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Schweizerische Studienhefte

Asiengesellschaft
Band/Volume 20
Société
Die vorliegende Beschreibung des Antikchinesischen, welches sich überwiegend Suisse-Asie
in Texten aus der Ost-Zhou darbietet, richtet sich vorrangig an Sinologiestudierende.

Grammatik des Antikchinesischen


Eine philologisch kompetente Lektüre solcher Quellen ist Voraussetzung für das
Verständnis der traditionellen chinesischen Geistes-, Kultur- und Wissenschafts-
geschichte und deren Einwirken bis auf die Moderne, da die behandelten Werke Robert H. Gassmann &
oftmals kanonischen Charakter erlangten und die meisten schriftlichen Sprachfor- Wolfgang Behr
men der Vormoderne prägten. In diesem Rahmen werden systematisch syntaktische
Grundstrukturen eingeführt und mithilfe einer strukturalistischen Terminologie
beschrieben. Die Grammatik richtet sich in zweiter Linie auch an Linguisten, wo-

Grammatik
bei jedoch stets die Erklärungsmächtigkeit bestimmter grammatischer Analysen
in Bezug auf Texte im Vordergrund steht. Die erneute Überarbeitung versucht
daher, den Charakter einer eigenständigen Nutzergrammatik zu wahren, die das

des Antikchinesischen
Verständnis für die behandelten syntaktischen und phonologischen Strukturen
fördert und zudem als Schlüssel für die grammatische Absicherung interpreta-
torischer Argumentationen dienen kann.

Robert H. Gassmann, *1946 in Lahore (British India), war von 1985 bis 2008 Begleitband zu Antikchinesisch – Ein Lehrbuch in zwei Teilen
Inhaber eines Lehrstuhls für Sinologie an der Universität Zürich. Sein Hauptinteresse

R. H. Gassmann & W. Behr


gilt der antikchinesischen Kultur und deren überliefertem Schrifttum. Er ist lang-
jähriges Vorstandsmitglied der Schweizerischen Asiengesellschaft und Herausgeber
der Zeitschrift Asiatische Studien / Études asiatiques. Zu seinen wichtigsten Publika-
tionen zählen Cheng Ming: Richtigstellung der Bezeichnungen (1988), Antikchinesi-
sches Kalenderwesen (2002) und Verwandtschaft und Gesellschaft im alten China:
Begriffe, Strukturen und Prozesse (2006). Eine Studie mit Gesamtübersetzung des
Mèngzıˇ (Mencius) ist in Vorbereitung.

Wolfgang Behr, *1965 in Göttingen, promovierte 1997 mit der Arbeit Reimende
Bronzeinschriften und die Entstehung der chinesischen Endreimdichtung. Seine
Forschungsinteressen gelten u.a. der Historischen Phonologie, Etymologie und
Paläographie des Chinesischen sowie der Kulturgeschichte der Sprachwissenschaft
in China. Von 2003 bis 2007 war er Präsident der European Association of Chinese
Linguistics und ist derzeit einer der Herausgeber der mehrbändigen Encyclopedia
of Chinese Linguistics. Nach einer langjährigen Tätigkeit als Akademischer Rat an
der Ruhr-Universität Bochum ist er seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Sinologie
(Traditionelles China) an der Universität Zürich.
ISBN 978-3-0343-0638-6

Peter Lang

www.peterlang.com
Schweizerische Studienhefte
Asiengesellschaft
Band/Volume 20
Société
Die vorliegende Beschreibung des Antikchinesischen, welches sich überwiegend Suisse-Asie
in Texten aus der Ost-Zhou darbietet, richtet sich vorrangig an Sinologiestudierende.

Grammatik des Antikchinesischen


Eine philologisch kompetente Lektüre solcher Quellen ist Voraussetzung für das
Verständnis der traditionellen chinesischen Geistes-, Kultur- und Wissenschafts-
geschichte und deren Einwirken bis auf die Moderne, da die behandelten Werke Robert H. Gassmann &
oftmals kanonischen Charakter erlangten und die meisten schriftlichen Sprachfor- Wolfgang Behr
men der Vormoderne prägten. In diesem Rahmen werden systematisch syntaktische
Grundstrukturen eingeführt und mithilfe einer strukturalistischen Terminologie
beschrieben. Die Grammatik richtet sich in zweiter Linie auch an Linguisten, wo-

Grammatik
bei jedoch stets die Erklärungsmächtigkeit bestimmter grammatischer Analysen
in Bezug auf Texte im Vordergrund steht. Die erneute Überarbeitung versucht
daher, den Charakter einer eigenständigen Nutzergrammatik zu wahren, die das

des Antikchinesischen
Verständnis für die behandelten syntaktischen und phonologischen Strukturen
fördert und zudem als Schlüssel für die grammatische Absicherung interpreta-
torischer Argumentationen dienen kann.

Robert H. Gassmann, *1946 in Lahore (British India), war von 1985 bis 2008 Begleitband zu Antikchinesisch – Ein Lehrbuch in zwei Teilen
Inhaber eines Lehrstuhls für Sinologie an der Universität Zürich. Sein Hauptinteresse

R. H. Gassmann & W. Behr


gilt der antikchinesischen Kultur und deren überliefertem Schrifttum. Er ist lang-
jähriges Vorstandsmitglied der Schweizerischen Asiengesellschaft und Herausgeber
der Zeitschrift Asiatische Studien / Études asiatiques. Zu seinen wichtigsten Publika-
tionen zählen Cheng Ming: Richtigstellung der Bezeichnungen (1988), Antikchinesi-
sches Kalenderwesen (2002) und Verwandtschaft und Gesellschaft im alten China:
Begriffe, Strukturen und Prozesse (2006). Eine Studie mit Gesamtübersetzung des
Mèngzıˇ (Mencius) ist in Vorbereitung.

Wolfgang Behr, *1965 in Göttingen, promovierte 1997 mit der Arbeit Reimende
Bronzeinschriften und die Entstehung der chinesischen Endreimdichtung. Seine
Forschungsinteressen gelten u.a. der Historischen Phonologie, Etymologie und
Paläographie des Chinesischen sowie der Kulturgeschichte der Sprachwissenschaft
in China. Von 2003 bis 2007 war er Präsident der European Association of Chinese
Linguistics und ist derzeit einer der Herausgeber der mehrbändigen Encyclopedia
of Chinese Linguistics. Nach einer langjährigen Tätigkeit als Akademischer Rat an
der Ruhr-Universität Bochum ist er seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Sinologie
(Traditionelles China) an der Universität Zürich.

Peter Lang
Grammatik des Antikchinesischen
Schweizer Asiatische Studien
Etudes asiatiques suisses
Studienhefte
Band 20

Peter Lang
Bern • Berlin • Bruxelles • Frankfurt am Main • New York • Oxford • Wien
Robert H. Gassmann & Wolfgang Behr

Grammatik
des Antikchinesischen
Begleitband zu
Antikchinesisch – Ein Lehrbuch in zwei Teilen

Peter Lang
Bern • Berlin • Bruxelles • Frankfurt am Main • New York • Oxford • Wien
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-
bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de›
abrufbar.

Umschlaggestaltung: Thomas Jaberg, Peter Lang AG

ISBN 978-3-0343-0638-6 br. ISBN 978-3-0351-0527-8 eBook


ISSN 0171-7391 br.

3., durchgesehene und korrigierte Auflage

© Peter Lang AG, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Bern 1997, 2005, 2013
Hochfeldstrasse 32, CH-3012 Bern
info@peterlang.com, www.peterlang.com, www.peterlang.net

Alle Rechte vorbehalten.


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Printed in Switzerland
Inhalt

Abkürzungsverzeichnis .................................................................... 11

Vorwort ................................................................................................ 13

Kapitel 1: Grundlegung ................................................................... 15


1.1 Ziele ................................................................................................ 15
1.2 Das Modell ..................................................................................... 17
1.2.1 Satz und Äusserung ......................................................... 17
1.2.2 Konstituentenanalyse ...................................................... 18
1.2.3 Funktionen ...................................................................... 20
1.2.4 Derivation........................................................................ 22
1.2.5 Generativ ......................................................................... 23
1.3 Schlussbemerkung .......................................................................... 26

Kapitel 2: Einfache Verbalsätze .................................................... 27


2.1 Wortklassen in Satz und Äusserung ............................................... 27
2.2 Das Prädikat in Satz und Äusserung............................................... 30
2.2.1 Die zentrale Rolle des Verbs ........................................... 30
2.2.2 Valenz und Rollen: ein AC-Beispiel ............................... 34
2.2.3 Satztypen und Rollenmuster ........................................... 39
2.2.4 Argumentrollen, Kasus, Verbsubkategorien ................... 42
2.2.5 Merkmalselemente der Argumentrollen ......................... 44
2.2.6 Argument oder Adverbiale? ............................................ 48
2.3 Monovalente Prädikate ................................................................... 51
2.3.1 Nicht-steigerbare Eigenschaftsverben ............................. 51
2.3.2 Monovalente Denominalverben ...................................... 56
2.3.3 Monovalente Modalverben ............................................. 60
2.3.4 Monovalente Adverbialverben ........................................ 61
2.4 Divalente Prädikate ........................................................................ 61
2.4.1 Divalente Eigenschaftsverben ......................................... 61
2.4.2 Divalente Lokativverben ................................................. 65
6 Inhaltsverzeichnis

2.4.2.1 Die statischen Verben der Stellung ................................. 65


2.4.2.2 Die dynamischen Verben der Bewegung ........................ 66
2.4.2.3 Die statischen Verben der Existenz................................. 70
2.4.3 Divalente transitive Verben............................................. 73
2.4.4 Divalente kausative Resultativverben ............................. 79
2.4.5 Divalente kausative Denominalverben ........................... 83
2.4.6 Divalente Gefühlsverben................................................. 87
2.4.7 Divalente Modalverben ................................................... 90
2.4.8 Divalente Kausativverben ............................................... 91
2.5 Trivalente Prädikate........................................................................ 91
2.5.1 Trivalente Verben der Übertragung ................................ 91
2.5.2 Trivalente kausative Lokativverben ................................ 97
2.5.2.1 Kausative dynamische und statische Lokativverben ....... 97
2.5.2.2 Kausative Existenzverben ............................................... 98
2.5.3 Trivalente kausative Resultativverben .......................... 101
2.5.4 Trivalente kausative Gefühlsverben .............................. 101

Kapitel 3: Nominalphrasen ........................................................... 105


3.1 Adjunkte ....................................................................................... 107
3.1.1 Genitivische Adjunkte................................................... 107
3.1.1.1 ‘Kopflose’ Genitive....................................................... 111
3.1.1.2 Objektive Genitive ........................................................ 118
3.1.2 Verbalattributive Adjunkte............................................ 123
3.2 Determination ............................................................................... 129
3.3 Nominalkomplemente .................................................................. 132
3.4 Personennamen ............................................................................. 139
3.5 Koordinierte Nominalphrasen (NP).............................................. 145
3.5.1 Koordination und Lexikon ............................................ 145
3.5.2 NP-Koordination und Lexikographie ............................ 148
3.5.3 Struktur der NP-Koordination ....................................... 150
3.5.4 Koordination und Modifikation .................................... 154
3.6 Zusammenfassung ........................................................................ 156

Kapitel 4: Nebensätze ..................................................................... 159


4.1 Relativsätze................................................................................... 160
4.1.1 Relative Mengen ........................................................... 160
4.1.2 Typologie der Relativsätze ............................................ 164
Inhaltsverzeichnis 7

4.1.2.1 Relativsätze ohne das Relativpronomen suǒ ᡰ ........... 165


4.1.2.2 Relativsätze mit dem Relativpronomen suǒ ᡰ ............ 166
4.1.3 Die Bildung der Relativsätze ........................................ 167
4.1.3.1 Relativsätze mit Subjektsidentität ................................. 167
4.1.3.2 Relativsätze mit Satzidentität ........................................ 176
4.1.3.3 Relativsätze mit Objektsidentität .................................. 179
4.1.4 Grammatischer Sinn der Oberflächenstrukturen ........... 190
4.1.5 Generische Relativsätze ................................................ 193
4.2 Appositivsätze .............................................................................. 193
4.2.1 Komplementsätze .......................................................... 193
4.2.2 Adverbiale Komplementsätze ....................................... 200
4.2.3 Modalverben und Komplementsätze............................. 203
4.2.4 Appositive Relativsätze................................................. 209
4.3 Kausativkonstruktionen ................................................................ 212
4.4 Zusammenfassung ........................................................................ 222

Kapitel 5: Nominalsätze ................................................................ 225


5.1 Nominale Prädikate ...................................................................... 225
5.2 Generische Relativsätze................................................................ 227
5.2.1 yě ҏ als Diagnostikum............................................... 227
5.2.2 Zur Semantik des Nominalsatzes .................................. 230
5.2.3 Verletzungen der Hyponymieregel? ............................. 232
5.2.4 Kontrollierte Tilgung eines Kernnomens ...................... 236
5.2.5 Tilgung des Supernyms ................................................. 239
5.2.6 Supernyme in generischen Relativsätzen (I) ................. 244
5.2.7 Exkurs: Cui bono?......................................................... 246
5.2.8 Supernyme in generischen Relativsätzen (II)................ 251
5.3 Kausale und finale Nominalsätze ................................................. 256
5.4 Zusammenfassung ........................................................................ 259

Kapitel 6: Verb und Adverb ......................................................... 261


6.1 Die Verbalphrase .......................................................................... 261
6.2 Verbkomplementierung ................................................................ 263
6.3 Das Adverbialgefüge .................................................................... 264
6.3.1 Temporale Adverbialphrasen ........................................ 273
6.3.2 Modal-instrumentale Adverbialphrasen ........................ 273
6.3.3 Konzessive Adverbialphrasen ....................................... 274
8 Inhaltsverzeichnis

6.3.4 Kausale Adverbialphrasen ............................................ 275


6.3.5 Das Subjekt in Adverbialphrasen .................................. 275
6.3.6 Adverbialmodifikation im Nominalsatz ........................ 276
6.4 Verbdetermination ........................................................................ 277
6.5 Adverbialprädikate ....................................................................... 280
6.6 Zusammenfassung ........................................................................ 284

Kapitel 7: Satz und Sätze............................................................... 287


7.1 Die Satzebene ............................................................................... 287
7.1.1 Satzadverbiale Bestimmungen ...................................... 287
7.1.2 Die Subjektsproblematik ............................................... 295
7.1.3 Sprechaktmarkierungen ................................................ 297
7.1.3.1 Frageformen .................................................................. 298
7.1.3.2 Interjektionen ................................................................ 305
7.1.3.3 Negationen .................................................................... 306
7.2 Satzgefüge .................................................................................... 315
7.2.1 Konjunktionen............................................................... 316
7.2.2 Satzgefüge ..................................................................... 318
7.2.2.1 Konditionale Satzgefüge ............................................... 318
7.2.2.2 Konsekutive Satzgefüge ................................................ 319
7.2.2.3 Finale Satzgefüge .......................................................... 319
7.2.2.4 Konzessive Satzgefüge ................................................. 322
7.2.2.5 Adversative Satzgefüge................................................. 323
7.3 Zusammenfassung ........................................................................ 324

Kapitel 8: Proformen ...................................................................... 327


8.1 Pronomina..................................................................................... 327
8.1.1 Personal- und Quasipronomina ..................................... 329
8.1.2 Zur Syntax der Personalpronomina ............................... 336
8.1.3 Demonstrativpronomina................................................ 344
8.1.4 Possessive Konstruktionen ............................................ 348
8.1.5 Reflexiv- und Reziprokpronomina ................................ 350
8.1.6 Quantoren ...................................................................... 352
8.1.7 Relativpronomina .......................................................... 355
8.1.8 Fragepronomina ............................................................ 355
8.2 Proprädikate .................................................................................. 356
8.3 Fusionsformen .............................................................................. 357
Inhaltsverzeichnis 9

Kapitel 9: Emphasemuster ............................................................ 363


9.1 Thematisierung eines Satzgliedes ................................................. 364
9.1.1 Thematisierung eines Objektes ..................................... 365
9.1.2 Thematisierung des Hauptsatzsubjekts ......................... 368
9.1.3 Die Spalt- und Sperrsatzkonstruktion ........................... 370
9.1.4 Der Pseudokonditionalsatz ............................................ 374
9.2 Thematisierung des Prädikats ....................................................... 376
9.3 Weitere Formen der Thematisierung ............................................ 379
9.3.1 Das Wesensthema ......................................................... 379
9.3.2 Das Zitat ........................................................................ 384
9.3.3 Das Verhältnisthema ..................................................... 385
9.4 Zusammenfassung ........................................................................ 397

Kapitel 10: Genealogie, Phonologie und


Morphologie des Antikchinesischen.................... 399
10.1 Sprachliche Vielfalt in China ....................................................... 399
10.2 Genealogie .................................................................................... 403
10.3 Rekonstruktion ............................................................................. 422
10.3.1 Evidenztypen und Methodik der Rekonstruktion.......... 423
10.3.2 Silbentypologie, Tonogenese, Silbenprosodie .............. 433
10.4 Abriss der Phonologie des Antikchinesischen.............................. 442
10.5 Morphologie des Antikchinesischen ............................................ 446
10.5.1 Präfigierung................................................................... 449
10.5.2 Infigierung..................................................................... 456
10.5.3 Suffigierung .................................................................. 458
10.5.4 Ablaut ............................................................................ 462
10.5.5 Reduplikation ................................................................ 463

Anhang ............................................................................................... 465

A. Zwei Rekonstruktionsbeispiele...................................................... 465


B. Verzeichnis der Graphiken ............................................................ 471
C. Verzeichnis der Tabellen ............................................................... 473
D. Verzeichnis der Stellen .................................................................. 474
10 Inhaltsverzeichnis

E. Index .............................................................................................. 478


F. Verzeichnis der Lexeme ................................................................ 490
E. Bibliographie ................................................................................. 507
Abkürzungsverzeichnis

AC: Antikchinesisch
A Adverbialmarker
ADJ Adjektiv
ADV Adverb
AP Adverbialphrase
APOPP Appositionalphrase
ASP Aspekt (Knoten im Strukturbaum)
AT Adelstitel
B Beispiel
DET Determinant (z.B. Artikel)
DO direktes Objekt
FUS Fusionsform
GSR Grammata serica recensa + Nummer (ė Karlgren)
IO indirektes Objekt
K Kasusmarker (präpositional)
KN kanonischer Name
KNJ Konjunktion
KOMPP Komplementphrase
KP Kasusphrase
KT kanonischer Titel
LN Ländername
MING persönlicher Name / Eigenname
MODP Modifikationsphrase
N Nomen
Nn originäres Nomen
NE nominale Ergänzung
NEG Negation
NL Nominale
NLb dominierende Nominale (Relativsatzkonstruktion)
NLn originäre Nominale
NLo dominierte Nominale, Objekt (Relativsatzkonstruktion)
NLs dominierte Nominale, Subjekt (Relativsatzkonstruktion)
NLv Nominale verbalen Ursprungs
12 Abkürzungsverzeichnis

NP Nominalphrase
NPn originäre Nominalphrase
NPv Nominalphrase verbalen Ursprungs
np Prädikatsnominalphrase
Nv Nomen verbalen Ursprungs / Verbalnomen
OBJ Objekt
PA Prädikatsanzeiger
PH Geburtsrangbezeichnung
PSP Postpositionalphrase
PRN Pronomen
PRP Präposition
PST Postposition
R Regel
S Satz
Sn Nominalsatz
Sv Verbalsatz
SA Satzadverb
SB Strukturbaum
SM Satzmarker
SN Stammname
SUB Subjekt; Subjektskasusphrase
V Verb
VL Verbale
VP Verbalphrase
X Platzhalter für ein beliebiges Nomen (auch Y und Z)
XING Klanname
ZUN Honorificum (Ehrensuffix)
Vorwort

Die Grammatik des Antikchinesischen ist – nach dem grossen Schub von
Veränderungen in der vorangehenden Auflage – einer sanften Überarbei-
tung unterzogen und in bescheidenem Masse ergänzt und aktualisiert
worden. Damit bisherige Benutzerinnen und Benutzer dieses Werks sich
einen raschen Überblick über die paar Änderungen verschaffen können,
seien sie hier kurz erwähnt:
In Kapitel 3 ist ein neuer Abschnitt eingefügt worden (3.5.2), der
den eminenten Beitrag der NP-Koordination zur Erarbeitung und Stabili-
sierung der Bedeutung wichtiger Wörter thematisiert.
Kapitel 10 ist auf den aktuellen Stand gebracht worden und um den
Abschnitt 10.6 erweitert worden, damit das wichtige Thema der Redupli-
kation angesprochen ist.

Wir möchten alle bisherigen Benutzerinnen und Benutzer dieses Werks


und des dazugehörenden Kursmaterials für Rückmeldungen und Anre-
gungen danken. Wir hoffen, dass die nunmehr vierte überarbeitete Ver-
sion weiterhin den Bedürfnissen des Spracherwerbs wie der Textlektüre
entgegenkommt. Für die immer noch verbliebenen Fehler – aus Un-
wissen, Verschlimmbesserung oder weil wir sie schlicht übersehen – und
für die leider eingetretenen Verzögerungen in der Produktion bitten wir
die Benutzerinnen und Benutzer um Nachsicht.

Infolge Emeritierung wird Robert H. Gassmann aus der Rolle des Erst-
und dann Mitautors ausscheiden und das Werk ganz in die Hände von
Wolfgang Behr legen. Möge dem Werk weiterhin ein gutes Schicksal
beschieden sein!

Februar 2013 Wolfgang Behr und Robert H. Gassmann


1 Grundlegung

1.1 Ziele

Es geht in diesem Kursteil um eine systematische Darlegung der in den


Kurstexten vorkommenden syntaktischen Grundstrukturen des Antik-
chinesischen. Da die Textauswahl von inhaltlichen Überlegungen mitbe-
stimmt wurde und darum notgedrungen auch sprachlich heterogen ist
(verschiedene Textsorten, verschiedene Schulrichtungen, diachrone,
möglicherweise auch regionale oder schichtspezifische sprachliche Un-
terschiede), ist die Rede von den Grundstrukturen des Antikchinesischen
hier eine bewusste Vereinfachung. Die Beispiele stammen zwar, wo
immer möglich, aus den Kurstexten, aus systematischen Gründen kann
jedoch auf andere Beispiele nicht verzichtet werden. Bei den Belegen
wird auf Kurstext / Äusserungsnummer oder aber auf den Belegtext ver-
wiesen; bei nicht belegten oder modifizierten Beispielen fehlt diese
Angabe. Die Vernetzung von Kursteil und Grammatik wird ausserdem
dadurch gewährleistet, dass die Kurstexte mit einem Verweisapparat
(dem sog. “Grammatikspiegel”) versehen sind, der auf die wichtigsten
zutreffenden Stichworte verweist.
Grundstrukturen will also besagen, dass elementare syntaktische
Konstruktionen eingeführt werden. Semantische, phonologische und
pragmatische Überlegungen oder Informationen (vgl. Kapitel 8 und 9)
erfolgen also nur in diesem Zusammenhang. Antikchinesisch (kurz: AC)
meint, dass die Erläuterungen den Versuch machen, wesentliche Vor-
aussetzungen für eine grammatische Erfassung überlieferter Texte der
chinesischen Antike zu schaffen. Es geht also um jene Texte, deren
Abfassungszeit ungefähr in den tausend Jahren zwischen 800 v.Chr. und
200 n.Chr. liegt, was den dynastischen Perioden Ost-Zhōu, Qín und Hàn
entspricht. Da diese Texte in späteren Dynastien nicht nur z.T. kanoni-
schen Charakter erlangten, sondern auch späteren klassischen Sprach-
formen zugrunde liegen, ist ihre Lektüre auch wesentliche Voraus-
setzung für das Verständnis traditioneller Geistes- und Kulturgeschichte
und, a fortiori, deren Einwirken auf die Moderne.
16 Kapitel 1

Textverständnis, eine unabdingbare Voraussetzung für das Über-


setzen und Auswerten bzw. Interpretieren von Texten, beruht auf viel-
fältiger analytischer Arbeit. Eine Grammatik (hier v.a.D. als Syntax
verstanden, wobei durch Kapitel 10 zur historischen Phonologie und
Morphologie die Bedeutung weiterer Teilgebiete der Grammatik betont
werden soll) ist dasjenige analytische Instrument, welches zur Erfassung
der grammatischen bzw. syntaktischen Struktur von Texten beiträgt. In
der Muttersprache erwirbt man im Verlauf eines natürlichen Entwick-
lungsvorgangs ebenfalls eine spezifische einzelsprachliche Grammatik,
die einerseits den Sprachgebrauch regelt, andererseits bei der Analyse
von Äusserungen mitwirkt. Im Idealfall decken sich die Aussagen der
wissenschaftlich erforschten Grammatik mit den (bewussten und unbe-
wussten) grammatischen Intuitionen und Kenntnissen der Sprecher in
dieser Sprache. Die Aussagen einer wissenschaftlichen Grammatik –
man spricht auch von Regeln – sind in dem Sinne normativ zu verstehen,
als sie die sprachliche Norm beschreiben, an die sich beispielsweise die
Verfasser der Texte in der Regel gehalten haben. Ausnahmen zu diesen
Regeln sind also entweder als Zeichen dafür zu werten, dass die (wissen-
schaftliche) Grammatik noch nicht deskriptiv adäquat ist, oder aber als
(un)bewusste Verstösse des Verfassers oder Sprechers gegen die gelten-
de Norm.
Linguisten aller Schattierungen werden wahrscheinlich von den Er-
gebnissen der hier vorgelegten Beschreibung des Antikchinesischen nur
teilweise befriedigt sein. Dies hängt damit zusammen, dass die Arbeit
sich nicht in erster Linie an Linguisten richtet, sondern an Sinologinnen
und Sinologen, die im Rahmen einer philologischen Auseinandersetzung
mit den Schwierigkeiten und Tücken antikchinesischer Texte zu kämp-
fen haben. Entscheide bezüglich Modell, theoretischer Durchdringung
und Absicherung sind also in erster Linie von didaktischen und prakti-
schen Erwägungen abhängig gemacht worden. Der allenfalls zu erhe-
bende Vorwurf einer spürbaren Theorierückständigkeit kann gleichwohl
mit einer gewissen Gelassenheit entgegengenommen werden, denn die
Argumentationen beruhen durchwegs auf anerkannten und bewährten
strukturalistischen Grundlagen. Im Vordergrund steht demnach nicht die
Passgenauigkeit mit einer Theorie oder die Vollständigkeit der Beschrei-
bung eine Sprache, sondern die Erklärungsmächtigkeit bestimmter gram-
matischer Analysen in Bezug auf Texte. Es ist also unsere Hoffnung,
dass mit der erneuten Überarbeitung der Charakter der Nutzergrammatik
Grundlegung 17

gewahrt worden ist, welche das Verständnis für die Strukturen der
behandelten Sprache fördert, die aber ebenso wesentlich als Schlüssel für
die grammatische Absicherung von inhaltlichen Aussagen und interpre-
tatorischen Argumentationen dienen kann.

1.2 Das Modell

1.2.1 Satz und Äusserung

Die eben beschriebene Differenzierung zwischen Norm und Sprachge-


brauch ist methodisch von grosser Bedeutung. Die Einsicht, dass nicht
alles, was gesagt wird, auch grammatisch ist, hat dazu geführt, dass man
bei der Beschreibung von Sprachen zwischen einer Strukturebene und
einer Äusserungsebene unterscheidet. Den Zusammenhang zwischen den
beiden Ebenen könnte man vereinfacht wie folgt charakterisieren: Die
Strukturebene, die nicht oder nur teilweise direkt beobachtbar ist, liegt
der Äusserungsebene zugrunde und liefert wesentliche Informationen,
die für das Verständnis der Äusserungsebene notwendig sind. Ein
aktuelles Stück Dialog als Beispiel:

A: “Studieren Sie Antikchinesisch?”


B: “Ja.” oder: “Ich studiere Antikchinesisch.”

Die Strukturebene liefert (in diesem Fall wohl leicht nachvollziehbar) die
folgenden Informationen: Obwohl B zwei Antwortformen zur Verfügung
stehen, ist klar, dass er mit beiden Äusserungen denselben Satz zum
Ausdruck bringt: “Ja” kann vereinfacht als Proform für den Satz “Ich
studiere Antikchinesisch” analysiert werden. Zwei oberflächlich ver-
schiedene Äusserungen werden also hier als Realisation einer gleichen
zugrundeliegenden Satzstruktur verstanden. In der Sprachwissenschaft
hält man diesen Unterschied so fest, dass auf der Strukturebene von
Sätzen, auf der Realisationsebene eben von Äusserungen gesprochen
wird. Der Äusserung “Ja” wie auch der Äusserung “Ich studiere Antik-
chinesisch” liegt also in diesem Fall der Satz “Ich studiere Antikchi-
nesisch” zugrunde.
18 Kapitel 1

Eine Syntax ist eine Beschreibung (anders gesagt: eine Theorie oder
ein Modell) der Strukturebene einer Sprache. Dazu bedarf sie eines nor-
mierten Wortschatzes, einer sogenannten Terminologie und bestimmter
Darstellungsmittel, die beide Ausdruck des gewählten Beschreibungs-
modells sind. Alle Aussagen oder Regeln sind also von den Grund-
annahmen des jeweils gewählten Modells bedingt und begrenzt. Eine
Grammatik, die beispielsweise die beiden Wortklassen Nomen und Verb
nicht unterscheidet, kommt zu anderen Aussagen als eine Grammatik,
die diese Unterscheidung ausdrücklich vornimmt. Die vorliegende Ein-
führung gründet auf einem strukturalistischen Ansatz, wobei sie sich an
dem für syntaktische Beschreibungen besonders geeigneten (frühen) ge-
nerativen Modell orientiert. Im Interesse der Didaktik werden theore-
tische Diskussionen auf ein Minimum beschränkt. Zum Verständnis der
Erklärungen ist jedoch eine gewisse Vertrautheit mit den folgenden
grundlegenden Annahmen strukturalistischer Modelle notwendig.

1.2.2 Konstituentenanalyse

Obwohl das AC nur wenige Spuren einer Morphologie der Wortklassen


aufweist, ist eine pragmatische und syntaktische Begründung möglich –
ja für die Grammatik unerlässlich (vgl. 2.1 und 2.2). Wortklassendistink-
tionen sind überdies teilweise noch aus der derivationellen Morphologie
(vgl. 10.5) und der rekonstruierten Prosodie (vgl. 10.3.2) begründbar.
Das in seiner Grundkonzeption strukturalistische Modell arbeitet insbe-
sondere mit Wort- bzw. Konstituentenklassen und mit einer Hierarchie,
die sich vom Wort über Wortgruppen, Satzteile, Sätze zu Satzgefügen
zieht. Ein Beispiel:

Graphik 1: Konstituentenanalyse

Der neue Student analysiert kühn das antike Beispiel

Die acht Wörter des Satzes werden als (terminale) Konstituenten be-
zeichnet. In der Regel bilden je zwei Konstituenten zusammen ein Kon-
stitut, z.B. ‘neu’+‘Student’ = ‘neue Student’. Die in einem Konstitut
Grundlegung 19

zusammengefassten Konstituenten heissen unmittelbare Konstituenten


(‘neu’ und ‘Student’ sind unmittelbare Konstituenten des Konstituts
‘neue Student’). Konstitute können unmittelbare Konstituenten eines
weiteren übergeordneten Konstituts sein (‘der’ + ‘neue Student’ = ‘der
neue Student’). Die Zuordnung wird über eine Reihe von sogenannten
Proben festgestellt, so z.B. durch die Weglassungsprobe: ‘neu’ und ‘Stu-
dent’ sind unmittelbare Konstituenten, weil im Konstitut ‘der neue
Student’ die Konstituente ‘neu’ weggelassen werden kann (‘der Stu-
dent’), die Konstituente ‘Student’ dagegen nicht (‘der neue ?’). Dies
wird durch die Ersetzungsprobe bestätigt, denn das Konstitut ‘neue Stu-
dent’ lässt sich etwa durch die Konstituente ‘Studienanfänger’ ersetzen.
Das Konstitut ‘der neue Student’ ist darum eine Konstituente, weil es
etwa durch die Konstituente ‘Hans’ ersetzt werden kann usw. Abstrahiert
man von einzelnen Wörtern, so kann man Sätze als Ketten von Kon-
stituenten darstellen, die verschiedenen Wort- oder Konstituentenklassen
angehören. Die Hierarchie des Satzes kann man dadurch zum Ausdruck
bringen, dass man die Verzweigungen (Knoten) des Diagramms, die ja
Konstitute darstellen, bezeichnet:

Graphik 2: Konstituentenklassen

Der neue Student analysiert kühn das antike Beispiel


DET ADJ N V ADV DET ADJ N
NL VL NL
NP NP
VP
S

Mit dieser Darstellung werden nicht nur die terminalen Konstituenten


bezeichnet – das sind die uns meist aus traditionellen Grammatikkon-
zeptionen bekannten Wortarten wie Nomen (N) , Verb (V) , Adjektiv
(ADJ) , Adverb (ADV) oder Artikel (DET) –, sondern auch die Punkte
(Knoten), an denen zwei Konstituenten sich zu einem Konstitut
vereinigen. So soll etwa das Konstitut, welches aus einem Adjektiv und
einem Nomen besteht, mit Nominale (NL) bezeichnet werden, oder jenes
aus Adverb und Verb mit Verbale (VL). Das Konstitut bestehend aus
einer Nominalen und einem Artikel heisst Nominalphrase (NP), während
20 Kapitel 1

der Knoten, der Verbale und Nominalphrase zusammenfasst, als Ver-


balphrase (VP) bezeichnet wird. Schliesslich werden eine Nominalphrase
und eine Verbalphrase im Knoten Satz (S) zusammengeführt.
Die konsequente Anwendung eines strukturalistischen Ansatzes mit
Wort- und Konstituentenklassen für die Beschreibung des AC hat –
verglichen mit der vielerorts im Unterricht geübten Beschreibungs- und
Lehrpraxis – Bedeutendes zur Folge. Es entsteht z.B. der mitunter heil-
same Zwang, bei jedem Schriftzeichen zu überlegen, inwiefern es ein
Wort repräsentiert und welcher Wortklasse ein allfällig repräsentiertes
Wort zuzurechnen ist. Das verlangt einerseits eine Präzision der Aus-
drucksweise, welche die Verwendung undefinierbarer Globaletiketten
wie “Partikel”, “Strukturwort” usw. verbietet, andererseits ein ausge-
prägtes analytisches Gefühl für die Eigenarten des AC, damit nicht
kritiklos oder unbewusst Kategorien eingeschleust werden, die im
globalen Inventar zwar vorhanden sein und in anderen Sprachen auch
vorkommen mögen, für die Beschreibung des AC aber nicht adäquat sein
können. Dass diese Ansprüche in der vorliegenden Arbeit nicht restlos
eingelöst worden sind – wohl auch nicht eingelöst werden können –
versteht sich angesichts der Grösse der Aufgabe wohl von selbst.

1.2.3 Funktionen

Die Erarbeitung der Konstituenten- und Wortklassen ist ein zentraler


Bereich der Grammatik, aber sie genügt nicht, wenn es um die Dar-
stellung der syntaktischen Struktur von Sätzen geht. Die Wörter und
Konstituenten eines Satzes sind ja nicht isolierte Elemente, sondern sie
bilden im Zusammenhang, d.h. in ihrer jeweiligen spezifischen Zusam-
menstellung (eben: Syntax) sinnvolle strukturelle Einheiten, die einander
etwa gleich-, über- oder untergeordnet sein können. Diese verschiedenen
Zuordnungen wollen wir hier in einem weiten Sinn als Funktionen
verstehen. Der Einbezug von Funktionen erhöht zwar die Komplexität
der Darstellung, aber er erlaubt auch klare Differenzierungen zwischen
Strukturen, die auf der Ebene der Konstituenten als identisch zu be-
schreiben wären. Man vergleiche die folgenden Satzteile:
Grundlegung 21

B1 ein Thema der Sinologie


B2 eine Studentin der Sinologie
B3 die Sinologie, ein Thema

Geht man nur von der Konstituentenstruktur aus, wären alle drei Satz-
teile in gleicher Weise zu beschreiben, nämlich als zwei aufeinanderfol-
gende Nominalphrasen. Dank unserer Sprachkompetenz wissen wir aber,
dass die Beziehungen der beiden Nominalphrasen in den jeweiligen
Satzteilen durchaus nicht identisch sind: In B 1 haben wir es mit einer
genitivischen Modifikation zu tun (‘Sinologie’ beschreibt ‘Thema’ nä-
her, grenzt es etwa gegenüber ‘Thema der Germanistik’ ein). In B 2 liegt
eine sogenannte Komplementbeziehung vor, d.h. ‘Sinologie’ ist das
Fach, welches die Studentin studiert (wir weisen also der ‘Studentin’ ein
verwandtes Verb, nämlich ‘studieren’ zu; vgl. B 147, S. 134). In B 3 ist
eine sogenannte appositionale Konstruktion realisiert (‘Thema’ ist eine
erläuternde Erweiterung zu ‘Sinologie’).
Es wird notwendig sein, die Funktion der Nominalphrasen in diesen
verschiedenen Konstruktionen zu beschreiben und darzustellen. Ein Teil
der Knoten in einem Strukturbaum werden also nicht lexikalische, son-
dern funktionale Kategorien bezeichnen. Zum Beispiel könnte man in die
strukturelle Beschreibung einführen, dass eine Nominalphrase zusam-
men mit einer Modifikationsphrase (MODP), einer Komplementphrase
(KOMPP) oder mit einer Appositionalphrase (APPOP) ein Konstitut bilden
kann. Bei diesen drei funktionalen Phrasen wäre dann festzuhalten, in
welchen lexikalischen Kategorien sie sich jeweils äussern. Es wären also
Darstellungen des folgenden Typs denkbar (am Beispiel der Modifi-
kation und Komplementation illustriert):

Graphik 3: Funktionsklassen

EIN THEMA DER SINOLOGIE STUDENTIN DER SINOLOGIE


NP NP

NP MODP NP KOMPP

NP NP
22 Kapitel 1

Aus der Darstellung wird ersichtlich, dass die Konstituentenstrukturen,


die in den Beispielen B 1 und B 2 realisiert sind, in ihrer Erschei-
nungsform richtig beschrieben werden – es handelt sich nämlich jeweils
um eine Abfolge von zwei Nominalphrasen, dass aber die Beziehung
zwischen diesen Nominalphrasen durch den dazwischengeschalteten
funktionalen Knoten als verschieden charakterisiert wird.
Der Einbezug funktionaler Konstituenten ist so revolutionär nicht,
denn auch die klassischen Wortartenkonzeptionen drücken implizit eine
bestimmte Funktionalität aus – eine Funktionalität, die von Sprache zu
Sprache in unterschiedlichem Grad lexikalisiert oder grammatikalisiert
sein kann, d.h. eine sichtbare Form bekommen hat (vgl. die Ausfüh-
rungen zu den Grundfunktionen von Verb und Nomen auf S. 28). So
sind zum Beispiel Adjektive im Deutschen funktional modifizierenden
(‘rotes Tuch’) oder prädizierenden (‘das Tuch ist rot’) Strukturen zu-
gewiesen. Strenggenommen müsste also eine Modifikationsphrase zwei
lexikalische Ausformungen haben, eine nominale (wie in B 1 realisiert
oder in ‘des Vaters Hut’) oder eben eine adjektivische, die im Falle des
Deutschen auch von der Stellung her verschieden sein können.

1.2.4 Derivation

Die Beispiele B 1 und B 2 zeigen ein weiteres Problem einer Darstel-


lung, die sich möglichst strikt auf lexikalisch bestimmte Konstituen-
tenstrukturen konzentriert. Die Kernwörter der beiden Konstruktionen
sind zwar klar der Klasse der Nomina zuzuordnen, aber es handelt sich
um zwei grundsätzlich verschiedene Typen von Nomina. ‘Thema’ ist ein
originäres Nomen, ‘Studentin’ dagegen ist ursprünglich nicht nominal,
sondern verbal, d.h. es ist das Resultat eines Ableitungsprozesses
(Derivation), bei dem aus einem Verb ‘studieren’ verschiedene Nomina
hergeleitet worden sind. Diese sind zwar echte Nomina im Sinne einer
Wortklassenzuordnung, aber sie haben spezifische Eigenschaften, die
ihrer verbalen Herkunft zu verdanken sind. So können die Nomina ‘Stu-
dium’ oder eben ‘Studentin’ analog zum Herkunftsverb ‘studieren’ ein
Objekt (Komplement) dominieren, so dass ‘Sinologie studieren’ ‘Stu-
dium der Sinologie’ bzw. ‘Studentin der Sinologie’ entspricht. Eine
weitere Eigenschaft ist die Fähigkeit, eine Negation anzugliedern, so z.B.
‘das Nichterreichen des Ziels’ oder ‘das Nichtstudieren’. Zur Differen-
Grundlegung 23

zierung werden Nomina, die von Verben hergeleitet sind, daher Verbal-
nomina genannt.
Da alle Verbalnomina – je nach Ursprungsverb (vgl. die Typen von
Verben in Tabelle 2 auf S. 44) – die spezifische Fähigkeit haben, kein,
ein oder sogar mehrere Komplemente an sich zu binden (man vergleiche
etwa: ‘die Übergabe der Diplome an die Absolventinnen und Absolven-
ten durch den Rektor’ < (“entsteht aus”) ‘der Rektor übergibt die Diplo-
me an die Absolventinnen und Absolventen’), kann dieser Umstand auch
in der Beschreibung der Konstituentenstruktur genutzt werden. Dies
kann so geschehen, dass man zwei lexikalische Klassen von Nomina
festlegt, z.B. die originären Nomina (Nn) und die Verbalnomina (Nv),
denen dann die entsprechenden Nominalen (NLn und NLv) sowie Nomi-
nalphrasen (NPn und NPv) zuzuordnen sind. Wenn die Differenzierung
irrelevant ist, kann man die undifferenzierten Abkürzungen N, NL oder
NP weiter verwenden.
Da die Funktionalität somit in die lexikalische Konstituentenklasse
verlegt worden ist, kann unter Umständen auf die Einführung bestimmter
funktionaler Kategorien verzichtet werden. So kann etwa die Modifika-
tion dadurch angezeigt werden, dass ‘Thema’ als NPn im Strukturbaum
erscheint, die Komplementierung dagegen so, dass ‘Studentin’ als NPv
erscheint:

Graphik 4: Lexikalische Konstituentenklassen

EIN THEMA DER SINOLOGIE STUDENTIN DER SINOLOGIE


NPn NP NPv NP

NP NP

Welches Verfahren für die Beschreibung einer spezifischen Sprache an-


gewendet wird, hängt vom Lexikon und von den Strukturen dieser
Sprache, nicht zuletzt aber auch von Einfachheitskriterien ab.

1.2.5 Generativ

Die Grammatik ist im Verständnis generativer Theorien ein Modell der


grammatischen Fähigkeiten (Kompetenz) der Sprecher einer natürlichen
24 Kapitel 1

Sprache. Sie beschreibt insbesondere das Verhältnis zwischen Struktur-


und Äusserungsebene. Da die Strukturebene der Äusserungsebene
zugrunde liegt, wird erstere als Tiefenstruktur, letztere als Oberflächen-
struktur bezeichnet. “Satz” bezeichnet also ein theoretisches, (re)kon-
struiertes Gebilde in der Tiefenstruktur, “Äusserung” dagegen seine
Entsprechung bzw. Realisationsform in der Oberflächenstruktur. Ketten
von Schriftzeichen eines geschriebenen Textes sind weder mit der
Struktur- noch mit der Äusserungsebene deckungsgleich. Sie repräsen-
tieren lediglich indirekt (und oftmals morphonologisch unvollständig)
die Oberflächenstruktur.
Die in 1.2.2 von der vorhandenen Äusserung ausgehende statische
Analyse (z.B. “eine Nominale NL besteht aus einem Adjektiv ADJ und
einem Nomen N”) lässt sich nun “dynamisieren”, und zwar so: “Nomi-
nale NL erzeugen (generieren) (fakultatives) Adjektiv ADJ und Nomen
N”, oder: “Satz S generiert Nominalphrase NP und Verbalphrase VP”.
Diese Umkehrung und die damit einhergehende Generalisierung tragen
dem theoretischen Postulat Rechnung, dass die Grammatik ein Modell
der Sprachfähigkeit (Kompetenz) sein soll. Dieses sieht vor, dass eine
Grammatik nicht nur eine Beschreibung einer endlichen, vorhandenen
Menge von Sätzen bzw. Texten (eines sog. Korpus) liefert, sondern die
(endliche Anzahl) Regeln formuliert, die es dem muttersprachlichen
Sprecher erlauben, kreativ und kompetent unendlich viele neue, z.T.
noch nie dagewesene Sätze zu erzeugen (generieren). (Es sei daran erin-
nert, dass dieses Konzept den Übungen in den Fünf Element(ar)gängen
teilweise zugrunde liegt.) Das Modell ist dabei eine Vorstellung der
Wirklichkeit – und nicht die Wirklichkeit (die psychische und physio-
logische Seite der Satzbildung wird damit nicht beschrieben). Obwohl
Personen mit der Muttersprache “Antikchinesisch” nicht mehr existieren,
hat ein solches Modell dennoch seine Berechtigung und seinen Er-
kenntniswert, denn es kann einerseits als Beschreibung der Kompetenz
des diese Sprache untersuchenden Linguisten oder Philologen verstan-
den, andererseits aufgrund der Strenge der Formulierung und der daraus
resultierenden systematischen Falsifizierbarkeit, als wertvolles heuristi-
sches Mittel eingesetzt werden.
Das Postulat der Beschreibung der generativen Kompetenz lässt sich
an der unterschiedlichen Form der Konstituentenstrukturregeln ablesen.
Die statische Form:
Grundlegung 25

NP (Nominalphrase) + VP (Verbalphrase) = S (Satz)

wird in der dynamischen (eben: generativen) Form zu:

S → NP + VP

Der Pfeil gilt als Anweisung “schreibe x (das Symbol links des Pfeils)
als y (das Symbol rechts des Pfeils)”, oder mit dem technischen
Ausdruck: “leite x ab zu y” bzw. “expandiere x zu y”. Diese Dyna-
misierung, die dem Modell die Bezeichnung “generativ” eingetragen hat,
führt ebenfalls zu einer Umkehrung der Darstellungsweise, nämlich zur
Darstellung in Form von Strukturbäumen. Ausgangsebene ist dann nicht
mehr die terminale Konstituentenkette, sondern der ranghöchste Knoten,
nämlich S (Satz). Die terminale Kette wird also nicht als Ausgangs-
material / Eingabedatum eines Analyseprozesses, sondern als Resultat /
Ausgabedatum eines Erzeugungs- oder Generierungsprozesses verstan-
den. Die in dieser Grammatik vorgelegten Analysen lassen sich somit als
Versuch verstehen, den Generierungsprozess systematisch zu beschrei-
ben und zu erklären.

Strukturbaum 1

NP VP

DET NL VL NP

ADJ N V ADV DET NL

ADJ N

Der neue Student analysiert kühn das antike Beispiel


26 Kapitel 1

1.3 Schlussbemerkung

Wenn eingangs die Rede davon war, dass im Rahmen der Grundstruk-
turen die elementaren syntaktischen Konstruktionen eingeführt werden
sollen, so bedeutet “elementar” in diesem Zusammenhang eben “grund-
legend” und nicht unbedingt “einfach”. Das Ziel dieser grammatischen
Einführung ist einerseits ein didaktisches (optimaler Erwerb einer recht
komplexen Sprache), und diese Zielsetzung verlangt einen Aufbau, der
vom Einfachen ausgeht und schrittweise zum Komplexen gelangt. Diese
Einführung ist andererseits erklärend bzw. explanatorisch ausgerichtet,
d.h. sie will über die Beschreibung von Strukturen hinaus Zusammen-
hänge sichtbar machen und Erklärungen anbieten. Damit soll sie das
Verständnis für die wissenschaftliche Seite der Sprachbeschreibung
wecken und die Voraussetzungen für die nutzbringende und kritische
Lektüre grammatischer Werke und Hilfsmittel schaffen, was den Abbau
von Hemmschwellen vor z.T. schon hochentwickelten Theorien bedingt.
Deshalb werden den Grundstrukturen Einsichten zugrundegelegt, die aus
eigenen Untersuchungen der AC-Grammatik stammen, aber es wird nach
Möglichkeit Zurückhaltung bei der Ausbreitung der ganzen Komplexität
der Argumente und der Analysen geübt. Insbesondere wurde (seit der
ersten Auflage) auf die technische Darlegung der heute weitgehend aus
der Theorie verschwundenen transformationellen Prozesse mit wenigen
Ausnahmen verzichtet. Die Beschäftigung und die Auseinandersetzung
mit den Ansätzen anderer Grammatiker oder Theorien (ohne die diese
Arbeit nicht möglich gewesen wäre) seien einem Zeitpunkt vorbehalten,
wo im Umgang mit AC-Texten ausreichende Vertrautheit vorausgesetzt
werden kann.
2 Einfache Verbalsätze

2.1 Wortklassen in Satz und Äusserung

Aus der Perspektive der Syntax gesehen, ist ein Satz bzw. eine Äusse-
rung eine strukturierte Zusammenstellung (“syn-taxis”) bzw. Verkettung
von Wörtern, die nach Wortklassen kategorisiert und nach Funktionen
ausgelegt werden können. Wie aus den Konstituentenanalysen im
Kapitel Grundlegung ersichtlich, besteht eine Hierarchie der Satzteile,
die sich in der Unter-, Gleich- oder Überordnung der einzelnen Elemente
niederschlägt. So ist z.B. ein Adverb einem Verb oder einem weiteren
Adverb, ein attributives Adjektiv einem Nomen zugeordnet usw.

Graphik 5: Konstituentenhierarchie (Verbalgruppe)

lernt schnell

VERB + ADVERB

VERBALE

Graphik 6: Konstituentenhierarchie (Nominalgruppe)

der fleissige Student


ADJEKTIV + NOMEN

ARTIKEL + NOMINALE

NOMINALPHRASE
28 Kapitel 2

Jede Äusserung erfüllt minimal die folgenden zwei sich gegenseitig


bedingenden Grundfunktionen:

– Referenzfunktion, d.i. Identifikation des/der Gegenstände und Sach-


verhalte, auf welche die Äusserung Bezug nimmt;
– Prädizierungsfunktion, d.i. Aussage(n) zu den Gegenständen oder
Sachverhalten, auf die referiert wird, die Zuweisung von Eigen-
schaften, das Herstellen von Bezügen usw.

Diese Grundfunktionen entsprechen zwei Hauptwortklassen, nämlich


den Nomina (mit Referenzfunktion) und den Verben (mit Prädizierungs-
funktion). Mit Hilfe dieser Funktionsbestimmung lässt sich nun für jede
Sprache, unabhängig davon, ob sie sichtbare formale (z.B. morpholo-
gische) Kennzeichen für Wortklassen hat oder nicht, eine Bestimmung
der Wortklassen vornehmen, also auch für das AC (oder auch für das
Modernchinesische).
Es ist richtig, dass unter bestimmten Voraussetzungen durch sicht-
bare morphologische und / oder syntaktische Prozesse aus Wörtern der
einen Klasse solche der anderen Klasse gebildet werden können, etwa
wenn Verben – oder andere Wortklassen – nominalisiert werden (z.B.
‘gehen’ zu ‘das Gehen’ oder ‘der Gang’) oder wenn aus Nomina Verben
abgeleitet werden (z.B. ‘Fenster’ zu ‘fensterln’). Dabei handelt es sich
aber nie um eine Funktionsänderung des ursprünglichen Nomens bzw.
Verbs, sondern um die Ableitung (Derivation) eines neuen Klassen-
mitglieds ausgehend vom Material der anderen. Es handelt sich also um
Wortbildungsprozesse. In diesem Sinne muss man für das AC mit allem
Nachdruck festhalten, dass die Schriftzeichen keine Wörter sind, sondern
dass sie für Wörter stehen bzw. die Schriftform verschiedener Wörter
sein können. Die folgenden Beispiele mögen illustrieren, wie Zeichen
nicht nur für verschiedene Wörter aus verschiedenen Wortklassen, son-
dern z.T. auch für solche mit anderem Lautwert stehen können:

↫ sǐ V: ‘sterben’ 䚙 dí N: ‘Sohn der Hauptfrau’


V: ‘tot sein’ shì V: ‘sich begeben nach’
ADJ: ‘tot’ ADV: ‘nur’
N: ‘Tod’ zhé V: ‘zur Rede stellen’
N: ‘Tote(r)’ zhài N: ‘Tadel’
Einfache Verbalsätze 29

Wird also ein Nomen, ein Verb, ein Adverb usw. mit dem gleichen
Zeichen geschrieben, so handelt es sich um Fälle von Homographie (wie
etwa im Englischen, wo das Schriftbild ‘seal’ für das Nomen ‘Seehund’
bzw. für das Verb ‘siegeln’ steht, oder wo das Schriftbild ‘desert’ für
[désert] ‘Wüste’ und [desért] ‘verlassen’ steht). Dass im AC häufig
bedeutungsmässige oder derivative Zusammenhänge bestehen, ist offen-
sichtlich (vgl. dazu u.a. 2.3.2). Während in einigen Fällen die den homo-
graphen Repräsentationen zugrundeliegenden Wörter im Antikchine-
sischen entweder nicht phonologisch geschieden wurden oder zumindest
die uns vorliegende Evidenz für die Rekonstruktion einer solchen
Unterscheidung nicht ausreicht, so dass z.B. alle drei von ↫ ver-
schrifteten Wortklassen (V , ADJ , N) als AC *sij-q anzusetzen wären, ist
in anderen Fällen ein Teil der Derivationsmechanismen noch rekon-
struierbar:

䚙 dí N: < AC *ttek ‘Sohn der Hauptfrau’


shì V: < AC *s-tek ‘sich begeben nach’
ADV: < AC *s-tek ‘nur’
zhé V: < AC *tt-r-ek ‘zur Rede stellen’
zhài N: < AC *tt-r-ek-s ‘Tadel’

Umgekehrt kommt es häufig vor, dass Wortbildungsprozesse auf Grund-


lage ein und derselben Wortwurzel (hier: *tek) schriftlich durch die
Verwendung abweichender Zeichen markiert werden, und zwar sowohl
innerhalb der durch denselben Lautbestandteil konstituierten phone-
tischen Serie (chin. xiéshēng 䄗㚢) (i.), als auch darüber hinaus (ii.):

i. 䅛
䆱 zhé V: < AC *tt-r-ek ‘tadeln, strafen; erniedrigen’
ii. ࡪ cì N < AC *s-thek-s ‘kritisieren, töten’
䋜 zé V: < AC *s-tt-r-ek ‘jd. verantwortlich machen’
䅞 zhé V: < AC *tt-r-ek ‘tadeln, strafen’
‫ۥ‬ zhài N: < AC *s-t-r-ek-s ‘Schulden’
(usw.)

