vor, wie sie in dich eindringen und in
dir an einem Punkt verschmelzen.
Die ganze Welt wird sich auflösen. In deiner Einbildung gibt es
nur fünf Farben, aufgefächert wie ein Pfauenrad, so groß, daß es
den ganzen Raum füllt. Und sie dringen tief in dich ein und tref-
fen sich an einem Punkt. Jeder Punkt ist geeignet, aber das Hara
ist am besten. Stelle dir vor, daß sie sich an deinem Nabel treffen,
daß die ganze Welt zu Farben geworden ist und daß diese Farben
in deinem Nabel als Punkt zusammenkommen. Sieh diesen
Punkt, konzentriere dich auf ihn so lange, bis er sich auflöst. Er
löst sich auf! Wenn du dich auf den Punkt konzentrierst, löst er
sich auf, weil er nur Einbildung ist. Und dann wirst du auf dein
Zentrum geworfen.
Die Welt hat sich aufgelöst. Es gibt keine Welt mehr für dich. In
dieser Meditation gibt es nur Farbe. Du hast die ganze Welt ver-
gessen; du hast alle Gegenstände vergessen, dir fünf Farben aus-
gesucht — fünf beliebige Farben. Diese Technik ist vor allem für
Leute geeignet, die ein sehr waches Auge haben, einen sehr tie-
fen Farbsinn. Diese Meditation ist nicht für jeden. Nur wenn du
das Auge eines Malers hast, Farbenbewußtsein, nur wenn du dir
Farben vorstellen kannst, fällt sie dir leicht.
Ist euch jemals aufgefallen, daß eure Träume farblos sind? Nur
ein Mensch unter hundert ist fähig, farbig zu träumen. Ihr träumt
nur schwarz-weiß. Warum? Die ganze Welt ist farbig, und eure
Träume sind farblos! Wenn einer von euch farbig träumt, dann ist
dies die richtige Meditation für ihn. Wenn du dich daran erinnern
kannst, auch nur manchmal in Farben geträumt zu haben, dann
ist diese Meditation für dich da, sie ist für dich gedacht!
Wenn man einen Menschen, der unempfindlich für Farben ist,
auffordert: „Stell dir das Weltall von Farben erfüllt vor”, wird er
es nicht können, selbst wenn er es versucht. Wenn er denkt:
„Rot!”, dann sieht er nur das Wort „Rot”, aber die Farbe sieht er
nicht. Er sagt: „Grün!”, und es ist nur das Wort „Grün” da, aber
nichts Grünes. Wenn du also farbempfindlich bist, dann versuche
es mit dieser Methode. In dir sind fünf Farben. Die ganze Welt
besteht nur aus ihnen, und sie treffen sich in dir. Irgendwo tief in
dir treffen diese fünf Farben zusammen. Auf diesen Punkt kon-

23 0
Kapitel 9

r zentriere dich, und mache immer weiter damit, lasse nicht locke
bleibe dabei. Laß keine Gedanken zu; versuch nicht, dir Grün,
Rot, Gelb oder andere Farben zu denken. Denke nicht. Sieh sie
einfach in dir zusammenkommen. Denke nicht an sie! Wenn du
denkst, - hat sich der Geist weiterbewegt. Sei einfach von Farben
erfüllt, die in dir zusammenkommen, und konzentriere dich dann
auf den Punkt, wo sie sich treffen. Denke nicht! Konzentration ist
nicht Denken. Es ist auch nicht Kontemplation. Wenn du wirk-
lich von Farben erfüllt bist und ganz zum Regenbogen, zum Pfau
geworden bist, und das All ist von Farben erfüllt, dann hast du ein
tiefes Gefühl von Schönheit. Aber denke nicht darüber nach.
Nenne es nicht schön. Laß dich nicht aufs Denken ein. Konzen-
triere dich auf den Punkt, wo all diese Farben sich treffen und blei-
be dabei. Er wird verschwinden, wird sich auflösen, weil er nur
Einbildung ist. Denn wenn du dich zu Konzentration zwingst,
kann keine Einbildung andauern. Sie wird sich auflösen.
Die Welt hatte sich bereits aufgelöst: Es waren nur noch Far-
ben da. Diese Farben waren deine Einbildung. Diese eingebilde-
ten Farben waren an einem Punkt zusammengekommen. Dieser
Punkt war ebenfalls eingebildet, und nun, in tiefer Konzentration,
wird auch er sich auflösen. Wo bist du jetzt? Wo wirst du sein?
Du wirst auf dein Zentrum zurückgeworfen.
Erst haben sich die Gegenstände mit Hilfe von Einbildung auf-
gelöst. Jetzt löst sich die Einbildung durch Konzentration auf. Du
allein bleibst zurück, als Subjektivität. Die objektive Welt hat sich
aufgelöst, die mentale Welt hat sich aufgelöst. Du bist da - allein,
als reines Bewußtsein.
Darum sagt dies Sutra: „ ... mit jedem beliebigen Punkt im
Raum, oder auf einer Wand...” Das geht auch. Wenn du dir kei-
ne Farben vorstellen kannst, dann hilft irgendein Punkt an der
Wand. Nimm dir irgend etwas zu deiner Konzentration vor.
Wenn es etwas Inneres ist, dann um so besser. Aber auch hier gibt
es wieder zwei Persönlichkeitstypen. Für die Introvertierten wird
es leichter sein, sich die Farben vorzustellen, wie sie innen zu-
sammenkommen. Aber es gibt auch die Extrovertierten, die sich
innen nichts vorstellen können. Sie können sich nur Äußeres vor-
stellen. Ihr Geist bewegt sich immer nur in der Außenwelt, sie

23 1
Das Buch der Geheimnisse

können nicht nach innen gehen. Für sie gibt es so etwas wie In-
nerlichkeit nicht.
Der englische Philosoph David Hume hat gesagt: „Wann im-
mer ich nach innen schaue, kann ich kein Selbst finden. Alles, was
ich sehe, sind Reflektionen der Außenwelt — ein Gedanke, ir-
gendein Gefühl, eine Emotion. Ich treffe nie auf die Innerlichkeit:
nichts als Außenwelt, die innen widergespiegelt wird.” Da spricht
der extrovertierte Geist par excellence, und David Hume gehört
zu den erz-extrovertierten Geistern.
Wer also innen nichts fühlen kann, und wer sich fragt, was denn
dies Innerliche sein soll, wie man nach innen gehen kann, der ver-
suche es statt dessen mit irgendeinem Punkt an der Wand. Es gibt
Leute, die zu mir kommen und fragen, wie man nach innen geht.
Es ist ein Problem, denn wer nur Außengerichtetheit kennt, wer
nur nach außen gehende Bewegungen kennt, kann sich schwer
vorstellen, wie man nach innen geht.
Wenn du ein extrovertierter Mensch bist, dann versuche es
nicht mit diesem inneren Punkt. Versuche es mit dem Draußen.
Das Ergebnis ist dasselbe. Mach einen Punkt auf die Wand. Kon-
zentriere dich darauf. Du mußt es mit offenen Augen tun. Wenn
du ein Zentrum im Innern schaffst, einen inneren Punkt, mußt
du dich mit geschlossenen Augen konzentrieren.
Male einen Punkt auf die Wand, und konzentriere dich darauf.
Das Eigentliche passiert aufgrund von Konzentration, es hat nichts
mit dem Punkt zu tun. Ob er sich draußen oder drinnen befin-
det, ist unerheblich. Es kommt auf dich an. Wenn du auf die
Wand blickst, dich auf sie konzentrierst', dann konzentriere dich so
lange, bis sich der Punkt auflöst. Das mußt du dir merken: bis der
Punkt sich auflöst! Kein Lidschlag ist erlaubt, sonst gibst du dem
Geist wieder Spielraum, worin er sich bewegen kann. Starre nur,
sonst fangt der Geist wieder zu denken an. Ein einziger Lidschlag
gibt ihm Spielraum. Mit dem Lidschlag geht die Konzentration
verloren. Also nicht zwinkern!
Ihr habt vielleicht schon von Bodhidharma gehört, einem der
größten Meister der Meditation in der ganzen Geschichte der
Menschheit. Von ihm wird eine wunderschöne Geschichte er-
zählt. Er konzentrierte sich auf etwas außerhalb: seine Augen

232
Kapitel 9

wollten nicht stillhalten, die Konzentration ging verloren, und so


riß er sich die Augenlider aus! Dies ist eine wunderschöne Ge-
schichte: Er riß sich die Augenlider aus, warf sie fort und kon-
zentrierte sich. Nach ein paar Wochen sah er ein paar Pflanzen an
der Stelle wachsen, wo er seine Augenlider hingeworfen hatte.
Dies geschah auf einem Berg in China, und der Berg hieß „Tah”
oder „Ta” . Daher das Wort „Tee ” . Diese Pflanzen, die dort wuch-
sen, wurden zu Tee — und darum hält Tee euch wach!
Wenn euch die Augen zufallen und ihr einschlafen möchtet,
trinkt eine Tasse Tee! Es sind die Augenlider Bodhidharmas. Das
Teetrinken ist deshalb für Zen-Mönche eine heilige Sache. Tee ist
nichts Gewöhnliches, er ist heilig ... Bodhidharmas Augenlider!
In Japan haben sie Tee-Zeremonien, und jedes Haus hat einen
Teeraum, und der Tee wird mit religiöser Zeremonie serviert, er
ist heilig. Tee muß in einer sehr meditativen Stimmung getrun-
ken werden.
Die Japaner haben wunderschöne Zeremonien um das Tee-
trinken gewoben. Sie betreten den 'Teeraum wie einen Tempel.
Dann wird der Tee angerichtet, und jeder sitzt still da und lauscht,
wie der Samovar sprudelt. Das Dampfen, das Brodeln ... und alle
hören nur zu. Es ist nichts Gewöhnliches — es sind die Augenlider
Bodhidharmas! Und weil Bodhidharma mit offenen Augen wach
bleiben wollte, hilft der Tee nach. Und weil die ganze Geschich-
te auf dem Berge Tah passierte, heißt der Tee Tee. Ob wahr oder
nicht, die Anekdote ist schön.
Um dich außen zu konzentrieren, brauchst du einen starren
Blick, so als hättest du keine Augenlider mehr. Das bedeutet „sich
die Augenlider ausreißen”: Augen ohne Augenlider zu haben, so
daß du sie nicht schließen kannst. Konzentriere dich, bis der Punkt
sich auflöst: Und er löst sich auf! Wenn du durchhältst, wenn du
hartnäckig bleibst und dem Geist nicht erlaubst, sich zu rühren,
löst sich dieser Punkt auf. Und wenn sich der Punkt auflöst — du
hast dich so sehr auf ihn konzentriert, daß nur noch dieser Punkt
existiert, daß sich die ganze Welt aufgelöst hat und nur noch die-
ser Punkt bleibt, und nun löst der sich auch noch auf — dann kann
das Bewußtsein nirgendwohin. Es gibt keinen Gegenstand, zu
dem es gehen kann. Alle Dimensionen sind verschlossen. Der

233
Das Buch der Geheimnisse

Geist wird auf sich selbst zurückgeworfen, das Bewußtsein wird


auf sich selbst zurückgeworfen — und du bist im Zentrum.
Ob also nach innen oder außen, in dir oder außerhalb — kon-
zentriere dich, bis der Punkt sich auflöst. Er löst sich auf: aus zwei
Gründen. Ist er innen, ist er eingebildet und löst sich deshalb auf.
Ist er aber außen, dann ist er nicht eingebildet, dann ist er wirk-
lich: Du hast einen Punkt auf die Wand gemalt und dich darauf
konzentriert. Warum löst sich nun dieser Punkt auf? Daß er sich
innen auflöst, kann ich verstehen: er war ja gar nicht da: du hast
ihn dir nur vorgestellt. Aber auf der Wand ist er da: warum also
löst er sich auf?
Dafür gibt es einen Grund. Wenn du dich auf einen Punkt kon-
zentrierst, löst er sich natürlich nicht wirklich auf: was sich auf-
löst, ist der Geist. Fest auf einen äußeren Punkt gerichtet, kann der
Geist sich nicht bewegen. Ohne Bewegung kann er nicht leben.
Er stirbt, er steht still. Und wenn der Geist anhält, kann er sich auf
nichts Äußeres beziehen. Plötzlich sind alle Brücken abgebrochen,
weil der Geist die Brücke ist. Wenn du dich auf einen Punkt an
der Wand konzentrierst, springt dein Geist ständig von dem Punkt
zu dir, von dir zu dem Punkt, und wieder zurück: es ist ein stän-
diges Hin — und Herspringen, ein Prozeß.
Wenn sich der Geist auflöst, kannst du den Punkt nicht mehr
sehen. Denn in Wirklichkeit siehst du ihn nicht durch die Augen,
du siehst ihn durch Geist plus Augen. Ist der Geist fort, können
die Augen nicht funktionieren. Du magst die Wand weiter an-
starren, aber der Punkt wird unsichtbar. Der Geist ist nicht da, die
Brücke ist abgebrochen. Der Punkt ist wirklich, er ist da. Wenn
der Geist zurückkommt, wirst du ihn wieder sehen; er ist da. Aber
jetzt kannst du ihn nicht sehen, und wenn du ihn nicht sehen
kannst, kannst du nicht nach außen gehen. Plötzlich bist du in dei-
nem Zentrum.
Diese Zentrierung wird dir deine existentiellen Wurzeln be-
wußt machen. Du wirst wissen, von wo aus du mit der Existenz
verbunden bist. In dir gibt es einen Punkt, der mit der ganzen Exi-
stenz verbunden ist, der eins mit ihr ist. Sobald du dieses Zentrum
kennst, weißt du, daß du zu Hause bist. Die Welt ist nicht fremd,
du bist kein Außenseiter. Du gehörst zu ihr. Du bist Teil der Welt,

23 4
Kapitel 9

du brauchst nicht zu kämpfen, es gibt keinen Zwist. Es gibt keine


feindliche Beziehung zwischen dir und der Existenz. Die Existenz
wird zu deiner Mutter.
Es ist die Existenz, die in dich gekommen ist und dir bewußt
geworden ist. Es ist die Existenz, die in dir aufgeblüht ist. Dies Ge-
fühl, diese Erkenntnis, dieses Ereignis ... Und von nun an kann es
keine Lebensangst mehr geben.
Nun ist die Seligkeit keine vorübergehende Erscheinung mehr,
kein Phänomen, das kommt und geht. Nun ist Seligkeit deine
wahre Natur. Wenn man in seinem Zentrum verwurzelt ist, wird
Seligkeit zur Natur. Du bist eben selig, und nach und nach ver-
gißt du sogar das, weil Kontrast dazu gehört, es bewußt wahrzu-
nehmen. Nur wenn du unglücklich sein kannst, merkst du es
auch, wenn du selig bist. Wenn kein Unglück mehr da ist, vergißt
du das Unglück nach und nach völlig ... und damit auch deine
Seligkeit. Und nur wenn du sogar deine Seligkeit vergessen
kannst, bist du wahrhaft selig. Dann ist sie natürlich. So wie die
Sterne scheinen, so wie die Flüsse fließen, so bist du selig. Dein
ganzes Wesen ist selig. Es ist nicht etwas, das dir geschieht. Jetzt
bist du es.
Beim zweiten Sutra ist der Mechanismus der gleiche, die wis-
senschaftliche Grundlage die gleiche, die Funktionsweise die glei-
che:

Lenke deine ganze Aufmerksamkeit auf den Nerv, der mitten durch
dein Rückgrat geht fein wie der Blütenfaden des Lotus Und werde
so transformiert

„Lenke deine ganze Aufmerksamkeit auf den Nerv, der mitten


durch dein Rückgrat geht, fein wie der Blütenfaden des Lotus.”
Bei diesem Sutra, dieser Meditationstechnik, muß man seine Au-
gen schließen und sich sein Rückgrat vorstellen. Es lohnt sich, in
einem Physiologie-Lehrbuch die Körperstruktur zu studieren,
oder sich in einer medizinischen Fakultät oder Klinik mit der
Anatomie vertraut zu machen. Dann schließe deine Augen, und
stell dir deine Wirbelsäule vor. Sie muß gerade und aufrecht sein.
Visualisiere sie, sieh sie vor dir, visualisiere genau in ihrer Mitte

23 5
Das Buch der Geheimnisse

einen Nerv, so fein wie der Blütenfaden eines Lotus, der durch
die Achse deines Rückgrats läuft. „ ... und werde so transfor-
miert.” Wenn du kannst, konzentriere dich auf das Rückgrat, und
dann auf den Faden in seiner Mitte — einen sehr feinen Faden, fein
wie ein Blütenfaden, der es durchläuft. Konzentriere dich darauf,
und die bloße Konzentration wirft dich in dein Zentrum. War-
um? Die Wirbelsäule ist die Basis deiner ganzen Körperstruktur.
Alles ist mit ihr verbunden. Dein Hirn ist in Wirklichkeit nichts
anderes als ein Pol deiner Wirbelsäule. Die Physiologen sagen, daß
es nichts als ein Auswuchs der Wirbelsäule ist. Dein Hirn ist
tatsächlich ein Auswuchs deiner Wirbelsäule.
Dein Rückgrat ist mit deinem ganzen Körper verbunden. Alles
ist mit ihm verbunden. Darum wird es Rückgrat genannt — die
Grundstruktur. In diesem Rückgrat gibt es wirklich so etwas wie
einen Faden. Aber darüber sagt die Physiologie nichts, denn er ist
nicht stofflich. In diesem Rückgrat gibt es genau in der Mitte eine
silberne Ader, einen sehr delikaten Nerv. Es ist nicht wirklich ein
Nerv im physiologischen Sinn. Man kann ihn durch keine Ope-
ration finden. Er ist dort nirgends zu entdecken.
Aber in tiefer Meditation kann man ihn sehen. Er ist da. Nur
nicht stofflich. Er ist Energie, nicht Stoff. Und tatsächlich, diese
Energieader in deinem Rückgrat ist dein Leben. Durch sie bist du
sowohl mit der unsichtbaren Existenz als auch mit dem Sichtbaren
verbunden. Sie ist die Brücke zwischen dem Unsichtbaren und
dem Sichtbaren. Durch diesen Faden bist du mit dem Körper ver-
knüpft, und durch diesen Faden bist du auch mit deiner Seele ver-
bunden.
Stelle dir zunächst das Rückgrat vor. Du wirst dich sehr
merkwürdig fühlen. Wenn du dir das Rückgrat vorzustellen ver-
suchst, kannst du es sehen. Und wenn du weitermachst, dann ist
es nicht mehr nur deine Vorstellung. Du wirst es tatsächlich
sehen können.
Ich habe einmal mit einem Sucher durch diese Technik gear-
beitet. Ich gab ihm eine Abbildung der Körperstruktur, auf die er
sich konzentrieren sollte, bis er einen Begriff davon hatte, wie man
sich das Rückgrat von innen vorstellt. Dann fing er an. Nach ei-
ner Woche kam er und sagte: „Dies ist sehr merkwürdig. Ich habe

23 6
Kapitel 9

das Bild zu sehen versucht, das du mir gegeben hast, aber das Bild
verschwand dauernd, und ich sah ein anderes vor mir, nicht ge-
nau wie das, das du mir gezeigt hast." Also sagte ich ihm: „Jetzt
bist du auf dem richtigen Weg. Vergiß das Bild, und sehe in das
Rückgrat hinein, das du sehen kannst.”
Man kann seine eigene Körperstruktur von innen sehen. Wir
versuchen es nie, weil das sehr, sehr angsterregend und ekelhaft
ist, denn wenn du deine eigenen Knochen und Adern und dein
eigenes Blut siehst, macht dir das Angst. Darum haben wir dieses
innere Sehen völlig tabuisiert. Wir sehen den Körper nur von
außen, so als sähe ihn jemand anders, so als würde man aus die-
sem Zimmer hinausgehen und es sich von außen ansehen. Dann
kennst du die Außenwände. Komm herein und sieh dir das Haus
an, dann siehst du auch die Innenwände. Du siehst deinen Kör-
per von außen, als ob du jemand anders wärst, der deinen Körper
sieht. Du hast dich noch nie von innen gesehen. Wir können es,
aber weil wir Angst haben, ist es uns fremd geworden. Indische
Yogabücher erwähnen viele Körperphänomene, die heute von der
wissenschaftlichen Forschung als genau richtig bestätigt werden.
Die Wissenschaft kann sich das nicht erklären: Woher wußten sie
das? Die Chirurgie und das Wissen vom Inneren des menschli-
chen Körpers sind eine moderne Entwicklung. Wie konnten sie
damals von all den Nerven, von all den Zentren, von all den in-
neren Strukturen wissen? Sie wußten sogar von den neuesten Ent-
deckungen. Sie haben davon gesprochen, sie haben damit gear-
beitet. Yoga weiß seit je über alle wesentlichen Dinge im Körper
Bescheid. Aber sie forschten nicht am Körper, sie sezierten ihn
nicht: woher also wußten sie es? Weil es tatsächlich eine andere
Möglichkeit gibt, sich den eigenen Körper anzusehen — von in-
nen her. Wenn du dich nach innen konzentrieren kannst, fängst
du plötzlich an, deinen Körper zu sehen — die innere Füllung des
Körpers. Das ist für diejenigen geeignet, die sehr körperorientiert
sind. Wenn du dich als einen Materialisten erfährst, wenn du das
Gefühl hast, nichts als Körper zu sein, wird dir diese Technik sehr
helfen. Wenn du dich für nichts als einen Körper hältst, wenn du
einem Charvak oder einem Marx folgst und glaubst, daß der
Mensch nichts als ein Körper ist, dann kann dir diese Technik

23 7
Das Buch der Geheimnisse

ausgesprochen helfen. Dann gehe hin und schaue dir den Kno-
chenbau des Menschen an.
In alten Tantra — und Yogaschulen spielten Knochen eine große
Rolle. Selbst heute findet man bei einem Tantriker immer ein paar
Knochen, einen Schädel. Und das hilft tatsächlich bei der Kon-
zentration von innen. Erst konzentriert man sich auf den Schädel,
dann schließt man die Augen und versucht, seinen eigenen Schä-
del von innen zu sehen, und nach und nach bekommt man ein
Gefühl davon. Das Bewußtsein stellt sich darauf ein. Jener äuße-
re Schädel, die Konzentration auf ihn, die Vorstellung, das sind nur
Hilfen. Ist der Blick erst auf das Innere eingestellt, kannst du von
den Zehen bis zum Kopf gehen. Du kannst in dir spazierengehen
... und es ist ein großes Universum. Dein kleiner Körper ist ein
großes Universum.
Dies Sutra benutzt das Rückgrat, weil sich im Rückgrat der Le-
bensfaden befindet. Darum so viel Wert auf ein aufrechtes Rück-
grat: denn wenn das Rückgrat nicht gerade ist, kannst du den in-
neren Faden nicht sehen. Er ist sehr fein, sehr subtil. Er ist minu-
ziös. Er ist ein Energiestrom. Wenn also das Rückgrat gerade ist,
absolut aufrecht, kannst du einen Schimmer von diesem Faden
erhaschen — nur dann.
Aber unser Rückgrat ist nie gerade. Die Hindus achten von
Kindheit an auf ein aufrechtes Rückgrat. Wie sie sitzen, schlafen,
gehen, all das beruht im Grunde auf einer geraden Wirbelsäule.
Wenn das Rückgrat nicht gerade ist, ist es sehr schwer, sein inne-
res Mark zu sehen. Es ist sehr fein und eigentlich nicht stofflich. Es
ist unstofflich, nur ein Kraftstrom. Wenn das Rückgrat absolut ge-
rade ist, läßt sich diese Kraftader leicht erkennen.
„Und werde so transformiert.” Und sobald du diese Ader
fühlen, herausspülen und erkennen kannst, wirst du von einem
neuen Licht erfüllt. Das Licht wird aus deiner Wirbelsäule kom-
men und sich über deinen ganzen Körper ausbreiten, es mag so-
gar über deinen Körper hinausgehen. Wenn es nach außen tritt,
wird eine Aura sichtbar.
Jeder hat eine Aura, aber normalerweise ist deine Aura nur ein
Schatten ohne Licht — einfach dunkle Schatten um dich. Und die-
se Auras spiegeln jede deiner Stimmungen wider. Wenn du wü-

23 8
Kapitel 9

tend bist, wird deine Aura wie bluterfüllt: sie füllt sich mit einem
roten, wütenden Ausdruck. Wenn du traurig, trübe, niederge-
schlagen bist, füllt sich deine Aura mit einem dunklen Geflecht,
als wärest du dem Tod nahe — alles tot und schwer. Wenn ihr die-
se Ader in der Wirbelsäule erkennt, wird eure Aura erleuchtet.
Ein Buddha, ein Mahavir, ein Krishna, ein Christus wird daher
nicht nur zur Zierde mit einer Aura gemalt. Diese Aura gibt es.
Das Rückgrat fängt an Licht auszustrahlen. Man wird von innen
her erleuchtet, der ganze Körper wird zu einem Lichtkörper.
Dann durchdringt er das Äußere. Ein Buddha, einer der erleuch-
tet ist, braucht daher niemanden zu fragen, wer er ist. Die Aura
zeigt alles. Und wenn jemand erleuchtet wird, so weiß es der Leh-
rer, weil die Aura alles verrät.
Ich will euch eine Geschichte erzählen: Hui Neng, ein chinesi-
scher Meister, arbeitete unter seinem Guru. Aber als Hui Neng
zu seinem Guru gekommen war, hatte dieser gesagt: „Wozu bist
du hergekommen? Du brauchst nicht zu mir zu kommen.” Hui
Neng konnte es nicht verstehen; Hui Neng glaubte, er sei noch
nicht soweit, akzeptiert zu werden, aber der Lehrer sah etwas ganz
anderes, er sah, daß seine Aura wuchs. Was er damit sagte, war:
„Selbst wenn du nicht zu mir kommst, muß es früher oder später
irgendwo passieren. Du bist schon dort, wo du hinwillst, du
brauchst also gar nicht erst zu mir zu kommen.”
Aber Hui Neng sagte: „Weise mich bitte nicht ab.” Also nahm
der Guru ihn an und sagte ihm, er solle nur nach hinten, in die
Küche des Klosters, gehen. Es war ein großes Kloster mit fünf-
hundert Mönchen. Der Guru sagte zu Hui Neng: „Gehe einfach
nur hinten in das Kloster und hilf in der Küche. Und komme
nicht wieder zu mir. Wann immer es nötig sein wird, werde ich zu
dir kommen.”
Hui Neng bekam keine Meditation, keine Schriften zu lesen,
nichts zu studieren oder zu meditieren. Er wurde nicht unter-
richtet. Er wurde einfach in die Küche geschickt. Das ganze Klo-
ster war emsig. Es gab Pundits, Gelehrte, es gab Meditierer und
Yogis, und das ganze Kloster summte vor Emsigkeit. Jeder war am
arbeiten, und dieser Hui Neng putzte nur Reis und machte
Küchenarbeit.

23 9
Das Buch der Geheimnisse

Zwölfjahre vergingen. Hui Neng ging nie wieder zum Guru


hin, denn er war ja nicht zugelassen. Er wartete und wartete und
wartete. Er wartete einfach. Alle betrachteten ihn nur als Bedien-
steten. Es kamen Gelehrte, es kamen große Meditierer, aber kein
Mensch beachtete ihn. Und es gab große Gelehrte im Kloster.
Und dann erklärte der Lehrer, daß sein Tod nahe sei und daß er
jetzt jemanden dazu ernennen wolle, seine Nachfolge zu über-
nehmen. Und so sagte er: „Wer sich für erleuchtet hält, soll ein
kleines Gedicht in vier Zeilen schreiben. Und diese vier Zeilen
müssen alles enthalten, was ihr erreicht habt. Und wenn ich ir-
gendein Gedicht billige und bestätige, daß diese Zeilen von Er-
leuchtung zeugen, so will ich meinen Nachfolger bestimmen.” Es
gab im Kloster einen großen Gelehrten; daher versuchte es nie-
mand erst, denn jeder wußte, daß er gewinnen würde. Er kannte
sich in allen Schriften aus. Er komponierte vier Zeilen. Die vier
Zeilen lauteten etwa so, ihr Sinn war etwa der: „Der Geist ist wie
ein Spiegel, auf dem sich Staub sammelt. Entferne den Staub, und
du bist erleuchtet.”
Aber selbst dieser große Gelehrte hatte Angst, weil der Lehrer
doch Bescheid wußte. Er wußte längst, wer erleuchtet war und
wer nicht, auch wenn sein Gedicht noch so schön war. Ja, es war
die Essenz aller Schriften: „Der Geist ist wie ein Spiegel, auf dem
sich Staub sammelt. Entferne den Staub, und du bist erleuchtet.”
Das war der Kern aller Veden. Doch er wußte: es war auch nicht
mehr als das. Selbst er hatte nichts erkannt; also hatte er Angst. Er
ging damit nicht direkt zum Lehrer, sondern schlich sich nachts
in seine Hütte, in die Hütte des Lehrers, und schrieb die vier Zei-
len an die Wand, ohne Unterschrift. Auf diese Weise würde der
Guru — falls er sie billigte — sagen: „Okay, getroffen.” Und dann
könnte er sagen: „Das habe ich geschrieben!” Sagte der Guru aber:
„Nein. Wer hat diese Worte geschrieben?” Dann würde er den
Mund halten; so dachte er bei sich.
Aber der Lehrer billigte sie. Am Morgen sagte der Lehrer:
„Okay! ” Er lachte und sagte: „Okay! Der Mann, der dies ge-
schrieben hat, ist ein Erleuchteter.” Nun fing das ganze Kloster an,
darüber zu reden. Jeder wußte, wer es geschrieben hatte. Alle dis-
kutierten und lobten diese Zeilen, denn sie waren schön, wirklich

24 0
Kapitel 9

schön. Schließlich kamen ein paar Mönche in die Küche. Sie tran-
ken Tee und unterhielten sich, und Hui Neng bediente sie. So
hörte er, was geschehen war. Als er diese vier Zeilen hörte, lachte
er. Da fragte ihn jemand: „Was gibt es da zu lachen, du Narr! Was
weißt denn du? Zwölfjahre lang hast du hier in der Küche ge-
dient; was hast du zu lachen?”
Niemand hatte ihn bisher auch nur einmal lachen hören. Er galt
als ein Idiot, der nicht einmal reden konnte. Jetzt sagte er: „Ich
kann nicht schreiben, und ich bin auch nicht erleuchtet, aber die-
se Zeilen stimmen nicht. Wenn jemand mit mir kommt, will ich
vier Zeilen schreiben. Aber es muß jemand mitkommen, der sie
an die Wand schreibt. Ich selbst kann nicht schreiben.” Also kam
jemand mit, nur zum Spaß. Eine Menge versammelte sich und
Hui Neng sagte: „Schreib: Es gibt keinen Geist, und es gibt keinen
Spiegel, wo soll sich also der Staub sammeln? Wer das weiß, ist
64
erleuchtet.'
Aber da kam schon der Lehrer heraus und sagte zu Hui Neng:
„Das ist falsch.” Hui Neng berührte ihm die Füße und ging wie-
der in seine Küche zurück.
In der Nacht, als alle schliefen, kam der Lehrer zu Hui Neng
und sagte: „Du hast recht, aber ich konnte das nicht vor all diesen
Idioten sagen — und es sind gelehrte Idioten! Und wenn ich ge-
sagt hätte, daß du als mein Nachfolger bestimmt bist, würden sie
dich umbringen. Fliehe also! Du bist mein Nachfolger, aber sag es
keinem. Und ich wußte es schon am Tag, als du kamst. Deine
Aura wuchs bereits. Darum brauchte ich dir gar keine Meditation
zu geben. Es war nicht nötig. Du warst schon in Meditation. Und
diese zwölf Jahre Schweigen — wo du nichts getan hast, nicht ein-
mal meditiert — haben dich endgültig von deinem Geist gereinigt,
und deine Aura hat sich endgültig entfaltet. Du bist zum Voll-
mond geworden. Aber fliehe von hier! Sonst töten sie dich. Du
bist seit zwölf Jahren hier, und das Licht ist ständig von dir ausge-
gangen. Aber niemand hat es bemerkt, sie mochten noch so oft
zur Küche kommen. Jeder ist zwei-, dreimal am Tag in der Küche
gewesen, jeder kommt da durch. Genau deswegen habe ich dich
nämlich in die Küche gesteckt. Aber kein Mensch hat deine Aura
erkannt, also mach, daß du von hier fortkommst.”

24 1
Das Buch der Geheimnisse

Wenn du die innere Ader der Wirbelsäule berührst, siehst, er-


kennst, beginnt sich um dich herum eine Aura auszubreiten.
„Und werde so transformiert.” Laß dich von diesem Licht erfüllen
und werde so transformiert. Auch dies ist ein Zentrieren — ein
Zentrieren in der Wirbelsäule. Wenn du körperorientiert bist,
wird dir diese Technik helfen. Wenn nicht, ist es schwer. Dann ist
es schwer, dir dein Interesse sichtbar zu machen. Dann ist es
schwer für dich, deinen Körper von innen zu sehen. Dies Sutra
wird Frauen eher helfen als Männern. Sie sind mehr körper-
orientiert. Sie leben mehr im Körper; sie fühlen mehr. Sie können
sich ihren Körper besser vorstellen. Frauen sind körperlicher als
Männer, aber für jeden, der den Körper fühlen kann, der den Kör-
per spürt, der ihn sich vorstellen kann, der seine Augen schließen
und seinen Körper von innen fühlen kann, wird diese Technik
äußerst hilfreich sein.
Dann stell dir deine Wirbelsäule vor, und dann eine silberne
Ader, die durch ihre Mitte geht, die sich hindurch zieht. Anfangs
mag es wie Einbildung erscheinen, aber nach und nach erkennst
du, wie die Einbildung weicht, und daß du dich auf dein Rück-
grat eingestellt hast, und dann wirst du es selbst sehen. Und so-
bald du seinen inneren Kern erkennst, spürst du plötzlich eine Ex-
plosion von Licht in dir.
Manchmal kann das auch ganz mühelos geschehen. Das
kommt vor, und zwar auch wieder im tiefen Sexakt. Tantra weiß:
In einem tiefen Sexakt konzentriert sich deine ganze Energie im
Rückgrat. In einem tiefen Sexakt fängt das Rückgrat an, Elektri-
zität freizusetzen. Und wenn man dann zufällig das Rückgrat
berührt, bekommt man einen Schock. Und wenn der Akt sehr
tief und sehr liebevoll und lang ist, wenn die beiden Liebenden
wirklich in einer ganz tiefen Umarmung sind, still, unbewegt,
ganz voneinander erfüllt, einfach in ganz tiefer Umarmung ver-
harrend, dann geschieht es. Es ist oft vorgekommen, daß ein
dunkler Raum sich plötzlich mit Licht erfüllt, und beide Körper
sich in eine Aura blauen Lichtes hüllen.
Es gibt viele, viele solcher Fälle. Selbst in eurer Erfahrung mag
es schon passiert sein, ohne daß ihr es bemerkt habt, daß sich in
tiefer Liebe plötzlich ein Licht um beide Körper legt und daß das

242
Kapite19

Licht den ganzen Raum erfüllt. Oft ist es schon vorgekommen,


daß plötzlich Dinge vom Tisch fallen, ohne sichtbaren Grund.
Und heute sagen die Psychologen, daß in einem tiefen Sexakt
Elektrizität freigesetzt wird. Diese Elektrizität kann viele Wir-
kungen und Auslösereffekte haben. Es können plötzlich Dinge
fallen, verrücken oder brechen, und es gibt sogar Fotos, auf denen
dies Licht sichtbar ist. Aber das Licht ist immer um das Rückgrat
her konzentriert.
Manchmal kann man also auch in einem tiefen Sexakt das glei-
che beobachten — und Tantra weiß das sehr wohl und hat damit
gearbeitet: du blickst nach innen und siehst den Faden, der die
Mitte deines Rückgrats durchzieht. Und Tantra hat den Sexakt für
diese Erkenntnis genutzt, aber das muß dann ein ganz anderer
Sexakt sein, von ganz anderer Qualität. Nicht etwas, das man
schnell hinter sich bringt, nicht etwas zum Druck ablassen, nicht
etwas, was man eilig zu Ende bringt. Es ist dann kein körperlicher
Akt mehr. Es ist dann eine tiefe spirituelle Kommunion. Es ist
tatsächlich nur ein tiefes Zusammenkommen zweier Innerlich-
keiten, mit Hilfe zweier Körper und zweier Subjektivitäten, die
sich gegenseitig durchdringen.
Ich schlage euch also vor, diese Technik auszuprobieren, wenn
ihr in einem tiefen Sexakt seid. Dann wird es leichter sein. Ver-
geßt den Sex einfach. Wenn ihr tief umschlungen seid, ruht im
Inneren. Vergeßt auch den anderen. Geht einfach nach innen und
visualisiert eure Wirbelsäule. Dann ist es leichter, weil dann mehr
Energie die Wirbelsäule entlangfließt. Und der Faden ist sichtba-
rer, weil ihr dann stiller seid, weil der Körper dann ruht. Liebe ist
die tiefste Entspannung, aber wir haben daraus eine große An-
spannung gemacht. Wir haben daraus eine Aufregung, eine Bür-
de gemacht.
In der Wärme der Liebe — ganz erfüllt, entspannt — schließe die
Augen. Aber Männer schließen normalerweise nicht die Augen,
sondern nur Frauen. Darum sage ich auch, daß Frauen mehr kör-
perorientiert sind und Männer weniger. In der tiefen Umarmung
des sexuellen Aktes schließen Frauen die Augen. Wirklich, sie
können mit offenen Augen nicht lieben. Bei geschlossenen Au-
gen fühlen sie den Körper mehr von innen. Schließe die Augen

243
Das Buch der Geheimnisse

und fühle deinen Körper. Entspanne dich, konzentriere dich auf


die Wirbelsäule. Und dies Sutra sagt sehr einfach: „Und werde so
transformiert.” Und so wirst du transformiert.

244
Man muß kein Genie sein, um Buddha zu werden
[Fragen]

Viele Fragen heute. Die erste:

Ist Selbstverwirklichung ein Grundbedürfnis des Menschen?

24 7
Das Buch der Geheimnisse

Versucht zunächst zu verstehen, was mit „Selbstverwirklichung”


gemeint ist. A. H. Maslow spricht von „Selbstaktualisierung”. Der
Mensch wird als Potential geboren. Er hat sich in Wirklichkeit
noch nicht aktualisiert, sondern ist nur potentiell da. Der Mensch
wird als Möglichkeit, nicht als Aktualität geboren. Er kann etwas
werden. Er kann die Verwirklichung seines Potentials erreichen —
oder auch nicht. Er mag die Gelegenheit wahrnehmen oder auch
nicht — die Natur zwingt niemanden, sich zu verwirklichen.
Du bist frei. Du kannst dich entscheiden, wirklich zu werden;
du kannst dich aber auch entscheiden, nichts dafür zu tun. Der
Mensch wird als Same geboren. Kein Mensch wird erfüllt gebo-
ren, sondern nur mit der Möglichkeit zur Erfüllung. Wenn das
der Fall ist — und das ist der Fall — wird Selbstverwirklichung dein
Grundbedürfnis. Denn solange du dich nicht erfüllt hast, solange
du noch nicht bist, was du sein kannst oder sein sollst, solange sich
deine Bestimmung noch nicht erfüllt hat, solange du noch nicht
tatsächlich da bist, solange dein Same noch nicht zu einem ausge-
reiften Baum geworden ist, wirst du das Gefühl haben, daß dir et-
was fehlt. Und jeder, jeder fühlt, daß ihm etwas fehlt. Dies Gefühl,
daß euch etwas fehlt, kommt nur daher, daß ihr noch nicht ver-
wirklicht seid.
Es kommt nicht daher, daß es an Reichtümern fehlt oder an
Stellung oder Ruhm oder Macht. Selbst wenn ihr bekommt, was
ihr euch wünscht: Geld, Macht, Ansehen, was auch immer — es
bleibt dies ständige Gefühl, daß innen etwas fehlt. Dieses fehlen-
de Etwas hat nichts mit dem Äußeren zu tun, es betrifft dein in-
neres Wachstum. Ehe du dich nicht erfüllt hast, ehe du nicht zur
Verwirklichung gediehen bist, zur Blüte, ehe du nicht zu einer in-
neren Befriedigung gelangt bist, in der du fühlen kannst: „Das ist
es, was ich zu sein bestimmt war” wird dieses Gefühl des Man-
gels nicht weichen. Und du kannst dieses Gefühl des Mangels
durch nichts anderes beheben.
Selbstverwirklichung bedeutet also, daß ein Mensch das ge-
worden ist, zu dem er bestimmt war. Er wurde als Same geboren,
und nun ist er aufgeblüht. Er hat die Fülle seines Wachstums, sei-
nes inneren Wachstums erreicht, ist ans innere Ziel gelangt. Im
gleichen Augenblick, da du fühlst, daß sich dein gesamtes Poten-

24 8
Kapitel 10

hal verwirklicht hat, erlebst du den Gipfel des Lebens, der Liebe,
der Existenz.
Abraham Maslow, der diesen Begriff „Selbstaktualisierung” be-
nutzt hat, hat auch einen anderen Ausdruck geprägt: „Gipfeler-
lebnis.” Wenn man zu sich selbst gelangt, erreicht man einen Gip-
fel - einen Gipfel der Glückseligkeit. Nun gibt es keine Sehnsucht
mehr - nach nichts. Man ist endgültig mit sich zufrieden. Nun
fehlt nichts mehr: Kein Wunsch, kein Verlangen, kein Aus-sich-
Herausgehen. Was immer man ist, man ist völlig mit sich zufrie-
den. Die Selbstverwirklichung wird zum Gipfelerlebnis, und nur
ein selbstverwirklichter Mensch kann zu Gipfelerlebnissen gelan-
gen. Dann wird alles zum Gipfelerlebnis; was er tut, was er nicht
tut, was er berührt, ja sein bloßes Dasein wird zum Gipfelerleb-
nis. Einfach nur dazusein ist Seligkeit. Dann hat Seligkeit nichts
mehr mit irgend etwas Äußerem zu tun, sondern ist nur eine Fol-
ge inneren Wachstums.
Ein Buddha ist ein Mensch, der sich verwirklicht hat. Darum
stellen wir Buddha, Mahavir und andere in Skulpturen, Bildern
und Abbildungen auf einem voll erblühten Lotus sitzend dar. Die-
ser voll erblühte Lotus ist der Inbegriff des inneren Aufblühens.
Sie sind innerlich aufgeblüht, haben sich zur vollen Blüte geöff -
net. Dies innere Blühen gibt ihnen Glanz, eine nicht endende Se-
ligkeit geht von ihnen aus. Alle, die auch nur ihren Schatten be-
treten, die ihnen nahekommen, fühlen eine Aura der Stille, die sie
umgibt.
Es gibt einen interessanten Bericht über Mahavir. Ein Mythos,
aber Mythen sind schön, und sie sagen vieles, was sich anders
nicht sagen läßt. Es heißt, daß überall, wo Mahavir hinging, alles
zu blühen anfing, im Umkreis von vierundzwanzig Meilen. Selbst
wenn es nicht Blütezeit war, öffneten sich alle Knospen. Das ist
poetisch ausgedrückt: aber wer selbst nicht verwirklicht war und
mit Mahavir in Kontakt kam, wurde von seinem Blühen ange-
steckt und spürte auch in sich ein inneres Erblühen. Auch wenn
für ihn selbst die Blütezeit noch nicht gekommen war, auch wenn
er noch nicht soweit war, spürte er den Widerhall, das Echo. Wem
sich Mahavir näherte, der konnte in sich ein Echo fühlen und ei-
nen Schimmer von dem erfahren, was er selbst fähig war zu sein.

24 9
Das Buch der Geheimnisse

Selbstverwirklichung ist das Grundbedürfnis. Und wenn ich


Grundbedürfnis sagte, dann meine ich, daß du dich immer noch
unerfüllt fühlen wirst, wenn alle anderen Bedürfnisse außer die-
sem erfüllt sind. Oder umgekehrt: Wenn du dich selbst verwirk-
lichst und dir sonst nichts erfüllt wird, fühlst du dennoch eine tie-
fe, totale Erfüllung. Darum ist Buddha ein Bettler und dennoch
ein Kaiser.
Buddha kam nach Kashi, als er erleuchtet wurde. Der König
von Kashi suchte ihn auf und fragte: „Ich sehe, du besitzt nichts.
Du bist nur ein Bettler, und dennoch, im Vergleich zu dir, fühle
ich mich wie ein Bettler. Du hast nichts, aber so wie du gehst, wie
du aussiehst, wie du lachst, scheint es, daß die ganze Welt dein
Königreich ist, und doch hast du nichts Sichtbares — nichts! Was
ist also das Geheimnis deiner Macht? Du siehst aus wie ein Kaiser.
Wirklich, so wie du hat kein Kaiser je ausgesehen — als würde dir
die ganze Welt gehören. Du bist König, aber wo ist deine Macht,
wo liegt die Quelle?”
Da sagte Buddha: „Sie ist in mir. Meine Macht, die Quelle von
meiner Macht und allem, was du um mich her fühlst, ist in Wirk-
lichkeit in mir. Ich habe nichts außer mir selbst; aber das ist ge-
nug. Ich bin erfüllt: ich wünsche mir nichts mehr. Ich bin wunsch-
los geworden.”
Wirklich, ein selbstverwirklichter Mensch wird wunschlos.
Normalerweise heißt es: Sei wunschlos, und du wirst dich selbst
erkennen. Umgekehrt stimmt es: Erkenne dich selbst, und du
wirst wunschlos. Und für Tantra liegt die Betonung nicht auf
Wunschlosigkeit, sondern auf Selbstverwirklichung. Die
Wunschlosigkeit ergibt sich daraus. Wünschen heißt, innerlich
unerfüllt zu sein. Dir fehlt etwas, du lechzt danach. Wir rennen
von einem Wunsch zum anderen, auf der Suche nach Erfüllung.
Diese Suche endet nie, weil ein Wunsch zum nächsten führt.
Wirklich, ein Wunsch erzeugt zehn. Wenn du dich voller Wün-
sche auf die Suche nach einem Zustand der wunschlosen Seligkeit
machst, kommst du nie an. Aber wenn du es anders versuchst,
und zwar mit Methoden der Selbsterkenntnis, mit Methoden, die
dir helfen, dein inneres Potential zu erkennen und es auch zu ver-
wirklichen, dann kommst du der Wirklichkeit näher; und es

250
Kapitel 10

kommen weniger und weniger Wünsche auf, denn sie kommen


nur deswegen, weil du nicht erfüllt bist. Wenn du erfüllt bist, hört
das Wünschen auf.
Wie macht man das nun — Selbstverwirklichung? Zwei Dinge
müssen verstanden werden. Das eine: Selbstverwirklichung be-
deutet nicht, daß du dich dann verwirklicht hast, wenn du zu ei-
nem großen Maler, Musiker oder Dichter geworden bist. Natür-
lich wird sich dann ein Teil von dir verwirklicht haben, und auch
das macht schon zufrieden. Wenn du das Talent eines guten Mu-
sikers hast und es erfüllst, wird ein Teil von dir erfüllt sein, aber
nicht das Ganze. Der übrige Mensch in dir wird unerfüllt bleiben.
Du hast Schlagseite. Ein Teil hat sich entwickelt, und der Rest
hängt dir wie ein Stein um den Hals.
Seht euch einen Dichter an: in den Augenblicken seiner poeti-
schen Inspiration erscheint er wie ein Buddha: er vergißt sich
selbst völlig. Der gewöhnliche Mensch in ihm scheint nicht mehr
da zu sein. Ein Dichter in seinen schöpferischen Momenten er-
lebt einen Gipfel — mit einem Teil seines Wesens. Und manchmal
haben Dichter Lichtblicke, die nur erleuchteten, buddhagleichen
Geistern möglich sind. Ein Dichter kann wie ein Buddha spre-
chen. Khalil Gibran zum Beispiel spricht wie ein Buddha, ohne
einer zu sein. Er ist ein großer Dichter.
Wenn ihr also Khalil Gibran als Dichter seht, erscheint er wie
ein Buddha, Christus oder Krishna. Aber wenn ihr hingeht und
dem Menschen Khalil Gibran begegnet, ist er ganz gewöhnlich.
Er spricht so schön über die Liebe, wie es vielleicht selbst ein
Buddha nicht könnte. Aber Buddha kennt die Liebe mit seinem
ganzen Sein. Khalil Gibran kennt die Liebe in seinem poetischen
Höhenflug. In seinem Dichterflug hatte er Lichtblicke von Liebe,
wunderbare Lichtblicke. Er drückt sie mit unvergleichlicher Ein-
sicht aus. Aber wenn ihr hingeht und den wirklichen Khalil Gi-
bran seht, den Menschen, dann spürt ihr den Unterschied. Dich-
ter und Mensch sind weit voneinander entfernt. Der Dichter
scheint etwas zu sein, was diesen Menschen manchmal über-
kommt, aber dieser Mensch ist nicht der Dichter.
Darum haben Dichter das Gefühl, daß ein anderer dichte, und
nicht sie, wenn sie kreativ sind. Sie haben das Gefühl, Instrument

25 1
Das Buch der Geheimnisse

einer anderen Energie geworden zu sein, einer anderen Kraft. Sie


sind nicht mehr da. Dieses Gefühl kommt in Wirklichkeit daher,
daß sie sich nicht in ihrer Ganzheit verwirklichen, sondern nur
zum Teil.
Nicht du hast den Himmel berührt, sondern nur ein Finger von
dir; du selbst bleibst in der Erde verwurzelt. Manchmal springst
du und bist für einen Moment nicht mehr auf der Erde. Du hast
die Schwerkraft überlistet, aber im nächsten Augenblick kommst
du wieder herunter. Wenn sich ein Dichter erfüllt, wenn sich ein
Musiker erfüllt, erfährt ein Teil seines Wesens Lichtblicke. Es
heißt von Beethoven, daß er ein völlig anderer Mensch war, wenn
er auf dem Podium stand, am Dirigentenpult. Goethe hat gesagt,
daß Beethoven wie ein Gott aussah, wenn er sein Orchester diri-
gierte. Man konnte ihn dann keinen gewöhnlichen Menschen
mehr nennen. Er war überhaupt kein Mensch mehr, er war über-
menschlich. Die Art, wie er blickte, die Art, wie er die Hand hob,
alles war übermenschlich. Aber wenn er von der Bühne herab-
stieg, war er ein ganz gewöhnlicher Mensch. Der Mann auf dem
Podium schien von einer anderen Kraft besessen, Beethoven war
nicht mehr da, und etwas anderes hatte Besitz von ihm ergriffen.
Von der Bühne zurück, war er wieder Beethoven, der ganz nor-
male Mensch.
Aus diesem Grund sind Dichter, Musiker, große Künstler, sind
alle kreativen Menschen unter Anspannung. Denn sie leben auf
zwei Daseinsebenen. Gewöhnliche Menschen sind nicht so ange-
spannt, weil sie immer nur in einer leben — auf der Erde. Aber
Dichter, Musiker, große Künstler ... sie springen. Sie überwinden
die Schwerkraft. In bestimmten Augenblicken sind sie nicht auf
dieser Erde, sind sie nicht Teil der Menschheit. Sie werden Teil
der Buddha-Welt — des Buddha-Landes. Und dann kehren sie
wieder zurück. Sie existieren an zwei Orten; ihre Persönlichkeit
ist gespalten.
Und so ist jeder kreative Künstler, jeder große Künstler, gewis-
sermaßen geisteskrank. Die Spannung ist zu groß. Der Riß, die
Lücke zwischen diesen beiden Daseinsebenen ist zu groß, un-
überbrückbar! Manchmal ist er nur ein gewöhnlicher Mensch,
manchmal wird er wie ein Buddha. Zwischen diesen beiden Po-

252
Kapitel 10

len wird er hin- und hergerissen. Aber er hat Lichtblicke. Wenn


ich also von Selbstverwirklichung spreche, meine ich damit nicht,
daß du zu einem großen Dichter oder Musiker sondern zu einem
vollständigen Menschen werden sollst. Ich sage nicht: zu einem
großen Menschen, denn ein großer Mensch ist immer fragmen-
tarisch. Größe ist immer fragmentarisch — auf welchem Gebiet
auch immer. Man bewegt sich nur in eine Richtung weiter, und
in allen anderen Dimensionen bleibt man der gleiche — man hat
„Schlagseite”.
Wenn ich sage: „Werdet zu einem ganzen Menschen”, meine
ich damit nicht, zu einem großen Menschen. Ich meine damit,
daß du ein Gleichgewicht herstellen sollst: sei ausgewogen und
erfüllt als Mensch — nicht als Musiker, nicht als Dichter, nicht als
Künstler, sondern erfüllt als Mensch. Was heißt das: erfüllt als
Mensch? Ein großer Dichter ist ein großer Dichter aufgrund
großer Dichtung. Ein großer Musiker ist groß aufgrund großer
Musik, und ein großer Mensch ist groß aufgrund bestimmter Din-
ge, die er getan hat — zum Beispiel mag er ein großer Held sein.
Ein großer Mensch ist immer irgendwie fragmentarisch. Größe
ist fragmentarisch, ist Stückwerk. Darum müssen große Menschen
mit mehr Qualen fertigwerden als gewöhnliche.
Was ist dagegen ein ganzer Mensch? Was ist mit „ganzer
Mensch” gemeint — „vollständiger Mensch”? Es bedeutet erstens:
Sei zentriert, sei „zentralisiert”. Lebe nicht ohne ein Zentrum. In
diesem Augenblick bist du dies, im nächsten etwas anderes ...
Wenn Leute zu mir kommen, frage ich sie immer: „Wo, meinst
du, ist dein Zentrum? Im Herzen? Im Kopf? Im Nabel? Wo? Im
Sexzentrum? Wo, wo fühlst du dein Zentrum?” Normalerweise
sagen sie: „Manchmal fühle ich es im Kopf, manchmal im Her-
zen, manchmal überhaupt nicht.” Also sage ich ihnen, sie sollen
ihre Augen schließen, und es jetzt im Augenblick fühlen. Und
meistens — ich spreche von der Mehrheit — geschieht folgendes:
Sie sagen: „Jetzt im Augenblick habe ich das Gefühl, im Kopf zu
sein.” Und im nächsten Augenblick sind sie dort nicht mehr, sie
sagen: „Und jetzt im Herzen.” Und im nächsten Augenblick sind
sie wieder weitergerutscht. Sie sind wieder anderswo. Im Sexzen-
trum oder sonstwo.