In letzterem Fall spricht man in der einheimisch-chinesischen Sprach-


wissenschaft traditionell von “Wortfamilien” (chin. cízú 䂎᯿), aber
letztlich besteht kein kategorialer Unterschied zwischen den beiden
30 Kapitel 2

Gruppen, sondern lediglich einer der schriftlichen Repräsentation. Im


Unterschied zu den englischen oder deutschen Alphabetschriften ist das
Phänomen der Homographie im Antikchinesischen allerdings viel
prominenter und – zumindest in den Anfangsstadien des Spracherwerbs
– wesentlich problematischer.
Jede Äusserung (Oberflächenstruktur) beruht auf einem zugrunde-
liegenden Satz (Tiefenstruktur). Die Form der Äusserung stimmt nur in
einfachen Fällen mit dem tiefenstrukturellen Satz überein, denn Kontext-
bedingungen, inhaltliche Vorgaben, gesprächs- oder leserstrategische
Überlegungen geben Anlass zu vielfältigen Umstellungen, Hervorhe-
bungen, Tilgungen, Pronominalisierungen und anderen Veränderungen.
Die korrekte Interpretation von Äusserungen – und damit hat die
Philologie es stets zu tun – beruht darauf, durch Analyse dieser Ver-
änderungen und ihrer sprachlichen und situativen Auslöser den zugrun-
deliegenden Satz zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion ist ihrerseits
davon abhängig, dass man das Spektrum möglicher Strukturen überblickt
und die Gebrauchsbedingungen des Wortschatzes kennt. Kurz: Es ist
unumgänglich, dass man die Grammatik bzw. Syntax beherrscht. Eine
Schlüsselstellung, sowohl in diesem Rekonstruktionsprozess wie auch in
der Syntax als Beschreibung der Sprache, nehmen die Prädikatsaus-
drücke, darunter insbesondere die Verben, ein.

2.2 Das Prädikat in Satz und Äusserung

2.2.1 Die zentrale Rolle des Verbs

Im AC bilden die Prädikatsausdrücke in der Regel die minimalen Äus-


serungsformen (vgl. SB 4). Die Tatsache, dass dabei ein Verb üblicher-
weise als Kern des Prädikatsausdrucks verwendet wird, verweist auf ein
grundsätzliches Ungleichgewicht zwischen Verben und Nomina. Anders
als beim Nomen ist beim Verb die Kette, deren Grammatikalität und
Bedeutung beurteilt werden muss, jeweils ein Satz bzw. eine Äusserung,
so dass die Grammatik des Verbs nur in Verbindung mit jener des Satzes
formuliert werden kann. Die Prädizierungsfunktion des Verbs, die sich
von ihrer Natur her auf eine Gesamtsituation bezieht, ist für den Aufbau
Einfache Verbalsätze 31

eines Satzes oder einer Aussage von entscheidender Bedeutung: Damit


wird einerseits die Hauptsache des Strukturrahmens eines Satzes vor-
gegeben, d.h. wie viele referierende (nominale) Ausdrücke überhaupt
möglich sind, andererseits wird der Charakter der referierenden Aus-
drücke festgelegt. Erläutern wir dies an einem konkreten Beispiel aus
dem Deutschen, am Verb ‘essen’. Dieses Verb beschreibt in unserem
Kulturbereich eine Situation, die meist die folgenden Elemente umfasst:

Jemand führt (oder erhält eingeführt) zu einem beliebigen Zeitpunkt


und an einem beliebigen Ort zum Zweck der Ernährung oder des
Genusses Essbares mit geeigneten Mitteln und in geeignet erschei-
nender Weise zum Mund, um es nach geeignet erscheinender
Bearbeitung von dort durch Hinunterschlucken dem Magen zur
Verdauung zuzuführen.

Man kann die Topographie dieses Vorgangs als Gebrauchsbedingung


des Verbs abstrahieren. Das Verb ‘essen’ darf gebraucht werden, wenn
folgender Sachverhalt vorliegt:

Transferierung von Essbarem von einem Punkt ausserhalb des


Essenden zu einem Punkt innerhalb.

Nicht alle in der Situationsbeschreibung aufgeführten Elemente zählen


zu den notwendigen Gebrauchsbedingungen des Verbs ‘essen’, so z.B.
Ort (im Gegensatz zum Verb ‘picknicken’) und Zeit (im Gegensatz zum
Verb ‘frühstücken’). Gerade diese sind durch die allgemeinen tempora-
len oder lokalen Koordinaten des Textes / Kontextes / Satzes implizit
festgelegt oder können in deren Rahmen explizit und eben spezifischer
festgelegt werden. Die notwendigen Gebrauchsbedingungen in der topo-
graphischen Abstraktion sind hingegen auf der Strukturebene (Tiefen-
struktur) stets syntaktisch wirksam, müssen aber meist nur unter abwei-
chenden, normwidrigen oder besonders erwähnenswerten Umständen
(z.B. dass jemand wider allen Anstandes Speisen mit einem Messer zum
Mund führt) oder zur Erzielung besonderer stilistischer Effekte
oberflächenstrukturell realisiert sein. M.a.W.: Nicht alles, was (tie-
fen)strukturell vorhanden ist, wird in der Äusserung explizit realisiert.
Diese obligatorischen und fakultativen Variablen konstituieren drei
Ebenen im Satz:
32 Kapitel 2

1 Verbmodifizierende Variable
Hierbei handelt es sich um die Adverbien und Adverbialphrasen im
engeren Sinne, welche die Modalitäten der Handlung, des Ge-
schehens usw. spezifizieren (können). Es handelt sich durchwegs
um fakultative Elemente.

2 Argumente des Verbs


Es handelt sich hier um verbspezifische Rollenträger (z.B. Agens,
Ziel usw.), die in den meisten Sprachen eine mehr oder minder
grosse Grammatikalisierung erfahren haben (z.B. durch ein Kasus-
system). Die Anzahl Argumente, die in der Regel eine Handvoll nie
übersteigt, bestimmt die sog. Valenz des Verbs (s. unten 2.2.2).
Diese Variablen müssen dem Sprecher explizit oder implizit bekannt
sein und sind die hauptsächlichen Träger der Referenz. Ausserdem
ist zu beachten, dass Anzahl und Art sprachspezifisch variieren
können. Diese Elemente sind tiefenstrukturell obligatorisch, ober-
flächenstrukturell jedoch z.T. fakultativ.

3 Satzsituierende Variable
Das sind die Adverbialbestimmungen im weiteren Sinne, d.h. jene
auf der Ebene des Satzes oder Textes (häufig Zeit und Ort, d.h. die
raumzeitlichen Koordinaten des Textes / Kontextes). In vielen
flektierenden Sprachen äussert sich diese Ebene greifbar etwa in der
Kategorie Tempus oder Aspekt, aber auch in flexionslosen Sprachen
ist sie implizit vorhanden und kann von Fall zu Fall zusätzlich
spezifiziert oder verändert werden. Strenggenommen sind es
obligatorische, inhärent textwirksame Variablen, die nur im
Bedarfsfall (z.B. bei Tempuswechsel) auf der Ebene der einzelnen
Sätze realisiert werden.

Versuchen wir einmal anhand eines angenommenen Maximalsatzes mit


dem deutschen Prädikatskern ‘essen’ diese drei Ebenen im syntaktischen
Strukturschema, im Satzbauplan zu illustrieren:

Beispiel: Jahrelang ass X im Lager mit bedächtigen Bewegungen


hartes Brot aus einer Holzschale
Einfache Verbalsätze 33

Graphik 7: Ebenen und Variablen

Kern Ebene 1 Ebene 2 Ebene 3

aus einer jahrelang


mit Holzschale
essen bedächtigen
Bewegungen hartes Brot im Lager

X (Tempus)

Valenz

Das Verb ‘essen’ erweist sich also als ein Verb mit (mindestens) der
VALENZZAHL 3 (vgl. das hervorgehobene Feld der Ebene 2 mit den drei
Nominalausdrücken). Es ist somit ein dreiwertiges oder trivalentes Verb.
Von der inhaltlichen Struktur der Argumente her, nämlich QUELLE
(woraus?), OBJEKTIV (was?) und AGENS (wer?), wäre es den TRANS-
FERVERBEN vom Typ ‘geben’, ‘kaufen’ usw. zuzuordnen. Diese Gruppe
ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass ihre Mitglieder in kon-
versen Paaren auftreten, wie z.B. ‘bekommen / geben’, ‘kaufen /
verkaufen’. Im Antikchinesischen existierte ein produktiver morphologi-
scher Derivationsmechanismus der dasjenige Mitglied eines solchen
konversen Paares mit einem Suffix *-s markierte, bei dem die Handlung
vom Sprecher weg erfolgte (‘exoaktive’ Bildung), jenes, bei dem die
Handlung bei ihm verblieb oder sich von aussen auf ihn zubewegte
(‘endoaktive’ Bildung) mit *-q (vgl. Kap. 10.5.3). Vgl. z.B.

‘bekommen’ ᦸ shòu < AC *du-q


‘geben’ ਇ shòu < AC *du-s

‘kaufen’ 䋧 mǎi < AC *mmre-q


‘verkaufen’ 䌓 mài < AC *mmre-s

Während Überbleibsel dieses Verfahrens, wie im zweiten Fall, gelegent-


lich noch in mittel- und neuhochchinesischen Tondistinktionen greifbar
geblieben sind, ist in der grossen Mehrzahl der Fälle bereits in antik-
chinesischer Zeit keine ausreichende Evidenz zur Rekonstruktion
34 Kapitel 2

verblieben. Analog zu TRANSFERVERBEN dieses Typs wäre konvers zu


‘essen’ somit folgerichtig das “rückwärts essen” = ‘brechen, sich
übergeben’. Für das Lexikon bzw. Wörterbuch könnte für den Eintrag für
das Verb ‘essen’ etwa die folgende Form gewählt werden, wobei die
geklammerten Elemente oberflächenstrukturell nicht realisiert sein
müssen:

ESSEN: V3 [transf];
X-AGENS isst (Y-OBJEKTIV) (aus Z-QUELLE)
z.B.: er isst (Brot) (aus der Schale)

2.2.2 Valenz und Rollen: ein AC-Beispiel

Die eben aufgeführte Eintragsform erscheint für das Deutsche sehr


unhandlich, und zwar weil wir sie als kompetente Sprecher dieser
Sprache lesen. Die Valenz (Vn), die bei den Verben im Lexikon an-
gegeben wird, sowie die zusätzliche Einordnung in eine semantisch
motivierte Gruppe (hier die der Transferverben), ist aber keineswegs
eine Frage von bloss theoretischem Interesse, sondern eine Angabe von
ausgesprochen praktischer Bedeutung. Die Beachtung solcher Angaben
fördert einerseits die Exaktheit der syntaktischen Analyse, ist anderseits
auch eine grosse Hilfe bei der Arbeit an Texten. Im AC bietet allerdings
der Umstand Schwierigkeiten, dass die spontane Bildung korrekter
Maximalsätze mangels muttersprachiger Sprecher (“native speaker”)
problematisch ist, so dass sich die Valenzangabe zwangsläufig an den in
den textlich belegten Äusserungen realisierten Mustern orientieren muss.
Für das Äquivalent zum Verb ‘essen’ im AC ist eine analoge realisierte
Maximalform z.Zt. nicht bekannt, möglicherweise weil sie schon früh
durch onomatopoetische Bildungen ersetzt worden ist. Belegt sind
jedoch Äusserungen der folgenden Art:

a. Eine klare strukturelle Analogie zur üblichen dikomplementären


Ausdrucksform (X-AGENS / INITIANS isst Y-OBJEKTIV) findet sich in
folgendem Beispiel:
Einfache Verbalsätze 35

B4 俜伏啐 Lùn Héng 14


mǎ shí shǔ
Das Pferd isst die Ratte.

b. Der Ausdruck für ‘Benefizialstadt’ oder (wörtlich: ‘Nährstadt’, d.h.


Stadt, die einen ernährt, von der man lebt, deren Ertrag – meist an
Naturalien – das Honorar für ein Amt oder für eine Dienstleistung
darstellt) lautet:

B5 伏䛁 z.B. im Zuǒ Zhuàn ᐖۣ (Zhāo 15.5 Zuǒ)


shí yì oder in Shǐ Jì ਢ䁈 95
Benifizialstadt

Dieser Begriff, den man als Beleg für die Existenz eines lokativischen
Objektes sehen könnte, liesse sich wohl auch passivisch interpretieren,
was synchron den Ansatz des homographen Verbs ‘ernähren’ mit der
Lesung sì 伏 bedingen würde. Historisch gesehen geht diese Lesung auf
eine antikchinesische Präfigierung mit dem Kausativpräfix *s- zurück
(also shí 伏 < AC *m-lək ‘essen’ vs. sì < AC *s-lək-s < *s-m-lək-s ‘essen
machen’ ~ ‘ernähren, füttern’. Die zugrundeliegende unerweiterte Wur-
zel *lək liegt im AC nur noch als heute yì (*lək) gelesener Bestandteil
von Personen- und Ortsnamen vor.

c. Deutlich ist das Vorliegen eines lokativischen Objekts hingegen in den


beiden folgenden Beispielen (man beachte insbesondere die Fusionform
yān ✹, vgl. 7.3 A), wo das Verb shí 伏 dem deutschen Verb ‘leben von’
entspricht:

B6 ੋᆀн伏ဖ Zhāo 20.3 Zuǒ


jūn zǐ bù shí jiān
Der Fürstjunker lebt nicht von der Treulosigkeit.

B7 伏✹н䗏ަ䴓 Āi 15 fù 3 Zuǒ
shí yān, bù bì qí nàn
(Ich) lebe von ihm, (also) gehe ich seinen Schwierigkeiten nicht
aus dem Weg.
36 Kapitel 2

Aus diesen wenigen Belegen wäre also zu schliessen, dass es einerseits


ein AC-Verb shí 伏 ‘essen’ mit einer gegenüber seiner deutschen
Entsprechung abweichenden, um das lokativische Element reduzierten
Valenz gibt, und andererseits ein AC-Verb shí 伏 ‘leben von’ mit dem
lokativischen Element, aber ohne die Argumentrolle Objektiv. Es sind
also die folgenden zwei Lexikoneinträge zu formulieren:

伏 shí: V2 [transitiv];
X-AGENS isst (Y-OBJEKTIV)
z.B.: 俜伏啐 mǎ shí shǔ – Das Pferd isst die Ratte. (Lùn Héng
14)

伏 shí: V2 [medial];
X-AGENS lebt von (Y-QUELLE)
z.B.: 伏✹ shí yān – (Ich) lebe von ihm. (Āi 15 fù 3 Zuǒ)

Gehen wir über zur Frage nach dem Charakter bzw. der Rolle der
referierenden Ausdrücke. Das Verb shēng ⭏ ‘hervorbringen’ eignet sich
gut zur Erläuterung. Es kommt z.B. in folgenden Äusserungen (aus dem
Zuǒ Zhuàn) vor:

B8 ᆻ↖‫⭏ޜ‬Ԣᆀ Yǐn 1 fù 1 Zuǒ


Sòng Wǔ gōng shēng zhòng-Zǐ
Der Wǔ-Patriarch von Sòng VERB die media aus dem Klan der
Zǐ.

B9 ⭏Ҽᆀᯬ䜔∿ Chéng 11.2 Zuǒ


X shēng èr zǐ yú Xì shì
X VERB zwei Söhne mit der Dame aus dem Klan der Xì.

B 10 ⭏ᆀ㡜✹ Zhuāng 32.5 Zuǒ


X shēng zǐ-Bān yān
X VERB den Junker Bān mit ihr.

Aus dem Kontext ist unschwer zu erraten, dass VERB = ‘ZEUGEN’, denn
das Subjekt (SUB) ist jeweils männlichen Geschlechts, das direkte Objekt
(DO) bezeichnet das gezeugte Kind, während das indirekte Objekt (IO)
Einfache Verbalsätze 37

sozusagen den Ort der Zeugung bezeichnet. Das nächste Muster bietet
sich in Äusserungen der folgenden Art dar:

B 11 ަၓ⭏Ṽᆀ Zhuāng 28 fù Zuǒ


qí dì shēng Zhuō zǐ
Ihre jüngere Schwester VERB den Junker Zhuō.

B 12 ሷ⭏а⭧аྣ Xī 17 fù 1 Zuǒ
X jiāng shēng yī nán, yī nǚ
X wird einen Sohn und eine Tochter VERB.

Auch hier ist unschwer zu erkennen, was VERB bedeutet, nämlich


‘GEBÄREN’. Im Gegensatz zum ersten Muster hat der “Ort der Zeugung”
(IO) zum “Ort der Geburt” (SUB) hinübergewechselt, während das
gezeugte Kind im Satz nach wie vor in der Stellung des DO verharrt. Das
nächste Muster bietet sich in der folgenden Äusserung dar:

B 13 Ԣᆀ⭏ Yǐn 1 fù 1 Zuǒ


zhòng-Zǐ shēng
Die media aus dem Klan der Zǐ VERB.

Da diese Äusserung an das erste Beispiel des ersten Musters anschliesst,


ist klar, dass es sich um den Geburtsakt handelt, und zwar aus der Sicht
des gezeugten Kindes, also VERB = ‘GEBOREN WERDEN’. Das DO der
ersten zwei Muster ist also zum SUB des dritten Musters avanciert. Die
nächste Äusserung scheint ein letztes Element im ganzen Spektrum zu
sein:

B 14 ㉑‫⭏ޜ‬ӄᒤ Xiāng 7.9 Zuǒ


Jiàn gōng shēng wǔ nián
Das Leben des Jiàn-Patriarchen dauerte fünf Jahre. (M.a.W.: er
wurde fünf Jahre alt.)

Die Zeitangabe macht deutlich, dass nicht die Geburt, sondern das Leben
des Jiàn-Patriarchen fünf Jahre dauerte. Wie in der Übersetzung
angedeutet liegt hier eine besondere (in grammatischen Studien bisher
unbeachtet gebliebene) syntaktische Konstruktion vor: es handelt sich
um einen Satz, der mit dem Durativverb wǔ nián ӄᒤ ‘X-Objektiv
38 Kapitel 2

dauert n-Jahre (n=5)’ gebildet worden ist (vgl. 6.5). shēng ⭏ ist in
dieser Konstruktion ein Nomen, nämlich SUB des Satzes. Gestützt auf die
verbale Herkunft dieses Nomens bietet sich die Gleichung VERB =
‘LEBEN’ an, d.h. das DO der ersten zwei Muster wäre hier auch SUB, aber
die Beziehung zum Verb hätte sich klar geändert.
Haben wir es nun – wie im Deutschen – mit z.T. verschiedenen
Verben zu tun? Oder fächert das Deutsche das Begriffsfeld bloss
lexikalisch anders auf? Die weitgehende Stabilität der Rollen (Zeuger,
Gezeugtes, Zeugungsempfängerin bzw. Gebärende) und die Tatsache,
dass ein zugrundeliegender einheitlicher Begriff (das Archilexem eines
Wortfeldes) zu identifizieren ist, nämlich LEBEN (d.i. die Spanne
zwischen Zeugung und Tod), sind Anlass genug, um z.B. eine integrierte
Formulierung wie die folgende zu suchen.

1. X lässt Y durch Z das Leben schenken. → ZEUGEN


2. Z schenkt Y das Leben. → GEBÄREN
3. Y wird das Leben geschenkt. → GEBOREN WERDEN

Aus dieser Übersicht geht hervor, dass Muster 1 eine eigene syntaktische
Form bildet, während die Muster 2 und 3 eine gemeinsame Struktur
aufweisen. Letzteren liegt ein transitives V2 zugrunde, welches aktiv
(Muster 2) oder passiv (Muster 3) realisiert werden kann. Muster 1 hat
als Kern das kausative V3, das somit in systematischer (derivativer)
Beziehung zum homographen V2 steht. Möglicherweise existierten im
AC noch verschiedene Suffigierungsformen dieser Muster. Allerdings
sind sie in mittelchinesichen Ausspracheangaben nicht mehr deutlich
fassbar. Es lassen sich also aufgrund der oben gesichteten Beispiele die
folgenden drei Lexikoneinträge formulieren:

⭏ shēng: V2 [transitiv];
X-AGENS gebiert Y-OBJEKTIV
z.B.: ሷ⭏а⭧аྣ X jiāng shēng yī nán, yī nǚ – X wird einen
Sohn und eine Tochter gebären. (Xī 17 fù 1 Zuǒ)

⭏ shēng: V3 [kausativ];
X-AGENS zeugt Y-OBJEKTIV mit / in Z-ORT
z.B.: ⭏ᆀ㡜✹ X shēng zǐ-Bān yān – X zeugte den Junker Bān
mit ihr. (Zhuāng 32.5 Zuǒ)
Einfache Verbalsätze 39

⭏ shēng: N; Leben

Daraus lässt sich abschliessend folgern:

a. Die Graphen (Schriftzeichen) verschleiern die Wortklassen, die im


AC teilweise noch morphonologisch unterschieden waren.
b. Die Funktionen SUB, DO und IO sind syntaktisch zu definieren, denn
die dort positionierten Rollenträger sind nicht einheitlich.
c. Die Existenz verschiedener deutscher Übersetzungsentsprechungen
ist keinesfalls ein zwingender Anlass dafür, im AC die gleichen
Differenzen oder Lexikalisierungen anzusetzen.
d. Ein AC-Deutsch-Lexikon muss also ausser semantischer auch spezi-
fisch syntaktische Information in komparativer / kontrastiver Form
anbieten, denn

B 15 ௌ⭏ᯬྭ Zhāo 25.2 Zuǒ


xī shēng yú hǎo
Freude entsteht durch gute Beziehungen.

und man möchte doch am Ende sagen können:

B 16 䶎ᡁ⭏Ҳ Zhāo 27.3 Zuǒ


fēi wǒ shēng luàn
Nicht ich habe die Unordnung erzeugt.

2.2.3 Satztypen und Rollenmuster

Das Verb ist aufgrund seiner Prädizierungsfunktion semantisch keine


isolierte Grösse, sondern an einen ihm eigentümlichen Kontext gebunden
(vgl. die Beschreibung der Situationselemente von ‘essen’ in 2.2.1
oben): Jedes Verb setzt einen jeweils spezifischen Kontext voraus, ist der
Bedeutung nach der gesamten Situation zugeordnet. Die Bedeutung eines
Verbs kennen schliesst Kenntnisse der möglichen Satztypen ein, in denen
es als sinnvolles Prädikat gebraucht werden kann, und setzt andererseits
Kenntnisse der Valenz und der spezifischen Verteilung der Rollen
innerhalb der Valenz voraus. Dazu noch einige Überlegungen anhand
der folgenden Beispiele:
40 Kapitel 2

B 17 x ⇪ shā Y X tötet Y
B 18 X ↫ sǐ X stirbt
B 19 x ↫ sǐ Y X stirbt für / wegen Y

In Beispiel B 17 ist also das Verb shā ⇪ ‘töten’ nicht einfach einem
Teilaspekt der Situation zugeordnet, sagen wir der Tätigkeit des Tötens
“an sich”, sondern der gesamten Situation, die darin besteht, dass jemand
X jemanden Y tötet. Diese Bedingungen müssen erfüllt sein, damit das
Verb überhaupt gebraucht werden kann. Die Bedeutung des Verbs shā
⇪ umfasst somit zwei Variablen, die je nach Sprecherabsicht mit refe-
rierenden nominalen Ausdrücken belegt werden, wie in Beispiel B 17
oben angedeutet. In eben diesem Zusammenhang spricht man von der
Valenz eines Verbs: Das Verb shā ⇪ ist zweiwertig (divalent) bzw. hat
die Valenz 2. Die Kenntnis dieses Strukturrahmens ist bei jenen Verben
von besonderer Bedeutung, bei denen die Äusserungsform des Sachver-
halts und die Rollen der beteiligten nominalen Ergänzungen gegenüber
der eigenen Sprache abweichen, so bei Beispiel B 19. Vergleicht man die
Beispiele B 17 und B 19, so stellt man ausserdem fest, dass zwei
verschiedene semantische Muster (bei shā ⇪ bzw. sǐ ↫) in der gleichen
syntaktischen Oberflächenform X VERB Y realisiert werden. Belegbei-
spiele dafür finden sich in den Äusserungen 28.44 und 28.48 (Angaben
dieser Art beziehen sich auf die Satznummerierungen im Textteil des
Kurses):

B 20 ᰾ঊ㘼⇪ѻ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.44


Míng bó ér shā zhī
Míng schlug sie mit der Faust nieder und tötete sie.

B 21 ᨀᕼ᰾↫ѻ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.48


Shí-mí Míng sǐ zhī
Míng aus dem Stamm der Shímí starb jedoch für ihn.

M.a.W.: “gleiche Äusserungsform” bedeutet nicht unbedingt gleiche


“Inhaltsbeziehungen”. Aus diesem Grund genügt die rein syntaktische
Kategorisierung der Verben nicht; sie muss vielmehr um semantische
Charakterisierungen ergänzt werden (z.B. Eigenschafts-, Bewegungs-,
Übermittlungsverb; statisch, dynamisch usw.). Dabei können die
nominalen Ergänzungen verschiedene Rollen einnehmen (z.B. Agens,
Einfache Verbalsätze 41

Objektiv, Instrumental, Lokativ usw.). Zwischen den Rollen und den


jeweiligen Stellungen im Satz bestehen keine generalisierbaren Bezie-
hungen, d.h. Subjekt (eine syntaktische Funktion) ist nicht immer eine
nominale Ergänzung, welche die Agens-Rolle erfüllt:

B 17 X tötet (⇪ shā) Y
Rolle: Agens Patiens
Funktion: Subjekt Objekt
(Vgl. dt.: Die Krankheit tötete ihn.)

B 19 X stirbt für (↫ sǐ) Y


Rolle: Patiens Grund
Funktion: Subjekt Objekt
(Vgl. dt.: Er starb an der Krankheit.)

Zur Valenz eines Verbs gehören im strengen Sinne alle nominalen


Ergänzungen (NE), die für die Konstituierung eines Satzes unabdingbar
sind – unabhängig davon, ob sie regelmässig oder nur zeitweise in der
Äusserung realisiert sind. Ein gutes Beispiel dafür sind die
Bewegungsverben: Da im Kontext vielfach festgelegt ist, in welchem
Koordinatennetz die Bewegungen ausgeführt werden (z.B. auf den
Sprecher hin oder von ihm weg, auf im Kontext bereits genannte Orte zu
oder von ihnen weg), werden die lokativen NE besonders häufig getilgt.
Dennoch gehören sie klar zur Valenz, denn sie werden stets mitver-
standen. M.a.W.: sie sind aus dem Kontext heraus “rekonstruierbar”.
Dies ist besonders deutlich in der Chronik Chūn Qiū ᱕⿻ zu sehen, die
aus der Perspektive eines bestimmten Staates geschrieben ist; die
lokativlos geäusserten Bewegungsverben (z.B. “der Gesandte kommt”)
sind in ihr immer auf den Staat des Chronisten bezogen (also “nach Lǔ”),
beschreiben Bewegungen auf diesen Staat zu oder von ihm weg
(Beispiel B 22). Diese Verben sind nämlich “perspektiviert”, d.h. bei lái
ֶ ist der Lokativ stets auch der Standort des Sprechers. Daher kann im
AC das Verb lái ֶ ‘kommen’ offenbar nicht verwendet werden, um zu
sagen “er kam zu Dir”, weshalb es praktisch keine Beispiele mit lái ֶ
und explizit realisiertem Lokativ gibt.
42 Kapitel 2

B 22 㭑՟ֶ Yǐn 1.6 CQ


Zhài bó lái
Der Graf von Zhài kommt her nach Lǔ.

Für den Sachverhalt ‘X kommt zu / nach Y’ (wobei der Ort Y nicht


identisch mit dem Standort von X sein muss) muss der Sprecher das Verb
zhì 㠣 ‘(an)kommen’ verwenden (vgl. Beispiel B 23)

B 23 ᱹᑛ㠣੮৸ᗎѻ Xiāng 8.8 Zuǒ


Jìn shī zhì, wú yòu cóng zhī
Wenn das Korps aus Jìn (dort) ankommt, schliessen wir uns ihm
auch an. (Richtigerweise wird anschliessend das Korps als
“Kommende” mit lái ֶ bezeichnet.)

Als Tätigkeitsverben sind die Bewegungsverben aber auch mit einer NE


dotiert, welche den Zweck bezeichnet (eine sog. finale Ergänzung bzw.
Komplement, vgl. 7.2.2.3) und welche ebenfalls aus kontextuellen
Gründen sehr häufig nicht realisiert ist (der Gesandte kommt
selbstverständlich, “um im Rahmen seines Besuches ein diplomatisches
Geschäft zu erledigen”). Man vergleiche Beispiel B 22 und das folgende
Beispiel B 24:

B 24 ∋՟ֶ≲䠁 Wén 9.1 CQ


Máo bó lái qiú jīn
Der Graf von Máo kam nach Lǔ, um eine Bronze(spende) zu
verlangen.

2.2.4 Argumentrollen, Kasus, Verbsubkategorien

Obwohl Valenz und Argumentrollen in Theorie und Praxis noch


zahlreiche Probleme aufwerfen, lassen sich einige Einsichten für die
Arbeit an Texten durchaus mit Gewinn verwerten. Wie bereits bei der
Diskussion der Beispiele B 17 und B 19 angedeutet, steht die syntak-
tische Strukturierung von Äusserungen in keinem einfachen Zusammen-
hang mit den Argumentrollen (das Subjekt ist z.B. keineswegs immer ein
Agens usw.). Es soll daher die folgende Differenzierung gelten:
Einfache Verbalsätze 43

Auf der Ebene der Tiefenstruktur, also des Satzes, soll bei den NE
eines Verbs von ARGUMENTROLLEN (z.B. Agens) die Rede sein; auf
der Ebene der Oberflächenstruktur, also der Äusserung, sollen diese
dagegen entweder mit traditionellen KASUSbezeichnungen (z.B.
Akkusativ, Dativ usw.) bzw. dem AC angepassten (wie unten
erörtert) oder mit einer FUNKTIONsbezeichnung (z.B. Subjekt,
Objekt) belegt werden. Kasusbezeichnung und Funktionsbe-
zeichnung stehen in einer im AC und den meisten europäischen
Sprachen weitgehend generalisierbaren Beziehung; so ist bekannt-
lich das Subjekt sozusagen immer ein (oder: im) Nominativ, das
direkte Objekt DO ein (oder: im) Akkusativ usw.

Man wird sich fragen, wo der Sinn dieser Unterscheidungen für das AC
liegen mag. Nun: Das AC ist zwar eine Sprache ohne ausgebildete
relationale Kasusmorphologie, aber es sind dennoch präpositionsartige
Kasusmarkierungen auszumachen, die es erlauben, von mindestens zwei
grammatikalisierten Kasus zu sprechen.

Tabelle 1: Kasus im AC

Lokalkasus Dieser umfasst u.a. den herkömmlichen Nominativ


oder Subjektskasus, den Dativ oder den Kasus des
indirekten Objekts sowie lokativische Bestimmungen.

Modalkasus Dieser umfasst Sachverhaltselemente wie etwa das


direkte Objekt und diverse Situationsmodalitäten wie
Instrumental, Modal usw.

Daneben existiert noch eine Reihe von echten Präpositionalkonstruk-


tionen. “Grammatikalisiert” heisst, dass die oberflächenstrukturelle
Kennzeichnung dieser Kasus in systematischer Weise erfolgt (d.h.
funktional analog zu einer Kasusmorphologie). Die Bedeutung der Argu-
mentrollen liegt dagegen zur Hauptsache im lexikalisch-syntaktischen
Bereich, wo sie bei der Differenzierung von verbalen Homographen
bzw. bei der Klärung von Äusserungsstrukturen wertvolle Dienste leisten
(vgl. etwa die Beispiele in 2.2.2 oben). Zahl und Art der Argumentrollen
sind abhängig von der Bedeutung des Verbs; trotz der individuellen
44 Kapitel 2

Vielfalt in dieser Wortklasse lässt sich aber eine semantische Gliederung


vornehmen, und zwar je nach dem, ob ein Zustand (1) oder ein Ge-
schehen (2–5) zum Ausdruck gebracht wird (die Gliederung orientiert
sich an Winfried ULRICH, Wörterbuch – Linguistische Grundbegriffe,
Verlag F. Hirt 1987 [4. Auflage], S.198–199):

Tabelle 2: Inhaltliche Verbkategorien

Zustandsverben Diese bezeichnen einen Zustand, ein “Sein”, so


z.B. ‘ist rot’, ‘stehen’.

Tätigkeitsverben Diese bezeichnen ein Geschehen mit einem akti-


ven Geschehensträger, so z.B. ‘lachen’, ‘spielen’,
‘wandern’.

Handlungsverben Diese bezeichnen ein Geschehen mit einem akti-


ven Geschehensträger, welches auf ein Objekt
gerichtet ist, so z.B. ‘tadeln’, ‘kaufen’, ‘verach-
ten’, ‘auslachen’.

Vorgangsverben Diese bezeichnen ein Geschehen, welches sich an


jemandem oder an etwas vollzieht, so z.B. ‘erfrie-
ren’, ‘rosten’, ‘wachsen’.

Ereignisverben Diese bezeichnen ein Geschehen mit konventiona-


lisierten Geschehensträgern, so z.B. ‘schneien’,
‘regnen’.

2.2.5 Merkmalselemente der Argumentrollen

Da jegliches Geschehen gerichtet ist, lässt es sich sozusagen “topogra-


phisch” im Rahmen eines Wirkungsfeldes interpretieren. Damit lässt sich
z.B. zeigen, dass Handlungsverben und Vorgangsverben grundsätzlich
denselben Vorgang zum Ausdruck bringen, wobei jedoch die Wirkung
sich in jeweils unterschiedlicher Richtung entfaltet (so z.B. bei ‘jeman-
den traurig stimmen’ im Vergleich zu ‘wegen jemandem traurig sein’).
Einfache Verbalsätze 45

Damit lassen sich auch zahlreiche Geschehen als räumlich ablaufende


verstehen, so erfährt z.B. bei ‘kaufen’ der Kaufgegenstand eine räum-
liche Veränderung, indem er vom Verkäufer auf den Käufer übergeht
(vgl. auch die Ausführungen oben zum Thema ‘essen’). Bei einem
Geschehen haben wir es also mit den folgenden drei Elementen zu tun:

– mit Dingen (d.s. Personen, Lebewesen, Gegenstände oder Sachver-


halte),
– mit den Positionen, die von den Dingen besetzt, verlassen oder an-
gestrebt werden, und
– mit den Wirkungen, die von den Dingen aus gewissen Stellungen
heraus entfaltet oder von gewissen Stellungen her erfahren werden.

Die Argumentrollen lassen sich nun als charakteristische Bündel von


Merkmalen auffassen, wobei diese Merkmale einerseits die angeführten
drei Elemente, andererseits einzelne Charakteristika der drei Elemente
umfassen. Die Charakteristika der Elemente stehen in einem meist
binären Ableitungsverhältnis:

Graphik 8: Dinge

Dinge

[+belebt] [-belebt]

[+human] [-human] [+konkret] [-konkret]

[mask] [fem]

Mann Frau Tier Gegenstand Sachverhalt


46 Kapitel 2

Graphik 9: Positionen

Positionen

[statisch] [dynamisch]

[ablativ] [adlativ]

Ort Quelle Ziel

Graphik 10: Wirkungen

Wirkungen

[entfaltet] [erfahren]

Die Ableitungen liessen sich wohl noch verfeinern (so dürften im AC bei
den Personen noch die Merkmale alt / jung oder hoher / niedriger Rang
noch eine Rolle spielen; auch ist zu bedenken, dass in gewissen Fällen
Namen stehen können). Die Formulierung der Merkmalsbündel soll so
allgemein wie möglich bzw. so spezifisch wie nötig sein. Dabei ist zu
beachten, dass Merkmale, die tiefer in der Ableitung sind, höhere Merk-
male implizieren. So impliziert die Verwendung des Merkmals [mask]
die Merkmale [+human] und [+belebt], die Verwendung des Merkmals
[ablativ] das höhere Merkmal [dynamisch] usw. Ausserdem schliessen
sich gewisse Kombinationen aus, so kann bei der Verwendung des
Merkmals [+stat], welches bei den Zustandsverben übrigens immer an-
zusetzen ist, keine Wirkung entfaltet oder erfahren werden. Ein Beispiel:

Der Herrscher tötet die Ministergattin.


Herrscher: [mask] [ablativ] [entfaltet]
Ministergattin: [fem] [allativ] [erfährt]
(Begriffe: ablativ = von N weg; allativ = auf N zu)

Die Durchsicht weiterer Belege ergibt, dass beim AC-Verb ‘töten’ die
präverbale Argumentrolle mindestens [+human], die postverbale Argu-
mentrolle mindestens [+belebt] sein muss. Damit steht es deutlich im
Gegensatz zum deutschen Verb ‘töten’, wo beide Argumentrollen durch-
Einfache Verbalsätze 47

aus das Merkmal [belebt] haben können (“der Stein tötete ihn”, oder
“Nachlässigkeit tötet jede Initiative”). Hier wird sichtbar, dass sowohl
Abstraktion wie auch Metaphernbildung im AC vergleichsweise selten
über die hier aufgezeigte Merkmalsgeneralisierung erfolgt, sondern eher
über die Vielfalt des Lexikons. Mit Rücksicht darauf sollen in dieser
Grammatik des AC die häufigsten Merkmalsbündel mit den folgenden
Namen für Argumentrollen belegt werden (vgl. dazu auch Tabelle 2):

Tabelle 3: Argumentrollen und AC-Kasus

Name Ding Position Wirkung Marker

Initians [+human] [ablativ] [entfaltet] Lokal


Agens [-human] do. do. yú ᯬ

Rezipiens [+human] [adlativ] [erfährt] Lokal


Patiens [-human] do. do. yú ᯬ

Absolutiv [human] [statisch] — Modal


Objektiv [-human] do. — yǐ ԕ

Quelle beliebig [ablativ] — Lokal


Ziel beliebig [adlativ] —
Ort beliebig [statisch] — yú ᯬ

Komitativ [human] abhängig abhängig Modal


Instrument [-human] do. do.
Kausativ beliebig do. do. yǐ ԕ

Im Deutschen führt die ausgeprägte Fähigkeit der Abstraktion wie auch


der Metaphernbildung hingegen dazu, dass gewisse Verben sich auf
Kosten anderer immer weitere Aussagemöglichkeiten erschliessen. Die
dadurch eintretende “Armut” an übersetzerischen Äquivalenten wird
dann zu Unrecht als unverständliche Synonymenvielfalt interpretiert.
Die Rollen bilden aufgrund der Gemeinsamkeiten in den Kolonnen
“Stellung” oder / und “Wirkung” zusammenhängende Gruppen. Die
ersten vier Gruppen umfassen autonome Rollen, d.h. sie können allein in
48 Kapitel 2

Satz oder Äusserung auftreten; in der fünften Gruppe sind Rollen


aufgeführt, die in Abhängigkeit von den Charakteristiken des Verbs z.T.
als autonome Rollen auftreten (wie z.B. als Instrumental in “der
Knopfdruck setzt die Maschine in Bewegung”), z.T. nur dann, wenn
gleichzeitig eine Rolle aus einer autonomen Gruppe realisiert ist.
Nominalausdrücke in dieser letzteren Funktion sowie die echten Prä-
positionalphrasen sind nicht den Argumenten zuzurechnen, sondern den
modalen Modifikationsstrukturen. Dass Kasusmarkierungen übrigens
nicht einfach Argumentrollen voraussetzen, lässt sich mit dem Hinweis
auf den Genitiv oder auf die Wortbildung demonstrieren (Bogen-
schiessen = Schiessen mit dem Bogen, Tontaubenschiessen = Schiessen
auf Tontauben, Knabenschiessen = Schiessen für Knaben).

2.2.6 Argument oder Adverbiale?

Wie aus vielen Beispielen zu ersehen ist, sind die zur Valenz gehörigen
autonomen NE in keinem Fall in einer modifizierenden Funktion anzu-
treffen; m.a.W., nur sie können zum primären (autonomen) Kern einer
nominalen Modifikationskonstruktion werden. Nominalphrasen, die zur
funktionalen Kategorie der Argumente gehören, werden fortan in der
Konstituentenkategorie der Kasusphrasen (KP) zusammengefasst. Nicht
zur Valenz gehören dagegen Modifikationen aller Art, also die adver-
biale Modifikation im Rahmen der Verbalphrase, sowie die “adsenten-
tiellen Adverbialbestimmungen” (der Zeit, des Ortes, der Umstände;
auch Satzadverbien SA genannt). In diesen Fällen sind nämlich das Verb
bzw. der Satz der primäre Kern der Modifikation. Die Zuordnung dieser
Elemente zu einer lexikalischen oder funktionalen Konstituenten-
kategorie wird an entsprechender Stelle zu diskutieren sein (vgl. 6.3 und
7.1.1). Man vergleiche folgende Beispielreihe:

B 25 Er arbeitet im Seminar. (SA; Lokativ)


B 26 Er kam nach Zürich. (NE; Lokativ)
B 27 Er kam eilends ins Seminar. (adverb. Mod.)
B 28 Er litt an Bibliophobie. (NE; Grund)
B 29 Er kam wegen eines Problems. (SA; Grund)
B 30 Er isst Suppe mit der Gabel. (NE; Instrument)
B 31 In Zürich wohnt er im Seminar. (NE; Lokativ)
Einfache Verbalsätze 49

Gilt es die Zugehörigkeit eines Konstituenten zur Valenz festzustellen


bzw. diesem die korrekte Rolle zuzuschreiben, so kann man einerseits
verschiedene Proben benutzen (Weglass-, Ersetzungsproben usw.),
andererseits sich aber eine Reihe von syntaktischen Sachverhalten
zunutze machen (ein Fragezeichen vor einem Beispielsatz symbolisiert,
dass dieser (syntaktisch) ungrammatisch oder semantisch abnorm ist):

1. Auf der Ebene der Valenz kommen nur autonome Konstituentenrollen


vor (Agens, Patiens, Objektiv, Instrument, Ort usw.).

2. Die Koordinationsprobe zeigt, ob gleiche oder verschiedene Argu-


mentrollen bzw. Satztypen vorliegen. So ergibt die Koordination der
Sätze “Er arbeitet in Zürich” UND “Er wohnt in Zürich” den korrekten
koordinierten Satz “Er arbeitet und wohnt in Zürich”, weil die beiden
Lokative kompatible statische Ortsbezeichnungen sind (Argumentrolle:
Ort). Hingegen ergibt die Koordination der Sätze “Er kam nach Zürich”
UND “Er richtete sich nach Zürich” den unkorrekten koordinierten Satz
“?Er kam und richtete sich nach Zürich”, weil die beiden Lokative nicht
kompatibel sind (einerseits die dynamische Argumentrolle Ziel und
andererseits die statische Argumentrolle Ort).

3. Eine bestimmte Rolle kommt als selbständige Konstituente auf der


gleichen Ebene (z.B. Adverbialebene, vgl. Graphik 7) nur einmal vor.
Zum Beispiel: “?Er isst Suppe mit der Gabel UND ohne Mühe.”

4. Die Hierarchie der Ebenen lautet in aufsteigender Reihenfolge:


Adverbialebene, Valenzebene und Satzebene. Wird eine Konstituente
aus der Gruppe der Umstandsbestimmungen auf einer unteren Ebene
realisiert, so kann diese Rolle auch (unter Beachtung der semantischen
Verträglichkeit) auf der höheren Ebene (eventuell: den höheren Ebenen)
alternativ oder gleichzeitig realisiert werden. Zum Beispiel: “Er isst
mühelos Suppe mit der Gabel”, oder: “In Zürich wohnt er im Seminar.”

5. Eine Satzadverbiale SA kann i.w.S. als Paraphrase in ihren jeweiligen


Adverbialsatz transformiert werden, ohne dass der verbale Kern des
Ursprungssatzes wiederaufgenommen werden muss. Das ist zum Bei-
spiel möglich bei “Wenn er im Seminar ist, arbeitet er” (< “er arbeitet im
Seminar”), aber nicht bei “?Wenn er nach Zürich ???, kommt er” (< “er
50 Kapitel 2

kommt nach Zürich”). Vergleiche auch “Ist er in Zürich, wohnt er im


Seminar” und “?Wenn er im Seminar ist, wohnt er”.

Untersuchungen an natürlichen Sprachen haben ergeben, dass Verben in


der Regel nicht mehr als eine Handvoll von Konstituenten auf der Ebene
der Valenz gleichzeitig dominieren können (häufig kaum mehr als drei).
Von diesem Sachverhalt ausgehend sei folgende Subklassifizierung an-
gesetzt, die den tiefenstrukturellen Rahmen angibt:

Tabelle 4: Tiefenstrukturelle Valenz

monovalente Verben mit einer nom. Ergänzung NE V1

divalente Verben mit zwei NE V2

trivalente Verben mit drei NE V3

Da in einer Äusserung – im Gegensatz zum tiefenstrukturellen Konstrukt


‘Satz’ – nicht alle Valenzkonstituenten realisiert sein müssen, sollen zur
Charakterisierung des oberflächenstrukturellen Rahmens von
Äusserungsformen die folgenden Ausdrücke verwendet werden:

Tabelle 5: Oberflächenstrukturelle Komplemente

zerokomplementäre Äusserung mit keiner realisierten NE A0

monokomplementäre Äusserung mit einer realisierten NE A1

dikomplementäre Äusserung mit zwei realisierten NE A2

trikomplementäre Äusserung mit drei realisierten NE A3

Diese terminologische Scheidung der beiden Strukturebenen erlaubt es


uns, beispielsweise von monokomplementären Äusserungen mit einem
divalenten Prädikat zu sprechen (“er kommt”, d.h. mit getilgtem Lokativ;
“die Mín werden regiert”, d.h. mit getilgtem Initians) oder von einer
Einfache Verbalsätze 51

dikomplementären Äusserung mit einem trivalenten Prädikat (“er teilte


die Worte mit”, d.h. mit getilgtem Rezipiens).

2.3 Monovalente Prädikate

Die Valenz erlaubt eine strukturelle Subklassifizierung der Verben. Da-


neben gibt es aber noch weitere Möglichkeiten, so etwa die Subklassi-
fizierung anhand der Zugehörigkeit zu einem spezifischen semantischen
Rollenmuster.

2.3.1 Nicht-steigerbare Eigenschaftsverben

Die monovalenten Eigenschaftsverben gehören zu den Zustandsverben


(vgl. 2.2.4) und entsprechen im Deutschen prädikativen Adjektiven. Sie
beinhalten absolutive Zustandsbeschreibungen und sind daher einerseits
(üblicherweise) nicht steigerbar, andererseits inhärent statisch. Z.B.:

weiss, blind, rund, zwei usw. (nicht steigerbar).

Monovalente Eigenschaftsverben kommen in Sätzen folgender Form


vor:

Graphik 11: Monovalente Eigenschaftsverben

X
‘[ist] rund’
NE
(Absolutiv) Prädikats-
(Objektiv) ausdruck

Zu beachten ist dabei, dass die AC-Eigenschaftsverben (wie im Modern-


chinesischen) eben Verben sind, d.h. sie brauchen für ihre prädizierende
52 Kapitel 2

Funktion – im Gegensatz zum Deutschen – nicht mit einer Kopula


gekennzeichnet zu werden.

B 32 ཙлᒣ Lǐ Jì 43.1; 10.22


tiān-xià píng
Das Reich ist im Gleichgewicht.

Sätze mit monovalenten Eigenschaftsverben eignen sich zur Illustration


wichtiger Differenzierungen: Die nominale Ergänzung X in Graphik 11
ist einerseits von ihrer Kasusrolle her als Absolutiv oder Objektiv (sie tut
nichts, ist also gewiss nicht Initians oder Rezipiens, vgl. Tabelle 3 oben),
andererseits von ihrer Funktion im Satz her als Subjekt zu bezeichnen.
Mit Rücksicht auf diese in allen Sätzen, und zwar unabhängig von der
jeweiligen Valenz des Verbs, existierende syntaktische Funktion einer
der nominalen Ergänzungen (zugegeben sehr häufig des Initians oder
Agens), wird diese der Verbalphrase nicht unter- sondern auf der
gleichen Strukturebene zugeordnet. Ausserdem wird berücksichtigt, dass
es sich um eine funktional definierte nominale Ergänzung handelt,
nämlich um eine Kasusphrase (KP). Schliesslich wird in der Regel
berücksichtigt, dass hier ein Satztyp mit verbalem Prädikatskern vorliegt
(im Gegensatz zu solchen mit einem nominalen Prädikatskern, vgl. 5.1).
Die Differenz wird durch die Subskripte ‘n’ und ‘v’ signalisiert. Die
erste Regel R-1 der AC-Syntax ist somit wie folgt zu formulieren:

(R-1) Sv → KP + VP

Funktional gesehen besteht also jeder Satz – sei er verbal oder nominal
strukturiert – aus einem Subjekt und einem Prädikat, kategorial gesehen
besteht er im Verbalsatz aus einer Kasusphrase KP (Subjekt) und einer
Verbalphrase VP (Prädikat). Dabei wird die Kategorie durch die Begriffe
KP und VP wiedergegeben, während die Funktion durch die strukturelle
Konfiguration festgelegt wird: die KP, welche direkt von S dominiert
wird (also ohne Zwischenstufe von S abgeleitet ist), bildet das Subjekt
des Satzes. Die Termini Kasusphrase und Verbalphrase bezeichnen die
Maximalkonstituenten, die sich um nominale (Nomen; N) oder verbale
(Verb; V) Kerne bilden können (vgl. 1.2.2). Bei der Formulierung von
Regeln wird nach grösstmöglicher Verallgemeinerung getrachtet und
deshalb stets von der höchstmöglichen Hierarchiestufe der beteiligten
Einfache Verbalsätze 53

Konstituentenklassen ausgegangen. Im Gegensatz zum Modell der ersten


Auflage ist die Kategorie NP nicht mehr der erste generierte Knoten (alte
Regel 1B in der Zusammenfassung auf S. 321), der dann zu einer
kasusmarkierten NP erweitert wird (alte Regel 4B). Damit wird einerseits
verhindert, dass Nominalphrasen NP im Laufe einer Ableitung mehrmals
und in ungrammatischer Weise Kasusmarkierungen K aufnehmen kön-
nen, andererseits zum Ausdruck gebracht, dass Nominalphrase als Kno-
ten eine lexikalische Kategorie darstellt, die in verschiedenen Funktionen
und an verschiedenen Stellen der Ableitung sowie mehrfach auftreten
kann, während Kasusphrase der funktionalen Kategorie von Knoten
zuzurechnen ist, die nur an bestimmten Stellen und meist nur ein Mal in
einer bestimmten Funktion auftreten darf.
Da eine Kasusphrase tiefenstrukturell zwingend kasusmarkiert,
diese Markierung K beim Subjekt aber typischerweise oberflächen-
strukturell getilgt ist, ist eine zweite Regel zu formulieren (die weitere
Ableitung von VP wird in 2.4.1 vorgenommen):

(R-2) KP → K + NP

Die Regel R-1 hat in der philologischen Arbeit eine textanalytisch


äusserst gewichtige Konsequenz: Auch wenn in einer Äusserung kein
Subjektsausdruck realisiert sein sollte (und dies ist im AC sehr häufig der
Fall!), so ist stets im Interesse eines einwandfreien Verständnisses und
einer präzisen Übersetzung (das Deutsche verlangt in nicht-abhängigen
Sätzen immer einen Subjektsausdruck) die zugrundeliegende Subjekts-
kasusphrase zu rekonstruieren. Die strukturelle Berechtigung der Regel
(R-2) wird sich bei der Behandlung von Passivstrukturen in 2.4.3 (bei
Strukturbaum 10) aufweisen lassen.
Bei mit monovalenten Prädikaten gebildeten Sätzen können die
Tiefenstrukturen mit einer geringfügigen Veränderung (Transformation,
d.h. Tilgung des Kasusmarkers K) in Oberflächenstrukturen übergeführt
werden. Die Strukturbäume weisen also folgende Form auf (illustriert
anhand von Beispiel B 32):
54 Kapitel 2

Strukturbaum 2

Sv
KP VP
K NP

ø
tian-xià píng
das Reich ist im Gleichgewicht

Ein wichtiger Unterschied zum Deutschen ist hier zu vermerken:


Während im Deutschen die Gruppe der nichtsteigerbaren prädikativen
Adjektive sehr klein ist (und – Werbung sei Dank! – stets kleiner wird),
umfasst diese Subklasse im AC alle Eigenschaftsverben mit Ausnahme
jener, die sozusagen objektiv messbare relative Quantifizierung be-
zeichnen (z.B. Grösse, Gewicht, Eignung, Ausdehnung, Entfernung).
Das bedeutet, dass die meisten Eigenschaftsverben im AC eine absolutive
Bedeutung haben. Wenn z.B. jemand als “tüchtig” prädiziert wird, so ist
dies offenbar nur möglich, wenn er die Bedingungen genau erfüllt. Sind
sie sozusagen übererfüllt, so gilt er nicht als “tüchtiger”, sondern
vielleicht als “weise” usw. Dies schliesst nicht aus, dass Vergleiche an-
gestellt werden können, aber diese Vergleiche scheinen eher einen kate-
gorialen denn einen quantitativen Charakter zu haben: wenn es also z.B.
im Lùn Yǔ 19.23 heisst ᆀ䋒䌒ᯬԢቬ zǐ-Gòng xián yú zhòng-Ní, so
bedeutet diese nicht, dass zǐ-Gòng “tüchtiger” als Konfuzius ist, sondern
dass er im Vergleich mit Konfuzius “ein Tüchtiger” ist, während
Konfuzius selber bekanntlich “ein Weiser” ist (zumindest in Kontexten
vor der Hàn-Zeit).
Dieser Sachverhalt lässt sich geistesgeschichtlich z.B. an der “Ta-
belle bedeutender Personen des Altertums und der Gegenwart” (Gǔ Jīn
Rén Biǎo ਔӺӪ㺘, Hàn Shū ╒ᴨ Kap. 20) ablesen: Die oberste
Kategorie (shàng shàng кк) der insgesamt neun Kategorien wird
zusätzlich mit dem Prädikat shèng rén 㚆Ӫ “weise Persönlichkeit”
versehen (in diese Kategorie gehört z.B. Junker Kǒng bzw. Konfuzius
ᆄᆀ). Die nächste Kategorie (shàng zhōng кѝ) ist den rén rén ӱӪ,
den “rén-konformen Persönlichkeiten” reserviert (dazu gehört u.a.
Menzius ᆏᆀ), während die letzte, neunte Kategorie (xià xià лл) den
Einfache Verbalsätze 55

“törichten Persönlichkeiten” vorbehalten ist, den yú rén ᝊӪ. In einem


engeren Sinne sprachlich lässt sich der gleiche Sachverhalt sehr schön an
einer Reihe von Eigenschaftsverben illustrieren, die Altersstufen
bezeichnen. Wenn man die möglichen Nominalkomposita (z.B. qí lǎo
㘶㘱) ausschliesst, gibt es in den Texten vor der Hàn-Zeit offenbar
keinen generellen Ausdruck für ‘alt’, sondern nur Bezeichnungen für
verschiedene Alter. Die in Text 7, d.i. Lǐ Jì ⿞䁈 1.8, figurierende Reihe
scheint dafür kennzeichnend zu sein. Aus dieser seien drei Beispiele
entnommen:

㢮 aì ‘X ist zwischen 50 und 60 Jahre alt’


㘶 qí ‘X ist zwischen 60 und 70 Jahre alt’
㘱 lǎo ‘X ist zwischen 70 und 80 Jahre alt’

Aus diesem kurzen Ausschnitt aus der Reihe der Altersprädikate leuchtet
es unmittelbar ein, warum viele Eigenschaftsverben nicht gesteigert
werden können: Wenn man “älter” ist als 60 bis 70 (qì 㘶), so tritt man
eben zur Kategorie der 70- bis 80jährigen über (lǎo 㘱). Das Verhalten
dieser antikchinesischer Prädikate steht somit auch weitgehend im
Gegensatz zu Tendenzen, die sich möglicherweise ab der Hàn-Zeit
entwickeln; im Modernchinesischen finden wir dann lǎo 㘱 als generelle
Bezeichnung für ‘alt’ (ein Rest des antiken Gebrauchs findet sich aller-
dings möglicherweise in der Praxis, bedeutende ältere Personen mit
Familiennamen und Zusatz lǎo 㘱, also z.B. Guō lǎo 䜝㘱, zu bezeich-
nen – im Gegensatz zum familiären lǎo Guō 㘱䜝 Benennungspraxis!).
Da es noch eine weitere Gruppe von Verben gibt, die monovalent
sind, braucht die Gruppe der Eigenschaftsverben im Lexikoneintrag über
die Valenznummer hinaus noch ein weiteres Subklassifizierungsmerk-
mal. Da die fehlende Steigerbarkeit ein wichtiges Merkmal darstellt, soll
das Merkmal [komp], in Worten: ohne Komparativ, benutzt werden. Der
Lexikoneintrag lautet also wie folgt:

㘱 lǎo: V1 [-komp];
X-ABSOLUTIV ist zwischen 70 und 80 Jahre alt

ᒣ píng: V1 [-komp];
X-OBJEKTIV ist im Gleichgewicht
56 Kapitel 2

2.3.2 Monovalente Denominalverben

Soweit die jeweilige Bedeutung es zulässt, können Tätigkeitsverben aus


Nomina abgeleitet werden. Ist dies der Fall, so liegt nicht etwa
irgendeine schwammige klassifikatorische Mischform vor (z.B. Verben-
Nomina-usw., die ihre Klasse wechseln oder wie Mitglieder einer
anderen Klasse fungieren). Vielmehr handelt es sich um Homographe,
die ihrer Funktion entsprechend entweder den Verben oder aber den
Nomina zuzuweisen sind. Mit den hier zu diskutierenden sogenannten
Denominalverben (d.h. von einem Nomen abgeleitete Tätigkeitsverben)
sind Nomina verwandt, die eine gesellschaftliche Funktion oder einen
Beruf bezeichnen (z.B. König, Herr, Lehnsmann, Handwerker, Vater
usw.; kurz: sogenannte Nomina agentis). Zu jeder dieser Funktionen gibt
es Normverhaltensweisen; hält der Inhaber einer solchen Funktion sich
an diese Verhaltensweisen, so kann er als Muster für sie gelten und so
trifft der Gebrauch dieses Nomens in seinem Fall zu. Die Aussage, dass
er sich so verhält, kann nun mit Hilfe des entsprechenden homographen
monovalenten Denominalverbs zum Ausdruck gebracht werden. Solchen
Verben liegt folgende allgemeine Bedeutung zugrunde:

‘sich echt in der Art und Weise des mit dem zugrundeliegenden
Nomen Bezeichneten benehmen oder verhalten’; ‘ein (r)echter X
sein’.

Auf diese Weise entstehen beispielsweise die folgenden homographen


Verben (der Pfeil signalisiert die Derivation):

ੋ jūn N: ‘Lehnsherr’ (auch: ‘Fürst [eines Lehens]’)


→ ੋ jūn V1: ‘sich wie ein (echter) Lehnsherr verhalten’

㠓 chén N: ‘Lehnsmann’ (auch: ‘Ministerial’)


→ 㠓 chén V1: ‘sich wie ein (echter) Lehnsmann benehmen’

⡦ fù N: ‘Vater’
→ ⡦ fù V1: ‘sich (wirklich) wie ein Vater benehmen’

ᆀ zǐ N: ‘Sohn’
→ ᆀ zì V1: ‘sich (wirklich) wie ein Sohn benehmen’
Einfache Verbalsätze 57

Ein sehr bekanntes Beispiel für die Existenz derartiger Derivationen ist
das folgende (an derselben Stelle kommen auch negierte Äusserungen
mit diesen Prädikaten vor, womit die Zugehörigkeit zur Wortklasse der
Verben voll bestätigt ist):

B 33 ੋੋ㠓㠓⡦⡦ᆀᆀ Lùn Yǔ 12.11; 1.2


jūn jūn chén chén fù fù zǐ zì
Der Lehnsherr sei echter Lehnsherr, der Lehnsmann echter
Lehnsmann, der Vater echter Vater und der Sohn echter Sohn.

Wie das letzte Paar des Beispiels zeigt, sind solche homographen Deri-
vationen im AC gelegentlich durch denominale *-s-Suffigierung markiert
worden (vgl. Kap. 10.3), welche, nach Entstehung der Tondistinktionen,
in einigen seltenen Fällen bis ins Neuchinesische fortlebt, während
ansonsten mittelchinesische Lautwandelprozesse die äussere Markierung
der Derivation getilgt haben. Vgl. z.B.

⦻ wáng < AC *waŋ N: ‘König’ (vgl. auch Anhang A.)


→ ⦻ wàng < AC *waŋ-s V1: ‘sich wie ein (echter) König beneh-
men’

䗏 bì < AC *N-pek N: ‘Modell, Autorität’


→ 䗏 bì < AC *N-pek-s V1: ‘sich wie ein Modell / eine Autorität
verhalten’

Dieser Umstand ist wiederum ein wichtiger Hinweis auf das Vorliegen
verschiedener Wortklassen. In wenigen, wichtigen Fällen haben sich
sogar noch differenzierende Schriftzeichen entwickelt, so bei:

Ӫ rén N: ‘Mensch / Rén’


→ ӱ rén V1: ‘sich wie ein Mensch / Rén verhalten’; ‘rén-konform
sein’

Allerdings handelt es sich bei dieser weder im Mittel- noch im Antik-


chinesischen morphologisch markierten Derivation wohl um eine späte
Analogieerscheinung auf der Grundlage des oben beschriebenen Bil-
dungsmusters. Sie konnte nämlich erst dann synchron als Derivation
wahrgenommen werden, als die etymologisch durchaus distinkten Wur-
58 Kapitel 2

zeln AC *nin > rén Ӫ und *niŋ > rén ӱ durch diachrone Lautwandel-
prozesse phonetisch zusammengefallen waren. Die in zhànguó-zeitlichen
Grabtexten vielfach belegten Schreibweisen der Bedeutung ‘sich wie ein
Mensch verhalten’ durch Kombination der Phonophore shēn 䓛 < AC
*hniŋ oder qiān ॳ < AC *s-(h)nniŋ mit dem Determinativum ‘Herz /
Verstand’ xīn ᗳ < AC *səm wurden dementsprechend sukzessive zu-
gunsten von ӱ aufgegeben.

Monovalente Denominalverben kommen in Sätzen so vor:

Graphik 12: Monovalente Denominalverben

X
‘[ist] ein [echter] x’
NE
(Absolutiv) Prädikatsausdruck

Zur Ableitung solcher Sätze genügt das bisherige Regelwerk. Es ent-


stehen also analoge Strukturbäume wie bei den monovalenten Eigen-
schaftsverben. Das Beispiel ist Teilstück aus Beispiel B 33 oben:

Strukturbaum 3

Sv
KP VP
K NP

ø
chén chén
der Lehensmann sei ein Lehensmann

Um diese Gruppe gegenüber den monovalenten Eigenschaftsverben ab-


zugrenzen, muss wiederum im Lexikoneintrag über die Valenznummer
hinaus ein semantisches Klassifizierungsmerkmal beigegeben werden.
Da das Derivationsverhältnis zu den Nomina agentis ein differenzie-
Einfache Verbalsätze 59

rendes Merkmal darstellt, soll das Merkmal [denom], in Worten:


denominal, d.h. von einem Nomen deriviert, benutzt werden. Der
Lexikoneintrag lautet also wie folgt:

ੋ jūn: V1 [denom];
X-ABSOLUTIV verhält sich wie ein (echter) Lehnsherr

Eine Sondergruppe im Rahmen der monovalenten Denominalverben


stellen die sog. Witterungsverben dar, Verben also, die Witterungs-
erscheinungen zum Ausdruck bringen. Obwohl diese Ereignisverben aus
semantischen Gründen beinahe ausschliesslich ohne vollausgebildet
referentiellen Subjektsausdruck realisiert werden (wie dies im Deutschen
ja auch üblich ist: “es regnet”), sind Subjektsausdrücke nicht nur vor-
stellbar, sondern werden auch nötigenfalls realisiert (“der Himmel
regnet”, z.B. in Shǐ Jì 105), weshalb die vielfach in Grammatiken ange-
stellten Spekulationen über das “Wirken unpersönlicher, irrationaler oder
mythischer Kräfte” (DUDEN-GRAMMATIK, 4. Aufl. 1984, Bd. IV, §1005)
in solchen Konstruktionen kaum hilfreich sind. Von der Kasusrolle her
lassen sich diese Subjektsausdrücke als Agens verstehen (vgl. Tabelle 3
oben), wobei diese Rolle im Gegensatz zum Absolutiv bei den oben
dargestellten Denominalverben stehen. Das häufige Fehlen des Subjekts-
ausdrucks ist darauf zurückzuführen, dass dieser im entsprechenden
Prädikat inhärent vorhanden ist (es ist offensichtlich, dass eben “der
Regen regnet”). Es handelt sich also nicht um eine zerovalente
Verbklasse. Dass ein Derivationsverhältnis vorliegt, illustriert mit der
Tonänderung das folgende Schema:

䴘 yǔ < AC *w(r)a-q N: ‘Regen’


→ 䴘 yù < AC *w(r)a-s V1: (den Regen machen); ‘regnen’

Das folgende negierte Beispiel zeigt deutlich die Zugehörigkeit zur


Wortklasse der Verben:

B 34 н䴘 Zhuāng 31.6 CQ
bù yù
Es regnet nicht.
60 Kapitel 2

Die Strukturbäume mit Witterungsverben als Kern bestätigen eine wich-


tige Erscheinung, die bereits bei der Kasusmarkierung der Subjekts-
kasusphrase zu sehen war, nämlich das Phänomen der leeren Knoten,
welches hier nicht durch eine Tilgung zustande kommt, sondern durch
das schlichte Fehlen eines referenziellen Ausdrucks (der Sprecher findet
es nicht nötig, diesen zu spezifizieren – was im Deutschen mit ‘es’ mar-
kiert wird). Die Subjektskasusphrase ist in diesem Falle leer, wodurch
oberflächenstrukturell eine aus dem blossen Verb bzw. der Verbalphrase
bestehende minimale Äusserungsform entsteht (vgl. das eben angeführte
negierte Beispiel aus Zhuāng 31.6 CQ):

Strukturbaum 4

Sv
KP VP
K NP

ø ø

es regnet

Der Lexikoneintrag für Witterungsverben lautet demnach wie folgt:

䴘 yù: V1 [denom];
X-AGENS regnet

2.3.3 Monovalente Modalverben

Da die Modalverben z.T. Konstruktionen mit Teilsätzen voraussetzen


(Subjekt- und Objektsätze) wird deren ausführliche Erörterung ander-
wärts erfolgen (vgl. 4.2.3). Ein Beispiel mit dem Modalverb kě ਟ
‘zulässig sein’, ‘erlaubt sein’:

B 35 ਟнᮜѾ Chéng 4.5 Zuǒ


kě bù jìng hū
Ist (es) zulässig, dass (er sie) nicht ehrt?
Einfache Verbalsätze 61

2.3.4 Monovalente Adverbialverben

Eine eigentümliche Gruppe von Prädikaten besteht aus zwei Elementen:


einer Zahlangabe und einer temporalen Mengeneinheit (z.B. Tag, Jahr;
vgl. Beispiel B 14 oben). Da sie einerseits verschiedene andere Kon-
struktionen voraussetzen, andererseits mit adverbialen Bestimmungen
verwandt sind, werden sie ausführlicher in 6.5 behandelt.

B 36 н伏йᰕ⸓ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.53


bù=shí sān rì yǐ
Ich habe seit drei Tagen nicht mehr gegessen (wörtlich: Das
Nicht-essen hat schon drei Tage gedauert)

Von diesem einzelnen Beispiel ausgehend könnte man versucht sein,


solche Zahl+ Mass-Ausdrücke als NP-Objekte “der Ausdehnung” zu
analysieren (vgl. im Latein die Akkusative der Zeitstrecke “puella decem
annos nata est” “das Mädchen ist zehn Jahre alt”). Damit wäre aber ein
Beleg vom Typ der Äusserung 11.17, wo bā=nián ‫ޛ‬ᒤ “acht Jahre
dauern” klar prädikativ ist, nicht abgedeckt.

2.4 Divalente Prädikate

2.4.1 Divalente Eigenschaftsverben

Die Klasse der Eigenschaftsverben umfasst zwei Unterklassen: Die


bereits behandelten nicht steigerbaren monovalenten Verben (2.3.1) und
die hier zur Diskussion stehenden steigerbaren divalenten Verben. In der
ersten Klasse enthält die Bedeutung ein absolutives (entweder / oder)
Element, welches den Vergleich ausschliesst (oder aber ihm eine beson-
dere stilistische oder metaphorische Wirkung verleiht), in der zweiten
Klasse wird dagegen von der Bedeutung her stets eine Vergleichsnorm
impliziert, die relativ zum Referenzbereich anzusetzen ist. So heisst “der
Zug ist lang”, dass der Zug im Vergleich zur üblichen Länge von Zügen
“lang” ist; “der Bleistift ist lang” bezieht sich auf die mittlere Länge von
Bleistiften, die wohl nie die Länge von Zügen – auch nicht von ganz
62 Kapitel 2

kurzen – erreichen; usw. Wie schon in 2.3.1 erwähnt, ist diese Klasse im
AC (sofern dies eben die uns zur Verfügung stehenden Texte suggerie-
ren) auf verhältnismässig wenige Mitglieder beschränkt. Es handelt sich
da ausschliesslich um Prädikate, die allgemeine quantifizierbare Aspekte
materieller Dinge betreffen, also Grösse, Ausdehnung, Gewicht, Eig-
nung, zeitliche Abfolge. Man vergleiche:

gross, lang, leicht usw. (steigerbar)


blind, rund, abwesend usw. (nicht steigerbar)

Nur steigerbare Eigenschaftsverben, die übrigens ebenfalls statisch sind,


bilden deshalb eine Komparativkonstruktion. Aus der Sicht der Gram-
matik sind diese Verben aber nicht eine einheitliche lexikalische Klasse,
sondern in eine (nicht zu steigernde) monovalente und eine (zu steigern-
de) divalente Gruppe aufzuteilen, d.h. die Differenz zwischen diesen
beiden kann nicht als eine simple Frage der Komplementarität (vgl.
Tabelle 5, S. 50) behandelt werden. Die Verben sind also nicht inein-
ander überführbar, denn auch im Deutschen bleiben die monokomple-
mentären Äusserungsformen differenziert (‘x ist lang’ entsteht nicht aus
der “Kürzung” von ‘x ist länger als y’ – daraus entsteht nämlich ‘x ist
länger’ – mit getilgtem Vergleichsausdruck). Diese Verben werden aus
diesem Grund von der Theorie her konsequent entweder als V1 oder als
V2 gekennzeichnet. Als charakteristisches Klassifizierungsmerkmal soll
[+komp], in Worten: Komparativ möglich, eingeführt werden. Die
Komparativkonstruktion wird mit der folgenden Kasusmarkierung (ab-
gekürzt: K) gebildet:

ᯬ yú: ‘V[-er] ALS’

Divalente Eigenschaftsverben kommen in Sätzen so wie in Graphik 13


vor:
Einfache Verbalsätze 63

Graphik 13: Divalente Eigenschaftsverben

NE
(Absolutiv)
(Objektiv) ‘[ist] gross im Vergl. zu’

Prädikatsausdruck
Y

NE
(Ort)

Man vergleiche die folgenden Beispiele:

B 37 㺋ሿ啺བྷ Zhuāng 28.1 Gǔ


Wèi xiǎo, Qí dà
Wèi ist klein, Qí ist gross. (Monovalente Verben)

B 38 㖚㧛བྷ✹ Zhuāng 19 fù 1 Zuǒ


zuì mò dà yān (Auflösung der Fusionsform yān in 8.3)
Kein Vergehen ist grösser als dieses. (Divalentes Verb)

Die Zuweisung der Kasusrollen erfolgt einerseits in Übereinstimmung zu


den monovalenten Eigenschaftsverben, andererseits aus der Überlegung
heraus, dass der Vergleich ein lokaler Vorgang ist (die zu vergleichen-
den Dinge oder Sachverhalte werden tatsächlich, über Messwerte oder
zumindest mental nebeneinander gehalten). Zur Ableitung solcher
Strukturen sind Regelerweiterungen notwendig. Und zwar betreffen
diese die Ableitung von Argumenten des Verbs, die nicht Subjekt sind
(s. R-1), wobei hier durch Setzung von zwei fakultativen (geklammerten)
KP-Knoten sowohl Ableitungen mit V1- wie auch mit V2- oder V3-
Prädikaten berücksichtigt sind. Dies führt zu folgenden Regeln (bei
Klammerungen wird das Pluszeichen zwischen den Konstituten
weggelassen):
64 Kapitel 2

(R-3) VP → V (KP) (KP)

Die Regeln R-1 bis R-3 generieren nun auch Strukturbäume des
folgenden Typs – als Beleg vgl. man das folgende Beispiel:

B 39 ੋᇼᯬᆓ∿㘼བྷᯬ冟഻ Dìng 9 fù 3 Zuǒ


jūn fù yú Jì shì ér dà yú Lǔ guó
Ihr seid reicher als der Herr der Jì-Stamms, und (Qí) ist grösser
als Lǔ.

Strukturbaum 5

Sv
KP VP
K NP V KP
K NP

ø
Qí dà yú Lu
Qi ist grösser als Lu

Wo die Vergleichsnorm unerwähnt bleibt, d.h. tiefenstrukturell im-


pliziert, aber oberflächenstrukturell nicht geäussert bzw. getilgt wird,
trifft man wieder auf leere Knoten. Da diese Struktur im AC oberflächen-
strukturell identisch mit der Struktur mit einem monovalenten Kern (vgl.
Strukturbaum 2) ist und daher – im Gegensatz zum Deutschen, wo die
Verbform nicht zu ‘lang’ wird, sondern ‘länger’ bleibt – nicht sicher
differenziert werden kann (vgl. B 37), ist davon auszugehen, dass sie
doch sehr selten anzutreffen ist:
Einfache Verbalsätze 65

Strukturbaum 6

Sv
KP VP
K NP V KP
K NP

ø ø ø
Qí dà
Qi ist grösser

Der Lexikoneintrag der steigerbaren Eigenschaftsverben lautet schliess-


lich:

བྷ dà: V2 [komp];
X-ABSOLUTIV ist gross (grösser als Y-ORT)
X-OBJEKTIV ist gross (grösser als Y-ORT)

2.4.2 Divalente Lokativverben

Die Lokativverben bilden zwei Subklassen. Die syntaktische Struktur der


beiden Subklassen ist identisch, nicht aber die Kasusrolle der Subjekts-
kasusphrase:

2.4.2.1 Die statischen Verben der Stellung


Zum Beispiel:

B 40 ⦻・ᯬ⋬к Mèng 1A.2


wáng lì yú zhǎo shàng (statisch)
Der König stand am Ufer des Fischteichs.
66 Kapitel 2

Graphik 14: Verben der Stellung

NE
(Absolutiv)
(Objektiv) ‘steht in / auf / bei’

Prädikatsausdruck
Y

NE
(Ort)

2.4.2.2 Die dynamischen Verben der Bewegung


Zum Beispiel:

B 41 㠓࿻㠣ᯬຳ Mèng 1B.2


chén shǐ zhì yú jìng (dynamisch)
Euer Chén/Ministerial kam erstmals an die Grenzen.

Graphik 15: Verben der Bewegung

NE
(Absolutiv)
(Objektiv) ‘kommt nach / zu’

Prädikatsausdruck
Y

NE
(Ort)
Einfache Verbalsätze 67

Das in vielen Fällen explizit mit der präpositionsartigen Lokativmar-


kierung

ᯬ yú oder der Variante Ҿ yú

eingeleitete Lokativobjekt (beide fallweise zu übersetzen mit: ‘in / auf /


bei / …; nach / zu / hin / her / …’) ist je nach der Handlungs- bzw.
Zustandsorientiertheit des Verbs statisch (d.i. lokal als Ort) oder dyna-
misch (d.i. ablativ ‘weg von’ als Quelle oder allativ ‘auf zu’ als Ziel) zu
interpretieren. Diese bedeutungsmässige Abhängigkeit vom verwendeten
Verb ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass diese Elemente nicht
Präpositionen im eigentlichen Sinne sind, sondern nur der Herkunft nach
präpositional, funktional jedoch klar der Kategorie der Kasusmarkie-
rungen zuzurechnen sind.
Lokalisierungen geschehen im Rahmen eines gegebenen oder für
den jeweiligen Fall festzulegenden Koordinatennetzes (das zwei oder
drei Dimensionen umfasst). Während im Deutschen die Kombinationen
mehrerer Dimensionen durch Wahl passender Präpositionalzusammen-
setzungen ausgedrückt werden können (z.B.: er kommt vom Berg her –
er kommt vom Berg herab), muss im AC (wie im Modernchinesischen)
das Lokativobjekt genauer “lokalisiert” werden, und zwar (a) bei der
Argumentrolle Ort durch eine nominale und (b) bei den Argumentrollen
Quelle bzw. Ziel durch eine verbale Konstruktion.
Die nominale Konstruktion besteht darin, den Lokativ in der Form
einer Genitivkonstruktion (vgl. Kapitel 3) z.B. mit den generellen Kenn-
zeichnungen shàng к ‘Oberteil’ und xià л ‘Unterteil’ näher zu
bestimmen. Auf diese Weise wird etwa differenziert, ob der König in
Beispiel B 40 ‘im’ oder ‘beim’ Teich steht.
Die verbale Konstruktion besteht in der Bildung von Verbserien mit
den Verben lái ֶ ‘kommen’ oder qù ৫ ‘gehen’ (vgl. die analog wir-
kenden, aber postverbal positionierten Richtungszusätze im Modern-
chinesischen).

B 42 ⴋ՟྄ֶ Wén 12.1 CQ


Chéng bó lái bēn
Der Graf von Chéng floh nach Lǔ (wörtlich: er kam nach [Lǔ]
und suchte [da] Zuflucht. Oder final: …, um [da] Zuflucht zu
suchen).
68 Kapitel 2

B 43 ⦻֯ਜ՟ֶᴳ㪜 Wén 5.3 CQ


wáng shì Shào bó lái huì zàng
Der Gesandte des Königs, der Graf von Shào, nahm in [Lǔ] an
der Bestattung teil (wörtlich: er kam nach [Lǔ], um an der
Bestattung teilzunehmen).

Die Regeln, welche die Setzung der Kasusmarkierungen steuern, sind


weitgehend unbekannt, dürften aber mit dem Bedürfnis nach
Disambiguierung (z.B. zwischen Lokativ und direktem Objekt), mit der
Funktionsdifferenz von Kasusmarkierung und Präposition, mit stilisti-
schen Erwägungen (z.B. Emphase, Phrasenprosodie, Satzrhythmus usw.)
oder phonologischen Erscheinungen (Assimilationsmeidung, Hiatus-
kontrolle usw.) im Zusammenhang stehen. Wenn z.B. bei Lokativverben
von der Bedeutung her schon inhärent lokativisch zu interpretierende
Objekte (etwa Ortsnamen) geäussert werden, so können sie nicht nur
ohne die Kasusmarkierung realisiert sein, sondern auch mit dieser. Man
vergleiche:

B 44 ᱄㘵ཚ⦻ት䛐 Mèng 1B.15; 14.4


xī zhě Tài wáng jū Bīn
In der Vergangenheit wohnte der Tài-König in [der Stadt] Bīn /
bewohnte Bīn.

B 45 ֯‫ޜ‬ᆀ俞ࠪትᯬ䝝 Yǐn 3.5 Zuǒ


shǐ gōng-zǐ Píng chū jū yú Zhèng
Er veranlasste, dass der Patriarchensohn Píng [das Land] verliess
und Wohnsitz in Zhèng nahm.

Es ist – wie in den Übersetzungsvarianten von B 44 angedeutet – mög-


lich, dass es sich bei der Realisierung der Kennzeichnung auch um eine
Differenzierung ähnlich dem Deutschen “er trat ein in das Haus” ↔ “er
betrat das Haus” handeln könnte. Die Regeln genügen um Strukturen mit
lokativen Prädikatsausdrücken abzuleiten (illustriert mit dem verein-
fachten Beispiel B 41):
Einfache Verbalsätze 69

Strukturbaum 7

Sv
KP VP
K NP V KP
K NP

ø
chén zhì yú jìng
Euer Chen kam an die Grenze

Man beachte die strukturelle Identität dieser Ableitung mit derjenigen in


Strukturbaum 5, die jedoch durch das Wissen um die Subkategorisierung
der Verben differenzierbar ist. Wesentlich häufiger ist jedoch, dass die
Lokativverben in der monokomplementären Äusserungsform ohne Loka-
tivbestimmung realisiert werden, wie im folgenden Beispiel B 46:

Strukturbaum 8

Sv
KP VP
K NP V KP
K NP

ø ø ø
gong zhì
der Patriarch kam

B 46 ‫ޜ‬㠣 Xī 17.4 Zuǒ


gōng zhì
Der Patriarch kam an.
70 Kapitel 2

Der Lexikoneintrag der bisher behandelten divalenten Lokativverben


lautet schliesslich mit der statischen bzw. dynamischen Subklassifi-
zierung:

ት jū: V2 [lok.stat];
X-ABSOLUTIV wohnt in Y-ORT

ֶ lái: V2 [lok.dyn];
X-ABSOLUTIV kommt her nach Y-ZIEL

2.4.2.3 Die statischen Verben der Existenz


Den Lokativverben gehören zwei sehr wichtige Verben an: das statische
Existenzverb

ᴹ yǒu in Z-ORT ist Y-OBJEKTIV vorhanden

und um das komplementäre Privativverb

❑ wú in Z-ORT ist Y-OBJEKTIV nicht vorhanden.

Diese divalenten Verben bringen die Vorstellung von Besitz und fehlen-
dem Besitz bzw. Existenz und Nichtexistenz zum Ausdruck. Darin ent-
sprechen sie den Deutschen Verben ‘haben’ bzw. ‘nicht haben’, welche
dialektal bzw. substandardsprachlich ebenfalls über diese beiden Bedeu-
tungskomponenten verfügen (‘es hat Bücher auf dem Tisch’ vs. ‘er hat
Bücher’). Einige typische Beispiele:

B 47 ኡᴹᵘ Yǐn 11.1 Zuǒ


shān yǒu mù
In den Bergen gibt es Bäume.

B 48 ᓆᴹ㛕㚹ᓴᴹ㛕俜≁ᴹ伒㢢 Mèng 1A.4


páo yǒu féi ròu, jiù yǒu féi mǎ, mín yǒu jī sè
Die Köche haben fettes Fleisch, in den Stallungen gibt es fette
Pferde, die Mín haben ein hungriges Aussehen […].
Einfache Verbalsätze 71

B 49 ᱹᾊ❑ؑ Xuān 11.2 Zuǒ


Jìn Chǔ wú xìn
Zwischen Jìn und Chǔ gibt es kein Vertrauen.

B 50 Ԣቬѻᗂ❑䚃ẃ᮷ѻһ㘵 Mèng 1A.7


zhòng-Ní zhī tú wú dǎo Huán, Wén zhī shì zhě
Unter den Gefolgsleuten des medius-Ní (= Konfuzius) gab es
nicht einen, der das Dienstverhalten des Huán-Patriarchen von
Qí oder des Wén-Patriarchen von Jìn für den richtigen Weg hielt.

Typisch für die dikomplementäre Äusserungsform ist, dass der Lokativ


nicht post-verbal, sondern präverbal, d.h. als Subjekt realisiert wird:

Graphik 16: Existenzverben (dikomplementär)

NE
(Ort)
‘in / auf / bei x hat es’

Y Prädikatsausdruck

NE
(Absolutiv)
(Objektiv)

Das bisherige Regelwerk ist in der Lage, solche Strukturen zu gene-


rieren:
72 Kapitel 2

Strukturbaum 9

KP VP

K NP V KP

K NP

ø ø
tian-xià you dào
im Reich gibt es Führen

Die Kasusmarkierung yú ᯬ, die regulär den postverbalen Lokativ ein-


leitet, wird satzinitial unterschiedlich realisiert: bei Lokativen, welche
die Funktion von Subjekten haben und in der syntaktisch gesehen regu-
lären Position sind, ist sie getilgt; bei Lokativen, die zur Emphase aus
der postverbalen Position heraus an den Satzanfang verschoben worden
sind, kann sie erscheinen (dies gilt auch für andere Kasusmarkierungen
in dieser Position). Die lokative Rolle der Subjektskasusphrase, die als
die ursprünglichere anzusehen ist, mag sowohl die lokative wie die
possessive Bedeutung erklären: Wenn etwas habituell oder wohler-
worben bei jemanden ist, so geht es in seinen Besitz oder Eigentum über.
Die Differenz kann aber auch mit einer Differenzierung der Rollen-
bezeichnung signalisiert werden: ORT (Lokativ) oder INITIANS (Besitz).
Der Lexikoneintrag erhält zur Subklassifizierung das Merkmal [lok]:

ᴹ yǒu: V2 [lok];
in X-ORT gibt es Y-OBJEKTIV / ABSOLUTIV
X-INITIANS hat Y-OBJEKTIV / ABSOLUTIV

❑ wú: V2 [lok];
in X-ORT gibt es Y-OBJEKTIV / ABSOLUTIV nicht
X-INITIANS hat nicht Y-OBJEKTIV / ABSOLUTIV
Einfache Verbalsätze 73

2.4.3 Divalente transitive Verben

Diese sozusagen klassische Form der dikomplementären Aussage (be-


kannt unter der traditionellen Bezeichnung: transitiver Satz / transitive
Äusserung) hat als Prädikatskern ein divalentes transitives Verb, d.h. die
Rollen der beiden nominalen Ergänzungen sind Initians / Agens und
Rezipiens / Patiens.

Graphik 17: Transitive Verben

NE
(Initians)
(Agens) ‘ordnet’

Prädikatsausdruck
Y

NE
(Rezipiens)
(Patiens)

Zum Beispiel:

B 51 ऎᗳ㘵⋫Ӫ Mèng 3A.4


láo xīn zhě chí rén
Diejenigen, welche die geistigen Kräfte abmühen, ordnen die
Menschen.

B 52 ᭵ᴠ഻Ӫ⇪ѻҏ Mèng 1B.7


gù yuē: guó rén shā zhī yě
Darum heisst es: Die Persönlichkeiten des Fürstentums sind die,
die ihn getötet haben.
74 Kapitel 2

B 53 ऎ࣋㘵⋫ᯬӪ Mèng 3A.4


láo lì zhě zhì yú rén
Diejenigen, welche die körperlichen Kräfte abmühen, werden
von Persönlichkeiten geordnet.

B 54 ᯬᱟᆻ⋫ Xī 9 fù 3 Zuǒ
yú shì Sòng zhì
Daraufhin war das Fürstentum Sòng geordnet. (Die satzinitiale
Präposition gehört zum Satzlokativ.)

Das bisherige Regelwerk ist ohne weiteres in der Lage, solche Strukturen
zu generieren. Mit Blick auf den Vorgang der Passivierung (d.i. eine
Transformation; s. unten S. 76 und Graphik 18) lässt sich nun die bei der
Formulierung von Regel R-1 angesetzte Form der Subjektskasusphrase
legitimieren, welche tiefenstrukturell einer Kasusmarkierung bedarf,
obwohl diese praktisch nie realisiert wird (s. S. 54). Die Begründung
lautet: weil in der Passivkonstruktion stets die Kasusmarkierung yú ᯬin
Erscheinung tritt, die regulär das in die postverbale Position verschobene
Subjekt mit der Rolle Initians / Agens einleitet (vgl. Beispiel B 53). Das
Grammatikmodell beschreibt also nicht nur, dass die satzinitialen
nominalen Ergänzungen, welche die Funktion des Subjekts wahrnehmen,
zwar oberflächenstrukturell nur selten mit einer Kasusmarkierung reali-
siert sind, sondern es erklärt auch, warum die Markierung an sich aus
systematischen Gründen in den Regeln vorgesehen sein muss, denn
wenn sich bei der Passivierung die Kasusrolle nicht ändert, dann muss
sie schon “vorher” (tiefenstrukturell) existieren. Wie in 2.5 zu zeigen
sein wird, wird diese Frage auch bei den Argumentrollen Absolutiv und
Objektiv zu stellen sein.

Die bisherigen Regeln R-1 bis R-3 generieren also Strukturbäume des
folgenden Typs (das Beispiel ist aus der Textäusserung 10.9 adaptiert):
Einfache Verbalsätze 75

Strukturbaum 10

Sv
KP VP

K NP V KP
K NP

ø ø
gong chí guó
der Patriarch ordnet das Lehen

Bei den transitiven Verben findet man verhältnismässig häufig mono-


komplementäre Äusserungsformen (vgl. Beispiel B 54). Während die
bisher behandelten monokomplementären Äusserungsformen das Resul-
tat von Tilgungsoperationen waren, ist die monokomplementäre Äusse-
rungsform bei den transitiven Verben typischerweise das Resultat einer
Passivtransformation. Diese besteht in erster Linie darin, dass die
Objektsnominalphrase (direktes Objekt DO) und die Subjektskasusphrase
(SUB) ihre Plätze tauschen, wobei die tiefenstrukturell bereits vorhan-
dene Kasusmarkierung des umgestellten Subjekts noch in Erscheinung
tritt. Im Gegensatz zum Deutschen stellt man jedoch fest, dass die
Bildung voll realisierter dikomplementärer Passiväusserungen in Texten
vor der Hàn-Zeit einer starken semantischen Einschränkung unterworfen
ist. Die Umstellung der nominalen Ergänzungen ist nämlich dann in der
Regel ausgeschlossen, wenn dadurch die folgende ungrammatische
Kette mit “unbelebtem” Patiens als SUB und “belebtem” Initians als DO
entstünde:
76 Kapitel 2

Graphik 18: Blockierte Passivierung

Die Passivierung des Beispiels aus Strukturbaum 10 oben wäre also


deshalb blockiert, weil eben folgende Konstellation entstünde:

B 55 ഻⋫ᯬ‫ޜ‬
* guó [-bel] zhì yú gōng [+bel]
? (Das Lehen wird vom Patriarchen geordnet.)

Diese Regel galt offenbar auch dann, wenn in der aktiven Subjektskasus-
phrase Nomina realisiert wurden, die (auch) als [+belebt] gewertet wer-
den konnten. Zum Beispiel: shèng rén zhī zhì yú shì yě 㚆Ӫѻ⋫ᯬ
цҏ “(als) die weise Persönlichkeit vom Zeitalter / von der Generation
geordnet wurde” (Guǎnzǐ 39.8), oder Mǐn wáng huǐ yú wǔ guó 䯄⦻⇰
ᯬӄ഻ “der Mǐn-König wurde von den Fünf Lehnsfürstentümern / von
[den Fürsten] der Fünf Lehnsfürstentümern zerstört” (Xúnzǐ 9.11). Eine
solche “Belebung” ist bei B 55 wohl nicht sinnvoll möglich.
Die Merkmale [±belebt] sind sogenannte inhärente Merkmale der
Nomina. Man beachte, dass diese Bedingung nur diese vollständige di-
komplementäre Äusserungsform ausschliesst. Wird nämlich das Agens-
glied getilgt, d.h. wird eine über eine Passivierung entstehende mono-
komplementäre Äusserungsform realisiert, so wirkt die Beschränkung
nicht. Da in Strukturbaum 10 genau dieser Sachverhalt gegeben ist, kann
dieser nur in die monokomplementäre Form in Strukturbaum 11 trans-
formiert werden:
Einfache Verbalsätze 77

Strukturbaum 11

Sv
KP VP

K NP V KP
K NP

ø ø ø
guó zhì
das Lehen ist geordnet

Die obenerwähnte Passivierungsbeschränkung besteht dagegen im fol-


genden Beispiel in Strukturbaum 12 nicht (das Beispiel ist aus Mèng
1A.5 adaptiert). Hieraus ist übrigens eine der Begründungen zu ersehen,
wonach auch ein agentivischer Subjektsausdruck durchaus als kasus-
markierte Phrase abzuleiten ist, denn bei der Passivierung erscheint er
stets mit einer Kasusmarkierung:

Strukturbaum 12

Sv
KP VP

K NP V KP
K NP

ø
Lu bài yú Qí
Lu wurde von Qi
geschlagen

Die Tilgung der postverbalen nominalen Ergänzung (wie in Struktur-


baum 11) kann u.U. zu ambigen Strukturen führen, und zwar dann, wenn
die Subjektskasusphrase der monokomplementären Äusserungsform das
78 Kapitel 2

inhärente Merkmal [+belebt] hat und die Äusserung einmal kontextuell


zu wenig abgestützt sein sollte. Dies kann insbesondere dann der Fall
sein, wenn die Äusserung negiert ist (vgl. 7.1.3.3), denn dann werden
allfällige pronominalisierte Objekte regulär getilgt. Isoliert kann fol-
gende Äusserung

B 56 㠓䀾
chén tǎo
‘(Lehnsmann) (zur Rechenschaft ziehen)’

wie folgt interpretiert werden:

a. Der Äusserung liegt eine dikomplementäre aktive Tiefenstruktur


zugrunde: z.B. chén tǎo (Y) 㠓䀾 “der Lehnsmann bestraft (Y)”, wobei
die Objektsnominalphrase Y getilgt worden ist. Übersetzung von B 56:

“Der Lehnsmann bestraft (jemanden).”

b. Der Äusserung liegt eine dikomplementäre aktive Tiefenstruktur


zugrunde, diesmal jedoch der Form: (X) tǎo chén 䀾㠓 “(X) bestraft den
Lehensman” Diese Kette ist dann passiviert worden. Übersetzung von B
56:

“Der Lehnsmann wird (von jemandem) bestraft.”

Für den Lexikoneintrag soll die Transitivität (abgekürzt: [trans]) des


Prädikatsausdrucks für die Subklassifizierung dieses divalenten Verbtyps
verwendet werden. In diesem speziellen Fall existiert sogar eine
perfektive Form für das Passivtransformat in der monokomplementären
wie dikomplementären Fassung (man beachte, dass hier zwei Formen
desselben Verbs vorliegen – und nicht zwei verschiedene Verben):

⋫ chí: V2 [trans];
X-INITIANS ordnet Y-REZIPIENS / PATIENS
zhì: [perf];
Y-REZIPIENS / PATIENS wird geordnet (von / durch X)
Y-REZIPIENS / PATIENS ist geordnet
Einfache Verbalsätze 79

Die Aufteilung in zwei Lesungen des gleichen Wortes (abgesehen von


der homographen Schreibung) kann durchaus angezweifelt werden. Da
es ein Charakteristikum monovalenter Prädikate ist, ohne weitere Kenn-
zeichnung verbalattributiv verwendet werden zu können (vgl. Beispiele
B 167 und B 167a auf S. 168), würde das auf S. 181 diskutierte Beispiel
B 184 darauf hindeuten, dass aufgrund der phonetischen Differenzierung
auch zwei lexikalisch autonome Einheiten, nämlich ein V2 chí und ein V1
zhì anzusetzen sind. Und das liesse schliesslich die Möglichkeit offen,
von einer kausativen Derivationsbeziehung zu sprechen, wie sie im
folgenden Abschnitt diskutiert wird: V1 zhì ‘X ist ordentlich / heil’, V2
chí ‘X macht Y ordentlich / heil’. Eine solche synchron zu erwägende
kausative Derivation wäre allerdings nicht durch die rekonstruierbare
Morphologie zu begründen, in der das V2 chí < AC *lrə als unpräfigiertes
Grundverb erscheint, zu dem durch Suffigierung von *-s sekundär das
(medio-passive) V1 zhì < AC *lrə-s gebildet wurde. Zudem ist die Vertei-
lung der mittelchinesischen Ausspracheangaben zu den einzelnen Funk-
tionsweisen leider nicht eindeutig. Die nicht-infigierte Variante des V2 ist
übrigens wahrscheinlich in Form von lí 䠀 < AC *(Cə-)lə ‘X kontrolliert,
reguliert’ erhalten (vgl. ROC, 127).

2.4.4 Divalente kausative Resultativverben

Der Terminus Kausativ wird im Rahmen dieser Grammatik – neben


seiner Verwendung als Rollenname (vgl. Tabelle 3) – zur Beschreibung
der syntaktisch-semantischen Beziehungen zwischen den folgenden
Typen von Äusserungen verwendet:

B 57 Das Wasser ← kocht.


B 58 Hans kocht → das Wasser.
B 59 Hans macht → das Wasser ← kochen.
80 Kapitel 2

Graphik 19: Kochen und Kochen

Das Objekt (= ‘Wasser’) eines V2-Verbs vom Typ ‘kochen’, wie in der
dikomplementären Äusserung B 58 realisiert, kann als Subjekt eines
homographen V1-Verbs vom Typ ‘kochen’ in der entsprechenden mono-
komplementären Äusserung B 57 realisiert werden. Vereinfacht ausge-
drückt scheint das Subjekt ‘Hans’ der dikomplementären Äusserung B
58 getilgt zu sein. Die Beziehung zwischen den Äusserungen B 57 und B
58 ist so zu formulieren, dass das Verb in B 58 eine kausative Ent-
sprechung zum Verb in B 57 ist, d.h., dass eine verursachende nominale
Ergänzung ‘Hans’ (ein Initians) als Subjekt der dikomplementären
Konstruktion eingeführt werden kann.
Im Gegensatz zur eben behandelten monokomplementären Passiv-
äusserung (“Das Wasser wird gekocht”; vgl. Strukturbaum 11) ist die
semantische Beziehung zwischen Subjekt und Verb in der monokomple-
mentären Äusserung B 57 jedoch so, dass sich die Aktivität aus dem
Subjekt heraus entfaltet (im Deutschen, wo die Konstruktion relativ
selten ist, oder im Englischen ist dabei kennzeichnend, dass das Verb
seinen aktiven Modus beibehält). Man kann also in diesem Fall nicht von
einer Paraphrasen- oder Transformationsbeziehung zwischen B 57 und B
58 sprechen, denn die Semantik des Satzes wird in einem grundsätz-
lichen Punkt (Rollenverteilung) verändert, und das heisst, dass das
homographe divalente kausative Verb ‘kochen’ in B 58 nicht mit dem
monovalenten Verb ‘kochen’ in B 57 kategorisiert werden darf. Ein
derivatives Ableitungsverhältnis (vergleichbar demjenigen in 2.3.2) ist
allerdings klar zu bejahen. Demgegenüber kann man aber auf eine Para-
phrasenbeziehung zwischen den Äusserungen B 58 und B 59 verweisen:
Einfache Verbalsätze 81

In der analytischen kausativen Äusserung B 59 taucht das allgemeine


kausative Verb ‘machen’ auf (‘verursachen’ oder ‘veranlassen’ wären
weitere solche Verben), und im dazugehörigen Objektsatz das intran-
sitive V1-Verb ‘kochen’.
Die hier als “synthetisch” bezeichnete kausative Konstruktion B 58
ist bedeutungsmässig eine Untergruppe der kausativen Konstruktion; die
divalenten Kausativverben vom Typ ‘kochen’ (Äusserung B 58) sind
somit als lexikalisierte Verschmelzungen (derivierte “Fusionen”)
geeigneter intransitiver Verben mit einem allgemeinen kausativen Verb
zu beschreiben (‘V2-kochen’ = ‘macht V1-kochen’. Die Kausativverben
sind, insbesondere im Vergleich zum Deutschen, eine ausgesprochene
Besonderheit des AC. Sie existieren als divalente oder trivalente (vgl.
2.5.2.2 unten) Homographe zu ausserordentlich vielen V1-Eigenschafts-
verben und V2-Resultativverben, als trivalente zu V2-Lokativverben (vgl.
2.5.2 unten). Man vergleiche die folgende, zur einfacheren Illustration
adaptierte Beispielreihe:

B 60 ഻ሿ
guó xiǎo
Das Lehen ist klein.

B 61 㠓഻֯ሿ
chén shǐ guó xiǎo
Der Lehnsmann macht das Lehen klein.

B 62 㠓ሿ഻
chén xiǎo guó
Der Lehnsmann verkleinert das Lehen.

Als Belege für die eben angeführten Äusserungsformen lassen sich etwa
anführen:

B 37 㺋ሿ啺བྷ Zhuāng 28.1 Gǔ


Wèi xiǎo, Qí dà
Wèi ist klein, Qí ist gross.
82 Kapitel 2

B 63 ≁ਟ֯ᇼҏ Mèng 7A.23


mín kě shǐ fù yě
Die Mín sind (Personen), die reich gemacht werden können.

B 64 ᆄᆀⲫᶡኡ㘼ሿ冟 Mèng 7A.24


Kǒng zǐ dēng dōng shān ér xiǎo Lǔ
Junker Kǒng stieg auf den Ostberg und hielt das Fürstentum Lǔ
für klein.

B 65 བྷ䝝՟ѻᜑҏ Yǐn 1.3 Gōng


dà Zhèng bó zhī è yě
Das ist ein Eintrag, der die Schlechtigkeit des Grafen von Zhèng
gross darstellen soll (zu dieser Nominalsatzform, vgl. 5.2).

Die divalenten kausativen Resultativverben, die von Eigenschaftsverben


abgeleitet sind, weisen aufgrund der semantischen Besonderheit der
Eigenschaftsverben in vielen Fällen zwei Bedeutungsstränge auf.
Einerseits kann eine Eigenschaft das Resultat eines faktisch vollzogenen
Prozesses sein (etwas ist beispielsweise nicht aus sich selbst heraus
‘klein’, sondern weil es im Vergleich zur Norm ‘klein gemacht’ worden
ist). Das Beispiel B 62 oben illustriert diesen Typ von Faktitivverben.
Andererseits kann die durch diese Verben zum Ausdruck gebrachte Wer-
tung oder Zuschreibung einer Eigenschaft als eine aus einem subjektiven
Urteil heraus entstandene formuliert werden; die zugeschriebene
Eigenschaft ist sozusagen mentales Resultat (“ich halte etwas für klein”,
d.h. “im Geiste mache ich es klein”). In Sätzen mit diesem Typ von
Urteilsverben (auch Putativverben, Verben des Dafürhaltens genannt)
wird also die Subjektsstelle von der subjektiv urteilenden Instanz besetzt.
Das Beispiel B 62 oben kann ausserhalb eines stützenden Kontexts auch
als Urteil interpretiert werden (“der Lehnsmann hält das Lehen für
klein”). Da hier von einem echten Derivationsverhältnis ausgegangen
wird, sind die divalenten kausativen Verben hinsichtlich ihrer
Ableitungeseigenschaften wie die übrigen divalenten Verben zu
behandeln. M.a.W.: Die Ableitungen und die entsprechenden Baum-
strukturen folgen den bisherigen Regeln, und zwar wie im folgenden
Beispiel:
Einfache Verbalsätze 83

Strukturbaum 13

Sv
KP VP

K NP V KP
K NP

ø ø
chén xiao guó
der Lehensmann verkleinert das Lehen

Im Zusammenhang mit den Objektsätzen (vgl. 4.3) ist die Herleitung


solcher Strukturen etwas vertiefter zu diskutieren, um den Zusammen-
hang zwischen den synthetischen und den analytischen kausativen
Konstruktionen deutlich zu machen.

2.4.5 Divalente kausative Denominalverben

In 2.3.2 oben wurde dargestellt, wie sich monovalente Denominalverben


von entsprechenden Nomina herleiten. Während dort Verben mit der
generellen Bedeutung ‘sich wie ein echter Vertreter der Funktion X
verhalten’, ‘ein (r)echter X sein’ hergeleitet wurden, werden hier homo-
graphe divalente kausative Entsprechungen dazu hergeleitet. Nomina
agentis stehen für eine Funktion, somit auch für eine Eigenschaft: Diese
Funktion kann nämlich erworben oder hergestellt werden, sie kann aber
auch Ausdruck eines subjektiven Urteils sein. Damit ergibt sich eine den
von den Eigenschaftsverben derivierten divalenten kausativen Resulta-
tivverben analoge Situation. Und in der Tat findet man bei den divalen-
ten kausativen Denominalverben Äusserungen mit faktitiver und solche
mit urteilender Bedeutung. Z.B. (adaptiert):

B 66 ੋ㠓ѻ
jūn chén zhī
Der Lehnsherr macht ihn zum Lehnsmann. [faktitiv]
84 Kapitel 2

B 67 㠓⦻⦻
chén wàng wáng
Der Lehnsmann hält den König für einen [echten] König.
[urteilend; putativ]

(Ein Faktitiv ist bei diesem Verb im antiken Sozialkontext nicht zu er-
warten; man beachte auch die in die modernen Tondifferenz mündende
antikchinesische Suffigierung.)

Man vergleiche den folgenden Äusserungsbeleg:

B 68 ᆻ‫ޜ‬н⦻ Yǐn 9.7 Zuǒ


Sòng gōng bù wàng
Der Herzog von Sòng verhielt sich nicht wie es sich gehörte
gegenüber dem König. (wörtlich: er hielt den König nicht für
einen echten König)

Bei dafür geeigneten Verben (es muss sich offenbar um das hierarchisch
tiefere in einer paarigen Beziehung handeln, z.B. chén 㠓gegenüber jūn
ੋ) gibt es ferner die Möglichkeit, in der postverbalen nominalen
Ergänzung auf denjenigen zu referieren, dem dieses Verhalten gilt (die
entsprechenden monovalenten Verben in 2.3.2 wären allenfalls hier unter
den divalenten einzureihen):

B 69 ❦ࡷ㠓⦻Ѿ Xiāng 22.6 Zuǒ


rán, zé chén wáng hū?
Da dem so ist – werden Sie also dem König als Lehnsmann
dienen?

Da hier wiederum von einem echten Derivationsverhältnis ausgegangen


wird, sind diese divalenten kausativen Verben ableitungsmässig den
übrigen divalenten Verben gleichzustellen. Im Zusammenhang mit den
Objektsätzen (vgl. 4.3) ist die Herleitung solcher Strukturen vertiefter zu
diskutieren, um den Zusammenhang zwischen den synthetischen und den
analytischen kausativen Konstruktionen deutlich zu machen.
Einfache Verbalsätze 85

Strukturbaum 14

Sv
KP VP

K NP V KP
K NP

ø ø
jun chén zhï
der Lehensherr macht zum ihn
Lehensmann

Es gibt eine kleine Gruppe von divalenten kausativen Denominalverben,


die ihrer Bedeutung und (z.T. auch) ihrer mutmasslichen Derivations-
geschichte wegen eine Sonderstellung einnehmen. Es handelt sich um
homographe Verben aus Nomina wie:

㘱 lǎo ‘Siebziger’
䮧 zhǎng ‘Ältere’

Diese nominalen Homographen leiten sich wohl ursprünglich von ent-


sprechenden monovalenten Eigenschaftsverben her. Zu dieser Gruppe
gehören aber auch Nomina wie

⡦ fù ‘Vater’
ᆀ zǐ ‘Sohn’.