253
Das Buch der Geheimnisse

Ihr seid in Wirklichkeit nicht zentriert. Ihr seid nur für Augen-
blicke zentriert. Jeder Augenblick hat sein eigenes Zentrum, und
so geht ihr von einem zum anderen. Wenn der Kopf funktioniert,
fühlt ihr den Kopf als Zentrum. Wenn ihr liebt, fühlt ihr, daß es
das Herz ist. Wenn ihr nichts Bestimmtes tut, dann wißt ihr es
nicht. Ihr könnt dann nicht herausfinden, wo es ist. Denn ihr
könnt es nur spüren, wenn ihr etwas Bestimmtes tut, wenn ihr et-
was Bestimmtes arbeitet. Dann wird ein bestimmter Teil des Kör-
pers zum Zentrum. Aber du bist nicht zentriert. Wenn du nicht
etwas Bestimmtes tust, kannst du nicht sagen, wo dein Daseins-
zentrum ist.
Ein vollständiger Mensch ist zentriert. Was immer er tut, er
bleibt in seiner Mitte. Wenn sein Geist funktioniert, denkt er. Das
Denken spielt sich im Kopf ab, aber er bleibt im Nabel zentriert.
Das Zentrum geht nie verloren. Er benutzt den Kopf, aber geht
nie in den Kopf. Er benutzt das Herz, aber geht nicht ins Herz.
All diese Dinge werden zu Instrumenten, er aber bleibt zentriert.
Zweitens: Er ist ausgewogen. Natürlich, wenn man zentriert ist,
ist man ausgewogen. Das Leben ist ein tiefes Gleichgewicht. Man
ist nie einseitig; man ist nie in einem Extrem. Man bleibt in der
Mitte. Buddha nennt das den „mittleren Pfad”. Er bleibt immer in
der Mitte.
Ein Mensch, der nicht zentriert ist, geht immer ins Extrem.
Wenn er ißt, dann ißt er zuviel, er überißt sich. Oder er fastet viel-
leicht, aber die richtige Menge zu essen, ist ihm unmöglich. Er
kann leicht fasten und sich leicht überessen. Er kann in der Welt
sein, völlig in sie verwickelt, oder er kann der Welt entsagen, aber
er wird niemals ausgeglichen sein. Er kann nie in der Mitte blei-
ben, denn wenn man nicht zentriert ist, weiß man nicht, was
„Mitte” heißt.
Ein Mensch, der zentriert ist, ist immer in der Mitte; er geht nie
ins Extrem, egal, was er tut. Buddha nennt ein solches Essen „rech-
tes Essen”, weder Völlerei noch Fasten. Seine Arbeit nennt er
„rechte Arbeit”: weder zuviel noch zuwenig. Was immer ge-
schieht, er ist ausgeglichen.
Das erste ist also: Ein selbstverwirklichter Mensch ist zentriert.
Das zweite: ausgewogen. Das dritte: Wenn diese beiden Dinge

254
Kapitel10

geschehen — Zentrierung und Ausgewogenheit, ergibt sich vieles


daraus. Drittens, er wird sich immer wohlfühlen. Was auch im-
mer geschieht, sein Wohlgefühl geht nie verloren. Ich sage: Was
immer geschieht, bedingungslos; das Wohlgefühl wird nicht ver-
schwinden. Denn einer, der in seinem Zentrum ist, ist immer ent-
spannt. Selbst wenn der Tod kommt, fühlt er sich wohl. Er wird
den Tod so empfangen, wie jeden anderen Gast. Wenn Unglück
kommt, empfängt er es. Was immer geschieht, es kann ihn nicht
aus seinem Zentrum herausholen. Er fühlt sich wohl, weil er in
seiner Mitte ist.
Für so einen Menschen ist nichts zu trivial und nichts zu grob.
Alles wird heilig, schön, heil — alles! Was immer er tut — was es
auch sei — ist von höchster Bedeutung, als wäre es von höchster
Bedeutung; nichts ist ihm trivial. Er nennt nicht das eine trivial
und das andere groß. Denn wirklich, die Dinge sind weder groß,
noch sind sie klein und trivial. Von einem solchen Menschen
beriihrt zu werden, ist bedeutungsvoll. Ein selbstverwirklichter
Mensch, ein ausgewogener, zentrierter Mensch, verwandelt alles.
Seine bloße Berührung macht die Dinge bedeutsam. Wenn ihr ei-
nem Buddha zuschaut, werdet ihr sehen, daß er beim Gehen das
Gehen liebt. Wenn man nach Bodh Gaya geht, wo Buddha die
Erleuchtung erlangte, zum Ufer des Niranjana-Flusses, dorthin,
wo er unter dem Bodhi-Baum saß, wird man sehen, daß seine
Fußspuren markiert worden sind. Er meditierte immer eine Stun-
de und ging dann spazieren. In der buddhistischen Terminologie
heißt das Chakraman. Er saß unter dem Bodhi-Baum und ging
dann ein wenig herum. Er ging in einer heiteren Haltung, in Me-
ditation.
Jemand fragte Buddha: „Warum tust du dies? Erst sitzt du mit
geschlossenen Augen und meditierst, dann gehst du herum.”
Buddha sagte: „Dazusitzen und still zu sein ist leicht, also gehe ich.
Aber ich nehme die Stille in mir mit. Ich sitze, aber innen bin ich
der gleiche — still. Ich gehe, aber innen bin ich der gleiche — still.”
Die innere Qualität ist die gleiche. Er trifft einen Kaiser, er trifft
einen Bettler, aber Buddha ist der gleiche: Er hat die gleiche in-
nere Qualität. Einem Bettler begegnet er nicht anders als einem
Kaiser. Er bleibt der gleiche. Der Bettler ist ihm kein Niemand,

255
Das Buch der Geheimnisse

und der Kaiser kein Jemand. Und wirklich, wenn Kaiser Buddha
entgegentraten, haben sie sich wie Bettler gefühlt, und Bettler wie
Kaiser. Das Flair, der Mensch, die Qualität bleibt gleich. Solange er
lebte, fragte er seine Jünger jeden Morgen: „Wenn ihr etwas zu
fragen habt, so fragt.” Am Tag als er starb, an jenem Morgen, war
es auch so. Er rief seine Jünger und sagte: „Wenn ihr jetzt etwas
zu fragen habt, dann könnt ihr fragen, und bedenkt, daß dies der
letzte Morgen ist. Ehe dieser Tag zu Ende geht, werde ich nicht
mehr sein.” Er war der gleiche. Das war der letzte Tag, aber er war
der gleiche. Genau wie an jedem anderen Tag fragte er: „Okay,
wenn ihr etwas zu fragen habt, dann fragt — aber das ist heute der
letzte Tag.” Sein Tonfall war unverändert, aber die Jünger fingen
zu weinen an. Sie vergaßen das Fragen ganz.
Buddha fragte: „Warum weint ihr? Hättet ihr an einem ande-
ren Tag geweint, wäre es okay gewesen, aber heute ist der letzte
Tag, ich werde am Abend nicht mehr sein, verschwendet also kei-
ne Zeit mit Weinen. An einem anderen Tage wäre es okay gewe-
sen. Da hättet ihr Zeit verschwenden können. Verschwendet eure
Zeit nicht mit Weinen. Warum weint ihr? Fragt, wenn ihr etwas
zu fragen habt.” Er war der gleiche, im Leben wie im Tod.
Drittens also ist so ein Mensch ganz entspannt: Ihm sind Leben
und Tod, Seligkeit und Unglück gleich. Nichts stört, nichts holt
ihn aus seinem Zuhause, aus seiner Ausgewogenheit heraus. Ei-
nem solchen Menschen könnt ihr nichts mehr hinzufügen. Ihr
könnt ihm nichts nehmen, ihr könnt ihm nichts hinzufügen. Er
ist erfüllt. Jeder seiner Atemzüge ist ein erfüllter Atemzug — still,
selig. Er ist angekommen. Er ist bei der Existenz, beim Dasein an-
gekommen. Er ist zum ganzen Menschen erblüht.
Dies ist kein teilweises Erblühen, Buddha ist nicht etwa ein
großer Dichter. Natürlich, alles, was er sagt, ist Dichtung. Er ist
ganz und gar kein Dichter, aber schon sein Gehen, jede seiner
Bewegungen ist Poesie. Er ist kein Maler, aber wenn er spricht,
wird alles, was er sagt, zum Gemälde. Er ist kein Musiker, aber
sein ganzes Wesen ist Musik par excellence. Dieser Mensch ist in
seiner Ganzheit angekommen. Was er auch tut oder nicht tut,
selbst wenn er schweigend dasitzt und gar nichts tut, so wirkt und
erschafft seine Gegenwart selbst noch im Schweigen. Es ist krea-

256
Kapitel 10

tiv. Tantra befaßt sich nicht mit dem Wachstum, das nur einen
Teil von dir betrifft. Es befaßt sich mit dir als ganzem Wesen. Drei
Dinge sind also grundlegend: du mußt zentriert, verwurzelt, aus-
gewogen sein; das heißt, daß du immer in der Mitte bist, ohne
jede Mühe, natürlich: wenn es anstrengend ist, bist du nicht aus-
gewogen. Du mußt entspannt sein — entspannt im Universum, zu
Hause in der Schöpfung, und dann ergibt sich vieles. Dies ist ein
Grundbedürfnis, denn wirklich, bevor nicht dieses Bedürfnis er-
füllt ist, wirst du nur dem Namen nach ein Mensch sein, bist du
Mensch nur als Möglichkeit. Du bist nicht wirklich Mensch. Du
kannst es aber sein, du hast die Anlage dazu. Aber die Anlage muß
verwirklicht werden.

Die zweite Frage:

Bitte erkläre Kontemplation, Konzentration und Meditation.

Kontemplation ist Denken — zielgerichtetes Denken. Wir alle


denken, aber das ist nicht Kontemplation. Das ist ein ungeordne-
tes Denken, vage, ohne Ziel. Wirklich, unser Denken ist nicht
Kontemplation, sondern das, was die Freudianer Assoziation nen-
nen. Ein Gedanke führt zum nächsten, ohne daß du Einfluß dar-
auf hättest. Ein Gedanke führt von sich aus zu einem anderen, mit
Hilfe von Assoziationen.
Du siehst einen Hund über die Straße laufen, und du fängst an,
über Hunde nachzudenken. Der Hund war der Auslöser einer
Assoziationskette in deinem Denken. Als Kind hattest du vor ei-
nem ganz bestimmten Hund Angst. Dieser Hund kommt dir in
den Sinn und dann auch deine Kindheit. Jetzt vergißt du den
Hund. Jetzt fängst du an, einfach durch Assoziationen, von deiner
Kindheit zu träumen. Dann wird die Kindheit wieder mit ande-
ren Dingen verknüpft, und du drehst dich im Kreis.
Wenn du dich einmal entspannst, versuche, deinen Gedanken-
gang dorthin zurückzuverfolgen, wo er angefangen hat. Gehe
zurück: verfolge die Spur. Dann wirst du sehen, daß davor ein an-
derer Gedanke war, der zu diesem geführt hat. Und sie sind nicht
logisch verbunden, denn was hat ein Hund auf der Straße mit

25 7
Das Buch der Geheimnisse

deiner Kindheit zu tun? Da gibt es keine logische Verbindung —


nur Assoziationen in deinem Kopf. Wäre ich über die Straße ge-
gangen, hätte mich der gleiche Hund nicht an meine Kindheit er-
innert, er hätte mich irgendwo anders hingeführt. Bei einem drit-
ten hätte er wieder zu etwas anderem geführt. Jeder hat Assozia-
tionsketten im Kopf. Jede beliebige Kette kann durch irgendein
Geschehen, irgendeinen Zufall ausgelöst werden. Dann funktio-
niert das Hirn wie ein Computer. Eins führt zum anderen, und
das zu wieder etwas anderem, und das geht den ganzen Tag so.
Schreibt mal auf ein Blatt Papier, was immer euch in den Kopf
kommt, ganz ehrlich: ihr werdet baß erstaunt sein. Was ist in eu-
rem Kopf los? Da gibt es keine Beziehung zwischen zwei Gedan-
ken, und diese Art von Denken betreibt ihr immerzu! Das nennt
ihr denken? Das ist nichts als ein Assoziieren des einen Gedankens
mit dem anderen, und sie führen sich selbst. Du wirst geführt.
Denken wird dann zur Kontemplation, wenn es sich nicht
durch Assoziationen bewegt, sondern gelenkt wird. Du arbeitest
an einem bestimmten Problem: du richtest deinen Geist darauf.
Er wird versuchen, durch jedes Schlupfloch auf eine Nebenbahn
zu entkommen, zu einer Assoziation. Du schneidest alle Neben-
wege ab. Du hältst deinen Geist auf nur einer Straße, du lenkst
deinen Geist.
Ein Wissenschaftler, der an einem Problem arbeitet, ist in Kon-
templation. Ein Logiker, der an einem Problem arbeitet, ein Ma-
thematiker, der an einem Problem arbeitet, ist in Kontemplation.
Ein Dichter versenkt sich in eine Blume: Dann ist die ganze Welt
ausgeklammert bis auf diese Blume und den Dichter, und er geht
mit der Blume mit. Vieles wird ihn auf andere Bahnen locken,
aber er erlaubt seinem Geist nicht, woanders hinzugehen. Der
Geist bewegt sich auf einer Linie — gelenkt. Das ist Kontem-
plation.
Wissenschaft gründet sich auf Kontemplation. Alles logische
Denken ist Kontemplation: Der Gedanke wird gelenkt, das Den-
ken geführt. Denken, das gewöhnliche Denken, ist absurd. Kon-
templation ist logisch, rational.
Dann gibt es Konzentration: Konzentration ist ein Verharren
an einem Punkt. Das ist nicht dasselbe wie Kontemplation, ist kein

258
Kapitel 1 0

Denken. Konzentration heißt, wirklich an einem Punkt verwei-


len, dem Geist nicht zu erlauben weiterzugehen. Im Denken
führt sich der Geist wie ein Wahnsinniger auf - irn gewöhnlichen
Denken. In der Kontemplation wird der Wahnsinnige gelenkt,
geleitet: Er kann keine Seitensprünge machen. In der Konzentra-
tion wird dem Geist nicht einmal erlaubt, sich zu bewegen. Im
gewöhnlichen Denken darf er überall hin; in Kontemplation darf
er nur in eine bestimmte Richtung, in Konzentration darf er sich
überhaupt nicht bewegen. Er darf nur an einem Punkt verharren.
Die gesamte Energie, die ganze Bewegung hält inne, bleibt an ei-
nem Punkt.
Yoga hat mit Konzentration zu tun, der gewöhnliche Mensch
mit ungelenktem Denken, der wissenschaftliche Kopf mit ge-
lenktem Denken. Der yogische Geist hat sein Denken auf einen
Punkt gerichtet. Keine Bewegung ist erlaubt.
Und schließlich die Meditation. Im gewöhnlichen Denken darf
der Geist hin, wo er will: in Kontemplation darf er nur in eine be-
stimmte Richtung: Alle anderen Richtungen sind ihm abge-
schnitten. In Konzentration darf er sich nicht einmal in eine Rich-
tung bewegen, er darf sich nur auf einen Punkt konzentrieren.
Und in Meditation wird überhaupt kein Geist zugelassen. Me-
ditation ist Nicht-Geist. Dies sind die vier Stufen - gewöhnliches
Denken, Kontemplation, Konzentration, Meditation.
Meditation heißt Nicht-Geist: Nicht einmal Konzentration ist
erlaubt. Der Geist selbst darf nicht da sein! Darum kann Medita-
tion vom Geist her nicht begriffen werden. Bis hin zur Konzen-
tration geht der Bereich des Geistes, bis dahin dehnt er sich aus.
Der Geist kann Konzentration verstehen. Aber der Geist kann
Meditation nicht verstehen. Tatsächlich ist der Geist überhaupt
nicht mehr zugelassen. In Konzentration darf der Geist an einem
Punkt bleiben, in Meditation wird ihm selbst dieser Punkt weg-
genommen. Im gewöhnlichen Denken stehen ihm alle Richtun-
gen offen. In Kontemplation ist ihm nur eine Richtung offen. Und
in Konzentration nur noch ein Punkt - keine Richtung mehr. In
Meditation ist selbst dieser Punkt nicht da: Dem Geist wird nicht
erlaubt, dazusein.
Das gewöhnliche Denken ist der gewöhnliche Zustand des

25 9
Das Buch der Geheimnisse

Geistes, Meditation ist die höchste Möglichkeit. Der niedrigste


Zustand ist gewöhnliches Denken — Assoziation; und der höchste
Zustand, der Gipfel, ist Meditation — Nicht-Geist.

Und in der nächsten Frage wird das gleiche gefragt:

Kontemplation und Konzentration sind mentale Prozesse.


Wie können mentale Prozesse dabei helfen einen Zustand des
Nicht-Geistes herbeizuführen?

Die Frage ist wichtig. Der Geist selbst fragt, wie der Geist über
den Geist hinausgelangen kann! Wie kann irgendein mentaler
Prozeß dabei helfen, etwas herzustellen, was nicht zum Geist
gehört? Es erscheint widersprüchlich. Wie kann dein Geist versu-
chen, einen Zustand herzustellen, der nicht Geist ist? Versucht,
das wirklich zu verstehen. Solange der Geist da ist, was ist dann
da? Ein Denkvorgang! Geht es aber um den Nicht-Geist, was ist
dann da? Kein Denkvorgang! Wenn deine Denkvorgänge immer
weniger werden, wenn du dein Denken immer mehr auflöst,
kommst du nach und nach, langsam aber sicher zum Nicht-Geist.
Geist heißt Denken; Nicht-Geist heißt Nicht-Denken. Und der
Geist kann dabei helfen! Der Geist kann bei seinem Selbstmord
mithelfen. Jeder kann Selbstmord begehen, aber es wird nie ge-
fragt, wie denn ein lebender Mensch sich selbst dazu verhelfen
kann, tot zu sein?! Du kannst dir helfen, tot zu sein. Jeder macht
es. Ihr könnt eurem Sterben nachhelfen und lebt trotzdem. Ge-
nauso kann der Geist dabei helfen, zu Nicht-Geist zu werden.
Wie kann er das?
Wird der Denkprozeß immer dichter, dann gehst du vom Geist
zu Mehr-Geist. Wenn der Denkvorgang sich lichtet, abnimmt,
sich verlangsamt, hilfst du dir selbst, dich in Richtung Nicht-Geist
zu bewegen. Es kommt auf dich an. Und der Geist kann helfen,
weil „Geist” nämlich in Wirklichkeit das ist, was du im Augen-
blick aus deinem Bewußtsein machst. Wenn du dein Bewußtsein
in Ruhe läßt, ohne irgend etwas damit zu tun, wird es zu Medita-
tion.
Es gibt also zwei Möglichkeiten: entweder du verringerst lang-

260
Kapite110

sam und allmählich deinen Geist. Wenn du ihn um ein Prozent


verringerst, dann hast du neunundneunzig Prozent Geist und ein
Prozent Nicht-Geist in dir. Es ist, als würdest du Möbel aus dei-
nem Zimmer räumen, als hättest du ein Möbelstück entfernt. Es
ist dann mehr Platz im Zimmer. Und wenn du noch mehr Mö-
bel herausnimmst, entsteht noch mehr Raum. Wenn du dann alle
Möbel entfernt hast, wird das ganze Zimmer zu Raum.
Der Raum wird in Wirklichkeit nicht dadurch geschaffen, daß
du die Möbel entfernst: Der Raum war schon da. Er war ledig-
lich voller Möbel. Wenn du die Möbel entfernst, kommt etwa
kein Raum von außen — der Raum war da, nur voller Möbel. Du
hast die Möbel entfernt und so den Raum wiedergewonnen,
zurückerlangt. Im Grunde ist Geist ein voller Raum, von Gedan-
ken erfüllt. Wenn du einige Gedanken entfernst, wird Raum ge-
schaffen oder wiederentdeckt oder wiedergewonnen. Je mehr Ge-
danken du entfernst, desto mehr gewinnst du nach und nach dei-
nen Raum zurück. Dieser „Raum” ist Meditation.
Das kann langsam geschehen, aber auch plötzlich. Man braucht
nicht viele Leben lang Möbel auszuräumen, denn das bringt wie-
der Probleme. Wenn du die Möbel entfernst, dann entsteht ein
Prozent Raum und neunundneunzig Prozent Raum bleiben be-
setzt. Dieser fast volle Raum fühlt sich nicht wohl, was den lee-
ren Raum anbelangt; er will ihn wieder füllen. So verringert man
einerseits langsam die Gedanken und fängt gleichzeitig an, wie-
der neue zu erzeugen.
Morgens setzt du dich ein bißchen hin, um zu meditieren. Du
verlangsamst deinen Gedankenprozeß. Dann stürzt du dich ins
Marktgewühl, und es gibt eine Flut von Gedanken: der Raum ist
wieder voll. Am nächsten Tag tust du das gleiche und tust es im-
mer wieder — wirfst hinaus und lädst wieder ein.
Du kannst auch alle Möbel auf einmal hinauswerfen. Du hast
die Wahl. Es ist schwer, weil du dich so an die Möbel gewöhnt
hast; du könntest dich ohne Möbel unbehaglich fühlen, du wirst
sicher nicht wissen, was du mit diesem Raum anfangen sollst. Du
kannst sogar Angst davor bekommen, in diesen Raum hineinzu-
gehen. Du hast dich nie in einer solchen Freiheit bewegt.
Geist ist Konditionierung. Wir haben uns an Gedanken

26 1
Das Buch der Geheimnisse

gewöhnt. Habt ihr je beobachtet — und wenn ihr es nicht getan


habt, dann tut es —, daß ihr jeden Tag die gleichen Gedanken
denkt? Ihr seid wie eine Schallplatte, und nicht mal eine neue,
sondern eine alte. Ihr wiederholt immer und immerzu die glei-
chen Dinge. Warum? Was hat das für einen Sinn? Nur einen —
eingefahrene Gewohnheit; und du glaubst, etwas Sinnvolles zu
tun!
Du liegst auf deinem Bett und wartest nur auf den Schlaf: War-
um tust du das jeden Tag? Die gleichen Dinge wiederholen sich.
Aber das hilft in gewisser Weise. Alte Gewohnheiten helfen — als
Konditionierung. Ein Kind braucht ein Spielzeug. Wenn es das
Spielzeug bekommt, schläft es ein; hinterher kannst du ihm das
Spielzeug wieder wegnehmen. Aber ohne das Spielzeug kann das
Kind nicht einschlafen. Es ist eine Konditionierung. Wenn es das
Spielzeug bekommt, löst das etwas in ihm aus. Jetzt kann es ein-
schlafen.
Das gleiche passiert mit euch. Die Spielzeuge mögen verschie-
den sein. Der eine kann nicht einschlafen, wenn er nicht Ram,
Ram, Ram wiederholt. Anders kann er nicht einschlafen! Dies ist
ein Spielzeug. Wenn er Rain, Ram, Ram vor sich hersingt, hat er
sein Spielzeug bekommen, er kann einschlafen.
In einem neuen Zimmer fällt es dir schwer, einzuschlafen.
Wenn du immer in bestimmten Kleidungsstücken schläfst, dann
brauchst du sie jeden Tag. Die Psychologen sagen, daß man nur
sehr schwer einschlafen kann, wenn man normalerweise ein
Nachthemd trägt und es auf einmal nicht mehr bekommt. War-
um? Wenn du nie nackt geschlafen hast, fühlst du dich nicht wohl.
Warum? Nacktheit und Schlaf haben nichts miteinander zu tun.
Außer für dich — deine alte Gewohnheit. Bei alten Gewohnhei-
ten fühlt man sich wohl, sie sind bequem. Denkmuster sind eben-
falls nur Gewohnheiten. Du fühlst dich wohl — der gleiche Ge-
danke jeden Tag, die gleiche Routine. Du hast das Gefühl, daß al-
les okay ist.
Du hast viel in deine Gedanken investiert: Das ist das Problem.
Deine Möbel sind nicht einfach Gerümpel zum Wegwerfen, du
hast viel, viel in sie investiert. Alle Möbel könnten augenblicklich
hinausgeworfen werden: Das ist möglich! Es gibt plötzliche Me-

26 2
Kapitel 10

thoden, von denen wir noch sprechen werden. Augenblicklich,


jetzt gleich, kannst du von deinem ganzen mentalen Mobiliar be-
freit werden. Aber dann bist du plötzlich unbesetzt, leer, und
weißt nicht mehr wer du bist. Da weißt du nicht mehr, was du
tun sollst, weil zum erstenmal deine alten Muster nicht mehr da
sind. Der Schock kann zu plötzlich sein. Du kannst sogar sterben
oder verrückt werden.
Darum werden plötzliche Methoden nie benutzt, außer für den,
der bereit ist. Man kann plötzlich verrückt werden, wenn alle An-
kerketten reißen. Die Vergangenheit bricht augenblicklich zusam-
men - und wenn die Vergangenheit mit einem Schlag fällt, kannst
du dir die Zukunft nicht mehr vorstellen, weil du dir die Zukunft
immer nach dem Muster der Vergangenheit vorgestellt hast.
Nur die Gegenwart bleibt, und du bist nie in der Gegenwart
gewesen. Entweder warst du in der Vergangenheit oder in der Zu-
kunft. Wenn du also nur in der Gegenwart bist, zum allerersten-
mal, dann läufst du Amok, wirst du verrückt. Darum werden
plötzliche Methoden nie benutzt, außer du arbeitest in einer
Mysterienschule, außer du arbeitest unter einem Lehrer, einer
Gruppe, außer du hast dich total ausgeliefert und dein ganzes Le-
ben der Meditation gewidmet.
Allmähliche Methoden sind daher gut. Sie nehmen viel Zeit in
Anspruch, aber so kannst du dich nach und nach an den leeren
Raum gewöhnen. Du fängst an, den leeren Raum zu fühlen - sei-
ne Schönheit, seine Seligkeit - und so wird dir nach und nach dein
Mobiliar genommen.
Es ist also gut, vom gewöhnlichen Denken zunächst zur Kon-
templation weiterzugehen: Das ist die allmähliche Methode. Und
aus der Kontemplation heraus ist es gut, sich zu konzentrieren.
Das ist die allmähliche Methode. Und aus der Konzentration her-
aus ist es gut, den Sprung in die Meditation zu tun. Dann gehst
du langsam vor, fühlst bei jedem Schritt Boden unter den Füßen
- und erst wenn du wirklich mit jedem Schritt Fuß gefaßt hast,
tust du den nächsten. Es ist kein Sprung: Es ist ein allmähliches
Wachstum.
Das sind also die vier Schritte - gewöhnliches Denken, Kon-
templation, Konzentration, Meditation.

263
Das Buch der Geheimnisse

Die dritte Frage:

Ist die Entwicklung des Nabelzentrums völlig frei und unabhängig


vom Wachstum des Herz- und Kopfzentrums, oder entwickelt
sich das Nabelzentrum gleichzeitig mit ihnen? Und erkläre bitte
auch inwiefern sich die Techniken für die Ent- faltung des Nabel-
zentrums von den Techniken für die Entwicklung von Kopf und
Herz unterscheiden.

Eines muß man grundsätzlich verstehen: Herz- und Kopfzen-


trum müssen entwickelt werden, das Nabelzentrum dagegen
nicht. Das Nabelzentrum braucht nur entdeckt zu werden: man
muß es nicht entwickeln. Das Nabelzentrum ist bereits da. Ihr
müßt es aufdecken, entdecken. Es ist da, voll entwickelt. Ihr
braucht es nicht zu entfalten. Das Herz- und das Kopfzentrum
sind Entwicklungen, sie brauchen nicht entdeckt zu werden. Ge-
sellschaft, Kultur, Erziehung und Prägung helfen, sie zu ent-
wickeln.
Aber das Nabelzentrum ist dir angeboren. Ohne das Nabel-
zentrum kannst du nicht leben. Du kannst ohne Herzzentrum
sein, du kannst ohne Kopfzentrum sein. Sie sind hilfreich: es ist
gut, sie zu haben, aber du kannst auch ohne sie leben. Das wird
zwar sehr unangenehm sein, aber leben kannst du ohne sie. Ohne
das Nabelzentrum jedoch könntest du gar nicht da sein. Es ist
nicht etwas, daß du gebrauchen kannst, es ist dein Leben selbst.
Es gibt also Techniken dafür, wie man das Herzzentrum ent-
wickelt, wie Liebe, Empfindsamkeit, Empfänglichkeit heran-
wachsen können. Es gibt Methoden und Techniken, um rationaler,
logischer zu werden. Verstand läßt sich entwickeln: Gefühl läßt sich
entwickeln. Aber Sein läßt sich nicht entwickeln. Es ist sicher schon
da, es muß nur noch entdeckt werden.
Daraus ergibt sich vieles. Das eine: du bist vielleicht nicht fähig,
zu denken wie Einstein, logisch zu schließen wie ein Einstein. Das
magst du nicht können; aber trotzdem kannst du ein Buddha wer-
den. Ein Einstein hat ein Kopfzentrum, das in höchster Perfektion
funktioniert. Ein anderer dagegen, ein Liebender, ein Majnu, hat
ein Herzzentrum, das in höchster Vollkommenheit funktioniert.

26 4
Kapitel 10

Du kannst vielleicht kein Majnu werden, wohl aber ein Buddha,


weil die Buddhaschaft in dir nicht entwickelt werden muß: Sie ist
bereits da. Sie hat mit dem wichtigsten Zentrum zu tun, dem ur-
sprünglichen Zentrum — dem Nabel. Du bist bereits ein Buddha,
nur unbewußt.
Du bist nicht schon ein Einstein. Da müßtest du dich sehr an-
strengen, und auch dann ist es nicht sicher, ob du einer wirst. Es
gibt keine Garantie, ja, es scheint unmöglich. Warum unmöglich?
Weil ein Kopf wie Einstein die gleiche Wachstumssituation, das
gleiche Milieu, dieselbe Ausbildung braucht. Das läßt sich nicht
wiederholen, es ist unwiederholbar. Erst mußt du die gleichen
Eltern finden, denn die Entwicklung fängt im Mutterleib an. Es
ist schwierig, die gleichen Eltern zu finden — unmöglich. Wie
kannst du dieselben Eltern finden, das gleiche Geburtsdatum, das
gleiche Zuhause, die gleichen Bezugspersonen, die gleichen
Freunde? Du mußt das Leben Einsteins genau wiederholen —„sie-
he oben". Wenn auch nur ein Punkt fehlt, wirst du ein anderer
Mensch sein.
Das ist also unmöglich. Ein Individuum wird nur einmal in die-
se Welt geboren, weil sich seine Situation nicht wiederholen läßt.
Es würde ungeheuer viel dazu gehören, sie wiederherzustellen!
Es bedeutet, daß wieder die gleiche Welt im gleichen Augenblick
da sein müßte. Das ist nicht möglich: es ist unmöglich. Du bist be-
reits da, und in allem, was du tust, ist deine Vergangenheit ent-
halten. Du kannst kein Einstein werden. Individualität kann man
nicht wiederholen.
Buddha ist kein Individuum: Buddha ist ein Phänomen. Indi-
viduelle Faktoren sind unwichtig. Dein Dasein allein genügt, um
Buddha zu sein. Das Zentrum ist bereits da, und es funktioniert.
Du mußt es nur entdecken. Die Techniken für das Herzzentrum
sind Techniken, um etwas zu entwickeln, und die Techniken für
das Nabelzentrum haben mit entdecken zu tun. Du mußt es auf-
decken. Du bist schon ein Buddha, du brauchst diese Tatsache nur
zu erkennen.
Es gibt also nur zwei Menschentypen: Buddhas, die wissen, daß
sie Buddhas sind, und Buddhas, die nicht wissen, daß sie Buddhas
sind. Aber jeder ist ein Buddha. Was die Existenz betrifft, ist jeder

26 5
Das Buch der Geheimnisse

gleich. Nur in der Existenz gibt es Kommunismus: überall sonst ist


Kommunismus absurd. Niemand ist gleich: überall sonst ist
Ungleichheit die Grundlage. Es mag also paradox klingen, wenn
ich sage, daß nur Religion zum Kommunismus führt; aber ich
meine diesen Kommunismus: die tiefe Gleichheit der Existenz,
des Daseins. Hier seid ihr einem Buddha, einem Christus, einem
Krishna gleich, aber sonst gibt es keine zwei gleichen Individuen.
Das äußere Leben beruht auf Ungleichheit; das innere Leben
beruht auf Gleichheit.
Diese hundertzwölf Methoden sind also nicht dazu da, das Na-
belzentrum zu entwickeln. Sie sind dazu da, es zu entdecken. Dar-
um wird manch einer plötzlich zum Buddha: Weil man nicht erst
etwas herstellen muß. Wenn du dich selbst anschauen, wenn du
tief in dich selbst hineingehen kannst, ist alles, was du brauchst,
schon da: Es ist bereits der. Fall. Es kommt nur darauf an, wie du
auf den Punkt geworfen werden kannst, wo du bereits Buddha bist.
Meditation hilft dir nicht dabei, ein Buddha zu werden. Sie hilft
dir nur dabei, zu erkennen, daß du ein Buddha bist.

Noch eine Frage:

Sind alle Erleuchteten im Nabel zentriert? Ist Krishnamurti zum


Beispiel im Kopfoder im Nabel zentriert? War Ramakrishna im
Herzen oder im Nabel zentriert?

Jeder Erleuchtete ist im Nabel zentriert, aber der Ausdruck ei-


nes jeden Erleuchteten mag durch andere Zentren fließen. Macht
euch diesen Unterschied ganz klar. Jeder Erleuchtete ist im Na-
bel zentriert; es geht nicht anders. Aber wie er sich ausdrückt, ist
eine andere Sache.
Ramakrishna drückt sich durch das Herz aus. Er benutzt sein
Herz als das Medium seiner Botschaft. Was immer er im Nabel
gefunden hat, er drückt es durch sein Herz aus. Er singt, er tanzt
— das ist seine Art, Seligkeit zum Ausdruck zu bringen. Die Selig-
keit wird im Nabel gefunden, nirgendwo sonst. Er ist im Nabel
zentriert. Aber wie kann er es den anderen mitteilen? Um es aus-
zudrücken, benutzt er sein Herz.

266
Kapitel 10

Krishnamurti benutzt seinen Kopf dazu. Darum sind die Aus-


drucksweisen beider so verschieden. Wer an Ramakrishna glaubt,
kann nicht an Krishnamurti glauben. Wer an Krishnamurti glaubt,
kann nicht an Ramakrishna glauben, weil sich der Glaube immer
an den Ausdruck hält, nicht an die Erfahrung selbst. Ramakrishna
erscheint einem Menschen, der mit dem Verstand denkt, wie ein
Kind. Was für ein Unsinn — zu tanzen, zu singen? Was macht er
da? Buddha hat nie getanzt, und Ramakrishna tanzt? Es sieht
kindisch aus.
Für den Verstand ist das Herz immer kindisch. Und dem Her-
zen erscheint der Verstand unnütz, oberflächlich. Krishnamurti
meint das gleiche wie Ramakrishna: Die Erfahrung ist dieselbe,
sei es für Ramkrishna, Chaitanya oder Meera. Aber wenn der Be-
treffende im Kopf zentriert ist, ist seine Erklärung, sein Ausdruck
rational. Wenn Ramakrishna Krishnamurti trifft, sagt er: „Los,
komm, laß uns tanzen. Was verschwendest du deine Zeit? Mit
Tanzen kann man es einfacher sagen, und es geht auch tiefer.”
Und Krishnamurti würde sagen: „Tanzen? Tanzen hypnotisiert
euch, ihr dürft nicht tanzen. Analysiert! Geht mit Vernunft vor!
Durchleuchtet es mit dem Verstand, analysiert es, seid bewußt!”
Es handelt sich um verschiedene Zentren, die jeweils zum Aus-
druck benutzt werden, aber die Erfahrung ist die gleiche. Sie läßt
sich auch malen. Die Zen-Meister haben sie gemalt. Wenn sie er-
leuchtet wurden, malten sie das. Sie sagten kein Wort: sie malten
es einfach nur. Die Rishis — die Weisen der Upanischaden — ha-
ben herrliche Dichtungen geschrieben. Als sie erleuchtet wurden,
dichteten sie. Chaitanya tanzte nur; Ramakrishna sang, Buddha
gebrauchte den Kopf, Mahavir gebrauchte den Kopf, den Ver-
stand, um zu erklären, um zu sagen, was er erfahren hatte. Sie bau-
ten großartige Gedankensysteme, um ihre Erfahrung auszu-
drücken.
Aber die Erfahrung selbst ist weder rational noch emotional. Sie
ist jenseits von beidem. Es hat nur wenige gegeben, ganz, ganz
wenige, die sich durch beide Zentren ausdrücken konnten. Ihr
könnt viele Krishnamurtis finden, ihr könnt viele Ramakrishnas
finden. Es kommt nur selten vor, daß jemand sich durch beide
Zentren ausdrücken kann. So einer stiftet Verwirrung. Dann wißt

26 7
Das Buch der Geheimnisse

ihr nie, woran ihr mit einem solchen Menschen seid, weil ihr euch
zwischen diesen beiden Zentren keine Beziehung vorstellen
könnt: Sie erscheinen gegensätzlich.
Wenn ich etwas sage, dann muß ich es mit Hilfe des Verstan-
des sagen. Also ziehe ich viele Leute an, die rational, die kopf-
orientiert sind. Und dann sehen sie eines Tages, daß ich Singen
und Tanzen erlaube. Dann wird ihnen unwohl: was ist los? Wo ist
denn da die Beziehung?! Aber für mich gibt es da keinen Gegen-
satz. Tanzen ist auch eine Art zu sprechen und manchmal sogar
eine tiefere. Der Verstand ist auch eine Art zu sprechen, und
manchmal sogar eine sehr klare. Beide sind also Arten des Aus-
drucks.
Würdet ihr einen Buddha tanzen sehen, gerietet ihr in Verwir-
rung. Wenn ihr einen Mahavir in seiner Nacktheit dastehen und
Flöte spielen seht, raubt euch das den Schlaf. Was ist mit Mahavir
los? Ist er verrückt geworden? Bei Krishna ist die Flöte okay, aber
bei Mahavir ist sie absolut unglaublich. Eine Flöte in der Hand
von Mahavir? — Undenkbar! Man kann es sich nicht einmal vor-
stellen. Aber der Grund ist nicht, daß es zwischen Mahavir und
Krishna, zwischen Buddha und Chaitanya einen Widerspruch
gäbe: Es ist nichts als ein Unterschied im Ausdruck. Buddha zieht
einen bestimmten geistigen Typ an, den kopforientierten Men-
schen, und Chaitanya und Ramakrishna ziehen genau das Ge-
genteil an, den herzorientierten Menschen.
Aber solche Schwierigkeiten können auftreten: Ein Mensch wie
ich macht Kopfzerbrechen. Ich ziehe nämlich beide an — und da-
bei fühlt sich niemand ganz wohl: denn solange ich rede, fühlt sich
der kopforientierte Mensch wohl, aber sobald ich den anderen
Ausdruck zulasse, wird es dem kopforientierten Menschen un-
gemütlich. Und umgekehrt genauso. Wenn eine emotionale Me-
thode benutzt wird, fühlt sich der herzorientierte Mensch wohl.
Aber wenn ich diskutiere, wenn ich ein Argument bis zu Ende
ausführe, dann tritt er ab, dann ist er nicht mehr hier. Er sagt: „Das
ist nichts für mich.”
Gerade gestern kam eine Dame zu mir und sagte: „Ich war mit
in Mount Abu, und da wurde es schwierig. Am ersten Tag, als ich
dir zuhörte, war es wunderbar. Ich fühlte mich angezogen: Ich

268
Kapitel 10

war ganz aufgeregt. Aber dann sah ich Kirtan, Tanzen und Sin-
gen, und entschloß mich, sofort abzureisen; das war nichts für
mich. Ich ging zum Omnibusbahnhof: aber dann wußte ich nicht
weiter. Ich wollte dich sprechen hören, also kam ich zurück. Ich
wollte mir nicht entgehen lassen, was du sagtest." Es muß ihr sehr
schwer gefallen sein. Sie sagte zu mir: „Es war ein solcher Gegen-
satz!”
Das scheint so, weil diese Zentren widersprüchlich sind, und
weil dieser Widerspruch in euch ist. Euer Kopf verträgt sich nicht
mit eurem Herzen. Sie sind in Konflikt. Und aufgrund eures in-
neren Konflikts, scheinen Ramakrishna und Krishnamurti in Kon-
flikt zu sein. Stellt eine Brücke zwischen eurem Kopf und eurem
Herzen her, dann werdet ihr erkennen, daß es nur Medien sind.
Ramakrishna war vollkommen ungebildet: keinerlei Entwicklung
des Verstandes. Er war reines Herz. Nur ein Zentrum war ent-
wickelt – das Herz. Krishnamurti ist reiner Verstand. Er befand
sich in den Händen rigoroser Rationalisten — von Anni Besant,
Leadbeater und anderen Theosophen. Das waren die größten Sy-
stememacher dieses Jahrhunderts. Wirklich, die Theosophie
gehört zu den größten Systemen, die je geschaffen wurden — ab-
solut durchrationalisiert. Er wurde von Rationalisten erzogen. Er
ist reiner Verstand. Selbst wenn er von Herz und Liebe spricht, ist
seine ganze Ausdrucksweise rational.
Ramakrishna ist anders. Selbst wenn er vom Verstand spricht,
ist er absurd. Totapuri kam zu ihm und begann, ihn Vedanta zu
lehren. Also sagte Totapuri zu ihm: „Laß diesen ganzen Anbe-
tungskram. Laß diese Mutter Kali endgültig fallen. Wenn du die-
sen ganzen Unsinn nicht läßt, werde ich dich nicht lehren, denn
Vedanta hat nichts mit Anbetung zu tun. Es ist Erkenntnis.”
Ramakrishna sagte: „Okay, aber gestatte mir einen Augenblick,
damit ich die Große Mutter fragen kann, ob ich diesen ganzen
Unsinn lassen darf. Gib mir einen Augenblick Zeit, um die Mut-
ter zu fragen.”
Das ist der herzorientierte Mensch! Selbst um die Mutter zu
verlassen, muß er sie um Erlaubnis bitten. Und er sagte: „Sie ist so
voller Liebe, sie wird es mir erlauben, mach dir also keine Ge-
danken.” Totapuri konnte nicht begreifen, was er da sagte.

269
Das Buch der Geheimnisse

Ramakrishna sagte: „Sie ist so liebevoll, sie hat mir noch nie etwas
abgeschlagen. Wenn ich zu ihr gehe und ihr sage: Mutter, ich
muß dich verlassen, denn ich lerne jetzt Vedanta und darf diesen
ganzen Anbetungskram nicht mehr machen, laß mich gehen`,
dann wird sie es mir erlauben. Sie wird mir totale Freiheit lassen.”
Baut eine Brücke zwischen Herz und Kopf, und dann sagen
alle, die je erleuchtet wurden, das gleiche — mögen sich ihre Spra-
chen auch unterscheiden.

2 70
Die Reise nach innen
Sutras]

15. Wenn du alle sieben Öffnungen des Kopfes mit deinen Händen
verschließt wird der Raum zwischen den Augen allumfassend.

16. Gesegnete! Wenn alle Sinne im Herzen aufgenommen sind,


gehe in die Mitte des Lotus

17. Ohne auf den Geist zu achten, bleib in der Mitte — bis ...

2 73
Das Buch der Geheimnisse

Der Mensch gleicht einem Kreis ohne Mitte. Sein Leben ist
oberflächlich: sein Leben spielt sich nur am Rand ab. Ihr lebt an
der Außenseite: Ihr lebt niemals innen. Und bevor ihr keine Mit-
te findet, könnt ihr es auch nicht. Ich habe entdeckt, daß ihr nicht
innen leben könnt. Ja, ohne Mitte habt ihr gar kein „Innen”, son-
dern nur ein „Außen”. Darum reden wir immer nur über das In-
nere, darüber, wie man nach innen geht, wie man sich selbst er-
kennt, wie man ins Innere eindringt, aber diese Worte sind ohne
wirkliche Bedeutung. Ihr wißt den Sinn der Worte, aber ihr könnt
nicht fühlen, was sie bedeuten, weil ihr niemals innen seid. Ihr seid
niemals nach innen gegangen!
Selbst wenn du allein bist, ist in deinem Kopf ein Gedränge.
Wenn außen niemand da ist, bist du darum noch lange nicht in-
nen. Du denkst ständig an andere; du gehst weiterhin nach außen.
Selbst wenn du schläfst, träumst du von den anderen. Du bist nicht
innen. Nur in einem sehr tiefen Schlaf, wenn keine Träume da
sind, bist du innen, aber dann bist du unbewußt. So ist es: Wenn
du bewußt bist, bist du nicht in dir, und wenn du in dir bist, im
Tiefschlaf zum Beispiel, bist du unbewußt. Also ist dein ganzes
Bewußtsein auf das Außen gerichtet. Und immer, wenn wir da-
von reden, nach innen zu gehen, sind zwar unsere Worte ver-
ständlich, aber nicht ihr Sinn, weil die Worte den Sinn nicht ent-
halten können: Ihr Sinn kommt durch Erfahrung.
Wörter sind ohne Sinn. Wenn ich sage „innen”, versteht ihr das
Wort, aber nur das Wort, nicht den Sinn. Ihr wißt nicht, was „in-
nen” ist, denn ihr wart nie bewußt innen. Euer Geist geht ständig
nach außen. Ihr habt kein Gefühl dafür, was„das Innere" bedeutet.
Das meine ich, wenn ich sage: „Ihr seid wie ein Kreis ohne
Mitte” — nur eine Peripherie; die Mitte ist zwar da, aber ihr
berührt sie nur, wenn ihr nicht bewußt seid. Wenn ihr bewußt
seid, geht ihr nach außen, und darum ist euer Leben nie intensiv;
das kann es auch nicht sein. Es ist nur lauwarm. Ihr lebt, als wärt
ihr tot: ihr seid beides zugleich. Ihr seid tot-lebendig, lebt ein tod-
gleiches Leben. Ihr existiert am Minimum. Nicht am maximalen
Gipfel, sondern am Minimum. Ihr könnt sagen: „Ich bin” — das
ist aber auch alles. Wenn ihr sagt, daß ihr lebt, heißt das nur, daß
ihr nicht tot seid.

2 74
Kapite111

Aber das Leben läßt sich nie von der Peripherie her erkennen.
Das Leben kann nur vom Zentrum aus erkannt werden. An der
Peripherie ist nur lauwarmes Leben möglich. Ihr lebt also in
Wirklichkeit ein ganz unechtes Leben, und so wird sogar der Tod
unecht — denn jemand, der nicht wirklich gelebt hat, kann auch
nicht wirklich sterben. Nur ein echtes Leben kann zu einem ech-
ten Tod führen. Dann ist der Tod schön: Alles Echte ist schön. Da-
gegen ist ein Leben, das unecht ist, häßlich. Und euer Leben ist
häßlich — verrottet. Nichts passiert. Ihr wartet immer nur und
hofft, daß irgendwas irgendwann irgendwo passiert. Jetzt im Au-
genblick ist nur Leere da, und so war es schon immer — einfach
nur leer. Ihr wartet auf die Zukunft, hofft, daß etwas passiert, ir-
gendwann — ihr seid immer am Hoffen. So geht jeder Augenblick
verloren. Es ist in der Vergangenheit nichts passiert, es wird auch
in Zukunft nichts passieren. Nur jetzt, in diesem Augenblick kann
etwas passieren. Aber dazu gehört Intensität, durchdringende In-
tensität. Ihr müßt im Zentrum Wurzeln haben, die Peripherie ist
nicht genug. Ihr müßt den Augenblick für euch entdecken.
Wir denken tatsächlich nie darüber nach, was wir sind: und was
i mmer wir zu sein glauben ist nur Hokuspokus. Ich wohnte ein-
mal mit einem Professor auf einem Universitätsgelände zusam-
men. Eines Tages kam er ganz aufgeregt an, und ich fragte ihn:
„Was ist los?” Er sagte: „Ich habe Fieber.” Ich las gerade und riet
ihm: „Leg dich schlafen. Nimm diese Bettdecke und ruhe dich
aus.” Er ging ins Bett, aber nach ein paar Minuten sagte er: „Nein,
ich habe kein Fieber, in Wirklichkeit bin ich wütend. Jemand hat
mich beleidigt, und ich habe eine Stinkwut auf ihn.” Da fragte ich:
„Warum hast du zuerst gesagt, daß du Fieber hättest?” Er sagte:
„Ich konnte nicht zugeben, daß ich wütend war, aber in Wirk-
lichkeit bin ich es. Ich habe kein Fieber.” Er warf die Bettdecke
weg, und ich sagte: „Okay, wenn du wütend bist, dann nimm die-
ses Kopfkissen. Schlage drauf und tobe dich daran aus. Laß dei-
nen Aggressionen freien Lauf. Und wenn dir das Kissen nicht
reicht, dann bin ich auch noch da. Du kannst mich schlagen. Laß
diese ganze Wut raus.”
Er lachte, aber sein Lachen war falsch, nur aufgesetzt. Es husch-
te über sein Gesicht und verschwand sofort wieder. Es ging gar

275
Das Buch der Geheimnisse

nicht in ihn hinein. Es kam nicht von innen. Es war nur ein auf-
gesetztes Lachen, aber das Lachen, auch wenn es falsch war, schuf
eine Lücke. Er sagte: „Nein, ich bin eigentlich nicht wirklich wü-
tend: jemand hat etwas über mich vor anderen gesagt, und das hat
mich sehr verlegen gemacht. Das ist es in Wirklichkeit.”
Nun sagte ich zu ihm: „Du hast deine Aussage über deine Ge-
fühle in einer halben Stunde dreimal geändert. Erst sagst du, du
hast Fieber, dann bist du wütend, und jetzt bist du nicht wütend,
sondern verlegen. Was stimmt?” Er sagte: „In Wirklichkeit bin ich
verlegen.” Ich sagte: „Was bist du wirklich? Als du sagtest, daß du
Fieber hättest, warst du auch sicher, daß es stimmt. Als du sagtest,
daß du wütend bist, warst du dir auch sicher. Und jetzt bist du
auch wieder sicher. Bist du ein Mensch oder viele? Wie lange wird
diese Gewißheit anhalten?”
Da sagte der Mann: „Wirklich, ich weiß nicht, was ich eigentlich
fühle. Ich weiß nicht, was es ist. Ich bin einfach verwirrt. Ob du es
nun Wut, Verlegenheit oder sonst etwas nennst, ich weiß es nicht.
Dies ist nicht der Augenblick, darüber zu diskutieren.” Er sagte:
„Laß mich in Ruhe, du hast meine Situation philosophisch ge-
macht. Du diskutierst darüber, was wirklich ist, was authentisch
ist, und ich bin ganz verstört!”
Diese Geschichte handelt nicht von irgend jemandem, von X,
Y oder Z, sondern von dir. Du bist dir nie sicher, weil Gewißheit
nur kommt, wenn du irn Zentrum bist. Du bist dir nicht einmal
deiner selbst gewiß. Es ist unmöglich, Gewißheit über andere zu
haben, wenn du nie Gewißheit über dich selbst hast. Da ist nichts
als Ungewißheit, Nebelhaftigkeit. Nichts ist gewiß.
Erst vor ein paar Tagen war jemand bei mir und fragte mich:
„Ich liebe eine Frau und will sie heiraten.” Ich sah ihm ein paar
Minuten tief in die Augen, ohne etwas zu sagen. Er wurde unru-
hig und sagte: „Warum siehst du mich so an? Ich werde ganz ver-
legen.” Ich sah ihn unverwandt an. Er sagte: „Glaubst du, daß mei-
ne Liebe verlogen ist?” Ich sagte nichts, sah ihn nur weiterhin an.
Er sagte: „Warum glaubst du, daß diese Heirat nicht gut sein
wird?” Er sagte das von sich aus. „Ich hab ' s mir eigentlich noch gar
nicht richtig überlegt, darum bin ich ja zu dir gekommen. In
Wirklichkeit weiß ich nämlich nicht, ob ich sie liebe oder nicht.”

276
Kapitel 11

Ich hatte kein einziges Wort gesagt. Ich sah ihm einfach nur in
die Augen. Aber er wurde unruhig, und Dinge, die in ihm waren,
kamen hoch, sprudelten hoch.
Ihr seid nicht sicher. Ihr könnt nicht sicher sein, über gar nichts.
Weder über eure Liebe, noch über euren Haß, noch über eure
Freundschaften. Es gibt nichts, worüber ihr Gewißheit habt, denn
ihr habt kein Zentrum. Ohne Zentrum gibt es keine Gewißheit.
Alle eure Gefühle von Gewißheit sind falsch und momentan. In
einem Moment glaubt ihr, euch sicher zu sein, aber irn nächsten
ist die Gewißheit schon weg, weil ihr jeden Augenblick ein ande-
res Zentrum habt. Ihr habt kein permanentes Zentrum, kein kri-
stallisiertes Zentrum. Jeder Augenblick ist ein Atom für sich, und
so hat jeder Augenblick sein eigenes Selbst. Georg Gurdjieff sag-
te immer, daß der Mensch eine Menschenmenge ist. Deine Per-
sönlichkeit ist nur ein Trugbild, denn du bist keine Person. Du bist
viele Personen. Wenn also eine Person aus dir spricht, ist sie für
einen Augenblick dein Zentrum. Im nächsten Augenblick ist ein
anderes Zentrum da. In Jedem Augenblick, in jeder noch so klei-
nen Situation bist du dir über etwas sicher, und bemerkst nie, daß
du ein Fluß bist, mit vielen Wellen, ohne irgendein Zentrum. Am
Ende hast du dann das Gefühl, dein Leben verschwendet zu ha-
ben. Das kann nicht ausbleiben. Es ist nichts als Vergeudung, ein
Umherirren — sinnlos, bedeutungslos.
Bei Tantra, Yoga, Religion geht es vor allem darum, wie man
das Zentrum entdeckt — wie man erst einmal ein Individuum wird.
Es geht darum, wie man das Zentrum finden kann, das in allen Si-
tuationen gleich bleibt. Dann bleibt das Zentrum im Inneren er-
halten, während das Leben außen weitergeht, während der Strom
des Lebens weiter und weiterfließt, während Wellen kommen
und gehen. Dann bleibst du einheitlich — verwurzelt, zentriert.
Diese Sutras sind Techniken, die helfen, das Zentrum zu fin-
den. Das Zentrum ist bereits da, denn einen Kreis ohne Mittel-
punkt gibt es nicht. Der Kreis kann nur da sein, wenn ein Zen-
trum da ist. Also ist das Zentrum nur vergessen. Es ist da, aber wir
sind uns dessen nicht bewußt. Es ist da, aber wir wissen nicht, wie
wir es ins Auge fassen können. Wir wissen nicht, wie wir unser
Bewußtsein darauf lenken können.

277
Das Buch der Geheimnisse

Die dritte Technik, um ins Zentrum zu gelangen:

Wenn du alle sieben Öffnungen des Kopfes mit deinen Händen


verschließt wird der Raum zwischen den Augen allumfassend.

Das ist eine der ältesten Techniken, eine, die am meisten ver-
wendet wird, und dazu eine der einfachsten: Verschließe alle Öff-
nungen des Kopfes – Augen, Ohren, Nase, Mund –, alle Öffnun-
gen des Kopfes. Wenn alle Öffnungen des Kopfes verschlossen
sind, wird das Bewußtsein, das ständig nach außen fließt, plötzlich
gestoppt: es kann nicht mehr nach außen gehen. Ihr mögt es noch
nie bemerkt haben – aber wenn ihr den Atem auch nur für einen
Moment anhaltet, steht der Verstand still, denn er kann sich nur
mit dem Atmen bewegen. Das ist die Konditionierung des geisti-
gen Prozesses. Ihr müßt verstehen, was Konditionierung heißt,
dann wird dieses Sutra leicht verständlich.
Pavlow, einer der berühmtesten russischen Psychologen, hat aus
diesem Ausdruck „Konditionierung” oder „bedingter Reflex” ein
Alltagswort gemacht, das die ganze Welt kennt. Jeder, der auch
nur ein bißchen von Psychologie weiß, kennt dieses Wort. Zwei
Gedankengänge – beliebige Gedankengänge – können so assozi-
iert werden, daß mit dem einen auch der andere automatisch aus-
gelöst wird.
Pavlow experimentierte mit einem Hund. Er fand heraus, daß
sich im Maul des Hundes Speichel bildet, wenn man ihm Futter
vorsetzt. Die Zunge des Hundes hängt heraus, und er wartet auf
sein Fressen. Das ist natürlich. Wenn er die Nahrung sieht, oder
sie sich auch nur vorstellt, fließt der Speichel. Aber Pavlow ver-
band diesen Vorgang mit noch einem andern. Wann immer das
Futter da war und der Speichel floß, machte er noch etwas ande-
res. Zum Beispiel schlug er eine Glocke an. Fünfzehn Tage lang
läutete es jedesmal, wenn die Nahrung kam. Am sechzehnten Tag
wurde dem Hund kein Futter vorgesetzt, sondern nur die Glocke
angeschlagen, und der Speichel floß, die Zunge kam heraus, als
ob es Futter gäbe.
Es war aber keins da – nur die Glocke läutete. Es gibt keine
natürliche Verbindung zwischen einer läutenden Glocke und

2 78
Kapite111

Spucke, sondern nur zwischen Futter und Spucke. Aber inzwi-


schen war das regelmäßige Läuten der Glocke mit dem Futter as-
soziiert worden, und das bloße Läuten löste den Vorgang der Spei-
chelbildung aus.
Nach Pavlow - und er hat recht - ist unser ganzes Leben ein
konditionierter Reflex. Unser ganzes Denken und Fühlen ist kon-
ditioniert. Wenn du also irgend etwas in dem konditionierten Pro-
gramm unterbrichst, wird alles damit Assoziierte auch unterbro-
chen.
Zum Beispiel: Ihr habt nie gedacht, ohne zu atmen. Denken
und Atmen gehen immer zusammen. Ihr seid euch nicht bewußt,
daß ihr atmet, aber das Atmen ist ständig da, Tag und Nacht. Jeder
Gedanke, jeder Denkprozeß ist mit Atmen assoziiert. Wenn du
plötzlich deinen Atem anhältst, hört auch jeder Gedanke auf. Und
wenn alle sieben Löcher, die sieben Öffnungen des Kopfes, ver-
schlossen sind, kann dein Bewußtsein plötzlich nicht mehr nach
außen gehen. Es bleibt innen, und dieses „Drinnenbleiben” er-
zeugt zwischen deinen Augen einen Raum. Dieser Raum wird
„drittes Auge” genannt.
Wenn alle Öffnungen des Kopfes geschlossen sind, kannst du
nicht nach außen gehen, weil du immer durch diese Öffnungen
nach außen gegangen bist. Du bleibst innen, und mit diesem Ver-
harren wird dein Bewußtsein auf die Stelle zwischen beiden Au-
gen gerichtet, zwischen deinen beiden gewöhnlichen Augen.
Dein Bewußtsein verharrt dazwischen. Diese Stelle wird drittes
Auge genannt.
Dieser Raum wird allumfassend. Das Sutra sagt, daß in diesem
Raum alles eingeschlossen ist. Die ganze Existenz ist eingeschlos-
sen. Wenn du diesen Raum fühlen kannst, hast du alles gefühlt.
Sobald du diesen Raum zwischen den beiden Augen fühlen
kannst, hast du die Existenz erkannt - in ihrer Totalität -, denn
dieser innere Raum ist allumfassend. Nichts wird ausgeklammert.
Die Upanischaden sagen: Erkennst du dies eine, dann erkennst
du alles. Unsere beiden Augen können nur das Begrenzte sehen,
das dritte Auge sieht das Unbegrenzte. Unsere beiden Augen kön-
nen nur das Stoffliche sehen, das dritte Auge sieht das Unstoffliche
- das Spirituelle. Mit Hilfe dieser beiden Augen kannst du nie die

279
Das Buch der Geheimnisse

Energie erkennen, kannst du sie nie sehen: Du kannst nur Mate-


rie erkennen. Aber mit dem dritten Auge wird Energie als solche
sichtbar.
Dies Schließen der Öffnungen ist eine Methode des Zentrie-
rens, denn sobald der Bewußtseinsstrom nicht nach außen fließen
kann, bleibt er an seiner Quelle. Diese Quelle des Bewußtseins ist
das dritte Auge. Wenn du im dritten Auge zentriert bist, gesche-
hen viele Dinge. Als erstes entdeckst du, daß die ganze Welt in
dir ist.
Swami Ram sagte immer: „Die Sonne bewegt sich in mir, die
Sterne bewegen sich in mir, der Mond geht in mir auf. Das ganze
Universum ist in mir.” Als er das zum erstenmal sagte, dachten
seine Jünger, er sei verrückt geworden. Wie können Sterne in
Ramteerth sein?
Er sprach vom dritten Auge, vom inneren Raum. Wenn sich
zum erstenmal jener innere Raum erhellt, entsteht dies Gefühl.
Wenn du siehst, daß sich alles in dir befindet, wirst du zum Uni-
versum.
Das dritte Auge ist nicht Teil deines physischen Körpers. Es
gehört nicht deinem stofflichen Körper an! Der Raum zwischen
deinen beiden Augen ist kein Raum, der durch deinen Körper be-
grenzt ist. Es ist der unendliche Raum, der in dich eingedrungen
ist. Sobald du diesen Raum erkannt hast, wirst du nie wieder der
gleiche Mensch sein. Im Augenblick, wo du diesen inneren Raum
kennst, kennst du das Todlose. Dann gibt es keinen Tod mehr.
Wenn du diesen Raum zum erstenmal erlebst, wird dein Le-
ben plötzlich wahr, intensiv, zum erstenmal wirklich lebendig.
Jetzt ist keine Sicherheit mehr nötig. Jetzt ist keine Angst mehr
möglich. Jetzt kannst du nicht getötet werden. Jetzt kann dir
nichts genommen werden. Jetzt gehört dir das ganze Universum:
Du bist das Universum. Alle, die diesen inneren Raum erkannt
haben, haben in Ekstase ausgerufen: „Aham Brahmasmi!” – „Ich
bin das All, ich bin die Schöpfung!”
Der Sufi-Mystiker Mansoor wurde nur deshalb umgebracht,
weil er das dritte Auge erfahren hatte. Als er sich zum erstenmal
dieses inneren Raumes bewußt wurde, rief er aus: „Ich bin Gott.”
In Indien wäre er angebetet worden, weil Indien viele, viele Men-

280
Kapite111

schen gekannt hat, die zu diesem inneren Raum des dritten Auges
vorgedrungen sind. Aber in einem islamischen Land war es
schwierig. Und Mansoors Aussage -„Ich bin Gott", „Anal Haq”,
„Aham Brahmasmi” — wurde als Lästerung empfunden, weil der
Islam es nicht für möglich hält, daß Mensch und Gott eins wer-
den können. Der Mensch ist Mensch, das Geschaffene, und Gott
ist der Schöpfer. Wie kann also das Geschöpf zum Schöpfer wer-
den? Also wurde diese Behauptung von Mansoor, „Ich bin Gott”,
nicht verstanden. Darum hat man ihn umgebracht. Aber als er
umgebracht, getötet wurde, lachte er. Da fragte jemand: „Warum
lachst du, Mansoor?”
Mansoor soll geantwortet haben: „Ich lache, weil ihr mich nicht
töten könnt. Ihr laßt euch von diesem Körper täuschen. Aber ich
bin nicht dieser Körper. Ich bin der Schöpfer dieses Universums,
und es war mein Finger, der dies ganze Universum in Gang ge-
setzt hat.”
In Indien wäre er ohne weiteres verstanden worden. Diese
Sprache ist hier seit Jahrhunderten und aber Jahrhunderten be-
kannt. Wir wissen längst, daß ein Augenblick kommt, wo dieser
innere Raum erkannt wird. Dann wird man einfach verrückt. Und
diese Erkenntnis ist so gewiß, daß selbst, wenn ihr einen Mansoor
tötet, er seine Behauptung niemals ändern wird — denn wirklich,
ihr könnt ihn gar nicht töten. Er ist zum Ganzen geworden. Es
gibt keine Möglichkeit, ihn zu zerstören.
Nach Mansoor merkten sich die Sufis gut, daß es besser ist, den
Mund zu halten. Und so ist in der Sufi Tradition nach Mansoor
diese Lehre beständig weitergereicht worden: „Wann immer du
auf das dritte Auge stößt, sei still und sage nichts. Wann immer
dies geschieht, bleib still. Sage nichts, oder sage nur Dinge, die die
Leute glauben können.”
Und so hat der Islam heute zwei Traditionen: eine ist nur
äußerlich, exoterisch, die andere — der wirkliche Islam — ist der
Sufismus, die esoterische Tradition. Aber die Sufis bleiben seit
Mansoor still, weil sie gelernt haben, daß es dich unnötig in
Schwierigkeiten bringt, wenn du die Sprache sprichst, die dich
überkommt, wenn sich das dritte Auge öffnet — und weil nie-
mandem damit geholfen ist. Dies Sutra sagt: „Wenn du alle sieben

281
Das Buch der Geheimnisse

Öffnungen des Kopfes mit deinen Händen verschließt, wird der


Raum zwischen den Augen allumfassend." Dein innerer Raum
wird zum All.