Bei diesen Nomina sind die entsprechenden Eigenschaften oder sozialen


Beziehungen in der Regel nicht künstlich herstellbar, eine faktitive Inter-
pretation ist also hinfällig, es sei denn sie wäre im AC metaphorisch
möglich, wie: “dieses Kleid macht Sie alt”. Noch ist normalerweise die
Zuschreibung sinnvoll einem subjektiven Urteil zu unterstellen, so dass
auch die urteilende Interpretation wegfällt; man ist entweder älter oder
nicht – irrtümliche Urteile ausgenommen: “ich hielt Sie für älter als Sie
sind”. Verben dieser Art bezeichnen somit – in Abweichung zu den bis-
her behandelten – das korrekte Verhalten gegenüber den berechtigten
86 Kapitel 2

Trägern dieser Bezeichnung, also: ‘sich gegenüber Y so verhalten, wie es


sich gehört / wie es Y gebührt’ (man vgl. etwa die zugrundeliegende
Vorstellung von deutsch ‘be-wirten’ oder ‘be-vormunden’). Z.B.:

B 70 㘱੮㘱ԕ৺Ӫѻ㘱 Mèng 1A.7


lǎo wú lǎo yǐ jí rén zhī lǎo
(Ich) behandle meine Siebziger so, wie es sich Siebzigern gegen-
über gehört, und so erreiche ich die Siebziger anderer Personen.

Eine weitere kleine Gruppe von divalenten Denominalverben, die auf-


grund ihrer Bedeutung und (z.T. auch) ihrer mutmasslichen Derivations-
geschichte als eine kausative Subklasse zu behandeln ist, umfasst
homographe Verben aus Nomina wie

⚛ huǒ ‘Feuer’
ቻ wū ‘Haus, Zimmer’

Zum Beispiel:

B 71 ᴹн⚛伏㘵⸓ Lǐ Jì 5.41; 8.8


yǒu bù huǒ shí zhě yǐ
Es ist bei ihnen schon vorgekommen, dass sie das Essen nicht
mit Feuer zubereiten.
(Die funktionale Analyse von huǒ ⚛ als Adverb ist prinzipiell
möglich, ändert aber nichts an der Klassifizierung von huǒ ⚛ als
Verb, denn die begleitende Negation bù н ist da eindeutig.)

Bei diesen Nomina handelt es sich um Nutzgegenstände, um Gegen-


stände oder Sachen, die vom Menschen zweckgerichtet genutzt oder
eingesetzt werden, instrumentalisiert werden. Die davon abgeleiteten
Verben lassen sich mit den deutschen Bildungen mit der Vorsilbe be-
vergleichen: be-hausen, be-feuern, be-wässern usw. Da es sich bei allen
in diesem Abschnitt besprochenen Verben um denominative V2-Verben
handelt, soll der Lexikoneintrag mit dem Subklassifizierungsmerkmal
[denom] versehen sein. Ein Beispiel:
Einfache Verbalsätze 87

⚛ huǒ: V2 [denom]; X-INITIANS bereitet Y-PATIENS mit Feuer


zu
X-INITIANS macht für Y-PATIENS ein Feuer

2.4.6 Divalente Gefühlsverben

Bei den zu den Vorgangsverben zu rechnenden divalenten


Gefühlsverben kann die Quelle oder die Ursache des Gefühls über eine
zweite nominale Ergänzung eingeführt werden, die von der
Kasusmarkierung

ᯬ/Ҿ yú: (zu übersetzen mit: ‘von / durch / mit’)

oder einer Variante davon eingeleitet wird. Die Kennzeichnung zeigt


sich als weitgehend systematisch, denn sie muss zwischen diesem Typ
und dem kausativen Typ differenzieren (vgl. 2.5.4). Der strukturelle
Aufbau dieses Satztyps bietet sich wie folgt dar:

Graphik 20: Divalente Gefühlsverben

NE
(Rezipiens) ‘ist zufrieden mit’

Prädikatsausdruck
Y

NE
(Agens)

Es folgen einige Beispiele mit dem Verb nù ᙂ ‘zornig sein wegen’:


88 Kapitel 2

B 72 〖⦻བྷᙂᯬ⭈㤲 Zhàn Guó Cè 356B


Qín wáng dà nù yú Gān Mào
Der König von Qín war sehr wütend auf Mào aus dem Stamm
der Gān. (Dikomplementäre Normalform)

B 73 啺⦻㚎ѻᙂᯬܰᴠ: […] Zhàn Guó Cè 116


Qí wáng wén zhī, nù yú Yí, yuē: […]
Der König von Qí hörte davon, wurde wütend auf Yí und sagte:
“[…].” (Dikomplementäre Normalform)

B 74 ᱟ᭵᰾ѫѻ⋫഻ᴹ䂵㘵㘼ѫ❑ᙂ✹ HNZ 9.16


shì gù míng zhǔ zhī zhì, guó yǒu zhū zhě ér zhǔ wú nù yān
Aus diesem Grund gibt es unter der Ordnung eines aufgeklärten
Herrschers im Lehensfürstentum solche, die exekutiert werden,
aber beim Herrscher fehlt der Zorn auf sie. (Dikomplementäre
Form; das Objekt ᙂ✹ von ❑ besteht aus dem Verbalnomen
ᙂund der Fusionsform ✹, vgl. 8.3)

B 75 㘼ഐᙂᯬ⢋㖺ѻሿҏ↔⣲ཛѻབྷ㘵[ҏ] LSCQ 23/5.3


ér yīn nù yú niú yáng zhī xiǎo yě, cǐ kuáng fū zhī dà zhě
Wenn aber jemand aufgrund dessen zornig wäre, dass Ochse und
Schaf klein scheinen, so wäre dieser der grösste der Irren.
(Dikomplementäre Form; die Kette ⢋㖺ѻሿҏ ist ein voll
ausgebildeter Objekt- bzw. Komplementsatz, vgl. 4.2.1.)

B 76 ⦻བྷᙂ֯Ӫ⇪ѝሴѻ༛ Hán Fēi Zǐ 22.17


wáng dà nù, shǐ shā zhōng yè zhī shì
Der König war sehr wütend und schickte einen Rén, den Shì der
Wache zu töten. (Monokomplementäre Form)

Die Ableitung von Strukturen mit Gefühlsverben als Prädikatsausdruck


ist in der postverbalen Position identisch mit den Ableitungen bei der
Komparativkonstruktion und den Lokativverben. Die satzinitiale Markie-
rung der Subjektskasusphrase wird bekanntlich regelmässig getilgt, wie
das folgende (adaptierte) Beispiel mit dem emotiven Verb ān ᆹ
‘zufrieden sein mit’ zeigt:
Einfache Verbalsätze 89

Strukturbaum 15

Sv
KP VP

K NP V KP
K NP

ø
mín an yú ju
die Min sind zufrieden mit den Wohnstätten

Die monokomplementäre Äusserungsform ist im Verhältnis häufiger; sie


ist strukturell identisch mit den entsprechenden Konstruktionen mit
divalenten steigerbaren Eigenschaftsverben und mit Lokativverben. Da-
mit wäre nachdrücklich auf den wichtigen Sachverhalt hinzuweisen, dass
Identität von Strukturen oder Ausdrucksformen nicht einfach Identität
von Inhalten bzw. Bedeutungen oder zugrundeliegenden Strukturen
impliziert):

Strukturbaum 16

Sv
KP VP

K NP V KP
K NP

ø ø ø
mín an
die Min sind zufrieden

Der Lexikoneintrag der Gefühlsverben, deren semantisches Subklassifi-


zierungsmerkmal die Emotionalität ist (abgekürzt: [emot]), lautet also:
90 Kapitel 2

ᙂ nù: V2 [emot];X-REZIPIENS ist wütend auf Y-AGENS

Weitere wichtige Verben in dieser Subkategorie sind:

ᆹ ān: V2 [emot];X-REZIPIENS ist zufrieden mit Y-AGENS


ᛓ huàn: V2 [emot];X-REZIPIENS ist besorgt wegen Y-AGENS
′ lè: V2 [emot];X-REZIPIENS ist erfreut über Y-AGENS

In seinem syntaktischen Verhalten den Gefühlsverben sehr ähnlich ist


zhī ⸕ ‘wissen’. Dass es sich beim Wissen und ähnlichen Vorgängen in
der chinesischen Antike um eine im Menschen entstehende Sache
handelte, geht z.B. aus den Äusserungen 10.14–16 hervor, wo Wissen
(mit kausativ-lokativen Verben) “herbeigeführt” wird. Aus dem lässt
sich folgern, dass die Verteilung der Kasusrollen dem Typus [emot] ent-
spricht, also:

⸕ zhī: V2 [emot];X-REZIPIENS weiss von Y-AGENS

Es existiert weiter ein besonderes Verb mit einer analogen Verteilung


der Kasusrollen, nämlich sǐ ↫ ‘sterben’ (vgl. Beispiel B 21). Da hier das
Subklassifizierungsmerkmal [emot] nicht unmittelbar sinnvoll erscheint,
soll hier auf die aus der lateinischen Grammatik bekannten Klasse der
Deponentia, also der formal passiven bzw. medialen Verben, die aktive
Bedeutung haben, zurückgegriffen werden, also:

↫ sǐ: V2 [dep];X-REZIPIENS stirbt für / wegen Y-AGENS

2.4.7 Divalente Modalverben

Da die divalenten Modalverben (z.B. yù Ⅲ im folgenden Beispiel) – wie


die monovalenten – komplexe Konstruktionen (u.a. mit Teilsätzen) vor-
aussetzen, wird deren ausführliche Erörterung in 4.2.2 erfolgen.
Einfache Verbalsätze 91

B 77 ⦻Ⅲ㹼⦻᭯ Mèng 1B.5


wáng yù xìng wáng zhèng, […]
Wollt Ihr, König, die Regierungsordnung eines wahren Königs
in die Tat umsetzen, [dann …]

2.4.8 Divalente Kausativverben

Die divalenten Kausativverben (wie z.B. shǐ ֯ im folgenden Beispiel)


sind – wie die Modalverben – eng mit komplexen Sätzen, also mit der
Konstruktion von Teilsätzen verbunden, so dass eine ausführliche Erörte-
rung in 4.3 erfolgen soll. Z.B.:

B 63 ≁ਟ֯ᇼҏ Mèng 7A.23


mín kě shǐ fù yě
Die Mín sind [Personen], die reich gemacht werden können. (Die
Nominalsatzkonstruktion wird in 5.2.5 behandelt.)

2.5 Trivalente Prädikate

2.5.1 Trivalente Verben der Übertragung

In dieser Gruppe sind trivalente Verben vereinigt, die im weitesten Sinne


mit Transaktionen bzw. Transferierungen (Verschiebungen, Übertragun-
gen) zu tun haben. Sie sind in der Regel in konversen Paaren organisiert:
geben / nehmen, kaufen / verkaufen, sagen (oder: antworten) / fragen,
lehren / lernen usw. Zu ihnen gehören aber eigentlich auch etwas ab-
wegig scheinende Paare wie essen / s. übergeben. Entsprechend dieser
Konversität sind die nominalen Ergänzungen organisiert bzw. gekenn-
zeichnet. Z.B.:
92 Kapitel 2

Graphik 21: Trivalente Prädikate I

X
NE
(Initians)
‘gibt’
Y
NE
(Objektiv) Prädikats-
ausdruck
Z
NE
(Ziel)

B 78 䋭ᡁֶ⢏ Máo 275; 21.5


yí wǒ lái móu
Ihr habt uns Weizen gegeben. (Vgl. Grammatiknotiz zu 21.5 für
den Ausdruck lái móu.)

B 79 ᮷‫ޜ‬㠷ѻ㲅 Mèng 3A.4


Wén gōng yǔ zhī chù
Der Wén-Patriarch gab ihm einen Aufenthaltsort.

B 80 ཙᆀ[ …] н㜭֯ཙ㠷ѻཙл Mèng 5A.5; 20.8


tiān-zǐ […] bù néng shǐ tiān yǔ zhī tiān-xià
Der Himmelssohn […] ist nicht in der Lage, den Himmel dazu
zu bringen, ihm das Reich zu übergeben.

Für die konverse Relation gilt die folgende Rollenverteilung bei den
Ergänzungen:
Einfache Verbalsätze 93

Graphik 22: Trivalente Prädikate II (konvers)

X
NE
(Initians)
‘fragt’
Y
NE
(Objektiv) Prädikats-
ausdruck
Z
NE
(Quelle)

B 81 ‫୿ޜ‬᭯ᯬᆄᆀ Lùn Yǔ 12.11; 1.1


gōng wèn zhèng yú Kǒng zǐ
Der Jǐng-Patriarch von Qí erkundigte sich bei Junker Kǒng nach
der korrekten Ordnung.

B 82 㩜ਆॳ✹ॳਆⲮ✹,н⛪нཊ⸓ Mèng 1A.1


wàn qǔ qiān yān, qiān qǔ bǎi yān, bù wéi bù duō yǐ (Auflösung der Fusions-
form yān ✹ in 8.3)
Im Falle eines ‘Zehntausender-[Lehens]’ [den Rang] einer
‘Tausender-[Familie]’ daraus nehmen, oder im Falle eines ‘Tau-
sender-[Lehens]’ daraus den einer ‘Hunderter-[Familie]’ nehmen
– das wird [man wohl] nicht für eine Kleinigkeit halten.

B 83 ᆀѻнᗇਇ⠅ᯬᆀಢ Mèng 2B.8


zǐ-Zhī bù dé shòu Yān yú zǐ-Kuài
Junker-Zhī hätte [das Fürstentum] Yān nicht von Junker-Kuài
entgegennehmen sollen.

Die Stellung der beiden postverbalen nominalen Ergänzungen kann


wechseln (s. unten). Die bisher behandelten kasusmarkierten Nominal-
phrasen jeglicher Art sind mit der Markierung yú ᯬ eingeleitet worden,
und zwar betraf dies alle nominalen Ergänzungen, die nicht die Rollen
“Rezipiens / Patiens” oder “Absolutiv / Objektiv” einnehmen (syntak-
94 Kapitel 2

tisch formuliert: die Funktion des direkten Objekts). Bei den trivalenten
(konversen) Transferverben entsteht nun zum ersten Mal die Situation,
dass zwei Objekte möglicherweise einer differenzierenden Kennzeich-
nung bedürfen. Das indirekte Objekt, welches rollenmässig am ehesten
als Lokativ oder Ziel interpretiert werden kann (wenn ich jemandem
etwas gebe, dann befindet sich das Ding nach dem Transfer lokal bei
ihm), wird rollengemäss mit der bisher bekannten Kasusmarkierung yú
ᯬ gekennzeichnet; ebenso wird in der konversen Form die Quelle,
woher man etwas erhält, lokativisch gekennzeichnet (vgl. Beispiel B 78
oben). Darauf aufbauend könnte die Kennzeichnung des Passivobjekts
(Initians) mit yú ᯬ ebenfalls lokativisch interpretiert werden (etwa:
woher bekomme ich Schläge?). Das direkte Objekt als transferierter
Gegenstand (Objektiv) wird dagegen unter bestimmten Bedingungen mit
der Kasusmarkierung yǐ ԕ gekennzeichnet. Während das indirekte
Objekt seine postverbale Stellung (ob kasusmarkiert oder nicht) nie
verlässt, kann das direkte Objekt sowohl prä- wie auch postverbal reali-
siert werden. Z.B.:

B 84 䲣ᆀԕᱲᆀѻ䀰੺ᆏᆀ Mèng 2B.10


Chén zǐ yǐ Shí zǐ zhī yán gào Méng zǐ
Junker Chén berichtete Junker Mèng die Worte des Junkers Shí.
(präverbales DO)

Die festzustellende kasusmarkierenden Kennzeichnung sowohl des


direkten wie des indirekten Objekts – und ausserdem des passivierten
Agens-Subjekts – ist nicht nur eine notwendige, sondern auch ein
hinreichender Beweis dafür, dass nominale Ergänzungen, die ein
rollentragendes Argument eines verbalen Kerns repräsentieren generell
als Kasusphrasen KP zu generieren und anschliessend in der Form einer
mit K markierten Nominalphrase NP abzuleiten sind (vgl. Regel R-2, S.
53). Dieser K-Knoten ist eben je nach Konstituentenrolle mit der
korrekten Kasusmarkierung zu besetzen, so wie im Deutschen die jewei-
lige NE mit der entsprechend deklinierten Kasusmorphologie zu versehen
ist. Da die in dieser Grammatik postulierte kasusmarkierende Kennzeich-
nung für eine strukturgerechte Analyse bedeutsam ist, gehört sie zur
tiefenstrukturellen Beschreibung von Sätzen und findet also in den
jeweiligen Basisregeln Berücksichtigung. Zur Ableitung trivalenter
Strukturen ist die Regel R-3 bereits so formuliert, dass zwei nominale
Einfache Verbalsätze 95

Ergänzungen bzw. Kasusphrasen erzeugt werden (vgl. S. 64). Dabei sind


die für die nominalen Ergänzungen benötigten Kasusphrasen alle als
fakultative Konstituenten gekennzeichnet sein, womit die Regel allen
Valenzen gerecht wird (durch Klammerung angedeutet, welche die
Setzung des +-Zeichens überflüssig macht). Damit lassen sich Struktur-
bäume des trivalenten Typs generieren:

Strukturbaum 17

Sv

KP VP

K NP V KP KP

K NP K NP

ø ø ø
gong yìn chén jiu

der Patriarch bewirtet den Lehensmann mit Wein

Die verschiedenen post- und präverbalen Stellungen der Objekte und die
Tilgungen, die zu den verschiedenen Äusserungsformen (mono-, di- oder
trikomplementär) führen, sind wohl das Resultat von Regeln, deren Be-
dingungen aber nicht bekannt sind. Die folgenden Äusserungskombina-
tionen ohne Tilgungen und ohne Pronominalformen sind bei den
trivalenten Verben vom Typ yǔ 㠷 ‘geben’ festzustellen, wenn auch nicht
mit eben diesen Zeichen / Wörtern (vgl. auch die Tabelle 17 in 8.3) und
in sehr verschiedenen Belegungshäufigkeiten, vgl. z.B.:

Graphik 23: Äusserungsformen Trivalent I


96 Kapitel 2

Bei den konversen Entsprechungen, also bei Verben vom Typ wèn ୿
‘fragen’ oder shòu ਇ ‘empfangen’ usw., liegt eine Situation vor, in der
der Gegenstand der Transferierung nicht vom Subjekt, sondern sozu-
sagen vom indirekten Objekt “manipuliert” wird. Es ist daher nicht
möglich, das direkte Objekt präverbal zu stellen (wohl weil die Kenn-
zeichnung mit yǐ ԕ eine kontrollierende Aktivität des Subjektes voraus-
setzt). Möglich ist dagegen eine Umstellung nach dem Verb (vgl. auch
die Tabelle 18 in 8.3):

Graphik 24: Äusserungsformen Trivalent II

Bei der Wiedergabe im Deutschen bleiben die kasusmarkierenden Kenn-


zeichnungen (d.s. yǐ ԕ für das direkte Objekt DO und yú ᯬ für das
indirekte Objekt IO) oft unübersetzt, denn das Deutsche kennt eine
solche konsequente Kennzeichnung nur in besonderen Fällen. Die Kenn-
zeichnung des direkten Objektes mit einer präpositionsartigen Markie-
rung, welche offensichtlich mit der instrumental-komitativen Präposition
yǐ ԕ ‘mit’ derivativ verwandt ist (z.B. “Er ging mit ihm die Treppe
hinunter”), kann kaum zufällig sein, denn das direkte Objekt (Objektiv)
kann als Element, welches die Handlung begleitet, betrachtet werden.
Diese Struktur kann im Deutschen mit bestimmten Verben nachvoll-
zogen werden, z.B. “Der Patriarch bewirtet den Lehnsmann mit Wein”.
Da die Kennzeichnung des instrumentalen Objekts im AC ebenfalls eine
Präposition yǐ ԕ ‘durch / mit’ ist, kann nicht mehr klar entschieden
werden, ob im damaligen Verständnis aufgrund des jeweils vorliegenden
komitativen Moments das Instrument und das direkte Objekt geschieden
wurden (das instrumentale Objekt wird im Rahmen der Grammatik bei
bestimmten Verben als Argument, bei anderen hingegen als Adverbiale
behandelt, darum ist manchmal die Rede von Präposition, manchmal von
Kasusmarkierung). So findet man “instrumentale” Transaktionen der
folgenden Art, die analog den übrigen trivalenten Konstruktionen gebil-
det sind:
Einfache Verbalsätze 97

B 85 һѻԕ⣜俜 Mèng 1B.15; 14.7


shì zhī yǐ quǎn mǎ
[Der Tài-König] diente ihnen mit Jagdhunden und Pferden.

2.5.2 Trivalente kausative Lokativverben

2.5.2.1 Kausative dynamische und statische Lokativverben


Sowohl die dynamischen wie die statischen Lokativverben (vgl. 2.4.2)
haben homographe kausative Entsprechungen. Man vergleiche die fol-
genden zwei Beispielpaare (B 86 / B 87 statisch; B 88 / B 89 dyna-
misch):

B 86 ≁ትᯬኡл
mín jū yú shān xià
Die Mín siedeln am Fusse der Berge.

B 87 ⦻ት≁ᯬኡл
wáng jū mín yú shān xià
Der König siedelt (= macht / lässt siedeln) die Mín am Fusse der
Berge an.

B 88 㠓‫ݽ‬ᯬ↫
chén miǎn yú sǐ
Der Lehnsmann entgeht dem Tod.

B 89 ੋ‫ݽ‬㠓ᯬ↫
jūn miǎn chén yú sǐ
Der Lehnsherr rettet (= macht / lässt entgehen) den Lehnsmann
vor dem Tod.

An Belegäusserungen lassen sich etwa anführen:

B 90 ཙ⦻ࠪትᯬ䝝 Xī 24.4 CQ
tiān wáng chū jū yú Zhèng
Der vom Himmel eingesetzte König verlässt [sein Lehen] und
wohnt in Zhèng.
98 Kapitel 2

B 91 㩜≁ᕇᗽት⦻Ҿᖈ Zhāo 26.7 Zuǒ


wàn mín fú rěn, jū wáng yú Zhì
Die 10’000 Mín weigerten sich, ihn zu ertragen, und sie plazier-
ten den König in Zhì.

B 92 㠓‫ݽ‬ᯬ↫ Wén 10.3 Zuǒ


chén miǎn yú sǐ
Euer Chén ist dem Tod entronnen.

B 93 ੋ䀾ᴹ㖚㘼‫ݽ‬㠓ᯬ↫ Chéng 17.13 Zuǒ


jūn tǎo yǒu zuì ér miǎn chén yú sǐ
Ihr habt die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen und mich,
Euren Chén, vor dem Tod gerettet.

Da wie bei den anderen kausativen Subklassen der Verben an einem


echten Derivationsverhältnis festgehalten wird, ist die Ableitung dieser
Strukturen mit den bisherigen Regeln durchaus möglich. Z.B.:

Strukturbaum 18

Sv

KP VP

K NP V KP KP

K NP K NP

ø ø
jun mian chén yú si
der Lehensherr rettet den Lehensmann vor dem Tod

2.5.2.2 Kausative Existenzverben


Auch die divalenten statischen Existenzverben haben trivalente kausative
Entsprechungen, welche die Vorstellung vom vorhandensein machen
oder lassen bzw. verschwinden machen oder lassen (beim Kausativ gibt
es immer eine aktive und eine lessive Komponente) zum Ausdruck
Einfache Verbalsätze 99

bringen. Ausserdem sind faktive und putative bzw. urteilende Varianten


festzustellen. Man vergleiche:

B 94 㠗ᆛ䚄ަᴹᖼᯬ冟Ѿ Huán 2.6 Zuǒ


Zāng-sūn Dá – qí yǒu hòu yú Lǔ hū! (qí vgl. 9.1.2)
Dá aus dem Stamm der Zāng-sūn – ER wird Nachkommen zeu-
gen (= existieren machen) in Lǔ! [faktitiv]

B 95 ᠬẃ∿ѻ❑⾍ᯬᆻҏ Chéng 15.11 Zuǒ


jù Huán shì zhī wú zhù yú Sòng yě
Ich fürchte, dass der Herr des Huán-Stammes die Ahnenopfer
(für seine Ahnen) in Sòng verschwinden lassen (= nicht vorhan-
den sein machen) wird. [faktitiv]

B 96 ≁❑ࡷ✹ Xiāng 31 fù 9 Zuǒ


mín wú zé yān
Die Mín empfinden das Vorbildhafte bei ihm als nicht-existent.
[urteilend; putativ]

Sätze dieser Art weisen also die folgende typische Struktur auf:

Graphik 25: Existenzverben (trivalent)

X
NE
(Initians)
‘vorhanden
sein machen’
Y ‘verschwinden
NE machen / lassen’
(Objektiv)
Prädikats-
Z ausdruck
NE
(Ort)
100 Kapitel 2

Ein adaptiertes Beispiel in der Strukturbaumdarstellung:

Strukturbaum 19

Sv

KP VP

K NP V KP KP

K NP K NP

ø ø
jun you chén yú Lu
der Lehensherr lässt existieren Lehensmänner in Lu

Im Gegensatz zur dikomplementären Struktur, in der die lokative Ergän-


zung prä-verbal angeordnet (d.h. Subjekt) ist, ist die lokative Ergänzung
in der trivalenten Struktur post-verbal und ein neuer Agens / Initians ist
prä-verbal. Dieses Aufstocken der Argumente ist typisch für die kausa-
tive Derivation. Der Lexikoneintrag erhält zur Subklassifizierung das
Merkmal [lok].

ᴹ yǒu: V3 [lok];
X-INITIANS macht / lässt Y-OBJEKTIV / ABSOLUTIV in
Z-ORT entstehen / existieren / vorhanden sein [faktiv]
X-INITIANS hält Y-OBJEKTIV / ABSOLUTIV in Z-ORT
für existent / vorhanden [putativ]

❑ wú: V3 [lok];
X-INITIANS macht / lässt Y-OBJEKTIV / ABSOLUTIV
aus Z-ORT verschwinden / nicht existieren / nicht
vorhanden sein [faktiv]
X-INITIANS hält Y-OBJEKTIV / ABSOLUTIV in Z-ORT
für nicht existent / nicht vorhanden [putativ]
Einfache Verbalsätze 101

2.5.3 Trivalente kausative Resultativverben

Bei entsprechenden semantischen Voraussetzungen trifft man auf V3-


Homographe, welche zu entsprechenden Eigenschaftsverben oder ande-
ren Verbklassen (z.B. den emotiven) in einem Derivationsverhältnis
stehen. Man vergleiche das folgende Beispiel:

B 97 ᱹ‫ן‬ᒣᠾҾ⦻ Xī 11 fù 2 Zuǒ
Jìn hóu píng Róng yú wáng
Der Markgraf von Jìn stiftete Frieden zwischen den Róng und
dem König. (wörtlich: Er brachte die Róng ins Gleichgewicht
zum König.)

2.5.4 Trivalente kausative Gefühlsverben

Kausative Verben, die von einem statischen Grundverb (sei dieses nun
mono- oder divalent) hergeleitet sind, weisen aufgrund der semantischen
Besonderheit der Ursprungsverben in vielen Fällen zwei Varianten auf.
Es gibt die faktitive Variante, welche das Resultat eines faktisch vollzo-
genen Prozesses zum Ausdruck bringt (etwas ist ‘klein’, weil es ‘klein
gemacht’ worden ist), und es gibt die putative Variante, die eine
Wertung oder Zuschreibung einer Eigenschaft als mentales Resultat
festhält (‘ich halte etwas für klein’, d.h. ‘im Geiste mache ich es klein’).
In beiden Varianten ist nicht mehr eine rezeptive Rolle, sondern eine
aktive, agentivische Rolle in der Subjektsstelle zu finden (vgl. auch die
Ausführungen zu faktitiv und putativ auf S. 83–84).
Der Unterschied zwischen den divalenten und den trivalenten Ver-
ben zeigt sich insbesondere in der Markierung des Objekts bzw. der
Objekte und in den jeweiligen Pronominalisierungs- oder Fusionsfor-
men. In einzelnen Fällen sind auch unterschiedliche Lesungen überlie-
fert, die allerdings nicht immer systematisch auf eine antikchinesische
Kausativmorphologie zurückzuführen sind, z.B. im Fall von kausativem
nǔ ᙂ < AC *nna-q im Gegensatz zu divalentem nù ᙂ < AC *nna-s, wo
das divalente Verb durch Suffigierung als exoaktiv zum offenbar inhä-
rent kausativem Grundverb abgeleitet erscheint.
102 Kapitel 2

B 98 ᙂ⦻ࡷ᪟ᗵ↫ LSCQ 11/2.3


nǔ wáng, zé Zhì bì sǐ
Wenn wir den König wütend machen, dann werde ich, Zhì, mit
Sicherheit sterben. (faktitiv)

B 99 Ӻᴹн᡽ѻᆀ.⡦⇽ᙂѻᕇ⛪᭩ Hán Fēi Zǐ 49.7; 13.1–2


jīn yǒu bù cái zhī zǐ. fù mǔ nǔ zhī, fú wéi gǎi
Gegeben sei ein missratener Sohn. Vater und Mutter geraten
seinetwegen in Rage, aber er weigert sich, eine Korrektur vor-
zunehmen. (faktitiv, pronominale Form)

B 100 ᱹӪᠬҼᆀѻᙂᾊᑛҏ Xuān 12.3 Zuǒ


Jìn rén jù èr zǐ zhī nǔ Chǔ shī yě
Die Rén von Jìn befürchteten, dass die zwei Junker das Heer von
Chǔ aufreizen würden. (faktitive; Prädikat im Komplementsatz,
vgl. 4.2.1)

B 101 ᙂѻԕ傇ަㇰ LSCQ 3/4.3


nǔ zhī yǐ yàn qí jié
Man mache sie wütend durch Testen ihrer Zurückhaltung.
(faktitiv; mit zwei realisierten Objekten; Grund / Instrument mit
der Kasusmarkierung yǐ ԕ eingeleitet)

Diesen faktitiven Beispielen sollen nun einige putative folgen. Der


Unterschied zwischen den divalenten Beispielen (vgl. B 72 bis B 76)
mag auf den ersten Blick inhaltlich gering erscheinen, aber die semanti-
schen Nuancen sind gleichwohl spürbar: Ob man wegen einer Sache in
Wut gerät (also als Resultat selbst wütend ist), oder ob man eine Sache
für einen zu Wut führenden Anreiz hält (dabei aber selbst nicht notwen-
digerweise wütend wird), beschreibt zwei unterschiedliche Situationen.
Ganz deutlich hingegen sind in der Regel die formalen Signale, denn das
Objekt wird nicht mit der Kasusmarkierung yú ᯬ eingeleitet.

B 102 ⦻ᙂ⢰俆ѻ⋴ѳ䙀ѻ Hán Fēi Zǐ 34.20


wáng nǔ Xī Shǒu zhī xiè, nǎi zhú zhī
Der König empfand die Indiskretion des Shǒu aus dem Stamm
der Xī als Ärgernis und jagte ihn daraufhin fort. (putativ;
dikomplentäre Form)
Einfache Verbalsätze 103

B 103 〖ぶ‫ޜ‬ᙂަ䘳↨ҏ LSCQ 23/6.2


Qín Mù gōng nǔ qí táo guī yě
Der Mù-Patriarch von Qín fand es ärgerlich, dass er entkommen
und zurückgekehrt war. (putativ; dikomplentäre Form; nǔ ᙂ
dominiert Komplementsatz, vgl. 4.2.1, vgl. das analoge Beispiel
B 75 mit divalentem Prädikat)

B 104 ᓦӪᆹ᭯❦ᖼੋᆀᆹս Xún Zǐ 9.4


shù rén ān zhèng, rán hòu jūn-zǐ ān wèi
Sobald die shù-Rén das Regieren als sicher empfinden, wird der
Fürstjunker (seine) Position darauf als sicher empfinden. (puta-
tiv)

Graphik 26: Gefühlsverben (kausativ-trivalent; faktitiv)

X
NE
(Initians)
‘(Gefühl)
(durch Handlung)
Y entstehen
NE machen / lassen’
(Grund)
Prädikats-
Z ausdruck
NE
(Rezipiens)

Ein adaptiertes Beispiel in der Strukturbaumdarstellung mit faktiver und


putativer Interpretation:
104 Kapitel 2

Strukturbaum 20

Sv

KP VP

K NP V KP KP

K NP K NP

ø ø
gong nu zhi yi xiè

der Patriarch ärgerte ihn durch eine Indiskretion


der Patriarch fand ärgerlich ihn wegen der Indiskretion

Der Lexikoneintrag erhält zur Subklassifizierung das Merkmal [emot.


fak] oder [emot.put]:

ᙂ nǔ: V3 [emot.fak];
X-INITIANS macht / lässt mit / durch Y-GRUND /
INSTRUMENT in / bei Z-REZIPIENS Ärger / Wut / Zorn
entstehen
X-INITIANS ärgert Z-REZIPIENS mit / durch Y-GRUND /
INSTRUMENT

ᙂ nǔ: V3 [emot.put];
X-INITIANS findet / hält für ärgerlich wegen Y-GRUND
/ INSTRUMENT Z-REZIPIENS
X-INITIANS hält Z-REZIPIENS für ein Ärgernis wegen
Y-GRUND / INSTRUMENT
3 Nominalphrasen

In der Grundlegung sind bei der Analyse des deutschen Beispielsatzes


(“der neue Student analysiert kühn das antike Beispiel”) die zwei
Strukturen mit einem nominalen Kern (nämlich: ‘der neue Student’ und
‘das antike Beispiel’) in drei Ebenen zerlegt worden, die von einer
elementaren Ebene des Nomens N über eine mittlere der Nominalen NL
bis zur komplexen Ebene der Nominalphrase NP reichen. Diese Drei-
stufigkeit der Analyse gilt es im folgenden einerseits zu begründen,
anderseits ihre Angemessenheit bei der Analyse des AC-Materials nach-
zuweisen. Die Dreistufigkeit der Analyse wollen wir mangels AC-
Muttersprachigkeit zunächst an einem aktuellen deutschen Beispiel
illustrieren:

die neue Studentin der Sinologie

Wenn wir die Konstituentenstrukturanalyse anwenden, so gelangen wir


zu folgenden Konstituenten und Konstituten:

Graphik 27: Konstituentenstrukturanalyse

[ Studentin]

[ Studentin [der Sinologie ]]

[ neue [ Studentin [der Sinologie ]]]

[die [ neue [Studentin [der Sinologie ]]]]

In dieser Nominalstruktur sind eine Reihe von Elementen realisiert, die


alle das Kernnomen ‘Studentin’ näher bestimmen, aber in je verschiede-
ner Weise: Der bestimmte Artikel ‘der’ drückt Definitheit aus (um im
Einklang mit der Fachliteratur zu bleiben wollen wir den Artikel DET,
d.i. Determinant nennen), das Adjektiv ‘neue’ bezeichnet eine Eigen-
106 Kapitel 3

schaft der Studentin (in der Fachterminologie heisst das Element


Adjunkt). Das Nomen ‘Studentin’ referiert auf die gemeinte Person, und
die Genitivergänzung schliesslich bezeichnet den Gegenstand des
Studiums näher (da diese Ergänzung verwandt ist mit der Verb-Objekt-
Verbindung “sie studiert Sinologie” wird sie Komplement genannt).
Obwohl bei der Segmentierung des Beispiels vier Schnitte gemacht
wurden, werden hier nur die folgenden drei Ebenen differenziert:

a. Komplemente ergänzen ein Nomen (genauer: ein Verbalnomen) zu


einer Nominale;
b. Adjunkte bestimmen Nominale näher, ohne aber deren Status zu
verändern (sie bleiben Nominale);
c. Determinanten ergänzen Nominale zu Nominalphrasen.

In die Baumdarstellung umgesetzt ergibt dieses Regelwerk die folgende


Struktur:

Graphik 28: Nominale Strukturen

NP

DETERMINANT NL

ADJUNKT NL

NL KOMPLEMENT

die neue Studentin der Sinologie

Das ist das Spektrum der Möglichkeiten im Deutschen (und im


Englischen), wobei hier die Funktionen Determinant, Adjunkt und
Komplement eingefügt sind und nicht die Wortklassen (DET, ADJ, NP).
Da AC aber in seinem Sprachbau nur bedingt dem indoeuropäischen
Muster vergleichbar ist, sind bei der Bildung von Nominalstrukturen
eventuelle sprachspezifische Differenzen nicht auszuschliessen. Diesen
Konstruktionen und ihren allfälligen Besonderheiten werden wir uns nun
zuwenden.
Nominalphrasen 107

3.1 Adjunkte

Wird eine nominale / verbale / adverbiale Konstituente durch die Ad-


junktion einer anderen Konstituente vom Funktionstyp ADJUNKT
modifiziert (Komplemente modifizieren nicht, sondern ergänzen, vgl. 3.3
unten), so gilt mit wenigen Ausnahmen im archaischen und im substrat-
sprachenbeeinflussten Antikchinesischen uneingeschränkt das folgende
allgemeine Stellungsgesetz:

Graphik 29: Stellungsgesetz

Modifizie- MODIFIZIERTEM
rendes kommt
z.B. VOR z.B.
Adjektiv Nominale
Adverb Verbale

Die folgenden Abschnitte sollen eine Übersicht darüber geben, welche


Modifikationsstrukturen grundsätzlich in der Nominalgruppe vorkom-
men und welche Komplexität sie aufweisen. Bei diesen Strukturen sind
Kombinationen von zwei Adjunkttypen festzustellen, nämlich den
genitivischen und den verbalattributiven (zur Bedeutung des Ausdrucks,
vgl. 3.1.1.1).

3.1.1 Genitivische Adjunkte

Beispiele für die sogenannte genitivische Modifikation von Nominalen


durch andere Nominalstrukturen wären etwa die folgenden:

B 105 ཙᆀ Yǐn 1.4 Zuǒ


tiān zǐ
‘Himmels-Sohn’ (impliziter Genitiv)
108 Kapitel 3

B 106 ཙѻᆀ Zhuāng 3.3 Gǔ


tiān zhī zǐ
‘Sohn des Himmels’ (expliziter Genitiv)

Diese Adjunkt-Konstruktion ist strukturell – und vielfach auch inhaltlich


– mit dem Konstruktionstyp Verbalattribut-Nominale mehr oder weniger
eng verwandt. Man vergleiche ‘der Königs-Sohn’ – ‘der königliche
Sohn’. (Auf diese strukturellen Ähnlichkeiten wird noch anlässlich der
Diskussion der Relativsätze in 4.1 zurückzukommen sein.) Ausserdem
ist eine Verwandtschaft mit gewissen possessiven Relativsätzen festzu-
stellen: ‘der Sohn des Himmels’ – ‘der Sohn, den der Himmel hat’.
Ferner ist darauf hinzuweisen, dass in manchen Sprachen verschiedene
syntaktische Beziehungen im formalen Einheitsgewand des Genitivs
auftreten, so z.B. die traditionell gut bekannten objektiven oder subjek-
tiven Genitive (vom Typ amor patriae ‘die Liebe zum Vaterland’), oder
lokativische Beziehungen (Einwohner von Zürich) usw. Das Modifika-
tionsverhältnis kann einerseits implizit, also durch die Stellung und ohne
sichtbare Oberflächenmarkierung (Beispiel B 105), andererseits explizit
(vgl. Beispiel B 106), d.h. mit dem als Postposition zu klassifizierenden
Signalwort der adnominalen Modifikation,

ѻ zhī PST [adnom]

ausgedrückt werden. Für die Ableitung stellt sich die Frage, welcher
Wortklasse das Signalwort und welcher Strukturklasse die Genitivergän-
zung zuzuordnen sei. Da zhī ѻ eine Beziehung zwischen Satzteilen
signalisiert, ist es in die Nähe der Präpositionen gerückt. Da es aber auch
der ihm vorangehenden nominalen Struktur zuzuordnen ist, kann es sich
hier nicht um eine Prä-position handeln, sondern um eine Post-position
(wie sie z.B. aus dem Japanischen bekannt sind). Die Abkürzung für
diese Wortklasse wird mit PST angesetzt. Damit wird die strukturelle
Interpretation der Genitivergänzung als Postpositionalphrase PSP nahe-
gelegt. Unterstützung findet diese Analyse auch durch den aus AC (und
anderen Sprachen) bekannten Herleitungsprozess von Prä- bzw. Post-
positionen aus Verben (das lokative Bewegungsverb zhī ѻ ‘hingehen’
wäre also als Quelle der Derivation anzusetzen – man vergleiche den
analogen Vorgang bei den Präpositionen cóng ᗎ ‘von … aus / her’ oder
zì 㠚 ‘von … an, seither’ oder bei den deutschen Parallelbeispielen
Nominalphrasen 109

“eingedenk der Tatsache” < “denken”, “vermittels einer Drahtspule” <


“vermitteln” usw.).
Bekanntlich kann der Modifikationsteil in der Genitivkonstruktion
pronominalisiert werden. Dies geschieht in der Regel mit dem dafür
typischen Pronomen qí ަ, und man spricht dann meist von einer pos-
sessiven Konstruktion. Man vergleiche:

B 107 ⲷ⡦ѻҼᆀ Wén 11.6 Zuǒ


Huáng-fǔ zhī èr zǐ
‘die zwei Söhne des Paten Huáng’

B 108 ަҼᆀ Xī 24 fù 1 Zuǒ


qí èr zǐ
‘seine zwei Söhne’

Aus der Gegenüberstellung der beiden Beispiele könnte man ableiten,


dass – in Analogie zu anderen bekannten Fusionsformen (vgl. 8.3) –
Modifikans und Postposition gewissermassen in einem Zug “pronomi-
nalisiert” werden (zhī ѻ “verschwindet” ja auch) und dass die folgenden
Gleichung anzusetzen sei:

ⲷ⡦ѻ = ަ
Huáng-fǔ zhī = qí

Wenn man an der Kategorisierung von qí ަ als Pronomen festhalten


will, dann gibt es gegen diese oberflächliche Gleichung eine Reihe von
grundsätzlichen Einwänden. Ein Pronomen kann prinzipiell nur ein
nominales Element ersetzen (Nomen oder Nominalphrase). Analog be-
treffen Pronominalisierungsvorgänge in Kasus- oder Präpositional-
phrasen nur nominale Bestandteile, d.h. die jeweiligen Markierungen
oder Präpositionen bleiben davon immer unberührt). Dasselbe muss also
für Postpositionalphrasen und Postpositionen gelten. Und tatsächlich gibt
es im Zuǒ Zhuàn ᐖۣ (Kommentar des Herrn Zuǒ zum Chūn Qiū ᱕⿻)
ein Dutzend Beispiele mit dem Pronomen wǒ ᡁ, in denen die Markie-
rung mit zhī ѻ bei gleichzeitiger Pronominalisierung des Modifikations-
teils erhalten bleibt:
110 Kapitel 3

B 109 Ⲷᡁѻ㠚・ Xiāng 25 fù 2 Zuǒ


jiē wǒ zhī zì lì
Sie alle wurden dank der von uns ausgehenden Initiative einge-
setzt.

Dieser Nachweis der Unabhängigkeit von zhī ѻ sowie die eingangs


dieses Abschnittes erwähnte Verwandtschaft mit der verbalattributiven
Adjunktionskonstruktion legen zunächst die Formulierung einer Regel
nahe, in der die Adjunktionsebene die Nominale NL ist, die mit der Regel
R-4b generiert wird (die Kennzeichnung mit ‘b’ deutet an, dass die
Regel 4 eine Gruppe von Regeln umfasst, die der weiteren Ableitung
von Nominalphrasen dient, und deshalb intern schon in der richtigen
Reihenfolge differenziert werden soll). NL muss ferner durch eine ad-
jungierte fakultative (deshalb geklammerte) Postpositionalphrase (PSP)
ergänzt werden können R-5, andererseits ist die Regel R-6 erforderlich
für die Ableitung der Postpositionalphrase zu einer Nominalphrase NP
und einer Postposition PST (die Ableitung zu einer “simplen” NP und
nicht zu einer KP verhindert, dass eine erneute Kasusmarkierung möglich
wird):

(R-1) Sv → KP + VP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → V (KP) (KP)
(R-4b) NP → NL
(R-5) NL → (PSP) NL
(R-6) PSP → NP + PST

Damit wird die Generierung der folgenden Nominalstruktur mit einer


genitivischen Adjunktion möglich:
Nominalphrasen 111

Strukturbaum 21

NL

PSP NL

NP PST

tian zhi zi
des Himmel -s Sohn

Die strukturelle Situierung der Adjunktion auf der Ebene NL (und nicht
NP) verhindert im übrigen in korrekter Weise, dass durch den Einschub
eines Determinanten DET, z.B. des Demonstrativdeterminanten shì ᱟ
(vgl. 3.2 unten), zwischen die Postposition PST und dem nach rechts
zweigenden Kernnomen NL ungrammatische Ketten entstehen. In Über-
einstimmung mit dieser Analyse sind Belege für diese strukturelle An-
ordnung nicht aufzufinden. Die zweite, verbalattributive Adjunktions-
form wird dagegen nicht ausgeschlossen (vgl. unten 3.1.1.1). Damit wird
auch der am deutschen Beispiel eingangs festgestellte Befund, dass die
Adjunktion auf der NL-Ebene stattfindet, insgesamt bestätigt. Aus den
Überlegungen im Rahmen dieses Abschnittes wäre abschliessend fest-
zuhalten, dass die Proform qí ަ, welche in der Regel terminologisch als
Possessivpronomen gefasst wird, keineswegs immer possessiv zu deuten
ist, wie das folgende Beispiel belegt:

B 110 ୿ަ᭵ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.8


wèn qí gù
[Sie] erkundigten sich nach dem Grund dafür. (Und nicht etwa:
‘nach seinem Grund’)

Diese Beobachtungen werden bei der Behandlung der Komplement- und


Relativsatzstrukturen eine Vertiefung erfahren.

3.1.1.1 ‘Kopflose’ Genitive


Nach bisherigem Verständnis kann die Postposition zhī ѻ, welche die
explizite Genitivkonstruktion markiert, nur dann auftreten, wenn ihr eine
112 Kapitel 3

Nominalphrase folgt, die den Kopf der Konstruktion bildet. Das konse-
quente Festhalten an diesem Verständnis führt aber bei bestimmten Äus-
serungen zu einem analytischen “Infarkt” und zu einem Erklärungsnot-
stand. Bei folgenden Belegen ist dies beispielsweise der Fall:

B 111 ↔ѻ䄲བྷᆍ Mèng 4A.28


cǐ zhī wèi dà xiào
???

B 112 ↔ѻ䄲᰾ᗧ⸓ Xuān 15.4 Zuǒ


cǐ zhī wèi míng dé yǐ
???

B 113 ੁᠼѻ䄲Ѿ Xiāng 27 fù 2 Zuǒ


Xiàng Xū zhī wèi hū!
???

Beginnen wir mit Beispiel B 113 und der Grundannahme, dass es sich
um nicht-elliptische Sätze handelt: Die zwei Schriftzeichen ੁᠼ sind
Bestandteil eines Namens (Xiàng ੁ ist der Stammname, Xū ᠼ ist der
persönliche Name). Hier haben wir es also klar mit einer nominalen
Konstituente zu tun. Das “Ausrufezeichen” hū Ѿ (auch Sprechakt-
markierung SM genannt, s. 7.1.3.2) ist ein deutliches Signal für einen
Verbalsatz. Wenn wir die Kette Xiàng Xū zhī wèi ੁᠼѻ䄲 als Genitiv
analysieren, dann fehlt das Verb; wenn wir die Kette in eine Teilkette
Xiàng Xū zhī ੁᠼѻ und das Verb wèi 䄲 aufteilen, dann stellt sich die
Frage der Analyse der Teilkette Xiàng Xū zhī ੁᠼѻ.
Gehen wir über zu Beispiel B 112: Der satzfinale Perfektanzeiger yǐ
⸓ signalisiert deutlich, dass wir es wieder mit einem Verbalsatz zu tun
haben. Den Ausdruck míng dé ᰾ᗧ möchte man intuitiv als Objekt
eines Verbs wèi 䄲 auffassen. Es bleibt wieder ein Gebilde der Form cǐ
zhī ↔ѻ, welches man nach bisherigem syntaktischem Verständnis
keiner bekannten Konstruktion zuordnen kann. Wenn wir nun an dieser
skizzierten Konstituentenstrukturanalyse für Beispiel B 112 festhalten,
dann ist Beispiel B 111 wohl analog aufzufassen. Diese beiden Belege
lassen auch den Schluss zu, dass das präverbale zhī ѻ nicht als Objekts-
pronomen aufgefasst werden kann, denn im Kasusrahmen des Verbs wèi
䄲, nämlich ‘X nennt Y ein Z’, gibt es postverbal bereits ein Objekt Z
Nominalphrasen 113

(z.B. míng dé ᰾ᗧ) – und das allenfalls noch zu erwartende Objekt Y ist
im Pronomen cǐ ↔ realisiert.
Was sind also die Teilketten cǐ zhī ↔ѻ und Xiàng Xū zhī ੁᠼѻ
in diesen Belegen für Gebilde? Wenn wir an der Funktion von zhī ѻ in
Ketten dieser Art festhalten, nämlich daran, dass es sich kategorial um
eine Postposition handelt, die nach einer nominalen Konstituente eine
Modifikationsbeziehung signalisiert, dann bleibt uns nur die Möglich-
keit, strukturell eine genitivische (allgemeiner gesagt: eine endozentrisch
modifizierende) Variante vorzusehen, bei welcher der Kopf fehlt.
Das ist gar nicht so ungewöhnlich, denn im Modernchinesischen
kommen solche Konstruktionen sehr häufig vor. Es handelt sich nämlich
um nominale Konstituenten, die mit der mit zhī ѻ funktional in vielerlei
Hinsicht analogen Postposition de Ⲵ abgeschlossen sind. Man verglei-
che: (a) hóng-de, hēi-de, dōu yǒu ㌵Ⲵ,唁Ⲵ,䜭ᴹ – ‘es gibt sowohl rote
wie schwarze X’ (verbalattributive Modifikationen ohne Kopf); (b) zuó-
tiān lái-de shì Ruìshìrén, jīntiān lái-de shì Déguórén ᱘ཙֶⲴᱟ⪎༛
Ӫ, ӺཙֶⲴᱟᗧ഻Ӫ – ‘die gestern Gekommenen waren Schweizer,
die heute Gekommenen sind Deutsche’ (Relativsätze ohne Köpfe); (c)
䙉⁓Ⲵн㹼 – ‘solche taugen nicht’; (d) ᱘ཙⲴн㾱ⴻ,ӺཙⲴਟԕ –
‘die von Gestern dürfen Sie nicht anschauen, die von Heute können Sie’
(genitivische Konstruktion ohne Kopf – gemeint können z.B. Zeitungen
sein).
Wenn wir nun annehmen, dass eine Konstruktion dieses Typs auch
im AC möglich war, dann stellt sich die Frage, welche semantische oder
pragmatische Konnotation damit zum Ausdruck gebracht wird. Bei den
Äusserungen, die mit dem Verb wèi 䄲 konstruiert sind, ist festzustellen,
dass im unmittelbaren Kontext eine Modellvorstellung, z.B. in der Form
eines Zitats aus einer kanonischen Quelle, angeführt wird. Damit wird
die anschliessende Schlussformel in einen klassifizierenden oder gene-
rischen Zusammenhang gestellt (was notwendigerweise auch indefinit
ist). Wir erhalten also die folgenden Übersetzungen der Beispiele B 111
bis B 113:

B 111 ↔ѻ䄲བྷᆍ Mèng 4A.28


cǐ zhī wèi dà xiào
Solches heisst ‘hohe Ahnenpietät’.
114 Kapitel 3

B 112 ↔ѻ䄲᰾ᗧ⸓ Xuān 15.4 Zuǒ


cǐ zhī wèi míng dé yǐ
Solches ist schon ‘Verpflichtungen der Leuchtenden’ genannt
worden.

B 113 ੁᠼѻ䄲Ѿ Xiāng 27 fù 2 Zuǒ


Xiàng Xū zhī wèi hū!
Ein Xū aus dem Stamm der Xiàng ist damit gemeint!

Dem generischen Charakter entsprechend wird der Bezug auf Xū aus


dem Stamm der Xiàng nicht in einer direkt referierenden Form gemacht
(also nicht: ‘Der Xū aus dem Stamm der Xiàng ist damit gemeint’),
sondern über die Klasse von Personen, welche die Charaktereigen-
schaften oder Verhaltensmuster eines Xū hatten (also: ‘einer wie der Xū
aus dem Stamm der Xiàng’).
Bei der Analyse der Äusserungen dieses Typs mit dem Verb wèi 䄲
darf man sich meist auch dann nicht von der ‘kopflosen’ Interpretation
abbringen lassen, wenn die Äusserung mit einem yě ҏ abgeschlossen
wird. Zum Beispiel:

B 114 䂙ӁǍԆӪᴹᗳ,Ҹᘆᓖѻǎ. ཛᆀѻ䄲ҏ Mèng 1A.7


Shī yún ‘tā rén yǒu xīn, yú cǔn duó zhī’. fú-zǐ zhī wèi yě.
Wenn es in den Liedern heisst, ‘In einem anderen Rén gibt es
eine Herzensregung, und ich habe sie erraten und gemessen’, so
ist jemand wie Sie, werter Junker, einer, der gemeint ist.

Durch das Signal yě ҏ wissen wir, dass mit der Äusserung fú-zǐ zhī wèi
yě ཛᆀѻ䄲ҏ ein Nominalsatz vorliegt. Diese Kette kann aber
grundsätzlich strukturell verschieden analysiert werden: (a) Die Kette
ཛᆀѻ䄲 wird als genitivisch konstruierte Prädikatsnominalphrase
verstanden (das getilgte Subjekt würde auf das Zitat oder dessen Inhalt
referieren). Als Genitiv wäre fú-zǐ ཛᆀ explizit mit zhī ѻ dem
(Verbal)nomen wèi 䄲 zugeordnet und als ‘das Reden des werten
Junkers’ oder ‘die Meinung des werten Junkers’ zu übersetzen (subjek-
tiver Genitiv). Ein objektiver Genitiv ‘das Reden vom Junker’ kann aus
syntaktischen Gründen nicht angesetzt werden, denn diese müsste
zwingend die Form 䄲ཛᆀ haben, also ‘das den-Junker-Meinen’ oder
‘das vom-Junker-Reden’. Da eben dieses pragmatisch und intuitiv
Nominalphrasen 115

gemeint zu sein scheint, ist die genitivische Interpretation kontextuell


inadäquat. (b) Die Kette fú-zǐ zhī ཛᆀѻ wird als kopfloser Genitiv
interpretiert. Die kopflose Konstruktion wird verwendet, um generische
Referenzen herzustellen, d.h. als Analogon zu fú-zǐ zhě ཛᆀ㘵 ‘einer
vom Typ des Junkers’. Dadurch ist wèi 䄲 als Prädikatsnominalphrase
zu interpretieren. Da das Subjekt auf eine Person referiert, muss im
Prädikat ein generischer Relativsatz angesetzt werden, also ‘jemand, der
gemeint wird’ oder ‘jemand, von dem gesprochen wird’ (vgl. die Dis-
kussion dieses Konstruktionstyps in Abschnitt 5.2).
Ein weiterer bedeutsamer Hinweis auf den nominalen Charakter der
Ketten ‘Nominalausdruck + zhī ѻ’ findet sich Äusserungen, in denen
der Subjektsausdruck mit dem Subjektspronomen qí ަ zur Betonung
extraponiert wird (vgl. Abschnitt 9.1.2), wie in den folgenden Belegen
zu sehen ist:

B 115 ަᆀ⭒ѻ䄲⸓ Hán Fēi Zǐ 38.13


qí zǐ-Chǎn zhī wèi yǐ
Ein Junker Chǎn – ein solcher ist damit gemeint!

B 116 ަᱝ⦻ѻ䄲ҏ Hán Fēi Zǐ 38.15


qí Zhào-wáng zhī wèi yě.
Ein Zhāo-König – ein solcher ist einer, der gemeint ist.

Ergänzt wird diese Feststellung der nominalen Natur durch den fol-
genden Beleg, wo das Fragepronomen hé օ für die zu ersetzenden
Ketten shā lù zhī ⇪ᡞѻ und qìng shǎng zhī ឦ䌎ѻ steht:

B 117 օ䄲ࡁᗧ?ᴠ:⇪ᡞѻ䄲ࡁ,ឦ䌎ѻ䄲ᗧ Hán Fēi Zǐ 7.1


hé wèi xíng dé? yuē: shā lù zhī wèi xíng, qìng shǎng zhī wèi dé.
Was heisst ‘Bestrafen’ und ‘Verpflichten’? Ich sage: ‘Töten’
oder ‘Schänden’ heisst ‘Bestrafen’, ‘Gratulieren’ oder ‘Beloh-
nen’ heisst ‘Verpflichten’.

Nach all diesen Belegen mit dem Verb wèi 䄲 stellt sich die Frage, ob
wir es hier mit einer idiosynkratischen Konstruktion zu tun haben, also
einer Ausdrucksweise, die typisch ist für dieses Verb und für diese
pragmatische Situation. Dass es sich aber tatsächlich um eine
116 Kapitel 3

allgemeinere Konstruktion handelt, lässt sich mit den folgenden Bei-


spielen belegen:

B 118 ᾊѻᴹⴤ䓜 Hán Fēi Zǐ 49.9


Chǔ zhī yǒu zhí Gōng
Unter denen von Chǔ gab es den aufrechten Gōng.

Der Ausdruck Chǔ zhī ᾊѻ ist hier klar als lokativisches Subjekt des
Verbs yǒu ᴹ zu analysieren. Es kann als Analogon zu den möglichen
Konstruktionen Chǔ zhě ᾊ㘵 ‘einer aus Chǔ’ oder Chǔ zhī rén ᾊѻӪ
‘ein Rén aus Chǔ’ aufgefasst werden (und in gewissen Kommentaren
wird der Ausdruck auch so erklärt, zumal ѻ zhī (*tə) und zhě (*ta-q)
einander auch lautlich sehr nahestehen).
Die korrekte Analyse des ‘kopflosen’ Genitivs kann in gewissen
Kontexten von eminenter Bedeutung sein, nämlich dann, wenn es um die
notwendige begriffliche Klarheit geht. Das lässt sich an folgendem Beleg
illustrieren:

B 119 ≤ѻᙗⵏ␵㘼൏⊘ѻ;Ӫᙗᆹ䶌,㘼ఌⅢҲѻ HNZ 2.26


shuǐ zhī xìng zhēn qīng, ér tǔ gǔ zhī; rén xìng ān jìng, ér shì yù luàn zhī.
???

Die übliche Übersetzung dieser Kette wäre wohl wie folgt: ‘Der
naturgegebene Zustand von Gewässern ist rein und klar, aber Erde trübt
sie; der naturgegebene Zustand der Rén ist zufrieden und ruhig, aber
Begehren und Wünsche wühlen ihn auf.’ Irritierend an dieser Über-
setzung ist die Tatsache, dass inhaltlich eigentlich Eigenschaften des
Wassers bzw. der Rén beschrieben werden, nicht aber ihrer naturgege-
benen Anlagen. Diese Irritation stammt daher, dass die Ketten shuǐ zhī
xìng ≤ѻᙗ und rén xìng Ӫᙗ als Genitive analysiert (erstere als
expliziten, letztere als impliziten Genitiv) und als Subjektsausdrücke
interpretiert werden. Intuitiv würde man die Äusserungen wie folgt
verstehen und auch übersetzen wollen: ‘Wasser ist von Natur aus rein
und klar, aber Erde trübt es; Rén sind von Natur aus zufrieden und ruhig,
aber Begierden und Wünsche wühlen sie auf’. (LE BLANC & MATHIEU
2003, die das HNZ übersetzt haben, spüren diese Unstimmigkeit offen-
bar auch, denn sie übersetzen mit ‘l’eau est claire par nature’, vgl. S. 75.)
Mit anderen Worten: das Wort xìng ᙗ wird als Adverb, als Ausdruck
Nominalphrasen 117

der Modalität verstanden. Diese Diskrepanz zwischen scheinbarer syn-


taktischer Struktur und inhaltlicher Zuordnung lässt sich nun auflösen,
indem die besagten Ketten nicht als Genitivkonstruktionen mit dem Kopf
xìng ᙗ analysiert werden, sondern im ersten Fall als kopfloser Genitiv
shuǐ zhī ≤ѻ und im zweiten Fall als autonomes Subjekt rén Ӫ. Wird
diesen Ausdrücken der Status eigenständiger Syntagmen zuerkannt und
das Nomen xìng ᙗ als Adverbial zu den jeweiligen verbalen Prädikaten
gezogen, wörtlich also: ‘etwas aus Wasser’ oder ‘ein Rén’, so fügt sich
Intuition und syntaktische Analyse zu einer korrekten Interpretation
zusammen und wir erhalten die folgende Übersetzung:

B 119 ≤ѻᙗⵏ␵㘼൏⊘ѻ;Ӫᙗᆹ䶌,㘼ఌⅢҲѻ HNZ 2.26


shuǐ zhī xìng zhēn qīng, ér tǔ gǔ zhī; rén xìng ān jìng, ér shì yù luàn zhī.
Wässeriges ist naturgegeben rein und klar, aber Erde trübt es;
Rén(-artige) sind naturgegeben zufrieden und ruhig, aber
Begierden und Wünsche wühlen sie auf.

Die folgenden zwei Belege sind analog zu argumentieren. In Beispiel B


120 ist in der Kette zhú zhī xìng fú ㄩѻᙗ⎞ der Ausdruck zhú zhī
ㄩѻ als kopfloser Genitiv zu analysieren und xìng ᙗ als Adverbial zum
Verb fú ⎞ zu ziehen (es kann ja kaum gemeint sein, dass ‘die Natur des
Bambus schwimmt’!), in Beispiel B 121 ist im Rahmen der Kette quǎn
mǎ zhī yǔ wǒ ⣜俜ѻ㠷ᡁ die Teilkette quǎn mǎ zhī ⣜俜ѻ als
kategorial gleiches Element zu wǒ ᡁ zu analysieren (also nominal), was
dazu führt, quǎn mǎ zhī ⣜俜ѻ als kopflosen Genitiv zu verstehen:

B 120 ㄩѻᙗ⎞,⇈ԕ⛪⢂,ᶏ㘼ᣅѻ≤,ࡷ⊹,ཡަ億ҏ HNZ 11.10


zhú zhī xìng fú, cán yǐ wéi dié, shù ér tóu zhī shuǐ, zé chén, shī qí tǐ yě.
Etwas aus Bambus schwimmt in seinem naturgegebenen Zustand
auf dem Wasser, aber wenn jemand es verstümmelt, um daraus
Schreibplättchen zu machen, diese zu einem Bündel schnürt und
ins Wasser wirft, dann versinkt es, weil [der Bambus] seine
Struktur verloren hat.

B 121 ަᙗ㠷Ӫ↺,㤕⣜俜ѻ㠷ᡁн਼于ҏ Mèng 6A.7


[…], qí xìng yǔ rén shū, ruò quǎn mǎ zhī yǔ wǒ bù tóng lèi yě […]
[Gesetzt den Fall, es wäre die Reaktion des Mundes auf eine
schmackhafte Speise,] bei der sein[, des Yì Yá,] naturgegebenes
118 Kapitel 3

Verhalten und das anderer Rén verschieden wären, [nämlich] so


wie Hundeartige oder Pferdeartige und wir solche sind, die nicht
aus der gleichen Kategorie sind [– was wäre der Grund dafür,
dass sich dann alle Geschmacksreaktionen im Reich an der
Reaktion des Yì Yá auf schmackhafte Speisen orientieren?]

Wenn sich die Beschreibung des kopflosen Genitivs als korrekt heraus-
stellt, so hat das weitreichende Konsequenzen für die häufig geäusserte
Ansicht, dass gewisse Markierungen einem deskriptiv und explanato-
risch nicht präzise fassbaren Muster folgen. Erklärungen, die auf
stilistische Erwägungen oder weitgehende Freiwilligkeit des Setzens
oder Nichtsetzens hinauslaufen, sollten eigentlich nicht anvisiert werden,
bevor Regelmässigkeiten nicht ausgelotet worden sind; denn nur auf
diesem Hintergrund sind Abweichungen oder “Regelverstösse” zu
erkennen und zu erklären. Es gilt wohl eher: Je vielfältiger die struk-
turellen Kontexte sind, in denen eine bestimmte Markierung vorkommt,
umso stringenter muss die Interpretation der syntaktischen Signale sein,
um sich nicht in uferloser Beliebigkeit zu verlieren.

3.1.1.2 Objektive Genitive


Der Genitiv kodiert bekanntlich eine ganze Reihe von verschiedenen
syntaktischen Funktionen und mit ihnen auch die entsprechenden Kasus-
merkmale. Zwischen dem Kopf der Konstruktion und dem modifizieren-
den Teil können possessive, lokative, subjektive und andere Bezie-
hungen bestehen. Die Belege illustrieren einige dieser Beziehungen (die
interessierenden Teilketten sind kursiviert):

B 122 Ԣቬѻᗂ❑䚃ẃ,᮷ѻһ㘵 Mèng 1A.7


zhòng-Ní zhī tú wú dǎo Huán, Wén zhī shì zhě
Unter den Gefolgsleuten des medius-Ní gab es nicht einen, der
das Dienstverhalten des Huán-Patriarchen [von Qí] oder des
Wén-Patriarchen [von Jìn] für richtiges Führungsverhalten hielt.
(Paraphrase: ‘die Gefolgsleute, die der medius-Ní hatte’ –
possessiv.)
Nominalphrasen 119

B 123 ਔѻӪᡰԕབྷ䙾Ӫ㘵❑Ԇ✹ Mèng 1A.7


gǔ zhī rén suǒ yǐ dà guò rén zhě, wú tā yān
Aus dem, worin Persönlichkeiten des Altertums andere Persön-
lichkeiten weit übertreffen, daraus lasse er alles Andere [– bis
auf dieses –] verschwinden. (Paraphrase: ‘die Persönlichkeiten,
die im Altertum lebten’ – temporal.)

B 124 ⎧‫ޗ‬ѻൠᯩॳ䟼㘵ҍ Mèng 1A.7


hǎi nèi zhī dì, fāng qiān lǐ zhě jiǔ
Was die Territorien im Innenraum der Meere anbetrifft, die
1’000 li im Geviert sind, so gibt es deren neun. (Paraphrase: ‘die
Territorien, die im Raum innerhalb der Meere liegen’ – lokal.)

B 125 ᭵⦻ѻн⦻н⛪ҏ Mèng 1A.7


gù wáng zhī bù=wàng bù=wéi yě
Also ist Euer Nicht-sich-wie-ein-echter-König-verhalten ein
Nicht-Tun. (Paraphrase: ‘das Nicht-sich-wie-ein-echter-König-
verhalten durch den König / Euch’ – subjektiv.)

Diese Beziehungen lassen sich grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen:


In der ersten Gruppe ist der Kopf der Konstruktion ein originäres (d.h.
nicht abgeleitetes oder deriviertes) Nomen (wie z.B. rén Ӫ ‘Rén, Per-
sönlichkeit, Mensch’, guó ഻ ‘Fürstentum’, shuǐ ≤ ‘Wasser’), in den
anderen ist der Kopf ein aus einem Verb abgeleitetes bzw. deriviertes
Nomen (z.B. zǒu 䎠 ‘Laufen’, xué ᆨ ‘Studium’, lì ࡙ ‘Profit’). Im
Antikchinesischen war dieser Derivationstyp häufiger durch ein *-s-Suf-
fix markiert (vgl. Kap. 10.5.3), das in mittelchinesischen und modernen
Lesungen im ausgehenden Ton (qùshēng ৫㚢) teilweise noch erhalten
geblieben ist (z.B. zhī 㒄 < AC *tək ‘weben’ vs. zhì 㒄 < AC *tək-s
‘Gewobenes, Stoff’, guān 㿰 < AC *kkon ‘beobachten’ vs. guàn <
*kkon-s ‘Wachturm’ usw.). Gelegentlich wurde die Derivation auf der
Schriftebene zusätzlich durch graphische Determinierung signalisiert
(z.B. liè ࡇ < AC *ret ‘reihen, arrangieren’ vs. lì ֻ < AC *ret-s ‘Reihe,
Regel’) bzw. auch durch weitere Schriftentwicklungen und Affigierungs-
prozesse verschleiert (z.B. bǐng ⿹ < AC *praŋ-q ‘in der Hand halten’ vs.
bǐng ᷴ < AC *praŋ-s ‘Griff, Handhabung’). In der ersten Gruppe
beschränken sich die Beziehungen zwischen Kopf und Modifikationsteil
auf possessive, lokative oder temporale; in der zweiten Gruppe kommt
120 Kapitel 3

prinzipiell das ganze Spektrum der Rollen in Frage, die vom verwandten
Verb dominiert werden können. So kann z.B. das vom Verb ‘studieren’
abgeleitete Nomen ‘das Studieren’ oder auch ‘das Studium’ analog zum
Verb einen subjektiven (wer studiert?) oder einen objektiven Modifika-
tionsteil haben (was wird studiert?), was – je nach Objekt – zu ambiva-
lenten Strukturen führen kann. So kann etwa der Ausdruck ‘das Studium
der Männer’ als ‘das Studium des Studienobjekts Männer’ (analog: ‘X
studiert die Männer’) oder aber ‘das Studium, welches von Männern
absolviert wird’ (analog: ‘Männer studieren Y’) paraphrasiert werden.
Mit anderen Worten: die Art der genitivischen Beziehung ist abhängig
von der Valenz und von den Rollen der Valenzstellen des zugrunde-
liegenden Verbs. Bei Verbalnomina, die von einwertigen Verben her-
geleitet sind, können somit nur subjektive Genitive angesetzt werden.
Zum Beispiel:

B 126 ⲭ㗭ѻⲭҏ⥦ⲭ䴚ѻⲭ Mèng 6A.3


bái yǔ zhī bái yě yóu bái xuě zhī bái
Für weisse Federn weiss zu sein, ist dasselbe wie das Weiss-Sein
von weissem Schnee. (Analog: ‘weisser Schnee ist weiss’ –
subjektiv.)

Bei Verbalnomina, die von zwei- oder dreiwertigen Verben abgeleitet


sind, können hingegen neben den subjektiven Genitiven auch objektive
angesetzt werden. Zum Beispiel:

B 127 ᱏ䲺ᵘ匤഻ӪⲶ ᴠ:ᱟօҏ.[…]
ཛᱏѻ䲺ᵘѻ匤,ᱟ[…]⢙ѻ㖅㠣㘵ҏ. Xún Zǐ 17.7
xīng zhuì, mù míng, guó rén jiē kǒng, yuē: shì hé yě? […]
fú: xīng zhī zhuì, mù zhī míng, shì [...] wù zhī hǎn zhì zhě yě
Wenn Sterne fallen und Bäume ächzen, so erschrecken alle Rén
des Fürstentums und fragen: Weshalb ist dies so? […] Nun: Das
Fallen der Sterne, das Ächzen der Bäume, dies […] sind Dinge,
die selten eintreffen. (Die zwei Äusserungen zeigen die
Wandlung der Ketten xīng zhuì ᱏ䲺 und mù míng ᵘ匤 in die
subjektiven genitivischen Ketten xīng zhī zhuì ᱏѻ䲺 und mù
zhī míng ᵘѻ匤.)
Nominalphrasen 121

B 128 ↔㹼ሿᘐ㘼䋺བྷᘐ㘵ҏ.᭵ᴠሿᘐབྷᘐѻ䋺ҏ Hán Fēi Zǐ 19.4


cǐ xìng xiǎo zhōng ér zéi dà zhōng zhě yě. gù yuē: xiǎo zhōng dà zhōng zhī zéi
yě.
Letzterer war einer, der die unbedeutendere Loyalität praktizierte
und sich dabei an der bedeutenderen Loyalität verging. Darum
sage ich: ‘Das unbedeutendere Loyalsein ist ein Verbrechen am
bedeutenderen Loyalsein’ (Die zwei Äusserungen zeigen die
Wandlung der Kette zéi dà zhōng 䋺བྷᘐ in die objektive
genitivische Kette dà zhōng zhī zéi བྷᘐѻ䋺.)

Je nach den syntaktisch-semantischen Gebrauchsbedingen der jeweiligen


Verben können die Rollen der Subjekts- oder Objektsausdrücke mit nur
nicht-humanen, nur humanen oder mit gemischten Referenzen besetzt
sein. In Beispiel B 128 ist klar, dass die Teilkette dà zhōng བྷᘐ im
genitivischen Ausdruck dà zhōng zhī zéi བྷᘐѻ䋺 keinesfalls das
Subjekt der entsprechenden verb-zentrierten Äusserung sein kann (also
nicht: dà zhōng zéi zhī *བྷᘐ䋺ѻ ‘die grosse Loyalität vergeht sich an
ihm’), sondern eben in der Funktion des Objekts (wie der vorangehende
Äusserungsteil in B 128 bestätigt) angesetzt werden muss. Das Objekt
kann aber auch mit einem humanen Rollenträger besetzt sein, was dann
zu einer gewissen strukturellen Ambivalenz führt, die aber kontextuell
meist aufgelöst werden kann. Zum Beispiel:

B 129 ㇑ᮜԢẃѻ䋺ҏ Xī 33.8 Zuǒ


Guǎn Jìng zhòng Huán zhī zéi yě
Der Jìng-medius aus dem Stamm der Guǎn war ein Verbrecher
am Huán-Patriarchen (von Qí). (objektiver Genitiv)

Ausserhalb des stützenden Kontexts könnte die genitivische Konstruk-


tion Huán zhī zéi ẃѻ䋺 z.B. possessiv verstanden werden (‘der Ver-
brecher des Huán-Patriarchen’ – also einer, der für den Huán-Patriarchen
Verbrechen ausführte) oder z.B. subjektiv (‘das Objekt eines Verbre-
chens des Huán-Patriarchen’ – also einer, der Opfer eines vom Huán-
Patriarchen veranlassten Verbrechens war). Dieses Schillern ist auch im
nächsten Beispiel festzustellen – theoretisch wären subjektive, posses-
sive oder sogar temporale Interpretationen möglich –, aber kontextuell
ist in allen Fällen von objektiven Genitivbeziehungen auszugehen:
122 Kapitel 3

B 130 ᆏᆀᴠ:Njӄ䵨㘵й⦻ѻ㖚Ӫҏ,
Ӻѻ䄨‫ן‬ӄ䵨ѻ㖚Ӫҏ,
ӺѻབྷཛӺѻ䄨‫ן‬ѻ㖚Ӫҏ Mèng 6B.7
Mèng zǐ yuē: wǔ bà zhě sān wáng zhī zuì rén yě;
jīn zhī zhū-hóu wǔ bà zhī zuì rén yě;
jīn zhī dài-fū jīn zhī zhū-hóu zhī zuì rén yě.
Junker Mèng sagte: “Die (Fürsten) vom Typ der ‘Fünf
Hegemone’ waren Schuldige angesichts der Drei Könige, die
heutigen Lehensfürsten sind Schuldige angesichts der Fünf
Hegemonen und die heutigen Dàifū sind Schuldige angesichts
der heutigen Lehensfürsten.” (objektive Genitive)

Die hier beschriebene genitivische Form für die transformierte


Objektbeziehungen zwischen einem Verbalnomen und einem seiner
Objekte ist im AC nicht besonders häufig. Abgesehen von der bereits
erwähnten möglichen Ambivalenz, die vielleicht für eine tendenzielle
Meidung dieser Konstruktion verantwortlich sein könnte, ist auf eine
damit konkurrierende Konstruktion hinzuweisen, die im Deutschen
ebenfalls meistens mit einem objektiven Genitiv wiedergegeben wird,
die aber im AC der strukturellen Abfolge des Musters eines Verbalsatzes
folgt (man vgl. analog im Deutschen ‘das Füttern der Pferde’ gegenüber
‘das Pferde-Füttern’, wobei letztere Form im Deutschen aus stilistischen
Gründen gemieden, im AC jedoch klar bevorzugt wird).
Strukturen dieser Art kommen sehr häufig (aber keineswegs
ausschliesslich) in einer erklärenden Nominalsatzform des Typs shì …
yě ᱟ … ҏ ‘dies ist ein / das …’ vor. Die folgenden Beispiele sollen die
Bandbreite der subjektive und objektive Komplementierungen umfassen-
den Möglichkeiten illustrieren:

B 131 ᱟҲཙлҏ Mèng 3A.4


shì luàn tiān-xià yě
Das ist ein Verwirren des Reiches. (Als Verbalsatz: ‘das Reich
verwirren’ – objektiv.)
Nominalphrasen 123

B 132 ᱟ≁ਇѻҏ Mèng 5A.5


shì mín shòu zhī yě
Dies war sein Akzeptiertwerden durch die Mín. (Wörtlich: ‘das
Ihn-Akzeptieren-der-Mín’; als Verbalsatz: ‘die Mín akzeptieren
ihn’ – subjektiv und objektiv.)

B 133 ᱟᮉᆀⅪҏ Hán Fēi Zǐ 32.56


shì jiāo zǐ qī yě
Dies ist ein dem Sohn das Betrügen Beibringen. (Als Verbalsatz:
‘X bringt dem Sohn das Betrügen bei’ – objektiv, sowohl direkt
als auch indirekt.)

B 134 ᱟӑ੮ؑҏ Hán Fēi Zǐ 32.52


shì wáng wú xìn yě
Dies ist ein Verlustiggehen meiner Glaubwürdigkeit. (Als
Verbalsatz: ‘[ich] verliere meine Glaubwürdigkeit’ – objektiv.)

B 135 ৺䲧ᯬ㖚,❦ᖼᗎ㘼ࡁѻ,ᱟ㖄≁ҏ Mèng 1A.7


jí, xiàn yú zuì. rán, hòu cóng ér xíng zhī. shì wǎng mín yě.
Kommt es so weit, so fallen sie in [die Grube der] Schuld. So-
bald das geschehen ist, verfolgt und bestraft man sie. Das ist
Fangnetze-auslegen für die Mín. (Als Verbalsatz: ‘X legt Fang-
netze aus für die Mín’ – objektiv.)

B 136 ᱟ㠚≲⾽ҏ Mèng 2A.2


shì zì qiú huò yě
Dies ist selber das Unglück suchen. (Als Verbalsatz: ‘X sucht
selber das Unglück’ – objektiv und reflexiv in üblicher Stellung.)

3.1.2 Verbalattributive Adjunkte

Beispiele für die Modifikation von Nominalen durch verbalattributive


Adjunkte bzw. Verbalattribute (VAT) sind etwa die folgenden:

B 137 བྷ഻ Wén 3.6 Zuǒ


dà guó
‘grosses Lehnsfürstentum’
124 Kapitel 3

B 138 йӑ഻ Xī 19.3 Zuǒ


sān wáng guó
‘drei untergegangene Lehnsfürstentümer’

Eine erste sehr naheliegende, weil auf Ähnlichkeiten mit bekannten


Sprachen fussende Konstituentenanalyse dieser Beispiele ergibt die
folgenden Strukturdarstellungen:

Strukturbaum 22

NL
VAT NL

dà guó
grosses Fürstentum

Strukturbaum 23

NL
VAT NL

VAT NL

san wáng guó


drei untergegange Fürstentümer

Drei Beobachtungen stellen diese Analyse wesentlich in Frage:

1. Die modifizierenden Adjunkte können mit der Verbalnegation bù


нnegiert sein. Dieser Sachverhalt scheint für sich nicht besonders
schwer zu wiegen, denn auch im Deutschen kommt die Negation
des Adjektivs vor, z.B. “nichtzutreffende Analysen”. Dennoch ist zu
beobachten, dass die Negation häufiger mit verbnahen Formen
(besonders Partizipialformen) auftritt, während sie bei eigentlichen
Adjektiven ungewöhnlicher wirkt (“nicht saubere Analyse”) oder
Nominalphrasen 125

aber mit der Suffigierung konkurrenziert (z.B. nichtwissenschaftlich


– unwissenschaftlich), was wohl mit dem nominalen Charakter des
Adjektivs im Deutschen zusammenhängt.

2. Sehr selten werden im AC Partizipialformen (Typ “geröstete Nüs-


se”), die aus transitiven Verben herrühren (könnten), direkt verbal-
attributiv adjungiert. Wie zu zeigen sein wird (vgl. 4.1.3.3), wird die
Adjunktion in solchen Fällen fast ausschliesslich über Relativsatz-
konstruktionen vermittelt.

3. Verbalattributive Adjunkte werden als modifizierende Elemente ex-


plizit, wie Genitive (und – was noch zu zeigen ist – wie Relativ-
sätze) mit der Postposition zhī ѻ beim Kernausdruck adjungiert.
Dieser Sachverhalt erfordert eine einheitliche Erklärung und
Ableitung für Modifikationsstrukturen.

B 139 н᡽ѻᆀ Hán Fēi Zǐ 49; 13.1


bù cái zhī zǐ
‘der missratene Sohn’

Hier zeigt sich also eine klare Differenz zum Deutschen (Englischen
usw.): Während im Deutschen Adjunkte (Adjektive, Partizipialformen)
zur Nominalklasse tendieren (sie werden wie Nomina dekliniert, wie No-
mina verlangen sie prädikativ nach einer Kopula), gehört die funktional
analoge Wortklasse im AC zu den Verben (sie brauchen prädikativ kein
Analogon zur Kopula ‘sein’, also kein yě ҏ, fēi 䶎 usw.; sie können in
der adjungierenden Funktion von Negationen begleitet sein). Es wird
also im AC ein Prädikat der Nominale NL adjungiert, und dies geschieht
nicht direkt und unvermittelt, sondern über die Relativsatzkonstruktion.
Mit anderen Worten: Im AC wird nicht eine Struktur ‘das grosse
Fürstentum’ erzeugt, sondern stets die Struktur ‘das Fürstentum, das
gross ist’. Wo also im Deutschen (Englischen usw.) eine Paraphrasen-
relation zwischen Adjektiven und Relativsätzen existiert, ist eine solche
im AC praktisch inexistent. Im Vorgriff auf die Ableitung von Relativ-
satzkonstruktionen (vgl. 4.1) beschränken wir uns deshalb auf die Fest-
stellung, dass beim NP-Knoten innerhalb der Postpositionalphrase PSP
ein neuer Satzknoten S erzeugt werden kann, so dass eine alternative
126 Kapitel 3

Ableitung in der Regelgruppe R-4, nämlich Regel R-4c, der folgenden


Form anzusetzen wäre:

(R-4b) NP → (DET) NL
(R-4c) NP → S

Die Verwendung des Kürzels S (und nicht Sv) deutet an, dass der Satztyp
nicht zu präzisieren ist (Verbalsatz oder Nominalsatz; Näheres dazu in
Kapitel 4). Zusammen mit den übrigen eingeführten Regeln entstehen
somit die auf Relativkonstruktionen beruhenden verbalattributiven
Strukturen der folgenden (vereinfacht dargestellten) Art:

Strukturbaum 24

NL

PSP NL
NP PST
Sv
KP VP

ø ø
dà guó
grosser Staat

Beispiel B 138, welches eine zweifache verbalattributive Adjunktmodi-


fikation aufweist, wäre am einfachsten durch die Koordination von zwei
Satzknoten S (nach der Einbettung) zu erfassen. Aus dem Vergleich der
Beispiele B 107 und B 108 oben geht jedoch hervor, dass die Modifika-
tionen einerseits hierarchisch gestaffelt sein können (z.B. ist der Aus-
druck ‘rote kleine Schachteln’ nicht nur additiv – rot + klein – sondern
auch modifizierend interpretierbar – rote, im Gegensatz zu grünen,
kleinen Schachteln), andererseits wohl jede einzelne Modifikation mit
dem Modifikationsanzeiger versehen sein kann (vgl. Beispiel B 108 oder
etwa Modernchinesisch hóng-de, hēi-de, dōu yǒu ㌵Ⲵ唁Ⲵ䜭ᴹ – ‘es
gibt sowohl rote wie schwarze X’). Aufgrund dieser Überlegungen ist
Nominalphrasen 127

also einerseits eine koordinierte Struktur auf der Ebene PSP anzusetzen
(hier nicht als spezielle Regel formuliert), anderseits eine erneute
Anwendung von Regel R-5 einzuleiten, wie bei den VAT in der ersten,
kritisierten Analyse in Strukturbaum 23 oben. In der ersten Ableitung ist
die additiv koordinierte, in der zweiten die subordinierte Möglichkeit
dargestellt:

Strukturbaum 25

NL

PSP NL
PSP PSP
NP PST NP PST
Sv Sv
KP VP KP VP

ø ø ø ø
san wáng guó
“die dreie sind” + “die untergegangene sind” Fürstentümer
drei untergegangene Fürstentümer
128 Kapitel 3

Strukturbaum 26

NL

PSP NL
NP PST PSP NL
Sv NP PST
KP VP Sv
KP VP

ø ø ø ø
san wáng guó
“die dreie sind”
“die untergegangene sind” Fürstentümer
drei untergegangene Fürstentümer

Den bisher dargestellten Beispielen fehlt die explizite Kennzeichnung


der Konstruktion mit dem Anzeiger der adnominalen Modifikation zhī
ѻ. Das folgende Beispiel B 139 (aus dem Hán Fēi Zǐ, Text 13.1) weist
nicht nur diese Markierung auf, sondern zeigt auch auf, wie das
Verbalattribut VAT als Prädikat im eingebetteten (Relativ)satz ohne wei-
teres negiert werden kann:
Nominalphrasen 129

Strukturbaum 27

NL
PSP NL
NP PST
Sv
KP VP

ø
bù cái zhi zi
“der nicht geraten ist” Sohn
missratener Sohn

Damit ist eine einheitliche Beschreibung der adnominalen Modifikation


bei den Adjunktionen (Genitiv, Relativsatz bzw. Verbalattribut) und eine
generelle Funktionsdeutung des Anzeigers zhī ѻ in einer ersten Annä-
herung vorgezeichnet, Einsichten, die in Kapitel 4 noch zu vertiefen und
detaillierter darzustellen sind.

3.2 Determination

Als Vertreter der Wortklasse der Determinanten im AC sind in erster


Linie die demonstrativen Determinanten zu nennen. Diese sind Homo-
graphen zu den in 8.1.3 zu behandelnden Demonstrativpronomina und
ergänzen, wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, Nominale (NL) zu
Nominalphrasen (NP). Determinanten sind die einzigen Konstituenten,
welche ein unvermitteltes Konstruktionsverhältnis zu nominalen Struk-
turen eingehen können, d.h. sie benötigen keinerlei Strukturanzeiger.
Z.B.:
130 Kapitel 3

B 140 ᗵᱟᱲҏ Xī 5.9 Zuǒ


bì shì shí yě
Es wird zweifellos zu dieser Zeit sein.

B 141 䀾ᱟҼⴏҏ Xī 26.2 Zuǒ


tǎo shì èr méng yě
Das war, um dieser zwei Eidbündnisse wegen Rechenschaft zu
fordern.

Die Konstituentenanalyse dieser Beispiele zeigt, dass deren Struktur der


deutschen durchaus analog ist. Es genügt daher die Modifikation der
bestehenden Regel R-4b durch einen fakultativen Knoten DET:

(R-4b) NP → (DET) NL

Aufgrund der Belegbeispiele B 140 und B 141 lassen sich die folgenden
Strukturdarstellungen ansetzen (das Dreieck in Strukturbaum 29
signalisiert, dass zwei oder mehr Elemente zusammen eine nicht weiter
zu analysierende oder analysierbare Einheit bilden):

Strukturbaum 28

NP
DET NL

shì rén
dieser Ren/Mensch
Nominalphrasen 131

Strukturbaum 29

NP
DET NL
PSP NL

shì san guó


diese drei Fürstentümer

Neben diesen allgemeinen demonstrativen Determinanten gibt es aber


weitere Determinanten, die nicht ohne weiteres als solche erkannt
werden. Das auffälligste Mitglied dieser Gruppe ist der klassifikatorische
Determinant zhū 䄨, der seiner Herkunft nach einem archaischen
Paradigma von ablautenden Demonstrativpronomen angehörte (vgl.
Kapitel 10.5.4). Er entspricht in seiner Wirkung dem deutschen be-
stimmten Artikel im Plural und hat in einer Reihe von Fällen mit ausge-
wählten Nominalausdrücken stehende Wendungen gebildet hat. Z.B.:

䄨‫ן‬ 䄨བྷཛ 䄨⡦
zhū hóu zhū dài-fū zhū fù
die Lehensfürsten die Dài-fū die Väter

Fragt man sich, welche semantische Kategorie durch diese Wortklasse


zum Ausdruck gebracht wird, so ergeben sich (u.a. aufgrund des Ver-
gleichs mit den Artikeln, z.B. im Deutschen) die folgenden Stichworte
zur Determination: Demonstrativität, grammatische Zahl und Definitheit.
Die erwähnten Determinanten können (in je verschiedenen Kombina-
tionen) diese Kategorien zum Ausdruck bringen. Von besonderem Inter-
esse ist dennoch das letzte Stichwort: Wenn man von einer Sprache wie
dem Deutschen ausgeht, in der zum Ausdruck der Definitheit Artikel-
formen allgegenwärtig sind, so stellt sich natürlich die Frage, wie das AC
diese grammatische Kategorie allenfalls zum Ausdruck bringt. Es sind
dies – in der mutmasslichen Reihenfolge ihrer Häufigkeit – vor allem die
folgenden Mittel:
132 Kapitel 3

a. Stellung der jeweiligen nominalen Konstituente in der Äusserung:


Definitheit wird wohl zur Hauptsache durch präverbale Stellung
zum Ausdruck gebracht. Dies erklärt z.T. die Vielfalt der Möglich-
keiten, definit zu interpretierende Nominalphrasen in eine präverba-
le Position zu transferieren (Passivierung, Extraposition, Themati-
sierung, Spaltsatzbildung usw., vgl. Kapitel 9), umgekehrt auch die
(allerdings spärlicheren) Möglichkeiten, die Indefinitheit von Nomi-
nalphrasen durch eine entsprechende syntaktische Konstruktion zu
markieren (z.B. postverbale Positionierung durch Vorschalten von
yǒu ᴹ ‘es gibt’, vgl. 4.2.4).

b. Tilgung oder Pronominalisierung: Nominale Teile, die getilgt oder


pronominalisiert werden können, sind in der Regel im Kontext
bereits definiert, also definit (zumindest aber spezifisch; vgl.
Definition in 4.1.4).

c. Gebrauch von Determinanten, wie oben eben dargelegt.

d. Vielfalt der Relativsatzkonstruktion bei komplexeren Nominalstruk-


turen: Vgl. 4.1.4.

3.3 Nominalkomplemente

Schliesslich soll es – wenn man die Dreistufigkeit des Deutschen als


Modell nimmt – noch die Möglichkeit geben, Nomina durch Komple-
mente zu Nominalen zu ergänzen. Beispiele, welche die Existenz von
Komplementen, die Nomina zu Nominalen ergänzen, absolut zweifelsfrei
beweisen, sind aus AC-Texten nicht einfach beizubringen, und zwar
einerseits wegen der fehlenden, eine Nominalform klar signalisierenden
relationalen Morphologie, andererseits weil man sich dabei auf (zumeist
nur intuitive oder überlieferte) Annahmen über das Verhalten gewisser
syntaktischer Markierungen stützen muss. Dennoch ist der Ansatz einer
Nominalkomplementierung syntaktisch sinnvoll und ableitbar. Ausgehen
kann man zunächst einmal von einer Konstruktion, bei der in manchen
Fällen die Frage zu stellen ist, ob es sich um eine syntaktische Kon-
Nominalphrasen 133

struktion, oder aber um das Ergebnis eines Wortbildungsprozesses han-


delt, denn es handelt sich um Funktionsbezeichnungen von Amtsträgern,
die sich aus den entsprechenden Tätigkeitsbezeichnungen herleiten:

B 142 ਨ俜
sī=mǎ
‘Kriegsminister, Marschall’ (Aufseher über die Pferde)

B 143 ⛪᭯
wéi=zhèng
‘Kanzler’ (Hersteller der Ordnung)

B 144 ว᭯
zhí=zhèng
‘Kanzler’ (Handhaber der Ordnung)

Da es sich bei diesen Ausdrücken um lexikalisch erstarrte Formen /


Derivationen von z.T. in anderen Belegkontexten derselben Sprachstufe
noch aktiven Verb-Objekt-Verbindungen handelt, ist das Komplement
stellungsmässig dem Kernnomen – im Gegensatz zur Adjunktion –
sequentiell nachgeordnet. Damit wäre zwar eine wichtige Bedingung für
die Nominalkomplementierung erfüllt, aber diese Erscheinung ist eher
dem Lexikon zuzuweisen, also nicht aus der Perspektive der Syntax zu
behandeln. Der doppelte Bindestrich zwischen den beiden Silben soll
signalisieren, dass es sich hier um echte binomische Wörter handelt.
Eine weitere Möglichkeit, die aber nur in einem sehr eingeschränk-
ten Sinne als Komplementstruktur zu werten ist, bilden appositive
Konstruktionen mit einem Namen oder mit einem ein Mass oder ein
Behältnis bezeichnendes Wort als Konstruktionskern. Hier geht also das
Kernnomen dem Komplement bzw. der Apposition voran. Das Komple-
ment bzw. die Apposition ist nicht eine Modifikation des Kernnomens,
sondern die Explikation eines bereits vorhandenen inhaltlichen Merk-
mals. Man beachte in den folgenden zwei Beispielen die Ausdrücke
Sòng guó ᆻ഻ und dān shí yǔ ròu ㉎伏㠷㚹:
134 Kapitel 3

B 145 བྷҲᆻ഻ѻ᭯ Xiāng 17.7 Zuǒ


dà luàn Sòng guó zhī zhèng
(Er) richtete grosse Verwirrung in der Ordnung des Fürstentums
Sòng (oder: von Sòng, dem Fürstentum) an. (Mit Eigennamen
kann die aus zwei Nomina bestehende Struktur ambivalent sein:
der Ausdruck ᡀ⦻ kann dekontextualisiert als Chéng wáng
‘König [des Fürstentums] Chéng’, also implizit-genitivisch, als
‘Chéng-König’, also modifizierend, oder als ‘Chéng, der König’,
also appositivisch, aufgefasst werden. Der Ausdruck Sòng guó
ᆻ഻ changiert deshalb wie ein Vexierbild zwischen dem geniti-
vischen ‘Fürstentum [des Stamms] der Sòng’ und dem appositi-
ven ‘Sòng-Fürstentum’.)

B 146 ⛪ѻ㉎伏㠷㚹 Xuān 2.4 Zuǒ; 28.61


wéi zhī dān shí yǔ ròu
(Zhào Dùn) richtete ihm einen Korb mit Reis und mit Fleisch
her. (Diese Konstruktion kann nicht modifizierend bzw. als
reliktische Inversion einer modifizierenden Konstruktion analy-
siert werden, also wie wenn 伏㠷㚹[ѻ] ㉎ zu lesen wäre, was
etwa mit ‘Korb aus Reis und Fleisch’ oder ‘Korb, der Reis und
Fleisch gehört’ zu verstehen wäre.)

Klare Kandidatin für eine ausschliesslich syntaktisch zu motivierende


und generell realisierbare Komplementierung ist aber eine im Rahmen
des Nominalsatzes (vgl. Kapitel 5) häufiger zu beobachtende Konstruk-
tion. Das Charakteristikum dieses Nominalsatztyps besteht darin, dass
das Prädikatsnomen nicht ein originäres Nomen, sondern ein Verbal-
nomen ist. Z.B.:

B 147 ᱟӖ䎠ҏ Mèng 1A.3


shì yì zǒu yě
Das war auch Weglaufen.

Dass es sich dabei tatsächlich um Verbalnomina handeln könnte, lässt


sich weiterhin etwa daran ablesen, dass die an dieser Stelle erscheinen-
den Nomina eben im Sinne eines Komplements ein Objekt dominieren
können, also die Äquivalente zu den entsprechenden Verbkomplementen
sind (vergleiche: to study Sinology / Sinologie studieren – student of
Nominalphrasen 135

Sinology / Studierender der Sinologie). Sie werden also nicht (geniti-


visch) vor dem Kern, sondern gemäss ihrem Objektscharakter nach dem
Kernausdruck realisiert (der Komplementcharakter wird in der Tran-
skription durch den einfachen Bindestrich signalisiert) Z.B.:

B 148 ᱟỴؑҏ Chéng 6.4 Zuǒ


shì qì-xìn yě
Das ist das Aufgeben der Verlässlichkeit.

Diese “Verb-Objekt-Verbindung” (‘die Verlässlichkeit aufgeben’) liesse


sich wohl im Rahmen entsprechend formulierter Konstituentenstruk-
turregeln erfassen. Die These, dass es sich in diesen Beispielen um zwar
derivierte, aber bereits lexikalisierte “Verbalnomina” handle, könnte ins
Wanken geraten, wenn Beispiele der folgenden Art einbezogen werden,
in denen das “Verbalnomen” negiert wird. Z.B.:

B 149 ᱟн㠓ҏ Xī 5.5 Gǔ


shì bù=chén yě
Das ist nichtlehnsmannkonformes Verhalten.

Aufgrund dieser Beobachtung (und in Erwägung anderer Erscheinungen)


stellt sich die Frage, ob in Strukturen dieser Art die zentrale Kon-
stituente, nämlich das “Verbalnomen”, Resultat eines im Rahmen des
Lexikons ablaufenden Derivationsprozesses oder aber Resultat einer
Einbettung bzw. Transformation an der nominalen Strukturstelle ist. Für
die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob die Negation als ein
Suffix, wie in un-[klar], a-[typisch], nicht-[konform] usw. betrachtet wer-
den kann oder muss, oder ob sie in solchen Konstruktionen als autono-
mes syntaktisches Element klassifiziert werden muss (weitere Argumen-
te für die Lexikalisierungshypothese, vgl. Ende des Abschnitts 5.2.5).
Mit anderen Worten: Gibt es Belege für die Existenz einer präfixalen
Negation? Das folgende Beispiel aus dem Mò Zǐ 17A spricht eine
eindeutige Sprache:
136 Kapitel 3

B 150 ↔օ䄲⸕㗙㠷н㗙ѻࡕѾ Mò Zǐ 17A; 29.25


cǐ hé wèi zhī yì yǔ bù=yì zhī bié hū
Warum wird dies das Wissen um den Unterschied zwischen
standgemäss-korrektem Verhalten und unkorrektem Verhalten
genannt?!

Die Kette yì yǔ bù=yì zhī bié 㗙㠷н㗙ѻࡕ ‘der Unterschied zwischen


standgemäss-korrektem Verhalten und unkorrektem Verhalten’ ist ohne
Zweifel eine nominale Konstituente, und zwar aus zwei Gründen: Zum
einen ist die Kette yì yǔ bù=yì 㗙㠷н㗙 genitivisch an das Kernnomen
bié ࡕ angeschlossen, zum andern verbindet die Konjunktion yǔ 㠷 nur
nominale Konstituenten (vgl. 3.5 unten), womit yì 㗙 und bù=yì н㗙 als
Elemente der gleichen, eben nominalen, Wortklasse analysiert werden
müssen. Es ist also ganz klar davon auszugehen, dass hier ein Wort-
bildungsprozess stattgefunden hat, dass eine Kette wie bù=yì н㗙 eben
ein binomisches Wort darstellt. Die gleichen Argumente gelten bei der
Analyse des folgenden Beispiels:

B 151 ᆄᆀᴠ䚃Ҽӱ㠷нӱ㘼ᐢ⸓. Mèng 4A.2


Kǒng zǐ yuē: dào èr, rén yǔ bù=rén ér yǐ yǐ
Junker Kǒng sagte: “Der Führungsmethoden sind zwei, nämlich
rén-konformes und nicht-rén-konformes Verhalten, und dann ist
schon Schluss.”

Für die Ableitung von Strukturen mit einer Nominalkomplementierung


stellt sich die Frage nach den geeigneten Erzeugungsregeln. Rufen wir
uns das Ausgangsbeispiel nochmals in Erinnerung: die neue Studentin
der Sinologie. Das Verbalnomen ‘Studentin’ regiert nicht nur das Nomi-
nalkomplement (= direktes Objekt) ‘Sinologie’, sondern ist vorausge-
hend determiniert (mit dem Artikel ‘die’) und auch adjektivisch
modifiziert (ist also von einer Adjunktion ‘neue’ begleitet). Die Nomi-
nalkomplementierung muss also auf einer Ebene angesetzt werden, wo
alle diese Möglichkeiten gewahrt bleiben. Dies ist auf der Ebene der
Nominalen NL der Fall. Die Regel R-4b ist also so zu erweitern, dass der
Nominalen NL als Komplement (vorläufig) eine fakultative Kasusphrase
KP zugeordnet wird (analog zur Formulierung der Verbkomplemen-
tierung in Regel R-3):
Nominalphrasen 137

(R-4b) NP → (DET) NL (KP)

In den folgenden zwei Strukturbäumen soll in vereinfachter Form


einerseits illustriert werden, wie ein binomisches Verbalnomen abge-
leitet wird (das Dreieck signalisiert hier, dass zwei oder mehr Elemente
zusammen eine nicht weiter zu analysierende oder analysierbare Einheit
bilden), andererseits wie ein Verbalnomen mit seinem Nominal-
komplement strukturell eingeordnet ist:

Strukturbaum 30

Sn
NP PRP
NL NP PA
NL

shì bù=chén y
das nichtlehensmann- [ist]
konformes Verhalten

Strukturbaum 31

Sn
NP PRP
NL NP PA
NL NP

shì you fù ye
dies das Haben von Vätern [ist]

Dass die Nominalkomplementierung sich keineswegs nur auf den Nomi-


nalsatztyp beschränkt, lässt sich anhand des folgenden Beispiels klar auf-
138 Kapitel 3

zeigen, wo sowohl die Subjekts- wie auch die Objektsnominalphrase als


Nominalkomplement ausgebildet ist:

B 152 㠤⸕൘Ṭ⢙ Lǐ Jì 43.1 (Dà Xué); 10.15


zhì-zhì zài gé-wù
Der Erwerb von Erkenntnissen beruht auf der eingehenden
Erfassung der Wesenheiten.