Die vierte Technik:

Gesegnete! Wenn alle Sinne im Herzen aufgenommen sind, gehe in


die Mitte des Lotus

Jede Technik eignet sich für einen bestimmten Menschentyp.


Die Technik, die wir besprochen haben, die dritte, das Ver-
schließen aller Kopföffnungen, kann von vielen benutzt werden.
Sie ist sehr einfach, nicht gefährlich. Du kannst das sehr leicht tun,
und du brauchst die Öffnungen auch nicht mit deinen Händen
zu verschließen. Verschließen mußt du sie, aber du kannst Ohr-
Stöpsel und eine Augenbinde benutzen. Worauf es ankommt ist,
daß du die Öffnungen deines Kopfes völlig für ein paar Augen-
blicke verschließt: für ein paar Augenblicke oder Sekunden. Ver-
suche es. Übe es nicht. Nur wenn es plötzlich geschieht, ist es hilf-
reich. Es hilft nur, wenn es unvermittelt geschieht. Wenn du auf
dem Bett liegst, dann schließe plötzlich alle Öffnungen ein paar
Sekunden lang, und schau nach innen, was passiert.
Wenn du dich ersticken fühlst, mach weiter, es sei denn, es wird
wirklich unerträglich, denn das Atmen wird dabei abgeschnitten.
Mach weiter, bis es absolut unerträglich wird. Und wenn es abso-
lut unerträglich geworden ist, kannst du die Öffnungen gar nicht
mehr schließen, also brauchst du dir gar keine Gedanken mehr
zu machen. Die innere Kraft wird sie alle aufsprengen. Was dich
betrifft — du machst weiter. Wenn das Erstickungsgefühl kommt,
ist das der richtige Moment, weil die Erstickung die alten Asso-
ziationen durchbricht. Wenn du nun noch ein paar Momente
weitermachen kannst, wäre es gut. Es wird schwer sein und dir
das Letzte abfordern, und du wirst glauben, daß du jetzt stirbst,
aber habe keine Angst, denn du kannst nicht sterben. Du kannst
nicht nur davon sterben, daß du deine Kopföffnungen verschließt.
Aber wenn du das Gefühl hast, daß du jetzt gleich sterben wirst,
dann ist das der richtige Moment. Wenn du in diesem Augenblick

282
Kapitel 11

durchhalten kannst, wird plötzlich alles hell. Du wirst den inneren


Raum fühlen, wie er sich immer weiter ausbreitet und ins Ganze
einfließt. Dann öffne deine Öffnungen; und so machst du es dann
jedesmal.
Wann immer du Zeit hast, versuche es. Aber mache keine
Übung daraus. Du kannst es üben, den Atem ein paar Momente
lang anzuhalten. Das kannst du üben, aber eine solche Übung hilft
nichts. Ein plötzlicher Ruck ist nötig. Und durch diesen Ruck
bleibt der Fluß in seinen alten Bewußtseinskanälen stehen, und
etwas Neues wird möglich.
Viele praktizieren es noch heute, viele Menschen in ganz
Indien. Aber sie praktizieren es; dabei ist es als eine plötzliche
Methode gedacht. Wenn du sie praktizierst, dann wird nichts
passieren, absolut nichts. Wenn ich dich plötzlich aus dem
Zimmer werfe, bleiben deine Gedanken stehen. Aber wenn wir
es täglich üben, wird nichts passieren. Es wird eine mechanische
Gewohnheit. Mache es also nicht zur Übung. Versuche es, wann
immer du kannst. Dann wirst du dir nach und nach eines inneren
Raumes bewußt. Dieser innere Raum kommt nur in dein Be-
wußtsein, wenn du am Rand des Todes bist. Wenn du das Gefühl
hast: „Jetzt kann ich nicht einen Augenblick lang weitermachen,
jetzt kommt der Tod.” Das ist der richtige Augenblick. Halte
durch! Hab keine Angst. Der Tod kommt nicht so leicht, jeden-
falls ist bis heute noch keiner an dieser Methode gestorben.
Es gibt eingebaute Sicherungen; darum kannst du nicht so
schnell sterben. Bevor der Tod eintritt, wird man unbewußt. So-
lange du bewußt bist und das Gefühl hast, daß du sterben wirst,
brauchst du keine Angst zu haben. Du bist immer noch bewußt,
also kannst du nicht sterben. Und wenn du bewußtlos wirst, fängt
dein Atem von allein an. Das kannst du gar nicht verhindern. Ihr
könnt also Ohrstöpsel benutzen und dergleichen, die Hände sind
nicht dazu nötig. Die Hände werden nur deshalb benutzt, weil sie
sich lösen, wenn du unbewußt wirst, so daß der Lebensprozeß
wieder von allein nach außen strömen kann.
Ihr könnt Stöpsel für die Ohren und eine Binde für die Augen
benutzen, aber nicht für Nase und Mund. Denn dann kann es le-
bensgefährlich sein. Wenigstens die Nase muß offen bleiben, halte

283
Das Buch der Geheimnisse

sie mit den Händen zu. Dann, wenn du wirklich unbewußt wer-
den solltest, werden sich die Hände lockern, und der Atem wird
hereinkommen. Es gibt also eine eingebaute Sicherung. Diese
Methode kann von vielen benutzt werden.
Die vierte Methode ist für diejenigen, die ein sehr entwickeltes
Herz haben, für liebende, fühlende, emotionale Menschen: „Ge-
segnete! Wenn alle Sinne im Herzen aufgenommen sind, gehe in
die Mitte des Lotus.” Diese Methode kann nur von herzorien-
tierten Menschen benutzt werden. Darum müßt ihr zunächst ver-
stehen, was das ist: ein herzorientierter Mensch. Danach wird die
Methode verständlich.
Bei einem, der herzorientiert ist, führt alles zum Herzen hin —
alles! Wenn du ihn hebst, wird sein Herz deine Liebe fühlen, nicht
sein Kopf. Ein kopforientierter Mensch fühlt deine Liebe zerebral,
i m Kopf. Er denkt darüber nach: er macht Pläne. Selbst seine Lie-
be ist eine bewußte Anstrengung des Verstandes. Ein fühlender
Mensch lebt ohne Vernünfteln. Natürlich hat das Herz seine ei-
gene Vernunft, aber es lebt ohne Vernünfteln. Wenn jemand dich
fragt: „Warum liebst du?” und du kannst ihm die Frage beant-
worten, dann bist du ein kopforientierter Mensch. Und wenn du
sagst: „Ich weiß nicht, ich liebe einfach”, bist du ein herzorien-
tierter Mensch. Selbst wenn du sagst, daß du ihn liebst, weil er
schön ist, ist es ein Grund. Für den herzorientierten Menschen ist
jemand schön, weil ich ihn hebe. Der kopforientierte Mensch liebt
jemanden, weil er schön ist. Erst kommt der Grund, dann die Lie-
be. Für den Herzorientierten kommt die Liebe zuerst, alles ande-
re danach. Der fühlende Typ ist im Herzen zentriert, also berührt
alles, was geschieht, sein Herz.
Beobachte dich nur selbst. In deinem Leben geschehen ständig
viele Dinge. Wo berühren sie dich? Du gehst auf der Straße, und
ein Bettler geht vorbei. Wo berührt dich der Bettler? Fängst du
an, über ökonomische Bedingungen nachzudenken? Denkst du
darüber nach, daß das Betteln gesetzlich verboten werden sollte
oder daß man eine soziale Gesellschaft schaffen sollte, in der nie-
mand betteln muß? Dann bist du ein kopforientierter Mensch.
Dieser Bettler ist für dich nur ein Vorwand, nachzudenken. Dein
Herz bleibt unberührt, nur dein Kopf wird berührt. Du wirst für

284
Kapitel 11

den Bettler hier und jetzt nichts tun — nein! Der Kopforientierte
wird etwas für den Kommunismus tun, er wird etwas für die Zu-
kunft tun, für irgendein Utopia. Er mag ihr sogar sein ganzes Le-
ben widmen, aber im Moment kann er nichts tun.
Der Kopf tut immer erst in der Zukunft etwas, das Herz ist im-
mer hier und ietzt. Ein herzorientierter Mensch wird jetzt irgend-
etwas für diesen Bettler tun. Dieser Bettler ist ein Individuum,
kein Computerdatum. Aber für einen kopforientierten Menschen
ist dieser Bettler nur eine mathematische Ziffer. Sein Problem ist,
wie das Betteln abgeschafft werden soll, nicht, wie diesem Bettler
zu helfen ist: das ist unerheblich.
Beobachte dich also. Beobachte dich in vielen Situationen, wie
du handelst. Hast du mit dem Herzen oder hast du mit dem Kopf
zu tun? Wenn du das Gefühl hast, daß du ein herzorientierter
Mensch bist, dann wird dir diese Methode sehr helfen. Aber du
mußt wissen, daß jeder sich gerne für einen Herzmenschen hält.
Jeder möchte gerne, daß er ein sehr liebender Mensch, ein sehr
gefühlvoller Mensch ist, denn die Liebe ist ein solches Grundbe-
dürfnis, daß sich niemand mit der Erkenntnis wohlfühlen kann,
daß er keine Liebe hat, kein liebendes Herz. Jeder denkt und
glaubt es immerzu, aber Glauben bringt nichts. Beobachte dich
sehr unparteiisch, als würdest du einen anderen beobachten, und
entscheide dann; denn du brauchst dich nicht selbst zu täuschen,
und es wird dir auch nicht helfen. Selbst wenn du dich selbst
täuschst, diese Technik kannst du nicht täuschen. Wenn du dann
nämlich diese Technik machst, hast du das Gefühl, daß nichts pas-
siert.
Es kommen Leute zu mir, und ich frage sie, zu welchem Typ
sie gehören. Sie wissen es nicht so richtig. Sie haben nie darüber
nachgedacht. Sie haben nur vage Vorstellungen von sich, und die-
se Vorstellungen sind weiter nichts als reine Einbildung. Sie haben
gewisse Ideale und ein Image von sich selbst, und sie glauben —
oder vielmehr wünschen, daß sie ihrem Image entsprechen. Sie
tun es nicht, und oft kommt es vor, daß sie sich genau als das Ge-
genteil entpuppen.
Dafür gibt es einen Grund. Ein Mensch, der darauf besteht, daß
er herzorientiert ist, mag es deshalb tun, weil er fühlt, daß er nicht

285
Das Buch der Geheimnisse

im Herzen ist und Angst hat. Er kann sich nicht bewußt machen,
daß er kein Herz hat. Seht euch die Welt an! Wenn jeder recht
hätte, was sein Herz betrifft, dann könnte diese Welt nicht so
herzlos sein. Diese Welt ist so wie wir sind, also muß irgendwo
irgendein Fehler stecken. Es ist kein Herz da. Und es ist auch nie
dazu erzogen worden, dazusein. Der Kopf wird ausgebildet, also
ist er da. Es gibt Schulen, Colleges, Universitäten, die den Kopf
trainieren. Aber es gibt nirgends einen Ort, wo das Herz erzogen
wird. Und die Erziehung des Kopfes macht sich bezahlt, aber die
Erziehung des Herzens ist gefährlich, denn wenn dein Herz ent-
faltet wird, wirst du absolut untauglich für diese Welt — weil die
ganze Welt vom Verstand kontrolliert wird.
Wenn dein Herz erzogen wird, fällst du einfach aus dem
ganzen Muster als absurd heraus. Wenn die ganze Welt sich nach
rechts bewegt, wirst du dich nach links bewegen. Überall wirst du
auf Schwierigkeiten stoßen. Tatsächlich wird der Mensch um so
herzloser, je mehr er sich zivilisiert. Wir haben wirklich ganz ver-
gessen, daß es existiert oder daß es überhaupt ausgebildet werden
muß. Aus diesem Grunde funktionieren Methoden wie diese nie,
obwohl sie ganz leicht funktionieren könnten.
Die meisten Religionen gründen sich auf herzorientierte
Techniken — Christentum, Islam, Hinduismus und viele andere
auch. Sie gründen sich auf die herzorientierten Menschen. Je äl-
ter eine Religion, desto mehr wurde sie auf den herzorientier-
ten Menschen errichtet. Wirklich, als die Veden geschrieben
wurden und der Hinduismus sich entwickelte, gab es herz-
orientierte Menschen. Und damals war es schwierig, einen kopf-
orientierten Menschen zu finden. Aber heute ist das Umge-
kehrte das Problem. Ihr könnt nicht beten, weil Beten eine herz-
orientierte Technik ist. Darum ist sogar im Westen, wo das
Christentum, eine Religion des Betens, vorherrscht, das Beten
schwierig geworden. Vor allem die katholische Kirche ist gebets-
orientiert.
Für das Christentum gibt es so etwas wie Meditation überhaupt
nicht. Aber heute werden die Menschen sogar im Westen völlig
verrückt nach Meditation. Niemand geht in die Kirche, und selbst
wenn es jemand tut, dann nur formal, nur sonntags. Denn das

286
Kapitel11

herzorientierte Gebet hat überhaupt nichts mehr mit dem west-


lichen Menschen zu tun.
Meditation ist mehr kopforientiert. Beten ist mehr herzorien-
tiert. Wir können auch sagen: Beten ist eine Meditationstechnik
für herzorientierte Menschen. Diese Technik ist ebenfalls für
herzorientierte Menschen: „Gesegnete! Wenn alle Sinne im Her-
zen aufgenommen sind, gehe in die Mitte des Lotus.” Was muß
also bei dieser Meditation geschehen? „Wenn alle Sinne im Her-
zen absorbiert sind ...” Versuchs! Es gibt viele Möglichkeiten. Du
berührst jemanden: Wenn du ein herzorientierter Mensch bist,
geht die Berührung augenblicklich in sein Herz, und er kann ihre
Qualität fühlen. Wenn du die Hand eines Menschen nimmst, der
völlig kopforientiert ist, wird seine Hand kalt, nicht nur physisch
kalt, sondern auch in ihrer ganzen Ausdrucksweise kalt sein. Eine
Abgestorbenheit, etwas Totes wird in der Hand sein. Wenn der
Betreffende herzorientiert ist, wird eine gewisse Wärme da sein.
Dann wird seine Hand wirklich mit deiner verschmelzen. Du
wirst etwas Gewisses aus seiner Hand zu dir hinströmen fühlen,
und ihr trefft euch, es kommt zu einem Austausch von Wärme.
Diese Wärme kommt aus dem Herzen. Sie kann nie vom Kopf
kommen, weil der Kopf immer kühl, kalt, berechnend ist. Das
Herz ist warm, es kalkuliert nicht. Der Kopf denkt ständig darü-
ber nach, wie er mehr bekommen kann. Das Herz fühlt ständig,
wie es mehr geben kann. Diese Wärme ist ein Geben, ein Geben
von Energie, ein Geben von inneren Schwingungswellen, ein Ge-
ben von Lebendigkeit. Und darum spürst du eine andere Qualität.
Wenn dieser Mensch dich wirklich umarmt, wirst du ein tiefes
Verschmelzen mit ihm spüren.
Berühre! Schließe die Augen; berühre, was du willst. Berühre
deine Geliebte oder deinen Geliebten, dein Kind oder deine Mut-
ter oder deinen Freund oder einen Baum oder eine Blume, oder
berühre einfach die Erde. Schließe die Augen, und fühle eine
Kommunikation von deinem Herzen zur Erde oder zu deinem
Geliebten. Fühle einfach, daß deine Hand nichts weiter ist als dein
ausgestrecktes Herz, das die Erde berühren möchte. Laß das Ge-
fühl der Berührung mit dem Herzen verbunden sein.
Du hörst Musik: Höre sie nicht vom Kopf her. Vergiß deinen

28 7
Das Buch der Geheimnisse

Kopf, und fühle dich kopflos. Es ist kein Kopf da. Es ist gut, wenn
du in deinem Schlafzimmer ein Bild von dir hast, auf dem du
ohne Kopf zu sehen bist. Konzentriere dich darauf: du bist ohne
Kopf; laß den Kopf nicht herein. Wenn du Musik hörst, höre sie
vom Herzen her. Fühle die Musik in dein Herz kommen; laß dein
Herz mit ihr schwingen. Laß deine Sinne mit dem Herzen ver-
bunden sein, nicht mit dem Kopf. Versuche dies mit allen Sinnen,
und fühle mehr und mehr, daß alle Sinne ins Herz gehen und sich
dort auflösen.
„Gesegnete! Wenn alle Sinne im Herzen aufgenommen sind,
gehe in die Mitte des Lotus” — das Herz ist der Lotus. Jeder Sinn
öffnet nur den Lotus mehr, ist ein Blütenblatt des Lotus. Versu-
che zunächst, deine Sinne auf das Herz zu ziehen. Stell dir zwei-
tens jedesmal vor, daß jeder Sinn bis rief ins Herz eindringt und
von ihm absorbiert wird. Wenn diese beiden Dinge zur Ge-
wohnheit geworden sind, dann werden dir deine Sinne anfangen
zu helfen, dann werden sie dich von sich aus dem Herzen zu-
führen ... und dein Herz wird zum Lotus.
Dieser Lotus des Herzens wird dich zentrieren. Kennst du erst
einmal das Zentrum des Herzens, wird es sehr leicht, sich ins Na-
belzentrum fallenzulassen. Sehr leicht! Ja, dies Sutra erwähnt es
nicht einmal, so einfach ist es. Wenn du wirklich total im Herzen
aufgehst, und der Verstand nicht mehr arbeitet, dann fällst du:
vom Herzen ins Nabelzentrum. Nur aus dem Kopf ist es schwie-
rig, zum Nabel hinunterzusinken. Oder, wenn du zwischen bei-
den bist, zwischen dem Herzen und dem Kopf, ist es auch schwie-
rig, zum Nabel zu kommen. Bist du erst einmal im Nabel absor-
biert, dann bist du jenseits vom Herzen. Du bist nun zum
Nabelzentrum gefallen, welches die Basis von allem ist, das Ur-
sprüngliche.
Darum hilft Beten. Darum konnte Jesus sagen: „Liebe ist Gott.”
Es stimmt nicht genau, aber Liebe ist die Tür. Wenn du tief liebst,
gleich wen — es kommt nicht darauf an, wen, es kommt auf die
Liebe an, nicht auf die Person —, wenn du jemanden tief liebst, so
sehr liebst, daß es keine Kopfbeziehung mehr ist, wenn nur noch
das Herz funktioniert, dann wird diese Liebe zur Andacht, und
deine Geliebte oder dein Geliebter werden göttlich.

28 8
Kapitel 11

Wirklich, das Auge des Herzens kann es nicht anders sehen,


und darum passiert das schon bei der gewöhnlichen Liebe. Wenn
du dich in jemanden verliebst, wird dieser Jemand göttlich für
dich. Es mag nicht sehr lange dauern, und es mag sich nicht als
eine sehr tiefe Geschichte erweisen, aber für den Augenblick wird
der geliebte Mensch zum Gott. Der Kopf wird früher oder später
alles wieder kaputtmachen, weil der Kopf sich einmischen wird
und versuchen wird, alles zu manipulieren. Sogar die Liebe muß
manipuliert werden. Und sobald der Kopf die Führung über-
nimmt, wird alles zerstört.
Wenn du lieben kannst, ohne daß sich der Kopf mit seinem
Management einschaltet, dann muß deine Liebe unweigerlich
zum Gebet werden, und der geliebte Mensch wird zur Tür. Dei-
ne Liebe wird sich im Herzen zentrieren. Und sobald du im Her-
zen zentriert bist, fällst du automatisch tief hinunter zum Nabel-
zentrum.

Die fünfte Technik:

Ohne auf den Geist zu achten, bleib in der Mitte – bis ...

„Ohne auf den Geist zu achten, bleib in der Mitte — bis ... ": So
kurz ist dies Sutra. Genau wie jede wissenschaftliche Formel ist
sie kurz, aber selbst diese wenigen Worte können dein Leben total
verändern. „Ohne auf den Geist zu achten, bleib in der Mitte —
bis ...” Bleib in der Mitte ...
Buddha entwickelte seine ganze Methodik der Meditation aus
diesem Sutra. Sein Weg ist als Ma_jhim nikaya bekannt — als der
Mittelweg. Buddha sagt: „Bleib immer in der Mitte — in allem.”
Eines Tages ließ sich ein gewisser Prinz Schraun einweihen:
Buddha gab ihm Sannyas. Dieser Prinz war ein einmaliger Mann,
und als er Sannyas nahm, als er initiiert wurde, staunte sein ganzes
Königreich. Sein Volk konnte nicht glauben, daß Prinz Schraun
ein Sannyasin werden konnte. Niemand hatte es je für möglich
gehalten, denn er war ein Mann von Welt — der sich alles ge-
stattete, jede Ausschweifung, bis ins Extrem. Wein und Frauen
waren sein ganzer Lebenszweck.

28 9
Das Buch der Geheimnisse

Dann kam plötzlich Buddha in seine Stadt, und der Fürst such-
te ihn auf, bat um einen Darshan. Er fiel Buddha zu Füßen und
sagte: „Weihe mich ein, ich werde diese Welt verlassen.” Seine Be-
gleiter hatten keine Ahnung. Es kam aus heiterem Himmel. Alle
fragten sie Buddha: „Was ist los? Es ist ein Wunder. Schraun ist
doch gar nicht der Typ, und er lebte immer sehr luxuriös. Bis jetzt
konnte gar kein Gedanke daran sein, daß er Sannyas nehmen
könnte. Was ist also passiert? Du hast etwas mit ihm gemacht.”
Buddha sagte: „Ich habe nichts getan. Der Geist kann leicht von
einem Extrem zum andern gehen. Das ist die Natur des Geistes –
von einem Extrem ins andere zu gehen. Schraun macht also nichts
Neues. Es war zu erwarten. Nur weil ihr nicht die Gesetze des
Geistes kennt, seid ihr überrascht.”
Der Geist geht von einem Extrem zum anderen. Das ist die Na-
tur des Geistes. Und so kommt es jeden Tag vor, daß ein Mensch,
der wie verrückt hinter dem Geld her war, alles aufgibt und zum
nackten Fakir wird. Wir denken: „Was für ein Wunder!” Aber es
ist nichts — nur eine gewöhnliche Gesetzmäßigkeit. Von einem
Menschen, der nicht wie verrückt hinter dem Geld her war, kann
man nicht erwarten, daß er ihm entsagt, denn man geht nur von
dem einen Extrem zum anderen, genau wie ein Pendel — von ei-
nem Extrem zum andern.
Ein Mensch also, der wie verrückt hinter Geld her war, wird
wie verrückt dagegen sein, aber die Verrücktheit wird bleiben: Das
ist der Geist. Ein Mensch, der nur den Sex kannte, mag enthalt-
sam werden, mag in Isolation gehen, aber sein Wahnsinn wird
bleiben. Erst hat er nur für den Sex gelebt, jetzt lebt er nur noch
gegen den Sex — aber die Haltung, die Einstellung bleibt die glei-
che. So ist ein Brahmachari, ein zölibatärer Mensch, nicht wirklich
über den Sex hinausgelangt: Sein ganzes Denken ist sexorientiert.
Er ist dagegen, aber nicht über ihn hinaus. Der Weg darüber hin-
aus geht immer durch die Mitte. Er führt nie ins Extrem. Daher
sagte Buddha: „Das war zu erwarten. Es ist kein Wunder gesche-
hen. So funktioniert der Geist.”
Schraun wurde ein Bettler, ein Sannyasin, ein Bhikkhu, ein
Mönch. Und bald stellten die anderen Jünger Buddhas fest, daß
er zum anderen Extrem ging. Buddha verlangte von niemandem,

290
Kapitel 11

nackt herumzulaufen, aber Schraun ging nackt. Buddha war nicht


für Nacktheit. Er sagte: „Dies ist nur ein anderes Extrem.” Es gibt
Leute, die für die Kleidung leben, als wäre es ihr Leben, und es
gibt Leute, die nackt herumlaufen, aber beide glauben sie an das
gleiche. Buddha lehrte nie die Nacktheit, aber Schraun zog sich
nackt aus. Er war Buddhas einziger Schüler, der nackt ging. Er
trieb die Selbstfolter bis zum Extrem. Buddha gestattete seinen
Sannyasins eine Mahlzeit pro Tag. Aber Schraun nahm nur jeden
zweiten Tag ein Mahl ein. Er wurde dünn und mager. Während
andere Jünger unter Bäumen meditierten, im Schatten, saß er nie
unter einem Baum, sondern blieb immer in der heißen Sonne. Er
war ein schöner Mann gewesen, hatte einen sehr schönen Körper
gehabt, aber binnen sechs Monaten konnte kein Mensch mehr er-
kennen, daß das noch der gleiche Mann war. Er wurde häßlich,
faltig, ausgetrocknet.
Buddha ging eines Abends zu Schraun und fragte ihn: „Schraun,
ich habe gehört, daß du vor deiner Einweihung, als du noch Prinz
warst, auf einer Vina gespielt hast und ein großer Musiker warst.
Ich bin also gekommen, um dir eine Frage zu stellen. Wenn die
Saiten auf der Vina schlaff werden, was passiert?” Schraun sagte:
„Wenn die Saiten zu locker sind, dann ist keine Musik möglich.”
Und dann sagte Buddha: „Und wenn die Saiten sehr gespannt
sind, zu straff gespannt, was passiert dann?” Schraun sagte: „Dann
kann auch keine Musik zustande kommen. Die Saiten müssen in
der Mitte sein — weder locker noch zu straff, sondern genau da-
zwischen.” Schraun sagte: „Es ist leicht, die Vina zu spielen, aber
nur ein Meister kann ihre Saiten genau richtig stimmen.”
Also sagte Buddha: „So viel habe ich dir zu sagen, nachdem ich
dich sechs Monate lang beobachtet habe — daß auch im Leben die
Musik nur dann zustande kommt, wenn die Saiten weder zu
locker noch zu straff gespannt sind, sondern genau dazwischen.
Zu entsagen ist also leicht, aber nur ein Meister weiß, wie er in
der Mitte bleibt. So sei also ein Meister, Schraun, und laß die Le-
benssaiten genau in der Mitte sein — in allem. Geh nicht in das
eine und nicht in das andere Extrem, und alles hat zwei Extreme.
Bleibe immer in der Mitte.”
Aber der Geist ist sehr rücksichtslos. Darum sagt das Sutra,

291
Das Buch der Geheimnisse

„Ohne auf den Geist zu achten ...” Ihr werdet dies hören, ihr
werdet es verstehen, aber der Geist wird nicht darauf hören. Der
Geist wählt immer nur die Extreme.
Das Extrem hat eine Faszination für den Geist Warum? Weil er
in der Mitte stirbt. Seht euch ein Pendel an: Wenn ihr irgendeine
alte Standuhr habt, seht euch das Pendel an. Das Pendel kann den
ganzen Tag weitergehen, wenn es sich zu den Extremen bewegt.
Wenn es nach links geht, sammelt es Schwungkraft, um nach
rechts zu gehen. Wenn es nach rechts geht, dann dürft ihr nicht
denken, daß es wirklich nach rechts geht, es sammelt nur
Schwungkraft, um nach links zu gehen. Die Extreme sind also
rechts, links, rechts, links. Halte seine Schwungkraft in der Mitte
an. Laß das Pendel in der Mitte still stehen. Die ganze Schwung-
kraft wird verlorengehen; nun hat das Pendel keine Energie, denn
seine Energie kommt von einem der Extreme. Dann wirft dies
Extrem es zum anderen und das andere wieder zurück, und es ist
ein Kreis: Das Pendel bewegt sich immer weiter. Halte es in der
Mitte, und die Bewegung wird aufhören. Der Geist ist genau wie
ein Pendel, und wenn du ihn jeden Tag beobachtest, wirst du das
erkennen. Du entscheidest eine Sache an dem einen Extrem und
gehst dann zum anderen über. Du bist wütend, dann bereust du.
Du entschließt dich: „Nein, jetzt reicht es. Jetzt will ich nie wie-
der wütend werden.” Aber du siehst nicht das Extreme daran.
„Niemals”, ist ein Extrem. Wie kannst du so sicher sein, daß du
nie wieder wütend wirst? Was sagst du da? Denk noch einmal
nach. Nie? Dann geh in die Vergangenheit, erinnere dich, wie oft
du dich entschlossen hast, nie wieder wütend zu werden. Wenn
du sagst, daß du nie wieder wütend werden willst, dann vergißt
du, daß du, als du wütend wurdest, nur die Schwungkraft gesam-
melt hast, um zum anderen Extrem zu gehen. Jetzt fühlst du
Reue, jetzt fühlst du dich schlecht. Dein Image ist gestört, er-
schüttert. Jetzt kannst du dich nicht mehr einen guten Menschen
nennen, jetzt bist du kein religiöser Mensch mehr. Du bist wü-
tend gewesen, und wie kann ein frommer Mann wie ich wütend
sein, wie kann ein guter Mensch wütend sein? Also bereust du,
um deine Anständigkeit wiederzugewinnen. Wenigstens in dei-
nen eigenen Augen kannst du dich besser fühlen, wenn du be-

292
Kapitel 11

reust und dich entschlossen hast, nie wieder wütend zu werden.


Das erschütterte Selbstbild ist wieder beim Status Quo angekom-
men. Jetzt kannst du dich entspannen; du bist zum anderen Ex-
trem gegangen.
Aber der Kopf, der sagt, jetzt will ich nie wieder wütend sein,
wird wieder wütend werden. Und wenn du dann wieder wütend
bist, wirst du völlig deinen Entschluß vergessen, alles. Nach dem
Wutanfall kommt wieder der Entschluß und die Reue, und du er-
kennst nie das Trügerische daran. So ist es immer gewesen. Der
Kopf geht von der Wut zur Reue, von der Reue zur Wut. Bleib in
der Mitte. Sei nicht wütend, und bereue nicht. Wenn du wütend
gewesen bist, dann tu bitte wenigstens dies eine: bereue nicht.
Gehe nicht zum anderen Extrem. Bleib in der Mitte. Sage: „Ich
bin wütend gewesen, und ich bin ein schlechter Mensch, ein ge-
waltsamer Mensch. Ich bin wütend gewesen. So bin ich eben.”
Aber bereue nicht. Gehe nicht zum anderen Extrem. Bleib in der
Mitte. Wenn du das kannst, sammelst du keine Schwerkraft, kei-
ne Energie, um wieder wütend zu werden.
Daher sagt dies Sutra: „Ohne auf den Geist zu achten, bleib in
der Mitte, bis ...” Und was ist mit diesem „bis” gemeint? Bis du
explodierst! Bleib in der Mitte, bis der Geist stirbt. Bleib in der
Mitte, bis es keinen Geist mehr gibt. Ohne also auf den Geist
Rücksicht zu nehmen, bleibe so lange in der Mitte, bis es keinen
Geist mehr gibt. Wenn Geist die Extreme bedeutet, dann bedeu-
tet Mitte „Nicht-Geist”.
Aber das ist das Allerschwerste von der Welt. Es sieht leicht, es
sieht einfach aus. Es scheint, als könntest du das fertig bringen.
Und du wirst dich wohlfühlen bei dem Gedanken, daß du nicht
zu bereuen brauchst. Versuche es, und du wirst erkennen: wenn
du wütend wirst, besteht dein Kopf auf Reue.
Freud sagt, daß Eheleute ewig streiten, und daß es schon seit
Jahrhunderten gute Ratgeber gibt, große Menschen, die uns ge-
lehrt haben, wie man leben und lieben soll: Aber alle streiten wei-
ter. Freud war der erste, der darauf aufmerksam wurde, daß Lie-
be im üblichen Sinne zugleich auch Haß bedeutet. Am Morgen
ist es Liebe, am Abend ist es Haß, und so geht das Pendel weiter.
Jeder Ehemann, jede Ehefrau weiß dies, aber Freud hat hier eine

293
Das Buch der Geheimnisse

sehr unheimliche Einsicht. Freud sagt: „Wenn ein Paar zu streiten


aufhört, dann müßt ihr wissen, daß die Liebe gestorben ist. Jene
Liebe, die mit Haß und Kampf zusammenging, kann nicht blei-
ben. Wenn ihr also ein Paar seht, das sich nicht streitet, dann
glaubt nicht, daß das das ideale Paar ist. Es bedeutet, daß es gar
kein Paar ist. Sie leben nebeneinander her, nicht miteinander, wie
parallele Linien, die sich nie begegnen, nicht einmal im Streit. Sie
sind beide zusammen, aber allein - parallel.”
Der Geist muß zum anderen Extrem, daher gibt die Psycholo-
gie heute besseren Rat. Der Rat ist tiefer, hat besseren Einblick. Er
besagt: Wenn du wirklich lieben willst, dann habe keine Angst vor
Streit. Ja, du mußt authentisch kämpfen, damit du an das andere
Extrem authentischer Liebe gehen kannst. Wenn du dich also mit
deiner Frau streitest, weiche nicht aus: sonst weichst du auch der
Liebe aus. Weiche nicht aus! Wenn die Zeit für den Streit da ist,
streite bis zum bitteren Ende. So wirst du am Abend wieder lieben
können. Der Geist hat wieder Schwungkraft gewonnen. Die ge-
wöhnliche Liebe kann nicht ohne Streit bestehen, weil sie eine
Bewegung des Geistes ist. Nur eine Liebe, die nicht aus dem Geist
kommt, kann ohne Streit bestehen, aber das ist eine ganz andere
Sache.
Ein Buddha, der liebt, das ist eine ganz andere Sache. Aber
wenn ein Buddha kommt, um euch zu lieben, dann fühlt ihr
euch nicht sehr wohl dabei, weil seine Liebe makellos ist. Seine
Liebe wird einfach süß und süß und süß sein - und langweilig -
weil der Makel im Streit liegt. Ein Buddha kann nicht wütend
sein: Er kann nur lieben. Ihr könnt seine Liebe nicht empfinden,
weil ihr nur Gegensätze empfinden könnt. Ihr braucht den Kon-
trast. Als Buddha nach zwölf Jahren wieder in seine Heimatstadt
kam, wollte seine Frau ihn nicht empfangen. Die ganze Stadt hat-
te sich zu seinem Empfang versammelt, nur seine Frau kam
nicht. Buddha lachte und sagte zu seinem Jünger Ananda:
„Yashodhara ist nicht gekommen. Ich kenne sie gut. Es scheint,
sie liebt mich immer noch. Sie ist stolz und fühlt sich verletzt. Ich
dachte, daß zwölf Jahre eine lange Zeit sind und daß sie mich
jetzt vielleicht nicht mehr liebt. Aber es scheint, sie liebt mich im-
mer noch - immer noch böse mit mir! Sie ist nicht gekommen,

294
Kapitel 11

um mich zu empfangen. Da muß ich wohl zu ihr ins Haus ge-


hen."
Also ging Buddha zu ihr. Ananda war bei ihm. Das war für An-
anda eine Grundregel. Als Ananda initiiert wurde, stellte er eine
Bedingung, der Buddha auch zustimmte: daß er ihn überall hin
begleiten würde. Er war sein älterer Stiefbruder, also mußte ihm
Buddha das gewähren.
Ananda folgte ihm ins Haus, in den Palast, bis Buddha sagte:
„Wenigstens diesmal bleibst du draußen und kommst nicht mit
mir. Denn sonst ist die Hölle los. Ich komme nach zwölf Jahren
zurück, und ich bin einfach weggerannt, ohne es ihr zu sagen. Sie
ist immer noch wütend auf mich — also komm nicht mit mir, sonst
denkt sie, ich will sie am Reden hindern. Laß sie wütend sein.”
Buddha ging hinein. Natürlich, Yashodhara war ein regelrech-
ter Vulkan. Sie brach aus, sie explodierte. Sie fing an zu heulen
und zu schreien und schlimme Dinge zu sagen. Buddha blieb da,
wartete, und nach und nach kühlte sie sich ab und stellte fest, daß
Buddha noch kein einziges Wort gesagt hatte. Sie wischte sich die
Augen, sah Buddha an, und Buddha sagte: „Ich bin gekommen,
um dir zu sagen, daß ich etwas gewonnen habe, daß ich etwas er-
kannt habe. Ich habe etwas verwirklicht. Wenn du dich beruhigst,
kann ich dir die Botschaft geben — die Wahrheit, die ich erkannt
habe. Ich habe nichts gesagt, damit du dich erst austoben kannst.
Zwölfjahre sind eine lange Zeit. Du mußt sehr verletzt sein, und
dein Zorn ist verständlich. Ich habe ihn erwartet. Das beweist, daß
du mich noch immer liebst. Aber es gibt eine Liebe jenseits dieser
Liebe, und nur um dieser Liebe willen bin ich zurückgekommen,
um dir etwas darüber zu sagen.”
Aber Yashodhara konnte diese Liebe nicht fühlen. Es ist schwer,
sie zu fühlen, denn sie ist so still. Sie ist so still, als wäre sie gar
nicht da. Wenn der Geist stillsteht, dann geschieht eine andere
Liebe. Aber diese Liebe kennt kein Gegenteil. Wenn der Geist
stehenbleibt, dann gibt es für das, was dann geschieht, tatsächlich
keinen Gegensatz mehr. Solange der Geist da ist, gibt es immer
den polaren Gegensatz, und der Geist bewegt sich wie ein Pen-
del. Dies Sutra ist herrlich und kann Wunder bewirken. „Ohne
auf den Geist zu achten, bleib in der Mitte — bis ...” Also versuch

295
Das Buch der Geheimnisse

es. Das ist ein Sutra fürs ganze Leben. Du kannst es nicht nur
manchmal praktizieren. Du mußt dir dessen ständig bewußt sein.
I m Tun, irn Gehen, im Essen, in Beziehungen, überall — bleib in
der Mitte. Versuche es wengistens, und du wirst spüren, wie sich
in dir eine gewisse Stille entwickelt, dich Ruhe überkommt, wie
in dir ein ruhiges Zentrum wächst.
Selbst wenn es dir nicht gelingt, genau in der Mitte zu sein, ver-
suche trotzdem, in der Mitte zu sein. Nach und nach bekommst
du ein Gefühl dafür, was „Mitte” bedeutet. Was immer anliegt,
Haß oder Liebe, Wut oder Reue, denke immer an die polaren Ge-
gensätze und bleibe dazwischen. Früher oder später wirst du auf
den genauen Mittelpunkt stoßen. Hast du ihn einmal erkannt,
wirst du ihn nie wieder vergessen, denn dieser mittlere Punkt ist
jenseits vom Geist. Dieser Punkt in der Mitte ist genau das, was
„Spiritualität” bedeutet.

296
Jenseits vom Geist ist die Quelle
[Fragen]

Es sind viele Fragen gestellt worden. Die erste Frage:

Osho, gestern abend hast du gesagt, daß beim Heraufdämmern der


Erleuchtung der Punkt zwischen den beiden Augenbrauen, das
dritte Auge, allumfassend wird. Am Tag davor hast du gesagt daß
alle Erleuchteten im Nabel zentriert sind, und wieder ein anderes
Mal hast du von der silbernen Schnur gesprochen, die mitten durch
das Rückgrat geht. Damit wissen wir von drei wesentlichen
Punkten, in denen der Mensch verwurzelt ist. Bitte erkläre, wie die
drei Dinge miteinander zusammenhängen und funktionieren: das
Nabelzentrum, das dritte Auge und das Rückgrat.

29 9
Das Buch der Geheimnisse

Das Grundsätzliche an diesen drei Zentren ist dies: Wann im-


mer du im Inneren zentriert bist, dann fällst du, gleich aus wel-
chem Zentrum, augenblicklich zum Nabel hinunter. Wenn du im
Herzen zentriert bist, ist das Herz irrelevant: Es kommt allein auf
das Zentrieren an. Oder wenn du im dritten Auge zentriert bist, ist
nicht das dritte Auge wesentlich: Es kommt darauf an, daß dein
Bewußtsein zentriert ist. Ganz gleich also, an welchem Punkt du
dich zentrierst, wann immer, wo immer du dich zentrierst, wirst
du zur Mitte fallen, zum Nabel.
Das grundlegende existentielle Zentrum ist der Nabel, aber das
Zentrum, durch das du funktionierst, kann überall sein. Von die-
sem Zentrum fällst du automatisch zum Nabel. Da gibt es kein
Nachdenken. Und das gilt nicht nur für das Herzzentrum oder
das dritte Auge, sondern du kannst auch im Verstand zentriert
sein, im Kopf, und auch von dort zum Nabel fallen.
Zentrieren ist alles; aber es ist sehr schwierig, im Verstand, im
Kopf zentriert zu sein. Da gibt es Probleme. Das Herzzentrum ist
auf Liebe, Zuversicht, Hingabe gegründet. Der Kopf auf Zweifel
und Verneinung.
Völlig negativ zu sein, ist aber eigentlich unmöglich. Total zu
zweifeln, ist unmöglich. Aber manchmal ist es geschehen, weil
eben auch Unmögliches geschieht. Manchmal, wenn dein Zwei-
fel solche Intensität erreicht, daß du an nichts mehr glauben
kannst, nicht einmal an deinen zweifelnden Geist, wenn der
Zweifel sich gegen sich selbst wendet und alles zum Zweifel wird,
dann wirst du augenblicklich ins Nabelzentrum fallen. Aber das
geschieht ganz selten.
Vertrauen ist leichter. Es ist leichter, total zu vertrauen, als total
zu zweifeln. Du kannst leichter total Ja sagen als Nein. Selbst
wenn du also im Kopf zentriert bist, ist das Zentrieren das Wich-
tige: Du wirst hinunter zu deinen existentiellen Wurzeln fallen.
Du kannst also zentriert sein, wo du willst. Das Rückgrat genügt,
das Herz genügt, der Kopf genügt. Oder du kannst dir auch an-
dere Zentren im Körper aussuchen.
Die Buddhisten sprechen von neun Chakras, von neun dyna-
mischen Zentren im Körper; die Hindus von sieben. Die Tibeta-
ner sprechen von dreizehn Zentren im Körper. Du kannst auch

30 0
Kapitel 12

deine eigenen finden, du brauchst diese Systeme nicht dazu.


Jeder Punkt im Körper kann zum Gegenstand des Zentrierens
gemacht werden. Tantra benutzt zum Beispiel das Sexzentrum.
Tantra arbeitet damit. daß du deine Bewußtheit völlig darauf ein-
stellst. Das Sexzentrum genügt.
Die Taoisten haben den großen Zeh als Zentrum benutzt. Rich-
te deine Bewußtheit auf den großen Zeh, bleibe dort, und vergiß
den ganzen Körper. Laß dein ganzes Bewußtsein zu diesem Zeh
gehen. Das genügt, denn in Wirklichkeit ist es unwichtig, worauf
du dich zentrierst. Du zentrierst dich — das ist es, was zählt, und
die Sache passiert: aufgrund des Zentrierens, nicht des Zentrums
wegen. Bedenkt das. Das Zentrum ist unwichtig. Wichtig ist das
Zentrieren.
Laßt euch nicht verwirren, denn bei so vielen Methoden, bei
112 Methoden, werden viele Zentren benutzt. Laßt euch also
nicht dadurch verwirren, welches Zentrum nun wichtiger ist oder
welches das wahre Zentrum ist; jedes Zentrum tut es. Man kann
es sich aussuchen.
Wenn du sehr sexuell bist, ist es gut, das Sexzentrum zu benut-
zen, weil dann dein Bewußtsein ganz natürlich dorthin fließt.
Dann benutzt man am besten dieses. Aber es ist schwierig ge-
worden mit dem Sexzentrum. Es ist eines der natürlichsten Zen-
tren: Das Bewußtsein wird biologisch darauf gelenkt. Warum also
diese biologische Kraft nicht für die innere Transformation nut-
zen? Mach es zum Punkt deiner Zentrierung. Aber die gesell-
schaftliche Konditionierung, sex-repressive Lehren, Moralisieren
haben großen Schaden angerichtet. Ihr seid von eurem Sexzen-
trum abgeschnitten. Tatsächlich ist in unserem wahren Selbstbild
das Sexzentrum wegretuschiert. Stell dir deinen Körper vor: du
wirst deine Geschlechtsteile weglassen. Darum haben viele Men-
schen das Gefühl, als wären ihre Sexualorgane etwas Losgelöstes,
als gehörten sie nicht zu ihnen. Darum so viel Versteckspiel, so
viel Verdrängung.
Käme jemand aus dem All, von einem anderen Planeten, und
würde euch sehen, er würde keine Ahnung haben, daß ihr ein
Sexzentrum habt. Wenn er eurem Reden zuhört, kommt er nicht
auf den Gedanken, daß es so etwas wie Sex gibt. Wenn er sich in

30 1
Das Buch der Geheimnisse

Gesellschaft bewegt, in der Welt der Umgangsformen, erfährt er


nicht, daß so etwas wie Sex passiert.
Wir haben einen Trennstrich gezogen. Es gibt eine Schranke,
und wir haben das Sexzentrum von uns abgeschnitten. Wirklich,
nur aufgrund der Sexualität haben wir den Körper zweigeteilt.
Der Oberkörper ist für uns das Höhere und der Unterkörper das
Niedere — er wird verdammt. „Unten” ist damit nicht nur eine In-
formation darüber, wo sich die untere Hälfte befindet, es ist auch
eine Wertung. Du glaubst, der Unterkörper, das wärest du nicht.
Wenn dich jemand fragt: „Wo bist du in deinem Körper?”, wirst
du auf deinen Kopf zeigen, weil das das Höchste ist. Darum sa-
gen die Brahmanen in Indien: „ Wi r sind der Kopf, und die Sudras,
die Unberührbaren, sind die Füße.” Die Füße sind niedriger als
der Kopf. Wirklich, du bist der Kopf, und die Füße und die an-
dern Teile gehören nur zu dir: Das bist du nicht. Um diese Tren-
nung zu machen, haben wir zwei Sorten von Kleidern. Die eine
für den Oberkörper, und die andere für den Unterkörper. Und
das nur, um den Körper entzweizuteilen. Es gibt da eine feine
Trennlinie.
Der Unterkörper ist nicht Teil von dir. Er hängt an dir; das ist
etwas anderes. Und darum ist es schwierig, das Sexzentrum für
das Zentrieren zu benutzen. Aber wenn du es kannst, ist das das
beste, denn biologisch gesehen fließt deine Energie diesem Zen-
trum zu. Konzentriere dich darauf. Wann immer du einen sexu-
ellen Trieb spürst, schließe die Augen und fühle, wie deine Ener-
gie dem Sexzentrum zufließt.
Mach es zur Meditation: Fühle dich im Sexzentrum zentriert.
Dann merkst du plötzlich eine Qualitätsveränderung in der
Energie. Das Sexuelle wird verschwinden, und das Sexzentrum
wird lichterfüllt, voller Energie, dynamisch. Du wirst das Leben
auf seiner Höhe empfinden, wenn du an diesem Zentrum bist.
Und wenn du zentriert bist, ist in dem Augenblick schon der Sex
völlig vergessen, und du wirst von diesem Zentrum aus die Ener-
gie über deinen ganzen Körper strömen fühlen, ja sogar über die-
sen Körper hinaus in den Kosmos hinein. Bist du völlig im Sex-
zentrum zentriert, wirst du plötzlich zu deiner eigentlichen Wur-
zel am Nabel geworfen.

302
Kapitel 12

Tantra hat das Sexzentrum benutzt, und ich glaube, daß Tantra
der wissenschaftlichste Ansatz zur menschlichen Transformation
überhaupt ist; denn den Sex zu nutzen, das ist sehr wissenschaft-
lich. Wenn das Bewußtsein ohnehin schon dorthin fließt, warum
den natürlichen Strom nicht als Vehikel nutzen? Das ist der
grundsätzliche Unterschied zwischen Tantra und sogenannten
Morallehren. Morallehrer können niemals das Sexzentrum zur
Transformation nutzen: Sie haben Angst. Und wer Angst vor der
Sexenergie hat, wird es tatsächlich sehr, sehr schwer finden, sich
zu transformieren, weil er gegen den Strom kämpft, unnötig ge-
gen den Fluß anschwimmt.
Es ist leicht, mit dem Fluß zu schwimmen. Laß dich treiben!
Und wenn du ohne jeden Konflikt dorthin treiben kannst, kannst
du dieses Zentrum zur Zentrierung nutzen. Aber jedes andere
Zentrum tut es auch.
Du kannst dir deine eigenen Zentren schaffen: nicht nötig, tra-
ditionell zu sein. Alle Zentren sind Hilfsmittel — Hilfsmittel beim
Zentrieren. Wenn du zentriert bist, wirst du automatisch hinunter
zum Nabelzentrum kommen. Ein zentriertes Bewußtsein geht
zur ursprünglichen Quelle zurück.

Die zweite Frage:

Buddha inspirierte einegroße Zahl von Menschen dazu,


Sannyasins zu werden, Sannyasins, die um ihr Essen bettelten
und fern von der Gesellschaft lebten, fern von der Politik. Buddha
selbst lebte das Leben eines Asketen. Dieses klösterliche Leben
scheint wie das Gegenextrem zum weltlichen Leben und nicht der
„Mittlere Weg” zu sein. Kannst du das erklären?

Das wird schwer zu verstehen sein, weil du nicht weißt, was das
entgegengesetzte Extrem zum weltlichen Leben ist. Das andere
Ende des Lebens ist immer der Tod. Es hat Lehrer gegeben, die
gesagt haben, Selbstmord ist der einzige Weg. Und nicht nur in
der Vergangenheit, auch heute in der Gegenwart gibt es Denker,
die sagen, daß das Leben absurd ist. Wenn das Leben als solches
bedeutungslos ist, wird der Tod bedeutungsvoll. Leben und Tod

303
Das Buch der Geheimnisse

sind die polaren Gegensätze, und so ist das Gegenteil von Leben
der Tod. Versuche das zu verstehen. Und das wird dir dabei hel-
fen, den „Mittleren Weg” für dich selbst herauszufinden. Wenn
der Tod der polare Gegensatz des Lebens ist, dann kann sich das
Bewußtsein sehr leicht zum Tod hinbewegen; und das kommt
vor. Wenn jemand Selbstmord begeht ... habt ihr je bemerkt, daß
ein Mensch, der Selbstmord begeht, zu sehr am Leben hängt?
Nur diejenigen, die zu sehr am Leben hängen, können Selbst-
mord begehen.
Zum Beispiel: Du hängst zu sehr an deinem Mann oder an dei-
ner Frau und glaubst, nicht ohne sie oder ihn leben zu können.
Nun stirbt der Mann oder die Frau, und du begehst Selbstmord.
Du bist zum anderen Extrem gegangen, weil du zu sehr am Le-
ben gehangen hattest. Wenn dich das Leben frustriert, kannst du
zum anderen Extrem gehen.
Es gibt zwei Arten von Selbstmord: Entweder du bringst dich
gleich um, oder du begehst Selbstmord auf Raten. Man kann
Selbstmord auf Raten begehen: Indem man sich allmählich dem
Leben entzieht, sich davon abschneidet und ganz allmählich stirbt.
Es gab in Buddhas Zeiten Schulen, die den Selbstmord lehrten.
Das waren die wirklichen Gegner des Lebens, des wirklichen Le-
bens. Es gab Schulen, die lehrten, daß der Selbstmord der einzige
Ausweg aus dem Unsinn war, der Leben heißt, der einzige Aus-
weg aus diesem Leiden. Lebendigsein heißt Leiden, sagten sie,
und es gibt keine Möglichkeit, über das Leiden hinwegzukom-
men, solange man lebt. Also begehe Selbstmord, vernichte dich.
Das wird euch als eine sehr extremistische Meinung erscheinen,
aber versucht, sie einmal tief zu verstehen. Es steckt einige Be-
deutung darin.
Sigmund Freud kam nach vierzig Jahren ständiger Arbeit an
der menschlichen Psyche, nach einem der längsten Forschungs-
unternehmen, die ein einzelner Mensch bewältigen kann, zu
dem Schluß, daß der Mensch, so wie er ist, nicht glücklich sein
kann. Die ganze Art, wie der Geist funktioniert, führt zu Lei-
den, und so kann es höchstens die Alternative von weniger oder
mehr Leid geben. Die Wahl, gar nicht zu leiden, stellt sich über-
haupt nicht. Wenn du deinen Geist anzupassen verstehst, wirst

304
Kapitel 12

du weniger leiden, das ist alles. Sieht sehr hoffnungslos aus!


Die Existentialisten — Sartre, Camus und andere — sagen, daß
das Leben unmöglich glückselig sein kann. Die Natur des Lebens
selbst ist Schrecken, Angst und Leid, und das einzige, was einem
bleibt, ist also, sich ihm tapfer zu stellen, ohne Hoffnung. Du
kannst dich ihm nur mutig stellen, ohne Hoffnung. Du kannst
dich ihm nur mutig stellen, das ist alles. Ohne jede Hoffnung. Die
Situation als solche ist hoffnungslos. Camus fragt: „Nun, wenn das
die Situation ist, warum dann nicht Selbstmord begehen? Wenn
es keine Möglichkeit im Leben gibt, es zu transzendieren, warum
dann dies Leben nicht verlassen?”
Einer von den Charakteren in einem der größten Romane der
Welt, Dostojewskis „Die Brüder Karamasow”, sagt: „Ich will her-
ausfinden, wo Euer Gott steckt, nur damit ich ihm die Eintritts-
karte zurückgeben kann, die Eintrittskarte zum Leben. Ich will
nicht hier sein. Und wenn es irgendeinen Gott gibt, muß er sehr
gewalttätig und grausam sein. Denn”, so sagt dieser Mensch, „er
hat mich ins Leben geworfen, ohne mich zu fragen. Es war nie
meine eigene Wahl. Warum lebe ich, ohne es selbst zu wollen?”
Es gab viele solcher Lehrmeinungen in Buddhas Zeit. Buddhas
Zeit gehörtintellektuell gesehen zu den dynamischsten Zeiten der
menschlichen Geschichte überhaupt. Zum Beispiel gab es damals
Ajit Kesh Kambal. Ihr mögt den Namen nie gehört haben, denn
es ist schwierig, eine Gefolgschaft für einen zu finden, der den
Selbstmord predigt. Es gibt also keine Sekte um Ajit Kesh Kambal,
aber fünfzig Jahre lang predigte er nichts anderes, als daß Selbst-
mord der einzige Weg sei.
Es heißt, Ajit sei von jemandem gefragt worden: „Warum hast
du denn noch nicht Selbstmord begangen?” Er antwortete: „Um
ihn zu lehren, muß ich das Leben ertragen. Ich habe der Welt eine
Botschaft zu geben, und wenn ich Selbstmord begehe, wer wird
dann diese Botschaft verbreiten? Ich bin allein deshalb hier um
diese Botschaft zu verkünden. Im übrigen ist das Leben nicht le-
benswert.” Das ist das wahre Gegenteil des Lebens — dieses soge-
nannten Lebens, das wir leben.
Buddhas Weg war der mittlere Weg. Buddha sagte, weder Le-
ben noch Tod, und genau das bedeutet Sannyas: weder Bindung

30 5
Das Buch der Geheimnisse

ans Leben noch Ablehnung, sondern einfach nur in der Mitte


sein. Buddha sagt also: Sannyas bedeutet einfach nur, in der Mitte
zu leben. Sannyas ist nicht die Negation des Lebens. Vielmehr ist
Sannyas die Negation sowohl des Lebens als auch des Todes.
Wenn du dich weder um Leben noch um Tod bekümmerst, bist
du zu einem Sannyasin geworden.
Wenn du die polaren Gegensätze von Leben und Tod erkennst,
dann siehst du, daß Buddhas Einweihung in Sannyas nur eine Ein-
weihung in den mittleren Weg ist. Also ist ein Sannyasin nicht
wirklich gegen das Leben. Wenn er es ist, dann ist er kein Sannya-
sin. Dann ist er in W irklichkeit ein Neurotiker. Er ist zum ande-
ren Extrem gegangen. Ein Sannyasin hat ein sehr ausgewogenes
Bewußtsein – genau in der Mitte.
Wenn das Leben Leiden ist, so sagt der Verstand, dann geh ans
andere Extrem. Aber für den Buddhisten ist das Leben genau des-
halb Leiden, weil ihr extrem seid. Das ist die buddhistische Sicht:
Das Leben ist Leid, weil es das eine Extrem ist, und der Tod ist
Leid, weil er das andere Extrem ist. Seligkeit ist genau in der Mit-
te. Seligkeit ist Gleichgewicht.
Ein Sannyasin ist ein ausgewogenes Wesen, weder nach rechts
noch nach links neigend, weder ein „Linker” noch ein „Rechter”,
einfach in der Mitte — still, unbewegt, weder dies noch das vor-
ziehend, ohne Wahl in der Mitte lebend.
Wähle also nicht den Tod: Wählen heißt Leiden. Wenn du den
Tod wählst, hast du das Leid gewählt, und wenn du das Leben
wählst, hast du das Leid gewählt: Weil Leben und Tod zwei Ex-
treme sind, und zwar, vergeßt das nicht, die Extrempunkte ein
und derselben Sache. Es ist nicht wirklich zweierlei, sondern nur
ein Phänomen mit zwei Polen: Leben-und-Tod. Wählst du den
einen, mußt du dich gegen den andern wenden. Das erzeugt Un-
glück, weil der Tod im Leben enthalten ist. Du kannst nicht das
Leben wählen, ohne den Tod mitzuwählen. Wie denn? Im Au-
genblick, wo du das Leben wählst, hast du den Tod gewählt. Das
erzeugt Unglück, weil sich als Folge deiner Entscheidung für das
Leben der Tod einstellt. Du hast das Glück gewählt: gleichzeitig,
ohne es zu wissen, hast du das Unglück gewählt, weil es dazu
gehört. Wenn du die Liebe gewählt hast, hast du den Haß ge-

306
..r-

Kapitel 12

wählt. Der Gegensatz ist hineinverwoben, er ist darin versteckt.


Und einer, der die Liebe wählt, wird leiden, weil er auch hassen
wird: und wenn er beim Hassen angelangt ist, wird er leiden.
Wähle nicht: sei in der Mitte. In der Mitte ist die Wahrheit. Am
einen Ende ist Tod, am anderen Ende ist Leben. Aber diese Ener-
gie, die sich zwischen beiden hin — und herbewegt, das ist „die
Wahrheit”. Wähle nicht, denn wählen bedeutet, daß du das eine
gegen das andere setzt. In der Mitte sein heißt: wahllos sein. Und
wenn du nicht gewählt hast, kann nichts dich unglücklich machen.
Der Mensch macht sich unglücklich durch Wahl. Wähle nicht.
Sei nur! Das ist ungeheuer schwer, es scheint unmöglich — aber
versuche es. Wann immer du zwei Gegensätze hast, versuche, in
der Mitte zu bleiben. Nach und nach lernst du den Kniff, das Ge-
fühl dafür. Und wenn du erst einmal das Gefühl dafür hast, wie
du in der Mitte bleiben kannst ... und es ist eine sehr delikate An-
gelegenheit, sehr delikat, das Delikateste überhaupt — wenn du
erst einmal das Gefühl hast, kann nichts dich mehr stören, kann
nichts dich mehr leiden machen. Dann existierst du, ohne zu lei-
den.
Das ist es, was ein Sannyasin ist: Er lebt, ohne zu leiden. Aber
um leben zu können, ohne zu leiden, mußt du ohne Wahl leben:
also sei in der Mitte. Und Buddha war der erste, der ganz bewußt
versucht hat, den mittleren Weg zu lehren.

Die dritte Frage:

Gib uns bitte ein paarpraktische Hinweise, wie man das


Herzzentrum öffnen und entwickeln kann.

Der erste Punkt: Versuche, kopflos zu sein. Visualisiere dich als


kopflos. Lauf ohne Kopf herum. Es klingt absurd, ist aber eine der
wirkungsvollsten Übungen. Versuche es, und dann wirst du es er-
fahren. Gehe und fühle, daß du keinen Kopf hast. Am Anfang
wird es nur „als ob” sein. Es wird sehr merkwürdig sein; wenn dir
das Gefühl kommt, keinen Kopf zu haben, wird es sehr merk-
würdig und fremd sein, aber nach und nach wirst du weiter unten
im Herzen Wurzeln schlagen.

30 7
Das Buch der Geheimnisse

Es gibt hier ein Gesetz: Ihr mögt beobachtet haben, daß ein
Blinder schärfere Ohren hat, ein musikalischeres Gehör. Blinde
sind musikalischer: Ihr Gefühl für Musik ist tiefer. Warum? Die
Energie, die gewöhnlich durch die Augen geht, kann jetzt nicht
mehr durch sie hindurchfließen, und so sucht sie sich einen an-
deren Weg: Sie geht durch die Ohren.
Blinde haben einen ausgeprägteren Tastsinn. Wenn dich ein
Blinder berührt, wirst du den Unterschied spüren, denn ge-
wöhnlich tasten wir auch viel mit den Augen: Wir betasten uns
gegenseitig mit den Augen. Ein Blinder kann nicht durch die
Augen tasten, also geht die Energie durch seine Hände. Ein Blin-
der ist empfindlicher als jemand, der Augen hat. Es mag Aus-
nahmen geben, aber im allgemeinen ist es so. Die Energie fängt
an, von einem anderen Zentrum her zu strömen, wenn das erste
nicht da ist.
Versuche es also mit dieser Übung, von der ich spreche, die
Übung der Kopflosigkeit, und plötzlich wirst du etwas Merk-
würdiges feststellen: Es wird sein, als wärest du zum erstenmal im
Herzen. Sei ohne Kopf: setz dich hin zum Meditieren, schließe
die Augen, und fühle einfach, daß du keinen Kopf hast. Fühle:
„Mein Kopf ist verschwunden.” Am Anfang wird es nur ein „als
ob” sein, aber nach und nach hast du das Gefühl, daß dein Kopf
tatsächlich verschwunden ist, und wenn du das fühlst, wird dein
Zentrum zum Herzen hinunterfallen — augenblicklich. Du wirst
die Welt durch das Herz betrachten und nicht durch den Kopf...
Als zum erstenmal Menschen aus dem Westen nach Japan ka-
men, konnten sie es nicht fassen, daß die Japaner einer jahrhun-
dertealten traditionellen Vorstellung anhängen und glauben, daß
man mit dem Bauch denkt! Wenn man ein japanisches Kind, das
nicht westlich erzogen wurde, fragt, wo es denkt, wird es auf sei-
nen Bauch zeigen.
Seit Jahrhunderten lebt Japan ohne den Kopf. Der Kopf ist nur
eine Vorstellung. Wenn man dich fragt: , Wo denkst du?", wirst du
auf den Kopf zeigen, aber ein Japaner auf den Bauch, und dies ist
einer der Gründe dafür, warum der japanische Geist stiller, ruhiger
und gesammelter ist.
Das ist jetzt in Verwirrung geraten, weil der Westen sich über-

30 8
Kapitel 12

allhin verbreitet hat. Heute gibt es keinen Osten mehr. Nur in ei-
nigen Individuen, die hier und dort wie Inseln existieren, über-
lebt der Osten noch. Aber geographisch ist der spirituelle Osten
verschwunden. Heute ist die ganze Welt westlich.
Versuche es mit der Kopflosigkeit. Meditiere vor deinem Spie-
gel im Badezimmer. Schau dir tief in die Augen und fühle, daß du
vom Herzen her schaust. Und nach und nach wird dein Herz-
zentrum zu funktionieren anfangen. Und wenn das Herz funk-
tioniert, verändert sich deine ganze Persönlichkeit, die ganze
Struktur, das ganze Muster, weil das Herz seine eigene Lebens-
weise hat. Das erste also: Versuche es mit der Kopflosigkeit. Zwei-
tens: Sei liebevoller, weil Liebe nicht durch den Kopf funktionie-
ren kann. Sei liebevoller! Darum verliert jemand, der sich verliebt,
den Kopf. Die Leute sagen, er sei verrückt geworden. Wirst du
nicht verrückt, wenn du verliebt bist, dann bist du nicht wirklich
verliebt. Du mußt den Kopf verlieren. Wenn der Kopf unberührt
bleibt, weiterfunktioniert wie üblich, dann ist Liebe nicht mög-
lich, denn um zu lieben, muß dein Herz funktionieren, nicht der
Kopf. Liebe ist eine Funktion des Herzens.
Es kommt vor, daß ein sehr rationaler Mensch dumm wird, wenn
er sich verliebt. Er selbst hat das Gefühl, eine Dummheit zu bege-
hen, eine Albernheit. Was macht er nur! Dann trennt er sein Le-
ben in zwei Teile, stellt eine Spaltung her. Das Herz wird eine stil-
le innerliche Angelegenheit, und wenn er aus dem Hause geht, läßt
er sein Herz zurück. Er lebt in der Welt mit dem Kopf und kommt
nur zum Herzen hinunter, wenn er liebt. Aber das ist sehr schwer.
Sehr, sehr schwer und passiert normalerweise überhaupt nicht.
Ich wohnte in Kalkutta bei einem Freund, und dieser Freund
war Richter am Obersten Gerichtshof. Seine Frau sagte zu mir:
„Ich muß dir ein Problem verraten; kannst du mir helfen?” Also
sagte ich: „Was ist das Problem?” Sie sagte: „Mein Mann ist dein
Freund. Er liebt dich und respektiert dich, wenn du ihm also et-
was sagst, kann es helfen.” Also sagte ich: „Was hast du auf dem
Herzen? Sag es mir.” Sie sagte: „Er bleibt sogar im Bett noch der
Richter vom Obersten Gerichtshof. Ich habe an ihm nie einen
Liebhaber, Freund oder Ehemann gehabt. Er ist vierundzwanzig
Stunden lang am Tag Richter vom Obersten Gerichtshof.”

309
Das Buch der Geheimnisse

Es ist schwierig; es ist schwer, vom hohen Roß herunterzustei-


gen. Es wird eine feste Haltung. Wenn du ein Geschäftsmann bist,
bleibst du auch im Bett ein Geschäftsmann. Es ist schwierig, zwei
Menschen im Inneren unterzubringen, und es ist nicht leicht, dein
Muster völlig zu andern, auf Anhieb, jederzeit. Es ist schwer, aber
wenn du verliebt bist, mußt du von deinem Kopf herunterkom-
men.
Bei dieser Meditation versuche also mehr und mehr zu lieben.
Und wenn ich sage, sei liebevoller, meine ich damit, daß du die
Qualität deiner Beziehung ändern sollst: Laß sie auf Liebe beru-
hen. Nicht nur mit deiner Frau, deinem Kind oder deinem
Freund — gehe mit dem ganzen Leben liebevoller um. Das ist der
Grund, warum Mahavir und Buddha von Gewaltlosigkeit ge-
sprochen haben: einzig, um eine liebevollere Einstellung zum Le-
ben zu schaffen.
Wenn Mahavir unterwegs ist, zu Fuß geht, achtet er darauf,
nicht einmal eine Ameise zu töten. Warum? Es geht nicht in
Wirklichkeit um die Ameise. Er kommt vom Kopf zum Herzen
herunter. Er erzeugt in sich dem Leben gegenüber eine grundsätz-
lich liebende Einstellung. Je mehr deine Beziehungen auf Liebe
gegründet sind, alle Beziehungen, desto mehr funktioniert dein
Herzzentrum. Es wird anfangen zu arbeiten; du wirst mit ande-
ren Augen auf die Welt schauen: Denn das Herz hat seine eigene
Art, die Welt zu sehen. Der Kopf kann nie und nimmer auf glei-
che Weise sehen; das ist unmöglich. Er kann nur analysieren. Das
Herz synthetisiert; der Verstand kann nur sezieren, trennen, er ist
ein Spalter. Nur das Herz gibt Einheit.
Wenn du durchs Herz blickst, erscheint das ganze Universum
wie eine Einheit. Blickst du durch den Kopf, zerfällt die ganze
Welt in Atome. Es gibt keine Einheit: nur Atome, Atome und
wieder Atome. Das Herz gibt eine einheitliche Erfahrung. Es fügt
zusammen, und die höchste Synthese ist Gott. Wenn du durchs
Herz blicken kannst, sieht das ganze Universum wie ein Ganzes
aus. Diese All-Einheit ist Gott.
Darum kann die Wissenschaft niemals Gott finden — das ist un-
möglich —, weil die von ihr angewandte Methode niemals zu ei-
ner letzten Einheit gelangen kann. Die ganze Methode der Wis-

31 0
Kapitel 12

senschaft ist Verstand, Analyse, Teilung. Daher gelangt die Wis-


senschaft zu den Molekülen, Atomen, Elektronen, und wird nie
aufhören zu teilen. Sie kann niemals zur organischen Einheit des
Ganzen gelangen. Das Ganze kann unmöglich durch den Kopf
gesehen werden.
Sei also liebender. Denk daran, daß bei allem, was du tust, die
Qualität der Liebe nicht fehlen darf. Das muß dir ständig in Erin-
nerung bleiben. Du gehst auf dem Gras: Fühle, wie das Gras lebt.
Jeder Halm ist so lebendig wie du.
Mahatma Gandhi war bei Rabindranath Tagore in Shanti Ni-
ketan zu Besuch — und seht euch ihre verschiedenen Haltungen
an: Gandhis Gewaltlosigkeit kam aus dem Kopf. Er vernünftelte
immer an ihr herum, ging rational vor. Er dachte darüber nach,
kämpfte dafür, grübelte, versenkte sich in sie und kam zu einem
Schluß. Er experimentierte und zog dann daraus Schlüsse. Wer
seine Autobiographie gelesen hat, wird sich erinnern, daß er das
Buch „Experimente mit der Wahrheit” genannt hat. Das bloße
Wort „Experiment” ist wissenschaftlich, gehört zur Verstandes-
welt, zur Welt des Labors.
Er war bei Rabindranath, dem Dichter, zu Besuch, und sie
machten zusammen einen Spaziergang durch den Garten. Alles
war grün, lebendig, und so forderte Gandhi Rabindranath auf:
„Laß uns auf den Rasen gehen.” Rabindranath sagte: „Das geht
nicht. Ich kann nicht über den Rasen laufen, jeder Halm ist so le-
bendig wie ich. Es ist mir unmöglich, auf so etwas Lebendiges zu
treten.” Dabei war Rabindranath durchaus kein Lehrer der Ge-
waltlosigkeit, absolut nicht. Er sprach nie von Gewaltlosigkeit,
aber er sah die Welt durchs Herz. Erfühlte das Gras. Gandhi dach-
te über das nach, was Rabindranath gesagt hatte und antwortete:
„Du hast recht.” Das kommt aus dem Kopf. Er sieht die Welt
. durch den Kopf
Sei liebevoll. Gehe selbst mit Dingen liebevoll um. Wenn du
auf einem Stuhl sitzt, tue es liebevoll, fühle den Stuhl: empfinde
Dankbarkeit. Der Stuhl schenkt dir Bequemlichkeit. Spüre seine
Berührung, hebe ihn, spüre Zuneigung. Der Stuhl selbst ist nicht
wichtig. Wenn du ißt, dann iß liebevoll.
Die Inder sagen, daß Nahrung göttlich ist. Sie meinen damit,

31 1
Das Buch der Geheimnisse

daß dir die Nahrung Lebensenergie, Vitalität schenkt. Sei dank-


bar: Geh liebevoll mit ihr um.
Gewöhnlich essen wir sehr aggressiv, so als würden wir etwas
töten. Nicht, als nähmen wir etwas auf, sondern als töteten wir.
Oder ihr werft eure Nahrung völlig gleichgültig in euch hinein,
ohne irgend etwas dabei zu empfinden. Berührt eure Nahrung
voller Liebe und Dankbarkeit: Sie ist euer Leben. Nehmt sie in
den Mund, schmeckt sie, genießt sie. Seid weder gleichgültig noch
gewaltsam.
Unsere Zähne sind sehr aggressiv, aufgrund unserer Tierver-
gangenheit. Tiere haben keine anderen Waffen: Nägel und Zäh-
ne sind ihre einzigen Gewaltmittel. Eure Zähne sind im Grunde
Waffen, und so fahren die Menschen fort, mit den Zähnen zu tö-
ten. Sie bringen ihr Essen um. Darum müßt ihr um so mehr essen,
je aggressiver ihr seid.
Aber Essen hat seine Grenze, und so macht man mit Rauchen
oder Kaugummi weiter. Das ist Gewalt. Ihr genießt es, weil ihr et-
was mit euren Zähnen tötet, etwas mit den Zähnen zermalmt,
und so wird Kaugummi gekaut — alles Gewalt. Was auch immer
du tust, tu es mit Liebe, sei nicht gleichgültig. Dann wird dein
Herzzentrum zu funktionieren beginnen, und du wirst tief zum
Herzen hinunter steigen. Versuche es zunächst mit der Kopflo-
sigkeit und zweitens mit einer liebenden Haltung. Und drittens:
Werde immer ästhetischer, empfänglicher für das Schöne, für Mu-
sik, für alles was das Herz berührt. Wenn diese Welt mehr zur
Musik und weniger zur Mathematik erzogen würde, hätten wir
eine bessere Menschheit. Wenn wir den Geist mehr für Dichtung
und weniger für Philosophie schulen würden, hätten wir eine bes-
sere Menschheit. Denn während du Musik hörst oder spielst, wird
der Kopf nicht gebraucht — du fällst von der Kopfebene herunter.
Sei ästhetischer, poetischer, empfindlicher. Du magst kein
großer Musiker sein oder Dichter oder Maler, aber du kannst ge-
nießen. Und du kannst etwas aus dir selbst heraus erschaffen:
Nicht nötig, ein Picasso zu sein. Du kannst dein Haus selber ma-
len. Du kannst Bilder malen.
Nicht nötig, ein Maestro zu sein, kein Alauddin Khan, kein
großer Musiker, und doch kannst du in deinem Haus irgend et-

31 2
Kapitel 12

was spielen. Du kannst auch Flöte spielen, wie immer amateur-


haft. Aber tu etwas, singe, tanze, tu etwas, das mit dem Herzen zu
tun hat. Sei empfänglicher für die Welt des Herzens, und es
gehört nicht viel dazu, sensibel zu sein.
Selbst ein armer Mensch kann sensibel sein. Reichtum ist nicht
nötig. Du brauchst keinen Palast, um sensibel zu sein. Es genügt
einfach, am Strand zu liegen, um sensibel zu sein. Du kannst den
Sand fühlen, die Sonne, die Wellen, den Wind, die Bäume, den
Himmel. Die ganze Welt steht dir offen — fühle sie! Sei sensibler,
lebendiger, und zwar aktiv sensibel — denn die Menschheit ist zu
passiv geworden.
Ihr geht ins Kino: Andere tun etwas, und ihr sitzt nur da und
guckt zu. Ein anderer liebt auf der Leinwand, und ihr schaut zu.
Einfach wie Voyeure, passiv und tot, ohne etwas zu tun. Ihr habt
keinen Anteil. Nur wenn man mitmacht, wird das Herzzentrum
funktionieren. Es ist also besser, manchmal zu tanzen.
Du wirst kein großer Tänzer sein. Ist auch nicht nötig. Wie lin-
kisch auch immer, tanze einfach. Das wird dir das Gefühl des Her-
zens geben. Während du tanzt, wird dein Herz zum Zentrum, der
Kopf kann es nicht sein. Spring herum, spiel wie ein Kind. Vergiß
manchmal völlig deinen Namen, deinen Rang, deinen Ruf. Vergiß
das alles völlig, sei wie ein Kind. Sei nicht ernsthaft, nimm das Le-
ben manchmal als Spiel, und das Herz wird sich entwickeln, wird
Energie ansammeln.
Und wenn du ein Herz hast, das lebt, dann wird sich auch die
Qualität deines Kopfes verändern. Dann kannst du auch in den
Kopf gehen und kannst durch den Kopf funktionieren. Aber nun
ist der Kopf nur noch ein Instrument: Du kannst ihn benutzen.
Dann bist du nicht besessen von ihm, und du kannst jederzeit aus
ihm herausgehen, wann du willst. Dann bist du der Herr. Das
Herz wird dir das Gefühl geben, der Herr zu sein.
Und noch etwas: Du wirst schließlich erkennen, daß du weder
Kopf noch Herz bist, weil du vom Herzen zum Kopf und vom
Kopf zum Herzen gehen kannst. Damit weißt du, daß du etwas
anderes bist -„X ". Wenn du immer nur im Kopf bleibst und dich
nie hinauswagst, bleibst du mit dem Kopf identifiziert und weißt
nicht, daß du etwas anderes bist. Diese Bewegung vom Herzen

31 3
Das Buch der Geheimnisse

zum Kopf und vom Kopf zum Herzen wird dir das Gefühl ge-
ben, etwas total anderes zu sein. Manchmal bist du im Herzen
und manchmal im Kopf, aber du bist weder Herz noch Kopf. Die-
ser dritte Punkt der bloßen Bewußtheit wird dich zum dritten
Zentrum führen — zum Nabel. Und der Nabel ist nicht wirklich
ein Zentrum. Dort bist du. Darum gibt es da nichts zu entwickeln,
sondern nur zu entdecken.

Die dritte Frage:

Du sagst, daß die westlichen Psychologen heute raten, in einer


Liebesbeziehung besser nicht Streit zu vermeiden, und daß es die
Liebe intensiviert wenn man sich ihm stellt. Danach sprachst du
vom mittleren Weg Buddhas, der beide Extreme aufhebt,
Welchen Weg empfiehlst du für Liebende, die noch nicht zu jener
Liebe transzendiert sind, die jenseits der beiden Pole liegt?

Ein paar grundsätzliche Punkte: gewöhnliche Liebe muß not-


wendig eine Bewegung zwischen zwei polaren Gegensätzen, zwi-
schen Haß und Liebe sein. Solange der Geist da ist, muß Dualität
da sein. Wenn du also liebst, und der Geist ist noch da, dann
kannst du dem anderen Pol nicht entrinnen. Du kannst ihn ver-
stecken, du kannst ihn unterdrücken, du kannst ihn vergessen,
und das ist genau das, was der sogenannte kultivierte Mensch im-
mer tut. Aber das macht ihn stumpf und tot.
Wenn du nicht mit deinem Liebhaber kämpfen kannst, wenn
du nicht wütend sein kannst, dann ist die Authentizität der Liebe
fort. Wenn du deine Wut unterdrückst, dann wird diese unter-
drückte Wut ein Teil von dir, und diese unterdrückte Wut wird
dir beim Lieben ein totales Loslassen nicht gestatten. Sie ist im-
mer da. Du hältst sie zurück, du hast sie unterdrückt. Wenn ich
wütend bin und das unterdrückt habe, dann ist die verdrängte
Wut auch da, wenn ich liebe, und das tötet meine Liebe. Wenn
ich nicht authentisch in meiner Wut war, kann ich nicht authen-
tisch in meiner Liebe sein. Wenn du authentisch bist, dann bist
du in beidem authentisch. Wenn du in dem einen nicht authen-
tisch bist, kannst du in dem anderen nicht authentisch sein. Die

31 4
rr„'-' apite112

sogenannte Moral, auf der ganzen Welt, alle Zivilisationen und


Kulturen haben die Liebe völlig abgetötet - und das im Namen
der Liebe. Sie sagen, daß du nicht wütend werden darfst, wenn du
jemanden liebst, daß deine Liebe unecht ist, wenn du wütend
wirst. Wenn du liebst, streite nicht, wenn du liebst, hasse nicht!
Natürlich sieht das logisch aus. Wo du doch liebst, wie könn-
test du da hassen? Also schneiden wir die Haßseite weg. Aber ist
der Haß amputiert, wird die Liebe impotent. Es ist, als hättest du
einem Menschen ein Bein abgeschnitten und sagst dann: „So, nun
marschiere los. Jetzt kannst du losrennen, es steht dir frei.” Aber
ihr habt ihm ein Bein abgeschnitten, also kann er keinen Schritt
gehen.
Haß und Liebe sind zwei Pole des gleichen Phänomens. Schnei-
dest du den Haß weg, ist die Liebe tot und impotent. Darum ist
jede Familie impotent geworden, und ihr alle habt Angst vor dem
Loslassen. Wenn ihr liebt, könnt ihr euch nicht völlig loslassen,
weil ihr Angst habt. Wenn ihr euch völlig gehen laßt, könnte die
Wut, die Gewalt, der Haß, der verborgen und verdrängt ist, hoch-
kommen. Also müßt ihr ihn ständig unterdrücken. Unten drunter
müßt ihr ständig kämpfen. Und wenn ihr kämpft, könnt ihr nicht
natürlich und spontan sein. Dann ist eure Liebe eine Pose. Ihr
täuscht etwas vor; und jeder weiß genau, deine eigene Frau weiß
genau, daß du ihr etwas vormachst. Und du weißt, daß dir deine
Frau etwas vormacht. Alle machen sich etwas vor. Und so wird
das ganze Leben verlogen.
Zwei Dinge müssen geschehen, um über den gewöhnlichen
Geist hinauszugelangen: Geh in die Meditation, und berühre dann
die Ebene des Nicht-Geistes, die in dir ist. Danach wirst du eine
Liebe haben, die keinen Gegenpol mehr hat. Aber dann wird es in
dieser Liebe keine Aufregung mehr geben, keine Leidenschaft.
Diese Liebe wird still sein - ein tiefer Frieden, den nicht die klein-
ste Welle kräuselt.
Ein Buddha, ein Jesus - auch sie lieben. Aber in ihrer Liebe gibt
es keine Aufregung, kein Fieber mehr. Das Fieber kommt aus
dem polaren Gegensatz, die Aufregung kommt aus dem polaren
Gegensatz. Polare Gegensätze erzeugen Spannung. Ihre Liebe da-
gegen ist ein stilles Phänomen, und so können nur diejenigen eine

31 5
Das Buch der Geheimnisse

solche Liebe verstehen, die zum Bereich des Nicht-Geistes vor-


gedrungen sind.
Jesus ging vorbei ... es war ein heißer Mittag. Er war erschöpft,
also ruhte er sich unter einem Baum aus. Er wußte nicht, zu wes-
sen Garten dieser Baum gehörte. Er gehörte Maria Magdalena.
Maria war eine Prostituierte. Sie sah aus dem Fenster und sah die-
sen ungeheuer schönen Mann — einen der schönsten, die je ge-
boren wurden. Sie fühlte sich angezogen, nicht nur angezogen,
leidenschaftlich entflammt. Sie kam heraus und bat Jesus: „Komm
in mein Haus, warum ruhst du hier? Sei willkommen.” Jesus sah
Leidenschaft in ihren Augen, Liebe — sogenannte Liebe. Jesus sag-
te: „Das nächstemal, wenn ich hier vorbeikomme und wieder
müde sein sollte, komme ich in dein Haus. Aber im Augenblick
brauche ich es nicht mehr, ich bin schon wieder frisch und bereit,
weiterzuziehen. Ich danke dir.”
Maria fühlte sich beleidigt. Sowas war noch nie dagewesen. Ja,
sie hatte bisher noch nie einen Mann eingeladen. Die Männer
kamen von weit her, um auch nur einen Blick von ihr zu erha-
schen. Selbst Könige suchten sie auf, und dieser Bettler lehnte
dankend ab! Jesus war nur ein Bettler, ein Vagabund, einfach ein
Hippie, und er lehnte sie ab. Da sagte Maria zu Jesus: „Kannst du
etwa meine Liebe nicht fühlen? Ich lade dich zur Liebe ein.
Komm also! Weise mich nicht ab. Hast du denn keine Liebe im
Herzen?”
Jesus sagte zu ihr: „Ich liebe dich auch. Und wirklich: Alle, die
vorgeben, dich zu lieben, lieben dich nicht.” Er sagte: „Nur ich
kann dich lieben.” Und er hatte recht. Aber diese Liebe hat eine
andere Qualität. In dieser Liebe steckt keine polare Gegenseite,
kein Kontrast. Damit fehlt ihr die Spannung: Die Aufregung fehlt.
Die Liebe erregt ihn nicht, macht ihn nicht heiß. Und Liebe ist
für ihn keine Beziehung, sie ist ein Seinszustand.
Geh über den Geist hinaus; erreiche eine Schicht des Nicht-
Geistes. Dann blüht die Liebe auf, aber diese Liebe hat kein Ge-
genteil mehr. Jenseits von Geist gibt es für nichts mehr ein Ge-
genteil. Jenseits des Geistes ist alles eins. Innerhalb des Geistes ist
alles in zwei Seiten gespalten. Aber solange du dich innerhalb des
Geistes bewegst, ist es besser, authentisch zu sein als verlogen.
;E

31 6
Kapitel 12

Sei also authentisch, wenn du auf deinen Geliebten oder deine


Geliebte wütend bist, sei authentisch, während du wütend bist,
und wenn dann, ohne daß du etwas verdrängt hast, der Augen-
blick der Liebe kommt, wenn der Geist zum anderen Extrem
geht, wird dein Energiestrom ungehindert sein. Solange also Geist
da ist, akzeptiere den Konflikt als dazugehörig. Die ganze Dyna-
mik des Geistes besteht darin, in polaren Gegensätzen zu arbei-
ten. Sei also authentisch in der Wut, sei authentisch in deinem
Kampf. Wenn du das kannst, bist du auch in der Liebe authen-
tisch. Den Liebenden also empfehle ich: Seid authentisch! Und
wenn ihr wirklich authentisch seid, wird sich ein einmaliges Phä-
nomen einstellen. Irgendwann habt ihr dieses unsinnige Hin und
Her zwischen den polaren Gegensätzen satt. Aber seid authen-
tisch: Sonst habt ihr es niemals satt! Ein unterdrückter Mensch
wird sich niemals bewußt, daß er sich in der Zange polarer Ge-
gensätze befindet. Er ist niemals wirklich wütend, er liebt niemals
wirklich. Und so erfährt er niemals, was der Geist eigentlich ist.
Darum empfehle ich euch: Seid authentisch. Seid nicht falsch. Seid
wirklich. Und das Authentische hat seine eigene Schönheit. Dein
Geliebter, deine Geliebte wird verstehen, wenn du wirklich wü-
tend bist, authentisch wütend. Nur eine falsche Wut oder eine
falsche Nicht-Wut ist unverzeihlich. Nur ein falsches Gesicht ist
unverzeihlich. Sei authentisch, und dann wirst du auch in der Lie-
be authentisch sein. Diese authentische Liebe wird alles wettma-
chen, und durch dieses authentische Leben wirst du allmählich
müde. Du wirst dich zu fragen beginnen, was du eigentlich
machst — warum du dich immer nur wie ein Pendel von einem
Pol zum anderen bewegst. Du wirst gelangweilt sein, und nur
dann kannst du dich entschließen, über den Geist hinauszugehen
und damit über die Polarität.
Sei ein authentischer Mann oder eine authentische Frau. Laß
keine Verlogenheit zu: täusche nichts vor. Sei wirklich, und er-
dulde die Wirklichkeit. Leiden ist gut, Leiden ist wirklich ein Trai-
ning, eine Schulung. Erleide es! Erleide die Wut, und erleide die
Liebe, und erleide den Haß. Vergiß nur eines nicht: Sei niemals
falsch. Wenn du keine Liebe fühlst, dann sage, daß du keine Lie-
be fühlst. Versuche nicht, vorzutäuschen, daß du liebst. Wenn du

31 7
Das Buch der Geheimnisse

wütend bist, dann sage, daß du wütend bist — und sei es auch.
Es wird viel Leid geben, aber erleide es. Durch dieses Leiden
wird ein neues Bewußtsein geboren. Dir wird bewußt, was für ein
Unsinn dieser Haß und diese Liebe ist. Du haßt den gleichen
Menschen, den du auch liebst, und du drehst dich immer im Krei-
se. Dieser Kreis wird dir kristallklar werden, und kristallklar wird
er nur, wenn du leidest.
Weiche dem Leiden nicht aus. Was du brauchst, ist ein wirkli-
ches Leiden. Es ist wie ein Feuer, es wird dich verbrennen. Und
alles was falsch ist, wird verbrennen, und alles was echt ist, wird
bleiben. Das ist es, was die Existentialisten „Authentizität” nen-
nen. Sei authentisch, und dann kannst du nicht mehr länger im
Geist bleiben. Sei nicht authentisch, und du wirst viele Leben lang
ein Gefangener des Geistes bleiben.
Du bekommst die Dualität allmählich satt. Aber wie kann man
der Dualität überdrüssig werden, wenn man heuchelt, anstatt
tatsächlich in der Dualität zu leben? Erst dann wirst du erkennen,
daß die sogenannte Liebe eine Krankheit ist.
Habt ihr beobachtet, daß ein verliebter Mensch nicht schlafen
kam? Er ist nicht entspannt, er hat Fieber. Wenn man ihn unter-
sucht, wird er die Symptome von vielen Krankheiten aufweisen.
Diese Liebe, die sogenannte Liebe von Geist und Körper, ist in
Wirklichkeit eine Krankheit, aber sie hält dich auf Trab. Das ist
ihre Funktion. Denn sonst hättest du nichts zu tun, es gäbe über-
haupt nichts auf der Welt zu tun. Dein ganzes Leben würde dir
leer erscheinen, und so taugt die Liebe gut dazu, es auszufüllen.
Der Geist selbst ist die Krankheit, und damit ist alles, was zum
Geist gehört, eine Krankheit. Nur jenseits des Geistes, wo du nicht
in Dualität gespalten bist, wo du eins bist, nur dort wird eine an-
dere Liebe aufblühen.
Jesus nennt es Liebe, Buddha nennt es Mitgefühl. Das sind nur
verschiedene Bezeichnungen. Es ist egal, wie man es nennt. Es
gibt eine Liebe, die kein Gegenteil kennt, aber jene Liebe kann
nur dann kommen, wenn du über diese Liebe hinausgehst. Und
um über sie hinauszugehen, empfehle ich euch, authentisch zu
sein, empfehle ich Authentizität, echt zu sein. Seid authentisch im
Haß, in der Liebe, in der Wut, in allem. Seid wirklich und macht

31 8
Kapite112

euch nichts vor, denn nur eine Wirklichkeit kann transzendiert


werden. Unwirkliche Dinge könnt ihr nicht transzendieren.

31 9
Auf das innere Zentrum stoßen
(Sutras]

18. Blicke liebevoll auf irgendeinen Gegenstand. Schweife nicht


zu einem anderen Gegenstand ab. Hier, mitten im Gegenstand —
die Segnung

19. Ohne Unterstützung für Hände oder Füße sitze nur auf dem
Gesäß. Plötzlich — das Zentrum.

20. Wiege dich rhythmisch, während du in einem Fahrzeug fährst —


und erfahre! Oder in einem stillstehenden Gefährt, indem du dich
kreisen läßt in langsamer werdendem unsichtbaren Kreisen.

21. Steche mit einer Nadel in irgendeinen Teil deiner nektar-


gefüllten Form, geh dann vorsichtig in dieses Stechen hinein und
erreiche die innere Reinheit.

32 1
Das Buch der Geheimnisse

Der menschliche Körper ist ein mysteriöser Mechanismus. Er


funktioniert zweidimensional. Nach außen hin geht dein Be-
wußtsein durch die Sinne, um der Welt zu begegnen, um der Ma-
terie zu begegnen. Aber das ist nur die eine Dimension, in der
dein Körper funktioniert. Dein Körper hat auch noch eine ande-
re Dimension: eine, die dich nach innen führt. Geht das Bewußt-
sein nach außen, ist alles, was du erkennst, Materie. Geht das Be-
wußtsein nach innen, ist alles, was du erkennst, Nicht-Materie.
In Wirklichkeit gibt es da keine Trennung: Materie und Nicht
Materie sind eins. Aber diese Realität, dieses X, erscheint als Ma-
terie, wenn sie durch die Sinne betrachtet wird, durch die Augen.
Wird die gleiche Realität, das gleiche X, von innen her betrachtet
— also nicht durch die Sinne, sondern durch Zentrierung — dann
erscheint sie als Nicht-Materie. Die Realität ist eins, aber du
kannst auf zweierlei Weise auf sie blicken. Die eine geht durch
die Sinne, die andere nicht durch die Sinne. Alle diese Techniken
des Zentrierens sind in Wirklichkeit dazu da, dich zu einem in-
neren Punkt hinzuführen, wo die Sinne nicht mehr funktionie-
ren, wo du über die Sinne hinausgehst.
Drei Dinge müssen zunächst verstanden werden, ehe wir in
diese Techniken einsteigen. Erstens: Wenn ihr durch die Augen
seht, sind es nicht die Augen, die sehen: Das sind nur Sehschlitze.
Der Sehende befindet sich hinter den Augen. Das, was durch die
Augen blickt, sind nicht die Augen. Darum kann man die Augen
schließen und trotzdem noch Träume, Visionen, Bilder sehen.
Der Sehende ist hinter den Sinnen: Durch die Sinne geht er in die
Welt. Aber wenn du deine Sinne verschließt, bleibt der Seher in-
nen. Wenn der Seher, dieses Bewußtsein, zentriert ist, wird er sich
plötzlich seiner selbst bewußt. Und wenn du dir deiner selbst be-
wußt bist, bist du dir der ganzen Schöpfung bewußt, weil du und
die Schöpfung nicht zweierlei sind. Aber um sich seiner selbst be-
wußt zu werden, braucht man Zentrierung, und mit „Zentrie-
rung” meine ich, daß dein Bewußtsein nicht in viele Richtungen
aufgefächert wird, daß es nirgendwohin geht, daß es in sich selbst
bleibt, unbewegt, verwurzelt, ohne Richtung. Einfach dort bleibt,
wo es ist: innen.
Es scheint schwierig, innen zu bleiben; denn unser Denken

322
Kapitel 13

macht schon aus diesem Gedanken: „Wie bleibe ich innen?”, ein
Hinausgehen. Wir fangen zu denken an; das Wie fängt zu den-
ken an. Über Innen, das Innere nachzudenken, ist für uns auch
nur ein Gedanke, und jeder Gedanke als solcher gehört der
Außenwelt, niemals der Innenwelt an, weil du im innersten Zen-
trum reine Bewußtheit bist.
Gedanken sind wie Wolken. Sie kommen zu dir, aber gehören
nicht zu dir. Jeder Gedanke kommt von außen. Du kannst nicht
einen einzigen Gedanken innen erzeugen. Jeder Gedanke kommt
von außen. Es gibt keine Möglichkeit, einen Gedanken im Inne-
ren zu erzeugen. Gedanken sind wie Wolken, die zu dir kommen.
Wann immer du also denkst, bist du nicht innen — nicht verges-
sen! Denken heißt, außerhalb sein. Selbst also wenn du über das
Innere, die Seele, das Selbst nachdenkst, bist du nicht innen.
All diese Gedanken über das Selbst, über das Innere, über das
Innen stammen von außen: Sie gehören nicht zu dir. Zu dir gehört
nichts als einfaches Bewußtsein, wie der Himmel ohne Wolken.
Was also tun? Wie zu diesem einfachen Bewußtsein im Inneren
gelangen? Es sind Hilfsmittel nötig, weil du nicht direkt etwas tun
kannst. Hilfsmittel sind nötig, durch die du nach innen geworfen
wirst, darauf gestoßen wirst. Dies Zentrum kann immer nur in-
direkt angegangen werden, es gibt keinen direkten Zugang. Ver-
steh dies ganz klar, denn das ist sehr grundlegend.
Du spielst, und hinterher sagst du, wie schön es war, „wie gut
ich mich gefühlt habe, wie selig ich war”! Es bleibt ein un-
merkliches Glücksgefühl zurück. Jemand hört dich: er ist auch
darauf aus, glücklich zu sein -jeder ist es. Er sagt: Dann muß
ich auch spielen, denn wenn man durch Spielen glücklich wird,
dann muß ich es auch werden. Er spielt also auch: aber ihm
geht es direkt ums Glück, um Seligkeit, um Freude. Glück ist
aber nur eine Nebenerscheinung. Wenn du total bei deinem
Spiel bist, völlig versenkt, ist Glück die Folge. Aber wenn du
dabei ständig nach dem Glück schielst, passiert nichts. Das Spie-
len ist der Auslöser.
Du hörst Musik. Jemand sagt: „Musikhören macht mich ganz
selig”, aber wenn du dauernd ans Glück denkst, kannst du die
Musik nicht einmal hören. Diese Sorge, diese Gier nach Glück

323
Das Buch der Geheimnisse

wird zur Schranke. Das Glücksgefühl ist ein Nebenprodukt. Du


kannst nicht direkt danach greifen. Es ist so zart, daß du es nur in-
direkt angehen kannst. Tu etwas anderes — und es geschieht. Du
kannst es nicht direkt „machen”. Alles Schöne, alles Ewige ist so
zart, daß du es zerstörst, wenn du direkt danach greifst. Darum
sind Techniken und Hilfsmittel wichtig. Diese Techniken schrei-
ben dir immer etwas vor. Das, was du tust, ist nicht wichtig: wich-
tig ist, was dabei herauskommt. Aber deine Gedanken müssen mit
dem Tun beschäftigt sein, mit der Technik, nicht mit dem Ergeb-
nis. Das Ergebnis passiert: Es muß kommen. Aber es kommt im-
mer nur indirekt. Beschäftige dich also nicht mit dem Ergebnis,
beschäftige dich mit der Technik. Mach sie so total wie möglich,
und vergiß das Ergebnis. Es kommt; aber du kannst dich ihm auch
in den Weg stellen.
Wenn du dich nur mit dem Ergebnis beschäftigst, dann tritt es
nie ein. Und dann weißt du nicht mehr, was los ist. Es kommen
Leute zu mir und sagen: „Du hast gesagt, wenn wir diese Me-
ditation machen, dann passiert dies und das. Aber wir tun es, und
dies und das passiert nicht.” Und sie haben recht. Nur haben sie
die Bedingung vergessen: Man muß das Ergebnis vergessen, nur
dann tritt es ein. Du mußt total in deinem Tun sein. Je mehr du
dann aufgehst, desto eher tritt das Ergebnis ein. Aber es kommt
i mmer indirekt. Du kannst da nicht aggressiv sein, kannst nicht
gewaltsam vorgehen. Es ist ein so zartes Phänomen, daß es sich
nicht „in Angriff nehmen” läßt. Es kommt nur zu dir, während du
irgendwo anders so total engagiert bist, daß dein innerer Raum
leer ist. Diese Techniken sind alle indirekt. Es gibt für das spiritu-
elle Ereignis keine direkte Technik.

Und nun die Technik, die sechste Technik zur Zentrierung:

Blicke liebevoll auf irgendeinen Gegenstand. Schweife nicht zu


einem anderen Gegenstand ab. Hier, mitten im Gegenstand —
die Segnung

Ich wiederhole es am besten noch einmal: „Blicke liebevoll auf


irgendeinen Gegenstand. Schweife nicht zu einem anderen ab.”

324
Kapitel 13

Wandere zu keinem anderen Gegenstand. „Hier, mitten im Ge-


genstand — die Segnung!”
„Blicke liebevoll auf irgendeinen Gegenstand— ” „Liebevoll” —
das ist der Schlüssel. Hast du jemals liebevoll auf irgendeinen Ge-
genstand geblickt? Du magst vielleicht ja sagen, weil du nicht
weißt, was es bedeutet, voller Liebe auf einen Gegenstand zu
blicken. Du magst voller Lust auf einen Gegenstand geblickt ha-
ben — das ist etwas anderes. Das ist total anders, diametral entge-
gengesetzt. Erst also der Unterschied: Versucht, den Unterschied
herauszufühlen.
Ein schönes Gesicht, ein schöner Körper ... du blickst darauf,
und du meinst, voller Liebe darauf zu blicken. Aber warum blickst
du darauf? Versprichst du dir irgendeinen Gewinn daraus? Dann
ist es Lust, nicht Liebe. Möchtest du es ausnutzen? Dann ist es
Lust, nicht Liebe. Dann denkst du in W irklichkeit daran, wie du
diesen Körper nutzen kannst, wie du ihn besitzen kannst, wie du
diesen Körper zu einem Instrument deines Glücks machen kannst.
Lust heißt, etwas zum Zwecke deines Glücks gebrauchen. Lie-
be heißt, daß es überhaupt nicht um dein Glück geht. Im Gegen-
teil: Lust bedeutet, etwas zu bekommen, und Liebe bedeutet, et-
was zu geben. Sie sind genau entgegengesetzt.
Wenn du ein schönes Gesicht siehst und Liebe empfindest,
wird deine erste Bewußtseinsregung sein, was du tun kannst, um
dieses Gesicht glücklich zu machen. Was du tun kannst, um die-
sen Mann oder diese Frau glücklich zu machen. Du bist nicht um
dich selbst besorgt, deine Sorge gilt dem andern.
In der Liebe ist der andere wichtig: In der Lust bist du wichtig.
Die Lust denkt darüber nach, wie man den andern zu seinem In-
strument machen kann. Liebe denkt darüber nach, wie man selbst
zum Instrument werden kann. In der Lust opfert man den an-
dern; in der Liebe opfert man sich selbst-. Liebe heißt Geben; Lust
heißt Bekommen. Liebe ist Selbstaufgabe, Lust ist Aggression.
Was du sagst, ist unwichtig. Selbst in der Lust redet ihr die Spra-
che der Liebe. Was ihr sprecht, hat wenig Bedeutung. Laßt euch
also nicht täuschen. Schaut nach innen, und ihr werdet feststellen,
daß ihr im Leben noch nie auf jemanden oder etwas voller Liebe
geblickt habt.

32 5
Das Buch der Geheimnisse

Und die zweite Unterscheidung, dies Sutra sagt: „Blicke liebe-


voll auf irgendeinen Gegenstand.” Wenn du wirklich voller Liebe
auf etwas Stoffliches, Fühlloses blickst, wird dieser Gegenstand zu
einem Lebewesen. Wenn du liebevoll darauf blickst, wird deine
Liebe ein Schlüssel, der alles menschlich macht. Wenn du voller
Liebe auf einen Baum blickst, wird der Baum zum Menschen.
Erst gestern sprach ich mit Vivek darüber, daß wir in dem neu-
en Ashram jedem Baum einen Namen geben werden. Denn jeder
Baum ist ein Mensch. Habt ihr je davon gehört, daß Bäume Na-
men bekommen? Niemand benennt einen Baum, weil niemand
Liebe für ihn empfindet. Wäre es anders, würde der Baum zum
Menschen. Dann ist er nicht nur einer unter vielen — er wird un-
verwechselbar.
Ihr gebt Katzen und Hunden Namen. Wenn ihr einen Hund
tauft, nennt ihr ihn Tiger oder sonst was, und macht eine Person
aus ihm. Nun ist er kein Hund unter anderen Hunden mehr, er
hat eine Persönlichkeit. Ihr habt eine Person geschaffen. Wann
immer ihr voll Liebe auf etwas blickt, wird eine Person daraus.
Und das Umgekehrte ist auch der Fall: Wenn ihr mit Augen
voller Lust auf eine Person blickt, wird ein Gegenstand daraus,
ein Ding. Wenn du deine Frau mit Augen voller Lust anblickst
oder irgendeine andere Frau, irgendeinen Mann, fühlt sich der
andere verletzt. Was machst du wirklich? Du machst aus einem
Menschen, einem lebenden Menschen ein totes Werkzeug. Du
denkst daran, wie du ihn benutzen kannst, und damit bringst du
ihn um.
Darum sind lustvolle Augen abstoßend und häßlich. Wenn du
jemanden mit Liebe anblickst, erhöhst du den anderen. Er wird
einmalig. Plötzlich wird er zum Menschen.
Ein Mensch ist unverwechselbar; ein Ding ist auswechselbar.
Ein „Ding” heißt: etwas, das auswechselbar ist. Ein „Mensch”
heißt: das, was nicht auswechselbar ist. Es gibt keine Möglichkeit,
ihn oder sie zu ersetzen. Ein Mensch ist einmalig, ein Ding ist
nicht einmalig.
Und Liebe macht alles einmalig. Darum fühlt man sich ohne
Liebe auch nie wie ein Mensch. Außer wenn dich jemand tief
liebt, hast du nie das Gefühl, irgendwie einmalig zu sein. Du bist

326
"T

Kapite113

nur einer aus der Masse; eine Nummer, ein Computer-Datum.


Du bist ersetzbar.
Wenn du zum Beispiel ein Angestellter im Büro bist oder ein
Lehrer in der Schule oder ein Professor an der Universität, dann
ist dein Lehrstuhl auswechselbar. Ein anderer Professor kann drauf
sitzen: Er kann dich jederzeit ersetzen, weil du nur als Professor
gebraucht wirst. Du hast nur einen funktionalen Wert und Zweck.
Wenn du ein Angestellter bist, kann leicht ein anderer deine
Arbeit tun. Die Arbeit ist nicht auf dich angewiesen. Wenn du in
diesem Augenblick stirbst, wird ein anderer dich ersetzen, und der
Mechanismus geht weiter. Du warst nur eine Nummer: eine an-
dere Nummer tut`s auch. Du warst nur ein Gebrauchsgegenstand.
Und dann verliebt sich jemand in diesen Angestellten oder in
diesen Professor. Jetzt ist der Angestellte kein Angestellter mehr,
sondern ein unverwechselbarer Mensch. Wenn er stirbt, kann ihn
der Mensch, der ihn liebt, nicht ersetzen. Dann kann die ganze
Welt weitergehen wie zuvor aber der eine Mensch, der ihn lieb-
te, kann nicht der gleiche bleiben. Diese Einmaligkeit, dies Ein-
Mensch-Sein, geschieht durch Liebe.
Dies Sutra sagt: „Blicke liebevoll auf irgendeinen Gegenstand.”
Es ist egal, ob Gegenstand oder Mensch. Das ist deshalb egal, weil
alles zum Menschen wird, worauf du voller Liebe blickst. Der
Blick selber verändert, transformiert.
Ihr habt vielleicht noch nicht beobachtet, was passiert, wenn
man einen bestimmten Wagen fährt, sagen wir einen Fiat. Es gibt
Tausende und aber Tausende von Fiats, einer wie der andere, aber
dein Wagen, wenn du in ihn verliebt bist, wird einmalig — zur Per-
son, unersetzlich. Eine Beziehung entsteht. Für dein Gefühl ist
dieser Wagen jetzt ein Mensch. Wenn etwas nicht ganz stimmt —
du hörst schon das kleinste Geräusch! Und Autos sind sehr lau-
nisch. Du kennst die Laune deines Autos — wann er sich wohl-
fühlt und wann nicht. Das Auto wird nach und nach zur Person.
Warum? Weil durch eine Liebesbeziehung alles zur Person
wird. Und in einer Lustbeziehung wird der Mensch zum Ding.
Und das gehört zum Unmenschlichsten, das ein Mensch tun
kann: jemanden zum Ding machen.
„Blicke liebevoll auf irgendeinen Gegenstand ...” Was muß

32 7
Das Buch der Geheimnisse

man also tun? Was mußt du tun, um voller Liebe zu blicken? Das
erste: dich vergessen. Vergiß dich völlig. Blick auf eine Blume und
vergiß dich völlig. Laß die Blume da sein. Du wirst völlig abwe-
send. Fühle die Blume, und eine tiefe Liebe wird dieser Blume
aus deinem Bewußtsein entgegenströmen. Und laß dein Be-
wußtsein von einem einzigen Gedanken erfüllt sein — wie du die-
ser Blume dabei helfen kannst, noch mehr zu blühen, noch schö-
ner zu werden, noch seliger zu werden. Was kannst du für sie tun?
Es kommt nicht darauf an, ob du wirklich etwas tun kannst; dar-
um geht es nicht. Worauf es ankommt„ ist dies Gefühl, etwas tun
zu wollen — dieser Schmerz, dieses tiefe Weh, etwas tun zu wol-
len, das diese Blume schöner, lebendiger; blühender macht. Laß
diesen Gedanken in deinem ganzen Wesen widerhallen. Fühle es
mit jeder Faser deines Körpers und deines Geistes. Du wirst dich
in Ekstase wiederfinden, und die Blume ist zum Menschen ge-
worden.
„Schweife nicht zu einem anderen Gegenstand ab " Du
kannst gar nicht. Wenn du in einer Liebesbeziehung bist, kannst
du das gar nicht. Wenn du einen Menschen in dieser Zuhörer-
schaft liebst, dann vergißt du die ganze Menge; nur ein Gesicht
bleibt. Wirklich, du siehst niemanden sonst, du siehst nur ein Ge-
sicht. All die anderen sind auch da, aber unterschwellig, nur ganz
am Rande deines Bewußtseins. Sie sind nicht, sind Schatten. Nur
ein Gesicht bleibt. Wenn du jemanden liebst, bleibt einfach nur
dieses eine Gesicht. Also kannst du gar nicht abschweifen.
Wandere zu keinem anderen Gegenstand ab: bleibe bei einem.
Bleibe bei der Rosenblüte oder bei dem Gesicht der Geliebten.
Bleibe dort, voller Liebe, fließend mit ungeteiltem Herzen, mit
dem Gefühl: „Was kann ich tun, um diese Geliebte glücklicher,
seliger zu machen?”