Die Strukturbeschreibung von Beispiel B 152 lässt sich wie folgt in der
Baumdarstellung ansetzen:

Strukturbaum 32

Sv
KP VP
K NP V KP
NL NP K NP
NL NP

ø ø
zhì zhì zài gé wù
Erwerb von Wissen beruht auf Erfassung der Dinge

Damit wäre summarisch der Nachweis erbracht, dass der Ansatz einer
Nominalkomplementierung im AC deskriptiv und explanatorisch adäquat
ist, d.h. sie liefert eine syntaktisch sinnvolle Beschreibung und dient als
angemessene Erklärung entsprechender syntaktischer Strukturen. Es
handelt sich also nicht bloss um eine vom Deutschen her suggerierte,
naheliegende Analysemöglichkeit.
Nominalphrasen 139

3.4 Personennamen

Die Personennamen in AC-Texten sind von einer zunächst verwirrenden


Vielfalt – und natürlich nur teilweise Gegenstand grammatischer Erörte-
rungen. Die beteiligten Konstruktionen sind teilweise modifizierender,
teilweise appositiver Art. Hauptbestandteile sind Stammname, Eigen-
name und Erwachsenenname (auch Volljährigkeits-, Bekappungs- oder
Initiationsname genannt). Die folgenden Übersichten über die Männer-
namen, unterteilt in Herrscher und Andere, mit Beispielen aus den Kurs-
texten, sollen diese und ihre verschiedenen Ergänzungen illustrieren. In
der tabellarischen Reihenfolge können für die angegebenen Namen die
folgenden Äquivalente im Deutschen angesetzt werden:

啺Ჟ‫ޜ‬ Qí Jǐng gōng Jǐng-Patriarch von Qí


ᆻ‫ޜ‬ Sòng gōng Herzog von Sòng
৏՟䋛 Yuán bó Guàn Graf Guàn von Yuán
᮷⦻ Wén wáng Wén-König
ਾで hòu Jì Fürst Jì (‘Hirse’)

Tabelle 6: Namensformen der Herrscher

LN KN AT KT MING
഻ guó 䅊 shì ⡥ jué ਽ míng
啺 Qí ᲟJǐng ‫ ޜ‬gōng
ᆻ Sòng ‫ ޜ‬gōng
৏ Yuán ՟ bó 䋛 Guàn
᮷ Wén ⦻ wáng
ਾ hòu で Jì

Auf Herrscher kann mit den folgenden Titelformen referiert werden: mit
dem Adelstitel AT, der den Rang des Fürsten im Rahmen des Lehns-
140 Kapitel 3

systems signalisiert (die Sammelbezeichnung für die Herrscher ist zhū


hóu 䄨‫‘ ן‬die Lehensfürsten’), oder mit dem kanonischen Titel KT, der
für alle Fürsten gleich ist und höchst wahrscheinlich nicht nur postum
verwendet wurde. Die Referenz kann allein oder in Verbindung mit ge-
wissen Namenselementen erfolgen; z.B. tritt der kanonische Titel nahezu
ausschliesslich mit einem kanonischen Namen auf, der persönliche
Name dagegen eher mit dem Adelstitel. Man vergleiche die Übersicht, in
der auch die konventionellen Äquivalente in Deutsch (z.T. eigener Prä-
gung und mit * gekennzeichnet) und in Englisch aufgeführt sind, und
zwar für die Ebenen König wáng ⦻, Lehensfürsten zhū hóu 䄨‫ ן‬und
dài fū བྷཛ (d.s. die höchsten Lehnsmänner der Lehensfürsten, die
Inhaber von Sublehen, die zum kanonischen Namen einen besonderen
kanonischen Titel haben):

Tabelle 7: Adelstitel und kanonischer Titel

Adelstitel Konvention kan. Titel KT Konvention


AT jué ⡥ dt. / engl. dt. / engl.
ཙᆀ Himmelssohn ⦻ wáng König /
tiān zǐ son of Heaven king
‫ ޜ‬gōng Herzog / duke ‫ ޜ‬gōng *Patriarch / duke
Ministerialherzog
/ ministerial duke
‫ ן‬hóu Markgraf / do. do.
marquis
՟ bó Graf / earl do. do.
ᆀ zǐ Freiherr / viscount do. do.
⭧ nán Baron / baron do. do.
Qīng / Dài-fū ᆀ zǐ *Junker / *squire

Ein Namensbestandteil besonderer Prägung war die Geburtsrang-


bezeichnung PH (pái háng ᧂ㹼). Dieses Namenselement war keine
Bezeichnung für die biologische Geburtsreihenfolge. Da bei der Geburt
eines Kindes (Sohn oder Tochter) keineswegs klar sein konnte, welchen
Nominalphrasen 141

Geburtsrang es einnehmen würde (u.a. mussten die Kindersterblichkeit


oder Todesfälle berücksichtigt werden, so dass die Anzahl der
schliesslich Überlebenden also nicht im voraus sicher war), wurde die
Geburtsrangbezeichnung mit grosser Wahrscheinlichkeit erst nach
Erreichen der Volljährigkeit verliehen bzw. zu einem Bestandteil des
Namens, d.h. also beim Knaben mit zehn Jahren (nach heutiger
westlicher Rechnung elf). Diese Altersangabe stützt sich auf die
Auswertung von Fallbeispielen; laut Lǐ Jì ⿞䁈 und Guó Yǔ ഻䃎 wurde
die Volljährigkeit mit 20 Jahren erreicht und durch die Bekappung (guàn
ߐ) symbolisiert. Als Kind erhielt man also den persönlichen Namen
oder Eigennamen míng ਽, bei Volljährigkeit erhielt man den Volljährig-
keits- oder Initiationsnamen zì ᆇ und die Geburtsrangbezeichnung. Die
Geburtsrangbezeichnungen, die in der Übersetzung klein geschrieben
und mit Bindestrich dem Namen vorangesetzt werden, gelten sowohl für
männliche wie für weibliche Personen. Die folgende Übersicht gibt Aus-
kunft über alle möglichen Geburtsrangbezeichnungen PH (pái háng
ᧂ㹼), ihre jeweilige Bedeutung und ein mögliches aussagekräftiges
Äquivalent für die Wiedergabe:

Tabelle 8: Geburtsrangbezeichnungen

PH Bedeutung Äquivalent
՟ bó Erstgeborene(r) (wenn von Hauptfrau) MAJOR(IN)

ᆏ mèng Erstgeborene(r) (wenn von Nebenfrau) SENIOR(IN)

Ԣ zhòng Mittelgeborene(r) (wenn nur drei MEDIUS /


Geschwister gleichen Geschlechts MEDIA
vorhanden waren)
਄ shū Mittelgeborene(r) (wenn über drei MINOR(IN)
Geschwister gleichen Geschlechts
vorhanden waren)
ᆓ jì Letztgeborene(r) JUNIOR(IN)
142 Kapitel 3

Die zusammen mit Volljährigkeitsnamen verwendete suffixartige Silbe


zǐ ᆀ – wie etwa in der Namensform zǐ-Chǎn ᆀ⭒ – scheint eine
Sonderform der Geburtsrangbezeichnung zu sein, und zwar mit grosser
Wahrscheinlichkeit für erbberechtigte Söhne (vgl. tài zǐ ཚᆀ für den
Kronprinzen). Diese Namensform ist gegenüber der Form ‘kanonisches
Epitheton + kanonischer Titel zǐ ᆀ (‘Junker’)’ (man vgl. die letzte Zeile
in Tabelle 7) abzugrenzen, wie sie z.B. im Namensausdruck Xuān zǐ
ᇓᆀ ‘Xuān-Junker’ vorkommt (vgl. Text 28.27). Letztere Form kommt
nur den Vorstehern eines Stammes zu und steht im Zusammenhang mit
der Ahnenverehrung im Rahmen des sogenannten zhāo-mù-Systems
(ᱝぶ). Aus der Annahme heraus, dass potentielle oder effektive Vor-
steher damit bezeichnet werden, soll die Silbe zǐ ᆀin beiden Fällen mit
‘Junker’ wiedergegeben werden, allerdings in unterschiedlicher Stellung:
‘Junker Chǎn’ für die Form ᆀ⭒, ‘Xuān-Junker’ für die Form ᇓᆀ.
Neben diesen beiden Formen findet sich eine weitere bekannte
Form, nämlich ‘Stammname + Ehrentitel zǐ ᆀ (‘Junker’, konventionell:
‘Meister’)’. Diese wurde Personen verliehen, die durch ein temporäres
Amt zu Angehörigen des hohen Dienstadels auf der Stufe Qīng oder Dài-
fū aufgestiegen waren, die aber nicht die Vorsteherschaft eines Stammes
innehatten. Für Kǒng zǐ ᆄᆀ ‘Junker Kǒng’, der nachweislich die Stufe
Qīng / Dài-fū erreicht hat, ist diese Form bezeugt, jedoch weder die
Form *zǐ-Ní ᆀቬ, die ihn eben als potentiellen Vorsteher eines Stam-
mes identifizieren würde (nur: zhòng-Ní Ԣቬ ‘medius-Ní’, also mit
Geburtsrangbezeichnung und Erwachsenenname), noch eine Form
‘kanonisches Epitheton + Titel zǐ ᆀ’.
Das Element zǐ ᆀ tritt also zusammenfassend in den folgenden vier,
übersetzerisch zu differenzierenden Namensformen auf (weitere Ausfüh-
rungen in GASSMANN 2006, Abschnitte 1.1.2 und 1.2.4, finden): 1.
‘Name eines Fürstentums + Adelstitel zǐ ᆀ’, z.B. Chǔ zǐ ᾊᆀ ‘Freiherr
von Chǔ’. 2. ‘Kanonisches Epitheton + kanonischer Titel zǐ ᆀ’, z.B.
Xuān zǐ ᇓᆀ ‘Xuān-Junker’. 3. ‘Stammname + Titel zǐ (‘Junker’)’, z.B.
Kǒng zǐ ᆄᆀ ‘Junker Kǒng’ (bei der Form zǐ Mò zǐ ᆀ໘ᆀ handelt es
sich um eine vermutlich Höflichkeit signalisierende appositive
Konstruktion ‘der Junker, Junker Mò’). 4. ‘zǐ + Erwachsenenname’, z.B.
zǐ-Chǎn ᆀ⭒ ‘Junker Chǎn’. Die folgende Übersicht gibt Beispiele für
die verschiedenen Namensformen männlicher Personen (mit Ausnahme
der ersten Form):
Nominalphrasen 143

Tabelle 9: Männliche Namensformen

LN SN KN PH ZI MING ZUN KT
഻ ᇇ 䅊 ᧂ㹼 ᆇ ਽ ሺ
冟 ᆄ ш
ᆄ ᆀ
ᇓ ᆀ
༛ ᆓ
Ԣ ቬ
Ԣ ኡ ⭛
ᆀ ⭒
ᆀ 䐟

冟ᆄш Lǔ Kǒng Qiū Kǒng Qiū aus Lǔ


ᆄᆀ Kǒng zǐ Junker Kǒng
ᇓᇓᆀ Xuān zǐ Xuān-Junker
༛ᆓ Shì jì Shì Junior
Ԣቬ zhòng-Ní medius Ní
Ԣኡ⭛ zhòng-Shān-fǔ Vater medius Shān
ᆀ䐟 zǐ-Lù Junker Lù
ᆀ⭒ zǐ-Chǎn Junker Chǎn

Bei den männlichen Personen traten also Elemente auf, die – wie die
Tabelle 9 zeigt – offenbar nicht beliebig kombinierbar waren. So scheint
etwa die Geburtsrangbezeichnung oder die Statusbezeichnung (Vor-
steherschaft eines Stammes) vorzugsweise – aber nicht ausschliesslich –
mit dem Volljährigkeitsnamen aufzutreten, während sich der einem
hohen, aber temporären Amt zukommende Titel nur mit dem Stamm-
namen verbindet. Die syntaktische Verbindung ist auch unterschiedlich:
während z.B. Ländername und Geburtsrangbezeichnung in modifizie-
144 Kapitel 3

render Stellung sind, ist die des Honorificums appositiv (zum suffixalen
Ehrentitel fǔ ⭛/⡦, vgl. GASSMANN 2011).
An einer Stelle in den Kurstexten (19.4) kommt der Name einer
Frau vor, und zwar ist dies die Chéng Fēng ᡀ付 ‘die Chéng(-Herrin)
aus dem Klans der Fēng’, deren Namen aus dem kanonischen Namen
Chéng ᡀ und dem Klannamen Fēng 付 aufgebaut ist. Die Kennzeich-
nung der Klanzugehörigkeit (xìng ဃ) war bei Frauen wegen der Exo-
gamieregel bei der Heirat wichtig und fehlt deshalb kaum je in den
entsprechenden Namen. In der folgenden Tabelle 10 sind eine Reihe von
möglichen Ausdrucksformen zusammengetragen, wobei einzuschränken
ist, dass es sich ausschliesslich um die Namen von Herrschergattinnen
handelt:

Tabelle 10: Namen adliger Frauen (Herrschergattinnen)

LN KN PH XING ZUN
഻ 䅊 ᧂ㹼 ဃ ሺ
Ԣ ᆀ
՟ လ
ᡀ 付
↖ ဌ
啺 ဌ
ဌ ∿

Der Eintrag in der Kolonne KN ist nicht eindeutig, denn er kann


einerseits auf den kanonischen Namen der Frau (dies scheint dann die
Regel zu sein, wenn die Frau den Gatten überlebt, der selbst Anrecht auf
ein kanonisches Epitheton hat; 3. Beispiel unten), andererseits auf den
kanonischen Namen des Gatten referieren (4. Beispiel unten). Häufig ist
auch die Form ‘Klanname’ plus ‘Herrin (Titel)’, wie etwa in Jiāng shì
ဌ∿ unten. Die in der Tabelle 10 aufgelisteten Ausdrucksformen
können mit den folgenden Äquivalenten wiedergegeben werden:
Nominalphrasen 145

Ԣᆀ zhòng-Zǐ media aus dem Zǐ-Klan


՟လ bó-Jī majorin aus dem Jī-Klan
ᡀ付 Chéng Fēng Chéng-Herrin aus dem Fēng-Klan
↖ဌ Wǔ Jiāng Jiāng-Herrin des Wǔ-Patriarchen
啺ဌ Qí Jiāng Jiāng-Herrin aus Qí
ဌ∿ Jiāng shì Jiāng-Herrin

Die Personennamen werden im Rahmen dieser Grammatik bei den Ab-


leitungen nicht weiter analysiert, obwohl verschiedene syntaktische
Strukturen (z.B. genitivische oder verbalattributive Modifikations-
verhältnisse) durchaus auszumachen sind (der kanonische Name etwa ist
eigentlich ein verbalattributives Epitheton, der Herkunftsstaat ist
genitivisch angeschlossen usw.).

3.5 Koordinierte Nominalphrasen (NP)

3.5.1 Koordination und Lexikon

Koordinierte Nomina bilden zwar Strukturen vom Typ “Äpfel und


Birnen”, aber die Methode ihrer Bildung kann nur bei isolierter Be-
trachtung als willkürlich bezeichnet werden. Einfache wie koordinierte
nominale Strukturen treten in einem Satzzusammenhang, d.h. in
Verbindung mit einem bestimmten Prädikatsausdruck (Verb) auf. In
normaler Kommunikation wird dabei darauf geachtet, dass gewisse
Gebrauchsbedingungen der Verben das Zusammengehen mit bestimmten
Nomina ausschliessen oder aber ausdrücklich verlangen. So wird
üblicherweise ein Satz wie

B 153 ?das Buch kräht

als ungrammatisch (mit dem Fragezeichen vor dem Beispiel signalisiert)


beurteilt, weil eine Gebrauchsbedingung von ‘krähen’ eben verlangt,
dass das Subjekt grundsätzlich fähig zu dieser Handlung ist. Dass diese
Bedingung in bestimmten Textsorten, z.B. Märchen, verändert sein kann,
146 Kapitel 3

versteht sich. Analoge Gebrauchsbedingungen gelten nun ebenfalls für


koordinierte Nominalstrukturen (vgl. auch die Diskussion in 2.2.6, Punkt
2):

B 154 ?das Buch und der Stein krähen


B 155 ?er schlug die Scheibe und den Weg zum Bahnhof ein

Nur Nominalstrukturen, die gewisse semantische Klassenmerkmale ge-


meinsam haben, dürfen also in einer koordinierten Struktur generiert
werden. Die Kernnomina solcher Strukturen stehen in einer lexikalischen
Beziehung zueinander, die sich in einfachen oder mehrstufigen Unter-,
Gleich- oder Überordnungsverhältnissen äussern können. Da damit ein
Blick auf interessante Differenzen zwischen dem Deutschen und dem
AC-Wortschatz möglich ist, sollen diese Verhältnisse anhand einer Bei-
spielgruppe erläutert werden. Das (unvollständige) Lexikonsegment,
welches die Lebewesen bezeichnet eignet sich dafür:

Graphik 30: Hyponymie der Lebewesen (Deutsch)

Lebewesen

Mensch Tier Pflanze


… Haustier Wildtier Gras Baum

Ochs Pferd Vogel Landtier … …

… … … Krähe … Hirsch

Ausdrücke, die vom selben Knoten dominiert werden, heissen in bezug


auf diesen übergeordneten Ausdruck Hyponyme (z.B. Ochs bzw. Pferd
zu Haustier), in Bezug auf ihre Nachbarn Kohyponyme (z.B. Ochs zu
Pferd). Der übergeordnete Ausdruck heisst Supernym (z.B. Haustier).
Vergleicht man nun dieses Lexikonsegment des Deutschen mit seiner
AC-Entsprechung, so stellt man (mitunter überrascht) fest, dass die
hierarchischen Strukturen dieser Art, die man auch als lexikalisierte
Abstraktionsstufen interpretieren kann, ganz unterschiedlich ausgebildet
sind. Während das Deutsche in reichem Masse solche Relationen
lexikalisiert hat, sind in vielen Fällen die AC-Entsprechungen nicht als
Nominalphrasen 147

Simplicia, sondern eben als koordinierte Ausdrücke ausgebildet. Legt


man das obige Segment zugrunde, so ergibt sich ein Schema wie in
Graphik 31.
Das Schema ist mit gewissen Unsicherheiten behaftet. wù ⢙ ‘Ding’
bezeichnet meist nur Tiere, Pflanzen und leblose Dinge (in spezieller
Bedeutung sogar ‘Opfertiere’, also kaum Menschen – ausser vielleicht in
dem Begriff der wàn wù 㩜⢙ ‘10 000 Wesenheiten’ (vgl. aber im Lùn
Héng rén wù yě, wù yì wù yě Ӫ⢙ҏ⢙Ӗ⢙ҏ ‘die Menschen sind
Wesenheiten; die Tiere / Dinge sind auch Wesenheiten’). rén Ӫ
bezeichnet ferner in seiner Grundbedeutung eine bestimmte Gruppe von
‘Menschen’, nämlich den Klan des Herrschers bzw. die Angehörigen des
eigenen Klans, im Gegensatz zu den anderen Klans, den Mín mín ≁;
(vgl. GASSMANN 2000a/b). chù ⮌ taucht meist nur für die fünf wichti-
gen Haustiere auf, für Wildtiere gibt es noch eine andere Bezeichnung
(qín shòu ⿭⦨). Aus der Übersicht wird klar, dass im AC die
Lexikalisierung auf den höheren Ebenen eher schwach ausgebildet ist
(dies ist lediglich bei chù ⮌ ‘Haustier’ und wù ⢙ ‘Lebewesen / Tier’
der Fall). In den übrigen Fällen wird die Stelle des Supernyms durch
koordinierte Strukturen eingenommen, bei denen man aus ihrem
Verhalten und der Häufigkeit ihrer Kollokation auf festere Fügungen
schliessen darf, so z.B. cǎo mù 㥹ᵘ ‘Gras / Baum’ für ‘Pflanze’, niǎo
shòu 匕⦨ ‘Vogel / Landtier’ für ‘Wildtiere’, oder mín rén ≁Ӫ ‘Mín /
Rén’ für ‘Menschen’.
148 Kapitel 3

Graphik 31: Hyponymie der Lebewesen (AC)

Lebewesen

Mensch Tier Pflanze

Min Ren Haustier Wildtier Gras Baum

Ochs Pferd Vogel Landtier

Krähe Hirsch

3.5.2 NP-Koordination und Lexikographie

Die NP-Koordination bildet ein wichtiges Fundament für die Erarbeitung


und Stabilisierung der Bedeutung wichtiger Wörter. Dabei ist die Kate-
gorialbedingung ausschlaggebend, denn die Koordination ist nur mög-
lich, wenn eine übergeordnete Kategorie gebildet werden kann (so wie
Krähen und Spatzen als Vögel kategorisiert werden). Dies soll an den
folgenden Beispielen illustriert werden:
In Kapitel 23 des Xún zǐ 㥰ᆀ (Xìng è ᙗᜑ) spielt das Wort wèi ‫ڭ‬
eine prominente Rolle und hat entsprechend zu zahlreichen Kommen-
taren und Übersetzungsvorschlägen Anlass gegeben: z.B. ‘counterfeit’,
‘false’; ‘künstlich’, ‘unecht’ in Wörterbüchern; bei den Übersetzern des
Werks etwa ‘acquired training’ (Dubs), ‘conscious activity’ (Watson)
oder ‘conscious exertion’ (Knoblock). Diesen Vorschlägen gemeinsam
ist entweder das kategoriale Merkmal ‘Zustand’ (bei den Wörterbüchern)
oder ‘Tätigkeit’ (bei den Übersetzungen). Berücksichtigt man die Regeln
der Koordination, so ergibt sich folgendes Bild: In diversen Äusserungen
sind die Wörter xìng ᙗ und wèi ‫ ڭ‬parallelisiert und als xìng wèi ᙗ‫ڭ‬
teilweise direkt asyndetisch koordiniert, so dass deutlich wird, dass die
Nominalphrasen 149

beiden als Elemente der gleichen Kategorie zu verstehen sind, und zwar
einer Kategorie, die man als “Konfigurationen [der Herzorgane]” (dafür
gibt es keine lexikalisierte Kategorialbezeichnung) fassen könnte. So
werden die Ausdrücke táo rén zhī wèi 䲦Ӫѻ‫‘ ڭ‬die wèi des Töpfers’
und shèng rén zhī wèi 㚆Ӫѻ‫‘ ڭ‬die wèi des Töpfers’ parallelisiert;
beide sind auf dem Hintergrund der damit assoziierten Ausdrücke táo rén
zhī xìng 䲦Ӫѻᙗ ‘die naturgegebenen Anlagen des Töpfers’ und shèng
rén zhī xìng 㚆Ӫѻᙗ ‘die naturgegebenen Anlagen des Töpfers’ zu
sehen.
Was ist nun die differentia specifica zwischen xìng ᙗ und wèi ‫?ڭ‬
Im besagten Kapitel 23 wird ausgeführt, wie ein Töpfer Ton formt und
Gefässe herstellt. In diesem Prozess entstehen Gefässe durch die Fähig-
keiten, die der Töpfer z.T. naturgegeben zur Verfügung hat, zum Teil
aber erworben hat. Das Wort wèi ‫ ڭ‬bezieht sich nun genau auf diese
Kombination oder Konfiguration erworbener Fähigkeiten des Töpfers,
Gefässe verschiedenen Typs und für verschiedene Verwendungszwecke
durch Bearbeiten von Ton herstellen zu können. Analog dazu erwirbt
sich der weise Rén die Fähigkeit, die bei Geburt gegebene Konfiguraton
xìng ᙗ durch Bearbeiten bzw. Erziehen (aus eigenem Antrieb oder von
anderen initiiert) oder Erfahrung in eine geschaffene, brauchbare Kon-
figuration namens wèi ‫ ڭ‬zu wandeln, d.h. in Analogie zum Töpfer
gewissermassen bestimmte Instrumente oder Gefässe des Verhaltens
entstehen zu lassen. Neben der naturgegebenen, bei der Geburt vorhan-
denen Konfiguration von Fähigkeiten (xìng ᙗ) entstehen durch eigene,
aktive Anstrengung (aber auch durch erfahrene, z.T. ungünstige Umwelt-
faktoren) neue, entwicklungs-, karriere- oder berufsspezifische Konfigu-
rationen, eben wèi ‫ڭ‬.
Im gleichen Kapitel des Xún zǐ ist eine weitere wichtige NP-Koordi-
nation realisiert, nämlich xìng qíng ᙗᛵ. Das Auftreten dieser koordi-
nierten Konstruktion genügt, um auch hier anzunehmen, dass das zweite
der beiden Elemente zur gleichen Kategorie der “Konfigurationen [der
Herzorgane]” gehören muss. Während xìng ᙗ die Anfangskonfiguration
der menschlichen Herzorgane bezeichnet, d.h. seine Ausgangslage mit
den von der Natur vorgegebenen emotionalen und verhaltensmässigen
(Vor)einstellungen, wèi ‫ ڭ‬hingegen das Resultat einer spezifischen
Bearbeitung dieser Anfangskonfiguration, ergibt sich aus den Quellen als
Bedeutung von qíng ᛵ ein momentaner, aktuell bedingter Zustand der
Konfiguration, gewissermassen als Momentaufnahme einer bestimmten
150 Kapitel 3

Einstellung. Darum sind z.B. ‘Liebe’ oder ‘Hass’ eben qíng ᛵ, nämlich
momentane (emotional bedingte) Einstellungen bzw. (Gefühls)konfigu-
rationen der jeweils beteiligten Herzorgane. Und aus demselben Grund
kann die Anfangskonfiguration xìng ᙗ in bestimmten Kontexten auch
als qíng ᛵ verstanden werden, nämlich eben als die zu Beginn des
Lebens herrschende wiewohl teilweise vorübergehende Konfiguration.

3.5.3 Struktur der NP-Koordination

Die Bedingung für die Erzeugung koordinierter Nominalstrukturen kann


nun präziser wie folgt formuliert werden:

Nomina, die bezüglich eines Supernyms oder eines gemeinsamen


Merkmals in einer Hyponymie-Relation stehen, können koordinierte
Ausdrücke bilden.

Ist diese Bedingung nicht erfüllt, so ist meist eine implizite genitivische
Modifikation zu vermuten. Nomina, die Elemente einer solchen Hypo-
nymie-Relation sind, können auf zwei Arten additiv (‘und’) koordiniert
und so zu komplexen Nominalstrukturen zusammengefügt werden (in
manchen Fällen ist diese Konstruktion im Deutschen mit ‘oder’
wiederzugeben):

1. Die übliche Form besteht in der simplen (asyndetischen) Anein-


anderreihung der Form NP + NP (es wird hier die höchste Ebene der
Nominalstrukturen gewählt, denn die Kernnomina können mit
diversen Ergänzungen versehen sein):

B 156 ⢋俜 Xún Zǐ 9; 25.6; Xún Zǐ 17; 30.20


niú mǎ
Ochs[en] und Pferd[e]

B 157 ᆹት઼ણ Lǐ Jì 5.40; 8.15


ān jū hé wèi
‘zufrieden[stellende] Wohnstätten, harmonischer Geschmack’
Nominalphrasen 151

Bei mehr als zwei Elementen ist diese Konstruktion sehr oft paarig
erweitert und resultiert mithin in einer metrisch bzw. prosodisch als
wohlklingend empfundenen viersilbigen Artikulationsphrase (breath
group).

B 158 ⿞′ᖱՀ Lùn Yǔ 16.2; 3.1


lǐ yuè zhēng fǎ
‘Riten und Musik, Strafexpeditionen und Strafangriffe’

2. Seltener ist die Verwendung additiver Konjunktionen. Während die


asyndetische Konstruktion die simple Kombination der aufgezählten
Elemente zum Ausdruck bringt, weisen die auf Paare beschränkten
konjunktionalen Konstruktionen explizit auf unterschiedliche hier-
archische Verhältnisse zwischen den koordinierten Elementen hin.
Dabei müssen diese Differenzen nicht unbedingt realiter existieren,
sondern können eine kontextuell bedingte Einschätzung oder eine
bewusste subjektive Wertung spiegeln. Man kann jedenfalls hier
von einer markierten Form sprechen, im Gegensatz zur ersten Kon-
struktion, die als die unmarkierte, neutrale gelten kann. Die kon-
junktionalen Konstruktionen können daher auch emphatisch oder
kontrastiv verwendet bzw. verstanden werden.

a. Soll explizit zum Ausdruck gebracht werden, dass die koordinier-


ten Elemente im Hinblick auf die hypernyme Kategorie als status-
gleich zu betrachten sind, so wird dafür in der Form NP + KNJ + NP
(KNJ = Konjunktion) die Konjunktion yǔ 㠷 verwendet:

㠷 yǔ ‘und (gleichwertig / ebenfalls) / wie auch’ (seltener: ‘oder’)

B 159 伏㠷㚹 Xuān 2.4 Zuǒ; 28.61


shí yǔ ròu
‘Reis und [gleichermassen / ebenfalls] Fleisch’

B 160 㗙㠷н㗙 Mò Zǐ 17A; 29.25


yì yǔ bù=yì
‘korrektes wie ebenfalls auch / oder unkorrektes Verhalten’
152 Kapitel 3

b. Soll explizit zum Ausdruck gebracht werden, dass das erste Ele-
ment im Ausdruck als statushöher oder hierarchisch höhergestellt,
das zweite im Verhältnis dazu als statustiefer oder hierarchisch
tiefergestellt zu betrachten sind, so wird dafür in der Form NP + KNJ
+ NP die Konjunktion jí ৺ verwendet:

৺ jí ‘und (dann noch) / sowie’

B 161 ↖ဌ⭏㦺‫ޜ‬৺‫ޡ‬਄⇥ Yǐn 1.3 Zuǒ


Wǔ Jiāng shēng Zhuāng gōng jí Gōng shú-Duàn
Die Gattin des Wǔ-Patriarchen, die Herrin aus dem Jiāng-Klan,
gebar den Zhuāng-Patriarchen und dann den minor-Duàn von
Gōng. (Statusdifferenz zwischen Brüdern, signalisiert durch das
sequenzierende ‘dann’.)

B 162 ‫ޜ‬৺䛮ܰ⡦ⴏҾ㭁 Yǐn 1.2 Zuǒ


gōng jí Zhū Yí-fǔ méng yú Miè
Der Yǐn-Patriarch von Lǔ schloss einen Eidbund mit Vater-Yí
von Zhū in Miè. (Statusdifferenz zwischen Herrschern, signa-
lisiert durch postverbale Stellung des Tieferen in der Über-
setzung.)

c. Mit der Konjunktion jì ᳘ scheint es sogar möglich zu sein, aus-


zudrücken, dass das erste Element im Ausdruck als statustiefer oder
hierarchisch tiefergestellt, das zweite im Verhältnis dazu als status-
höher oder hierarchisch höhergestellt zu betrachten sind (offenbar
um Kritik am Höheren zu üben, darum gibt es wohl nur wenige
Belege):

B 163 гᒤ᱕⦻↓ᴸ: ᳘啺ᒣ Zhāo 7.1 Zuǒ


qī nián chūn wáng zhēng yuè: [Yān] jì Qí píng
7. Regierungsjahr, Frühjahr, 1. Mondmonat nach dem Kalender
des Zhōu-Königs: [Yān] schliesst Frieden mit Qí. (Yān ⠅ ist
zwar statustiefer, aber Qí hat ohne Recht angegriffen.)

Etymologisch betrachtet wäre diese Hierarchiedifferenz zwischen den


zwei Varianten wohl in jene Zeit zurückzuverfolgen, als das Ausgangs-
verb ‘erreichen’ der beiden Konjunktionen noch nicht grammatikalisiert
Nominalphrasen 153

war, und regelmässig durch das medio-passive *-s-Suffix (vgl. Kap.


10.5.3) markiert werden konnte: ৺ < AC *g(r)əp ‘X erreicht Y’ (und ist
deshalb Y hierarchisch übergeordnet) vs. ᳘ < AC *grəp-s ‘X wird von Y
erreicht’, sekundär auch ‘X geht mit Y konform’ (und ist deshalb Y
hierarchisch untergeordnet!). Dieser komitative Grammatikalisierungs-
pfad war im Antikchinesischen durchaus nicht singulär. So konnte z.B.
im möglicherweise zur selben Wortfamilie gehörigen Minimalpaar tà 䚍
(mit und ohne Klassenzeichen 䗦) < *lləp ‘X erreicht Y’ vs. dài 䙞< lləp
‘X reicht bis zu Y hin’ zumindest die unsuffigierte Variante im inschrift-
lichen Antikchinesischen häufig als NP-verbindende Konjunktion ‘und,
zusammen mit’ verwendet werden. Vgl. etwa Yǒu tà jué zǐ zǐ sūn
৻䚍৕ᆀᆀᆛ ‘Yǒu und die Enkel seiner Sohnessöhne’ (Sandai 1.17),
zhèn wén kǎo tà Máo gōng ᵅ᮷㘳䚍∋‫‘ ޜ‬mein kultivierter verstor-
bener Vorvater und der Ministerialherzog von Máo’ (Jicheng 4163),
wáng chū rù shì rén tà duō péng yǒu ⦻ࠪ‫ޕ‬һӪ䚍ཊᴻ৻ ‘die für den
König intern und extern dienstleistenden Persönlichkeiten und die vielen
älteren und jüngeren Freunde’ (Jicheng 2733) usw. Es wäre zu überprü-
fen, inwieweit die für die edierte Literatur beobachtete Hierarchiediffe-
renz bereits in diesen frühen Texten systematisch galt.
Da koordinierte Strukturen nicht zu den syntaktischen Strukturen
gehören, die obligatorisch erzeugt werden müssen, und ausserdem die
Erzeugung eines Knotens für die koordinierende Konjunktion nicht
immer erfolgen muss, wird die Regel eine optionale Möglichkeit in der
Regelgruppe 4 (4b) sein, in der die Erzeugung des Konjunktionsknotens
KNJ fakultativ ist (was durch die Klammerung angezeigt wird). Durch
den Ansatz auf der Ebene der Nominalphrasen wird auch gewährleistet,
dass nominale Elemente, die zur gleichen Kasusgruppe bzw. Kasus-
phrase gehören, mit der gleichen übergeordneten Markierung versehen
werden.

(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
154 Kapitel 3

Damit ergeben sich Ableitungen der folgenden Art:

Strukturbaum 33

NP
NP NP

jun chén
Lehnsherr [und] Lehnsmann

Strukturbaum 34

NP
NP KNJ NP

Vater und Sohn

3.5.4 Koordination und Modifikation

Koordinierende und modifizierende Konstruktionen können in mannig-


faltiger Weise miteinander kombiniert werden. Das folgende Beispiel
zeigt die Modifikation einer koordinierten Nominalstruktur durch einen
Genitiv:

B 164 ⦻ѻ൏ൠ
wáng zhī tǔ dì
‘des Königs Grund und Boden’

Die Strukturdarstellung kann in diesem Fall analog zum folgenden Bei-


spiel aussehen, nämlich als eine Koordination zweier Nominale NL,
welche eine gemeinsame Genitivadjunktion aufweisen:
Nominalphrasen 155

Strukturbaum 35

NP
NL

NL NL
PSP NL PSP NL
NP PST NP PST

ø ø
guó zhi jun [guó zhi] chén
des Lehen -s Lehensherr [und] Lehensmänner

Strukturell argumentiert ist bei der Koordination das Modifikations-


element guó zhī ഻ѻ des zweiten Glieds in der koordinierten Kon-
struktion getilgt worden. Im nächsten Beispiel ist die koordinierte
Nominalstruktur im modifizierenden Genitiv realisiert:

B 165 ⲭ唁ѻ䗟 Mò Zǐ 17A; 29.34


bái hēi zhī biàn
‘der Unterschied von / zwischen Weiss und Schwarz’

Die entsprechende Strukturdarstellung kann analog zum folgenden Bei-


spiel angesetzt werden:
156 Kapitel 3

Strukturbaum 36

NL

PSP NL
NP PST
NP NP

jun chén zhi fù


des Lehensherr[-n] [und] -mann -s Vater

3.6 Zusammenfassung

Die Ergebnisse dieses Kapitels führen zu einer Präzisierung des Drei-


stufenschemas in seiner Anwendung auf das AC:

A. Nominalkomplemente und nominale Appositionen ergänzen ein


Nomen zu einer Nominale; das Komplementelement wird dem Kern-
nomen sequentiell nachgeordnet.

Dieser Strukturtyp lässt sich im AC wohl nicht mehr morphologisch, son-


dern nur syntaktisch nachweisen (deutlich z.B. in Nominalsatzkon-
struktionen). Dass solche derivativen Prozesse nicht nur denkbar sind,
sondern auch tatsächlich vorkommen, lässt sich auch an einigen
unzweifelhaften binomischen Lexikalisierungen (z.B. Amtsbezeich-
nungen) und appositiven Konstruktionen zeigen. Diese Konstruktion ist
also nicht das Produkt syntaktischer Prozesse (z.B. Nominalisierungs-
transformation), sondern beruht vielmehr auf lexikalischen Derivations-
prozessen, welche Verbalnomina hervorbringen. Ein klares Verständnis
der Funktion wichtiger syntaktischer Markierungen und ihre konse-
quente Interpretation ist allerdings für die adäquate Analyse solcher, aber
nicht nur solcher Erscheinungen unerlässlich.
Nominalphrasen 157

B. Adjunkte bestimmen Nominale näher, ohne deren Status zu ver-


ändern. Gemäss dem allgemeinen Stellungsgesetz stehen Adjunkte
als modifizierende Elemente vor dem zugehörigen Kernnomen.

Das AC kennt zwei Strukturformen für solche Adjunkte:

1. eine sententielle in Form von Relativsätzen


2. eine nominale in Form von Genitiven.

C. Determinanten ergänzen Nominale zu Nominalphrasen.

Die Zusammenfassung des Regelwerks führt zur folgenden Übersicht:

(R-1) Sv → KP + VP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → V (KP) (KP)
(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
(R-4b) NP → (DET) NL (KP)
(R-4c) NP → S
(R-5) NL → (PSP) NL
(R-6) PSP → NP + PST
4 Nebensätze

Das vorliegende Grammatikmodell definiert einfache Sätze als Sätze, in


deren Ableitung das Satzsymbol S nur einmal (am Anfang der Ablei-
tung) erscheint, komplexe Sätze dagegen als Sätze, in deren Ableitung
ein Satzsymbol ausserdem noch ein oder mehrere Male im Laufe der
Ableitung von den Konstituentenstrukturregeln generiert wird. Das
Prinzip, wonach in der Basiskomponente der Syntax das Satzsymbol
(oder auch andere Kategorialsymbole) auf der rechten Seite bestimmter
Konstituentenstrukturregeln erneut eingeführt werden können, heisst
Rekursivität (vgl. die Regeln R-4c für die Neueinführung von S oder R-6
für die Neueinführung von NP in der Zusammenstellung in 3.6). Mit
dieser Möglichkeit der Schleifenbildung wird der schöpferischen Seite
der Sprache, die mit einer endlichen Anzahl syntaktischer Elemente un-
endlich viele Satzkombinationen und Strukturvarianten erzeugen kann,
Rechnung getragen. Es ist diese Eigenschaft von Sprache, die gemeinhin
als Unterscheidungsmerkmal zu anderen Kommunikationssystemen,
insbesondere auch zu jenen nicht-humaner Primaten gilt. In diesem
Kapitel werden wir uns mit bestimmten Typen von komplexen Sätzen
beschäftigen, und zwar mit solchen, bei denen ein neu eingeführter
Satzknoten Nebensätze der folgenden Art einleitet:

1. die attributiv einen nominalen Kern modifizierenden Relativsätze,


oder
2. die appositiv einen nominalen Kern ergänzenden Komplementsätze.

Diese im Folgenden zu beachtende Differenzierung dieser zwei Typen


von Nebensätzen (oder: Konstituentensätzen) ist also eine funktionale:
die Relativsätze sind modifizierend, also Adjunkte, die Komplement-
sätze sind ergänzend, also Appositionen bzw. Komplemente.
160 Kapitel 4

4.1 Relativsätze

4.1.1 Relative Mengen

Um die Funktion der Relativsätze besser zu verstehen, bedarf es zu-


nächst einer minimalen Grundlegung in grammatischer Mengenlehre:
Als Lexikoneinträge haben Nomina einen unbestimmten Referenzbe-
reich (Skopus), d.h. sie beziehen sich auf eine Menge von Gegenständen,
auf die das Nomen anwendbar ist. Pferd bezieht sich so zunächst auf die
Menge der “möglichen” Pferde; im Kontext des Satzes erst wird es auf
einen oder mehrere konkrete Elemente dieser Menge eingegrenzt. Das
Nomen referiert dann auf ein bestimmtes Pferd oder auf bestimmte
Pferde.
Die Relativsatzkonstruktion operiert inhaltlich mit Mengen: Wäh-
rend eine koordinierende Konstruktion Mengen vereinigt (vgl. etwa
Regel R-4a, wo NP vereinigt werden), gliedert die modifizierende Kon-
struktion Teilmengen aus oder stellt Schnittmengen dar. Diese Relatio-
nen zwischen den verschiedenen Mengen müssen tiefenstrukturell erfasst
werden, damit die Generierung ungrammatischer Ketten ausgeschlossen
wird. Die modifizierende Konstruktion lässt sich als Schnitt zweier
Mengen auffassen. Der Ausdruck ‘weisse Pferde’ bezeichnet also die
Schnittmenge (d.i. die schattierte Fläche) der Menge ‘Pferde’ und der
Menge ‘weisse Lebewesen / Dinge’:

Graphik 32: Schnittmenge

Die Darstellung zeigt unmittelbar, dass die Schnittmenge natürlich


kleiner ist als jede der Ausgangsmengen. Durch den Schnitt wird also
aus zwei grösseren Mengen eine kleinere Menge ausgegrenzt. In gram-
Nebensätze 161

matischen Kategorien gedacht lässt sich das in hierarchischer Umsetzung


wie folgt formulieren: Aus dem Schnitt zweier Nominalphrasen NP
(grössere Mengen) ergibt sich eine Nominale NL (kleinere Menge). Die
Adjunktion des modifizierenden Satzes muss also auf der Ebene des
Knotens NL erfolgen. Damit wird nicht nur die bereits erwähnte struk-
turelle Verwandtschaft mit der verbalattributiven Adjunktion (vgl.
3.1.1.1) berücksichtigt, sondern auch der Weg zu einer erwünschten
Generalisierung freigelegt, nämlich zur einheitlichen Beschreibung der
oberflächenstrukturell zwar differenzierten, tiefenstrukturell jedoch über
eine Paraphrasenbeziehung verwandten Verbalattribut- und Relativkon-
struktionen. Analysieren wir das folgende Beispiel:

B 166 ⲭ俜俜ҏ RHG nach Gōngsūn Lóng


bái mǎ mǎ yě
Ein weisses Pferd ist ein Pferd.

Da mit dem Relativsatz eine Adjunkt-Konstruktion vorliegt, wird die


entsprechende allgemeine Struktur durch die Regel

(R-5) NL → (PSP) NL

Strukturbaum 37

NL
PSP NL

generiert. Die Postpositionalphrase PSP wird anschliessend durch die


Regel R-6 zu einer Nominalphrase NP und der Postposition PST zhī ѻ,
dem generellen Anzeiger der adnominalen Modifikation, expandiert:

(R-6) PSP → NP + PST


162 Kapitel 4

Strukturbaum 38

NL
PSP NL
NP PST

Diese Nominalphrase (hier mit dem Prädikat bái ⲭ besetzt; für die ge-
naue Genese vgl. SB 41) ist schliesslich die Ansatzstelle für die Satz-
einbettung mit der Regel

(R-4c) NP → S

Strukturbaum 39

NL
PSP NL
NP PST
S

In der Baumdarstellung bietet sich die Satzstruktur von B 166 wie folgt
dar:
Nebensätze 163

Strukturbaum 40

Sn

NP PRP
NL NP PA
PSP NL
NP PST
S

Diese Tiefenstruktur muss nun in die uns bekannte Oberflächenstruktur


überführt werden, und zwar muss die Formulierung der strukturellen
Veränderungen sowie der sie steuernden Bedingungen möglichst einfach
und allgemeingültig sein. Abgesehen von der schwer in Regeln zu
fassenden Tilgung der Postposition zhī ѻ (die hier der Ordnung halber
erwähnt sei) können wir im vorliegenden Fall uns darauf beschränken
die folgende Tilgungsregel (Transformation) zu formulieren: Referiert
das Nebensatzsubjekt NLs des Konstituentensatzes (also des Relativ-
satzes) auf das gleiche aussersprachliche Phänomen wie die Kern-
nominale NLb im dominierenden Satz (vgl. SB 41 unten), dann wird das
Konstituentensubjekt getilgt. Da bei dieser Beziehung von einer soge-
nannten Referenzidentität gesprochen wird, lautet die Regel:

Sind Subjekt des Relativsatzes und Kernnominale referenzidentisch,


so wird das Nebensatzsubjekt getilgt.
164 Kapitel 4

Strukturbaum 41

Sn

NP PRP
NL NP PA
PSP NL
NP PST
S

ø ø

Man beachte, dass bei den Strukturableitungen und -darstellungen fortan


Vereinfachungen vorgenommen werden, um die Übersichtlichkeit zu
erhöhen. Elemente, die nicht notwendigerweise dargestellt sein müssen
(z.B. der Kasusmarkierungsknoten), werden also ohne spezielle
Erwähnung weggelassen.

4.1.2 Typologie der Relativsätze

Das Phänomen der Referenzidentität bildet die Grundlage, um die Rela-


tivsätze sowohl grundsätzlich als auch bezüglich verschiedener Subtypen
zu klassifizieren. Als Relativsätze gelten Sätze, die als attributive
Modifikation(en) einer Nominale eingebettet sind und bei denen eine der
folgenden zwei Identitätsbeziehungen vorliegt (die entsprechenden
Knoten bzw. Konstituenten in den Strukturbäumen sind im Folgenden
zur Verdeutlichung dieser Beziehung kursiv gesetzt):

1. Referenzidentität zwischen der die Einbettung dominierenden No-


minale NLb und dem nominalen Kern NL einer in der Einbettung
generierten Nominalphrase NP (sog. NL / NL-Identität). Dies kann auf
das Subjekt, auf Objekte und auf Adverbialnomina zutreffen, oder
Nebensätze 165

2. Referenzidentität zwischen der die Einbettung dominierenden No-


minale NLb und dem ganzen Konstituentensatz S (sog. NL / S-
Identität).

Eine andere Subklassifizierung der Relativsätze in zwei formale Typen


ergibt sich aufgrund der oberflächenstrukturellen Realisationsmuster.
Diese beiden Muster sind wie folgt mit den beiden Identitätsklassen
verknüpft:

4.1.2.1 Relativsätze ohne das Relativpronomen suǒ ᡰ


Darunter fallen die folgenden zwei Identitätsklassen:

a. Subjektsrelativsätze, die durch Referenzidentität zwischen der die


Einbettung dominierenden NLb (d.i. dem Kernwort) und dem nomi-
nalen Kern NLs der unmittelbar vom eingebetteten Relativsatz S
dominierten NP, also der tiefenstrukturellen Subjektskonstituente im
Relativsatz, gekennzeichnet sind.

Strukturbaum 42

NL

PSP NLb
NP PST
S

KP VP
NLs

Diese Struktur beschreibt Beispiele des folgenden Typs (zur Verdeut-


lichung sind deutsche Beispiele gewählt worden, da hier die Identität
zwischen Kernnominalen und Relativpronomen klar ersichtlich ist):

das weisse Pferd : das Pferd, das weiss ist


der ihn fragende Mann : der Mann, der ihn fragt
166 Kapitel 4

b. Satzidentische Relativsätze (= “dass-Sätze” mit Kernwort), die durch


Referenzidentität zwischen der die Einbettung dominierenden NLb
und dem ganzen modifizierenden Konstituentensatz S gekennzeich-
net sind.

Strukturbaum 43

NL

PSP NLb
NP PST
S

Diese Struktur beschreibt Beispiele des folgenden – wiederum zur Ver-


deutlichung mit deutschen Beispielen illustrierten – Typs:

die Tatsache, dass er kommt, beruhigt den Meister


für den Fall, dass er kommt, ist vorgesorgt

4.1.2.2 Relativsätze mit dem Relativpronomen suǒ ᡰ


Darunter fallen Objekt- und Adverbialrelativsätze, die gekennzeichnet
durch Referenzidentität zwischen der den Relativsatz dominierenden NLb
und einer NLo des Relativsatzes Sns sind, die tiefenstrukturell nicht als
Subjekt fungiert (also nicht von Sns direkt dominiert ist, wie z.B.
nachstehend dargestellt als ObjektsNP).
Nebensätze 167

Strukturbaum 44

NL

PSP NLb
NP PST
S

KP VP
V KP
NLo

Diese Struktur beschreibt Beispiele des folgenden wiederum zur


Verdeutlichung mit deutschen Beispielen illustrierten – Typs:

das Buch, das er liest, ist sehr interessant


der Fall, den man hier erörtert, ist hypothetisch

4.1.3 Die Bildung der Relativsätze

Durch die folgende eingehende Analyse des Aufbaus der verschiedenen


Relativsatztypen soll einerseits die in den vorangegangenen Abschnitten
erfolgte Grundlegung am AC-Material nachvollzogen, andererseits die
vielleicht befremdlich anmutende Subklassifizierung begründet werden.
Die folgenden Abschnitte orientieren sich an der Übersicht der Ober-
flächenrealisationen.

4.1.3.1 Relativsätze mit Subjektsidentität


Gegeben seien die folgenden Äusserungen:

B 167 ੋ᰾
jūn míng
der Herrscher ist klarsichtig
168 Kapitel 4

B 168 ᆀн᡽
zǐ bù cái
der Sohn ist missraten (= nicht begabt)

B 169 Ӫ⸕ѻ
rén zhī zhī
die Persönlichkeit weiss es

Sätze dieser Art, die je aus einer (kasusmarkierten) Subjektskasusphrase


(KP) und einer Verbalphrase (VP) bestehen, können oberflächenstruk-
turell betrachtet durch simple Umkehrung der Reihenfolge in nominale
Satzglieder, nämlich in adnominale Modifikationsstrukturen verwandelt
werden. Also:

B 167 ੋ᰾ der Herrscher ist klarsichtig


→ B 167a ᰾ੋ der klarsichtige Herrscher

Ist die Verbalphrase mehrgliedrig, so muss in der Regel (häufig zur


Herstellung einer geraden Anzahl Silben oder aus anderen ggf. noch zu
präzisierenden phrasenprosodischen Gründen) das uns bereits bekannte
Signalwort der adnominalen Modifikation zwischen die umgestellten
Glieder (Prädikat / “Subjekt”) eingeschoben werden, nämlich die
Postposition zhī ѻ (adnom)

B 168 ᆀн᡽ der Sohn ist missraten


→ B 168a н᡽ѻᆀ der missratene Sohn

B 169 Ӫ⸕ѻ die Persönlichkeit weiss es


→ B 169a ⸕ѻѻӪ die es wissende Persönlichkeit

Durch diese Transformation sind die Äusserungen B 167 bis B 169 in


Nominalstrukturen (a-Versionen) verwandelt worden: Das Prädikat ist
ein modifizierendes Element (Verbalattribut), das ehemalige Subjekt ist
zum nominalen Kern geworden. Man beachte die Beziehung zwischen
den folgenden zwei Strukturbäumen, wo die linke, autonome Satzstruk-
tur rechts unter eine Nominalphrase eingeordnet wird und darum den
Wert nominal bekommt:
Nebensätze 169

Strukturbaum 45 / 46

NL
S PSP NLb
KP VP NP PST
S
KPs VP

Ø Ø

Diese Strukturableitungen zeigen, dass die scheinbar “simple Umkeh-


rung” das Resultat einer modifizierenden Zuordnung des ursprünglichen
Satzes zu einem übergeordneten Kernnomen ist. Im Anschluss daran soll
noch eine häufige Äusserungsvariante eingeführt werden: Im AC wird
ein unbestimmtes oder bereits genanntes Subjekt in der Regel ober-
flächenstrukturell nicht zum Ausdruck gebracht, mit anderen Worten:
getilgt. Die folgenden Äusserungen können also durchaus in Texten
realisiert sein:

B 170 ᰾
X míng
X / jemand ist klarsichtig.

B 171 н᡽
X bù cái
X / jemand ist missraten.

B 172 ⸕ѻ
X zhī zhī
X / jemand weiss es.

Da an der Stelle der Subjektskasusphrase kein nominales Element


realisiert ist, kann in der Relativkonstruktion ebenfalls kein Nomen als
Kern erscheinen. Wo beispielsweise in der Äusserung B 169a rén Ӫ
zum nominalen Kern ‘die Persönlichkeit, (die) …’ in der verwandelten
Äusserung wurde, kann dies nunmehr nicht geschehen. In einem solchen
170 Kapitel 4

Fall wird der Platz des nominalen Kerns mit einem spezifischen Prono-
men besetzt. Das Pronomen

㘵 zhě PRN[NP]

welches hierfür verwendet wird, kommt ausschliesslich in dieser Funk-


tion, jedoch in allen Modifikationsstrukturen vor: genitivisch – modifi-
zierend wie appositiv (inklusive der so genannten “definitorischen”
Funktion), verbalattributiv, relativisch) vor.

Strukturbaum 47

NL

PSP NLb
NP PST
S

KPs VP

ø ø

Die oberflächenstrukturellen Verwandlungen der Beispiele stellen sich


also wie folgt dar:

B 170 ᰾ X míng X / jemand ist klarsichtig.


→ B 170a ᰾㘵 míng zhě jemand, der klarsichtig ist

B 171 н᡽ X bù cái X / jemand ist missraten.


→ B 171a н᡽㘵 bù cái zhě jemand, der missraten ist

B 172 ⸕ѻ X zhī zhī X / jemand weiss es.


→ B 172a ⸕ѻ㘵 zhī zhī zhě einer, der es weiss

Die Tatsache, dass B 170 nach demselben Verfahren verwandelt wird,


dass also das gleiche Pronomen für den nominalen Kern Verwendung
findet, deutet darauf hin, dass die Satzstruktur auf einer bestimmten
Stufe der Ableitung den Äusserungen B 171 und B 172 gleichzustellen
Nebensätze 171

ist. Mit anderen Worten: Die Kette míng jūn ᰾ੋ durchläuft in der
Ableitung eine Form míng (zhī) jūn ᰾ѻੋ ‘der klarsichtige Herrscher’:

B 167a ᰾ੋ ← ᰾ѻੋ
míng jūn ← míng zhī jūn

Aus diesem Sachverhalt könnte geschlossen werden, dass das Pronomen


zhě 㘵 im Pronominalisierungsvorgang nicht nur den nominalen Kern
erfasst, sondern auch die adnominale Postposition zhī ѻ. Dieser Schluss
verträgt sich jedoch nicht mit dem kategorialen Status dieses Signal-
wortes. Da die Postposition zhī ѻ und die dominierende Kernnominale
NLb nicht von einem gemeinsamen Knoten direkt dominiert werden,
kann zhě 㘵 nur die Kernnominale pronominalisieren. Das regelmässige
Verschwinden der Postposition zhī vor dem Pronomen zhě 㘵 kann
demnach nur mit einer allgemeinen Tilgungsregel erfasst werden, welche
auf diese Postposition vor diesem Pronomen wirkt.
Den ganzen bisherigen Konstruktionsvorgang bei Relativsätzen
wollen wir nun im Detail in der Strukturbaumdarstellung betrachten. Wir
wählen dazu das folgende Beispiel:

B 173 ᴹ❑⡦ѻ഻ RHG nach Huán 16.5 Zuǒ


yǒu wú fù zhī guó
Es gibt ein Land, in dem es keine Väter gibt.
172 Kapitel 4

Strukturbaum 48

Sv
KP VP
V KP/NP
NL

PSP NLb
NP PST
S

KPs VP

Die Tilgung der referenzidentischen (bei yǒu / wú ᴹ / ❑ lokativischen,


s. 2.4.2.3) Subjektsnominale NPs im Relativsatz führt zur Struktur, die
von der Äusserung B 173 her bekannt ist:

B 174 ❑⡦ѻ഻
wú fù zhī guó
‘ein Land, in dem es keine Väter gibt’ = ‘ein Land ohne Väter’

Die Pronominalisierung der Kernnominalen guó ഻ führt zur gleichzei-


tigen Tilgung der Postposition zhī ѻ und damit zur folgenden Realisa-
tionsform:

B 175 ❑⡦㘵
wú fù zhě
‘eines, in dem es keine Väter gibt’ = ‘eines ohne Väter’
Nebensätze 173

Strukturbaum 49

NL

PSP NLb
NP PST
S

KPs VP

ø ø

Da Relativsätze mit ihrem Kernwort grammatisch gesehen Nominal-


strukturen sind, können diese (meist in der eben analysierten pronomi-
nalisierten Variante) als Konstituenten von Genitiv-Konstruktionen
auftreten, also entweder von einer weiteren Nominalstruktur modifiziert
sein bzw. selbst eine Nominalstruktur modifizieren (zur Genitivadjunk-
tion vgl. man 3.1.1). In Beispiel B 176 modifiziert der Relativsatz ein
Kernnomen im Rahmen einer genitivischen Konstruktion:

B 176 ⦻㘵ѻา
wàng zhě zhī táng
‘die Halle von einem, der sich wie ein König verhält’
174 Kapitel 4

Die Struktur dieses zweiten Beispiels stellt sich wie folgt dar:

Strukturbaum 50

NL
PSP NL
NP PST
NL

PSP NLb
NP PST
S

KPs V

ø ø

In Beispiel B 177 ist die genitivische Modifikation eines Relativsatzes


realisiert:

B 177 ഻ѻᇣӪ㘵
guó zhī hài rén zhě
‘die (im / vom) Reich, welche den Persönlichkeiten Schaden
zufügen’
Nebensätze 175

Die Struktur dieses Beispiels stellt sich wie folgt dar:

Strukturbaum 51

NL
PSP NL

NP PST PSP NLb


NP PST
S

KPs VP

ø ø

Zusammenfassend sind an dieser adnominalen Konstruktion der Sub-


jektsrelativsätze die folgenden vier Punkte beachtenswert:

1. Das Subjekt im Relativsatz ist referenzidentisch mit der Kern-


nominale im übergeordneten Satzteil.

2. Vor dem Pronomen zhě 㘵 wird das Signalwort der adnominalen


Konstruktion, die Postposition zhī ѻ, getilgt.

3. Bei den transformierten Formen, die schliesslich die Oberflächen-


struktur Verbalattribut-Kernnominale aufweisen, zeigt die deutsche
Übersetzung einerseits, dass die “verbalattributiven” wie die “sen-
tentiellen” Realisationsformen aussagegleich, also sogenannte Para-
phrasen sind, andererseits, dass in der AC-Syntax die Rede von
“Adjektiven” zwar bequem (und für didaktische und lexikographi-
sche Zwecke funktional sogar angemessen) sein kann, aber mangels
einer differenzierenden Form analytisch zu vermeiden ist. Damit
wird die in 3.1.1.1 bereits vermiedene Bildung einer Wortklasse
“Adjektive” bzw. der für die vorliegende Grammatik nicht notwen-
digen syntaktischen Kategorie bekräftigt (was im Übrigen durchaus
typisch ist für das weitere sino-tibetische Sprachareal.). Es wird in
solchen Fällen deshalb von Verbalattributen gesprochen.
176 Kapitel 4

4. Während im Deutschen das Subjekt im Relativsatz pronominalisiert


wird (mit einem sogenannten Relativpronomen), geschieht bei
diesem Typ die Pronominalisierung im AC – wenn überhaupt – bei
der Kernnominale im übergeordneten Satz. (Darin gehorcht der AC-
Typ allgemeinen Gesetzen der Pronominalisierung, denen zufolge
das sequentiell nachgeordnete Element mit Proformen substituiert
wird.)