„ ... Hier, mitten im Gegenstand — die Segnung. Und wenn
dies eintritt, dann bist du abwesend, überhaupt nicht mehr mit dir
beschäftigt, ohne jeden Gedanken an dein Vergnügen, an deine
Befriedigung. Du hast dich völlig selbst vergessen und denkst nur
noch an den anderen. „Der andere” ist zum Mittelpunkt deiner
Liebe geworden: Dein Bewußtsein fließt dem andern zu. Du
denkst an es mit einem tiefen Gefühl, mit einer tiefen Liebe. ,Wie

328
Kapite113

kann ich diese Geliebte seliger machen?" In diesem Zustand,


plötzlich -„hier, mitten im Gegenstand — die Segnung". Plötzlich,
als Seiteneffekt, überkommt dich die Segnung. Plötzlich bist du
zentriert.
Das erscheint paradox, weil dies Sutra sagt, daß du dich ganz
vergessen sollst — also nicht auf dich selbst zentriert bist, sondern
ganz auf das andere verlagert. Buddha soll gesagt haben, wenn du
betest, sollst du für andere beten, niemals für dich selbst. Sonst ist
Beten einfach sinnlos.
Es kam ein Mann zu Buddha und sagte: „Ich akzeptiere deine
Lehre, nur eines finde ich sehr schwer zu akzeptieren. Du sagst,
daß wir beim Beten nie an uns selbst denken dürfen, nie etwas
für uns selbst erbitten dürfen. Wir müssen sagen: was immer das
Ergebnis meines Gebets, laß es allen zuteil werden. Wenn die Seg-
nung kommt, laß sie allen zukommen.”`
Der Mann sagte: „Das ist ja okay; aber darf ich wenigstens eine
Ausnahme machen? Ich will nicht, daß mein Nachbar etwas be-
kommt, der ist mein Feind. Mag der Segen an alle verteilt wer-
den, nur nicht an meinen Nachbarn.”
Der Kopf ist selbstsüchtig; Buddha sagte: „Solches Beten ist
zwecklos. Es wird kein Segen dabei herauskommen, solange du
nicht bereit bist, ihn an alle zu geben, alles auszuteilen. Nur so
wird er dein sein.” In der Liebe mußt du dich selbst vergessen.
Das erscheint paradox: Wie und wann soll dann das Zentrieren
geschehen? Wenn du total beim andern bist, vertieft in das Glück
des andern, und du hast dich selbst vergessen und nur noch der
andere ist da — plötzlich wirst du vom Glück erfüllt — „die Seg-
nung”.
Warum? Weil du, wenn du nicht mit dir beschäftigt bist, völlig
leer und frei wirst. Der innere Raum ist nun da. Wenn dein Geist
völlig mit dem andern beschäftigt ist, kannst du innen ohne Geist
sein. Dann gibt es in dir keinen Gedanken mehr. Und nun kann
sich auch dieser Gedanke —,Wie kann ich helfen? Wie kann ich
die Seligkeit des andern vermehren? Wie kann ich den anderen
glücklicher machen?` — nicht mehr halten, weil es nämlich in
Wirklichkeit gar nichts gibt, was du tun könntest. Dieser Gedan-
ke führt zum Stillstand. Du kannst nichts tun! Was denn? Wenn

329
Das Buch der Geheimnisse

du glaubst, etwas tun zu können, dann denkst du immer noch Ge-


danken der Selbstsucht — Ego!
Vor dem Gegenstand seiner Liebe wird man völlig hilflos; ver-
geßt das nicht. Jedesmal, wenn du jemanden liebst, fühlst du dich
absolut hilflos. Das ist die Agonie der Liebe: Man weiß nicht, was
man tun soll. Man möchte alles tun, das ganze Universum dem
Geliebten zu Füßen legen, aber was kann man schon tun? Solan-
ge du glaubst, noch dies oder jenes tun zu können, ist es keine
wirkliche Liebe, Liebe ist sehr hilflos, absolut hilflos, und gerade
diese Hilflosigkeit ist das Schöne an ihr, denn in dieser Hilflosig-
keit bist du ausgeliefert.
Liebe jemanden, und du wirst dich hilflos fühlen; hasse jeman-
den, und du wirst etwas tun. Liebe jemanden, und du bist abso-
lut hilflos — denn was kannst du tun? Was immer du tun kannst,
erscheint unbedeutend, sinnlos. Es ist nie genug. Es kann nichts
getan werden. Wenn man alles tun möchte und fühlt, daß nichts
getan werden kann, steht der Geist still. In solch einer Hilflosigkeit
geschieht die Selbstaufgabe. Du bist leer. So wird Liebe zu tiefer
Meditation.
Wirklich, wenn du jemanden liebst, ist keine andere Medita-
tion nötig. Nur weil kein Mensch liebt, sind 112 Methoden
nötig, und selbst das mag nichts bringen. Erst vor ein paar Tagen
kam jemand her und sagte: „Das gibt mir große Hoffnung! Ich
hörte das zum erstenmal von dir, daß es 112 Methoden gibt.
Das gibt mir Hoffnung, obwohl sich da irgendwo auch eine
böse Ahnung mit einschleicht. Nur 112 Methoden? Und wenn
nun diese 112 bei mir nicht anschlagen, gibt es keine hundert-
dreizehnte?” Und er hat recht, absolut recht! Wenn diese 112
Methoden nicht anschlagen, dann ist Schluß. Und so schleicht,
wie er ganz richtig sagt, hinter der Hoffnung eine gewisse Nie-
dergeschlagenheit her. Aber in Wirklichkeit sind Methoden nur
nötig, weil die eigentliche Methode fehlt. Wer liebt, braucht
keine Methode.
Liebe an sich ist die größte Methode; aber Liebe ist schwer —
geradezu unmöglich. Liebe bedeutet, daß du dich selbst aus dei-
nem Bewußtsein entfernst und an die Stelle, wo dein Ego exi-
stierte, einen anderen setzt. Dich selbst durch einen anderen zu

330
Kapitel 13

ersetzen, das bedeutet Liebe: so, als wärest du jetzt nicht mehr,
und nur der andere ist.
Jean-Paul Sartre sagt: „Der andere ist die Hölle.” Und er hat
recht. Er hat recht: denn der andere macht dir nur das Leben zur
Hölle. Aber er hat auch wieder nicht recht, insofern der andere,
gerade weil er die Hölle sein kann, auch der Himmel sein kann.
Wenn du nur der Lust wegen lebst, wird der andere zur Hölle,
denn dann versuchst du den anderen zu töten. Dann willst du aus
ihm ein Ding machen. Und der andere wird natürlich reagieren
und seinerseits versuchen, ein Ding aus dir zu machen — und so
geht die Hölle los.
Und so machen sich alle Eheleute die Hölle heiß, weil jeder den
andern besitzen will. Aber du kannst nur Dinge besitzen — nie-
mals Menschen. Du kannst nur von einem Menschen besessen
sein, aber nie einen Menschen besitzen. Ein Ding kann Besitz
sein, aber ihr versucht Menschen zu besitzen! Dabei werden die
Menschen zu Dingen. Wenn ich ein Ding aus dir mache, wirst du
reagieren. Dann bin ich dein Feind. Und dann wirst du ein Ding
aus mir machen wollen. Was dabei herauskommt, ist die Hölle.
Du sitzt allein in deinem Zimmer, und plötzlich merkst du, wie
jemand durchs Schlüsselloch guckt. Beobachte nun genau, was
passiert. Fühlst du eine Veränderung? Und warum ärgert dich die-
ser Schlüssellochgucker so? Er tut dir nichts — er guckt nur. War-
um bist du wütend? Er hat aus dir ein Ding gemacht! Er beob-
achtet: Er hat dich zum Objekt gemacht, zu einem Gegenstand.
Das ist dir unbehaglich.
Und ihm geht es genauso, wenn du nun ans Schlüsselloch gehst
und ihn beäugst. Er wird erschüttert, schockiert sein. Eben noch
war er ein Subjekt: Er war der Beobachter, und du warst der Be-
obachtete. Jetzt plötzlich ist er ertappt worden; nun wird er be-
obachtet, während er dich beobachtet, und nun ist er zum Ding
geworden.
Plötzlich fühlst du deine Freiheit beschnitten, zerstört; du wirst
beobachtet. Deshalb kannst du nur dann jemanden lange an-
schauen, wenn du ihn liebst. Ohne Liebe ist Anstarren häßlich
und gewaltsam. Wenn du liebst, dann ist etwas sehr Schönes dar-
an, denn dein langer Blick macht aus dem anderen kein Ding.

331
Das Buch der Geheimnisse

Dann kannst du ihm direkt in die Augen schauen; dann kannst du


tief in die Augen des anderen hineingehen. Du machst den ande-
ren nicht zum Ding, sondern umgekehrt macht ihn dein Blick
voller Liebe zu einem Menschen. Darum ist ein langer Blick nur
bei Liebenden schön. Alles andere Starren ist häßlich. Die Psy-
chologen sagen, daß es da eine Zeitgrenze gibt, die ihr alle kennt:
beobachtet es einmal, und ihr werdet feststellen, wo genau die
Zeitgrenze liegt, wie lange man in die Augen eines Fremden star-
ren kann. Es gibt eine Zeitgrenze. Noch ein Bruchteil einer Se-
kunde länger, und der andere wird ärgerlich. Ein streifender Blick
kann in der Öffentlichkeit verziehen werden, denn das kann als
bloßes Sehen, nicht als Blick gewertet werden. Ein Blick ist etwas
Tiefes. Wenn ich dich beim Vorübergehen nur ansehe, wird kei-
ne Beziehung hergestellt. Oder wenn ich vorbeigehe, und du
siehst mich an, einfach so im Vorbeigehen, dann wolltest du mir
nicht zu nahe treten, also ist es okay. Aber wenn du plötzlich ste-
hen bleibst und mich anblickst, wirst du ein Beobachter. Dann
wird mich dein Blick stören, und ich fühle mich beleidigt. Was
fällt dir ein? Ich bin ein Mensch, kein Ding. So darf man doch
nicht blicken!
Hieran liegt es, daß Kleider so wichtig geworden sind. Nur mit
jemandem, den du liebst, kannst du ungezwungen nackt sein, weil
dein ganzer Körper zum Gegenstand wird, sobald du nackt bist.
Der ganze Körper wird zum Gegenstand. Jemand kann sich dei-
nen ganzen Körper ansehen, und wenn er dich dabei nicht hebt,
dann machen seine Augen dich, deinen ganzen Körper, dein
ganzes Wesen zum Objekt. Der ganze Körper wird zum Ding.
Aber wenn du jemanden liebst, kannst du in seiner Gegenwart
nackt sein, ohne dir nackt vorzukommen. Ja, du bist sogar viel lie-
ber nackt, weil du jetzt möchtest, daß diese transformierende Lie-
be dich mit deinem ganzen Körper zum Menschen macht. Wann
i mmer du einen Menschen zum Ding machst, ist der Akt unmo-
ralisch. Wenn du aber von Liebe erfüllt bist — egal, worauf sie sich
richtet — dann wird in diesem von Liebe erfüllten Augenblick die-
ses Phänomen, dieser Segen möglich. Es geschieht einfach.
„ ... mitten im Gegenstand, die Spannung.” Plötzlich hast du
dich ganz vergessen; nur noch das andere ist da. Dann, wenn der

332
Kapitel 13

richtige Augenblick da ist, wenn du nicht mehr anwesend bist, ab-


solut abwesend bist, dann verschwindet auch das andere. Und
zwischen diesen beiden Abwesenheiten geschieht die Segnung.
Das ist es, was Liebende erfahren. Diese Segnung kommt aus ei-
ner unbekannten, ungewollten Meditation.
Wo es zwei Liebende gibt, da werden beide nach und nach ab-
wesend. Es bleibt ein reines Dasein zurück, ohne jedes Ego, ohne
jeden Konflikt — eine reine Kommunion. In dieser Kommunion
fühlt man sich selig. Wir machen den Trugschluß, daß uns diese
Seligkeit vom anderen gegeben wird. Diese Seligkeit stellt sich
deshalb ein, weil ihr unabsichtlich in eine tiefe Meditationstechnik
geratet.
Man kann sie auch ganz bewußt machen — und wenn man es
bewußt tut, geht es tiefer, denn dann ist man nicht vom Objekt
besessen. Das geschieht jeden Tag. Wenn du jemanden liebst,
fühlst du dich selig, nicht deinet- oder ihretwegen, sondern der
Liebe wegen. Und warum der Liebe wegen? Weil dies Phänomen
passiert — das, was dies Sutra sagt.
Aber ihr werdet besessen dabei und denkt, daß es an A liegt,
daß wegen Ns Nähe, wegen As Liebe der Segen geschieht. Und
dann denkst du: „Ich muß A besitzen, denn wenn A nicht da ist,
kann ich diesen Segen nicht wiederempfinden.” Du wirst eifer-
süchtig. Wenn ein anderer A besitzt, dann ist er selig und dir ist
elend. Und so willst du jede Möglichkeit ausschalten, daß A von
einem anderen Menschen besessen wird. A darf nur dir gehören,
denn durch A hast du eine andere Welt erahnen können. Und so
zerstörst du im gleichen Augenblick, wo du A zu besitzen ver-
suchst, die ganze Schönheit und das ganze Phänomen. Sobald der
geliebte Mensch zu Besitz wird, ist die Liebe fort. Nun ist der Ge-
liebte nur noch ein Ding. Du kannst ihn ausnutzen, aber der Se-
gen wird nie wiederkommen, weil der Segen nur kam, als der an-
dere Mensch war. Da wurde der andere erschaffen, zum Men-
schen gemacht: Du erschufst den Menschen im andern, und der
andere erschuf den Menschen in dir. Keiner von euch war Ding.
Es waren zwei Subjektivitäten, die zusammentrafen, zwei Men-
schen — nicht ein Mensch und ein Ding.
Aber im Augenblick, wo du besitzt, wird es unmöglich. Und

333
Das Buch der Geheimnisse

der Verstand will zugreifen, weil sein Denken vom Habenwollen


bestimmt ist. „Mir ist eines Tages die Seligkeit widerfahren, jetzt
will ich sie jeden Tag haben. Also greif zu!” Aber die Seligkeit
kommt nur, weil es keinen Besitz gibt. Und die Seligkeit liegt
nicht am anderen, sondern kommt in Wirklichkeit aus dir. Ver-
geßt nicht: Das Glücksgefühl liegt an einem selbst. Es tritt ein, weil
du dich so in den andern verloren hast.
Es kann mit einer Rose geschehen, es kann mit einem Stein ge-
schehen, es kann mit Bäumen geschehen, es kann mit allem ge-
schehen. Kennst du erst einmal die Situation, in der es geschieht,
kann es überall geschehen. Wenn du weißt, daß du nicht mehr
bist, und daß sich dein Bewußtsein mit einer tiefen Liebe zum
„anderen” hinbegeben hat — hin zu den Bäumen, zum Himmel,
zu den Sternen, zu was es auch sei, wenn sich deine gesamte Be-
wußtheit auf etwas anderes richtet und dich so verläßt und sich
von dir entfernt, dann, in dieser Abwesenheit des Selbst —die Seg-
nung.

Die siebente Technik:

Ohne Unterstützung für Hände oder Füße sitze nur auf dem Gesäß.
Plötzlich – das Zentrum.

Diese Technik ist bei den Taoisten in China seit Jahrhunderten


in Gebrauch. Und es ist eine wunderbare Technik, eine der ein-
fachsten überhaupt. Versucht es: „Ohne Unterstützung für Hän-
de oder Füße sitze nur auf dem Gesäß. Plötzlich — das Zentrum.”
Was muß getan werden? Zweierlei ist nötig — erstens ein sehr
empfindlicher Körper, den ihr aber nicht habt. Euer Körper ist tot.
Er ist nur eine Last zum Mitschleppen, unsensibel. Erst müßt ihr
euren Körper empfindsam machen; und vor allen Dingen das Ge-
säß, denn normalerweise ist das Gesäß der unempfindlichste Teil
des Körpers. Das kann nicht ausbleiben, weil ihr den ganzen Tag
auf dem Hintern sitzt. Wäre er zu empfindlich, wäre das schwer.
So ist euer Hinterteil also unempfindlich: Es muß es sein. Es ist
so unempfindlich wie eure Fußsohlen. Ständig sitzt ihr darauf und
fühlt es dennoch nie. Habt ihr es je schon gefühlt? Jetzt im Au-

334
Kapitel 13

genblick mögt ihr fühlen können, wie ihr auf eurem Hintern sitzt,
aber ihr habt es nie zuvor gefühlt. Euer ganzes Leben lang habt
ihr auf eurem Hinterteil gesessen, ohne es je gemerkt zu haben.
Seine Funktion selbst bringt es mit sich, daß es nicht so empfind-
lich ist.
Zunächst also müßt ihr ihn empfindlich machen. Versucht eine
sehr einfache Methode, und diese Methode kann auch auf jeden
anderen Körperteil angewendet werden. Dadurch wird der Kör-
per empfindlich. Sitze entspannt auf einem Stuhl und schließe die
Augen. Fühle die linke oder rechte Hand, egal welche ... fühle
die linke Hand. Vergiß den ganzen Körper und fühle einfach die
linke Hand. Je mehr du sie fühlst, desto schwerer wird sie. Fühle
sie immer weiter, vergiß den ganzen Körper. Fühle sie immer wei-
ter, als wärest du selbst die linke Hand. Die Hand wird dadurch
i mmer schwerer. Während sie immer schwerer wird, wirst du
selbst immer schwerer. Dann versuch herauszufühlen, was in der
Hand passiert. Gleich welche Empfindung, achte darauf. Jede
Empfindung, jeder Ruck, jede noch so leichte Bewegung - spü-
re, daß dies jetzt geschieht. Und das machst du drei Wochen lang
so. Irgendwann am Tag, zehn Minuten, fünfzehn Minuten lang.
Fühle nur die linke Hand, und vergiß den ganzen Körper.
Nach drei Wochen wirst du eine neue linke Hand an dir fühlen
- oder eine rechte, je nachdem. So empfindlich, so feinfühlig! Und
du wirst die feinsten und empfindlichsten Regungen in der Hand
wahrnehmen.
Wenn es dir mit der Hand gelungen ist, dann versuche es mit
dem Gesäß. Mach das gleiche: Schließe die Augen und fühle, daß
nur zwei Hinterbacken existieren. Du bist nicht mehr. Laß deine
ganze Bewußtheit ins Gesäß gehen. Es ist nicht schwer. Wenn du
es versuchst, ist es ein wunderbares Gefühl: das Gefühl der Le-
bendigkeit, das so in deinen Körper kommt, ist an sich schon be-
seligend. Wenn du deinen Hintern fühlen kannst und er sehr
empfindlich geworden ist, wenn du alles darin spüren kannst,
wenn du die leiseste Bewegung, den leisesten Schmerz oder was
immer wahrnehmen und erkennen kannst, dann ist dein Be-
wußtsein mit dem Gesäß verbunden.
Versuche es zunächst mit einer Hand: die Hand ist sehr

33 5
Das Buch der Geheimnisse

empfindlich, so ist es leichter. Sobald du die Gewißheit gewonnen


hast, daß du deine Hand sensibilisieren kannst, wird dir dieses Ver-
trauen helfen, dein Gesäß zu sensibilisieren. Danach erst mach die-
se Technik. Du brauchst also mindestens sechs Wochen, bevor du
mit dieser Technik beginnen kannst, drei Wochen mit der Hand
und drei Wochen mit dem Gesäß - einfach nur sensibilisieren.
Du liegst auf dem Bett und vergißt den ganzen Körper. Du
weißt nur noch, daß zwei Hinterbacken übrig sind. Fühle ihre
Berührung mit dem Bettlaken, dessen Kühle oder langsam wach-
sende Wärme: Fühle es. Wenn du in der Badewanne liegst, ver-
giß den Körper. Erinnere dich nur an das Gesäß - fühle. Stehe ge-
gen eine Wand gelehnt, wobei dein Gesäß die Wand berührt:
Fühle die Kälte der Wand. Stehe mit deinem Geliebten, mit dei-
ner Frau oder deinem Mann, Gesäß gegen Gesäß: Fühle den an-
dern durch das Gesäß. Dies dient nur dazu, dein Gesäß „zu er-
schaffen”; bring Gefühl in deinen Hintern.
Und dann mach diese Technik: „Ohne Unterstützung für Hän-
de oder Füße ...” Setz dich auf den Boden. Sitze ohne Unterstüt-
zung der Hände oder Füße einfach auf dem Gesäß. Die Buddha-
stellung genügt: Padmasana genügt. Oder auch Siddhasana oder
irgendein gewöhnliches Asana, aber es ist gut, nicht deine Hände
zu gebrauchen. Bleibe einfach auf dem Gesäß: sitze nur auf dem
Hinterteil. Und was dann? Schließe die Augen, fühle, wie der
Hintern den Boden berührt. Sobald er empfindlich geworden ist,
wirst du spüren, wie die eine Backe den Boden mehr berührt als
die andere. Du stützt dich auf die eine Hälfte, und die andere
berührt den Boden weniger. Verlagere das Schwergewicht dann
auf die andere. Und dann wieder sofort zurück zur ersten. Und
so hin und her, und schließlich allmählich - das Gleichgewicht.
Ausbalancieren heißt hier, daß beide Gesäßbacken das gleiche
Gewicht haben. Das Gewicht auf beiden ist genau das gleiche.
Und wenn dein Gesäß empfindlich ist, wird das nicht schwer sein:
Du wirst es fühlen. Sobald beide Gesäßbacken ausgewogen sind,
ist plötzlich die Zentrierung da. In diesem Gleichgewicht wirst du
plötzlich auf das Nabelzentrum geworfen, wirst du dein inneres
Zentrum finden. Du wirst den Hintern vergessen, du wirst den
Körper vergessen. Du wirst aufs innere Zentrum gestoßen.

33 6
Kapitel 13

Darum sage ich, daß nicht der Konzentrationspunkt wichtig ist,


sondern das Zentrieren. Ob es nun im Herzen, im Kopf oder im
Hintern oder sonstwo geschieht. Ihr habt gesehen, wie Buddhas
sitzen. Ihr kommt vielleicht nicht auf den Gedanken, daß sie ihre
Hinternhälften im Gleichgewicht halten. Geht in einen Tempel,
und seht euch einen sitzenden Mahavir, einen sitzenden Buddha
an: Ihr wärt wohl nie auf den Gedanken gekommen, daß dies Sit-
zen nur ein Ausbalancieren der Hinternhälften ist. Es ist aber so;
und wenn das Gleichgewicht absolut ist, gibt euch das plötzlich
die Zentrierung.

Die achte Technik:

Wiege dich rhythmisch, während du in einem Fahrzeug fährst — und


erfahre! Oder in einem stillstehenden Gefährt indem du dich kreisen
läßt in langsamer werdenden, unsichtbaren Kreisen.

Das ist dasselbe in Grün:„, ... während du in einem Fahrzeug


fährst ..." Du fährst mit dem Zug oder mit dem Ochsenkarren —
als diese Technik entwickelt wurde, gab es nur den Ochsenkar-
ren! Du fährst also mit einem Ochsenkarren auf einer indischen
Straße, die auch heute noch genauso ist. Aber wenn du damit
fährst, bewegt sich dein ganzer Körper. Dann geht es nicht.
„Wiege dich rhythmisch, wenn du in einem Fahrzeug fährst...”
„Wiege dich rhythmisch ...” Versucht zu verstehen: Es geht um
eine ganz subtile Sache. Wenn man in einem Ochsenkarren oder
sonst einem Gefährt sitzt, steuert man gegen: Schwankt der Och-
senkarren nach links, bremst man ab und lehnt sich nach rechts
zum Ausgleich: sonst würde man hinfallen. So leistet man ständig
Widerstand. Auf einem Ochsenkarren sitzend, fängt man sein
Rütteln und Schütteln ab. Geht er hierhin, gehst du dorthin.
Darum ermüdet das Zugfahren. Man tut doch gar nichts! War-
um also wird man so müde davon? Unbewußt tut man trotzdem
viel. Man ist ständig gegen den Zug angegangen, hat Widerstand
geleistet. Leiste also keinen Widerstand: Das ist das erste. Wenn
du diese Technik machen willst, leiste keinen Widerstand, son-
dern gehe mit den Fahrbewegungen mit, wiege dich mit. Werde

33 7
Das Buch der Geheimnisse

Teil des Ochsenkarrens: Gehe nicht dagegen an. Was immer der
Ochsenkarren auf der Straße macht, werde eins mit ihm. Das ist
der Grund, warum Kinder nie auf Reisen müde werden.
Poonam ist gerade aus London angekommen, mit ihren beiden
Kindern. Und sie hatte Angst, daß die Kinder müde oder krank
werden könnten auf einer so langen Reise. Sie kam müde an; die
Kinder lachten. Als sie mein Zimmer betrat, war sie zu Tode er-
schöpft, und die beiden Kinder fingen sofort zu spielen an. Eine
achtzehnstündige Reise von London nach Bombay, und sie wa-
ren kein bißchen müde! Warum? Weil sie noch nicht gelernt ha-
ben, Widerstand zu leisten.
So kann ein Betrunkener die ganze Nacht auf einem Ochsen-
karren sitzen und sich am Morgen so frisch fühlen wie nie; aber
nicht ihr. Es liegt daran, daß ein Betrunkener sich nicht wehren
kann. Er geht mit dem Gefährt mit. Es gibt keinen Kampf. Das
Kämpfen fehlt. Er ist eins mit dem Wagen.
,W.ege dich rhythmisch, wenn du in einem Fahrzeug fährst... ""
Also erstens: Leistet keinen Widerstand. Und als zweites: Stellt ei-
nen Rhythmus her: Macht die Bewegungen rhythmisch, macht
eine wunderschöne Harmonie aus ihnen. Vergeßt die Straße:
Flucht nicht auf die Straße und die Regierung, vergeßt sie. Ver-
flucht nicht den Ochsen und den Ochsenkarren und den Fahrer,
vergeßt ihn. Schließt die Augen: Leistet keinen Widerstand. Geht
rhythmisch mit, und macht aus der Bewegung eine Musik, als
wäre es ein Tanz. „Wiege dich rhythmisch, wenn du in einem
Fahrzeug fährst — und erfahre!” Das Sutra sagt, daß die Erfahrung
dann zu dir kommt.
„Oder in einem stillstehenden Gefährt ...” Frag dich also nun
nicht: „Wie kann ich an einen Ochsenkarren herankommen?”
Führe dich nicht an der Nase herum, denn das Sutra sagt:
„ ... oder in einem stillstehenden Gefährt , indem du dich kreisen
läßt, in langsamer werdenden, unsichtbaren Kreisen.” Indem du
einfach dasitzt, laß dich im Kreise schwingen. Schwinge im Krei-
se! Mache erst einen großen Kreis, und verlangsame ihn dann, laß
ihn langsamer und langsamer werden, kleiner und kleiner und
kleiner, bis dein Körper sich nicht mehr sichtbar bewegt, sondern
du nur noch innen eine feine unmerkliche Bewegung fühlst.

338
Kapitel 13

Fange mit einem größeren Kreis an, bei geschlossenen Augen.


Denn wenn der Körper stillhält, kommst du nicht in Gang. Mach
mit geschlossenen Augen große Kreise; sitze nur und kreise.
Schwinge immer weiter und laß die Kreise kleiner und kleiner
werden. Von außen gesehen wirst du anhalten, niemand wird ent-
decken können, daß du dich immer noch bewegst, aber innen
wirst du eine feine Kreisbewegung fühlen. Jetzt bewegt sich der
Körper nicht mehr, nur noch der Geist. Mache es langsamer und
langsamer — und erfahre: Es wird zum Zentrieren. Eine wider-
standslose, rhythmische Bewegung in einem Gefährt, in einem
fahrenden Gefährt, führt zu einem inneren Zentrieren.
Gurdjieff erfand viele Tänze für solche Techniken. Er arbeitete
mit dieser Technik. Alle Tanze, die er in seiner Schule benutzte,
waren schwingende Kreisbewegungen. Alle Tanze waren in Krei-
sen: einfach kreiseln, aber innen wach bleiben und dabei die Krei-
se langsam kleiner und kleiner werden lassen. Es kommt der Zeit-
punkt, wo der Körper aufhört, aber der Kopf sich immer weiter
dreht, kreist und kreist und kreist.
Nach einer zwanzigstündigen Zugfahrt wirst du, zu Hause an-
gekommen und nach Verlassen des Zuges, bei geschlossenen Au-
gen immer noch das Gefühl haben zu fahren. Du fährst immer
noch. Der Körper hat aufgehört, aber der Geist spürt immer noch
das Fahrzeug. Versucht also diese Technik.
Gurdjieff schuf phänomenale Tänze, sehr schöne! In unserem
Jahrhundert vollbrachte er Wunder — keine Wunder ä la Satya Sai
Baba, die überhaupt keine Wunder sind ... Taschenspielertricks.
Aber Gurdjieff wirkte wirkliche Wunder. Er bereitete eine Grup-
pe von hundert Menschen auf meditatives Tanzen vor, und die-
sen Tanz zeigte er zum erstenmal vor einem Publikum in New
York. Hundert Tänzer kreiselten auf der Bühne. Selbst den Zu-
schauern drehte sich der Kopf. Hundert Tänzer in weißen Kit-
teln, die einfach nur kreiselten!
Wenn er ihnen mit der Hand das Zeichen gab, fingen sie zu
kreiseln an, und wenn er „Stop” rief, herrschte Totenstille. Das war
ein Schock für das Publikum, nicht für die Tänzer — weil der Kör-
per zwar augenblicklich anhalten kann, der Geist aber die Bewe-
gung verinnerlicht hat: sie geht weiter und weiter. Der bloße

33 9
Das Buch der Geheimnisse

Anblick war atemberaubend: Hundert Menschen wurden plötz-


lich zu Statuen. Das versetzte dem Publikum einen plötzlichen
Schock, denn hundert Bewegungen — schöne Bewegungen,
rhythmische Bewegungen — hielten plötzlich an. Man schaute der
Bewegung zu, sah die Tänzer kreiseln und tanzen, und plötzlich
blieben sie stehen. Da blieb auch das Denken stehen.
Viele spürten damals in New York, daß es ein merkwürdiges
Phänomen war: Ihre Gedanken blieben plötzlich stehen! Aber für
die Tänzer ging der Tanz im Inneren weiter, und die inneren Wir-
belkreise wurden kleiner und kleiner, bis sie sich zentriert hatten.
Eines Tages geschah es, daß sie bis an den Rand der Bühne tanz-
ten. Alle rechneten damit, alle erwarteten, daß Gurdjieff „Stop!”
rufen würde, bevor sie ins Publikum hinuntertanzten. Hundert
Tänzer, genau am Rand der Bühne! Noch ein Schritt, und sie
würden ins Parkett fallen. Die ganze Halle wartete auf das plötz-
liche Stop von Gurdjieff, aber er drehte sich um und steckte sich
eine Zigarre an. Er kehrte den Tänzern den Rücken zu, um sich
eine Zigarre anzustecken, und die ganze Gruppe von hundert
Tänzern stürzte von der Bühne auf den Boden — einen nackten
Steinboden!
Das ganze Publikum sprang auf. Alle schrien durcheinander
und glaubten, daß viele Tänzer sich die Knochen gebrochen ha-
ben müßten, es war ein solches Krachen zu hören gewesen! Aber
nicht ein einziger hatte sich verletzt. Nicht einmal eine einzige
Beule gab es.
Man fragte Gurdjieff, was passiert sei. Niemand war verletzt
worden, und der Sturz war so stark gewesen, daß es unmöglich
schien. Der Grund war einfach dieser: Sie waren in diesem Au-
genblick nicht wirklich in ihren Körpern. Sie waren gerade dabei,
ihr inneres Kreisen zu verlangsamen, und als Gurdjieff sah, daß
sie jetzt völlig ihre Körper vergessen hatten, ließ er zu, daß sie ab-
stürzten.
Wenn du deinen Körper völlig vergessen hast, gibt es keinen
Widerstand mehr, und Knochen brechen nur bei Widerstand.
Wenn du stürzt, wehrst du ab: Du gehst gegen den Zug der
Schwerkraft an. Dies Dagegenangehen, dieser Widerstand ist das
Problem — nicht die Schwerkraft. Wenn du dich mit der Schwer-

340
Kapitel 13

kraft fallenlassen kannst, wenn du mit ihr mitgehen kannst, dann


ist es ausgeschlossen, daß du dich verletzt.
Dies Sutra also —„Wiege dich rhythmisch, während du in ei-
nem Fahrzeug fährst — und erfahre! Oder in einem stillstehenden
Gefährt, indem du dich kreisen läßt, in langsamer werdenden, un-
sichtbaren Kreisen" — kannst du auch ohne Fahrzeug tun. Dreh
dich einfach wie ein Kind irn Kreise. Fühlst du dich schwindelig
und merkst du, daß du gleich fällst, dann halte nicht an: mach wei-
ter! Selbst wenn du hinfällst, laß es geschehen. Schließe die Au-
gen und kreisele. Dein Kopf wird sich im Kreis drehen und du
wirst stürzen. Wenn dein Körper hingefallen ist, fühle dein Inne-
res! Das Drehen geht weiter und wird zu enger und enger wer-
denden Kreisen, bis du plötzlich zentriert bist.
Kindern macht das ausgesprochenen Spaß. Sie finden das ganz
toll. Eltern erlauben ihren Kindern nie zu wirbeln. Das ist nicht
recht: Man sollte sie lassen, ja sie sogar dazu ermutigen. Und man
kann sie auch auf das innere Kreisen aufmerksam machen, man
kann ihnen mit Hilfe ihres Wirbelns das Meditieren beibringen.
Sie genießen es, weil das ein körperloses Gefühl verleiht. Wenn
sie wirbeln, merken die Kinder plötzlich, daß nur der Körper sich
dreht, aber nicht sie. Innen fühlen sie eine Zentrierung, die uns
Älteren nicht so leicht fällt, weil bei Kindern Körper und Seele
noch immer ein wenig Abstand voneinander haben. Es ist eine
Distanz da.
Mit Eintritt in den Mutterleib kannst du nicht von vornherein
total im Körper sein. Dazu gehört Zeit. Nach der Geburt ist das
Kind auch noch nicht völlig im Körper. Seine Seele ist noch nicht
völlig an seinen Körper gebunden: Es gibt Zwischenräume. Dar-
um gibt es vieles, was ein Kind noch nicht beherrscht. Der Körper
ist bereit, aber das Kind beherrscht ihn noch nicht. Zum Beispiel
sehen neugeborene Kinder nicht mit zwei Augen, sondern nur
mit einem. Wenn ihr genau beobachtet, werdet ihr sehen, daß das
eine Auge größer wird und die andere Pupille klein bleibt. Die
Augen sind noch nicht fixiert, das Bewußtsein eines Neugebore-
nen ist noch nicht fixiert, es schwimmt. Nach und nach wird es
fixiert, und dann kann es mit beiden Augen sehen.
Sie können auch noch nicht ihren eigenen Körper von dem

341
Das Buch der Geheimnisse

Körper anderer abgrenzen. Das ist für sie schwer. Sie liegen noch
nicht fest, aber es kommt nach und nach.
Meditation ist der Versuch, diesen Abstand wiederherzustellen.
Inzwischen seid ihr fixiert, fest im Körper verankert. Darum habt
ihr das Gefühl: „Ich bin der Körper.” Wenn ein Abstand herge-
stellt werden kann, könnt ihr erfahren, daß ihr nicht der Körper
seid, sondern etwas jenseits vom Körper. Wiegen und Wirbeln
helfen dabei: Sie stellen den Abstand her.

Die neunte Technik:

Steche mit einer Nadel in irgendeinen Teil deiner nektargefüllten


Form, geh dann vorsichtig in dieses Stechen hinein und erreiche die
innere Reinheit.

Dies Sutra sagt: „Steche mit einer Nadel in irgendeinen Teil dei-
ner nektargefüllten Form ...” Dein Körper ist nicht nur ein Kör-
per: Er ist angefüllt mit dir, und dieses du ist der Nektar. Steche in
deinen Körper. Wenn du in deinen Körper stichst, wirst nicht du
gestochen, sondern nur der Körper. Aber ihr glaubt, selbst gesto-
chen worden zu sein: Das ist der Grund, warum ihr Schmerz
fühlt. Wenn du dir bewußt machen kannst, daß nur der Körper
gestochen wird, nicht aber du, wirst du Seligkeit fühlen statt
Schmerzen. Man braucht es nicht mit einer Nadel zu tun; jeden
Tag passieren genug Dinge, und man kann diese Situationen zur
Meditation nutzen. Man kann die Situation aber auch herstellen.
Irgendwo im Körper ist ein Schmerz da. Jetzt tu eines: Vergiß
den ganzen Körper. Konzentriere dich nur auf den Teil, der
schmerzt. Und dann das Merkwürdige: Der Körperteil, der
schmerzt, fängt an zu schrumpfen. Erst war es das ganze Bein,
dann nur noch das Knie ... und schließlich ist es nur noch nadel-
spitzengroß. Wenn es nur noch eine Nadelspitze ist, starre weiter
auf sie, und plötzlich wird auch sie verschwinden, und du wirst
ein Glücksgefühl empfinden. Statt mit Schmerz bist du nun mit
Glück erfüllt.
Wie passiert das? Du und dein Körper, ihr seid zwei, ihr seid
nicht eins. Der, der sich konzentriert, das bist du. Die Konzentra-

342
Kapitel 13

tion gilt dem Körper: Das ist dein Objekt. Je mehr du dich kon-
zentrierst, desto weiter wird der Abstand, und die Identifikation
wird gebrochen. Um dich zu konzentrieren, gehst du nach innen,
entfernst dich vom Körper. Um den Punkt des Schmerzes in die
Perspektive zu bekommen, mußt du Abstand nehmen. Dieses
Abstandnehmen schafft die Kluft. Und indem du dich auf den
Schmerz konzentrierst, vergißt du die Identifikation, vergißt du,
daß du den Schmerz fühlst.
Jetzt bist du der Beobachter, und der Schmerz ist woanders. Du
beobachtest den Schmerz und fühlst ihn nicht. Dieser Wechsel
vom Fühlen zum Beobachten schafft die Kluft. Und je größer der
Abstand, desto mehr vergißt du den Körper; du bist dir nur noch
des Bewußtseins bewußt.
Aber du kannst auch diese spezifische Technik versuchen: „Ste-
che mit einer Nadel in irgendeinen Teil deiner nektargefüllten
Form, und geh dann vorsichtig in dieses Stechen hinein ...” Wenn
du sowieso Schmerzen hast, dann mußt du dich zunächst auf ihre
ganze Ausdehnung konzentrieren; erst nach und nach schrumpft
der Schmerz dann zu einer Nadelspitze. Mit der Nadel braucht
man also nicht erst zu warten: Du kannst selbst eine Nadel be-
nutzen. Setze die Nadel an irgendeiner Stelle an, die empfindlich
ist; der Körper hat viele taube Stellen, die bringen nichts.
Vielleicht habt ihr von diesen tauben Stellen am Körper noch
nichts gehört? Dann macht folgendes: Gebt die Nadel einem an-
dern, einem Freund, und bittet ihn, damit verschiedene Punkte
auf deinem Rücken anzustechen. An vielen Punkten wirst du kei-
nen Schmerz fühlen. Du wirst sagen: „Nein, da hast du noch nicht
reingestochen. Ich spüre nichts.” Das sind die tauben Stellen. Mit-
ten auf beiden Backen habt ihr je eine taube Stelle, die ihr aus-
probieren könnt. In indischen Dörfern gibt es Leute, die bei reli-
giösen Festen beide Backen mit einem Pfeil durchbohren. Es sieht
wie ein Wunder aus, ist aber keins. Auf jeder Backe ist ein tauber
Fleck. Durchbohrt man diesen, kommt kein Blut und auch kein
Schmerz. Auf dem Rücken habt ihr Tausende von toten Punkten.
Euer Körper hat also zwei Sorten von Punkten: empfindliche,
lebendige - und tote.
Suche dir also einen empfindlichen Punkt, den du schon mit

343
Das Buch der Geheimnisse

einer leichten Berührung fühlst. Dann steche die Nadel hinein,


und gehe mit dem Stechen mit: Darauf kommt es an. Das ist die
Meditation: „Und geh dann vorsichtig in dieses Stechen hinein.”
Während die Nadel in deine Haut hineingeht und du den
Schmerz fühlst, gehst du hinein. Habe nicht das Gefühl, daß der
Schmerz in dich kommt: Fühle nicht den Schmerz•, sei nicht mit
ihm identifiziert. Geh mit der Nadel hinein, steche mit der
Nadel.
Schließe deine Augen, beobachte den Schmerz. Während der
Schmerz dich sticht, bist du es selbst, der sticht. Und während die
Nadel in dich sticht, kann sich dein Geist mit Leichtigkeit kon-
zentrieren. Nutze diesen Punkt des Schmerzes, des intensiven
Schmerzes, und beobachte ihn: Das ist mit „Vorsichtig-in-dieses-
Stechen-Hineingehen” gemeint.
„ ... und erreiche die innere Reinheit.” Wenn du beobachtend
mitgehen kannst, unidentifiziert, abseits, ohne das Gefühl zu ha-
ben, daß der Schmerz dich sticht, sondern daß die Nadel den Kör-
per sticht, wobei du nur Beobachter bist, dann wirst du die inne-
re Reinheit erreichen; deine innere Unschuld wird dir offenbart
werden. Zum erstenmal wird dir bewußt, daß du nicht der Kör-
per bist. Und weißt du erst einmal, daß du nicht der Körper bist,
dann ist dein Leben von Grund auf verändert, weil dein ganzes
Leben sich um den Körper dreht. Weißt du erst einmal, daß du
nicht der Körper bist, dann kannst du nicht mehr so weiter-
leben ... Das Zentrum würde dir fehlen!
Wenn du nicht der Körper bist, dann mußt du ein anderes Le-
ben anfangen: das Leben als Sannyasin. Dies neue Leben hat eine
andere Mitte. Jetzt lebst du als eine Seele, als ein Atman in der
Welt, nicht als ein Körper. Solange du als ein Körper existierst,
schaffst du eine separate Welt — eine Welt des materiellen Ge-
winns, der Habgier, der Befriedigung von Wollust und Sex. Du
hattest eine ganze Welt für sich geschaffen: das ist die körper-
orientierte Welt.
Weißt du erst einmal, daß du nicht der Körper bist, so ver-
schwindet die ganze Welt. Du kannst sie nicht mehr aufrechter-
halten. Eine andere Welt steigt auf, die sich um die Seele orien-
tiert, eine Welt des Mitgefühls, der Liebe, der Schönheit, der

344
Kapitel 13

Wahrheit, der Güte, der Unschuld. Das Zentrum hat sich verla-
gert und ist jetzt nicht mehr im Körper. Es ist im Bewußtsein.

345
Und dann ...
[Fragen]

Die erste Frage:

Wenn Erleuchtung und Samadhi totales Bewußtsein bedeuten,


kosmisches Bewußtsein, alles-durchdringendes Bewußtsein, dann
wirkt es sehr seltsam, wenn dieser Zustand von kosmischem
Bewußtsein auch „Zentrieren"genannt wird, denn das Wort
Zentrieren bedeutet doch, auf einen Punktgerichtet zu sein.
Warum also wird das kosmische Bewußtsein Zentrieren genannt?

34 7
Das Buch der Geheimnisse

Zentrieren ist der Weg, nicht das Ziel. Zentrierung ist die Me-
thode, nicht das Ergebnis. Samadhi wird nicht Zentrieren genannt.
Zentrieren ist der Weg zum Samadhi. Natürlich erscheint es pa-
radox, denn wenn die Erleuchtung kommt, die Erkenntnis, ist
kein Zentrum mehr da.
Jakob Böhme hat gesagt, daß sich die Erfahrung des Göttlichen
auf zweierlei Weise beschreiben läßt. Entweder ist die Mitte jetzt
irgendwo oder überall. Beides kommt auf das gleiche hinaus. So
erscheint das Wort „Zentrieren” widersprüchlich, aber der Weg
ist nicht das Ziel, und die Methode ist nicht das Ergebnis. Und
Methoden können widersprüchlich sein. Das müssen wir also ver-
stehen, denn diese 112 Methoden sind Zentrierungsmethoden.
Bist du aber erst einmal zentriert, wirst du explodieren. Das
Zentrieren dient nur dazu, dich total an einem Punkt zu sammeln.
Hast du dich erst einmal an einem Punkt gesammelt, bist du an
einem Punkt kristallisiert, dann explodiert dieser Punkt automa-
tisch. Danach gibt es kein Zentrum mehr — oder: Nun ist das Zen-
trum überall. Zentrieren ist also eine Methode, die zur Explosion
führt.
Warum ist Zentrieren die Methode? Bist du nicht zentriert,
fehlt deiner Energie der Brennpunkt. Sie kann nicht explodieren.
Sie ist zerstreut; sie kann nicht explodieren. Zu einer Explosion
gehört enorme Energie. Explosion heißt, daß du jetzt nicht mehr
zerstreut bist: Du bist auf einem Punkt. Du wirst zum Atom. Du
wirst tatsächlich zu einem spirituellen Atom. Und nur wenn du
genügend zentriert bist, kannst du explodieren. Dann gibt es eine
Atomexplosion.
Von dieser Explosion wird nicht gesprochen, denn da gibt es
r
nichts zu sagen, also wird nur die Methode angegeben. Über das i
Ergebnis wird nichts gesagt. Wenn du die Methode machst, folgt
das Ergebnis, aber sagen läßt sich darüber nichts.
Ihr dürft nicht vergessen: Im Grunde spricht Religion niemals
über die Erfahrung selbst. Es ist immer nur von der Methode die
Rede. Das Wie wird aufgezeigt, nicht das Was. Das Was bleibt dir
überlassen. Wenn du das Wie machst, kommt das Was zu dir.
Und es gibt keine Möglichkeit, es zu vermitteln. Man kann es er-
fahren, aber nicht mitteilen. Es ist eine so unendliche Erfahrung, j

34 8
Kapitel 14

daß Sprache zwecklos ist. Sie ist so riesig, daß kein Wort sie zum
Ausdruck bringen kann. So also wird nur die Methode angege-
ben.
Buddha soll vierzig Jahre lang immer wieder gesagt haben:
„Fragt nicht nach der Wahrheit, nach dem Göttlichen, nach Nir-
vana, nach Befreiung. Fragt nichts über solche Dinge. Fragt mich
nur, wie ihr dahinkommen könnt. Ich kann euch den Weg zei-
gen, aber ich kann euch nicht die Erfahrung schenken, nicht ein-
mal in Worten.” Die Erfahrung ist persönlich, die Methode un-
persönlich. Die Methode ist wissenschaftlich, unpersönlich, die
Erfahrung ist immer persönlich und poetisch.
Das meine ich mit dieser Unterscheidung: Methode ist wissen-
schaftlich. Wenn du sie nutzen kannst, dann ist Zentrierung das
Ergebnis. Wenn die Methode befolgt wird, muß es so kommen.
Wenn sich das Zentrieren nicht einstellt, dann zeigt dir das, daß
du irgendwo etwas mißverstanden hast. Du hast die Methode
nicht befolgt. Sie ist wissenschaftlich, die Zentrierung ist wissen-
schaftlich, aber die Explosion ist poetisch.
Mit „poetisch” meine ich, daß es jeder von euch anders erfahren
wird. Da gibt es keinen gemeinsamen Boden mehr. Und jeder
wird es auf andere Art ausdrücken. Buddha sagt es so, Mahavir so,
Krishna wieder anders, und Jesus, Mohammed, Moses und Lao
Tse, sie alle unterscheiden sich — nicht in den Methoden, sondern
in der Art, wie sie ihre Erfahrung zum Ausdruck bringen. Nur in
dem einen sind sie sich alle einig, daß alles, was sie sagen, nicht
das zum Ausdruck bringt, was sie erfahren haben. Nur in diesem
einen Punkt stimmen sie alle überein.
Trotzdem versuchen sie es. Trotzdem versuchen sie, irgendwie
Andeutungen zu machen. Es scheint unmöglich, aber einem Her-
zen voller Sympathie könnte vielleicht doch ein bißchen vermit-
telt werden. Aber dazu brauchst du tiefe Sympathie, Liebe und
Ehrfurcht. Wenn also wirklich einmal etwas zu dir hinüber-
kommt, dann liegt das nicht am Übermittler, sondern an dir.
Wenn du es in tiefer Liebe und Ehrfurcht entgegennehmen
kannst, dann kann dich etwas erreichen. Aber wenn du kritisch
dabei bleibst, kommt nichts an. Es ist schon schwierig genug, es
auszudrücken, aber selbst wenn es ausgedrückt wird, seid ihr

34 9
Das Buch der Geheimnisse

kritisch. So geht die Botschaft verloren. Es findet keine Kommu-


nikation statt.
Die Kommunikation ist sehr delikat Darum ist sie bei all diesen
112 Methoden völlig ausgelassen worden, allenfalls angedeutet.
Shiva sagt immer wieder: „Mach dies, und dann — die Erfahrung!”
und danach sagt er nichts mehr. „Tu dies — und der Segen.” Und
dann nichts mehr.
„Der Segen, die Erfahrung, die Explosion”: jenseits davon
kommt die persönliche Erfahrung. Gegenüber dem, was sich
nicht ausdrücken läßt, verhält man sich besser schweigend — denn
wenn man auszudrücken versucht, was nicht ausgedrückt werden
kann, wird es mißverstanden. Also sagt Shiva nichts. Er spricht le-
diglich von Methoden, Techniken, davon, wie man es macht.
Aber das Zentrieren ist nicht das Ziel: es ist nur der Weg. Und
warum wächst das Zentrieren, warum wächst es zur Explosion
heran? Weil große Energie, die sich auf einen Punkt konzentriert,
diesen Punkt sprengt. Der Punkt ist so klein und die Energie so
groß, daß der Punkt sie nicht enthalten kann; daher die Explosion.
Diese Glühbirne hier kann eine bestimmte Menge Strom ver-
tragen. Wenn mehr Strom hineingeht, explodiert sie. Genauso ist
es mit dem Zentrieren: Je mehr du zentriert bist, desto mehr
Energie sammelt sich in deinem Zentrum. In dem Augenblick,
wo zuviel Energie da ist, kann das Zentrum sie nicht mehr fassen.
Es wird explodieren.
Es ist also wissenschaftlich: es ist einfach ein wissenschaftliches
Gesetz. Und wenn das Zentrum nicht explodiert, so bedeutet das
nur, daß du immer noch nicht zentriert bist. Bist du zentriert, folgt
augenblicklich die Explosion. Da gibt es keine Zeitlücke. Wenn
du also merkst, daß sich die Explosion nicht einstellt, heißt das,
daß du dich noch nicht im Brennpunkt gesammelt hast, daß du
immer noch nicht zu einem Zentrum geworden bist, sondern im-
mer noch viele hast, daß du immer noch gespalten bist, daß dei-
ne Energie immer noch verstreut ist, daß deine Energie immer
noch nach außen abfließt.
Solange die Energie nach außen geht, fließt sie nur ab, verpufft
sie nur. Am Ende wirst du davon impotent. Dann bist du, wenn
der Tod kommt, tatsächlich schon tot, einfach nur eine tote Zelle.

35 0
Kapite114

Du hast deine Energie ständig nach außen geworfen, und so bist


du nach einer gewissen Zeit einfach leer, ganz gleich, wie groß die
Energiemenge war. Ausfließende Energie bedeutet Tod. Du stirbst
jeden Augenblick: Deine Energie entleert sich: du wirfst deine
Energie weg, läßt sie verpuffen.
Es heißt, daß sogar die Sonne, die schon seit Millionen und aber
Millionen von Jahren da ist, daß dies Riesenreservoir an Energie
ständig verliert und daß sie in vier Milliarden Jahren sterben wird.
Die Sonne wird einfach sterben, weil keine Strahlungsenergie
mehr da sein wird. Mit jedem Tag stirbt sie, weil ihre Strahlen ihre
Energie bis an die Grenzen des Universums tragen, falls es solche
Grenzen gibt. Die Energie geht nach außen.
Nur der Mensch ist fähig, Energie zu transformieren und ihre
Richtung zu ändern. Sonst aber ist Tod das Natürliche: alles stirbt.
Nur der Mensch ist fähig, das Unsterbliche, das Todlose kennen-
zulernen.
Ihr könnt also die ganze Sache auf ein Gesetz reduzieren. Wenn
die Energie nach außen geht, ist Tod die Folge, und ihr werdet nie
erfahren, was Leben bedeutet. Ihr kennt nur ein langsames Ster-
ben. Ihr könnt nie erfahren, was es bedeutet, in aller Intensität zu
leben. Wenn Energie nach außen geht, dann ist Tod die automa-
tische Folge — in allem, was es auch sei. Wenn ihr die Richtung
der Energie ändern könnt — die Energie geht nicht nach außen,
sondern nach innen — dann entsteht eine Mutation, eine Trans-
formation.
Dann wird diese nach innen gehende Energie auf einen Punkt
in euch zentriert. Dieser Punkt befindet sich in der Nähe des Na-
bels; denn ihr werdet tatsächlich als Nabel geboren: ihr seid mit
der Mutter am Nabel verbunden. Die Lebensenergie der Mutter
wird durch den Nabel in euch gegossen. Und sobald der Nabel
abgeschnitten ist, von der Mutter getrennt ist, wird man zu einem
Individuum. Vorher ist man kein Individuum, sondern nur Teil
der Mutter.
Die wirkliche Geburt findet also statt, wenn die Nabelschnur
durchschnitten wird. Dann nimmt das Kind sein eigenes Leben
auf, bekommt sein eigenes Zentrum. Dieses Zentrum muß not-
wendig am Nabel sein, denn durch den Nabel kommt die

35 1
Das Buch der Geheimnisse

Lebensenergie zum Kind. Er war die Verbindungsbrücke. Und


nach wie vor, ob es euch bewußt wird oder nicht, bleibt der Na-
bel das Zentrum.
Wenn Energie nach innen strömt, wenn du die Richtung der
Energie veränderst, so daß sie nach innen strömt, trifft sie auf den
Nabel. Sie wird ständig weiter nach innen gehen und sich am Na-
bel zentrieren. Wenn sie so stark wird, daß der Nabel sie nicht
mehr enthalten kann, daß das Zentrum sie nicht mehr aushalten
kann, dann explodiert das Zentrum. Und in dieser Explosion bist
du wieder kein Individuum mehr. Du warst kein Individuum, als
du noch mit der Mutter verbunden warst, und nun bist du wieder
kein Individuum.
Eine neue Geburt hat stattgefunden. Du bist eins geworden mit
dem Kosmos. Jetzt hast du gar kein Zentrum; du kannst nicht
mehr „Ich” sagen. Jetzt gibt es kein Ego. Ein Buddha, ein Krishna,
gebraucht weiter das Wort„Ich", aber das ist rein formal. Sie ha-
ben kein Ego. Sie sind nicht.
Buddha lag im Sterben. An dem Tag als er sterben sollte, ver-
sammelten sich viele, viele Menschen -jünger, Sannyasins, und
sie waren traurig. Sie weinten und schluchzten. Also fragte
Buddha: „Warum weint ihr?” Jemand sagte: „Weil du bald nicht
mehr sein wirst.” Da lachte Buddha und sagte: „Aber ich bin schon
seit vierzig Jahren nicht mehr. Ich starb am Tag, als ich erleuchtet
wurde. Mein Zentrum ist seit vierzig Jahren verschwunden. Vtreint
also nicht: seid nicht traurig. Jetzt stirbt niemand mehr. Ich bin
nicht mehr! Trotzdem muß ich das Wort Ich` benutzen, wenn
auch nur dazu, um zu umschreiben, daß ich nicht mehr bin.”
Energie, die sich nach innen wendet — das ist das ganze Ge-
heimnis aller Religionen, das ist alles, was unter „religiöser Suche”
verstanden wird. Wie kann man die Energie dazu bewegen, sich
radikal umzukehren? Diese Methoden helfen: erinnert euch also:
Zentrieren ist nicht gleich Samadhi: Zentrieren ist nicht die ei-
gentliche Erfahrung. Zentrieren ist das Tor zu dieser Erfahrung.
Und sobald die Erfahrung da ist, gibt es kein Zentrieren mehr.
Zentrieren ist also nur ein Durchgang. Ihr seid jetzt nicht zentriert:
Ihr habt in Wirklichkeit viele Zentren. Darum nenne ich euch
nicht zentriert. Erst wenn ihr zentriert seid, gibt es nur noch eines.

352
Kapitel 14

Dann hat sich die Energie, die zu lauter verschiedenen Zentren


gegangen ist, zurückgewendet: es ist ein Nachhausekommen.
Nun seid ihr am Zentrum — und dann: die Explosion. Wieder ist
jetzt kein Zentrum mehr da, aber nun seid ihr nicht mehr in vie-
le Zentren zersplittert. Jetzt gibt es überhaupt kein Zentrum mehr.
Du bist eins mit dem Kosmos geworden. Dann sind Schöpfung
und du ein und dasselbe.
Ein Beispiel: Ein Eisberg treibt irn Meer. Der Eisberg hat sein
eigenes Zentrum. Er hat eine separate Individualität, er ist getrennt
vom Meer. Tief drinnen ist er es nicht, den er ist nichts als Wasser
in einem bestimmten Temperaturzustand. Der Unterschied zwi-
schen dem Meerwasser und dem Eisberg ist kein Unterschied des
Wesens: Dem Wesen nach sind sie gleich. Der Unterschied ist le-
diglich einer der Temperatur. Und nun geht die Sonne auf, und
die Atmosphäre erhitzt sich und der Eisberg fängt an zu schmel-
zen. Dann gibt es keinen Eisberg mehr, alles ist geschmolzen. Jetzt
ist er nirgendwo mehr zu finden, weil es keine Individualität mehr
in ihm gibt, kein Zentrum. Er ist eins geworden mit dem Meer.
Zwischen euch und Buddha, zwischen denen, die Jesus kreu-
zigten und Jesus, zwischen Krishna und Arjuna, gibt es keinen
Unterschied des Wesens. Arjuna ist wie ein Eisberg und Krishna
wie das Meer. Es gibt keinen Unterschied in ihrer Natur. Sie sind
beide ein und dasselbe, aber Arjuna hat eine Form, einen Namen,
eine individuelle, isolierte Existenz. Er fühlt: „Ich bin”.
Durch diese Methoden zur Zentrierung verändert sich die
Temperatur, schmilzt der Eisberg zusammen, und dann gibt es
keinen Unterschied mehr. Das ozeanische Gefühl ist Samadhi; ein
Eisberg zu sein, ist individueller Geist. Und sich ozeanisch zu
fühlen heißt Nicht-Geist.
Zentrierung ist nur das Tor, ist der Transformationspunkt, von
wo aus der Eisberg aufhört zu sein. Vorher gab es für ihn keinen
Ozean, nur den Eisberg. Danach gibt es keinen Eisberg mehr, nur
noch Ozean. Das ozeanische Gefühl ist Samadhi: Das Gefühl, eins
zu sein mit dem Ganzen.
Aber ich sage nicht, daß man sich eins mit dem Ganzen denken
soll. Das kann man zwar, aber Denken kommt vor dem Zentrie-
ren. Mit Erkenntnis hat Denken nichts zu tun. Du weißt es nicht,

353
Das Buch der Geheimnisse

du hast nur davon gehört. Du wünschst, daß dir das auch eines Ta-
ges passiert, aber dir fehlt die Erkenntnis. Ehe du dich zentrierst,
kannst du lange denken, aber dieses Denken wird nichts nützen.
Nachdem du dich zentriert hast, ist kein Denkender mehr da.
Dann weißt du! Es ist passiert! Du bist nicht mehr — nur noch der
Ozean ist. Zentrierung ist die Methode, Samadhi das Ziel.
Es wird nichts darüber gesagt, was im Samadhi passiert, weil
darüber nichts gesagt werden kann. Und Shiva ist sehr wissen-
schaftlich. Er hat kein Interesse daran, etwas darüber zu sagen. Er
faßt sich kurz. Er will kein einziges Wort zu viel sagen. Also deu-
tet er nur an: „die Erfahrung”, „der Segen”, „das Ereignis”. Nicht
einmal soviel: Manchmal sagt er nur:„ ... und dann!" Er sagt zum
Beispiel: „Zentriere dich zwischen zwei Atemzügen — und dann.”
Und dann hört er auf. Oder manchmal sagt er auch: „Sei in der
Mitte, einfach in der Mitte, zwischen zwei Extremen, und das!”
Das sind Fingerzeige: „Das, dann, die Erfahrung, der Segen, das
Ereignis, die Explosion.” Aber dann hält er den Mund. Warum?
Wir würden zu gern mehr darüber hören!
Zwei Gründe. Erstens: „Das” kann nicht erklärt werden. War-
um nicht? Schließlich gibt es Denker zum Beispiel die modernen
Positivisten, die Sprachanalytiker und andere in Europa, die sagen,
daß alles Erfahrbare auch erklärt werden kann. Und das hat etwas
für sich. Sie sagen: „Warum kann man über das, was man erfährt,
nicht auch etwas sagen? Was ist denn eine Erfahrung anderes als
etwas, das du verstanden hast — warum also kann man es nicht
auch anderen verständlich machen?” Also behaupten sie, daß jede
Erfahrung auch ausgedrückt werden kann. Wenn nicht, so zeigt
das nur, daß gar keine Erfahrung da ist. Dann bist du nur ein Spin-
ner, verworren, verschwommen. Und wenn du dich nicht einmal
ausdrücken kannst, dann hast du keine Chance, etwas zu erfah-
ren.
Von diesem Standpunkt aus nennen sie alle Religionen Hokus-
pokus: „Wieso könnt ihr nicht ausdrücken, was ihr eure ,Erfah-
rung` nennt?” Diese Logik leuchtet vielen ein. Aber ihr Argument
ist unbegründet. Ganz abgesehen von „religiösen” Erfahrungen
gibt es ganz alltägliche Erfahrungen, die ebenfalls nicht erklärt und
ausgedrückt werden können.