4.1.3.2 Relativsätze mit Satzidentität


Charakteristisch für die Relativsätze mit Satzidentität sind die folgenden
drei Punkte:

1. Analog den Relativsätzen mit Subjektsidentität fehlt in solchen mit


Satzidentität das Relativpronomen suǒ ᡰ; im Unterschied dazu
steht die Identitätsbedingung (NL / S);

2. In der deutschen Übersetzung sind als Kernworte im übergeordneten


Satz satzvertretende Nomina vom Typ “die Tatsache, dass …”, “der
Umstand, dass …”, “der Grund dafür, dass ...” anzusetzen, die eben
dadurch charakterisiert sind, dass sie einen “dass-Satz” dominieren
können. Solche Nomina existieren im AC auch; sie stehen im chine-
sischen Original aber selten in der lexikalisierten, sondern meist in
der mit zhě 㘵 pronominalisierten Form, und sind deshalb zwar
strukturell, doch nicht immer mit letzter Sicherheit auch lexikalisch
zu rekonstruieren.

3. Zur Tilgung des Subjekts besteht in solchen Relativsätzen keine


strukturelle Notwendigkeit – es bildet nicht das referenzidentische
Element. Das realisierte Subjekt kann hier im sogenannten Sub-
jektsgenitiv auftreten (zwischen Subjekt und Prädikat steht dann die
mit der genitivischen Postposition homographe subjektive Postposi-
tion zhī ѻ PST[subj] . Die Kennzeichnung des Nebensatzsubjekts
mit dieser Markierung ist eine generelle Erscheinung, denn auch die
Komplementsätze weisen diese Besonderheit auf (vgl. 4.2.1).

Im Folgenden sollen die relevanten Teile einiger Beispiele analysiert


werden:
Nebensätze 177

B 178 ᆀᕂަ⡦㘵ᴹѻ Mèng 3B.9


zǐ shì qí fù zhě yǒu zhī
(Fälle), dass Söhne ihre Väter ermorden – sie kommen vor.

Eine Grobanalyse dieses Beispiels ergibt, dass der zugrundeliegende


Satz die folgende Struktur hat:

B 178a ᴹᆀᕂަ⡦㘵
yǒu zǐ shì qí fù zhě
Es kommen (Fälle) vor, dass Söhne ihre Väter ermorden.

Der postverbale Relativsatz ist nämlich im Zuge einer entsprechenden


Transformation in eine emphatische satzinitiale Stellung gebracht
worden, wobei die Position, die er verlassen hat, mit dem Pronomen zhī
ѻ markiert wurde. Die Strukturanalyse des uns interessierenden Relativ-
satzes ergibt folgenden Baum:

Strukturbaum 52

NL

PSP NLb
NP PST
S

KP/NP VP
V KP/NP

So wie im Deutschen die Realisierung der übergeordneten Nominale


(z.B. “die Tatsache, dass …”) nicht besonders häufig ist, scheint auch die
AC-Konstruktion weitgehend eine konventionalisierte Kernnominale zu
haben, die eben meist pronominalisiert wird. Man könnte sich daher
fragen, ob die vorliegende Analyse einerseits adäquat, andererseits mit
dem Deutschen überhaupt vergleichbar sei. Bei genauerem Hinsehen
lässt sich vorerst zweierlei dazu sagen:
178 Kapitel 4

a. Der Umstand, dass im Deutschen das meist als Konjunktion klassifi-


zierte “Signalwort” des Nebensatzes ‘dass’ phonetisch mit der
neutralen Form des Relativpronomens (nämlich ‘das’) identisch ist,
und

b. der weitere Umstand, dass im Deutschen auch pronominale Formen


im übergeordneten Satz festzustellen sind (z.B. ‘er freute sich dar-
über, dass Du kommst’, oder ‘er weiss es, dass Du kommst’), lassen
es als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass die Strukturanalyse im
wesentlichen korrekt ist, dass jedoch die Verwandtschaft im Deut-
schen (oder Englischen) bisher noch nicht bemerkt oder adäquat
beschrieben worden ist.

Bei den Relativsätzen des Grundes kann aufgrund analoger Konstruk-


tionen im Material als übergeordnete Nominale das Nomen:

᭵ gù ‘Grund, Ursache’

angesetzt werden. Dazu ein Beispiel:

B 179 ཡަ≁㘵ཡަᗳҏ Mèng 4A.9


shī qí mín zhě shī qí xīn yě
(die Ursache dafür), dass sie ihre Mín verloren, war der Verlust
deren Herzen.

Eine Grobanalyse dieses Beispiels ergibt folgendes: Der zugrunde-


liegende Satz hat die Struktur eines Nominalsatzes (X ist Y), wobei die
Subjektskasusphrase als Relativsatz des Grundes ausgebildet ist. Dieser
Satzteil hat die folgende zugrundeliegende Struktur:
Nebensätze 179

Strukturbaum 53

NL

PSP NLb
NP PST
S

KP/NP VP
V KP/NP

ø ø

4.1.3.3 Relativsätze mit Objektsidentität


Werden Sätze bzw. Äusserungen, die eine erweiterte Prädikatsphrase
aufweisen, die also aus einem verbalen Kern und mindestens einer
weiteren nominalen Ergänzung besteht, als Relativsätze eingebettet, so
bieten sich ausser Subjekt und Satz eben diese weiteren nominalen
Ergänzungen (z.B. direktes Objekt, instrumentales Objekt, Lokativ-
objekt, indirektes Objekt usw.) als Teilhaber an einer Referenzidentität
an. Strukturen dieser Art lassen sich mit Äusserungen, deren Subjekt
oberflächenstrukturell getilgt worden ist, am einfachsten einführen.
Gegeben seien daher die folgenden “subjektlosen” Äusserungen:

B 180 㾻㠓
X jiàn chén
X sieht / empfängt den Lehnsmann.

B 181 Ⅲ൏ൠ
X yù tǔ dì
X will Grund und Boden (= Land).

B 182 伺≁
X yǎng mín
X ernährt die Mín.
180 Kapitel 4

Im Gegensatz zu den bereits behandelten Relativsätzen mit Subjekts-


identität soll hier das direkte Objekt als referenzidentisches Kernwort in
der attributiven Konstruktion dienen. Da in einer solchen Konstruktion
Modifizierendes, d.i. das Verb, vor Modifiziertes (vgl. Graphik 29, 3.1),
d.i. das direkte Objekt, zu stehen kommen muss, bliebe die Abfolge der
Elemente in der transformierten Konstruktion unverändert, nämlich:

B 180a 㾻㠓
jiàn chén
? ‘der “gesehene / empfangene” Lehnsmann’
? ‘der Lehnsmann, der “gesehen / empfangen” wird’
? ‘der Lehnsmann, den “X gesehen / empfangen” hat’

B 181a Ⅲ൏ൠ
yù tǔ dì
? ‘das gewünschte / gewollte Land’

B 182a 伺≁
yǎng mín
? ‘die ernährten Mín’

Oberflächenformen, wie sie in den Äusserungen B 180 bis B 182 reali-


siert sind, kommen überaus häufig vor (als Verbalphrasen, aber auch als
Nominalkomplemente); deren Interpretation wie bei den Beispielen B
180a bis B 182a hingegen ist nicht üblich und in ihrer Art überhaupt sehr
selten zweifelsfrei belegbar. Nach UNGER 1985 II:17 soll folgender
(doch rarer) Beleg angeführt werden können:

B 183 㼌㺓 bǔ yī ‘Kleider flicken’


B 183a 㼌㺓 bǔ yī ‘geflickte Kleider’

Da die Klasse der Adjektive ausgeschlossen worden ist (s. oben S. 175),
macht es grundsätzlich wenig Sinn, von partizipialisierten Formen zu
sprechen. Und wenn sie dennoch angesetzt würden, wären die parti-
zipialisierte Verbformen in der Regel nicht identifizierbar, weil im AC
die entsprechende Verbflexion fehlt. Die hypothetische attributive Kon-
struktion ‘der gesehene Lehnsmann’ in Beispiel B 180a (Part.perf.;
‘Lehnsmann’ ist Objekt von ‘sehen’) ist vom zugrundeliegenden Satz,
Nebensätze 181

wie er sich in der Äusserung ‘X sieht den Lehnsmann’ (Beispiel B 180)


darbietet, graphisch nicht zu unterscheiden – geschweige denn etwa von
der häufigen, der Verb-Objekt-Konstruktion zuzuordnenden verbalnomi-
nalen Konstruktion ‘das Sehen von Lehensmännern’ oder ‘das Flicken
von Kleidern’ (vgl. 3.3) oder schliesslich der (denkbaren) Konstruktion
‘der sehende Lehnsmann’ (Part.präs.).
Das folgende Beispiel scheint von der phonologischen Seite her die
These zu stützen, dass irgendeine Form der Differenzierung notwendig
wäre und tatsächlich als antikchinesische Relikterscheinung belegbar ist.
Wir haben ein zweiwertiges, transitives Verb kennengelernt, dessen
Lexikoneintrag wie folgt angesetzt worden ist (vgl. S. 78):

⋫ chí: V2 [trans];
X-INITIANS ordnet Y-REZIPIENS / PATIENS
zhì: [perf];
Y-REZIPIENS / PATIENS wird geordnet (von / durch X)
Y-REZIPIENS / PATIENS ist geordnet

Auf phonologischer Seite ist zhì < AC *lrə-s durch das medio-passivische
*-s-Suffix von dem unsuffigierten V2 chí < *lrə unterschieden. Ob die in
mittelchinesischer Zeit von der Reimwörterbuchtradition in dieselbe An-
lautklasse ѻ eingeordneten beiden Formen auf unterschiedlich ausgefal-
lene Präfigierung im AC *(C-)lr- zurückgehen, ist anhand der derzeitigen
Evidenzlage nicht entscheidbar. Wegen der Zweiwertigkeit wäre also die
einfache Umstellung in eine verbalattributive Stellung ausgeschlossen.
Dennoch finden wir als seltenes Beispiel den folgenden Beleg:

B 184 ᭵⋫цѻ丣ᆹԕ′.[…]Ҳцѻ丣ᙘԕᙂ. LSCQ 5/4.4


gù zhì shì zhī yīn ān yǐ lè. […] luàn shì zhī yīn yuàn yǐ nù
Also: Die Klänge eines geordneten Zeitalters schaffen Zufrie-
denheit durch Freude. […] Die Klänge eines verwirrten Zeital-
ters schaffen Groll durch Zorn.

Die Existenz dieses durch die Gegenüberstellung von zhì shì ⋫ц und
luàn shì Ҳц wohl zweifelsfreien Beispiels lässt sich also nur mit der
phonologischen Differenzierung der beiden Formen erklären (was bei
den Beispielen B 183 und B 183a nicht der Fall ist). Diese Differen-
zierung erlaubte auch die Klassifizierung als V1, womit eine reguläre
182 Kapitel 4

Verbalattribuierung erklärt und erlaubt ist. Obwohl sich Hinweise auf


sporadische Differenzierungen dieses Typs in phonologische Glossen
mindestens bis ins 5. Jh. nach Christus finden lassen, scheint die mor-
phologische Markierung bereits in der Periode des AC nicht mehr
produktiv gewesen zu sein. In jedem Fall hat sie nur selten auch
Niederschlag im Schriftbild gefunden, etwa wenn für die *-s-suffigierte
Lesung ein eigenes Klassenzeichen hinzugefügt (a.) oder gar eine andere
Phonophor-Serie (b.) gewählt wurde. Vgl. z.B.:

a. chéng ᡀ < AC *deŋ V2 [TRANS]: X vollbringt Y vs.


shèng ⴋ < AC *deŋ-s V2 [PERF]: Y ist vollbracht durch X
b. è 䱨 < AC *ʔʔrek V2 [TRANS]: X beengt/schmälert Y vs.
ài 䱨~䳈 < AC *ʔʔrek-s V2 [PERF]: Y ist beengt durch X, ist schmal

Diese Bildungen, die letztlich auf die exoaktive Grundfunktion von *-s
zurückzuführen sind, wurden schliesslich häufig Ausgangspunkt für ad-
verbiale Lexikalisierungen (vgl. Kap. 10.5.3).
Ein weiteres Beispiel zeigt die gleiche Charakteristik: es existieren
zwei Verben 㚭 mit unterschiedlichen Aussprachen, nämlich tīng (AC
*hlleŋ) und tìng (*hlleŋ-s). Da eine Verwechslung offenbar ausgeschlos-
sen werden kann, kann das divalente tìng auch in einer partizipialen
verbalattributiven Funktion verwendet werden:

B 185 ↔ᗵ㚭ѻ㺃ҏ. Hán Fēi Zǐ 9.1


cǐ bì tìng zhī shù yě
Diese sind (für den Lehnsmann) Techniken, denen er unbedingt
gehorchen sollte.

Aber wir sprechen insofern von Ausnahmefällen, als Beispiel B 185


auch, wie die morphologische Vorgeschichte zeigt, passivisch interpre-
tiert werden könnte (‘Techniken, denen gehorcht werden sollte’). Regu-
lär an Stelle der erwähnten eher seltenen Fälle oberflächenstruktureller
Identität existiert eine eigenständige, sehr charakteristische Konstruktion
zur Bildung attributiver Formen mit Objektsidentität: es sind Äusse-
rungsformen mit dem bereits erwähnten Relativpronomen

ᡰ suǒ PRN[rel]
Nebensätze 183

Dieses Pronomen suǒ ᡰ vertritt in der Relativsatzkonstruktion jede


nominale Ergänzung des Verbs, die nicht Subjekt ist, also z.B. das
direkte Objekt des Verbs aus dem zugrundeliegenden Satz (wenn im
folgenden die Rede von “Objekt” ist, so gilt dies für jede nominale
Ergänzung, die nicht Subjekt ist). Es steht immer vor dem Verb im
Relativsatz. Das so konstruierte, meist mehrgliedrige Attribut wird dann
auch mit dem Signalwort der adnominalen Modifikation, mit der Post-
position zhī ѻ bei der Kernnominale angefügt. Damit bleibt die
Reihenfolge modifizierendes Attribut – modifiziertes Kernwort (wie in
den Beispielen B 180 bis B 182) erhalten, andererseits wird durch das
Pronomen suǒ ᡰ angezeigt, dass die Kernnominale referenzidentisch ist
mit dem Objekt im modifizierenden Relativsatz. Es findet also eine
Strukturumwandlung der folgenden Art statt:

B 180 㾻 㠓
X jiàn chén
→ B 180a ᡰ 㾻ѻ 㠓
X* suǒ jiàn zhī chén
‘der (von X) ge-sehene Lehnsmann’
‘der Lehnsmann, den (X) sieht’

B 181 Ⅲ ൏ൠ
X yù tǔ dì
→ B 181a ᡰ Ⅲѻ ൏ൠ
X* suǒ yù zhī tǔ dì
‘das (von X) ge-wünschte Land’
‘das Land, das (X) wünscht’

B 182 伺 ≁
X yǎng mín
→ B 182a ᡰ 伺ѻ ≁
X* suǒ yǎng zhī mín
‘die (von X) ge-nährten Mín’
‘die Mín, die (X) ernährt’

Das mit einem Nomen realisierte Nebensatzsubjekt, also das Subjekt des
Relativsatzes (hier und in den folgenden Übersichten mit X* ange-
184 Kapitel 4

geben), kann jeweils mit der Markierung des Nebensatzsubjekts, dem


sog. subjektiven zhī ѻ, auftreten. Im Falle einer Pronominalisierung (in
der 3. Person) ist die regulär auftretende Form das Subjektspronomen qí
ަ (vgl. Punkt 2.2 unten).
Die eben zur einfacheren Herleitung herangezogene Form mit lexi-
kalisch realisierter Kernnominale ist im Vergleich zu den nachfolgenden
Formen mit pronominalisierter bzw. getilgter Kernnominale verhältnis-
mässig selten. Die Relativkonstruktion mit dem Relativpronomen suǒ ᡰ
kann in den folgenden Oberflächenformen realisiert sein:

1. Die Kernnominale kann

a. realisiert sein (vgl. Beispiele B 180b bis B 182b);


b. mit zhě 㘵 pronominalisiert sein (vgl. den analogen Vorgang in
4.1.3.1), wobei vor dem Pronomen die Postposition zhī ѻ getilgt
wird. Z.B.:

B 180b ᡰ 㾻ѻ 㠓
X* suǒ jiàn zhī chén
→ B 180c ᡰ 㾻 㘵
X* suǒ jiàn zhě
‘der (von X) Ge-sehene’ / ‘der, den (X) sieht’

B 181b ᡰ Ⅲѻ ൏ൠ
X* suǒ yù zhī tǔ dì
→ B 181c ᡰ Ⅲ 㘵
X* suǒ yù zhě
‘das (von X) Ge-wünschte’ / ‘das, was (X) will’

B 182b ᡰ 伺ѻ ≁
X* suǒ yǎng zhī mín
→ B 182c ᡰ 伺 㘵
X* suǒ yǎng zhě
‘das (von X) Ge-nährte’ / ‘das, was (X) ernährt’
Nebensätze 185

c. getilgt sein. Z.B.:

B 180c ᡰ 㾻 㘵
X* suǒ jiàn zhě
→ B 180d ᡰ 㾻
X* suǒ jiàn
‘etwas (von X) Ge-sehenes’ / ‘etwas, das (X) sieht’
B 181c ᡰ Ⅲ 㘵
X* suǒ yù zhě
→ B 181d ᡰ Ⅲ
X* suǒ yù
‘etwas (von X) Ge-wünschtes’ / ‘etwas, das (X) will’

B 182c ᡰ 伺 㘵
X* suǒ yǎng zhě
→ B 182d ᡰ 伺
X* suǒ yǎng
‘etwas (von X) Ge-nährtes’ / ‘etwas, das (X) ernährt’

2. Das SUBJEKT des Relativsatzes kann

a. ungenannt / getilgt sein (vgl. alle Beispiele unter Punkt 1);


b. realisiert sein. In diesem Fall wird das Subjekt häufig – aber nicht
notwendigerweise – in der Art eines modifizierenden Nomens vor-
angestellt, und zwar mit der schon erwähnten subjektiven Postpo-
sition zhī ѻ. Ist das Subjekt pronominalisiert, so erscheinen immer
die Formen der entsprechenden Pronomina, die aus der Adjunktkon-
struktion bekannt sind (z.B. qí ަ). Es liegt also nicht eine geniti-
vische Modifikation im bereits erörterten Sinne vor (vgl. 3.1.1),
sondern ein sogenannter Subjektsgenitiv, der zur Abgrenzung bzw.
Signalisierung des Nebensatzsubjektes gesetzt wird – eine Kon-
struktion die möglicherweise ab der mittleren Zhànguó-Zeit stark
zunimmt (und aus anderen Sprachen durchaus gut bekannt ist, z.B.
engl. ‘I remember his telling me.’). Man vergleiche die folgenden
Paarungen (b,c,d: ohne Nebensatzsubjekt; e: mit Nebensatzsubjekt):
186 Kapitel 4

B 180b ᡰ 㾻ѻ 㠓
X suǒ jiàn zhī chén
→ B 180e ⦻ѻ ᡰ 㾻ѻ 㠓
wáng zhī suǒ jiàn zhī chén
‘der (vom König) ge-sehene Lehnsmann’ = ‘der
Lehnsmann, den der König sieht’ (mit realisier-
ter Kernnominale chén)
B 181b ᡰ Ⅲѻ ൏ൠ
X suǒ yù zhī tǔ dì
→ B 181e Ӫѻ ᡰ Ⅲ 㘵
rén zhī suǒ yù zhě
‘das von der Persönlichkeit ge-wünschte Land’
= ‘das Land, das die Persönlichkeit wünscht’
(mit Kernnominale als Pronomen zhě)

B 182b ᡰ 伺ѻ ≁
X suǒ yǎng zhī mín
→ B 182e ަ ᡰ 伺
qí suǒ yǎng
‘das von ihm ge-nährte’ = ‘etwas, das er er-
nährt’ (mit pronominalem Subjekt im Relativsatz
sowie getilgter Kernnominale)

Das Relativpronomen suǒ ᡰ pronominalisiert – wie schon mehrfach


betont – nicht nur das direkte Objekt des Relativsatzes, sondern alle
referenzidentischen Nomina, die nicht Subjekt des Relativsatzes sind.
Diesem Pronomen können also auch indirekte Objekte, Lokativobjekte
oder Adverbiale, wie z.B. solche der Art und Weise zugrunde liegen.
Z.B.:

B 186 ੮ᴹᡰਇѻ Mèng 3A.2


wú yǒu suǒ shòu zhī
Wir haben jemanden, von dem wir sie empfangen haben.
Kommentar: Das IO im Relativsatz ist referenzidentisch und
daher mit suǒ ᡰ pronominalisiert; man beachte, dass das DO in
Form des Pronomens zhī ѻ realisiert ist, also als Kernwort nicht
in Frage kommt.
Nebensätze 187

B 187 ᴹਨᵚ⸕ᡰѻ Mèng 1B.16


yǒu sī wèi zhī suǒ zhī
Die Verantwortlichen wissen noch nicht (den Ort), wohin (Sie)
gehen.
Kommentar: Das Lokativobjekt des divalenten Bewegungsverbs
zhī ѻ ist mit suǒ ᡰ pronominalisiert.

B 188 ަᡰਆѻ㘵㗙Ѿ Mèng 5B.4


qí suǒ qǔ zhī zhě yì hū
War (die Art und Weise), wie er es nahm, korrekt?
Kommentar: Kontextuell fällt die Annahme, bei suǒ ᡰ könne
das IO pronominalisiert sein, aus. Das Prädikat yì 㗙 ‘korrekt
sein’ kann auch auf ein Verhalten referieren, also ist hier wohl
ein modales Objekt gemeint. Man beachte wiederum die
Existenz eines direkten Objekts in der Form des Pronomens zhī
ѻ.

Ist das Objekt im zugrundeliegenden Satz in Begleitung einer (kasus-


markierende) Präposition, so erscheint diese Präposition zusammen mit
suǒ ᡰ in der Kette suǒ ᡰ + Präposition. Von dieser Regel ausgenom-
men ist einzig die Präposition yú ᯬ. *suǒ yú ᡰᯬ kommt mit ganz
wenigen Ausnahmen nicht vor. Die Ausnahmen treten überwiegend in
Fällen auf, in denen offenbar durch Kasusmarkierung die Valenz explizit
spezifiziert werden musste, möglicherweise um die obsoleszensierende
morphonologische Unterscheidung des folgenden Verbs zu kompen-
sieren. Vgl. etwa mín wú suǒ yú shí ≁❑ᡰᯬ伏 “die Mín haben nichts,
wovon sie leben können” (Shāng jūn shū ୶ੋᴨ, 2.4, 7–9, 12) oder guǎ
rén zhī suǒ fá yě ሑӪѻᡰᯬՀҏ “[der Grund], weshalb meine Wenig-
keit ihn [den Lehnsstaat Qí] attackiert” (Zhànguó cè ᡠ഻ㆆ, Yàn 1.8.4),
wo offenbar durch Setzung von yú die mediale Lesung *m-lək von 伏
bzw. die aktiv-volitionale Lesung von fá Հ (*m-pat) signalisiert werden
sollten. Die weithin verbreitete Restriktion gegen die Kookurrenz von
*suǒ yú ᡰᯬ ist vermutlich auf den lokativischen Charakter von suǒ ᡰ
zurückzuführen, welches auch ein Nomen mit der Bedeutung ‘Ort, Platz’
verschriften kann (mit dem die Kollokation suǒ yú ᡰᯬ auftreten kann),
und was mit Befunden in anderen Sprachen korreliert (z.B. im Zürich-
deutschen ist das generelle Relativpronomen das lokativische ‘wo’, also
‘de Maa, woo …’ = ‘der Mann, der …’ oder ‘es Huus, woo …’ = ‘das
188 Kapitel 4

Haus, welches …’). Beispiele mit bzw. mit fehlender kasusmarkierender


oder präpositionaler Ergänzung sind:

B 189 ަᡰԕн੺
qí suǒ yǐ bù gào
‘etwas, das er nicht mitteilt’ oder ‘der Grund, weshalb er [etwas]
nicht mitteilt’

B 190 ަᡰԕ伺Ӫ㘵
qí suǒ yǐ yǎng rén zhě
‘das, womit er die Persönlichkeiten ernährt’

B 191 ަᡰትѻ഻
qí suǒ jū zhī guó
‘das Land, in dem er lebt’ (kein *suǒ yú !!)

Die Transformation, die zu den oben beschriebenen Oberflächenstruk-


turen mit suǒ ᡰ führt, ist recht komplex. Im Folgenden sollen daher nur
die wichtigsten Schritte angedeutet werden. Setzen wir zunächst einmal
die Tiefenstruktur des uns interessierenden Satzteils an:

Strukturbaum 54

NL

PSP NLb
NP PST
S
KP VP
V KPo

Bei den Subjektsrelativsätzen wurde der Einbettungsvorgang sozusagen


in einem Schritt erledigt, indem das referenzidentische Subjekt im Rela-
tivsatz getilgt wurde. Es liesse sich also eine Verallgemeinerung der
Nebensätze 189

Relativeinbettungstransformation erreichen, wenn diese Bedingung auch


bei Vorliegen von Objektsidentität wirksam werden könnte. Eine Art,
dies zu erreichen, bestünde in der Passivierung des Relativsatzes, denn
damit würde das direkte Objekt zum Subjekt. Dieser Vorgang lässt sich
belegen, und ist dadurch charakterisiert, dass das Relativpronomen suǒ
ᡰ nicht realisiert werden darf, denn damit gehört der Relativsatz zum
Typ mit Subjektsidentität:

B 192 ⋫ᯬӪ㘵伏Ӫ Mèng 3A.4


zhì yú rén zhě sì rén
Wer von Persönlichkeiten regiert wird, ernährt Persönlichkeiten.

Die Passivierung kann allerdings nur für Relativsätze Gültigkeit haben,


die einerseits transitiv sind, bei denen andererseits das direkte Objekt
referenzidentisch ist. M.a.W.: Alle anderen Satztypen wären mit diesem
Verfahren nicht “transformationsfähig”. Ein Blick auf die Situation in
anderen Sprachen zeigt, dass die Präponierung (“fronting”) der referenz-
identischen pronominalen Formen der Nominalen die Regel ist, denn die
Relativpronomina (wie auch die meist identischen Interrogativpro-
nomina) sind sehr häufig satzinitial. Man vergleiche im Deutschen (links
sogenannte indirekte Fragen, rechts Relativkonstruktionen:

ich weiss, wer er ist der, der dort steht


ich weiss, was er ist der, den man sieht
ich weiss, wo er ist dort, wo er steht
ich weiss, wann es ist dann, wann er geht
ich weiss, wozu es ist das ist, wozu man es braucht usw. usf.

Im AC geschieht dieser Vorgang nicht in der Weise, dass das referenz-


identische Objekt satzinitial positioniert wird, sondern unmittelbar
präverbal, wobei die Pronominalisierung mit suǒ ᡰ geschieht. Dazu
treten die folgenden allfälligen Strukturveränderungen: Adjunktion der
postpositionalen Genitivmarkierung zhī ѻ für Nebensatzsubjekte (offen-
bar nicht zwingend erforderlich) sowie allfälliger Tausch der Plätze
zwischen Präposition bzw. Kasusmarkierung und Pronomen suǒ ᡰ in
der referenzidentischen Phrase (ein Phänomen, das sprachübergreifend
bei Relativpronomina festgestellt wird; man vergleiche etwa im
Deutschen ‘wo-durch’, ‘wo-rin’, ‘wo-bei’ usw.):
190 Kapitel 4

Strukturbaum 55

NL

PSP NLb
NP PST
S
KP VP
KPo œ V

4.1.4 Grammatischer Sinn der Oberflächenstrukturen

Die oberflächenstrukturelle Formenvielfalt bei den Relativsätzen lässt


die Frage auftauchen, wozu diese denn grammatisch bzw. sprachlich
dienen soll (will man über die weitgehend leere Erklärung als
“stilistische Variation” hinausgehen). Wie bereits festgestellt worden ist
(3.2) sind die Determinationsmittel des AC nicht – wie im Deutschen –
zur Hauptsache auf die Kategorie der Artikel konzentriert, sondern
vielfältiger Natur. Ohne auf einzelne Argumente eingehen zu wollen
(vgl. dazu GASSMANN 1982:44 ff), lässt sich diese Formenvielfalt eben
mit der Funktion in Zusammenhang bringen, die im Deutschen von den
Artikeln erfüllt wird: Definitheit. Diese pragmatisch gesteuerte Kategorie
kann vereinfacht wie folgt charakterisiert werden: Wird in einer
Dialogsituation zwischen A und B auf eine Sache X referiert, so kann
der Wissensstand bei A bzw. B folgende Kombinationen aufweisen:

a. X ist sowohl A als auch B bekannt: X ist definit;


b. X ist A, nicht aber B bekannt: X ist spezifisch;
c. X ist weder A noch B bekannt: X ist indefinit;

Diese Kategorien sind nun m.E. für die Formenvielfalt verantwortlich,


wobei eine weitgehende Komplementarität der verwendeten Mittel
festzustellen ist (durch Kursivsetzung signalisiert; die linke Hälfte be-
Nebensätze 191

zieht sich auf die Subjektsrelativsätze NLb / NLs, die rechte Hälfte auf
solche mit Objektsidentität NLb / NLo). Eine Aufschlüsselung, welche
alle systematischen Möglichkeiten umfasst, sieht wie folgt aus:

Tabelle 11: Definitheitsstufen

Definit [+Def]

NLs zhī VP zhě [NL zhī] suǒ VP zhī Nlb


SUB + PRN PRN + BEZUGSNOM
ੋѻᇣӪ㘵 ᡰ㾻ѻ㠓
die Fürsten, die … der Lehnsmann, den …

Spezifisch [Spez]

a. 0 VP [zhī] NLb 0 VP [zhī] NLb


Kernnom Kernnom
ᇣӪѻੋ ? 㾻㠓 *
ein Fürst, der … ? ein gesehener Lehnsmann

b. 0 VP zhě [+g] [NL zhī] suǒ VP zhě [+g]


PRN PRN + PRN
ᇣӪ㘵 ** ᡰ㾻㘵
einer, der … einer, den …

Indefinit [-Def]

0 VP zhě [-g] [NL zhī] suǒ VP 0 [-g]


PST PRN
? ᇣӪѻ *** ᡰ㾻
? was schadet was man sieht

Zur Aufstellung sind noch die folgenden Bemerkungen zu machen: Die


Form 㾻㠓, die mit einem Sternchen bezeichnet ist, entspräche einer der
partizipialen Adjunktion, die aus den bei den Beispielen B 183 bis B 185
aufgeführten systematischen Gründen als praktisch auszuschliessende
192 Kapitel 4

Form zu bezeichnen ist. Der Unterschied zwischen den Formen ᇣӪ㘵


(mit zwei Sternchen bezeichnet) und ᇣӪѻੋ ist – durch die Pronomi-
nalisierung des Bezugswortes hervorgerufen – nur darin zu sehen, dass
das Bezugswort nicht lexikalisch gebunden [±g(ebunden)], d.h. auf eine
bestimmten Gruppe von Personen oder Dingen beschränkt wird (also
nicht ‘ein Fürst’, sondern allgemeiner ‘einer’ – ob Fürst oder nicht). Die
Form ᇣӪѻ (mit drei Sternchen bezeichnet) muss aus systematischen
Gründen existieren (analog zu MC ்㥦Ⲵ ‘ein Teetrinker = einer, der
Tee trinkt’). Im Rahmen der Relativsätze ist sie – vielleicht mit
Ausnahme des nachstehend zitierten Beispiels B 193 – nicht ausreichend
belegbar. Als sogenannte “kopflose” Genitivkonstruktion hingegen ist
sie mehrfach belegt (vgl. 3.1.1.1), und es ist vielleicht kein Zufall, dass
viele Belege für die “kopflose” Genitivkonstruktion und der folgende
komplexe Beleg B 194 im beteiligten Prädikat wèi 䄲 eine auffallende
Gemeinsamkeit, sozusagen eine gesicherte, weil formelhafte, Umgebung
haben:

B 193 ≁⣟⌅Ԕѻ䄲≁ۧк Hán Fēi Zǐ 20.21


mín fàn fǎ lìng zhī wèi mín shǎng shàng
Dass die Mín gegen Gesetze und Verfügungen verstossen,
bedeutet, die Mín verletzen die Oberen. (Sententielle Form des
Relativsatzes, vgl. 4.1.3.2)

B 194 㜭・䚃ᯬᖰਔ㘼඲ᗧᯬ㩜ц㘵ѻ䄲᰾ѫ Hán Fēi Zǐ 25.7


néng lì dào yú wǎng gǔ ér chuí dé yú wàn shì zhě zhī wèi míng jūn
Solche unter denen, die in der Vergangenheit und im Altertum
sich als Führer zu etablieren und Verpflichtungen an zehntau-
send Generationen weiterzugeben vermochten, heissen ‘leuch-
tende Herrscher’.

Abschliessend sei festgehalten, dass die in diesem Abschnitt versuchte


Erklärung der Differenzen in den Oberflächenformen von einer syn-
chronen Betrachtung der Phänomene ausgeht (da sich alle Formen z.T.
innerhalb eines einzigen Textes nachweisen lassen, scheint dieses Vor-
gehen naheliegend). Dies schliesst aber nicht aus, dass eine diachrone
Erklärung möglich wäre, die hier den Übergang zwischen einer früher
bevorzugten Form zu einer neu sich herausbildenden Form ohne
Nebensätze 193

semantische, pragmatische oder funktionale Differenzierung diagnosti-


zieren könnte.

4.1.5 Generische Relativsätze

Da dieser Nebensatztyp charakteristisch für den Nominalsatz ist, wird er


in Abschnitt 5.2 behandelt.

4.2 Appositivsätze

Die Appositivsätze setzen sich aus den appositiven Relativsätzen (N / NP-


Identität) und den Komplementsätzen ohne lexikalisierbares Kernwort
(NL / S-Identität) zusammen. Dabei stehen die Komplementsätze (d.s. in
traditioneller Terminologie Objekt-, Subjekt- und Adverbialsätze) von
der Häufigkeit ihres Vorkommens her eindeutig im Vordergrund. Mit
diesen werden wir uns deshalb zuerst beschäftigen.

4.2.1 Komplementsätze

Bestimmte monovalente Verben können an der Subjektsstelle, bestimmte


divalente Verben an der Objektsstelle (einzelne sogar an Subjekts- und
Objektsstelle) adnominale Nebensätze haben. In verkürzender Aus-
drucksweise: sie können sogenannte “dass-Sätze” haben:

B 195 ≁ѻᗎѻҏ䕅 Mèng 1A.7


mín zhī cóng zhī yě qīng
Es ist einfach für die Mín, ihm zu folgen. (wörtlich: dass die Mín
ihm folgen, ist einfach)

B 196 с㾻⦻ѻᮜᆀҏ Mèng 2B.2


Chǒu jiàn wáng zhī jìng zǐ yě
Ich, Chou, sehe, dass der König Sie ehrerbietig behandelt.
194 Kapitel 4

B 197 ⦻ᙍᆀ᮷ѻ⋫ᾊ഻ҏ Xuān 4 fù Zuǒ


wáng sī zǐ-Wén zhī chí Chǔ guó yě
Der König erinnerte sich daran, dass Junker Wén im Staate Chǔ
Ordnung geschaffen hatte.

Diese “dass-Sätze” kann man unabhängig von ihrer jeweiligen Realisa-


tionsstelle im Satz unter dem Oberbegriff Komplementsätze zusammen-
fassen. Die Grundstruktur dieser Sätze weist im AC zwei von einander
abhängige Merkmale auf:

1. Die Kennzeichnung des Subjekts im Nebensatz als Subjektsgenitiv,


d.h. mit der subjektiven Postposition zhī ѻ, bzw. dessen Pronomi-
nalisierung mit den entsprechenden subjektiven Proformen;
2. Die abschliessende Kennzeichnung des Prädikats im Nebensatz mit
dem prädikatsanzeigenden Signalwort, d.h. mit dem Prädikats-
anzeiger PA yě ҏ.

Die Konstruktion kann formal mit der englischen Gerundkonstruktion


verglichen werden; z.B.

B 198 ᡁ⸕ 俜ѻ ⲭҏ
wǒ zhī mǎ zhī bái yě
Subjekt + Prädikat
Objektsatz
I know of the horse’s being white
Ich weiss von des Pferdes Weiss-Sein
bzw.
I know that the horse is white.
Ich weiss, dass das Pferd weiss ist.

Der Prädikatsanzeiger yě ҏ grenzt den Komplementsatz gegenüber


dem gewöhnlichen Genitiv ab und verhindert die (u.U. fehlerträchtige)
Analyse bzw. Übersetzung z.B. eines Objektsatzes als eines normalen
Genitivs: ‘Ich weiss von der Weisse des Pferdes’ bzw. ‘Ich kenne das
Weiss des Pferdes’ bedeuten nicht dasselbe wie der “dass-Satz” oben. yě
ҏ signalisiert wie im Nominalsatz die prädikative (verbale) Funktion
des Prädikats im Nebensatz (d.h. er macht den nominalisierenden Effekt
Nebensätze 195

des Subjektsgenitivs rückgängig, vgl. 5.1). Diese Erklärung wird u.a.


dadurch bestätigt, dass bei Fehlen bzw. Tilgung des Subjekts im Neben-
satz yě ҏ als Kennzeichnung des Prädikats wegfällt. Dies geschieht
häufig bei den traditionell “Hilfsverben” genannten modalen Verben, die
hier als vollwertige Verben mit der Möglichkeit von Komplementein-
bettungen behandelt werden (vgl. 4.2.3 unten). Im ersten Beispiel ist das
Subjekt des Nebensatzes nicht identisch mit demjenigen des Haupt-
satzes; im zweiten sind sie zwingend identisch, denn sonst könnte keine
Tilgung stattfinden:

B 199 ⦻Ⅲ 㠓ѻ 㹼ӱ᭯ҏ
wáng yù chén zhī xíng rén zhèng yě
Subjekt Prädikat
Der König will, dass der Lehnsmann (Subjekt) eine rén-kon-
forme Regierung führe (Prädikat). (Vgl. Strukturbaum 56 und
Strukturbaum 59 unten.)

B1 ⦻Ⅲ 㹼ӱ᭯
wáng yù xíng rén zhèng
(Subjekt) Prädikat
Der König will eine rén-konforme Regierung führen. (Analog
Strukturbaum 57 unten, aber nur Tilgung ohne Anhebung.)

Die Tilgung von yě ҏ geschieht auch bei einer Gruppe von kausativen
Prädikaten, die ebenfalls Objektsätze nach sich ziehen können, bei
denen aber in der Regel das Subjekt des Nebensatzes zum Objekt des
Hauptsatzes angehoben wird (im Deutschen ebenfalls möglich). Man
vergleiche:

a. Der König veranlasst, p


dass der Lehnsmann (Subjekt) das Land regiert.

Das AC-Korrelat müsste (a') sein (kommt aber kaum so vor, und dann
unter besonderen Bedingungen). Das übliche und vielfach belegte Kor-
relat ist hingegen (b'):
196 Kapitel 4

(a') ⦻֯ p
wáng shǐ 㠓ѻ⋫഻ҏ
chén zhī chí guó yě

b. Der König veranlasst den Lehnsmann (neu als Objekt!), p


das Land zu regieren.

(b') ⦻֯㠓 p
wáng shǐ chén ⋫഻
chí guó

Sichtbares Zeichen der Veränderungen bzw. Transformationen in diesem


komplexen Satzgefüge ist die sogenannten Subjektsanhebung, die im
deutschen Beispiel zur Bildung eines Infinitivs im Nebensatz führt (ohne
Nebensatzsubjekt kann keine Konkordanz stattfinden – es bleibt nur der
Infinitiv als adäquate Form). In den AC-Beispielen fällt mit der Tilgung
des Subjekts auch der Subjektsgenitiv dahin – und folgerichtig auch die
Kennzeichnung des Prädikats mit yě ҏ. Dieser Prozess lässt sich am
deutlichsten bei Beispielen mit pronominalen Nebensatzsubjekten
verfolgen, denn hier geschieht ein sichtbarer Wechsel zwischen sub-
jektiven und substituierenden Formen.

B 201 ⦻⸕ަֶҏ
wáng zhī qí lái yě
Der König weiss, dass er (subjektive Form) kommt.

B 202 ⦻֯ѻֶ
wáng shǐ zhī lái
Der König veranlasst ihn (gewöhnliche Form) zu kommen.

Komplementsätze können aufgrund der semantisch-lexikalischen Klasse


der Hauptverben, bei denen sie vorkommen, in verkürzender Ausdrucks-
weise in die folgenden zwei Äusserungsformen aufgeteilt werden:

1. Komplementsätze vom Typ zhī ⸕ ‘wissen’


2. Komplementsätze vom Typ shǐ ֯ ‘veranlassen’
Nebensätze 197

Wie der Terminus “appositiv” schon andeutet, sind die Nebensätze


dieser Art nicht modifizierend, d.h. sie grenzen den Referenzbereich des
Kernwortes nicht ein, sondern explizierend, d.h. sie erklären den Refe-
renzbereich des Kernwortes bzw. deuten ihn aus. Der Unterschied lässt
sich am deutlichsten mit den entsprechenden Relativsätzen illustrieren:

a. Hans, der raucht, trinkt nicht. Erklärend; ein einziger Hans, und
dieser raucht. Die restriktive Frage, ‘welcher Hans?’, ist SINNLOS.
b. Der Hans, der raucht, trinkt nicht. Modifizierend; mehrere “Hanse”,
und unter ihnen derjenige, der raucht. Die restriktive Frage, ‘welcher
Hans?’, kann sinnvollerweise gestellt werden.

Während die Modifikation einen Mengenschnitt, eine Mengenaus-


grenzung darstellt, bildet die Apposition oder Explikation eine Mengen-
feststellung oder eventuell Mengenaddition. Sie ist daher analog zur
Komplementkonstruktion bei den Nominalen aufzufassen (vgl. 3.3), d.h.
das Kernnomen geht der Apposition voran. Für die Modifikation gilt die
Konstituentenstrukturregel R-5b, für die Komplementierung die Regel
R-4b, die zusammen mit der anschliessenden Regel R-4c beim NP-
Knoten eine solche Einbettung erlauben. Angesichts der eingangs dieses
Abschnitts erwähnten spezifischen Kennzeichnung des Komplement-
satzes mit subjektivem zhī ѻ und prädikatsanzeigendem yě ҏ könnte
zwingend die Verwendung der Regel, welche die Herleitung von
Nominalsätzen erlaubt (s. S. 226), bei der Ableitung von Komplement-
sätzen vorgeschrieben werden, was die automatische Erzeugung des
Prädikatsanzeigers gewährleisten würde. Diese Lösung führt aber bei
bestimmten Transformationsprozessen zu massiv kontraintuitiven Struk-
turen, denn das Prädikat des Komplementsatzes hat verbalen Charakter,
der sich z.B. bei der Tilgung des Nebensatzsubjekts dadurch mani-
festiert, dass die Kennzeichnung des Prädikats mit yě ҏ wieder wegfällt.

(R-1) Sv → KP + VP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → V (KP) (KP)
(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
(R-4b) NP → (DET) NL (KP)
(R-4c) NP → S
198 Kapitel 4

(R-5a) NL → (PSP) NL
(R-5b) NL → N (NP)
(R-6) PSP → NP + PST

Die Regeln zeigen, dass Komplementierungen sowohl auf der Ebene der
Nominalphrase (vgl. 3.3) als auch auf der Ebene des (Komplement)-
satzes geschehen. Die Tiefenstruktur der beiden Konstruktionen
(illustriert anhand eines Beispiels mit zhī ⸕ ‘wissen’ bzw. mit shǐ ֯
‘veranlassen’) ist strukturidentisch (isomorph) und vereinfacht wie in SB
56 anzusetzen:

B 203 ⦻⸕Ӫѻֶҏ
wáng zhī rén zhī lái yě
Der König weiss, dass die Persönlichkeit kommt.

B 204 ⦻֯Ӫֶ
wáng shǐ rén lái
Der König veranlasst die Persönlichkeit zu kommen.

Strukturbaum 56

Sv

KP/NP VP
V KP/NP
NL

N NP
S
KP/NP VP

/ ø

Die entsprechenden Oberflächenstrukturen sind – mit Pronominali-


sierung des Konstituentensubjekts rén Ӫ mit qí ަ bzw. des zum Objekt
gehobenen Konstituentensubjekts rén Ӫ mit zhī ѻ – in den Beispielen
Nebensätze 199

B 201 und B 202 wiedergegeben. In Beispiel B 201 erhält der Nebensatz


S1 die Kennzeichnung zhī ѻ des Konstituentensubjekts; die dadurch
nominalisierte eingebettete Prädikatsphrase VP1 erfordert im gleichen
Zug den Prädikatsanzeiger yě ҏ (der ja den prädizierenden Charakter
nominaler Prädikate signalisiert):

Strukturbaum 57

Sv

KP/NP VP
V KP/NP
NL

N NP
S
KP/NP VP
NP PST VP PA

In Beispiel B 202 wird dagegen das Subjekt herausgehoben und zum


Objekt des Hauptsatzes gemacht. Da dadurch der Subjektsgenitiv und
seine nominalisierende Wirkung auf das Nebensatzprädikat entfällt,
braucht letzteres die disambiguierende Kennzeichnung durch yě ҏ nicht
mehr. Wir erhalten folgendes Transformat:
200 Kapitel 4

Strukturbaum 58

Sv

KP/NP VP
V KP/NP KP/NP
NL

N NP
S
KP/NP VP
ø ø

Obwohl der Komplementsatz vom Typ shǐ ֯ im Verhältnis seltener


vorkommt als derjenige vom Typ zhī ⸕, ist er für das Verständnis der
Kausativkonstruktion (vgl. 4.3 unten) von grundsätzlicher Bedeutung.

4.2.2 Adverbiale Komplementsätze

Bei den bisher behandelten Komplementsätzen lag das Gewicht auf den
sogenannten Subjekt- und Objektsätzen. Komplementierungen können
aber je nach Prädikatsform und Valenzrolle der Argumente auch an
anderen, traditionell häufig als adverbial bezeichneten, Strukturstellen
des Satzes vorgenommen werden. Am auffälligsten ist dies bei kausalen
und modalen Komplementen. (Temporale Komplemente auf Ebene der
Satzadverbialen werden im Kapitel 7 behandelt.) Die kausalen Komple-
mente werden in einer spezifischen Satzform realisiert, nämlich in einer
Nominalsatzstruktur, in der die Rollen so auf die nominalen Teile des
Satzes verteilt sind:
Nebensätze 201

Graphik 33: Argumentrollen in Adverbialkomplementen

X Y
SubjektsNP PrädikatsNP
Komplementsatz div. Nominalformen
---------------------------- --------------------------
NP NP Prädikats-
(Grund) marker
Tatsachenbehauptung Grund für Tat.beh.

Es handelt sich also um einen komplexen Nominalsatz (zur Syntax des


Nominalsatzes und zu den entsprechenden Ableitungsregeln, die hier in
der Strukturbaumdarstellung vorweggenommen werden, vgl. Kapitel 5),
der deswegen auch in der negierten Form mit der charakteristischen
Negation fēi 䶎 auftritt und auch im Fragesatz die entsprechende
Struktur aufweist:

B 205 ‫ޜ‬ѻཡ഻ҏཡ≁ҏ RHG nach Mèng 4A.9


gōng zhī shī guó yě shī mín yě
Dass der Patriarch den Staat verlor, war wegen des Verlusts der
Mín.

B 206 ‫ޜ‬ѻཡ഻ҏ䶎ཡ≁ҏ
gōng zhī shī guó yě fēi shī mín yě
Dass der Patriarch den Staat verlor, war nicht wegen des Ver-
lusts der Mín.

B 207 ‫ޜ‬ѻཡ഻ҏօҏ
gōng zhī shī guó yě hé yě
Dass der Patriarch den Staat verlor, war wes-wegen?
202 Kapitel 4

Strukturbaum 59

Sn

NP PSP
S NP PST
KP VP NL KP
NP PST VP KP K NP

KP PST

Es sei darauf hingewiesen, dass diese kausale Nominalsatzform auch mit


Relativsätzen gebildet sein kann. Bei diesen ist die Subjektskasusphrase
nicht mit einem Komplement, sondern mit einem Relativsatz mit NL / S-
Identität belegt. Das oben aufgeführte Beispiel B 179 mit dem zuge-
hörigen SB 53 für die Relativsatzstruktur illustriert dies:

B 179 ཡަ≁㘵ཡަᗳҏ
shī qí mín zhě shī qí xīn yě
(Die Ursache dafür), dass sie ihre Mín verloren, war der Verlust
ihrer Herzen.

Die modalen Komplemente treten insbesondere bei den Komparativ-


verben mit der Bedeutung ‘X ist so wie Y’ oder ‘X läuft auf Y hinaus’
auf. Es sind dies insbesondere die folgenden beiden Verbpaare. Während
es sich im ersten Fall um ein durch Suffigierung mit *-k (einem beim
Pronomen als Distributivsuffix bekannten Element, vgl. Kap. 10.5.3)
handelt, liegen im zweiten lediglich heterographe Repräsentationen am
Ende der antiken Periode gleichlautender Ausgangswörter vor:

● ྲ rú (AC *na) ● 㤕 ruò (AC *na-k)


● ⥦ yóu (AC *lu) ● ⭡ yóu (AC *lu)

Komplemente können in diesem Satztyp an beiden Argumentstellen


realisiert werden:
Nebensätze 203

Graphik 34: Argumentrollen in Modalkomplementen

X Y
NP / NL / N NP / NL / N
Komplementsatz Komplementsatz
------------------------ -------------------------
NE NE
(Objektiv) (Objektiv)
Tatsache X Tatsache Y

Ein Beispiel:

B 208 ༛ѻཡսҏ⥦䄨‫ן‬ѻཡ഻ᇦҏ Mèng 3B.3


shì zhī shī wèi yě yóu zhū hóu zhī shī guó jiā yě
Die Stellung zu verlieren, ist für den Shi so, wie das Lehen zu
verlieren für den Lehensfürsten ist.
Analytisch: (Der Umstand,) dass der Shi seine Stellung verliert,
gleicht dem (Umstand), dass der Lehensfürst das Lehen verliert.

Auch bei modalen Konstruktionen gibt es Entsprechungen mit Relativ-


sätzen:

B 209 ᗎѻ㘵ྲ↨ᐲ Mèng 1B.15; 14.16


cóng zhī zhě rú guī shì
(Die Art und Weise,) wie sie ihm nachfolgten, war wie ein Gang
zum Markt.

4.2.3 Modalverben und Komplementsätze

Neben den adverbialen Komplementsätzen sind auch Konstruktionen mit


modalen Verben als Satzkern zu beachten. Dabei ist besonders das
modale Verb

ਟ kě ‘zulässig sein’

und seine Verwandten zu erwähnen. Die Vielfalt der Oberflächenfor-


men, in denen kě ਟ erscheint, lässt die Frage berechtigt erscheinen, ob
204 Kapitel 4

es sich immer um ein und dasselbe Verb handle. Besonders diskutiert


wird die Frage, ob es zwei Formen gibt, nämlich kě ਟ und kě yǐ ਟԕ,
und wie diese allenfalls zusammenhängen. Die folgende Stelle aus dem
Mèng Zǐ zeigt, dass das kě ਟ in kě yǐ ਟԕ dasselbe Wort sein und für
das yǐ ԕ in der häufigen Kollokation kě yǐ ਟԕ eine andere Erklärung
gefunden werden muss (siehe dazu weiter unten):

B 210 㤕ሑӪ㘵ਟԕ‫≁؍‬Ѿૹ. ᴠਟ. ᴠօ⭡⸕੮ਟҏ Mèng 1A.7


ruò guǎ rén zhě kě yǐ bǎo mín hū zāi. yuē: kě. yuē: hé yóu zhī wú kě yě.
Der Fürst sagte: “Kann / darf jemand, der so ist wie ich, die Mín
beschützen?!” Meister Mèng sagte: “Er kann / darf.” Der Fürst
sagte: “Woher wissen Sie, dass ich kann / darf?”

Damit steht kě ਟ als das eigentliche Modalverb fest. Zu den hervor-


stechenden Oberflächenstrukturen gehören zwei Äusserungsformen,
nämlich eine aktive und eine passive, die mit den folgenden Beispielen
belegt sein sollen:

B 211 冟ਟਆѾ Mǐn 1.6 Zuǒ


Lǔ kě qǔ hū
Kann / darf Lǔ genommen werden? (Passive Äusserung)

B 212 ᆠਟԕ⇪ѻ Mèng 2B.8


shú kě yǐ shā zhī
Wer sonst kann / darf ihn (= den Rén) töten?
Aktive Äusserung; da kě ਟ praktisch ausschliesslich in den
passiven Äusserungen anzutreffen ist, herrscht die irrige Mei-
nung vor, kě ਟ sei die passive, kě yǐ ਟԕ die aktive Form, s.
unten.

Die nachfolgende Serie von Strukturdarstellungen soll den Zusammen-


hang zwischen diesen verschiedenen Äusserungsstrukturen aufzeigen.
Auszugehen ist von einer Struktur, bei der das zweite Verb (in der
Oberfläche schliesst es unmittelbar an kě ਟ an) eigentlich Prädikat in
einem Komplementsatz ist. Die Berechtigung dieser Annahme leitet sich
etwa von folgendem Beleg her, in der das zweite Verb der Serie mit bù
н negiert ist, also zwingend einer anderen Ebene angehören muss:
Nebensätze 205

B 213 ਟнᮜѾ Chéng 4.5 Zuǒ


kě bù jìng hū
Ist (es) zulässig, (sie) nicht zu ehren?