35 4
Kapitel14

Ich habe Schmerzen im Kopf, und wenn du noch nie Kopf-


schmerzen gehabt hast, kann ich dir nicht erklären, was Kopf-
schmerzen sind. Darum bin ich aber noch lange kein Spinner. Das
heißt ja nicht, daß ich es mir nur einbilde und nicht etwa wirklich
erfahre. Die Kopfschmerzen sind da. Aber wer noch nie Kopf-
schmerzen gehabt hat, dem kann man das nicht erklären. Wenn
der andere Kopfschmerzen kennt, gibt es natürlich kein Problem.
Buddhas Schwierigkeit ist diese: daß er zu Nicht-Buddhas spre-
chen muß — nicht zu Nicht-Buddhisten, denn auch Nicht-Budd-
histen können Buddhas sein! Jesus ist ein Nicht-Buddhist, aber er
ist ein Buddha. Weil Buddha mit Leuten kommunizieren muß,
die es nicht erfahren haben, stellt sich die Schwierigkeit. Ihr wißt
nicht, was Kopfschmerzen sind: es gibt viele, die Kopfschmerzen
nicht kennen, die nur das Wort gehört haben, ohne daß es ihnen
etwas bedeutet.
Du kannst mit einem Blinden über Licht reden, aber dabei wird
nichts übermittelt. Er hört das Wort „Licht”, er hört die Erklärung.
Er kann die gesamte Theorie des Lichts verstehen, und trotzdem
sagt ihm das Wort „Licht” überhaupt nichts. Ehe er es nicht er-
fahren kann, ist keine Kommunikation möglich. Merkt euch also:
Kommunikation ist nur möglich zwischen zwei Menschen, die
die gleiche Erfahrung haben.
Wir können im gewöhnlichen Leben kommunizieren, weil un-
sere Erfahrungen ähnlich sind. Aber selbst dann gibt es Schwie-
rigkeiten, wenn es um die Feinheiten geht. Ich sage: Der Himmel
ist blau, und du sagst ebenfalls, daß der Himmel blau ist, aber wie
wollen wir wissen, daß meine Erfahrung von Blau die gleiche wie
deine ist. Da gibt es keine Möglichkeit.
Ich mag eine andere Nuance von Blau vor Augen haben als du.
Aber das, was ich von innen sehe, was ich erfahre, kann ich dir
nicht übermitteln. Ich kann nur sagen „blau”. Du sagst ebenfalls
„blau”, aber Blau hat tausend Nuancen. Und nicht nur Nuancen,
Blau enthält tausend Bedeutungen. In meinem Denkschema mag
Blau etwas ganz anderes bedeuten als in deinem, denn das Wort
„blau” enthält nicht die Bedeutung. Die Bedeutung wird immer
von der eigenen Vorstellungswelt geliefert. So ist es also selbst bei
gewöhnlichen Erfahrungen schwierig zu kommunizieren. Und

355
Das Buch der Geheimnisse

jenseits von ihnen gibt es Erfahrungen, die transzendental sind.


Zum Beispiel verliebt sich jemand. Er macht eine Erfahrung. Es
geht ihm um sein Leben, aber er kann nicht erklären, was ihm
passiert ist, was mit ihm los ist. Er kann weinen, kann springen,
kann tanzen. Das sind die Anzeichen, daß mit ihm etwas passiert
ist. Aber wie sieht es innen aus? Was passiert wirklich, wenn ei-
nem die Liebe zustößt? Und Liebe ist nichts Ungewöhnliches! Sie
widerfährt mehr oder weniger jedem. Trotzdem sind wir bis heu-
te noch nicht in der Lage, auszudrücken, was innen passiert.
Es gibt Menschen, die die Liebe als ein Fieber erfahren, eine Art
Krankheit. Rousseau hat gesagt, daß man die Jugend nicht den
Höhepunkt des menschlichen Lebens nennen kann, weil die Ju-
gend für die Krankheit anfällig ist, die man Liebe nennt. Erst in
dem Alter, da Liebe nicht mehr wichtig genommen wird, verliert
der Geist seine Verwirrung und Verschwommenheit. Weisheit ist
also erst in einem sehr, sehr fortgeschrittenen Alter möglich, denn
Liebe läßt keine Weisheit zu. So sieht er es.
Es gibt andere, die das ganz anders sehen. Alle wahrhaft Wei-
sen schweigen sich aus, was die Liebe angeht. Sie sagen überhaupt
nichts. Weil dies Gefühl so unendlich ist, so tief, daß Sprache un-
weigerlich ein Verrat an ihr wäre. Und drückt man sie dennoch
aus, so fühlt man sich schuldig, weil man nie dem Gefühl des Un-
endlichen gerecht werden kann. Also hält man besser den Mund.
Je tiefer die Erfahrung, desto geringer die Möglichkeit, sie auszu-
drücken.
Buddha schwieg sich nicht deshalb über Gott aus, weil es kei-
nen Gott gibt. Und alle, die zuviel Worte über Gott machen, zei-
gen damit nur, daß sie keine Erfahrung haben. Buddha blieb still.
Wo immer er hinkam, ließ er verkünden: „Bitte stellt keine Fra-
gen über Gott. Ihr könnt alles fragen, nur nichts über Gott.”
Gelehrte und Pundits, die selber keine Ahnung hatten, sondern
nur Wissen, fingen an, über Buddha zu reden und Gerüchte zu
verbreiten: „Er sagt nichts, weil er nichts weiß! Wenn er es wüß-
te, warum sagt er es dann nicht?” Und Buddha lachte nur. Und
dieses Lachen konnten nur sehr wenige verstehen. Wenn schon
Liebe nicht ausgedrückt werden kann, um wieviel weniger dann
Gott? Darum würde jeder Ausdruck nur schaden. Das ist also das

356
Kapitel 14

eine. Das ist der Grund, warum Shiva nichts über diese Erfahrung
sagt. Er geht nur bis zu dem Punkt, wo ein Fingerzeig als Weg-
weiser helfen kann: „Dann, das, die Erfahrung” ... und wird dann
still.
Zweitens: Könnte man es vielleicht bis zu einem gewissen Grad
ausdrücken, also nicht vollständig, sondern nur teilweise? ... das
ist möglich! Auch wenn es sich nicht voll ausdrücken läßt, könn-
te man doch trotzdem gewisse Parallelen ziehen, die helfen könn-
ten. Aber selbst davon macht Shiva keinen Gebrauch, und zwar
aus folgendem Grund: Weil nämlich unsere Gedanken so gierig
sind, daß sie sich an alles klammern, was über diese Erfahrung
überhaupt gesagt wird. Und dann vergißt man die ganze Metho-
de und denkt nur an die Erfahrung, weil die Methode Anstren-
gung erfordert, eine lange Anstrengung, die manchmal ermüdend
ist, manchmal gefährlich. Eine lange, dauerhafte Anstrengung ist
nötig.
Dann vergessen wir ganz die Methode. Wir denken an das Er-
gebnis und wünschen uns das Ergebnis herbei, fantasieren darü-
ber. Und man kann sich sehr leicht betrügen. Man kann sich vor-
stellen, daß das Ergebnis erreicht sei.
Vor wenigen Tagen kam ein Mann zu mir, ein traditioneller
Sannyasin, ein alter, ein sehr alter Mann. Vor dreißig Jahren hatte
er Sannyas genommen; jetzt ist er fast siebzig. Er kam zu mir und
sagte: „Ich bin gekommen, um ein paar Fragen zu stellen.”
Also fragte ich ihn: „Was willst du wissen?” Plötzlich änderte er
den Ton und sagte: „Nein, eigentlich nicht, um etwas zu wissen,
sondern nur um dich kennenzulernen. Denn ich weiß schon alles,
was man überhaupt wissen kann.”
Dreißigjahre lang hatte er sich etwas vorgemacht, hat sich die
Seligkeit gewünscht, göttliche Erfahrungen, und nun in seinen al-
ten Tagen ist er schwach geworden, und der Tod steht vor der Tür.
Jetzt halluzinierte er, daß er angekommen sei.
Also sagte ich ihm: „Wenn du das Höchste erfahren hast, dann
schweige. Bleib eine kleine Weile hier bei mir, denn Worte sind ja
nicht nötig.”
Da wurde er unruhig und sagte: „Okay, nehmen wir also an, ich
hätte es noch nie erfahren. Sag mir also etwas.” Da sagte ich ihm,

35 7
Das Buch der Geheimnisse

daß es bloße Annahmen bei mir nicht gibt: „Entweder du hast es


erfahren oder nicht. Sei also klar: Wenn du erfahren hast, dann sei
still, bleib ein paar Augenblicke und geh. Wenn du nichts erfahren
hast, dann sage es klar. Dann sag es mir.”
Da wußte er nicht weiter. Er war gekommen, um nach ein paar
Methoden zu fragen und sagte: „Eigentlich habe ich noch nichts
erfahren, aber ich habe so viel an Aham Bramasmi gedacht, an das
,Ich bin das Brahma`, daß ich oft vergesse, daß ich es nur denke.
Ich habe es mir dreißig Jahre lang Tag und Nacht so oft wieder-
holt, daß ich manchmal vergesse, daß ich es gar nicht erfahren
habe. Es sind nur geborgte Worte.”
Es ist schwer, sich darüber bewußt zu sein, was Wissen ist und
was Erfahrung. Alles geht durcheinander, die Grenzen vermi-
schen und verwischen sich. Und man kann sehr leicht das Ge-
fühl haben, daß das Wissen zu Erfahrung geworden ist. Der
menschliche Verstand ist so trügerisch, so gerissen, daß das mög-
lich ist. Das ist ein weiterer Grund, warum Shiva über die Er-
fahrung selbst nichts sagt. Er will darüber nichts sagen. Er redet
nur immer über Methoden und schweigt sich über das Ergebnis
völlig aus. Du kannst dich auf ihn nicht berufen. Das ist auch ei-
ner der Gründe, warum dies Buch, eines der wichtigsten über-
haupt, vollkommen unbekannt geblieben ist. Das Vigyan Bhai-
rav Tantra gehört zu den wichtigsten Büchern der Welt. Keine
Bibel, keine Veden, keine Gita ist so bedeutsam und doch ist es
völlig unbekannt geblieben. Der Grund? Es enthält nur einfache
Methoden, so daß sich eure Gier an kein Ergebnis klammern
kann.
Der Kopf möchte sich an das Ergebnis halten. Der Kopf ist
nicht an der Methode interessiert, er interessiert sich für das End-
ergebnis. Und könnte man die Methode umgehen und ihr Er-
gebnis so erreichen, wäre der Kopf äußerst froh.
Jemand hat mich gefragt: „Warum so viele Methoden? Kabir
hat doch gesagt: Sahaj Samadhi Bhali — sei spontan! Nur sponta-
ne Ekstase ist gut, Methoden sind also nicht nötig.” Ich hab` ihm
gesagt: „Wenn du das Sahaj Samadhi erreicht hast, die spontane
Ekstase, dann brauchst du freilich keine Methode, dann ist keine
nötig. Aber warum bist du dann hergekommen?” Er sagte: „Ich

35 8
Kapitel 14

bin noch nicht angekommen, aber ich habe das Gefühl, daß Sahaj
,das Spontane`, besser ist."
„Aber warum hast du das Gefühl, daß das Spontane besser ist?”
fragte ich. „Wenn man dir erzählt, daß keine Methode nötig sei,
fühlt sich der Kopf erleichtert, weil du nun nichts mehr tun mußt
und alles bekommst, ohne etwas zu tun.”
Genau deshalb ist Zen im Westen so zur Mode geworden; denn
Zen sagt: Strengt euch nicht an. Zen hat recht: es ist keine An-
strengung nötig. Aber ihr dürft nicht vergessen, daß eine lang-
wierige Anstrengung nötig ist, diesen Punkt der Mühelosigkeit zu
erreichen. Aber der oberflächliche Schluß, im Zen sei keine Mühe
nötig, ist für den Westen sehr attraktiv geworden. Wenn keine
Mühe nötig ist, sagt der Kopf „Das ist genau das Richtige für
mich, denn nun kann ich die Hände in den Schoß legen.” Aber
das kann keiner.
Suzuki, der den Zen im Westen bekannt gemacht hat, hat so
viel Gutes getan, wie er Schaden angerichtet hat. Und auf Dauer
wird sich der Schaden langer auswirken. Er war ein sehr authen-
tischer Mann, einer der authentischsten Menschen des Jahrhun-
derts überhaupt, und sein Lebenswerk war, dem Westen die Bot-
schaft des Zen zu bringen. Und allein seine Arbeit hat den Zen
i m Westen bekannt gemacht. Inzwischen ist Zen große Mode.
Überall im Westen gibt es Freunde des Zen. Nichts zieht so an
wie Zen.
Aber am Wesentlichen gehen sie vorbei! Das Attraktive ist, daß
Zen sagt, es sei keine Methode nötig, es sei keine Mühe nötig,
man braucht nichts zu tun: „Es” blühe spontan auf.
Das stimmt — aber ihr seid nicht spontan, und so blüht „Es”
auch nie in euch auf. „Spontan werden” — das scheint absurd und
widersprüchlich: aber ihr habt viele reinigende Methoden nötig,
ehe ihr spontan sein könnt; Methoden, die euch unschuldig ma-
chen, so daß ihr überhaupt spontan sein könnt. So wie ihr seid,
könnt ihr in nichts spontan sein.
Dies Vigyan Bhairav Tantra wurde von Paul Rebs ins Englische
übersetzt. Er hat auch ein schönes Buch geschrieben: „Zenfleisch,
Zenknochen”, in dessen Anhang er dieses Buch, Vigyan Bhairav
Tantra, mit aufgenommen hat. Sein Buch beschäftigt sich mit Zen,

359
Das Buch der Geheimnisse

aber im Anhang erwähnt er auch dieses Buch, die 112 Methoden


Shivas und nennt es einen Vorläufer des Zen. Vielen Zen-Anhän-
gern hat das mißfallen, weil sie behaupten, daß es für Zen keine
Methoden gebe, wohingegen dieses Buch es nur mit bewußter
Anstrengung zu tun habe, nur mit Methoden, und für Zen sei kei-
ne Methode, keine Mühe nötig. Es sei also Anti-Zen, nicht Vor-
Zen.
Oberflächlich haben sie recht, aber bei näherem Hinsehen
nicht, denn man muß einen langen Weg hinter sich bringen, um
spontan zu werden. Einer von Gurdjieffs Schülern, Ouspensky,
sagte allen Suchern, die zu ihm kamen: „Über den eigentlichen
Weg wissen wir nichts. Wir lehren nur ein paar Fußpfade, die
zum Weg hinführen. Der Weg ist uns nicht bekannt.” Glaubt
nicht, daß ihr schon auf dem Weg seid! Selbst der Weg ist noch
weit weg. Von dort aus, wo ihr steht, ist der Weg noch weit ent-
fernt. Ihr müßt also überhaupt erst einmal den Weg erreichen.
Ouspensky war ein sehr bescheidener Mensch, und es ist sehr
schwer, religiös und dennoch bescheiden zu sein — sehr, sehr
schwierig, denn sobald man das Gefühl hat, Bescheid zu wissen,
dreht der Kopf durch. Ouspensky sagt euch immer nur: ,Wir wis-
sen nichts vom Weg, er ist sehr weit weg, darüber braucht man
jetzt noch nicht zu reden." Von da, wo du bist, mußt du erst eine
Brücke, eine Verbindung herstellen, einen Fußpfad, der dich zum
Weg führt.
Spontaneität, Sahaj-Yoga — ist weit weg von euch. Dort, wo ihr
seid, seid ihr noch völlig künstlich, kultiviert, zivilisiert. Nichts ist
spontan — nichts, sage ich, ist spontan. Wenn in eurem Leben
nichts spontan ist, wie kann da die Religion spontan sein? Wenn
nichts spontan ist, ist noch nicht einmal die Liebe spontan. Selbst
die Liebe ist ein Kuhhandel, selbst die Liebe ist Kalkül, selbst die
Liebe ist Mache. Also kann nichts sonst spontan sein. Und somit
ist es unmöglich, spontan in den Kosmos zu explodieren.
Von da aus, wo ihr seid, ist es nicht möglich. Erst müßt ihr eure
ganze Künstlichkeit über Bord werfen, eure falschen Einstellun-
gen, eure Anstandsformen, eure Vorurteile. Nur dann wird ein
spontanes Geschehen möglich. Diese Methoden helfen euch, an
einen Punkt zu kommen, wo nichts mehr getan werden muß, wo

36 0
Kapitel 14

euer bloßes Sein genug ist. Aber der Kopf kann euch belügen, und
zwar ganz leicht, denn damit kann er euch vertrösten. Shiva
spricht nie von irgendwelchen Ergebnissen, sondern immer nur
von Methoden. Dort liegt der Schwerpunkt, vergeßt das nicht. Tu
etwas, damit ein Augenblick möglich wird, wo nichts mehr zu tun
ist, wo sich dein inneres Wesen einfach in den Kosmos auflösen
kann. Aber das muß man sich verdienen. Zen ist heute aus den
falschen Gründen Mode, und das gleiche gilt für Krishnamurti,
der sagt, daß kein Yoga, keine Methode nötig ist. Ja, er sagt sogar,
daß es überhaupt keine Meditationsmethode gibt. Und er hat
recht.
Er hat recht, aber Shiva, der sagt, daß es diese 112 Meditations-
methoden gibt, hat ebenfalls recht. Aber was euch betrifft, hat Shi-
va mehr recht, und wenn ihr zwischen Krishnamurti und Shiva
zu wählen habt, dann wählt Shiva. Krishnamurti ist euch keine
Hilfe. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, daß Krishnamur-
ti absolut unrecht hat — nur um euch zu helfen. Vergeßt nicht, daß
ich sage: Um euch zu helfen. Denn er kann Schaden anrichten.
Und auch das sage ich nur, um euch zu helfen, denn wenn ihr in
sein System geratet, kommt ihr nicht etwa zum Samadhi, sondern
einzig zu dem Schluß, daß keine Methode nötig ist. Und das ist
gefährlich. Für euch sind Methoden nötig!
Es kommt ein Augenblick, wo keine Methode mehr nötig ist.
Aber dieser Augenblick ist für euch noch nicht gekommen. Und
ehe es soweit ist, wäre es gefährlich, an etwas zu denken, was noch
vor euch liegt. Darum schweigt sich Shiva aus. Er sagt nichts über
die Zukunft, nichts über das, was geschehen wird. Er bleibt bei
euch, bei dem, was ihr seid und was mit euch geschehen muß.
Krishnamurti redet eine Sprache, die ihr noch nicht verstehen
könnt.
Seine Logik ist nachvollziehbar. Seine Logik ist richtig, sie ist
schön. Und es lohnt, sich die Logik von Krishnamurti zu merken.
Er sagt: Wenn man einer Methode folgt, wer ist es darin, der sie
ausführt? Der Verstand. Und wie kann eine Methode, die vom
Verstand geübt wird, den Verstand auslöschen? Sie wird ihn im
Gegenteil nur noch mehr stärken. Dein Verstand wird so nur
noch stärker. Es wird zur Konditionierung, und das ist ein

36 1
Das Buch der Geheimnisse

Holzweg. Meditation ist spontan; man kann für sie nichts tun.
Und was kann man für die Liebe tun? Gibt es eine Methode, wie
man lieben soll? Wer so einer Methode folgt, dessen Liebe wird
falsch sein. Liebe geschieht: sie kann nicht praktiziert werden.
Wenn nicht einmal Liebe praktiziert werden kann, wie kann dann
das Beten praktiziert werden? Wie kann dann Meditation prakti-
ziert werden? Diese Logik stimmt genau, sie ist absolut richtig —
aber nicht für euch, denn wenn ihr euch diese Logik ständig an-
hört, dann werdet ihr von dieser Logik konditioniert werden. Und
diejenigen, die Krishnamurti seit vierzig Jahren zugehört haben,
sind die konditioniertesten Menschen, die mir je begegnet sind.
Sie sagen, es gibt keine Methode, und trotzdem hat sie das nir-
gendwo hingeführt.
Ich frage sie:„ Ihr habt verstanden, daß es keine Methode gibt,
also praktiziert ihr auch keine, aber ist die Spontaneität in euch
aufgeblüht?" Sie sagen nein. Und wenn ich dann sage: „Versucht es
mit einer Methode”, dann schaltet sich augenblicklich ihre Kon-
ditionierung ein. Sie sagen: „Es gibt keine Methode.” Sie haben
keine Methode praktiziert, und kein Samadhi ist in Sicht. Und
wenn man ihnen sagt, versucht es mit einer Methode, sagen sie,
daß es keine gibt. So stecken sie in der Klemme. Sie sind keinen
Zentimeter weiter, und der Grund ist, daß ihnen etwas gesagt
wurde, was nichts für sie ist.
Es ist, als ob man einem Kind etwas über den Sex erzählt. Das
ist vorläufig für das Kind sinnlos, sogar gefährlich, weil man sein
Denken konditioniert. Und es entspricht nicht seinem Bedürfnis,
es hat kein Interesse daran. Es weiß noch nicht, was Sex bedeutet,
denn seine Drüsen funktionieren noch nicht. Sein Körper ist noch
nicht sexuell. Seine Energie ist biologisch noch nicht zum Sex-
zentrum gegangen, und ihr erzählt ihm etwas davon. Glaubt ihr,
daß ihr ihm etwas darüber beibringen könnt, nur weil es Ohren
hat? Glaubt ihr, ihr könnt ihm davon erzählen, nur weil es mit
dem Kopf nicken kann?
Ihr könnt es tun, aber eure Sexerziehung kann gefährlich und
schädlich sein, Sex ist für das Kind keine existentielle Frage. Das ist
noch nicht sein Problem, es hat noch nicht den Reifegrad erreicht,
wo Sex wichtig wird. Wartet ab! Wenn es anfängt, Fragen zu stel-

362
Kapitel 14

len, wenn es reifer wird und Fragen stellt, dann klärt es auf. Und
sagt ihm nie mehr, als es verstehen kann, denn dieses Mehr wird
nur seinen Kopf belasten.
Und das gleiche gilt für das Phänomen der Meditation. Man
kann euch nur Methoden beibringen, aber nichts über Ergebnis-
se sagen. Das hieße, den Dingen vorauseilen. Und solange man
noch nicht festen Fuß in der Methode gefaßt hat, bleibt es reine
Hirnsache, wenn man Dinge vorwegnimmt. Und so kann keine
Methode helfen.
Es ist, wie wenn ein kleines Kind Rechenaufgaben macht. Es
kann immer hinten im Buch die Lösung finden, dort stehen die
Lösungen. Und wenn das Kind die Antwort schon kennt, ist es
sehr schwer, ihm die Methode beizubringen; sie scheint ihm dann
überflüssig. Wenn es schon die Antwort kennt, braucht es die Me-
thode nicht. So wird das Pferd von hinten aufgezäumt, und jede
Pseudomethode kann zum gleichen Ergebnis führen. Da es ja die
richtige Lösung schon kennt, kann es so tun, als ob es zur Lösung
kommt, die Methode mag noch so falsch sein. Und auf dem Ge-
biet der Religion geschieht das so oft, daß jedermann es so zu hal-
ten scheint wie die Kinder.
Die Antwort zu wissen, ist nicht gut für euch. Die Frage ist da,
die Methode ist da, aber die Antwort müßt ihr selber finden. Nie-
mand darf sie euch geben. Die wahren Lehrer verhelfen euch
nicht eher zur Antwort, als bis der methodische Vorgang abge-
schlossen ist. Sie helfen euch nur dabei, den Prozeß abzuschließen.
Und solltet ihr sogar schon irgendwie die Antwort wissen, solltet
ihr sie euch schon von irgendwoher ermogelt haben, dann wer-
den sie sie falsch nennen, selbst wenn sie es nicht ist. Sie werden
sagen: „Das stimmt nicht. Wirf es weg, das brauchst du nicht.” Sie
werden euch daran hindern, die Antwort zu kennen, bevor ihr sie
wirklich erkannt habt. Darum wird keine Antwort gegeben.
Shivas Geliebte Devi hat ihm Fragen gestellt. Er gibt einfache
Methoden zur Antwort. Die Frage ist da, und die Methode ist da,
aber die Antwort bleibt offen. Man muß sie selbst ausarbeiten,
selbst ausleben. Vergeßt also nicht: Das Zentrieren ist die Metho-
de, nicht das Ergebnis. Das Ergebnis ist eine kosmische, ozeanische
Erfahrung, und darin gibt es kein Zentrum mehr.

36 3
Das Buch der Geheimnisse

Die zweite Frage:

Du hast gesagt, wenn man wirklich lieben könne, dann genüge


Liebe allein und die 112 Meditationsmethoden seien unnötig. So,
wie du wirkliche Liebe erklärt hast, glaube ich, wirklich zu lieben.
Aber die Erfahrung der Seligkeit, die ich beim Meditieren habe,
scheint ganz anders zu sein, als die tiefe Befriedigung die ich von der
Liebe her kenne, und ich kann mir nicht vorstellen, wie ich auch
ohne Meditation auskommen könnte Erkläre also bitte näher, wie
Liebe allein, ohne Meditation, genug sein kann?

Vieles gilt es hier zu verstehen. Erstens: Wenn du wirklich


liebst, stellst du überhaupt nicht die Frage nach Meditation. Denn
Liebe ist eine totale Erfüllung, und das Gefühl, daß etwas fehlt,
daß eine Lücke auszufüllen ist, daß noch etwas mehr gebraucht
wird, kann gar nicht aufkommen. Erst wenn du das Gefühl hast,
daß etwas mehr nötig ist, klafft die Lücke. Wenn du das Gefühl
hast, daß etwas mehr getan werden muß, erfahren werden kann,
dann ist deine Liebe nur ein Gefühl und keine Wirklichkeit. Ich
bezweifle nicht deinen Glauben; du magst glauben, daß du liebst.
Dein Glaube ist authentisch: Du betrügst niemanden. Du hast das
Gefühl, daß du liebst, aber die Symptome zeigen, daß du es nicht
tust.
Was sind die Symptome dafür, daß man liebt? Dreierlei. Erstens:
absolute Zufriedenheit. Du brauchst nichts weiter, nicht einmal
Gott. Zweitens: keine Zukunft. Dieser jetzige Augenblick der Lie-
be ist Ewigkeit. Kein nächster Moment, keine Zukunft, kein Mor-
gen. Liebe geschieht in der Gegenwart. Und drittens: du hörst auf,
du bist nicht mehr. Wenn du immer noch bist, dann hast du noch
nicht den Tempel der Liebe betreten.
Wenn diese drei Dinge geschehen — wenn du nicht bist, wer
soll dann noch meditieren? Wenn es keine Zukunft gibt, werden
alle Methoden sinnlos, weil Methoden in die Zukunft führen, zu
Ergebnissen. Und wenn du in diesem jetzigen Augenblick zufrie-
den bist, absolut zufrieden, wo ist dann noch die Motivation et-
was zu tun? Es gibt eine psychologische Schule — sie gehört zu den
wichtigsten Strömungen im modernen Denken — die mit

36 4
Kapite114

Wilhelm Reich begonnen hat. Reich hat gesagt, daß jede Gemüts-
störung aus Mangel an Liebe entsteht. Weil der Mensch keine tie-
fe Liebe fühlen kann, weil er nicht total in ihr aufgehen kann,
sehnt sich sein unerfülltes Wesen nach Erfüllung, und zwar auf
vielen Ebenen.
Wenn ich sage, daß nichts mehr nötig ist, wenn du lieben
kannst, meine ich damit nicht, daß die Liebe allein genügt. Ich
meine damit, daß die Liebe, genau wie jede beliebige Meditation,
zur Tür wird.
Was soll denn bei der Meditation herauskommen? Diese drei
Dinge: Sie wird dir Zufriedenheit geben, sie wird dir helfen in der
Gegenwart zu bleiben, und sie wird dein Ego zerstören. Diese drei
Dinge wird die Meditation tun, gleich mit welcher Methode. Man
kann es auch so sagen: Liebe ist die natürliche Methode. Wenn
die natürliche Methode verfehlt worden ist, dann sind andere,
künstliche Methoden nötig.
Aber du kannst dir auch nur vormachen zu lieben; dann kön-
nen dir diese drei Dinge als Kriterien dienen, als Prüfstein, als
Maßstab, und du kannst nachprüfen, ob diese drei Dinge passie-
ren. Wenn sie nicht passieren, dann kann die Liebe alles mögliche
sein, nur nicht Liebe. Und „Liebe” ist ein weites Phänomen: sie
kann vieles sein. Sie kann Lust sein, sie kann einfach Sex sein, sie
kann nur eine besitzergreifende Tendenz sein, sie kann einfach
nur Beschäftigung sein, weil man es allein nicht aushält und man
jemanden braucht, weil man Angst hat, und sich nicht sicher fühlt.
Die Gegenwart des anderen hilft einem, sich sicher zu fühlen.
Energie braucht Ventile. Die Energie speichert sich ständig, bis
sie zur Last wird. Dann muß man sie abstoßen und freisetzen.
Deine Liebe mag also nur eine Entladung sein. Liebe kann viele
Dinge sein, und Liebe ist vieles. Und gewöhnlich ist Liebe alles
mögliche außer Liebe.
Für mich ist Liebe Meditation. Versuche also folgendes: Sei mit
deinem Geliebten in Meditation. Wann immer dein Geliebter
oder deine Geliebte bei dir ist, gehe in Meditation. Macht aus dem
Zusammensein einen meditativen Zustand.
Gewöhnlich tun wir genau das Gegenteil. Wo Liebende zu-
sammenkommen, streiten sie. Sobald sie sich trennen, fangen sie

36 5
Das Buch der Geheimnisse

an, aneinander zu denken, und kaum sind sie zusammen, fangen


sie zu streiten an. Wenn sie sich wieder getrennt haben, dann seh-
nen sie sich wieder nacheinander. Steckt man sie wieder zusam-
men, geht der Streit wieder los. Das ist nicht Liebe!
Ich schlage also folgendes vor: Macht die Präsenz des oder der
Geliebten zu einem meditativen Zustand. Seid still. Seid euch nah,
aber seid still. Nutzt die Gegenwart des anderen, um aus dem
Denken auszusteigen: Denkt nicht. Wenn du denkst, während
der geliebte Mensch bei dir ist, dann bist du nicht bei dem Ge-
liebten. Wie könntest du? Ihr seid zwar beide da, aber meilenweit
voneinander entfernt. Jeder denkt seine Gedanken. Ihr seid euch
nur äußerlich nah, aber in Wirklichkeit nicht, denn wo zwei Köp-
fe denken, liegen Welten zwischen ihnen.
Wirkliche Liebe bedeutet, daß alles Denken aufhört. Hört in der
Gegenwart des Geliebten oder der Geliebten völlig zu denken auf.
Nur dann seid ihr euch nah. Dann seid ihr plötzlich eins. Dann
können euch die Körper nicht trennen. Dann hat tief im Körper
etwas die Schranke eingerissen — das Schweigen. Das ist das eine.
Mache aus deiner Beziehung eine heilige Sache. Wenn du wirk-
lich liebst, wird der Gegenstand deiner Liebe göttlich. Wir d er es
nicht, dann mußt du wissen, daß es keine Liebesbeziehung ist. Das
ist unmöglich. Eine Liebesbeziehung ist keine profane Beziehung.
Aber hast du je Ehrfurcht für den geliebten Menschen empfunden?
Du magst vieles andere gefühlt haben, aber niemals Ehrfurcht.
Es erscheint heute unvorstellbar, aber Indien hat viele, viele
Möglichkeiten ausprobiert. So hat Indien betont, daß die Liebes-
beziehung zwischen Mann und Frau ein geheiligtes Phänomen
sein muß, keine weltliche Beziehung. Der Liebende, die Gelieb-
te, beide werden göttlich. Man kann es nicht anders empfinden.
Ich frage euch: Habt ihr je Ehrfurcht für eure Frau empfunden?
Die bloße Vorstellung erscheint irrelevant — Ehrfurcht vor deiner
Frau? Kommt gar nicht in Frage. Wohl Verurteilung, wohl alles
mögliche, aber niemals Ehrfurcht. Die Beziehung ist rein weltlich.
Ihr benutzt euch gegenseitig. Die Frau mag sagen, daß sie ihren
Mann achtet, aber ich habe noch keine einzige Frau gesehen, die
ihren Mann wirklich achtet. Die Frau mag zwar, weil die Tradi-
tion es verlangt, weil die Sitte es will, daß sie den Mann achtet,

36 6
Kapitel 14

ständig Lippenbekenntnisse ablegen und sagen, daß sie ihn ach-


tet, und, wie in Indien üblich, nicht einmal seinen Namen auszu-
sprechen wagen. Nicht etwa aus Respekt, denn sie könnte so
manches sagen ... Aber seinen Namen spricht sie nicht aus, ein-
fach weil die Tradition es so will.
Ehrfurcht ist also das zweite. Empfinde Ehrfurcht vor dem ge-
liebten Menschen. Wenn du das Göttliche in dem geliebten Men-
schen nicht erkennen kannst, kannst du es nirgendwo sehen. Wie
kannst du es in einem Baum sehen, wo es mit ihm noch nicht ein-
mal eine Beziehung gibt? Wenn es an tiefer Intimität mangelt, wie
kannst du das Göttliche in einem Felsen oder Baum erkennen?
Dir fehlt jede Beziehung. Wenn du es nicht in dem Menschen er-
kennst, den du liebst, wenn Gott dort nicht spürbar wird, dann ist
er nirgendwo sonst zu spüren. Und wenn du ihn dort spüren
kannst, wirst du ihn früher oder später überall spüren; denn ist das
Tor erst einmal aufgerissen und du hast im anderen auch nur ei-
nen Schimmer des Göttlichen erhascht, dann kannst du diesen
Schimmer nicht vergessen. Danach wird alles zum Tor. Darum
sage ich, daß die Liebe selbst eine Meditation ist.
Denke also nicht in Gegensätzen — ob du nun lieben oder me-
ditieren sollst. So hatte ich es nicht gemeint. Versuche nicht zu
wählen, ob du lieben oder meditieren sollst; liebe meditativ. Oder
meditiere liebevoll. Zieh keinen Trennstrich. Liebe ist ein sehr
natürliches Phänomen und kann als Vehikel benutzt werden. Und
Tantra hat sie als Vehikel benutzt — nicht nur die Liebe, sogar den
Sex. Tantra hat ihn als Vehikel benutzt.
Tantra sagt, daß du in einem tiefen Sexakt so leicht meditieren
kannst, wie es kaum in einem anderen Zustand möglich ist, weil
dies eine natürliche, biologische Ekstase ist. Aber alles, was heute
unter einem „Sexakt” verstanden wird, ist eine sehr pervertierte
Form. Wenn also von diesen Dingen die Rede ist, fühlt ihr euch
unbehaglich, denn alles, was ihr im Namen von „Sex” erfahren
habt, ist kein Sex, sondern nur ein Schatten davon, denn die Ge-
sellschaft hat eine feindliche Einstellung zum Sex gezüchtet. Jeder
Mensch ist ein unterdrückter Mensch: natürlicher Sex ist daher
unmöglich. Und jedesmal, wenn ihr euch auf den Sex einlaßt,
habt ihr Schuldgefühle. Das Schuldgefühl wird zur Schranke, und

36 7
Das Buch der Geheimnisse

so geht euch eine der größten Chancen verloren. Ihr hättet sie
nutzen können, um tief in euch hineinzugehen. Tantra sagt, sei
i m Sexakt meditativ. Empfinde das ganze Phänomen als heilig,
empfinde keine Schuld. Fühle dich vielmehr gesegnet, daß dir die
Natur eine Quelle geschenkt hat, durch die du unmittelbar in eine
tiefe Ekstase gelangen kannst.
Und dann sei darin total frei. Verdränge nichts, wehre nichts ab!
Laß die sexuelle Kommunion sich deiner bemächtigen. Vergiß
dich, wirf alle Hemmungen ab. Sei absolut natürlich, und dann
wirst du eine tiefe Musik im Körper wahrnehmen. Wenn beide
Körper zu einer Harmonie werden, dann wirst du völlig verges-
sen, was du bist — und dennoch wirst du sein. Nur mußt du das
Ich vergessen, es wird kein Ich mehr da sein, nur noch Existenz,
die mit Existenz spielt, ein Wesen mit dem andern. Und beide
werden eins. Es wird kein Denken da sein, die Zukunft wird auf-
hören, und in diesem Augenblick bist du in der Gegenwart, ohne
jede Schuld, ohne jede Hemmung. Mach eine Meditation daraus,
und der Sex wird transformiert. Nun wird der Sex selbst zur Tür.
Und wenn Sex zu einer Tür wird, dann hört der Sex nach und
nach auf, Sex zu sein. Und es kommt ein Augenblick, wo der Sex
verschwunden ist: Nur der Duft ist geblieben. Dieser Duft ist Lie-
be. Und später noch verschwindet selbst dieser Duft, und was
dann bleibt, ist Samadhi.
Tantra sagt: Betrachte nichts als feindlich: jede Energie ist
freundlich. Man muß nur wissen, wie man sie nutzen kann. Triff
also keine Wahl. Transformiere deine Liebe zu Meditation und
deine Meditation zu Liebe. Dann wirst du bald das Wort verges-
sen und die wahre Sache kennenlernen, die nicht das Wort ist.
Das Wort Liebe ist nicht Liebe, und das Wort Meditation ist nicht
Meditation, und das Wort Gott ist nicht Gott. Das sind alles nur
Worte. Und wenn du so weit vordringen kannst, dann werden
Gott, Meditation, Liebe — dann werden sie alle eins.

Noch eine Frage mehr:

Was sind die Gründe für die Unempfindlichkeit des Menschen,


und was kann man gegen sie tun?

36 8
Kapitel 14

Das Kind kommt zur Welt. Das Kind ist hilflos. Vor allem das
Kind des Menschen ist völlig hilflos. Es ist auf andere angewiesen,
um am Leben zu bleiben. Diese Abhängigkeit ist ein Kuhhandel.
Das Kind muß bei diesem Kuhhandel draufzahlen, und der Preis
ist Sensibilität.
Das Kind ist empfindsam; sein ganzer Körper ist empfindsam.
Aber es ist hilflos: Es kann nicht unabhängig sein. Es ist auf seine
Eltern, auf die Familie, auf die Gesellschaft angewiesen. Es muß
in der Abhängigkeit leben, und aufgrund dieser Abhängigkeit und
Hilflosigkeit zwingen Eltern und Gesellschaft das Kind ständig zu
Dingen, denen es sich fügen muß. Anders kann es nicht überleben
und muß sterben. Es muß also viel bei diesem Kuhhandel drauf-
zahlen.
Die erste sehr tiefe und bedeutsame Sache ist seine Empfind-
samkeit. Es muß sie aufgeben. Warum? Je empfindsamer ein Kind
ist, desto mehr ist es in Schwierigkeiten, desto mehr ist es verletz-
bar. Die leiseste Empfindung, und das Kind fängt zu weinen an.
Das stört so sehr, daß die Eltern sein Weinen unterbinden müs-
sen. Je sensibler das Kind, desto mehr Ärger erregt es. Und Kin-
der erregen in der Tat Ärger, also müssen Eltern seine Empfind-
samkeit beschneiden. Das Kind muß lernen, Widerstand zu lei-
sten, es muß Kontrolle lernen. Und nach und nach muß das Kind
sich spalten. Also unterdrückt es viele Empfindungen, weil sie
nicht „gut” sind. Es wird dafür bestraft.
Der ganze Körper des Kindes ist erotisch. Es kann seine. Finger
genießen, es kann seinen Körper genießen, er ist für das Kind ein
großartiges Phänomen. Aber bei seiner Entdeckungsreise kommt
der Augenblick, wo das Kind seine Genitalien entdeckt. Nun ist
das Problem da, denn der Vater und die Mutter sind beide unter-
drückt. Sobald das Kind, ob Junge oder Mädchen, seine Genitalien
berührt, wird es den Eltern unbehaglich.
Hier muß man tief hineinschauen. Ihr Benehmen ändert sich
plötzlich, und das Kind nimmt das wahr. Etwas Falsches ist pas-
siert. Sie rufen plötzlich: „Nicht anfassen.” Nun beginnt das Kind
zu fühlen, daß etwas mit den Genitalien nicht stimmt. Es muß
sich unterdrücken. Und die Genitalien sind der empfindlichste
Teil des Körpers, der empfindsamste, der lebendigste Teil, der

36 9
Das Buch der Geheimnisse

zarteste. Wenn die Genitalien nicht berührt und genossen werden


dürfen, habt ihr die eigentliche Quelle der Empfindsamkeit zer-
stört. Von nun an wird das Kind langsam unempfindlich. Je älter
es wird, desto unempfindlicher wird es.
Am Anfang steht also euer Kuhhandel — übel, aber notwendig.
Und von dem Augenblick an, wo man dies zu verstehen beginnt,
muß der Kuhhandel über den Haufen geworfen werden, und
man muß seine Empfindsamkeit zurückgewinnen. Der zweite
Grund für diesen Kuhhandel ist Sicherheit.
Ich war viele Jahre lang mit einem Freund zusammen; ich leb-
te in seinem Bungalow. Vom allerersten Tage an bemerkte ich,
daß er nie seine Diener ansah, nicht einmal seine Kinder. Er ging
i mmer nur im Eilschritt an ihnen vorbei. Schließlich fragte ich
ihn: „Was ist los?” Er sagte: „Wenn man seine Diener ansieht,
werden sie zutraulich, und dann wollen sie mehr Geld und dies
und jenes. Wenn du mit deinen Kindern sprichst, dann bist du
nicht der Herr im Haus, dann kannst du sie nicht kontrollieren.”
Also errichtete er eine Fassade der Unempfindlichkeit um sich
herum. Der Diener könnte womöglich krank sein und sein Mit-
leid erregen, und dann müßte er ihm Geld geben oder irgend-
wie anders helfen.
Jeder lernt früher oder später, daß Empfindlichkeit verletzbar
macht. Und so zieht man sich nach innen zurück, man baut eine
Schranke um sich herum, zur Deckung, als Sicherheitsmaßnah-
me. Dann kann man ruhig durch die Straßen gehen, wo Bettler
lungern und überall häßliche schmutzige Slums zu sehen sind,
ohne etwas fühlen zu müssen, ja ohne überhaupt etwas zu
fühlen. In dieser häßlichen Gesellschaft muß man sich mit einem
Schutzwall umgeben, einer Wand — einer feinen durchsichtigen
Wand, hinter der man sich verstecken kann. Sonst wird man zu
verletzlich, und es wäre schwer, zu überleben.
Darum macht sich Unempfindlichkeit breit. Sie hilft einem,
in dieser häßlichen Welt zu überleben, ohne verstört zu werden;
aber das hat seinen Preis, und der Preis ist sehr hoch. Man kann
zwar in dieser Welt ungestört leben, aber dafür kann man
nicht ins Göttliche vordringen, ins Gesamte, ins Ganze. Man kann
nicht die andere Welt betreten. Wenn gegenüber dieser Welt

3 70
T

Kapitel 14

Unempfindlichkeit gut ist und für jene Welt Empfindsamkeit gut


ist, dann ergibt sich daraus ein Problem. Wenn du wirklich daran
interessiert bist, in jene Welt zu gelangen, mußt du deine Emp-
findsamkeit wiederherstellen. Du mußt all diese Wände, diese
Sicherheiten aufgeben.
Natürlich wirst du dabei verletzbar. Du wirst viel leiden müs-
sen, aber dies Leiden ist nichts im Vergleich zu der Seligkeit, die
du durch Empfindsamkeit gewinnen kannst. Je empfindsamer du
wirst, desto mehr Mitgefühl gewinnst du. Aber du wirst leiden,
weil du von einer Hölle umgeben bist. Du bist verschlossen, dar-
um fühlst du sie nicht. Öffnest du dich erst einmal, dann wirst du
für beides offen: für die Hölle dieser Welt und für den Himmel
jener Welt. Du wirst für beide offen. Und es ist nicht möglich, auf
der einen Seite verschlossen und auf der anderen offen zu sein,
denn in Wirklichkeit bist du entweder ganz verschlossen oder
ganz offen. Bist du verschlossen, dann bist du für beides ver-
schlossen. Öffnest du dich, dann wirst du für beides offen sein.
Denke also daran: Ein Buddha ist von Seligkeit erfüllt, aber auch
von Leiden.
Sein Leiden ist aber nicht sein eigenes. Er leidet um anderer
Menschen willen. Er ist in tiefer Seligkeit, aber er leidet für ande-
re. Und die Buddhisten des Mahayana sagen, daß Buddha, als er
zur Tür des Nirvana kam, und ihm der Torhüter das Tor öffnete,
— dies ist ein Mythos, aber ein sehr schöner — daß Buddha also, als
der Türhüter ihm die Tür öffnete, sich weigerte, einzutreten. Der
Türhüter sagte: „Warum kommst du nicht herein? Seit Jahrtau-
senden erwarten wir dich. Jeden Tag kommt eine Nachricht
,Buddha kommt, Buddha kommt`! Der ganze Himmel erwartet
dich. Trete ein, du bist willkommen!” Buddha aber sagte: „Ich
kann nicht eintreten, bevor nicht alle anderen Menschen vor mir
eingetreten sind. Ich werde warten. Bevor nicht jedes einzelne
menschliche Wesen hereingekommen ist, gibt es für mich keinen
Himmel.” Buddha leidet für andere. Was ihn selbst betrifft, lebt
er in tiefer Seligkeit. Seht ihr die Parallele? Ihr leidet tief und habt
immer das Gefühl, daß jeder andere das Leben genießt. Genau
das Gegenteil geschieht einem Buddha. Er ist jetzt in tiefer Selig-
keit, und er weiß, daß jeder andere leidet.

371
Das Buch der Geheimnisse

Diese Methoden sind dazu da, die Unempfindlichkeit aufzu-


heben. Wir werden mehr darüber sprechen, wie dies geschieht.

3 72
Werde nicht wütend auf das Boot
Sutras]

22. Lenke die Aufmerksamkeit dorthin wo du irgendein


vergangenes Ereignis siehst. Dabei verliert sogar deine Form
ihre gegenwärtigen Eigenschaften und wird verwandelt.

23. Fühle vor dir einen Gegenstand. Fühle die Abwesenheit


aller anderen Gegenstände außer diesem. Dann laß das
Gegenstandsgefühl und das Abwesenheitsgefühl beiseite —
und erkenne.

24. Wenn in dir eine Stimmung gegen oder für jemanden


aufsteigt, dann projiziere sie nicht auf die betreffende Person,
sondern bleibe zentriert.

3 75
Das Buch der Geheimnisse

Einer der großen Tantriker dieses Zeitalters, Georg Gurdjieff,


hält Identifikation für die einzige Sünde. Und das nächste Sutra,
das zehnte über Zentrierung, welches wir heute abend besprechen
wollen, hat mit Identifikation zu tun. Macht euch also zunächst
absolut klar, was Identifikation ist. Einst warst du Kind: jetzt bist
du es nicht mehr. Du wirst ein Jugendlicher, schließlich ein alter
Mensch, und die Kindheit ist bald Sache der Vergangenheit: aber
immer noch identifizierst du dich mit deiner Kindheit. Du siehst
sie nicht so, als wäre sie jemandem anders geschehen. Du stehst
nicht als Zeuge außerhalb. Wenn du deine Kindheit vor dir siehst,
hast du keinen Abstand, sondern bist eins mit ihr. Wer sich an sei-
ne Jugend erinnert, ist eins mit ihr.
In Wirklichkeit ist sie jetzt nur ein Traum. Und wer seine Kind-
heit als Traum sehen kann, wie einen Film, der vor einem abrollt,
ohne daß man sich damit identifiziert, der ist bloßer Zeuge und
gewinnt eine sehr subtile Einsicht in sich. Wer seine Vergangen-
heit wie einen Film, einen Traum sieht, in dem man selbst nicht
mitspielt, aus dem man sich ganz heraushält — was ja der Wirk-
lichkeit entspricht —, dann werden viele Dinge geschehen. Wenn
du über deine Kindheit nachdenkst, bist du nicht in ihr: das geht
nicht. Die Kindheit ist nur eine Erinnerung — nur Vergangenheit.
Du hast Abstand und schaust sie dir an. Du bist das nicht: du bist
nur Zeuge. Wenn du dieses „Zeugesein” erfährst und deiner
Kindheit wie einem Film auf der Leinwand zusehen kannst, wer-
den viele Dinge geschehen.
Das erste: Wenn die Kindheit zu einem bloßen Traum gewor-
den ist, den du dir ansehen kannst, dann ist das, was du im Au-
genblick bist, morgen auch schon ein Traum. Bist du jung, dann ist
deine Jugend bald auch ein Traum. Bist du alt, dann ist auch dein
Alter bald Traum. Einst warst du Kind: jetzt ist das nur noch ein
Traum, den du dir ansehen kannst.
Es ist gut, mit der Vergangenheit anzufangen. Sieh dir die Ver-
gangenheit an, und identifiziere dich nicht mehr mit ihr: werde
Zeuge. Sieh dann auf die Zukunft — wie immer du dir die Zukunft
vorstellst — und bleibe auch hier Zeuge. Danach wird es ganz
leicht, dir deine Gegenwart anzusehen, denn dann weißt du, daß
alles, was jetzt Gegenwart ist, gestern Zukunft war und morgen

376
Kapitel 15

Vergangenheit sein wird. Nur der Zeuge in dir ist niemals ver-
gangen, niemals zukünftig. Dein zuschauendes Bewußtsein ist
ewig; es gehört nicht der Zeit an. Darum wird alles, was in der
Zeit geschieht, zum Traum.
Und denkt auch daran, daß ihr euch auch mit dem identifiziert,
was ihr nachts träumt, und daß ihr euch beim Träumen nie be-
wußt seid, daß es ein Traum ist. Erst morgens, wenn ihr aus dem
Traum erwacht seid, könnt ihr euch erinnern, daß es ein Traum
war und nicht Wirklichkeit. Warum? Weil ihr dann Abstand habt,
nicht in ihm seid. Jetzt ist ein Abstand da, ein Zwischenraum, und
so könnt ihr sehen, daß es sich um einen Raum handelt.
Was ist deine ganze Vergangenheit? Abstand ist da, Spielraum
ist da: Jetzt kannst du versuchen, sie als einen Traum zu sehen.
Jetzt ist sie ein Traum, nicht mehr als ein Traum; und genauso wie
ein Traum zur Erinnerung wird, wird auch die Vergangenheit zur
Erinnerung. Du kannst tatsächlich nicht beweisen, daß das, was
du für deine Kindheit hältst, wirklich war, kein Traum. Schwer zu
beweisen! Vielleicht war es nur Traum, vielleicht war es Wirk-
lichkeit. Das Gedächtnis kann nicht zwischen Wirklichkeit und
Traum unterscheiden. Die Psychologen sagen, daß alte Menschen
manchmal durcheinanderwerfen, was sie geträumt haben und was
sie wirklich erlebt haben.
Kinder verwechseln das ständig. Beim Aufwachen können klei-
ne Kinder nicht unterscheiden, daß alles, was sie im Traum gese-
hen haben, nicht wirklich war, und so mögen sie einem Spielzeug
nachweinen, das im Traum kaputtging. Aber auch ihr werdet
noch eine Zeitlang nach dem Aufwachen von dem berührt, was
ihr geträumt habt. Wenn dich im Traum gerade jemand umbrin-
gen wollte, dann schlägt dein Herz immer noch schnell, auch
wenn du nicht mehr schläfst und jetzt völlig wach bist: dein Blut
rast noch in den Adern, du schwitzt, und eine ungreifbare Angst
hat dich immer noch im Griff. Du bist jetzt wach, der Traum ist
vorbei, aber es dauert ein paar Minuten, bis du begreifst, daß es
nur ein Traum war und sonst nichts. Wenn du begriffen hast, daß
es nur ein Traum war, bist du draußen, und die Angst ist weg.
Wenn du das fühlen kannst, daß die Vergangenheit nur ein Traum
war — aber du darfst es nicht projizieren, darfst dir nicht die Idee

377
Das Buch der Geheimnisse

aufzwingen, daß die Vergangenheit nur ein Traum war —, wenn


es einfach augenscheinlich ist und du sie beobachten und bewußt
vor Augen haben kannst, ohne dich zu verlieren und mit ihr zu
identifizieren, wenn du einfach abseits stehen und sie betrachten
kannst, dann wird sie zum Traum. Alles, was du als Zeuge be-
trachten kannst, ist ein Traum.
Darum konnten Shankara und Nagarjuna sagen, daß diese Welt
nur ein Traum ist. Nicht, daß sie etwa ein Traum wäre. Sie sind
keine Narren, keine Einfaltspinsel, die behaupten, daß die Welt
tatsächlich ein Traum sei. Sie meinten damit, daß sie zum Zeugen
geworden waren. Selbst dieser Welt gegenüber, die so wirklich ist,
sind sie zu Zeugen geworden. Und wenn du erst einmal bei al-
lem Zeuge bleibst, wird alles zum Traum. Darum nennen sie die
Welt Maya — Illusion. Nicht, daß sie unwirklich wäre, aber man
kann ihr gegenüber Zeuge bleiben. Und wenn du erst einmal
Zeuge bist, bewußt, vollbewußt, dann fällt die ganze Sache wie
ein Traum zusammen, ein Traumfür dich, weil der Abstand da ist
und du nicht identifiziert bist.
Aber wir identifizieren uns ständig. Erst vor wenigen Tagen las
ich die Bekenntnisse von Jean Jacques Rousseau, ein einmaliges
Buch, das erste Buch in der Weltliteratur überhaupt, in dem sich
jemand rückhaltlos entblößt. Alle Sünden, die er begangen hat,
jede Art von Unsittlichkeit — er offenbart sich bis zur völligen
Nacktheit. Aber wenn man Rousseaus Bekenntnisse liest, hat man
das deutliche Gefühl, daß er es genießt: er hat ein ganz erhabenes
Gefühl. Es begeistert ihn, über seine Sünden, über seine Unmoral
zu sprechen. Offenbar kostet er es tief aus. Am Anfang, in der Ein-
führung, sagt Rousseau: „Wenn der Tag des Jüngsten Gerichts
kommt, werde ich zu Gott sagen: ,Du brauchst dich nicht mit mir
abzugeben. Lies mein Buch — und du wirst alles wissen. `
Niemals vor ihm hat jemand ein so ehrliches Bekenntnis abge-
legt. Und am Ende des Buches sagt er: „Allmächtiger Gott, ewiger
Gott, erfülle mir mein einziges Verlangen. Ich habe jetzt alles be-
kannt. Möge sich nun eine große Menge versammeln, die sich
meine Bekenntnisse anhört.”
Und so steht er mit Recht im Verdacht, auch Sünden bekannt
zu haben, die er gar nicht begangen hat. Er ist so begeistert, er ge-

378
nießt das Ganze so, daß er sich damit identifiziert hat. Und es gibt
nur eine Sünde, die er nicht gebeichtet hat — die Sünde der Iden-
tifikation. Mit jeder Sünde, die er begangen oder nicht begangen
hat, ist er identifiziert — und das ist die einzige Sünde für alle, die
sich wirklich in der Funktionsweise des menschlichen Geistes aus-
kennen.
Als er seine Bekenntnisse zum erstenmal einer kleinen Runde
von Intellektuellen vorlas, glaubte er, ein Erdbeben müsse ge-
schehen, weil er, wie er sagte, der erste Mensch war, der sich so
ehrlich bekannte. Die Intellektuellen hörten ihm zu und versan-
ken mehr und mehr in Langeweile. Rousseau wurde es sehr un-
behaglich zumute, weil er glaubte, jetzt würde ein Wunder ge-
schehen. Als er fertig war, atmeten alle auf, aber keiner sagte ein
Wort. Es herrschte eine Zeitlang absolute Stille. Rousseau war bis
ins Herz erschüttert. Er hatte geglaubt, eine ungeheuer revolu-
tionäre Sache getan zu haben, etwas Erderschütterndes, eine hi-
storische Tat, und nun war da nur betretenes Schweigen. Jeder
dachte nur daran, wie er möglichst schnell entkommen könne.
Wer ist an deinen Sünden interessiert, außer du selbst? Niemand
ist an deinen Tugenden interessiert, niemand ist an deinen Sün-
den interessiert. So ist der Mensch: Seine guten Seiten begeistern
und beflügeln sein Ego genauso stark wie seine Sünden. Nach der
Niederschrift seiner Bekenntnisse begann Rousseau, sich für ei-
nen Heiligen zu halten, weil er gebeichtet hatte. Aber die Ursün-
de blieb: Die Ursünde, mit dem Zeitlichen identifiziert zu sein.
Alles, was in der Zeit geschieht, ist traumgleich, und solange man
sich nicht davon loslöst, seine Identifikation damit aufgibt, wird
man nie erfahren, was Seligkeit ist. Identifikation ist Unglück,
Nicht-Identifikation ist Seligkeit. Diese zehnte Technik hat mit
Identifikation zu tun.

Das zehnte Sutra:

Lenke die Aufmerksamkeit dorthin, wo du irgendein vergangenes


Ereignis siehst. Dabei verliert sogar deine Form ihre gegenwärtigen
Eigenschaften und wird verwandelt.

3 79
Das Buch der Geheimnisse

Du erinnerst dich an deine Vergangenheit - an irgendein Er-


eignis deiner Kindheit, an deine Liebesgeschichten, den Tod dei-
nes Vaters oder deiner Mutter - egal was. Schau es dir an, aber
halte dich heraus. Erinnere dich so, als ob es das Leben eines an-
deren wäre. Und während dies Ereignis wieder wie ein Film ab-
läuft, wieder auf der Leinwand zu sehen ist, betrachte es auf-
merksam, als bewußter Zuschauer, mit Abstand. Deine vergange-
ne Form wird dort in dem Film, in der Geschichte zu sehen sein.
Wenn du dich an deine Liebe erinnerst, deine erste Liebe, wirst
du dort bei deiner Geliebten zu sehen sein, und zwar in deiner
damaligen Gestalt. Anders kannst du dich nicht erinnern. Löse
dich auch von deiner vergangenen Form. Betrachte das ganze
Phänomen, als würde ein anderer einen anderen lieben, als gehör-
te die ganze Sache nicht zu dir. Du bist nur ein Zeuge, ein Be-
trachter.
Dies ist eine ganz, ganz elementare Technik. Sie ist viel benutzt
worden, vor allem von Buddha. Es gibt viele Spielarten dieser
Technik, und du kannst deine eigenü herausfinden. Zum Beispiel
kannst du beim Einschlafen, unmittelbar bevor du einschläfst, die
Ereignisse des ganzen Tages in der Erinnerung zurückverfolgen -
rückwärts. Fange nicht beim Morgen an. Fang genau da an, wo
du jetzt bist, jetzt im Bett, in der letzten Phase, und geh dann rück-
wärts. Geh dann Schritt für Schritt zurück, ganz allmählich, bis
zur allerersten Erfahrung am Morgen, als du aufgewacht bist. Geh
zurück und erinnere dich ständig daran, dich nicht hineinziehen
zu lassen.
Zum Beispiel hat dich am Nachmittag jemand beleidigt. Sieh
dich selbst, deine eigene form, wie du von jemandem beleidigt
wurdest - aber du bleibst Zuschauer. Laß dich nicht verwickeln,
werde nicht wieder wütend. Wenn du wieder wütend wirst, dann
bist du identifiziert. Dann hast du die eigentliche Meditation ver-
paßt. Werde nicht wütend. Der andere beleidigt nicht dich, er be-
leidigt die Gestalt, die am Nachmittag da war. Diese Gestalt ist
jetzt nicht mehr da.
Du bist nur wie ein strömender Fluß: Die Formen fließen. In
der Kindheit hattest du eine Form, die du jetzt nicht mehr hast.
Diese Form ist fort. Flußgleich änderst du dich ständig. Wenn du

380
Kapitel 15

also in der Nacht die Ereignisse des Tages meditierend zurück-


verfolgst, bleibe bewußt nur ein Zeuge: Werde nicht wütend. je-
mand hat dich gelobt: Fühle dich nicht geschmeichelt. Sieh die
ganze Sache so, als würdest du ganz unbeteiligt einen Film sehen.
Und vor allem hilft es, wenn man es rückwärts tut, besonders
wenn man Mühe beim Einschlafen hat.
Wer unter Schlaflosigkeit leidet, wird dies als eine große Hilfe
empfinden. Warum? Weil dies den Geist entspannt. Wenn du
zurückgehst, läuft das aufgezogene Uhrwerk des Geistes ab. Am
Morgen fängst du an, es aufzuziehen, der Geist verwickelt sich in
viele Dinge, in viele Orte. Unvollständig und unabgeschlossen
bleiben viele Dinge in ihm haften, denn es war nicht genug Zeit,
sie gleich zu verarbeiten.
Geh abends also zurück. Es ist ein Entspannungsprozeß. Und
wenn du wieder am Morgen angelangt bist, als du noch im Bett
lagst, wieder ganz am Anfang bist, dann ist dein Kopf wieder so
frisch, wie er am Morgen war, und du kannst einschlafen wie ein
kleines Kind.
Du kannst diese Technik des Zurückspulens auch auf dein
ganzes Leben anwenden. Mahavir hat diese Technik des Zurück-
verfolgens sehr viel benutzt. Und heute gibt es in Amerika eine
Bewegung, die sich „Dianetik” nennt und genau diese Methode
benutzt, und sie seht sehr hilfreich findet. Diese Dianetik-Bewe-
gung sagt, daß alles, woran du leidest, nur ein Katzenjammer der
Vergangenheit ist. Und da haben sie recht. Wenn du zurückgehst
und dein ganzes Leben zurückverfolgst, dann verschwinden da-
bei viele Leiden völlig. Das ist in vielen erfolgreichen Fällen be-
wiesen worden. Es gibt heute viele erfolgreiche Fälle.
Sehr viele Menschen leiden an einer bestimmten Krankheit.
Keine ärztliche Behandlung, nichts Medizinisches schlägt an; die
Krankheit geht weiter. Die Krankheit ist offenbar psychologisch.
Was kann man tun? Es hilft nicht, jemandem zu erzählen, daß es
sich um eine psychologische Krankheit handelt. Im Gegenteil
kann es schädlich sein; denn es lähmt. Was soll er denn machen?
Er fühlt sich hilflos. Dies Zurückspulen ist eine Wundermethode.
Wenn du langsam zurückgehst, bis zu dem Zeitpunkt, als du von
dieser Krankheit befallen wurdest, wenn dir das gelingt, dann

381
Das Buch der Geheimnisse

wirst du erkennen, das diese Krankheit im Grunde ein Komplex


von verschiedenen Faktoren, bestimmten psychologischen Fak-
toren ist. Bei der Rückblende sprudeln diese Dinge hoch.
Du erkennst plötzlich, welche psychologischen Faktoren dabei
eine Rolle spielten. Und du brauchst gar nichts zu tun: Du mußt
nur diese psychologischen Faktoren bewußt wahrnehmen und
weiter zurückgehen. Viele Krankheiten verschwinden einfach,
weil der Komplex aufgesprengt wird. Wenn dir der Komplex be-
wußt geworden ist, dann brauchst du ihn nicht mehr. Du hast dich
von ihm gereinigt, befreit.
Es ist eine tiefe Katharsis. Und wenn du es täglich tun kannst,
wirst du eine neue Gesundheit spüren; eine neue Frische erfüllt
dich. Und wenn wir diese tägliche Übung schon den Kindern bei-
bringen können, werden sie nie von ihrer Vergangenheit belastet
sein und nie in die Vergangenheit zurückzukehren brauchen. Sie
werden immer hier und jetzt sein. Sie bleiben nirgends hängen,
keine Schatten der Vergangenheit folgen nach. Man kann es täg-
lich tun. Wenn du den ganzen Tag zurückspulst, gibt dir das eine
neue Einsicht. .
Der Kopf möchte nun aber gern mit dem Morgen beginnen,
paßt auf — aber das ist kein Zurückspulen. Dadurch bekommt al-
les nur noch mehr Nachdruck. Wenn du mit dem Morgen be-
ginnst, machst du es völlig verkehrt.
Es gibt in Indien viele sogenannte Lehrer, die genau das emp-
fehlen, den ganzen Tag noch einmal zu überdenken, und zwar, so
sagen sie, angefangen beim Morgen. Das ist falsch und schädlich,
weil man dann allem nur Nachdruck verleiht und somit die Fall-
grube nur noch vertieft. Geh nie vom Morgen aus zum Abend,
geh immer rückwärts. Nur dann kannst du reinen Tisch machen,
alles aufräumen. Der Kopf möchte mit dem Morgen anfangen,
weil das leichter ist. Das kann er, da gibt es kein Problem. Wenn
du aber rückwärts anfängst, wirst du feststellen, wie du plötzlich
zum Morgen springst und wieder vorwärts gehst. Tu das nicht.
Paß auf, geh rückwärts.
Du kannst dich dazu trainieren, rückwärts zu gehen, auch mit
anderen Methoden. Zähle zum Beispiel von hundert rückwärts:
99, 98, 97: geh zurück. Zähle von 100 bis 1. Du wirst Schwierig-

382
Kapitel 15

keiten haben, weil der Kopf gewohnt ist, von 1 bis 100 vorwärts
zu gehen, aber nicht zurück von 100 zu 1.
Genauso mußt du bei dieser Technik zurückgehen. Warum?
Indem du zurückgehst, den Geist zurückspulst, wirst du zum
Zeugen. Du siehst Dinge, die dir geschehen sind, aber nun ge-
schehen sie nicht dir. Jetzt bist du nur ihr Zuschauer, und sie pas-
sieren auf dem Bildschirm des Geistes.
Wenn du dies täglich tust, wirst du eines Tages plötzlich mer-
ken, während du tagsüber arbeitest, im Geschäft, im Büro oder
sonstwo, daß du zum Zeugen von Ereignissen wirst, die gerade
jetzt geschehen. Wenn du im Nachhinein Zeuge sein und auf je-
manden zurückblicken kannst, der dich beleidigt hat, ohne dabei
wütend zu werden, warum dann nicht jetzt gleich, dem gegenü-
ber, was jetzt im Augenblick passiert?
Jemand beleidigt dich: Wo steckt die Schwierigkeit? Du kannst
dich jetzt gleich entziehen und zuschauen, wie dich jemand be-
leidigt, und trotzdem Abstand halten von dir, deinem Körper, dei-
nem Denken, von dem, was dich beleidigt hat. Du kannst Zeuge
bleiben. Wenn du hier jetzt Zeuge bleiben kannst, wirst du nicht
wütend. Das ist unmöglich. Wut ist nur möglich, solange du dich
identifizierst. Bist du nicht identifiziert, dann ist Wut ausge-
schlossen. Wut heißt Identifikation.
Dieser Technik zufolge sollst du dir irgendein vergangenes Er-
eignis anschauen: Deine damalige Gestalt wird auftauchen. Das
Sutra sagt: „Deine Form” — nicht du. Du warst nie da. Es ist immer
nur deine Form beteiligt, niemals du selbst. Wenn du mich belei-
digst, beleidigst du niemals mich. Du kannst mich nicht beleidi-
gen. Du kannst nur die Form beleidigen. Die Form, die ich bin, ist
nur hier und jetzt für euch da. Diese Form kann man beleidigen,
und ich kann mich von dieser Form loslösen. Darum haben die
Hindus immer darauf bestanden, sich von Name und Form zu lö-
sen. Du bist weder dein Name noch deine Form. Du bist das Be-
wußtsein, das die Form und den Namen kennt; und dies Be-
wußtsein ist etwas anderes, etwas total anderes.
Aber es ist schwer. Fange also mit etwas Vergangenem an, dann
ist es leichter, weil dir jetzt die Vergangenheit nicht mehr so wich-
tig ist. Jemand hat dich vor zwanzig Jahren beleidigt, also ist dir

383
Das Buch der Geheimnisse

das nicht so hautnah. Der Mann mag gestorben sein, und alles ist
vorbei. Es ist einfach eine tote Sache, ein totes Stück Vergangen-
heit. Es ist leicht, sich dessen bewußt zu sein, aber wenn es dir erst
einmal bewußt ist, dann ist es nicht mehr schwierig, das gleiche
mit dem zu tun, was gerade jetzt und hier passiert.
Aber beim Hier und Jetzt anzufangen ist schwierig. Das Pro-
blem brennt dir so auf den Nägeln, es ist dir so nah, daß du keinen
Bewegungsspielraum hast. Es ist schwer, Raum zu schaffen, um
sich von dem Vorfall zu entfernen. Aus diesem Grund sagt das Su-
tra: „Beginne mit der Vergangenheit. ” Betrachte deine eigene
Form mit Abstand, aus der Entfernung, gleichgültig, und laß dich
dadurch transformieren.
Du wirst deshalb transformiert, weil es ein tiefer Reinigungs-
prozeß ist, ein Ablösungsprozeß. Dann kannst du erkennen, daß
dein Körper, dein Geist, deine Existenz in der Zeit nicht deine ei-
gentliche Wirklichkeit ist. Deine substantielle Wirklichkeit ist et-
was anderes. Die Dinge tauchen auf und ziehen an ihr vorbei,
ohne dich im geringsten zu berühren. Du bleibst unschuldig, un-
berührt. Du bleibst jungfräulich. Alles zieht vorbei, dein ganzes
Leben zieht vorbei - Gutes und Schlimmes. Erfolg und Nieder-
lage, Lob und Tadel - alles zieht vorbei. Krankheit und Gesund-
heit, Jugend und Alter, Geburt und Tot - alles zieht vorbei. Du
aber bleibst unberührt.
Aber wie kann man diese unberührte Wirklichkeit in sich er-
kennen? Das ist der Zweck dieser Technik. Beginne mit der Ver-
gangenheit. Du hast Abstand, wenn du dir deine Vergangenheit
anschaust. Du siehst alles in Perspektive. Oder schau dir die Zu-
kunft an. Aber sich die Zukunft anzusehen, ist nicht ganz so leicht.
Nur wenige Leute haben keine Schwierigkeit, sich die Zukunft
anzusehen - die Poeten, die Menschen mit Einbildungskraft, die
in die Zukunft blicken können, als wäre sie Wirklichkeit. Aber
normalerweise eignet sich die Vergangenheit am besten. Jeder
kann in die Vergangenheit blicken. Für junge Leute ist es vielleicht
besser, in die Zukunft zu blicken, es ist für sie leichter, in die Zu-
kunft zu sehen, weil die Jugend zukunftsorientiert ist.
Für alte Menschen gibt es keine Zukunft außer dem Tod. Sie
können nicht in die Zukunft blicken; sie haben Angst. Darum fan-

384
Kapitel 15

gen alte Menschen immer an, über die Vergangenheit nachzu-


denken. Ewig wühlen sie in ihren Erinnerungen herum, aber sie
begehen den gleichen Fehler. Sie fangen weit zurück an und ge-
hen bis zu ihrem jetzigen Zustand. Das ist verkehrt; sie sollten
rückwärts gehen, dann würden sie immer deutlicher spüren, wie
ihre ganze Vergangenheit weggespült wird. Und danach kann
man sterben, ohne daß die Vergangenheit einem noch anhängt.
Wer sterben kann, ohne daß die Vergangenheit an ihm klebt, der
stirbt bewußt: der stirbt in voller Wachheit. Für ihn ist dann der
Tod kein Tod mehr, sondern die Begegnung mit dem Todlosen.
Wasche dein Bewußtsein bis in die Wurzeln von der Vergan-
genheit rein, und dein ganzes Wesen wird dadurch verwandelt.
Versuche es. Diese Methode ist nicht sehr schwer. Es gehört nur
eine hartnäckige Ausdauer dazu; die Methode an sich ist nicht
schwierig. Sie ist einfach, und man kann mit dem heurigen Tag
beginnen. Gleich heute abend kannst du es tun, und du wirst dich
wunderbar fühlen, richtig selig, und danach wird der ganze Tag
abgeschlossen sein. Aber überstürze nichts. Geh alles langsam
durch, so daß nichts ausgelassen wird. Es ist ein sehr merkwürdi-
ges Gefühl, weil vieles vor deinen Augen auftauchen wird, was dir
tagsüber im Drang der Geschäfte entgangen war. Aber deine
Wahrnehmung hat es gespeichert, wenn auch unbewußt.
Du bist zum Beispiel eine Straße entlanggegangen. Jemand sang
gerade, aber du hast nicht weiter darauf geachtet. Dir ist vielleicht
nicht einmal bewußt geworden, es gehört zu haben, während du
die Straße entlang gingst. Aber dein Gehirn hat es wahrgenom-
men und gespeichert. Jetzt hängt es nach: jetzt wird es unnötig zu
einer Last für dich. Geh also zurück, aber sehr langsam, sehr lang-
sam, als würde dir ein Film in Zeitlupe gezeigt. Geh und schau dir
die Details an, und danach wird dir dieser eine Tag unendlich lang
vorkommen. Er ist es tatsächlich, denn für dein Gehirn hat es un-
geheuer viel Informationen gegeben, und es hat alles aufgezeich-
net. Geh jetzt zurück ...
Nach und nach wirst du lernen, alles zu erkennen, was aufge-
zeichnet wurde. Und wenn du es zurückspulen lassen kannst, ver-
hält es sich wie mit einem Tonbandgerät: das Band wird gelöscht.
Und wenn du dann beim Morgen angelangt bist, wirst du

385
Das Buch der Geheimnisse

einschlafen, und dein Schlaf wird ein ganz anderer sein, er wird
meditativ sein. Und dann, wenn du am nächsten Morgen auf-
wachst und weißt, daß du jetzt wach bist, dann mach nicht sofort
die Augen auf Geh zurück, zurück in die Nacht.
Es wird anfangs nicht leicht sein. Du wirst vielleicht nicht weit
kommen. Irgendein Stück, irgendein Traumfragment, daß du ge-
rade träumtest, als du aufwachtest, fällt dir vielleicht ein. Aber
nach und nach, mit allmählicher Steigerung, wirst du immer wei-
ter vordringen können, und nach drei Monaten kannst du bis an
den Punkt zurückgehen, wo du eingeschlafen bist. Und wenn du
deinen Schlaf bis in die Tiefen zurückverfolgen kannst, wird sich
dein Schlaf und dein Wachsein qualitativ völlig ändern, weil du
jetzt nämlich gar nicht mehr träumen kannst: Das Träumen ist
zwecklos geworden. Wenn du den Tag und die Nacht zurück-
verfolgen kannst, ist Träumen nicht mehr nötig.
Tatsächlich sagen die Psychologen heute, daß die Träume ein
Aufarbeiten sind: wenn du das selbst erledigst, dann brauchst du
das Träumen nicht mehr. Alles, was im Kopf hängengeblieben ist,
alles Unerfüllte, Unvollständige, versucht sich durch Träume zu
vollenden.
Du hast im Vorbeigehen etwas gesehen - ein schönes Haus -
und in dir hat sich ein heimlicher Wunsch gemeldet, es zu besit-
zen. Aber du warst auf dem Weg zum Büro, und es war nicht die
Zeit zum Tagträumen, also bist du einfach vorbeigegangen. Dir
ist nicht einmal bewußt geworden, daß sich in dir ein Verlangen
geregt hat, dieses Haus zu besitzen. Aber jetzt bleibt dies Verlan-
gen in dir hängen, und wenn es nicht bereinigt wird, fällt es dir
schwer, einzuschlafen.
Schlafstörungen bedeuten im Grunde nur eins: daß dein Tag
noch über dir hängt und du dich von ihm nicht freimachen
kannst. Du klammerst dich an ihn. Dann hast du einen Traum,
daß du zum Besitzer dieses Hauses geworden bist: Jetzt lebst du in
diesem Haus. Im Augenblick, wo dir dieser Traum kommt, hat
sich dein Unbewußtes erleichtert.
Gewöhnlich hält man Träume für Schlafstörungen. Das ist ab-
solut verkehrt. Träume sind keine - chlafstörungen. Sie stören
nicht euren Schlaf, sie helfen ihm vielmehr. Ohne sie könntet ihr

386
Kapite115

überhaupt nicht schlafen. So wie ihr seid, könntet ihr nicht ohne
Träume schlafen, weil die Träume helfen, Dinge zu vollenden, die
unvollständig geblieben sind.
Und es gibt Dinge, die gar nicht zu Ende gebracht werden
können. Ihr habt die absurdesten Wünsche, die in Wirklichkeit
gar nicht erfüllt werden können; was also ihin? Solche unerfüll-
ten Wünsche leben in euch weiter, und sie lassen euch hoffen
und grübeln. Was also tun? Du hast eine schöne Frau gesehen,
hast dich zu ihr hingezogen gefühlt. Jetzt ist der Wunsch da, sie
zu besitzen. Es mag nicht möglich sein, die Frau hat dich viel-
leicht nicht einmal angesehen. Was also tun? Ein Traum hilft.
Im Traum kannst du die Frau besitzen, und dann hat sich dein
Kopf erleichtert. Was den Kopf anbelangt, gibt es keinen Un-
terschied zwischen Traum und Wirklichkeit. Wo liegt der Un-
terschied? Eine Frau in Wirklichkeit zu lieben, oder eine Frau
im Traum zu lieben — wo liegt da der Unterschied? Da gibt es
keinen Unterschied — oder allenfalls diesen: daß das Traumphä-
nomen schöner ist, weil dann die Frau nicht im Wege ist. Es ist
dein Traum, und du kannst tun, was du willst, die Frau wird dir
nicht in die Quere kommen. Der andere ist völlig abwesend. Du
bist allein. Es ist keine Schranke da, also kannst du tun, was dir
beliebt.
Es gibt für den Kopf keinen Unterschied: der Kopf kann kei-
nen Unterschied zwischen dem machen, was Traum ist und was
Wirklichkeit. Zum Beispiel könntest du ein ganzes Jahr lang in
ein Koma versetzt werden. Und du träumst und träumst und
merkst ein ganzes Jahr lang nicht, daß du träumst. Du siehst es als
Wirklichkeit, und dabei träumst du nur — ein ganzes Jahr lang!
Die Psychologen sagen, daß ein Mensch, der hundertJahre lang
un Koma liegt und träumt, in keinem Augenblick gewahr wird,
daß er träumt. Und sollte er sterben, wird er niemals erfahren, daß
sein Leben ein Traum war, daß es niemals wirklich war. Für dei-
ne Wahrnehmung gibt es keinen Unterschied. Wirklichkeit und
Traum sind beide gleich. Der geistige Apparat kann also durch ei-
nen Traum Erfüllung finden.
Wenn du diese Technik anwendest, wirst du keine Träume
brauchen. Die Qualität deines Schlafs wird sich total ändern, denn

387
Das Buch der Geheimnisse

ohne Träume wirst du zum tiefsten Grund deines Wesens fallen,


und ohne Träume wirst du im Schlaf bewußt.
Genau das sagt Krishna in der Gita: Daß allein der Yogi nicht
schläft, während alle andern schlafen; der Yogi ist wach. Das be-
deutet nicht etwa, daß der Yogi nicht schläft: auch er schläft, aber
die Qualität seines Schlafs ist anders. Euer Schlaf gleicht nur einer
betäubten Unbewußtheit. Der Schlaf eines Yogi ist eine tiefe Ent-
spannung ohne alle Unbewußtheit. Sein ganzer Körper ist ent-
spannt-,jede Faser und Zelle seines Körpers ist entspannt, ohne die
geringste Verkrampfung. Aber er ist sich des ganzen Phänomens
völlig bewußt.
Versuche es mit dieser Technik. Fang heute abend an, versuch`s
und mache es dann auch am Morgen. Und wenn du das Gefühl
hast, dich auf die Technik eingestellt zu haben, sie zu beherrschen,
dann kannst du es nach einer Woche mit deiner ganzen Vergan-
genheit probieren. Nimm dir einfach einen Tag frei, und geh an
einen einsamen Ort. Es ist gut zu fasten und still zu bleiben. Lege
dich an einen einsamen Strand oder unter einen Baum, und gehe
dann von diesem Punkt aus in deine Vergangenheit. Du liegst am
Strand und fühlst den Sand und die Sonne. Und jetzt gehst du
zurück. Geh forschend weiter, taste dich forschend zurück und
finde heraus, wie weit du dich zurückerinnern kannst.
Du wirst überrascht sein. Normalerweise kannst du dich nicht
an sehr viel erinnern und kommst nicht über die Schranke des
vierten oder fünften Lebensjahres hinaus. Einige wenige, die ein
sehr gutes Gedächtnis haben, können vielleicht bis zur Alters-
schranke von drei Jahren zurückgehen, aber dann kommt plötz-
lich ein Block, und alles wird dunkel. Aber wenn du es mit dieser
Technik versuchst, brichst du nach und nach die Sperre, und es
wird sehr leicht, den allerersten Tag deiner Geburt zurückrufen.
Und das wird eine Offenbarung sein!
Und dann wieder zurück zu deiner Sonne und deinem Strand
- du wirst ein anderer Mensch sein. Wenn du dir noch mehr
Mühe gibst, kannst du bis in den Mutterleib vordringen - und ihr
habt Erinnerungen an den Mutterleib! - neun Monate Erinne-
rungen mit der Mutter. Auch diese neunmonatige Periode ist im
Gedächtnis aufgezeichnet. Wenn deine Mutter deprimiert war,

388
Kapitel 15

hast du es verzeichnet, weil du dich dann deprimiert gefühlt hast.


Du warst so mit der Mutter verbunden, so verknüpft, so eins, daß
alles, was mit deiner Mutter geschah, auch dir geschehen ist.
Wenn sie wütend war, warst du wütend. Wenn sie glücklich war,
warst du glücklich. Wenn sie gelobt wurde, hast du dich wohl ge-
fühlt. Wenn sie krank war, hast du den Schmerz, das Leid gefühlt
- alles.
Wenn du bis in den Mutterleib vordringen kannst, bist du auf
der richtigen Spur und kannst nach und nach immer weiter vor-
dringen, bis hin zu dem Augenblick, wo du in den Mutterleib ein-
getreten bist.
Nur aufgrund einer solchen Erinnerung konnten Mahavir und
Buddha sagen, daß es vergangene Leben gibt - Wiedergeburt.
Wiedergeburt ist in Wirklichkeit kein Theorem, sondern ledig-
lich eine riefe psychologische Erfahrung. Und wenn du dich an
den ersten Augenblick erinnern kannst, als du in den Schoß dei-
ner Mutter eingetreten bist, dann kannst du tiefer und tiefer drin-
gen, bis hin zum Tod deines letzten Lebens. Und wenn du an
diesen Punkt heranreichst, dann hast du die Methode in deinen
Händen: Dann kannst du mit Leichtigkeit in alle deine vergange-
nen Leben eindringen. Und es ist eine Erfahrung, und das Ergeb-
nis ist phänomenal, denn nun weißt du, daß du durch viele, viele
Leben hindurch den gleichen Unsinn getrieben hast, den du jetzt
treibst. Du hast diesen ganzen gleichen Unsinn immer wieder von
neuem gemacht. Das Muster ist das gleiche, das Format ist das
gleiche, nur die Details unterscheiden sich. Du hast irgendeine an-
dere Frau geliebt: jetzt liebst du diese. Du hast Geld angehäuft:
Die Münzen waren anderer Art, jetzt sind sie wieder anders. Aber
das ganze Muster ist das gleiche - es wiederholt sich.
Sobald du sehen kannst, daß du über viele, viele Leben hin den
gleichen Unsinn gelebt hast, und wie dumm dieser ganze Teu-
felskreis ist, dann bist du plötzlich aufgewacht, und das Ganze
wird zum Traum. Es schleudert dich heraus, und nun willst du das
gleiche in Zukunft nicht noch einmal wiederholen.
Das Wünschen hört auf, weil Wünschen nichts anderes ist, als
Vergangenes in die Zukunft zu projizieren. Wünschen ist nichts
anderes als deine vergangene Erfahrung, die sich noch einmal zu

389
Das Buch der Geheimnisse

wiederholen versucht: Begierde ist nur eine alte Erfahrung, die du


noch einmal wiederholen möchtest, weiter nichts. Und du kannst
das Wünschen nicht sein lassen, ehe du dies ganze Phänomen
nicht bewußt wahrnimmst. VVie denn? Die Vergangenheit ist da,
ein riesiger Berg, ein gewaltiger Felsen. Du trägst ihn mit dir her-
um. Er schiebt dich der Zukunft entgegen. Wünsche werden von
der Vergangenheit erzeugt und in die Zukunft projiziert. Wenn
du die Vergangenheit als Traum erkennst, werden alle Wünsche
i mpotent. Sie fallen ab, sie welken einfach. Und die Zukunft ver-
schwindet. In diesem Verschwinden von Vergangenheit und Zu-
kunft wirst du transformiert.

Die elfte Technik:

Fühle vor dir einen Gegenstand. Fühle die Abwesenheit aller


anderen Gegenstände außer diesem. Dann laß das Gegenstands-
gefühl und das Abwesenheitsgefühl beiseite — und erkenne,

Fühle vor dir einen Gegenstand — irgendeinen, zum Beispiel


eine Rosenblüte. Egal was. „Fühle vor dir einen Gegenstand ...” —
zunächst: „Fühle ihn.” Sehen ist nicht genug: Fühle ihn. Du siehst
eine Rosenblüte, aber dein Herz ist nicht erfüllt. Du fühlst sie
nicht. Sonst würdest du zu weinen anfangen, sonst würdest du zu
lachen und zu tanzen anfangen. Du fühlst sie nicht: Du siehst sie
nur. Und selbst dieses Sehen wird kaum vollständig sein. Denn ihr
seht nie vollständig. Die Vergangenheit, das Gedächtnis sagt, daß
dies eine Rose ist — und du gehst weiter. Du hast sie nicht wirklich
gesehen. Der Kopf sagt, es ist eine Rose. Du „weißt” alles über sie,
schließlich kennst du Rosen, na und? Also gehst du weiter. Ein
einziger Blick genügt, um deine Erinnerung an vergangene Ro-
senerfahrungen wachzurufen, und du gehst weiter. Selbst euer Se-
hen ist nicht vollständig.
Bleibe bei der Rose. Sieh sie, dann fühle sie. Was tust du, um
sie zu fühlen? Rieche sie, berühre sie, laß es zu einer tiefen kör-
perlichen Erfahrung werden. Schließe erst deine Augen, und laß
die Rose dein ganzes Gesicht berühren. Fühle sie. Lege sie dir auf
die Augen. Laß die Augen sie berühren, rieche sie. Lege sie dir ans

390
Kapitel 1 5

Herz. Schweige mit ihr, schenk ihr ein Gefühl. Vergiß alles; vergiß
die ganze Welt. „Fühle einen Gegenstand vor dir, und fühle die
Abwesenheit von allen anderen Gegenständen.” Denn wenn dei-
ne Gedanken noch mit anderen Dingen beschäftigt sind, kann
dies Gefühl nicht sehr tief gehen. Vergiß alle anderen Rosen, ver-
giß alle anderen Personen, vergiß alles. Laß nur diese Rose da sein,
nur die Rose, die Rose, die Rose! Vergiß alles andere; laß diese
Rose dich vollkommen einhüllen. Du bist in der Rose ertrunken.
Es wird nicht leicht sein, denn so sensibel sind wir nicht. Frau-
en fällt es leichter. Sie können besser fühlen. Für Männer mag es
etwas schwerer sein, es sei denn, sie haben einen sehr entwickel-
ten ästhetischen Sinn, wie etwa Dichter, Maler oder Musiker. Sie
können Dinge fühlen. Aber versucht es. Kinder können es sehr
leicht.
Ich habe diese Methode einmal dem Sohn einer meiner Freun-
de gegeben. Bei ihm ging es ganz leicht. Als ich ihm eine Rose
gab und ihm alles so erklärte, wie ich es euch erklärt habe, tat er
es und genoß es zutiefst. Und dann fragte ich ihn: „Wie fühlst du
dich?” Er sagte: „Ich bin zu einer Rose geworden. So fühle ich
mich, ich bin zu einer Rose geworden.” Kinder können es sehr
leicht, aber wir erziehen sie nie dazu. Sonst wären sie die besten
Meditierer.
Vergiß völlig alle anderen Objekte. „Fühle die Abwesenheit al-
ler anderen Gegenstände außer diesem.” Das ist es, was in der Lie-
be geschieht. Wenn du jemanden liebst, vergißt du die ganze
Welt. Wenn du dich noch an die Welt erinnern kannst, dann sei
dir bewußt, daß es nicht Liebe ist. Du hast die ganze Welt ver-
gessen; nur der Geliebte oder die Geliebte bleibt. Darum sage ich,
daß Liebe Meditation ist. Ihr könnt diese Technik auch als eine
Liebestechnik benutzen: alles andere vergessen.
Erst vor ein paar Tagen kam ein Freund zu mir mit seiner Frau.
Seine Frau beschwerte sich über etwas Bestimmtes. Darum war
sie gekommen. Der Freund sagte: „Ich habe seit einem Jahr me-
ditiert und bin jetzt tief hineingekommen. Und während ich me-
ditiere, empfinde ich es als eine Hilfe, als Höhepunkt meiner Me-
ditation, plötzlich auszurufen: Rajneesh! Rajneesh! Rajneesh! ` Das
hilft mir; aber nun ist etwas Merkwürdiges passiert. Wenn ich mit

391
Das Buch der Geheimnisse

meiner Frau schlafe und zum Orgasmus komme, fange ich plötz-
lich an zu schreien: Rajneesh! Rajneesh! Rajneesh!` Meine Frau
ist deswegen ganz verstört. Und sie sagt: „,Liebst-du nun eigent-
lich mich oder meditierst du, oder was? Und was hät dieser Raj-
neesh damit zu tun?”
Der Mann sagte: „Jetzt ist es ein Problem für mich, denn wenn
ich nicht,Rajneesh! Rajneesh!` schreie, komme ich nicht zum Or-
gasmus. Und wenn ich schreie, ist meine Frau sehr verstört, sie
fangt an zu weinen und macht mir eine Szene. Was soll ich also
tun? Ich habe meine Frau gleich mitgebracht.” Natürlich hat sei-
ne Frau recht, sich zu beschweren, denn sie möchte nicht, daß sich
ein anderer einmischt. Darum gehört zur Liebe die Privatsphäre,
die absolute Intimität. Sie ist wichtig, um alles andere vergessen
zu können.
In Europa und Amerika probieren sie jetzt den Gruppensex aus.
Das ist Unsinn — viele Paare, die sich in einem Zimmer lieben!
Das ist absoluter Unsinn, denn so kann die Liebe niemals tief ge-
hen. Es wird einfach eine Sexorgie daraus. Die Gegenwart von an-
deren wird zur Schranke. So kann es nicht meditativ werden.
Wenn du vor irgendeinem Objekt die ganze Welt vergessen
kannst, dann bist du in tiefer Liebe — mit einer Rose, einem Stein
oder was es auch sei. Aber die Bedingung ist, die Gegenwart die-
ses Objektes zu fühlen — und die Abwesenheit von allem ande-
ren. Laß dieses Objekt das einzig existierende Ding in deinem Be-
wußtsein sein. Es wird leichter sein, wenn du es mit einem Ge-
genstand versuchst, den du von Natur aus liebst.
Einen Stein, einen Felsbrocken vor dich hinzusetzen und darü-
ber die ganze Welt zu vergessen, wird dir schwerer fallen. Das fällt
schwer, aber Zen-Meister haben es getan. Sie kennen Steingärten
für die Meditation: keine Blumen, keine Bäume, nichts als Steine
und Sand. Und sie meditieren über einen Stein, weil dir, wie sie
sagen, kein Mensch mehr verschlossen bleiben kann, wenn du es
fertig bringst, eine tiefe Liebesbeziehung mit einem Stein zu ha-
ben. Und Menschen sind wie Steine. Wenn du einen Stein lieben
kannst, kannst du auch einen Menschen lieben. Dann gibt es kein
Problem: Sie sind wie Stein — sogar noch härter. Es ist schwer, sie
aufzubrechen und in sie einzudringen. Du kannst dir aber einen

3 92
Kapitel 15

Gegenstand wählen, den du von Natur aus liebst: und dann ver-
giß die ganze Welt. Genieße seine Gegenwart, koste ihn aus, he-
be ihn, geh tief hinein und laß ihn tief in dich hinein. „Dann laß
das Gegenstandsgefühl ... beiseite.”
Jetzt kommt die schwierigste Sache bei dieser Technik. Du hast
alle andern Gegenstände fortgelassen, und nur ein Gegenstand ist
geblieben. Du hast alles vergessen: Nur eines ist geblieben. Und
nun laß das Gegenstandsgefühl beiseite, laß jetzt das Gefühl bei-
seite, daß du diesen Gegenstand vor dir hast. „Dann laß das Ge-
genstandsgefühl und das Abwesenheitsgefühl” — der anderen Ob-
jekte -„beiseite. " Nun gibt es nur noch diese beiden Gefühle:
Außer dem Gegenstand ist alles abwesend. Nun wirfst du aber
auch diese Abwesenheit beiseite. Wenn nur noch diese Rose, die-
ses Gesicht, diese Frau, dieser Mann, dieser Fels anwesend ist, läßt
du auch dies beiseite — und auch das Gefühl davon. Plötzlich fällst
du in ein absolutes Vakuum, und nichts bleibt zurück. „Und so”
sagt Shiva, „„erkenne! ` Erkenne dies Vakuum, diese Nichtheit. Dies
ist deine Natur, dies ist reines Sein.
Es wäre zu schwer, dieses Nichts direkt anzugehen; das ist sehr
schwer und anspruchsvoll. Es ist leichter, ein Objekt als Vehikel
zu benutzen. fülle deinen Geist erst mit einem Gegenstand, und
fühle ihn so total, daß du dich an nichts anderes mehr erinnern
kannst. Dein ganzes Bewußtsein ist von diesem einen Objekt er-
füllt. Dann laß auch dies zurück, vergiß auch dieses.
Du fällst in einen Abgrund. Jetzt bleibt nichts zurück, kein Ob-
jekt. Nur noch deine Passivität ist da, rein, unberührt, unbenützt.
Dies reine Sein, dies reine Bewußtsein ist deine Natur. Aber gehe
stufenweise vor, versuche nicht die ganze Technik auf einmal. Er-
zeuge erst ein Objektgeftihl. Übe ein paar Tage lang nur die erste
Phase. Sei vom Objekt erfüllt — und benutze jedesmal das gleiche.
Wechsele nicht, denn mit jedem Objekt mußt du dir wieder die
gleiche Mühe machen. Wenn du eine Rose gewählt hast, dann ge-
brauche jeden Tag eine Rose. Sei von ihr erfüllt, so daß du eines
Tages sagen kannst, jetzt bin ich diese Blume. Und damit ist der
erste Teil erfüllt. Wenn nur noch die Blume da ist, und alles ande-
re vergessen ist, dann genieße diese Vorstellung ein paar Tage lang.
Sie ist schön für dich, sehr, sehr schön, lebensspendend, kraftvoll.

3 93
Das Buch der Geheimnisse

Fühle sie ein paar Tage lang nur, und wenn du dich auf sie ein-
gestellt hast und es leicht geworden ist, brauchst du dich nicht
mehr anzustrengen. Dann ist die Blume plötzlich da und die
ganze Welt ist vergessen, und nur sie allein bleibt.
Dann versuch die zweite Hälfte. Schließe die Augen, und ver-
giß auch die Blume. Wenn du das erste geschafft hast, wird das
zweite nicht schwierig sein. Wenn du die ganze Technik in einem
Zug anwenden willst, wird das zweite unmöglich. Denn erst,
wenn du die erste Hälfte beherrschst und du die ganze Welt um
einer Blume willen vergessen kannst, kannst du auch die Blume
um des Nichts willen vergessen. Die zweite Hälfte kommt also
von allein, aber erst mußt du dich anstrengen. Aber der Verstand
ist sehr trickreich und wird dir einflüstern, alles auf einmal zu ver-
suchen — und dann geht es nicht. Hinterher kann der Kopf sagen:
„Diese Technik bringt's nicht, jedenfalls nicht für mich.” Geh also
schrittweise vor, wenn du damit Erfolg haben willst. Bri ng die er-
ste Hälfte zu Ende, und fang dann die zweite an. Dann ist das Ob-
jekt nicht mehr da; was bleibt, ist dein reines Bewußtsein, wie ein
Licht, eine einsame Flamme.
Du hast eine Lampe, und das Licht der Lampe fällt auf viele
Objekte. Stelle dir vor: dein Zünmer ist voller Objekte, und wenn
du in das Dunkel deines Zimmers eine Lampe bringst, werden all
diese Objekte beleuchtet. Die Lampe scheint auf jedes Objekt, so
daß du alles sehen kannst. Jetzt bleibst du nur bei einem Objekt.
Laß nur noch eines da sein. Es ist dieselbe Lampe, aber nun ist nur
ein Objekt in ihrem Licht. Und nun nimmst du auch noch dies
Objekt weg: Jetzt ist nur noch Licht da, kein einziges Objekt
mehr. Das gleiche geschieht mit deinem Bewußtsein. Du bist eine
Flamme, ein Licht. Die ganze Welt ist dein Objekt. Du läßt die
ganze Welt beiseite und wählst nur ein Objekt für deine Kon-
zentration. Deine Flamme bleibt die gleiche, aber jetzt sind nicht
viele Objekte von ihr bestrahlt, sondern nur eins. Und nun läßt
du auch dieses fallen. Plötzlich ist nur noch Licht da — Bewußt-
sein. Es fällt auf nichts. Buddha hat es Nirvana genannt. Mahavir
hat es Kaivalya genannt — die totale All-einheit. Die Upanischa-
den nennen es die Erfahrung des Brahman oder Atman. Shiva
sagt: Wer nur diese Technik macht, der erkennt das Höchste.

394
Kapitel 15

Die zwölfte Technik:

Wenn in dir eine Stimmung gegen oder für jemanden aufsteigt, dann
projiziere sie nicht auf die betreffende Person, sondern bleibe zentriert.

Wenn Haß gegen jemanden aufkommt, oder Liebe, was tun


wir dann? Wir projizieren das auf die betreffende Person. Wenn
du Haß für mich empfindest, vergißt du dich völlig in deinem
Haß: ich allein bin dann dein Objekt. Wenn du Liebe für mich
empfindest, vergißt du dich völlig; allein ich bin dann dein Ob-
jekt. Du projizierst deine Liebe oder deinen Haß oder was es auch
sei auf mich. Du vergißt völlig das innere Zentrum deines Seins,
und der andere wird zum Zentrum. Dies Sutra sagt: Wenn Haß
oder Liebe oder sonst eine Stimmung für oder gegen jemanden
aufkommt, dann darfst du das Gefühl nicht auf den betreffenden
Menschen projizieren. Denk daran: Du selbst bist die Quelle die-
ses Gefühls.
Ich liebe dich. Gewöhnlich denken wir, daß die Quelle für mein
Gefühl du bist; das ist in Wirklichkeit nicht so. Ich selbst bin die
Quelle. Du bist nur ein Bildschirm, auf den ich meine Liebe pro-
jiziere, du bist nur eine Leinwand: ich projiziere meine Liebe auf
dich und sage, daß du die Quelle meiner Liebe bist. Das ist keine
Tatsache, es ist Einbildung. Ich hole meine Liebesenergie hoch
und projiziere sie auf dich. In dieser Liebesenergie, die auf dich
projiziert wird, wirst du „liebenswert”. Für einen anderen magst
du es nicht sein, für einen anderen magst du absolut abstoßend
sein. Und warum? Wenn du die Quelle meiner Liebe wärst, dann
müßte jeder dich lieben, aber du bist es nicht. Ich projiziere die
Liebe, und dadurch wirst du attraktiv. Ein anderer projiziert Haß,
und dadurch wirst du abstoßend. Und wieder ein anderer proji-
ziert gar nichts; er ist gleichgültig. Er hat dich nicht einmal eines
Blickes gewürdigt. Was geht vor? Wir projizieren unsere eigenen
Stimmungen auf andere.
Darum erscheint euch der Mond in den Flitterwochen so
schön, so wundervoll, so märchenhaft. Die ganze Welt scheint an-
ders. Und zur gleichen Zeit existiert diese märchenhafte Nacht
für deinen Nachbarn überhaupt nicht. Sein Kind ist gestorben,

395
Das Buch der Geheimnisse

und der gleiche Mond erscheint ihm sehr traurig, ja unerträglich.


Aber für dich ist er bezaubernd, betörend bis zum Wahnsinn.
Warum? Ist der Mond die Quelle? Oder ist der Mond nur ein
Bildschirm, auf den du dich selbst projizierst?
Dies Sutra sagt: „Wenn eine Stimmung gegen jemanden oder
für jemanden in dir aufsteigt, dann projiziere es nicht auf die be-
treffende Person” - oder das betreffende Objekt - „sondern blei-
be zentriert.” Erinnere dich, daß du seine Quelle bist: wende dich
also nicht dem andern zu, sondern der Quelle. Spürst du Haß,
dann wende dich nicht dem Objekt zu. Geh dahin, wo der Haß
herkommt. Geh nicht zu dem Menschen, auf den sich dein Haß
richtet, sondern zu dem inneren Punkt, von woher der Haß
kommt. Geh zum Zentrum, nach innen. Nutze deinen Haß oder
deine Liebe oder deine Wut oder was es auch sei für die Reise
zum inneren Zentrum, zur Quelle. Geh zur Quelle und bleibe
dort zentriert.
Versuche es! Dies ist eine ganz, ganz wissenschaftliche, psycho-
logische Methode. Jemand hat dich beleidigt; plötzlich wallt die
Wut hoch, du fieberst. Deine Wut strömt dem Menschen entge-
gen, der dich beleidigt hat. Jetzt wirst du diese ganze Wut auf ihn
projizieren. Er hat nichts getan. Wenn er dich beleidigt hat, was
hat er getan? Er hat dich nur angestochen, er hat deiner Wut dazu
verholfen, aufzusteigen. Aber die Wut ist deine. Ginge er zu
Buddha, um ihn zu beleidigen, könnte er in ihm keine Wut her-
vorrufen. Oder ginge er zu Jesus, würde der ihm die andere Backe
hinhalten. Oder ginge er zu Bodhidharma, würde der brüllen vor
Lachen. Es kommt also darauf an.
Der andere ist nicht die Quelle. Die Quelle ist immer in dir.
Der andere sticht die Quelle an, aber wenn in dir keine Wut ist,
kann keine herauskommen. Wenn du einen Buddha schlägst,
kommt nur Mitgefühl heraus, weil nur Mitgefühl da ist. Wut
kommt nicht heraus, weil keine da ist. Wirf einen Eimer in einen
trockenen Brunnen - es kommt kein Wasser heraus. Wirf ihn in
einen vollen Brunnen, kommt Wasser heraus - aber das Wasser
kommt aus dem Brunnen. Der Eimer hilft nur, es hochzuholen.
Wer dich beleidigt, wirft also nur einen Eimer in dich hinein, und
dann kommt der Eimer hoch, voll mit Wut, mit Haß, oder mit

396
Kapitel 1 5

dem Feuer, das in dir war. Du bist die Quelle — erinnere dich! Er-
innere dich bei dieser Technik, daß du die Quelle von allem bist,
was du auf andere projizierst: erinnere dich immerzu. Und jedes-
mal, wenn eine Stimmung aufkommt, „gegen oder für”, gehe au-
genblicklich nach innen, und schau auf die Quelle, wo dieser Haß
herkommt. Bleibe dort zentriert. Wandere nicht zum Objekt ab.
Jemand hat dir die Chance gegeben, dir deine eigene Wut bewußt
zu machen: Danke ihm sofort und vergiß ihn. Schließe die Au-
gen, geh nach innen, und schau jetzt auf die Quelle, aus der diese
Liebe oder Wut kommt. Woher? Geh nach innen; reise nach in-
nen. Du wirst die Quelle dort finden, denn die Wut kommt aus
deiner Quelle.
Haß, Liebe, alles kommt aus deiner Quelle. Und es ist leicht, in
dem Augenblick, da du Wut oder Liebe oder Haß spürst, zur
Quelle zu gehen, denn dann bist du heiß. Jetzt ist es leicht, nach
innen zu gehen. Der Draht ist heiß, und du kannst ihn nach in-
nen verfolgen. Du kannst an dieser Hitze entlang nach innen ge-
hen, und wenn du an einen kühlen Punkt kommst, wirst du plötz-
lich eine andere Dimension erkennen: Eine andere Welt tut sich
vor dir auf. Nutze die Wut, nutze den Haß, nutze die Liebe, um
nach innen zu gehen.
Wir benutzen alles immer nur, um uns auf den anderen zu
richten und fühlen uns ganz frustriert, wenn niemand da ist, auf
den wir projizieren können. Dann projizieren wir sogar auf un-
belebte Gegenstände. Ich habe Leute gesehen, die auf ihre Schu-
he wütend werden, die ihre Schuhe vor Wut an die Wand
schmeißen. Was tun sie? Ich habe wütende Leute mit dem Fuß
gegen eine Tür stoßen sehen, sie ließen ihre Wut an einer Tür aus,
beschimpften die Tür, überschütteten sie mit Schimpfworten! Was
tun sie?
Ich will mit einer Zen-Erkenntnis abschließen. Einer der größ-
ten Zen-Meister, Lin-Chi, erzählte oft: „Als junger Mensch war
ich ein leidenschaftlicher Bootfahrer. Ich hatte ein kleines Boot
und fuhr damit immer allein auf den See hinaus. Stundenlang
konnte ich da bleiben. Einmal geschah es, daß ich mit geschlosse-
nen Augen im Boot saß, ganz in die herrliche Nacht versunken.
Ein leeres Boot trieb mit der Strömung auf mich zu und stieß

397
Das Buch der Geheimnisse

mein Boot an. Ich hatte die Augen geschlossen und dachte: je-
mand hat mich mit seinem Boot angerempelt!" Wut kam auf. Ich
öffnete die Augen und wollte gerade mit dem Mann im andern
Boot böse werden, als ich wahrnahm, daß das andere Boot leer
war. Nun wußte ich nicht, wohin mit der Wut. An wem sollte ich
sie auslassen? Das Boot war leer! Ich trieb einfach stromabwärts,
und das andere Boot war gekommen und hatte meines ange-
stoßen." Da ließ sich nichts machen. Es war unmöglich, die Wut
an einem leeren Boot auszulassen.
„Da”, so sagt Lin-Chi, „schloß ich die Augen. Die Wut war da
– aber da sie keinen Auslaß fand, schloß ich einfach die Augen
und ließ mich auf der Wut nach innen treiben. Und dies leere
Boot wurde zu meiner Erkenntnis. Ich kam in dieser stillen Nacht
zu einem Mittelpunkt, der in mir war. Jenes leere Boot war mein
Guru. Und wenn heute jemand mit seinem Boot ankommt und
' mich anrempelt, lache ich und sage: „Auch dieses Boot ist leer. Ich
schließe die Augen und gehe nach innen.”
Versucht diese Methode. Sie kann Wunder wirken für euch.

3 98
Ein Irrer ist nur ein bißchen mehr verrückt als du
[Fragen]

Die erste Frage:

Bei der letzten Technik über die du gestern gesprochen hast heißt es:
Wenn man eine Stimmung für oder gegen jemanden hat, soll man
sie nicht auf die betreffende Person projizieren, sondern zentriert
bleiben. Aber wenn wir mit dieser Technik experimentieren, mit
unserem Haß, unserer Wut usw., haben wir das Gefühl, unsere
Emotionen zu unterdrücken, so daß daraus ein Komplex entsteht,
Erkläre also bitte, wie man diese Technik praktizieren kann ohne
zu verdrängen.

40 1
Das Buch der Geheimnisse

Ausdrücken und Unterdrücken sind zwei Seiten der gleichen


Medaille. Es sind gegensätzliche Wege, aber im Grunde gleich.
Beim Ausdrücken wie beim Unterdrücken ist der andere das Zen-
trum.
Ich bin wütend und unterdrücke die Wut. Ich wollte gerade
meine Wut an dir auslassen; jetzt unterdrücke ich meine Wut.
Trotzdem bleibt die Wut auf dich projiziert, ob ich sie nun zum
Ausdruck bringe oder unterdrücke.
Diese Technik ist nicht dazu da, daß ihr euch unterdrückt. Die-
se Technik verändert die Basis selbst, auf der man sich unterdrückt
oder zum Ausdruck bringt. Die Technik sagt: Projiziere es nicht
auf den andern, denn du bist die Quelle. 4b du es ausdrückst oder
unterdrückst - du bist die Quelle. Der Ton liegt weder auf Aus-
drücken noch auf Unterdrücken. Der Ton liegt darauf, daß du er-
kennen sollst, woher diese Wut kommt. Du mußt an den Punkt
gehen, an den Ursprung, von woher Wut, Haß, Liebe aufsteigen.
Durch Unterdrückung gelangst du nicht dorthin, sondern kämpfst
nur dagegen an, es zum Ausdruck zu bringen.
Wut kommt in mir auf. Gewöhnlich kann ich zweierlei tun -
sie anjemandem auslassen oder sie unterdrücken. Aber in beiden
Fällen bin ich am anderen orientiert und nicht an der Wut-Ener-
gie, die nach oben gekommen ist - ich sehe nicht die Quelle.
Diese Technik soll dir helfen, das andere völlig zu vergessen.
Sieh dir einzig und allein die Wut-Energie an, die aufsteigt, und
geh tief hinunter, um ihre Quelle in dir zu entdecken - woher
kommt sie? Und dann, wenn du die Quelle findest, bleibe in ihr
zentriert. Fang nichts mit der Wut an - vergiß das nicht! Wenn
du sie rausläßt, machst du etwas mit ihr; wenn du sie verdrängst,
ebenfalls. Mach nichts mit der Wut! Rühr sie nicht an. Nutze sie
nur als Wegweiser. Geh an ihr entlang in die Tiefe, um herauszu-
finden, woher sie aufgestiegen ist. Und in dem Moment, wo du
die Quelle findest, ist es sehr leicht, sich dort zu zentrieren. Die
Wut muß in Wirklichkeit als eine Chance genutzt werden, um
die Quelle zu finden. Und jede andere Emotion auch.
Wenn du verdrängst, kannst du nicht die Quelle finden. Du
bekämpfst die Energie nur, die aufgestiegen ist und raus will. Du
kannst sie unterdrücken, aber früher oder später wird sie doch

402
Kapitel 16

zum Vorschein kommen, denn die Energie, die da hochkommt,


läßt sich nicht bekämpfen. Sie muß zum Ausdruck kommen. Du
magst sie also nicht an A auslassen, aber dann tust du es eben an B
oder C. Sobald du jemanden gefunden hast, der schwächer ist als
du, wirst du die Energie rauslassen. Und die ganze Zeit über, die
du es noch nicht getan hast, fühlst du dich bedrückt, verspannt,
schwer und unbehaglich.
Sie kommt also auf jeden Fall zum Vorschein. Du kannst sie
nicht ständig zurückdrängen. Von irgendwoher wird sie durch-
sickern, denn solange sie es nicht darf, gibt sie dir keine Ruhe. Un-
terdrücken ist also nichts weiter als ein verzögertes Ausdrücken.
Du schiebst es lediglich auf.
Du bist auf deinen Chef wütend. Du kannst es nicht zeigen, es
zahlt sich nicht aus. Du mußt es schlucken, also wartest du, bis du
es an deiner Frau auslassen kannst oder an deinem Kind oder an
wem immer ... an deinem Diener. Kaum bist du zu Hause, ex-
plodierst du. Du wirst natürlich Gründe finden, denn der Mensch
ist ein Tier, das rationalisieren kann. Er rationalisiert immerzu, er
findet immer einen Vorwand, irgendeine Winzigkeit, die nun
plötzlich sehr wichtig wird - weil etwas aus dir heraus will.
Verdrängung ist nichts als Aufschub. Du kannst monatelang,
jahrelang aufschieben. Und die, die sich auskennen, sagen sogar,
daß man selbst ganze Leben lang aufschieben kann ... aber zum
Ausdruck kommen muß es. Diese Technik hat also überhaupt
nichts mit Verdrängen oder Ausdrucken zu tun - keineswegs!
Diese Technik nutzt lediglich deine Emotion, deine Energie als
einen Weg, der dich tief nach innen führen kann.
Gurdjieff stellte regelmäßig Situationen her, in denen er dich
zur Wut provozierte oder zu Haß oder sonst einem Gefühl - und
es war eine künstliche Situation. Aber das ist dir nicht klar. Gurd-
jieff sitzt zum Beispiel mit seinen Schülern zusammen, und du
kommst herein. Du weißt nicht, was gespielt wird, aber sie war-
ten nur darauf, dich zu reizen. Sie verhalten sich entsprechend.
Eine beiläufige Bemerkung, und schon fängt die ganze Gruppe
an, dich so zu beleidigen, daß du rot siehst vor Wut. Nun ist die
Wut da: Du stehst in Flammen! Und wenn Gurdjieff sah, daß jetzt
der Punkt gekommen war, wo du entweder tief nach innen oder

403
Das Buch der Geheimnisse

nach außen gehen kannst — du bist auf dem Höhepunkt angelangt


bist kurz vor der Explosion — sagte er plötzlich: „Schließe die Au-
gen, mach dir deine Wut bewußt und verfolge sie zurück.”
Erst jetzt erkennst du, daß die Situation künstlich war, daß kei-
ner ein Interesse daran hatte, dich zu beleidigen, daß es nur Thea-
ter war, ein „Psychodrama”. Aber nun ist die Wut da. Selbst wenn
du erkennst, daß es nur Theater war, kann die Energie sich nicht
so plötzlich legen; sie braucht Zeit. Jetzt kannst du mit der fallen-
den Energie zurückgehen bis zur Quelle. Die Energie kann dir
einfach helfen, nach unten zu gehen, dorthin, wo sie hergekom-
men ist. Du kannst mit der eigentlichen Quelle in Kontakt kom-
men. Und dies ist eine der erfolgreichsten Meditationstechniken
überhaupt.
Stelle irgendeine Emotion her — aber das ist gar nicht nötig; der
ganze Tag ist voller Stimmungen. Jede Stimmung kann zur Medi-
tation benutzt werden. Und dann hast du den andern völlig ver-
gessen und verdrängst auch nicht. Du folgst nur irgendeiner
Energie, die nach oben gekommen ist, wieder nach unten. Jede
Energie kommt aus der Quelle, und somit ist jetzt im Augenblick
die Fährte heiß, und du kannst diesen Weg nutzen, um hinzuge-
langen.
Sobald du zur ursprünglichen Quelle gelangt bist, sinkt die
Energie in die ursprüngliche Quelle zurück. Das ist keine Unter-
drückung: Die Energie ist zur ursprünglichen Quelle zurückge-
kehrt. Und wenn du deine Energie mit der ursprünglichen Quel-
le wieder vereinigen kannst, bist du zum Meister über deinen
Körper geworden, über deinen Geist, über deine Energie. Du bist
jetzt Herr im Hause! Jetzt wirst du deine Energie nicht mehr ver-
geuden.
Weißt du erst einmal, wie du mit deiner Energie zu deiner Mit-
te zurückgehen kannst, brauchst du nichts mehr zu unterdrücken
und auch nichts mehr auszudrücken. Eben warst du noch nicht
wütend; ich sage etwas: Schon bist du wütend. Woher diese
Energie? Eben noch warst du nicht wütend, aber diese Energie
war in dir vorhanden. Wenn diese Energie wieder zur Quelle
zurücksinkt, wirst du wieder so sein wie eben.
Vergeßt nicht: Energie ist weder Wut noch Liebe noch Haß.

404
Kapitel 16

Energie ist einfach Energie - neutral. Es ist die gleiche Energie,


die zu Wut, zu Sex, zu Liebe, zu Haß wird. Dies alles sind For-
men der gleichen Energie. Du verleihst ihr die Form, deine gei-
stige Verfassung gibt die Form vor, und die Energie geht hinein.
Bedenke also: Wenn du tief liebst, wirst du nicht viel Energie
für Wut übrig haben. Wenn du überhaupt nicht liebst, dann hast
du viel Energie, um wütend zu sein und wirst auch viele Vor-
wände dafür finden. Wenn deine Energie nicht durch Sex zum
Ausdruck kommt, wirst du um so aggressiver sein. Darum erlaubt
kein Militär seinen Soldaten sexuelle Betätigung. Würde das er-
laubt, wäre das Heer absolut impotent für den Kampf.
Darum kann keine Zivilisation kämpfen, die auf ihrem Höhe-
punkt ist. So werden die höher entwickelten und mehr zivilisier-
ten Kulturen jedesmal überrannt und besiegt von weniger ent-
wickelten Zivilisationen - immer; denn eine höher entwickelte
Gesellschaft kümmert sich um alle Bedürfnisse ihrer Mitglieder,
und das schließt auch den Sex ein. Wenn sich eine Gesellschaft
also wirklich gefestigt hat und reich ist, dann wird das Bedürfnis
nach Sex befriedigt. Aber wenn das geschieht, kann man nicht
mehr kämpfen. Kämpfen fällt sehr leicht, solange das sexuelle Be-
dürfnis nicht befriedigt wird. Wenn ihr also eine friedliche Welt
wollt, dann muß eine größere sexuelle Freiheit herrschen. Wenn
ihr eine Welt voller Kriege wollt, voller Konflikte, dann lehnt den
Sex ab, dann unterdrückt ihn. Erzeugt anti-sexuelle Einstellungen.
Das ist etwas sehr Paradoxes. Die sogenannten achtbaren Bür-
ger, die frommen und klugen Leute, reden immer vom Frieden,
aber gleichzeitig sind sie gegen den Sex. Sie verbreiten ständig ein
anti-sexuelles Klima und sagen im gleichen Atemzug, die Welt
brauche Frieden, nicht Krieg. Das ist absurd. Die Hippies haben
da mehr recht. Ihr Slogan stimmt: „Make love, not war!” Genau.
Wenn ihr mehr Liebe macht, könnt ihr nämlich überhaupt kei-
nen Krieg machen.
Darum werden die sogenannten (traditionellen) Sannyasins, die
den Sex unterdrückt haben, immer aggressiv und wütend bleiben
- wütend auf nichts, einfach nur wütend, brodelnd wie ein Vul-
kan. Ihre ganze Energie bleibt ohne Ventil. Bevor die Energie
nicht bis zur Quelle zurücksinkt, ist kein Brahmacharya, kein

405
Das Buch der Geheimnisse

wahres Zölibat möglich. Man kann den Sex unterdrücken, aber


dann wird Gewalt daraus! Wenn die Sexenergie zum Zentrum
hinunter geht, wirst du wie ein Kind.
Das Kind hat Sexenergie — mehr als ihr, aber sie ist noch in der
Quelle. Sie ist noch nicht in den Körper gedrungen. Sie wird erst
zu Sex. Wenn der Körper reif ist und die Drüsen bereit sind, geht
die Energie in ihn hinein. Warum sieht ein Kind so unschuldig
aus? Die Energie ist noch in der Quelle, sie hat sich noch nicht
nach außen bewegt. Das gleiche passiert wieder, wenn jemand er-
leuchtet wird. Die gesamte Energie geht zur Quelle zurück, und
der Mensch wird kind-gleich. Das meint Jesus damit, wenn er
sagt: „Nur wenn ihr wie die Kinder werdet, könnt ihr in das Reich
meines Gottes eintreten.”
Was sagt er damit? Wissenschaftlich heißt das, daß alle Energie
zur Quelle zurückgeflossen ist. Indem man ihr Ausdruck gibt,
fließt sie nach außen. Und damit gibt man der Energie das Ge-
wohnheitsmuster, nach außen zu gehen, nach außen abzufließen.
Wenn du dich unterdrückst, dann ist die Energie weder zur Quel-
le noch nach außen gegangen; sie stagniert. Und stagnierende
Energie ist eine Bürde.
Darum fühlt man sich so erleichtert, wenn die Wut wirklich
ausbricht. Wenn man durch den Sex geht, fühlt man sich erleich-
tert. Wenn du etwas kaputtschlägst, hat sich dein Haß entladen,
und du bist erleichtert. Warum fühlt man sich erleichtert? Weil
stagnierende Energie schwer belastet. Dein Geist wird von ihr ge-
trübt. Du mußt sie hinauswerfen — oder ihr erlauben, zur ur-
sprünglichen Quelle zurückzufließen — das sind die einzigen bei-
den Möglichkeiten.
Wenn sie zur Quelle zurückfließt, wird sie formlos. In der
Quelle ist die Energie formlos. Diese Elektrizität hier zum Bei-
spiel ist formlos. Wenn sie in einen Ventilator geht, nimmt sie die
eine Form an; geht sie in eine Glühbirne, dann eine andere. Man
kann sie auf tausenderlei Weise verwenden, aber die Energie
bleibt die gleiche. Ihre Form bekommt sie durch den Mechanis-
mus, durch den sie fließt.
Wut ist ein Mechanismus. Sex ist ein Mechanismus. Liebe ist
ein Mechanismus. Haß ist ein Mechanismus. Geht die Energie in

406
Kapitel 16

den Haß-Kanal, wird sie zu Haß. Geht sie in die Liebe, wird die
gleiche Energie zu Liebe. Und wenn sie zur Quelle geht, wird sie
formlos — zu reiner Energie. Dort ist sie weder Haß noch Liebe,
noch Wut, noch Sex — einfach nur Energie. Jetzt ist sie unschul-
dig, denn Formlosigkeit ist absolute Unschuld. Darum sieht ein
Buddha so unschuldig aus — kindgleich. Seine Energie ist zur
Quelle zurückgekehrt.
Gib ihr keinen Ausdruck, denn du verschwendest sie nur und
stiftest auch den andern an, seine zu vergeuden. Unterdrücke
nichts, denn sonst erzeugst du etwas, das in der Luft hängt und
sich irgendwann entladen muß. Was also tun?
Diese Technik besagt, daß nichts mit dem Gefühl selbst ge-
schehen darf. Geh nur zur Quelle zurück, aus der es kommt. Und
während das Gefühl heiß ist, leuchtet seine innere Spur auf, ist sie
klar sichtbar. Du kannst dieser Spur folgen. Nutze deine Gefühle
für die Meditation. Das Ergebnis kommt einem Wunder gleich —
unglaublich. Und hast du erst einmal den Schlüssel gefunden, wie
du deine Energie zurück zur Quelle leiten kannst, verändert sich
deine Persönlichkeit qualitativ. Dann vergeudest du dich nicht
mehr. Das erscheint dir dann dumm.
Buddha hat gesagt: Wann immer du wütend wirst, bestrafst du
dich selbst für die Untat des anderen.
Der andere hat dich beleidigt: Das ist seine Tat. Und nun be-
strafst du dich dadurch, daß du wütend bist. Du verschleuderst
deine Energie.
Das ist dumm. Aber dann hören wir, was uns ein Buddha und
ein Mahavir, ein Jesus sagt ... und fangen an zu unterdrücken. Wir
unterdrücken unsere Energie, weil wir nun denken, es sei nicht
gut, es sei dumm, wütend zu werden. Was also tun? Die Wut un-
terdrücken! „Du sollst nicht wütend werden. Reiß dich zusam-
men — verschließe dich. Gehe gegen die Wut an, dränge sie
zurück”. Aber dann sitzt du auf einer Zeitbombe. Du sitzt auf ei-
nem Vesuv -jeden Moment kann er explodieren. Und so staut es
sich an: Die Wut des ganzen Tages sammelt sich an, die Wut des
ganzen Monats, des ganzen Jahres, eines ganzen Lebens, ja die
Wut vieler Leben ... Alles noch da! Es kann jeden Moment ex-
plodieren. Dann hast du Angst, überhaupt nur zu leben, denn

407
Das Buch der Geheimnisse

jederzeit kann etwas eindringen, das dich zur Explosion bringt.


Du bekommst Angst. Jeder Moment ist ein innerer Kampf.
Die Psychologie sagt, daß es besser ist, sich auszudrücken, statt
zu unterdrücken. Aber die Religion kann das nicht sagen. Die Re-
ligion sagt, daß beides dumm ist. Drückst du es aus, schadest du
dem andern und dir selbst auch; unterdrückst du es, schadest du
dir selbst und irgendwann auch einem anderen. Geh zur Quelle,
und laß die Energie in die Quelle zurücksinken, formlos werden.
Dann wirst du eine große Kraft spüren, ohne wütend zu sein.
Dann fühlst du dich als reine Energie, vitale Energie — du wirst le-
bendig sein! Du wirst ein intensives Leben haben — ohne Formen.
Jeder wird allein von deiner Gegenwart überwältigt. Aber du
brauchst über keinen Menschen Herrschaft auszuüben: Deine
Präsenz genügt, und alle spüren, daß eine Quelle an Kraft zuge-
gen ist.
Nähert euch einem Buddha oder Krishna, und augenblicklich
spürt ihr eine Klimaveränderung, die aus einer ganz ungeheuren
Kraftquelle kommt. Ihr nähert euch ihm und seid wie magneti-
siert. Niemand magnetisiert euch: niemand will etwas von euch.
Es ist allein die Präsenz. Man mag subjektiv fühlen, daß dich je-
mand hypnotisiert hat, aber niemand tut es. Die Präsenz eines
Buddha, dessen Energie formlos geworden ist, dessen Energie zur
Quelle zurückgekehrt ist, der an seiner Quelle zentriert ist, diese
Präsenz selbst hypnotisiert. Sie ist charismatisch.
Buddha wurde erleuchtet. Vor seiner Erleuchtung hatte er fünf
Jünger — vorher. Es waren Asketen; und als Buddha selbst noch
Asket war, der seinen Körper auf alle möglichen Weisen quälte
und immer neue, immer sadistischere Techniken erfand, um sich
zu quälen, da waren sie seine glühenden Anhänger. Endlich wur-
de ihm klar, daß dies total, absolut absurd war. Nur dadurch, daß
man sich quält, kann man nicht zur Selbsterkenntnis kommen.
Als er das sah, hörte er mit der Askese auf. Da verließen ihn die-
se fünf Anhänger augenblicklich. Sie sagten: „Du bist gefallen. Du
bist kein Asket mehr.” Sie verließen ihn. Als Buddha erleuchtet
wurde, da galt sein erster Gedanke diesen fünf Anhängern. Sie wa-
ren seine Anhänger gewesen, also mußte er zu ihnen gehen, das
war seine Pflicht. Er mußte sie aufsuchen und ihnen mitteilen, was

408
Kapitel 16

er gefunden hatte. Also machte er sich auf die Suche nach ihnen
und reiste in Bihar herum, von Bodh Gaya bis Benares. Sie waren
in Sarnath. Buddha kehrte nie wieder nach Benares, nie nach
Sarnath zurück, denn er war nur dieser Jünger wegen gekommen.
Er kam in Sarnath an. Es war Abend, und die Sonne ging un-
ter, und diese fünf Asketen saßen auf einem Hügel. Sie sahen
Buddha kommen und sagten: „Da kommt dieser gefallene
Gautam Buddha, dieser Gautam Siddhartha, der vom Weg abge-
kommen ist. Wir wollen ihm keinen Respekt erweisen, nicht ein-
mal den üblichen Gruß.”
Sie schlossen die Augen. Während Buddha näher und näher
kam, spürten diese fünf Asketen eine Veränderung — eine innere
Veränderung. Es war unheimlich. Als Buddha fast schon bei ih-
nen war, öffneten sie plötzlich alle auf einmal die Augen und fie-
len ihm zu Füßen. Buddha sagte: „Aber warum tut ihr das? Ihr
wolltet mir doch noch nicht einmal einen Gruß erbieten — warum
also dies?”
Sie sagten: „Wir können nichts dafür. Du hast etwas entdeckt!
Was ist es? Du bist zu einer magnetischen Kraft geworden. Wir
werden einfach zu dir hingezogen! Was machst du nur mit uns?
Hast du uns hypnotisiert?” Buddha sagte: „Nein. Ich habe euch
nichts getan, aber in mir ist etwas geschehen. Alle meine Energi-
en haben zur Quelle zurückgefunden. Wohin ich auch gehe, wird
nun eine magnetische Kraft von mir ausgehen.” Aus diesem
Grunde konnten die Gegner Buddhas oder Mahavirs sie noch
nach Jahrhunderten verleumden, sie hätten die Menschen hyp-
notisiert. Ihr werdet zwar hypnotisiert — aber das ist etwas anderes.
Wenn die Energie zur ursprünglichen Quelle zurückgeht, wird
man zu einem Zentrum von magnetischer Kraft. Diese Technik
hilft, dieses Magnetzentrum in dir zu erzeugen.

Die zweite Frage:

Gestern sagtest du, daß die Meditationstechnik, hei der man seine
Bewußtseinsprozesse zurückverfolgt, sehr bedeutsam sei. Aber im
Westen praktizieren Hunderte von Psychoanalytikern und Psychia-
tern diese Methode — Freud ianer wie Jungianer — ohne Erfolg was

409
Das Buch der Geheimnisse

die Transformation des Westens betrifft Was sind die Gründe und
Mängel, die zu ihrem Mißerfolg führen?

Da spielen viele Dinge eine Rolle. Erstens: Die westliche Psy-


chologie glaubt noch nicht an das „Wesen” des Menschen; sie
weiß nur von seiner geistig-seelischen Existenz. Darüber hinaus
existiert bisher noch nichts für die westliche Psychologie. Wenn
es über den Geist-Seele-Komplex hinaus nichts gibt, dann kann
man tun, was man will, aber dem Menschen wird nicht wirklich
geholfen. Man kann ihm allenfalls zur Normalität verhelfen. Al-
lerhöchstens!
Und was ist normal? Was ist Normalität? Nichts als das „Durch-
schnittliche”. Wenn aber der Durchschnittsmensch nicht normal
sein sollte, dann bedeutet es überhaupt nichts, normal zu sein.
Dann heißt „normal” nur: angepaßt sein an die Masse. Die west-
liche Psychologie tut also eines: Sie paßt mit ihren Methoden den,
der nicht an die Masse angepaßt ist, wieder der Masse an. Die
Masse wird überhaupt nicht in Frage gestellt. Ob die Masse sel-
ber richtig liegt, interessiert gar nicht.
Für die östliche Psychologie ist die Masse nicht das Kriterium.
Merkt euch diesen Unterschied gut: Für die östliche Psychologie
ist nicht die Masse, nicht die Gesellschaft das Kriterium; die Ge-
sellschaft selbst ist krank. Was ist dann aber das Kriterium? Für
uns ist ein Buddha der Maßstab. Solange du nicht buddhagleich
wirst, bist du krank. Es ist also nicht die Gesellschaft.
Sie ist es für den Westen, weil ein Buddha nicht das Kriterium
sein kann. Man glaubt dort nicht, daß es so etwas wie das innere
Wesen gibt. Wenn es so etwas wie ein inneres Sein nicht gibt,
dann kann es keine Erleuchtung geben. Nur wenn das innere Sein
illuminiert wird, gibt es Erleuchtung.
Also ist die westliche Psychologie im Grunde nur therapeutisch,
nur ein Zweig der Medizin. Sie will dir helfen, dich wieder anzu-
passen. Es geht nicht um das Transzendieren. Die östliche
Bemühung zielt auf Transzendierung des psychisch-geistigen
Apparats — denn für uns gibt es, bedenkt das, keine Geisteskrank-
heiten. Für den Osten gibt es so etwas nicht. Nein, vielmehr ist
der geistige Apparat als solcher die Krankheit. Für die westliche

410
Kapitel 16

Psychologie ist dieser Apparat keine Krankheit. Dein geistig-psy-


chischer Apparat, das bist du; er ist nicht die Krankheit. Er kann
gesund sein, er kann krank sein.
Für uns ist dieser Apparat als solcher die Krankheit. Er kann
niemals gesund sein. Nur wenn du über ihn hinausgehst, kannst
du je gesund sein. Du kannst krank und angepaßt sein, oder du
kannst krank und unangepaßt sein, aber du kannst nie gesund
sein. Der Normalmensch ist also nie wirklich gesund: er hält sich
nur in den Grenzen, ist krank innerhalb der Grenzen. Der
anomale Mensch ist jemand, der die Grenzen überschritten hat,
und der Unterschied zwischen beiden ist nur ein gradueller —
quantitativ, nicht qualitativ.
Zwischen einem Wahnsinnigen im Irrenhaus und dir gibt es
keinen qualitativen Unterschied, sondern nur einen Gradunter-
schied. Er ist ein bißchen mehr verrückt als du; du bist innerhalb
der Grenzen. Du kannst nn Funktionsganzen mithalten. Er nicht
mehr, er ist weiter gegangen als du. Er ist ein fortgeschrittener Fall,
nichts weiter. Du bist nur auf dem Weg dahin, und er ist ange-
kommen.
Die westliche Psychologie möchte ihn gern zur Herde zurück-
bringen, zur Masse, zur Horde. Sie macht ihn „normal”. Das ist
auch in Ordnung; so weit, so gut. Aber für den Osten ist ein
Mensch so lange verrückt, bis er über seinen geistig-psychischen
Apparat hinausgelangt ist, denn für den Osten ist genau dieser der
Wahnsinn.
Daher versucht der Osten, Bewußtseinsabläufe zurückzuver-
folgen, um herauszufinden, was jenseits von ihnen liegt. Rück-
spul-Methoden werden zwar auch im Westen eingesetzt, aber
nur, um dich wieder anzupassen — da geht es um kein Transzen-
dieren. Und merkt euch: Solange du nicht über dich selbst hin-
ausgehst, passiert nichts Nennenswertes. Solange es jenseits von
dir nichts gibt, wohin du gelangen kannst, ist das Leben sinnlos.
Aber da gibt es auch noch andere Dinge: für Freud und die
Freudianer ist der Mensch im Grunde ein Wesen, das zu keinem
Glück fähig ist. Seine Natur selbst ist nach ihrer Vorstellung so be-
schaffen, daß der Mensch nicht glücklich sein kann. Nicht un-
glücklich zu sein, ist das einzig Mögliche. Begnügt euch damit,

411
Das Buch der Geheimnisse

nicht unglücklich zu sein. Man kann nicht glücklich sein. War-


um? Die Freudianer sagen, daß alles Glück auf einem instinkti-
ven Dasein beruhe, darauf, wie ein Tier zu leben. Und das kann
aber der Mensch nicht: seine Ratio funkt ständig dazwischen. Man
kann den Verstand verlieren und wieder zum Tier werden — und
somit glücklich. Aber dann bist du dir deines Glücks nicht be-
wußt. Das ist für sie das Grundparadox.
Wenn du abrutschst und zum Tier wirst, bist du zwar glück-
lich, aber nicht mehr bewußt. Solange du bewußt zu sein ver-
suchst, kannst du nicht glücklich sein, denn dann kannst du nicht
wie ein Tier leben. Und der Verstand schaltet sich ständig in alles
ein. Der Mensch kann nicht ohne den Verstand sein, und mit ihm
kann er wiederum nicht glücklich leben. Das ist das Problem. Also
kannst du Freud zufolge nicht glücklich sein. Höchstens kannst
du, wenn du weise bist, dein Leben so arrangieren, daß du nicht
unglücklich bist. Eine sehr pessimistische Sicht.
Für die östliche Psychologie oder Metaphysik oder Religion exi-
stiert ein sehr positives Ziel. Du kannst glücklich sein! Du kannst
es. Nicht nur glücklich — glückselig kannst du sein. Und die östli-
che Psychologie sagt auch: Die Tatsache, daß du unglücklich sein
kannst, beweist dein Potential, auch glücklich sein zu können.
Sonst könntest du dies Gefühl von Unglück gar nicht haben.
Ein Mensch, der Dunkelheit sehen kann, hat Augen, und wenn
er Dunkelheit sehen kann, kann er auch Licht sehen. Blinde, be-
denkt das, können keine Dunkelheit sehen. Ihr glaubt immer, die
Blinden würden irn Dunkeln leben. Das könnt ihr völlig verges-
sen. Sie können Dunkelheit nicht sehen, weil selbst dazu Augen
nötig sind. Wenn du Unglück fühlen kannst, beweist das, daß du
„Augen” hast und folglich auch Glück erfahren kannst. Wirklich:
Wer kein Glück empfinden kann, der kann unmöglich Unglück
empfinden. Es sind komplementäre Gegensätze.
Ihr seid fähig, total glücklich zu sein, aber dafür ist eure geistig-
psychische Struktur unbrauchbar. Seht es einmal so: Wenn man
fällt und zum bloßen Körper wird, ist man glücklich. Das ist auch
Freuds Meinung: Wer zum Tier abfällt und seine Vernunftbe-
gabtheit völlig vergißt, zum Körper wird, der wird glücklich, weiß
aber nichts davon. Bist du geistig da, könnte das Glück theoretisch

412
Kapitel 16

erfahrbar sein, praktisch aber kannst du nicht glücklich sein, weil


der Geist selbst es verhindert. Der Körper kann glücklich sein,
aber der Denkapparat stört ständig.
Es gibt eine andere Möglichkeit, und der Osten hat sie erarbei-
tet: transzendieren. Freud sagt: Fällst du zum Tier ab, bist du
glücklich, weißt es aber nicht. Bist du geistig da, könntest du es
wissen, kannst aber nicht glücklich sein. Die östliche Forschung
sagt: Gehst du über den Geist hinaus, bist du glücklich und gleich-
zeitig bewußt. Das ist die dritte Stufe: das Jenseits.
Dies sind also die drei Stufen. Der Mensch ist in der Mitte. Un-
ter ihm ist die Tierexistenz. Geht in den Wald und seht euch die
Tiere an: Sie mögen nicht wissen, daß sie glücklich sind, aber ihr
werdet fühlen, daß sie es sind. Geht an den Strand frühmorgens,
oder in den Garten, und hört euch den Gesang der Vögel an. Sie
mögen es nicht wissen, aber ihr werdet spüren, wie glücklich sie
sind. Ihr habt nie so gesungen. Schaut ihnen tief in die Augen: so
völlig klar und unschuldig. Sie sind glücklich — ihr seid es nicht.
Entweder laß dich fallen und werde zu einem bloßen Körper:
So wirst du glücklich. Oder — geh weiter und werde zu reinem
Geist, zu reinem Sein, und du wirst glücklich. Aber solange du da-
zwischen bist, wirst du immer angespannt sein, weil der gewöhn-
liche Geist nicht die Endstation ist. Er ist nur ein Seil, das zwischen
zwei Wirklichkeiten gespannt ist — Körper und Seele, reinem
Geist.
Und so seid ihr nur auf dem Seil wie ein Nata — ein Seiltänzer.
Ein Seiltänzer kann nicht entspannt sein. Entweder muß er vor-
wärts oder rückwärts gehen, aber er kann nicht bleiben, wo er ist.
Er muß wieder heruntersteigen, entweder rückwärts oder vor-
wärts — und darüber hinaus. Der Geist ist ein Seil, und mit dem
Geist zu leben, ist ein Seiltanz. Da gibt es nur mangelndes Gleich-
gewicht und Spannung. Jeder Augenblick ist Qual und Angst. Das
Leben des Geistes ist Spannung. Darum kann euch die westliche
Psychologie zwar etwas stabilisieren, aber zur Selbstverwirkli-
chung verhilft sie euch nicht.
Aber es gibt auch neue Trends, und man beginnt sich zu fra-
gen ... Der Osten dringt jetzt immer tiefer in den Westen ein.
Tatsächlich ist das die östliche Art, zu erobern. Der Westen hat

413
Das Buch der Geheimnisse

den Osten erobert; auf sehr grobe Weise. Der Osten hat seine ei-
gene Art zu erobern — eine sehr subtile, sehr stille Art. Heute
dringt das östliche Verständnis tief in das westliche ein. Ohne jede
Gewalt, ohne jeden sichtbaren Konflikt, dringt jetzt der Osten
ganz tief in den Westen ein. Und früher oder später muß die west-
liche Psychologie Vorstellungen von Transzendenz entwickeln —
wie man über den Verstand hinausgelangt.
Das langsame Zurückverfolgen der Gedanken kann auf beiden
Wegen nützlich sein. Wem es nur darum geht, Normalität her-
zustellen, dem kann es helfen. Aber dann ist nicht Transzendenz
das Ziel. Wenn Transzendenz das Ziel ist, kann das langsame
Zurückverfolgen des geistigen Prozesses ebenfalls helfen. All die-
se Techniken können ebensogut zur gewöhnlichen Geistesberu-
higung führen, wie zur wahren Stille, die jenseits des Geistes ist.
Es gibt zwei Arten von Stille — eine innerhalb des Geistes, bei
der der Geist sich beruhigt, und eine andere Stille, wenn es den
Geist nicht mehr gibt. Diese Stille — wo der Geist nicht mehr ist —
hat mit einem geistigen Frieden nichts zu tun, bei dem der Geist
noch da ist, nur nicht mehr ganz so verrückt: Der Wahnsinn hat
nachgelassen — das ist alles.
Die westliche Psychologie muß zu einer Metaphysik werden,
nur dann kann der Mensch transzendieren. Sie muß auch zu Phi-
losophie werden und schließlich zu Religion. Nur so kann dem
Menschen zur Transzendenz verholfen werden.

Die dritte Frage:

Du hast uns viele Meditationstechniken erklärt Ist es aber nicht so, daß
keine Methode viel ausrichten kann wenn man nicht in sie initiiert wird?

Eine Methode wird qualitativ anders, wenn du in sie eingeweiht


wirst. Ich rede hier nur von den Methoden: Ihr könnt sie benut-
zen. Sobald ihr den wissenschaftlichen Hintergrund kennt und das
„Gewußt-wie”, könnt ihr sie benutzen. Aber Initialion macht et-
was qualitativ anderes daraus. Wenn ich dich in eine spezifische
Technik einweihe, ist das eine andere Sache, denn bei der Ein-
weihung spielen viele Dinge mit.

414
Kapitel 16

Wenn ich über eine Methode spreche und sie euch erkläre,
könnt ihr sie für euch selbst benutzen. Die Methode wird dir er-
klärt, aber ob sie zu dir paßt oder nicht, wie sie auf dich wirken
wird, was für ein Typus du bist, wird nicht besprochen. Das ist
nicht möglich.
Bei der Initiation bist du wichtiger als die Technik. Wenn der
Meister dich in sie einführt, beobachtet er dich, findet deinen Ty-
pus heraus und wieviel du in deinen vergangenen Leben aufgear-
beitet hast, wo du jetzt im Augenblick stehst, an welchem Zen-
trum du jetzt gerade funktionierst, und dann erst entscheidet er
über die Methode: Er wählt sie aus. Sie ist individuell verschieden.
Die Methode ist nicht wichtig, was wichtig ist, bist du. Du wirst
studiert und beobachtet und analysiert. Deine vergangenen Le-
ben, dein Bewußtseinsgrad, dein Geist, dein Körper werden se-
ziert. Du wirst tief „ausgelotet” in bezug auf das, wo du bist, weil
die Reise von dort losgeht, von dem Punkt, wo du gerade jetzt
bist. Nicht jede beliebige Methode tut ` s.
Dann wählt der Meister eine bestimmte Methode für dich
aus, und wenn er das Gefühl hat, daß diese bestimmte Metho-
de für dich abgeändert werden muß, daß winzige Veränderun-
gen oder irgendwelche Zusätze nötig sind, dann fügt er etwas
hinzu, nimmt etwas weg und schneidert dir die Methode auf
den Leib zu. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, daß du nicht
darüber redest, wenn du in eine Methode eingeführt wirst. Sie
muß geheim bleiben, weil sie individuell ist. Wenn du zu ei-
nem anderen darüber redest, hilft das kaum oder kann sogar
schaden. Es muß geheim bleiben, bis du angekommen bist und
der Meister dir sagt, daß du nun andere initiieren kannst. Es darf
kein Wort darüber verloren werden, es muß unausgesprochen
bleiben, selbst vor der Frau, dem Mann, dem Freund. Weil es
sehr heikel ist, muß es absolut geheim bleiben. Die Methode
ist sehr stark. Sie ist für dich ausgewählt und gemacht worden.
Sie wird nur für dich funktionieren, und ist für niemanden sonst
auf der Welt gedacht. Tatsächlich, jedes Individuum ist so ein-
malig, daß es eine eigene Methode braucht: und mit einer
leichten Abänderung kann eine Methode auf dich zugeschnit-
ten werden.

41 5
Das Buch der Geheimnisse

Worüber ich spreche, diese 112 Methoden, das sind verall-


gemeinernde Methoden, 112 allgemeine Methoden - und zwar
alle, die je benutzt worden sind. Sie sind in genereller Form, zum
Kennenlernen, zum Ausprobieren; wenn etwas zu dir paßt,
kannst du weitermachen. Aber Initialion in eine Methode ist das
nicht. Initialion ist eine persönliche, individuelle Angelegenheit
zwischen dem Meister und dem Jünger. Es ist eine geheime Über-
tragung. Und mehr als das - vieles spielt mit. Da wählt der Mei-
ster zum Beispiel auch einen bestimmten Augenblick, wann er
dir die Methode gibt, damit er tief in dein Unbewußtes eindrin-
gen kann.
Während ich rede, hört mir euer Oberflächen-Bewußtsein zu
... ihr vergeßt wieder. Wenn ich mit diesen 112 Methoden fertig
bin, werdet ihr euch nicht einmal mehr an ihre Namen erinnern
-112! Viele werden völlig vergessen sein. Ihr werdet euch ein paar
merken und die auch noch durcheinander bringen und vermi-
schen. Ihr wißt nicht mehr, was was ist.
Der Meister muß den richtigen Moment wählen. Dann, wenn
dein Unbewußtes offen ist, gibt er dir die Methode. So geht sie
tief ins Unbewußte. Oft geschieht die Initiaton im Schlaf, nicht
im bewußten Zustand. Manchmal wird einem die Methode in ei-
ner tiefen hypnotischen Trance gegeben, wenn die bewußte
Schicht völlig schläft und die unbewußte Schicht offen ist.
Darum ist für die Initialion Selbstauslieferung unerläßlich.
Ohne Selbstaufgabe kann keine Initialion gegeben werden, denn
solange du dich nicht auslieferst, bleibt deine bewußte Schicht
wach und auf der Hut. Wenn du dich aber auslieferst, kann dein
bewußter Teil von seiner Aufgabe befreit werden, und dein un-
bewußter Teil kann in unmittelbaren Kontakt mit dem Meister
treten.
Es muß der richtige Moment gewählt werden, und außerdem
mußt du für die Initialion vorbereitet sein. Es mag Monate dau-
ern: Es gehört das richtige Essen dazu, der richtige Schlaf, und al-
les muß auf einen stillen Punkt zusteuern. Nur dann kannst du
initiiert werden - Initialion ist also ein langer Prozeß, ein indivi-
dueller Prozeß. Erst, wenn einer bereit ist, sich total auszuliefern,
ist Initialion möglich.

41 6
Kapitel 16

Ich initiiere euch also nicht in diese Methoden. Ich mache euch
nur mit ihnen bekannt. Wenn jemand das Gefühl hat, von einer
Methode tief betroffen zu sein und daß er in diese Methode ein-
geführt werden sollte, so kann ich das tun. Aber das ist dann ein
langer Prozeß. Dann muß mir deine Individualität vollkommen
bekannt sein. Du mußt dich völlig bloßlegen, und es darf nichts
verborgen bleiben. Und dann -ja„ dann erst werden die Dinge
ganz einfach. Denn wenn die richtige Methode dem richtigen
Menschen zum richtigen Zeitpunkt gegeben wird, dann wirkt sie
sofort.
Manchmal geschieht es, daß einjünger während der Initiation
erleuchtet wird. Die Initiation selbst wird zur Erleuchtung! Dann
wird die Methode lebendig: Wenn sie vom Meister privat, indi-
viduell gegeben wird. Das, was ich jetzt mache, ist nicht Initiation
— vergeßt das nicht. Mein Ansatz ist rein wissenschaftlich: Ich
möchte diese 112 Methoden wieder ins Leben rufen, sie bekannt
machen.
Wenn jemand interessiert ist, kann er sich initiieren lassen. Und
wenn du wirklich interessiert bist, wirst du die Initiation suchen,
denn allein mit einer Methode zu arbeiten, ist eine langwierige
Sache. Es mag ganze Leben dauern, es mag Jahre dauern, und dei-
ne Ausdauer mag nicht groß genug sein. Durch Initiation wird es
ganz leicht, und dann wird die Methode zu einer Übertragung.
Dann fängt der Lehrer an, mit Hilfe der Methode an dir zu ar-
beiten. Initiation ist eine lebendige Beziehung mit dem Meister,
und eine lebendige Beziehung geht natürlich tief. Sie transfor-
miert dich.

Die nächste Frage:

Du zitierst Georg Gurdjieff, der sagt Identifikation sei die einzige


Sünde. Aber viele Methoden gebrauchen Identifikation. Zum
Beispiel heißt es: „Werde eins mit der Geliebten”, „Werde eins mit
der Rose`; oder„ Werde eins mit dem Guru Ist das denn nicht
Identifikation? Ist sie nicht ein wichtiges Element der Meditation
und Spiritualität? Ist Gurdjief Ausspruch also nur teilweise wahr,
nur für bestimmte Techniken?

41 7
Das Buch der Geheimnisse

Nein! Gurdjieff hat nicht teilweise recht, er hat vollkommen


recht. Aber das müßt ihr erst verstehen lernen. Identifikation ge-
schieht unbewußt. Wenn du sie aber als meditative Technik ge-
brauchst, geschieht das bewußt.
Dein Name ist zum Beispiel Ram. Jemand beleidigt „Ram”:
Augenblicklich fühlst du dich beleidigt, weil du dich mit dem Na-
men „Ram” identifizierst. Aber das ist dir nicht bewußt, es läuft
unbewußt ab. Dein Kopf funktioniert ja nun nicht etwa so: „Ich
werde Ram genannt. Natürlich bin ich nicht Ram. Das ist nur
mein Name, und alle Menschen werden namenlos geboren. Die-
ser Name kommt von außen, er ist zufällig. Dieser Mensch ver-
sucht nun, diesen zufälligen Namen zu beleidigen — soll ich also
wütend werden oder nicht?” So würdest du es nie in dir ausdis-
kutieren. Tätest du es, würdest du kein bißchen wütend. Aber je-
mand beleidigt plötzlich Ram, und du bist beleidigt, obwohl es
nur ein zufälliger Name ist. Diese Identifikation ist unbewußt,
nicht bewußt.
Wenn du dich mit einer Rose identifizierst, ist das eine bewuß-
te Anstrengung. Du bist nicht mit der Rose identifiziert — du ver-
suchst, dich mit der Rose zu identifizieren und dich selbst dabei
zu vergessen. Du willst mit der Rose eins werden, und bist tief be-
wußt dabei — nimmst den ganzen Vorgang wahr. Du tust es. Selbst
Identifikation, bewußt angewendet, wird zu Meditation. Und
wenn du eine Meditationstechnik unbewußt anwendest, dann ist
es keine Meditation mehr — vergiß das nicht! Ihr betet zum Bei-
spiel jeden Morgen oder jeden Abend — eine reine Routinesache,
unbewußt. Ihr seid euch dabei überhaupt nicht bewußt, was ihr
tut. Ihr macht euch gar nicht bewußt, was für Worte ihr beim Be-
ten in den Mund nehmt. Ihr sagt sie her wie ein Papagei.
Das ist nicht Meditation. Wenn du bewußt in der Badewanne
liegst, ist das Meditation. Merkt euch also: Alles, was man bewußt
tut, voll da, hellwach, wird zur Meditation. Selbst wenn du je-
manden bewußt umbringst, bei vollem Bewußtsein, ist es me-
ditativ.
Genau das ist es, was Krishna zu Arjuna sagt: „Hab keine Angst.
Fürchte dich nicht! Töte, morde mit dem vollen Bewußtsein, dem
klaren Wissen, daß niemand gemordet und niemand getötet

41 8
Kapitel 16

wird." Arjuna könnte seine Feinde ohne weiteres unbewußt tö-


ten. Er kann vor Wut außer sich geraten und dann töten: Das ist
leicht. Aber was Krishna sagt, ist: „Sei wach. Sei voll bewußt. Wer-
de einfach zum Instrument der göttlichen Hand, und wisse, daß
niemand stirbt, daß niemand sterben kann. Das innere Wesen ist
ewig, unsterblich. Du zerstörst also nur Formen, nicht das, was
hinter den Formen ist. Zerstöre also die Formen.” Wenn Arjuna
also meditativ bewußt sein kann, dann hat es nichts mehr mit
Gewalt zu tun. Niemand wird „getötet” - es wird keine Sünde
begangen.
Ich will euch eine Anekdote über Nagarjuna erzählen. Nagar-
juna war einer der großen Meister Indiens - vom Kaliber eines
Buddha, Mahavir und Krishna. Und Nagarjuna war ein unglaub-
liches Genie. Auf intellektueller Ebene gibt es tatsächlich in der
ganzen Welt keinen Vergleich mit ihm. Ein Intellekt von solcher
Schärfe und Tiefe kommt nicht wieder vor.
Er kam einmal durch eine Stadt, eine Hauptstadt. Er ging im-
mer nackt. Die Königin jenes Reiches war seine Anhängerin, sei-
ne Jüngerin — und sie liebte Nagarjuna, sie betete ihn an. Und so
ging Nagarjuna zum Palast, um für sein Essen zu betteln. Er hat-
te eine hölzerne Bettelschale. Die Königin sagte: „Gib mir diese
Bettelschale. Ich will sie als ein Geschenk ehren, und ich laß dir
eine andere machen. Die kannst du dann behalten."Nagarjuna
sagte: „Okay.”
Die neue Schale war aus Gold, besetzt mit vielen Edelsteinen.
Sie war sehr kostbar. Nagarjuna sagte nichts. Ein gewöhnlicher
Sannyasin hätte sie nicht angenommen, er hätte gesagt: „Ich rüh-
re kein Gold an.” Aber Nagarjuna nahm sie. Wenn Gold wirklich
nichts als Staub ist, warum dann einen Unterschied machen? Er
nahm sie an. Selbst der Königin war nicht ganz wohl dabei. Sie
dachte: „Warum?” Er hätte ablehnen sollen! Ein so großer Heiliger
- wieso nimmt er etwas so Wertvolles an, wo er doch nackt her-
umläuft, ohne Kleider, ohne jede Habe? Wieso lehnt er nicht ab?”
Hätte Nagarjuna abgelehnt, hätte die Königin darauf bestanden,
hätte sie ihn gedrängt - und sie hätte sich wohler gefühlt. Nagar-
juna aber nahm sie einfach und ging seiner Wege. Ein Dieb sah
ihn, als er die Stadt verließ, und dachte bei sich: „Der Mann kann

41 9
Das Buch der Geheimnisse

diese Schale unmöglich behalten. Irgend jemand wird sie ihm


stehlen oder wegnehmen. Bei seiner Nacktheit — wie kann er sie
da hüten?" Also ging er ihm nach. Er schlich Nagarjuna nach. Na-
garjuna wohnte außerhalb der Stadt in einem alten Kloster, ganz
allein. Das Kloster war eine Ruine. Er ging hinein; er hörte die
Schritte hinter sich, sah sich aber nicht um, weil er dachte: „Er
muß der Schale wegen gekommen sein, nicht meinetwegen, denn
wer kommt schon hierher? Niemand kommt mich in diesen Rui-
nen besuchen.”
Er ging hinein. Der Dieb stand hinter einer Wand und warte-
te. Als Nagarjuna merkte, daß der Dieb draußen wartete, warf er
die Schale zur Tür hinaus. Der Dieb konnte es nicht fassen. Was
war das für ein h4ann, der so ein wertvolles Ding wegwarf, wo er
nicht mal Kleider hatte?
Da fragte er Nagarjuna: „Darf ich hereinkommen, Sir? Ich
möchte eine Frage stellen.” Nagarjuna sagte: „Ich habe die Scha-
le nur hinausgeworfen, damit du eintreten kannst — um dir zu hel-
fen, hereinzukommen, denn ich möchte jetzt mein Nachmittags-
schläfchen halten. Du hättest der Schale wegen hereinkommen
können, aber dann wärest du nicht mir begegnet. Komm also
rein.”
Der Dieb trat ein. Er sagte: „So ein kostbares Ding — und das
wirfst du weg? Ich bin ein Dieb, und du bist ein so weiser Mann,
daß ich dich nicht belügen kann. Ich bin ein Dieb.” Nagarjuna sag-
te: „Mach dir keine Sorgen. Jeder ist ein Dieb. Mach ruhig weiter.
Verschwende keine Zeit mit so unnötigen Gewissensbissen.” Der
Dieb sagte: „Manchmal, wenn ich Menschen wie dich sehe, den-
ke ich mir: So wie der möchte ich auch sein.` Ich bin ein Dieb,
für mich scheint es unerreichbar. Aber ich hoffe und bete, daß ich
es eines Tages auch fertigbringe, so ein kostbares Ding einfach
wegzuwerfen. Kannst du mir dabei helfen? Ich bin schon zu vie-
len Weisen gegangen, ich bin nämlich ein sehr bekannter Dieb,
jeder kennt mich. Aber alle sagen sie: gib erst dein Geschäft auf,
dein Handwerk, eher kannst du den Weg der Meditation nicht
betreten.”
Nagarjuna antwortete: „Wer verlangt, daß du erst das Stehlen
aufgeben sollst, bevor du meditieren kannst, der weiß überhaupt

420
Kapitel 16

nichts von Meditation. Denn was hat Meditation mit Stehlen zu


tun? Da gibt 's keine Beziehung. Also mach ruhig weiter. Ich will
dir eine Methode geben, die kannst du üben."
Der Dieb sagte: „Aha, jetzt kommen wir uns schon näher. Ich
darf also mit meinem Handwerk weitermachen? Was ist deine
Technik? Schnell, sag's mir.”
Nagarjuna sagte: „Du mußt bewußt bleiben. Wenn du dabei
bist, etwas zu stehlen, bleib einfach voll bewußt und wach. Wenn
du in ein Haus einbrichst, sei voll bewußt. Wenn du in eine
Schatzkammer einbrichst, sei voll bewußt. Wenn du etwas aus
dem Schatz wegnimmst, tu es bei vollem Bewußtsein. Mach es
bewußt. Was du irn einzelnen tust, geht mich nichts an. Und nach
fünfzehn Tagen kommst du zu mir; aber nur, wenn du das wirk-
lich praktiziert hast. Übe es zwei Wochen lang; mach weiter, aber
tu es völlig bewußt.”
Am dritten Tag kam der Dieb angelaufen und sagte: „Fünfzehn
Tage sind zu lang, und du bist ein ganz schöner Fuchs. Du hast
mir da eine Technik gegeben, bei der ich nicht mehr arbeiten
kann, wenn ich voll bewußt bleiben soll. Die letzten drei Nächte
war ich im Palast, bin jedesmal bis in die Schatzkammer vorge-
drungen und habe sie geöffnet. Kostbare Dinge lagen vor mir,
aber dann wurde ich voll bewußt. Und sobald ich voll bewußt
wurde, erstarrte ich zu einer Buddhastatue. Ich konnte keinen
Schritt vorwärts machen, meine Hand wollte sich nicht bewegen.
Und der ganze Schatz erschien mir wertlos; also bin ich Nacht für
Nacht wieder hingegangen. Was soll ich nur machen? Und du
hast gesagt, daß ich meinen Beruf nicht aufzugeben brauche! Aber
bei deiner Methode ist diese Bedingung irgendwie mit einge-
baut.”
Nagarjuna sagte: „Komm nicht mehr zu mir. Jetzt hast du die
Wahl. Wenn du weiter stehlen willst, vergiß das Meditieren.
Wenn du meditieren willst, vergiß das Stehlen. Du kannst es dir
aussuchen.” Der Dieb sagte: „Du steckst mich in die Zwickmüh-
le. In den letzten drei Tagen habe ich erfahren, daß ich lebendig
bin, und wenn ich ohne Beute aus dem Palast zurückgekehrt bin,
fühlte ich mich jedesmal wie ein Kaiser, nicht wie ein Dieb. Die-
se drei Tage waren so selig, daß ich das Meditieren nun nicht mehr

421
Das Buch der Geheimnisse

lassen kann. Du hast mich reingelegt. Weihe mich jetzt ein und
mache mich zu deinem Jünger. Stehlen hat keinen Zweck mehr.
Das sehe ich jetzt ein. Drei Tage haben gereicht."
Was dein Objekt auch sein mag — was du bewußt tust, wird zu
Meditation. Versuche, dich bewußt zu identifizieren: Es wird zu
Meditation. Unbewußt ist es eine große Sünde!
Ihr seid alle mit irgendwelchen Dingen identifiziert. „Das ist
mein, dies ist mein ...” Ihr seid identifiziert. „Das ist mein Land,
das ist meine Nation, das ist meine Flagge.”
Wenn jemand eure Flagge beleidigt, werdet ihr wütend. Was
fällt ihm ein! Dabei habt ihr gar keine Nation, und alle Flaggen
sind Mythen. Es macht Spaß, wie ein Kind damit zu spielen; sie
sind Spielzeuge. Aber ihr könnt auch dafür morden und ermor-
det werden, und Länder werden geschaffen und zerstört, nur weil
eine Flagge beleidigt wurde. Und es ist nur ein Fetzen Stoff! Was
passiert?
Ihr seid damit identifiziert. Diese Identifikation ist unbewußt.
Unbewußtheit ist Sünde.

422
Über Osho

In der Regel leben wir alle in der Welt der Zeit — Vergangenes
zurückrufend, Zukünftiges vorausnehmend; nur in seltenen
Augenblicken rühren wir an die zeitlose Dimension der Gegen-
wart: in Momenten von großer Schönheit oder plötzlicher Ge-
fahr, in Begegnungen mit geliebten Menschen oder wenn das
Unverhoffte an unsere Tür klopft.
Nur sehr wenige Menschen treten aus der Zeit und dem Reich
unserer Vorstellungen heraus und beginnen ein Leben in der Welt
des Zeitlosen. Und von diesen wenigen haben nur die wenigsten
versucht, uns ihre Erfahrungen mitzuteilen: Menschen wie Laot-
se, Buddha, Bodhidharma — oder in unserem Jahrhundert Gurd-
jieff, Ramana Maharshi und J. Krishnamurti. Regelmäßig werden
sie von ihren Zeitgenossen für verrückt erklärt, als Ekzentriker
oder arme Irre verschrieen. Nach ihrem Tode avancieren sie dann
zu „Philosophen”, werden zur Legende, blutlos abstrakten We-
sen, allenfalls tauglich als Archetypen für unsere kollektive Sehn-
sucht, über all das Kleinlich-Platte und Sinnlose unseres Alltags
hinauszuwachsen.
Osho wurde am 11. Dezember 1931 im indischen Bundesstaat
Madhya Pradesh geboren. Von frühester Kindheit an bewies er ei-
nen rebellischen, unabhängigen Geist und erforschte seine eige-
ne Wahrheit, statt sich von dem Wissen und Glauben anderer
Leute beeinflussen zu lassen.
Nach seiner Erleuchtung im Alter von einundzwanzig Jahren
schloß Osho sein Universitätsstudium ab und lehrte danach meh-
rere Jahre lang Philosophie an der Universität von Jabalpur. Zwi-
schendurch bereiste er ganz Indien, sprach zu riesigen Menschen-
mengen, traf sich mit Vertretern der gebildeten Schichten und for-
derte das gesamte religiöse und polirische Establishment seines

424
Landes in öffentlichen Debatten heraus, wobei er mit brillanter
Rhetorik die heiligsten Glaubenswerte der indischen Kultur an-
gri ff. Er las unersättlich alles, was ihm Aufschluß über Ursprung
und Zusammenhänge der heute geltenden Glaubenssysteme und
Ideologien gab, kurz, er studierte die kollektive Psychologie des
modernen Menschen.
Ende der sechziger Jahre entwickelte Osho seine einzigartigen
dynamischen Meditationstechniken. Der heutige Mensch, sagt er,
ist so befrachtet mit längst überholten Weltbildern und Tra-
ditionen und so belastet durch die Ängste des modernen Lebens,
daß er einen riefen Reinigungsprozeß durchmachen muß, ehe er
in den Zustand der völlig entspannten, von allen Gedanken be-
freiten Meditation gelangen kann.
In den frühen siebziger Jahren wurden erstmals westliche
Therapeuten, Künstler und Intellektuelle auf Osho aufmerksam.
Ab 1974 wuchs in Pune eine Kommune um ihn heran, und der
Besucherstrom wurde zur Flut. Osho sprach zweimal täglich, Tag
für Tag. Mit den Jahren hat er praktisch jeden einzelnen Aspekt
der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Bewußtseins
durchleuchtet. In einer brillanten, humorvollen, ebenso lockeren
wie universal informierten modernen Sprache hat er speziell für
uns Heutige herausgeschält, worauf es bei der spirituellen Suche
ankommt — nicht aus der Warte des spekulierenden Intellek-
tuellen, sondern aus ureigener Anschauung und Erfahrung.
Er gehört keiner Tradition an. „Ich bin der Anfang eines voll-
kommen neuen religiösen Bewußtseins”, sagt er. „Bitte bringt
mich nicht mit der Vergangenheit in Verbindung — sie ist es nicht
einmal wert, erinnert zu werden.”
Seine „Talks” zu Schülern und Suchern aus aller Welt füllen
über sechshundert Bücher, in über dreißig Sprachen übersetzt. Er
sagt über sein Gesamtwerk: „Meine Botschaft ist eine Wissen-
schaft der Transformation. Nur wer bereit ist, sich als das auf-
zulösen, was er ist, um in etwas Neues hineingeboren zu wer-
den — so neu, daß es vorläufig nicht einmal vorstellbar ist ... nur
diese wenigen Mutigen werden bereit sein, mir zuzuhören; denn
schon das Zuhören wird riskant sein. Indem ihr zuhört, habt ihr
schon den ersten Schritt getan, um neugeboren zu werden. Es ist

42 5
also keine Philosophie, aus der ihr euch einfach ein Mäntelchen
machen könnt, mit dem ihr herumstolziert. Es ist keine Doktrin,
in der ihr Trost für quälende Fragen finden könnt. Nein, meine
Botschaft ist nicht irgendeine verbale Mitteilung. Sie ist weitaus
riskanter. Sie ist nichts Geringeres als Tod und Wiedergeburt."
Osho verließ am 19. Januar 1990 seinen Körper, als Folge einer
Vergiftung, die ihm durch US-Regierungsvertreter beigebracht
wurde, nachdem man ihn 1985 unter dem Vorwand formaler
Einwanderungsverstöße inhaftiert und mehrere Tage lang inko-
gnito versteckt gehalten hatte.
Seine Kommune in Pune ist heute Treffpunkt und spirituelle
Heimat von Hunderttausenden aus fast jedem Land der Erde. In-
spiriert von der Vision Oshos, ist dieser Ort eine Art Labor oder
Experimentierfeld, um den neuen Menschen entstehen zu lassen,
einen Menschen, der mit sich und seiner Umgebung in Harmonie
lebt, frei von all den Ideologien und Glaubenssystemen, die heu-
te die Menschheit zerreißen.

42 6
Die Osho Commune International

Die Osho Commune International in Pune ist nach wie vor das
größte spirituelle Wachstums-Zentrum der Welt. Internationale
Besucher strömen zu Tausenden herbei, um sich dort inmitten
von üppigem Grün und gepflegten Anlagen zu entspannen, an
Meditationen, Therapien, körperlichen Regenerationsprozessen
und kreativen Progammen teilzunehmen — oder einfach den Ge-
schmack eines „Buddhafeldes” kennenzulernen.
Die Osho Multiversity der Kommune bietet Hunderte von
Workshops, Gruppen und Trainings an.
All diese so verschiedenartigen Programme sind dazu da, jedem
auf seine Art die Chance zu bieten, das Aha-Erlebnis der Medi-
tation zu erfahren -jenen Kniff, einfach nur unbeteiligter Zeuge
der eigenen Gedanken, Emotionen und Handlungen zu sein,
ohne zu urteilen oder sich zu identifizieren.
Anders als in alten östlichen Traditionen ist Meditation in
Oshos Kommune keine isolierte Disziplin, sondern untrennbar
mit dem Alltag verbunden — Teil der Arbeit, des Umgangs mit an-
deren, der Lebensprozesse schlechthin. Die Folge davon ist, daß
die Menschen sich nicht von der Welt abkehren, sondern viel-
mehr ihren Geist der Wachheit und des Feierns in sie hinaustra-
gen, in tiefer Achtung vor dem Leben.

Osho Commune International


17 Koregaon Park,
Pune 411001 MS, Indien
Tel. 0091 •212 . 628 562
Fax 0091 •212 . 624 181
e-mail: cc.osho@oci.sprintrpg.sprint.co
World Wide Web: http://www.osho.org

42 7
Weitere Titel von Osho

Meditation Meditation –
Die erste und letzte Freiheit
DM 39980 • SFr 36,00 . ÖS 2952-
Das Buch der Geheimnisse
DM 34980 • SFr 33,50 . ÖS 254,-
Das Orangene Buch
DM 14980 • SFr 14,80 . ÖS 1109-
Meditation –
Die Kunst der Ekstase
DM 24,80 • SFr 23,00 . ÖS 1849-
MorgenMeditationen
365 Einstimmungen in den Tag
DM 34,80 • SFr 32,50 . ÖS 2589-

Jesus Ich aber sage euch


DM 39,80 • SFr 36,00 . ÖS 2959-
Komm und folge... zu dir
DM 24,80 • SFr 23,00 . ÖS 1841,-
Verbotene Wahrheit
DM 19,80 • SFr 19,00 OS 147,-

428
Tantra Vom Sex zum kosmischen
Bewußtsein
DM 34,80 • SFr 32,50 . ÖS 2589-
Tantra – die höchste Einsicht
DM 14,80 • SFr 14,80 . ÖS 110,-
Die Tantrische Vision
DM 24,80 • SFr 23,00 . ÖS 1849-
Tantrische Transformation
DM 24,80 • SFr 23,00 . ÖS 184,-

Westliche Mystik Die Mysterienschule


Osho spricht über Pythagoras
DM 39980 • SFr 36,00 . ÖS 2952-
Zarathustra –
Ein Gott der tanzen kann
DM 29980 • SFr 28,50 . ÖS 2189-
Die verborgene Harmonie
Über die Fragmente des Heraklit
DM 19,80 • SFr 19,00 . ÖS 147,-

Buddha Das Herz Sutra


DM 36,00 • SFr 33,50 . ÖS 2679-
Der Weg des Buddha
DM 29,80 • SFr 27,50 . ÖS 2189 -

42 9
Zen Auf der Suche
DM 34980 • SFr 32,50 . ÖS 2582-
Kein Wasser, kein Mond
DM 34,80 • SFr 32,50 . ÖS 2589-

Sufis Sprich uns von der Liebe...


Osho spricht über Khalil
Gibrans »Der Prophet«
DM 49,80 • SFr 46,00 . ÖS 3649-
Nicht bevor du stirbst
DM 24280 • SFr 23,00 • ÖS 1849-

Lebensfreude Intelligenz des Herzens


DM 19,80 • SFr 19,00 . ÖS 1459-
Leben, Lieben, Lachen
DM 19,80 • SFr 19,00 . ÖS 1451,-

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