Wesentliche Bedingung für die Grammatikalität solcher Strukturen ist


zudem, dass das Nebensatzsubjekt identisch mit demjenigen im Haupt-
satz ist (im eben angeführten Beispiel durch die Tilgung ausgewiesen).
Wir gehen also von folgender Tiefenstruktur aus:

Strukturbaum 60

Sv

KP VP
V KP
K NP
NL
N NP
S
KP VP
V KP

ø ø

Die Tilgung des identischen Nebensatzsubjektes wáng ⦻ führt zur


aktiven Äusserungsform, wie sie in B 212 belegt ist (das darin vorhan-
dene yǐ ԕ wird in der Strukturdarstellung noch bewusst ausge-
klammert):
206 Kapitel 4

Strukturbaum 61

Sv

KP VP
V KP
K NP
NL
N NP
S
KP VP
V KP

ø ø ø

In den eben vorgelegten zwei Strukturdarstellungen ist kě ਟ klar als ein


divalentes Verb in einer aktiv-transitiven Struktur zu erkennen. Neben
der dikomplementären Äusserungsform (vgl. B 212) gibt es aber auch
die monokomplementäre Form (vgl. B 211). Diese Form ist das Resultat
einer Passivtransformation, die dadurch möglich geworden ist, dass die
Verben aus Haupt- (kě ਟ) und Nebensatz (shā ⇪) aufgrund der Sub-
jektstilgung im Nebensatz serialisiert worden sind. Somit sind das Sub-
jekt des Hauptsatzes und das Objekt des Nebensatzes auf die gleiche
Strukturebene gerückt worden. Unter Tilgung des passivierten Subjekts
entsteht somit die folgende Struktur:
Nebensätze 207

Strukturbaum 62

Sv

KP VP
V KP
K NP
NL
N NP
S
KP VP
V KP

ø ø ø ø

Wenden wir uns nun den Äusserungen zu, in denen die bereits mehrfach
erwähnte Kette kě yǐ ਟԕ vorkommt. Analysiert man die Situationen, in
denen diese Kollokation verwendet wird, so stellt sich folgendes heraus:
Die Verwendung des Prädikates kě ਟ geschieht dann, wenn die Mög-
lichkeit bzw. Zulässigkeit eines bestimmten Verhaltens oder Resultats
diskutiert wird. Wenn von der Möglichkeit bzw. Zulässigkeit gesprochen
wird, dann ist dies unausweichlich mit bestimmten Bedingungen ver-
knüpft. Ist von Bedingungen die Rede, so geht es – auch sprachlich – um
Modalitäten des Handelns oder Verhaltens. Der Modalkasus wird im AC
(wie in 2.2.5, Tabelle 3 dargestellt) mit der Kasusmarkierung yǐ ԕ
eingeleitet. Mit anderen Worten: yǐ ԕ ist die Spur einer modalen Adver-
bialphrase (‘unter den geltenden Bedingungen’ / ‘unter solchen Umstän-
den’), welche aus der Präposition yǐ ԕ und dem Pronomen zhī ѻ
besteht, wobei zhī ѻ bekanntlich nach yǐ ԕ oberflächenstrukturell nie
realisiert wird (vgl. die Ausführungen bei B 393). Diese Modalität kann
pragmatisch auch ins Kausale (‘darum’) oder Instrumentale (‘damit’)
hinein schattiert sein. Zum Beispiel:

B 214 ᡁнਟԕᖼѻ Yǐn 11.1 Zuǒ


wǒ bù kě yǐ hòu zhī
Ich kann so nicht hinter ihm (= diesem Geschlecht) stehen.
208 Kapitel 4

Die folgende Strukturableitung illustriert die Stellung dieser modalen


Adverbialphrase AP, die zu einer Präposition P und einer Nominalphrase
NP abgeleitet wird (für Erläuterungen zur Stellung regelkonformen
Ableitung der Adverbiale, vgl. 6.3):

Strukturbaum 63

Sv

KP VP
V KP
K NP
NL
N NP
S
KP VP
AP V KP
P NP

ø ø ø ø

Andere Vertreter der Gruppe der Modalverben, wie z.B. bì ᗵ ‘müssen’


oder néng 㜭 ‘können, in der Lage sein’ können sich in der Vielfalt der
Realisationsformen nicht mit kě ਟ messen. Sie nehmen regelmässig die
Position eines “Hilfsverbs” ein, wie sie in den Beispielen B 210 bis B
213 belegt ist:

B 215 ᗵᖵ […] ࡁ㘵 Hán Fēi Zǐ 49; 13.9


bì dài […] xíng zhě
Man muss auf die […] bestrafende (Person) warten.

B 216 㜭ⴑӪѻᙗ Lǐ Jì 32.20; 9.3


néng jìn rén zhī xìng
(Er) ist in der Lage, die (wahre) Natur der Menschen auszu-
schöpfen.
Nebensätze 209

4.2.4 Appositive Relativsätze

Bei den Relativsätzen unterscheidet man schon in traditionellen Gram-


matiken aufgrund inhaltlicher Kriterien zwei Gruppen: die restriktiven
(einschränkenden) Relativsätze und die appositiven (erklärenden)
Relativsätze. Z.B.:

Der Student, der den Satz analysiert, ist Sinologe.

Restriktiv wäre diese Äusserung z.B. wie folgt zu paraphrasieren: Von


den anwesenden Studenten ist derjenige, der den Satz analysiert,
Sinologe (die übrigen nicht unbedingt). Es wird also aus einer Menge
eine Teilmenge ausgegrenzt; der Referenzbereich wird eingeschränkt.
Appositiv könnte die Paraphrase wie folgt lauten: Der Student – er
analysiert eben den Satz – ist Sinologe. Der appositive Einschub wirkt
nicht einschränkend, sondern erklärend (die Wirkung ist noch deutlicher,
wenn man das Subjekt ‘der Student’ z.B. durch einen Eigennamen
‘Hans’ ersetzt – die restriktive Interpretation ist dann nicht mehr mög-
lich, ausser mehrere “Hänse” seien anwesend).
Im AC sind derartige appositive Relativsätze Art nicht besonders
häufig. Ausserdem scheinen sie vorzugsweise nach den existenzanzei-
genden Lokativverben yǒu ᴹ bzw. wú ❑ ‘es gibt / hat / existiert
(nicht)’ aufzutreten oder in bestimmten Nominalsatzkonstruktionen (vgl.
9.1.3) möglich zu sein. Formal unterscheiden sich im AC appositive
Relativsätze von den restriktiven Relativsätzen durch die Tatsache, dass
das Kernwort wie in Komplementsätzen dem Relativsatz vorausgeht.
Ausserdem fehlen wegen der inhärent gegebenen Subjektsreferenz-
identität die für die restriktiven Relativsätze charakteristischen Prono-
mina zhě 㘵 bzw. suǒ ᡰ. Man vergleiche:

B 217 ഻ᴹ㠓࡙ੋ
guó yǒu chén lì jūn
Im Land gibt es einen (bestimmten, spezifischen) Lehnsmann,
der dem Herrscher nützt.
Appositiv, paraphrasiert also: Im Land gibt es einen ganz be-
stimmten, für die Kommunikationsteilnehmer klar identifizierten
Lehnsmann, und dieser nützt dem Herrscher.
210 Kapitel 4

B 218 ഻ᴹ࡙ੋѻ㠓
guó yǒu lì jūn zhī chén
Im Land gibt es einen Lehnsmann, der dem Herrscher nützt.
Restriktiv, d.h. es wird unterstellt, es gebe möglicherweise auch
solche, die dem Herrn nicht nützlich sind.

Der Komplementcharakter der appositiven Relativsätze erlaubt es, die


Regeln R-5b, R-4b und R-4c auch auf diese Strukturen anzuwenden,
wobei die Referenzidentität (hier zwingend zwischen Nebensatzsubjekt
und Kernnominalen im dominierenden Satzteil) diese Satzform gegen-
über den meisten Komplementsätzen abgrenzt (NL / S-Identität):

(R-1) Sv → KP + VP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → V (KP) (KP)
(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
(R-4b) NP → (DET) NL (KP)
(R-4c) NP → S
(R-5a) NL → (PSP) NL
(R-5b) NL → N (NP)
(R-6) PSP → NP + PST

Die Struktur des appositiven Relativsatzes aus B 217 stellt sich wie folgt
dar:
Nebensätze 211

Strukturbaum 64

Sv
KP VP
V KP
K NP

NL

N NP
S
KP VP
V KP

In dieser Struktur ist sodann die Tilgung des identischen Subjekts im


Komplementsatz vorzunehmen, mit folgendem Resultat:

Strukturbaum 65

Sv
KP VP
V KP
K NP

NL

N NP
S
KP VP
V KP

ø ø

Das Regelwerk beschreibt also belegbare Äusserungen wie:


212 Kapitel 4

B 219 ӺᴹаӪ‫ޕ‬Ӫൂ Mò Zǐ 17A; 29.1


jīn yǒu rén rù rén yuán pǔ qiè qí táo lǐ
Da haben wir den Fall einer einzelnen Persönlichkeit, die betritt
Obst- und Gemüsegärten anderer Persönlichkeiten und stiehlt da-
bei Pfirsiche und Pflaumen.

4.3 Kausativkonstruktionen

Das AC kennt zwei Kausativformen: eine analytische und eine syntheti-


sche: Die analytische Kausativform entspricht dem in 4.2.1 beschrie-
benen Komplementsatz vom Typ shǐ ֯: Ein allgemeines kausatives
Verb wird mit einem verursachenden Agens im Sinne eines über-
geordneten Satzes in eine bestehende Äusserung eingefügt, wobei die
ursprüngliche Äusserung syntaktisch gesehen zum Objektsatz des
kausativen Verbs wird. Die analytische Kausativform, die syntaktisch als
komplexer Satz zu betrachten ist, kann zu intransitiven, transitiven oder
sogar kausativen Verben gebildet werden. Die synthetische Kausativform
liegt hingegen dann vor, wenn das verursachende Agens als Subjekt
einer syntaktisch nicht-komplexen Äusserung eingeführt wird, wobei das
Verb der Subklasse der kausativen Verben angehört (von denen viele –
wie bereits ausgeführt – in einem derivativen Verhältnis zu entspre-
chenden mono- oder divalenten Verben stehen und ggf. auch auf der
morphonologischen Ebene noch als solche markiert sind, vgl. Kap.
10.5.1). Gerade hier stellt sich aber die Frage, ob die Existenz nicht-
kausativer und kausativer Homographe bei bestimmten Begriffen sich –
wie bis jetzt argumentiert worden ist – auf der Ebene des Lexikons als
Derivationsprozess abspielt oder erst auf der syntaktischen Ebene
ausgeformt wird. Man vergleiche:

B 220 ഻ሿ
guó xiǎo
Das Land ist klein.
Nebensätze 213

B 221 ⦻ሿ഻
wáng xiǎo guó
a. Der König verkleinert das Land.
b. Der König hält das Land für klein.

Die Beziehung zwischen den Äusserungen B 220 und B 221 ist in 2.4.4
bereits so formuliert worden, dass B 221 eine kausative Entsprechung
sei. Man könnte aber versucht sein, zur Darstellung dieser Beziehung
eine syntaktische Grundlage zu formulieren und deshalb die folgende
Tiefenstruktur anzusetzen:

Strukturbaum 66

Sv
KP VP
V KP
K NP

NL
N NP
S
KP VP

ø ø

Diese Tiefenstruktur wäre – falls man diesem Ansatz folgen will – wie
folgt zu verändern:

a. Anhebung des Konstituentensubjekts zum Objekt im übergeordne-


ten Satz (wáng shǐ ⦻֯ // guó xiǎo ഻ሿ Ÿ wáng shǐ guó ⦻഻֯
//xiǎo ሿ);
b. Anhebung des Restprädikats aus dem Konstituentensatz und Anla-
gerung beim kausativen Verb (wáng shǐ guó ⦻഻֯ // xiǎo ሿ Ÿ
wáng shǐ=xiǎo guó ⦻֯ሿ഻);
214 Kapitel 4

c. Fusion der Verbkombination zu einem divalenten kausativen Homo-


graphen zum monovalenten Verb (shǐ=xiǎo ֯ሿ Ÿ xiǎo ሿ
[kaus]).

Problematisch an diesem Ansatz ist nicht so sehr die Tatsache, dass im


AC die Prädikatsanhebung (Serialisierung) nur bei Modalverben vor-
kommt (vgl. 4.2.3), sondern im wesentlichen der Umstand, dass hier
wieder ein lexikalisches Derivationsverhältnis mit einem syntaktischen
Prozess vermengt würde und damit dem unhaltbaren Argument des
Wortklassenwechsels Vorschub geleistet wird (bei den Modalverben gibt
es ja gerade keine entsprechenden Derivationen). Halten wir fest, dass
analytische und synthetische (kausative) Formen durchaus in einer kla-
ren Paraphrasenbeziehung stehen. Aber auf unsere Problematik bezogen
heisst das, dass zwischen dem divalenten kausativen Verb xiǎo ሿ ‘ver-
kleinern’ und einer allfälligen analytischen Kombination shǐ xiǎo ֯ሿ
‘klein machen’ eine Beziehung existiert, die von einer adäquaten Gram-
matik zu berücksichtigen und zu beschreiben ist (es handelt sich um eine
Paraphrasenbeziehung) – und nicht zwischen dem monovalenten Verb
xiǎo ሿ ‘klein’ und dem divalenten kausativen Verb xiǎo ሿ ‘verklei-
nern’! Wenn wir von dieser Einsicht ausgehen, dann haben wir zunächst
Beispiele der folgenden Art zu bedenken:

B 222 ֯䋺⇪ᆀᆄ Wén 14 fù 4 Zuǒ


X shǐ zéi shā zǐ-Kǒng
(Sie) veranlassten einen Raubmörder, Junker Kǒng zu töten.

In diesem Beispiel, das uns als kausative Konstruktion von der Struktur
her durchaus geläufig ist, ist das angehobenen Konstituentensubjekt zéi
䋺 zwischen dem übergeordneten kausativen Prädikat shǐ ֯ und dem
Konstituentenprädikat shā ⇪ eingelagert. Fehlt das Konstituentensub-
jekt, so erhalten wir Oberflächenstrukturen der folgenden Art:

B 223 ‫⇪֯ޜ‬ѻ Xī 28.12 Zuǒ


gōng shǐ shā zhī
Der Patriarch veranlasste, dass (jemand) ihn tötete.

Oberflächenstrukturen dieser Art finden wir auch mit Prädikaten, die den
uns interessierenden Gruppen entstammen könnten, so z.B.:
Nebensätze 215

B 63 ≁ਟ֯ᇼҏ Mèng 7A.23


mín kě shǐ fù yě
Die Mín sind (Personen), die reichgemacht werden können.

Die Frage, die sich hier stellt, ist wie und unter welchen Bedingungen
solche Strukturen entstehen und welche Wortklasse das Zeichen fù ᇼ
repräsentiert. Dabei gilt es mit Nachdruck die zu Beginn im Anschluss
an SB 66 gemachte Aussage zu wiederholen, dass zwischen dem mono-
valenten und dem verwandten divalenten kausativen Wort wirklich keine
Paraphrasenbeziehung herrscht (es handelt sich um eine Frage des Lexi-
kons), sondern dass eine Analogie zwischen den folgenden Formen fest-
zustellen ist:

X ֯ Y ⇪ Z
X ֯ Y ᇼ Z

Man beachte, dass in der unteren Variante das Zeichen fù ᇼ zwar in der
Regel für die Repräsentation des monovalenten Verbs gehalten wird,
dass aber ohne weiteres auch das kausative Verb angesetzt werden
könnte, was mit der früher gemachten Feststellung übereinstimmt, dass
Verben aller Art (also auch bereits kausative) nach einem überge-
ordneten Kausativverb eingebettet sein können, wie dies im folgenden
Beispiel klar belegt wird (yìn 伢 < AC *ʔ(r)um-s ist das bereits morpho-
logisch durch *-s als exoaktiv-kausativ markierte Verb zu dem endo-
aktiven Pendant yǐn < *ʔ(r)um-q ‘trinken’):

B 224 䲣Ӫ֯႖Ӫ伢ѻ䞂 Zhuāng 12.5 Zuǒ


Chén rén shǐ fù rén yìn zhī jiǔ
Rén von Chén liessen die Ehefrau ihn mit Wein bewirten.

Wenn in dieser Konstruktion das angehobene Konstituentensubjekt ge-


tilgt wird (wie in Beispiel B 223), so müssten folgerichtig shǐ ֯ und das
kausative Verb oberflächenstrukturell unmittelbar aneinander anstossen,
wie das folgende Beispiel auch belegt:
216 Kapitel 4

B 225 ֯ትѻ Yǐn 1.3 Zuǒ


shǐ jū zhī
(Der Graf von Zhèng) liess (seine Mutter) ihn (seinen Bruder)
(in der erwähnten Stadt) ansiedeln.
nicht: … liess ihn dort wohnen !!

Damit unterscheidet sich Beispiel B 225 vom folgenden Beispiel einzig


und allein dadurch, dass darin eine indirekte, nur mittelbare Veran-
lassung zum Ausdruck gebracht wird (X gibt Y den Auftrag und Y führt
es aus; B 223: gōng shǐ shā zhī ‫⇪֯ޜ‬ѻ ‘der Patriarch lässt jemand ihn
töten’), während in Beispiel B 226 eine direkte, unmittelbare Veran-
lassung vorliegt (X ist gleichzeitig Verursacher und Ausführender; gōng
shā zhī ‫⇪ޜ‬ѻ ‘der Patriarch tötet ihn’):

B 226 䙲෾㘼ትѻ Xī 19 fù 1 Zuǒ


X suì chéng ér jū zhī
(Qín) umwallte darauf (die Stadt) und besiedelte es.

Auf diese Weise eröffnet sich eine neue Sicht auf die lexikalische Struk-
tur der kausativen Verben wie auch auf die syntaktische Struktur der
kausativen Konstruktion: Es lässt sich so argumentieren, dass die analy-
tische Kausativform mit einem eingebetteten Kausativverb (aber auch
mit anderen Verben) die mittelbare, indirekte Verursachung signalisiert,
die synthetische Form mit einem alleinigen kausativen Hauptprädikat
jedoch die direkte, unmittelbare Verursachung. Zu einem Verb wie shā
⇪ ‘töten’ gibt es ja keine lexikalisierte kausative Form. Dement-
sprechend ist das Zeichen shā ⇪ < AC *s-rat zwar morphonologisch als
*s-präfigierte Kausativierung einer unbekannten zugrundeliegenden
(nicht-kausativen) Verbbasis *r(r)at zu rekonstruieren, welche die Be-
deutung ‘tot sein’ gehabt haben sollte. Dieselbe Wortwurzel ist mögli-
cherweise in anderen Affigierungskombinationen in lì ৢ < AC *rat-s
‘grausam sein’ und lì 㹓 < AC *(mə-)rat-s ‘stechendes Insekt’ belegt.
Man kann allerdings nicht in Analogie zu yìn 伢 oben dieselbe Verb-
basis so exoaktiv durch *-s suffigieren, dass eine (sekundäre) Kausativ-
bedeutung resultiert. Zwar existiert eine solche suffigierte Lesung shài
⇪ < AC *s-rat-s tatsächlich, diese hat jedoch medio-passive Bedeutung
‘(getötet werden →) reduzieren, vermindern’. Diese Interpretation wird
dadurch unterstützt, dass Äusserungen mit der Zeichenfolge shǐ ֯ +
Nebensätze 217

kausatives V2 + dir.Objekt in den konsultierten Texten kaum auszuma-


chen sind. Wenn ein (derivativ verwandtes) kausatives Verb existiert, so
kommen nur Äusserungen des folgenden, synthetischen Typs vor:

B 227 ሿ഻
xiǎo guó
X verkleinert das Land.

Wäre Beispiel B 227 aber die Ausgangsstruktur für eine Passivierung,


würde dies zu der folgenden ambigen Form führen:

B 228 ഻ሿ
guó xiǎo
Das Land ist klein. (die übliche Interpretation)
?? Das Land ist klein gemacht (worden). (unüblich)

Da diese beiden Interpretationen einwandfrei auseinandergehalten wer-


den müssen, kann nur die analytische Form die Ausgangsstruktur für die
Passivierung sein:

B 229 ഻֯ሿ
guó shǐ xiǎo
Das Land wird klein gemacht.

Die vergleichende Betrachtung der analytischen und der synthetischen


Kausativform ist also auch darum von besonderer Bedeutung, weil damit
eine Erklärung dafür gegeben wird, warum erstere Form in bestimmten
Fällen der Disambiguierung der faktitiven Varianten dienen kann.
Im Falle der putativ-kausativen Form gibt es auch eine häufige
Oberflächenform, die als Paraphrase zu werten ist, bei der allerdings die
strukturellen Beziehungen deutlich anders liegen. Vom Deutschen aus-
gehend ist man versucht den Beleg B 230 wie folgt zu analysieren und
das Verb wéi ⛪ für ein putatives Äquivalent zum faktitiven shǐ ֯ zu
halten:

B 230 ⦻ ԕ഻ ⛪ሿ
wáng yǐ guó wéi xiǎo
Der König das Land hält für klein.
218 Kapitel 4

Es liegt aber in diesem Fall nicht eine Satzeinbettung vor (man wäre
dann gezwungen, yǐ ԕ als das Verb im Hauptsatz zu setzen, was z.B.
bei einer Passivierung zu einem Erklärunginfarkt führen würde, denn das
angebliche Verb verschwindet dann – vgl. B 234). Das Hauptverb ist das
trivalente wéi ⛪ ‘machen / tun’, bei dem das Edukt (hier: guó ഻) mit
der Kasusmarkierung yǐ ԕ in den meisten Fällen präverbal positioniert
wird, während das Produkt (hier: xiǎo ሿ) postverbal bleibt und katego-
rial eine Nominalphrase ist (vgl. 8.3, Zeile B. in Tabelle 17). Die Über-
setzung muss also lauten:

Der König das Land hält für etwas Kleines.


Der König das Land hält für eine Kleinigkeit.

Damit ist diese Konstruktion analog anderen trivalenten Verben zu ana-


lysieren. Vergleiche:

B 231 ๟ԕཙл㠷㡌 Mèng 5A.5; 20.1


Yáo yǐ (K) tiān-xià (DO) yǔ (V) Shùn (IO)
Yáo gab das Reich Shùn.

Ist das Objekt pronominalisiert, so wird es getilgt:

B 232 ⦻ ԕ ⛪ ሿ
wáng yǐ [zhī] wéi xiǎo
Der König (es) hält für etwas Kleines.

Vergleiche die analoge Situation beim trivalenten Verb yǔ 㠷:

B 233 㤕ԕ㠷ᡁ Xiāng 15 fù 3 Zuǒ


ruó yǐ (K) yǔ (V) wǒ (PRN)
Wenn Sie ihn mir geben, […]

Die Tiefenstruktur der Äusserung B 230 ist also nicht analog zu der
bekannten kausativen Struktur zu bilden, sondern eben als ganz normale
trivalente Struktur mit vorgezogenem Objekt:
Nebensätze 219

Strukturbaum 67

Sv
KP VP
V KP KP

SB 67 ist Ausgangsstruktur für allfällige Passivierungen, bei denen man


– wiederum zur Disambiguierung gegenüber der monokomplementären
Form mit dem divalenten Verb – Formen mit dem trivalenten Prädikat
findet (das zweite Beispiel B 235 wäre die Form, die zur Disambiguie-
rung Anlass gibt):

Strukturbaum 68

Sv
KP VP
V KP KP
ø

B 234 ੋ⛪䕅 Mèng 7B.14


jūn wéi qīng
Der Fürst wird für etwas Unwichtiges gehalten.

B 235 ੋ䕅
jūn qīng
Der Fürst ist unwichtig.

In der aktiven Form wird SB 67 oberflächlich eher selten so realisiert. Er


ist aber Ausgangsstruktur für die überaus häufig anzutreffende Ober-
flächenform B 230 mit vorgezogenem direkten Objekt (mit yǐ ԕ mar-
kiert) oder B 232 mit ebenfalls vorgezogenem, aber mit getilgtem zhī ѻ
pronominalisiertem direkten Objekt (yǐ ԕ bleibt als Spur erhalten):
220 Kapitel 4

Strukturbaum 69

Sv
KP VP
KP V KP KP
K NP

SB 66 ist als Ausgangsstruktur die Erklärungsgrundlage für eine AC-


typische Negationsform, nämlich der negiert-kausativen Sonderform

fú ᕇ,

bei dem das nachfolgende verbale Prädikat häufig eine “kausative” bzw.
“transitivierte” Bedeutung zu haben scheint. Im Rahmen dieser Gram-
matik wäre das Verhalten analytisch am adäquatesten wie folgt aufzu-
lösen:

Ÿ fú ᕇ | bù shǐ н֯

Diese Analogie postuliert keine Fusionsform: während die Genese von fú


ᕇ (AC *p[ə,u]-t) aus Fusion von bù+zhī нѻ (AC *pə+tə) durchaus
plausibel scheint, besteht sicherlich kein morphonologischer Bezug von
für ᕇ zu bù shǐ н֯ ( AC *p[ə,u]-s-rə-q) im Sinne einer Triplex-Fusion.
Vielmehr bilden fú und bù shǐ ein mit den beiden statischen V2-Verben
yǒu ᴹ und wú ❑ (das auch neben bù yǒu нᴹ steht!) vergleichbares
kausatives Paar, nämlich shǐ ֯ und fú ᕇ – was die Bedeutung dieser
Konstruktion nachdrücklich dokumentiert. Es ist insbesondere zu erwäh-
nen, dass fú ᕇ alle Bedeutungsnuancen von shǐ ֯ aufweist, nämlich die
Komponenten ‘nicht verursachen’ und ‘nicht lassen’. Zum Vergleich
seien zwei Strukturableitungen vorgelegt, wobei in SB 70 sozusagen die
Vorbedingungen dargestellt sind (eingeführte Negation bù н und, sehr
wichtig, angehobenes, mit zhī ѻ pronominalisiertes Konstituentensub-
jekt), in SB 71 die Realisationsform dargestellt ist (in der Tiefenstruktur
Nebensätze 221

verschwindet richtigerweise der über eine Transformation einzufügende


Knoten NEG, da fú ᕇ ja zur Wortklasse der Verben gehört):

Strukturbaum 70

Sv
KP VP
V KP KP
NEG V K NP
NL
N NP
S
KP VP

ø ø ø

Strukturbaum 71

Sv
KP VP
V KP KP
K NP
NL
N NP
S
KP VP

ø ø ø

Ein Belegbeispiel (wéi ⛪ ist hier das Proverb ‘machen’ – die Kolloka-
tion wéi gǎi ⛪᭩ ‘eine Veränderung vornehmen’ steht anstelle des ein-
fachen Verbs gǎi ᭩ ‘verändern’):
222 Kapitel 4

B 236 ᕇ⛪᭩ Hán Fēi Zǐ 49; 13.2


fú wéi gǎi
(Sie) erreichen nicht, dass (er) eine Veränderung vornimmt.

4.4 Zusammenfassung

Die Ergebnisse dieses Kapitels führen durch Integration der Adnominal-


sätze einerseits zu einer Vertiefung des Dreistufenschemas in seiner
Anwendung auf das AC, andererseits zu einem entsprechend ergänzten
Regelwerk. Das Schema präsentiert sich nun wie folgt:

A. Komplemente und Appositive ergänzen ein Nomen zu einer Nomi-


nalen; das Komplementelement wird dem Kernnomen sequentiell
nachgeordnet.

Das AC kennt zwei Strukturformen:


a. eine sententielle Form, welche Komplementsätze und appositive
Relativsätze umfasst;
b. eine nominale Form, welche Nominalkomplemente nach Verbal-
nomina und nominale Appositionen umfasst.

B. Adjunkte bestimmen Nominale näher, ohne aber deren Status zu ver-


ändern. Gemäss dem allgemeinen Stellungsgesetz stehen Adjunkte
als modifizierende Elemente vor dem zugehörigen Kernnomen.

Das AC kennt zwei Strukturformen:


a. eine sententielle in Form von Relativsätzen
b. eine nominale in Form von Genitiven

C. Determinanten ergänzen Nominale zu Nominalphrasen.


Nebensätze 223

Das Regelwerk präsentiert sich jetzt wie folgt:

(R-1) Sv → KP + VP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → V (KP) (KP)
(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
(R-4b) NP → (DET) NL (KP)
(R-4c) NP → S
(R-5a) NL → (PSP) NL
(R-5b) NL → N (NP)
(R-6) PSP → NP + PST
5 Nominalsätze

5.1 Nominale Prädikate

Während in Verbalsätzen (vgl. Kapitel 2) die beiden Hauptwortklassen,


die Nomina und die Verben, mit ihren jeweiligen Funktionen (bei den
Nomina die Referenzfunktion und bei den Verben die Prädizierungs-
funktion) gemeinsam die Syntax bestimmen, ist dies bei den soge-
nannten Nominalsätzen nicht der Fall. Hier sind in beiden Funktionen
Mitglieder der nominalen Wortklasse vertreten. Da es dem nominalen
Prädikat an inhärenter “Verbalität” oder “Prädikativität” fehlt, haben die
Sprachen unterschiedliche Strategien und Mittel entwickelt, um dem mit
einem Nominalsatz realisierbaren sprachlichen Gestus einer Zeigedefini-
tion oder eines Klassifizierungsvorgangs zu einem sententiellen
Charakter zu verhelfen. Am häufigsten wird dafür eine sogenannte
Kopula eingesetzt (im Deutschen ‘sein’, im modernen Chinesischen shì
ᱟ, aber es gibt auch kopulalose Strukturen, z.B. im Russischen in den
indikativischen Präsensformen, etwa его отец – инженер ‘sein Vater
[ist] Ingenieur’) oder – wie im Antikchinesischen – eine spezifische,
funktional äquivalente Markierung des prädikativen Charakters eines
nominalen Ausdrucks, nämlich yě ҏ. Dieses Strukturwort signalisiert,
dass ein nominales Element die Funktion des Prädikats wahrnimmt. Dass
yě ҏ nicht als Kopula klassifizierbar ist, sondern zu den Postpositionen
gehört – also zur allgemeineren Kategorie der Prädikatsmarkierungen –
hat damit zu tun, dass u.a. seine Funktion bei Komplementsätzen (s.
4.2.1) nicht kopulativ analysiert werden kann (s. auch 5.2.7).

B 237 㡌Ӫҏ Mèng 4B.28


Shùn rén yě
Shùn war ein Rén / eine Persönlichkeit.

Verbalsätze und Nominalsätze unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich


der beteiligten Wortklassen. Der wohl augenfälligste Unterschied besteht
darin, dass die Subjektsnominalphrase, insbesondere aber die Prädikats-
226 Kapitel 5

nominalphrase keine Kasusphrasen sind, also nie mit einer Kasusmar-


kierung auftreten. Die beiden Nominalphrasen haben demnach nicht
Argumentcharakter, wie die nominalen Valenzelemente bei einem verba-
len Prädikat. Der Ansatz von zwei Satztypen – Sätze mit verbalem Kern
und Sätze mit nominalem Kern – ist somit intuitiv befriedigend wie
explanatorisch adäquat und berücksichtigt die funktionalen Differenzen
zwischen den zwei Satztypen.
Die Regel, welche kategoriale wie funktionale Aspekte berücksich-
tigt, hat also folgende Form: das Satzsymbol auf der linken Seite wird
mit einem Subskript ‘n’ versehen und der Subjektsausdruck wird nicht
als Kasusphrase KP, sondern als einfache Nominalphrase NP generiert.
Da die Prädikatsmarkierung yě ҏ kategorial als Postposition PST ein-
zuordnen ist, lässt sich diese sowie der nominale Charakter des Prädi-
katsausdrucks dadurch einfangen, dass eine Postpositionalphrase PSP
generiert wird, die dann nach Regel (R-6) weiter abgeleitet wird. Das
Regelwerk ist also nur durch die Regel (R-1b) zu ergänzen und stellt sich
wie folgt dar:

(R-1a) Sv → KP + VP
(R-1b) Sn → NP + PSP
(R-6) PSP → NP + PST

Mit diesen Regeln lässt sich die Struktur des Belegs B 237 wie folgt in
einem Strukturbaum darstellen:

Strukturbaum 72

Sn
NP PSP
NP PST

Während im Verbalsatz die Semantik des Verbs die Valenz bestimmt,


gibt es beim Nominalsatz für die PrädikatsNP nur eine semantische
Norm, die allerdings aufgrund der Verschiedenheit der möglichen NP
durchaus inhaltlich-pragmatisch differenzierte Äusserungen und syntak-
Nominalsätze 227

tisch komplexe Strukturen zulässt. Die Norm ist grundsätzlich dadurch


gekennzeichnet, dass SubjektsNP und PrädikatsNP in einer sogenannten
Hyponymierelation oder Element-Mengen-Relation zueinander stehen
(vgl. 3.5.1 und 5.2.2). Daraus und aus dem kategorial als nominal festge-
legten Wert der Strukturstelle des Prädikats lassen sich unterschiedliche
syntaktische und inhaltliche Strukturen ableiten.

5.2 Generische Relativsätze

Generische Relativsätze sind ein Spezifikum der AC-Syntax. Soweit im


Augenblick ersichtlich, kommen sie nur in der Nominalsatzform vor. Zu
ihrem Verständnis muss daher etwas ausgeholt werden, wobei im Rah-
men dieser Ausholbewegung einige grundsätzliche Einsichten und
methodische Ansätze eingeführt, erläutert oder im Zusammenhang wie-
derholt werden können.
Es gibt also eine sehr häufige Äusserungsform, die dadurch gekenn-
zeichnet ist, dass sie mit dem Prädikatsanzeiger yě ҏ abgeschlossen ist
(in Fragen findet man entsprechend die Frageform yú 㠷, die eine
Fusionsform aus yě ҏ und hū Ѿ darstellt; vgl. 8.3, Abschnitt D). Wenn
man die syntaktische Funktion der Prädikatsmarkierung yě ҏ ernst
nimmt und konsequent in der Analyse einsetzt, dann muss man zum
Schluss gelangen, dass die mit yě ҏ markierte Kette entweder ein
nominales Prädikat in der Nominalsatzstruktur oder ein in seiner prädi-
kativen Funktion wiederbestätigtes nominalisiertes Prädikat in einem
Komplementsatz (vgl. 4.2.1) sein muss.

5.2.1 yě ҏ als Diagnostikum

Die Funktionsbeschreibung von yě ҏ (vgl. 5.1 und 4.2.1), nämlich Mar-


kierung der prädikativen Funktion eines nominalen Prädikats, kann man
auch umkehren und im Sinne einer Diagnostikfunktion verwenden: Ein
mit yě ҏ als Prädikat markiertes Element muss der nominalen Kon-
stituentenklasse angehören. Zum Beispiel:
228 Kapitel 5

B 147 ᱟӖ䎠ҏ Mèng 1A.3


shì yì zǒu yě
Dies ist auch Fortlaufen.

Die Struktur dieser Äusserung ist klar die eines Nominalsatzes, also
muss das mit yě ҏ markierte zǒu 䎠 als Prädikatsnomen der Konsti-
tuentenklasse der Nomina angehören, also ein Verbalnomen sein (die
Argumente aus Abschnitt 3.3 werden hier kurz resümiert). Die gleiche
diagnostische Funktion von yě ҏ erlaubt uns auch, scheinbare “Verb-
Objekt-Verbindungen” kategorial als Verbalnomina mit einem Nominal-
komplement (d.i. das Äquivalent des Objekts beim Verb) zu erfassen.
Zum Beispiel:

B 148 ᱟỴؑҏ Chéng 6.4 Zuǒ


shì qì-xìn yě
Das ist das Aufgeben der Verlässlichkeit.

Ebenso der diagnostischen Funktion von yě ҏ zu verdanken ist die Ein-


sicht, dass es neben der verbalen Negation bù н auch eine suffixale
Form gibt, welche Verbalnomina “negiert”. Z.B.:

B 149 ᱟн㠓ҏ Xī 5.5 Gǔ


shì bù=chén yě
Das ist nichtlehnsmannkonformes Verhalten.

Auf die folgenden zwei Belege angewandt, führt diese Analyse ebenso
zwingend zur Folgerung, dass kě ਟ in analogen Fällen ein suffixales
Element des Verbalnomens sein müsste, analog dem Deutschen -bar,
etwa in verwert-bar / Verwert-bares, analysier-bar / Analysier-bares
usw. Die Übersetzungen sind deshalb nicht unter dem Blickwinkel der
Stilistik zu beurteilen:

B 238 ഻ਟᗇҏ Xī 32.5 Zuǒ


guó kě dé yě
Das Land ist ein Erlangbares.
Nominalsätze 229

B 239 Ӫਟ⇪㠷 Mèng 2B.8


rén kě shā yú
Ist ein Rén ein Tötbarer?

Dieser Ansatz mag bei den dargelegten, einfachen Beispielen etwas für
sich haben. Aber wie erklärt sich dann das Beispiel mit einem komple-
xen Subjekt und dem einfachen (nominalen? suffixalen?) kě ਟ im
Prädikat?

B 240 ↫ੋભਟҏ Wén 18.6 Zuǒ


sǐ-jūn-mìng kě yě
Sterben für den Auftrag des Fürsten ist ein ?-bares.
Übersetzung s. unten S. 241.

Bei etwas komplexeren Äusserungen mit satzabschliessendem yě ҏ


(oder bei solchen ohne bù н oder kě ਟ, die einer suffixalen Deutung
noch zugänglich sind) muss jedoch die Annahme von polysyllabischen
Wortbildungen bzw. Lexikalisierungen aufgegeben werden. Z.B.:

B 63 ≁ਟ֯ᇼҏ Mèng 7A.23


mín kě shǐ fù yě
?? Die Mín sind Reichmachbare.

B 241 ❦ᖼѝ഻ਟᗇ㘼伏ҏ Mèng 3A.4; 11.16


rán hòu zhōng guó kě dé ér shí yě
Übersetzung s. unten S. 240.

Satzabschliessend deutet die Markierung yě ҏ klar darauf hin, dass eine


Nominalsatzkonstruktion vorliegt. Das Subjekt ist zhōng guó ѝ഻, die
Kette kě dé ér shí ਟᗇ㘼伏 ist demnach als Prädikatsnominalphrase
des Nominalsatzes zu deuten. Aber wie kann eine solche Kette syntak-
tisch als nominal kategorisiert werden, also als Nominalphrase verstan-
den werden?
230 Kapitel 5

5.2.2 Zur Semantik des Nominalsatzes

Bevor wir zum Versuch einer Antwort auf diese Frage übergehen, muss
zunächst noch eine inhaltliche Eigenschaft des Nominalsatzes vertiefter
angesprochen werden. In semantischer (oder besser: pragmatischer) Hin-
sicht besteht die Besonderheit des Nominalsatzes darin, dass Subjekts-
nominalphrase und Prädikatsnominalphrase in einer besonderen Weise
miteinander verknüpft sind, ja sein müssen (dies würde funktional der
Valenz beim Verb entsprechen). Da der Nominalsatz zum Ausdruck
einer besonderen Relation zwischen Subjektsnominalphrase und
Prädikatsnominalphrase verwendet wird, gilt es, die Charakteristika
dieser Beziehung näher zu betrachten.

B 237 㡌Ӫҏ Mèng 4B.28


Shùn rén yě
Shùn war ein Rén.

In diesem Beispiel ist die Subjektsnominalphrase Shùn 㡌 ein Personen-


name, referiert also auf eine Person; die Prädikatsnominalphrase rén Ӫ
ist ein Gattungsname und bezeichnet eine bestimmte Gruppe oder Klasse
von Personen. Die Relation zwischen Subjektsnominalphrase und Prädi-
katsnominalphrase kann nun die eines Elements (Shùn 㡌) zu einer
Menge (rén Ӫ) sein (das ist die häufigste Relation, aber keineswegs die
einzige mögliche, vgl. 5.3). Linguistisch ausgedrückt könnte man die
Relation auch wie folgt fassen:

a. Shùn 㡌 und rén Ӫ stehen in einer HYPONYMIERELATION (Shùn 㡌


wäre das Hyponym, der untergeordnete oder spezifischere Aus-
druck, rén Ӫ das Supernym, der übergeordnete oder allgemeinere
Ausdruck, vgl. 3.5.1). Oder
b. Der Personenname bzw. das Lexem Shùn 㡌 enthält als sogenanntes
INHÄRENTES MERKMAL ein semantisches Merkmal [+rén Ӫ]. Da
das gleiche für den Gattungsnamen bzw. das Lexem rén Ӫ gilt, ist
die Verwendung beider in der Nominalsatzform möglich.

Diese Relation bestätigt sich auch in den folgenden Beispielen:


Nominalsätze 231

B 242 䏉ᇓᆀਔѻ㢟བྷཛҏ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.82


Zhào Xuān zǐ gǔ zhī liáng dài-fū yě
Der Xuān-Junker aus dem Stamm der Zhào war ein anständiger
Dàifū im Stile des Altertums.

Die Äusserung hat die Form eines Nominalsatzes: die Subjektsnominal-


phrase ist der Namensausdruck Zhào Xuān zǐ 䏉ᇓᆀ; die mit yě ҏ
markierte Prädikatsnominalphrase besteht aus dem explizit mit zhī ѻ
markierten Genitivausdruck gǔ zhī liáng dài-fū ਔѻ㢟བྷཛ. Zu beach-
ten ist ausserdem, dass die Subjektsnominalphrase immer der spezifi-
schere Ausdruck ist. Die simple Vertauschung von Subjekts- und Prädi-
katsnominalphrase führt zu merkwürdigen (wohl ungrammatischen)
Aussagen, weil im AC die disambiguierende Wirkung eines Artikels
fehlt:

B 237a Ӫ㡌ҏ abgewandelt nach Mèng 4B.28


? rén Shùn yě
? Der Mensch ist Shùn.

Dieser Satz kann nur geäussert werden, wenn – in Bestätigung der oben
angeführten Gesetzmässigkeit – rén Ӫ als der spezifische Ausdruck,
Shùn 㡌 dagegen als der allgemeine oder generische Ausdruck inter-
pretiert wird, also ‘Der Rén / die Persönlichkeit ist ein Shùn’ (vgl. z.B.
rén jiē kě yǐ wéi Yáo Shùn ӪⲶਟԕ⛪๟㡌 ‘alle Menschen können so
zu Yáos oder Shùns werden’, in Mèng 6B.2). Die oben angesprochene
Übereinstimmung eines Merkmals kann dazu benutzt werden, um die
Bedeutung von Nomina besser zu erfassen. Z.B.:

B 243 ጷ᰾⽰‫؍‬ሿሑઘ⿞ҏ Xī 21 fù Zuǒ; 19.6


chóng míng sì, bǎo xiǎo guǎ Zhōu lǐ yě
Die Opfer der Ahnen verherrlichen, Kleine und Alleinstehende
schützen, das sind ritenkonforme Verhaltensweisen der Zhōu.

Der Charakter des Subjektsausdrucks chóng míng sì, bǎo xiǎo guǎ ጷ᰾
⽰‫؍‬ሿሑ in B 243 (es handelt sich um erwünschtes oder gefordertes
Verhalten) legt nahe, den Kern lǐ ⿞ der Prädikatsnominalphrase eben-
falls als Bezeichnung für ein Verhalten, also ‘rituelles Verhalten’ auf-
zufassen.
232 Kapitel 5

Halten wir zweierlei fest:

a. yě ҏ ist eine POSTPOSITION, welche die prädikative Funktion einer


Nominalphrase signalisiert, und
b. zwischen Subjekts- und Prädikatsnominalphrase im Nominalsatz ist
für eine korrekte Äusserung eine Überschneidung im Merkmals-
katalog bzw. eine HYPONYMIERELATION vorauszusetzen.

5.2.3 Verletzungen der Hyponymieregel?

Unter dem Blickwinkel der eben formulierten zweiten Bedingung für die
Grammatikalität einer Äusserung in Nominalsatzform muss ein Beispiel
der folgenden Art schwerwiegende Bedenken an der Allgemeingültigkeit
der Hyponymieregel wecken.

B 244 ԫᇯ丸ਕ亃㠮付ဃҏ Xī 21 fù Zuǒ; 19.1


Rèn, Sù, Xū=qú, Zhuān=yú Fēng xìng yě
Übersetzung s. unten S. 233.

Die Äusserung hat die Struktur eines mit yě ҏ markierten Nominal-


satzes. Das Subjekt besteht aus den vier asyndetisch koordinierten No-
mina Rèn ԫ, Sù ᇯ, Xū=qú 丸ਕ und Zhuān=yú 亃㠮, ausnahmslos
Namen kleinerer Lehensfürstentümer der Chūnqiū-Zeit. Der appositive
Ausdruck Fēng xìng 付ဃ besteht aus dem Kernnomen Fēng 付 und der
appositiven Explikation xìng ဃ (Typ: Lǔ guó 冟഻ ‘das Lehensfürsten-
tum Lǔ’). Wenn man von der in der Zusammenfassung eben genannten
Bedingung ausgeht, dass nämlich der Subjektsausdruck ein Hyponym
zum Prädikatsausdruck sein muss, dann müssten die Namen Rèn ԫ, Sù
ᇯ, Xū=qú 丸ਕ und Zhuān=yú 亃㠮 die Namen von Klans sein – und
das ist nicht der Fall. Wie gesagt: Es handelt sich um Namen von
Lehensfürstentümern, d.h. das Supernym, der semantisch übergeordnete
Begriff des Subjektsausdrucks Rèn Sù Xū=qú Zhuān=yú ԫᇯ丸ਕ
亃㠮, müsste eigentlich guó ഻ oder ein anderes merkmalkompatibles
Lexem sein.
Die PrädikatsNP xìng ဃ kann aus den gleichen Gründen der Hypo-
nymie nicht – wie etwa in den Belegen B 147 bis B 149 – als Verschrif-
tung eines durchaus möglichen Verbalnomens betrachtet werden (es gibt
Nominalsätze 233

Beispiele für bù=xìng нဃ und bù=X=xìng нX-ဃ ‘nicht X-klan-


namig-Sein’), denn sonst müsste die SubjektsNP kategorial ebenfalls eine
Seinsart oder eine Handlung bezeichnen oder bezeichnen können – und
das ist bei Namen auszuschliessen (natürlich nicht bei aus Namen
derivierten Verben). Die oben festgestellte Diskrepanz lässt sich also
nicht mit dem “realisierten” Wortmaterial erklären, somit ist zwingend
an eine Tilgung zu denken.
Aber was für ein Element könnte getilgt sein, und wie lautet eine gut
motivierte und begründete syntaktische Erklärung für eine solche Til-
gung? Mit anderen Worten: Lässt sich eine Regel für diese Tilgung
angeben? Im Beispiel B 244 wäre also guó ഻ als getilgtes Prädikats-
nomen anzusetzen. Und was geschieht mit Fēng xìng 付ဃ? Die
Einbindung dieses Ausdrucks geschieht am einfachsten, wenn man eine
implizit genitivische Modifikationsstruktur der Form Fēng xìng zhī guó
付ဃѻ഻ ansetzt. Also:

B 244a ԫᇯ丸ਕ亃㠮付ဃ[ ѻ഻]ҏ


Rèn, Sù, Xū=qú, Zhuān=yú Fēng xìng [zhī guó] yě
Die Lehensfürstentümer Rèn, Sù, Xū=qú, und Zhuān=yú waren
[Lehensfürstentümer des] Klannamens Fēng.

Der Modifikationsteil Fēng xìng 付ဃ bezeichnet gewissermassen eine


materielle oder naturgegebene Eigenschaft des Kernnomens guó ഻ –
ein Lehensfürstentum bzw. -herrscher ist eben aus dem Material ‘Klan’.
Das mag ja intuitiv befriedigen, aber kann daraus eine syntaktische
Regularität formuliert werden? Das scheint allerdings möglich zu sein.
Da in diesem Typ Nominalsatz zwischen Subjekts- und Prädikat-
sausdruck eine Hyponymierelation zwingend ist, kann vom sequentiell
zuerst genannten Subjektsausdruck aus direkt auf den (nächsthöheren)
Gattungsbegriff geschlossen werden. Von Rèn Sù Xū=qú Zhuān=yú
ԫᇯ丸ਕ亃㠮 kann auf guó ഻ geschlossen werden (wie wir das eben
getan haben). In syntaktischen Begriffen ausgedrückt: der Gattungs-
begriff ist direkt aus dem Zusammenhang rekonstruierbar. Aber das
heisst nicht zwingend, dass in B 237 ausgerechnet rén Ӫ realisiert
werden muss. Vergleichen wir:
234 Kapitel 5

B 237 㡌Ӫҏ Mèng 4B.28


Shùn rén yě
Shùn war ein Rén.

B 245 㡌བྷཛҏ nach Xuān 2.4 Zuǒ; 28.82


Shùn dài-fū yě
Shùn war ein Dàifū.

Linguistisch gesprochen steht rén Ӫ in Opposition zu anderen mögli-


chen übergeordneten Begriffen – hier also zu dài-fū བྷཛ. Aber die
Opposition ist nicht beliebig, sondern sie ist einer bestimmten, für das
entsprechende Paradigma charakteristischen Bedingung unterworfen,
eben der Hyponymierelation. Zwischen Subjekts- und Prädikatsausdruck
existieren also verschiedene Hyponymierelationen, d.h. Shùn 㡌 gehört
nicht nur zur Gattung der rén Ӫ, sondern (möglicherweise gleichzeitig)
zur Gattung der dài-fū བྷཛ. Bei genauerer Betrachtung stellt sich
heraus, dass sowohl Shùn 㡌 als auch dài-fū བྷཛ zur Gattung der rén Ӫ
gehören, aber auf hierarchisch verschiedenen Ebenen. Es ist nämlich
eine transitive Beziehung anzusetzen: Ein dài-fū བྷཛ ist ein rén Ӫ; da
Shùn 㡌 ein dài-fū བྷཛ ist, ist er zwingend auch ein rén Ӫ. Auf die
inhärenten Merkmale des Lexems Shùn 㡌 bezogen könnte man von
einer Hierarchie der Merkmale sprechen: [+rén Ӫ] < [+dài-fū བྷཛ] <
[+…].
Wenden wir diese Überlegungen auf Beispiel B 244 an: Aus der
Aufzählung Rèn Sù Xū=qú Zhuān=yú ԫᇯ丸ਕ亃㠮 haben wir intuitiv
auf den Gattungsbegriff guó ഻ geschlossen. Wäre ein anderer Schluss
möglich gewesen? Ja, und zwar auf den Gattungsbegriff von guó ഻, d.h.
auf wù ⢙ ‘Ding’. Um also unsere Intuition zu beschreiben, wäre die
Feststellung bezüglich der Hyponymierelation zwischen Subjekts- und
Prädikatsausdruck wie folgt zu modifizieren:

Vom Subjektsausdruck aus wird direkt auf den unmittelbar nächsten


Gattungsbegriff geschlossen, d.h. auf den Gattungsbegriff, der so
allgemein wie nötig, dabei aber so spezifisch wie möglich ist.

Das folgende Beispiel ist unter diesem Aspekt besonders interessant,


denn es bietet dem Leser in der Form eines appositiven Zusatzes explizit
Nominalsätze 235

das geeignete Supernym an und bestätigt so die Richtigkeit der hier


angestellten Überlegungen:

B 246 ѝ഻ᠾཧӄᯩѻ≁Ⲷᴹᙗҏ Lǐ Jì 5.40; 8.1


zhōng guó, Róng, Yí – wǔ fāng zhī mín – jiē yǒu xìng yě
Übersetzung s. unten S. 236.

Die affirmative Äusserung hat die Struktur eines Nominalsatzes, was am


prädikatsabschliessenden yě ҏ abzulesen ist. Die Subjektsnominal-
phrase ist komplex und besteht aus drei Teilen: Teil A umfasst die Kette
zhōng guó, Róng, Yí ѝ഻ᠾཧ, ist also aus drei asyndetisch koordi-
nierten Nominalausdrücken zusammengesetzt; Teil B umfasst die Kette
wǔ fāng zhī mín ӄᯩѻ≁, besteht also aus einem explizit mit zhī ѻ
markierten Genitiv; Teil C beschränkt sich auf das quantifizierende
Pronomen jiē Ⲷ. Diese Teile sind wie folgt aufeinander bezogen: Teil A
ist der Ansatz zu einer Einzelaufzählung der Subjektsglieder; Teil B ist
die im zweiten Anlauf verallgemeinerte Fassung (‘ja überhaupt’), welche
appositiv dazu konstruiert ist; Teil C ist schliesslich die wiederum
appositiv konstruierte quantifizierende Wiederaufnahme des gesamten
Subjektsausdrucks mit jiē Ⲷ (vgl. dt. ‘sie alle’). Also: ‘A, d.h. B, sie
alle…’.
Der Prädikatsausdruck des Nominalsatzes ist yǒu xìng ᴹᙗ. Die
Markierung mit yě ҏ signalisiert, dass der Ausdruck yǒu xìng ᴹᙗ als
Satzglied mit nominaler Kategorisierung zu analysieren ist. Wenn wir
nach dem bisherigen Muster nach einem Supernym suchen, so legt das
erste Glied in der Aufzählung zhōng guó, Róng, Yí ѝ഻ᠾཧ, also
zhōng guó ѝ഻, eigentlich das Supernym guó ഻ nahe, die Namen Róng
ᠾ und Yí ཧ dagegen eher das Supernym mín ≁. Um hier Klarheit zu
verschaffen, offeriert der Verfasser des Textes im appositiven Ausdruck
wǔ fāng zhī mín ӄᯩѻ≁ einen unübersehbaren Anhaltspunkt, nämlich
mín ≁. Der dadurch eindeutig rekonstruierbare Prädikatsausdruck lautet
also: yǒu xìng zhī mín ᴹᙗѻ≁. Im Gegensatz zu Beispiel B 244 liegt
hier aber nicht die bereits bekannte genitivische, sondern eine Variante
der anderen möglichen Form einer Modifikationskonstruktion vor, die in
der expliziten Realisierung ebenfalls mit der Postposition zhī ѻ gebildet
wird. Der modifizierende Teil ist somit klar als Relativsatz mit dem Verb
yǒu ᴹ als Kern und dem zugehörigen direkten Objekt xìng ᙗ zu iden-
236 Kapitel 5

tifizieren. Das zugehörige Kernnomen, mín ≁, und die postpositionale


Markierung der Modifikationskonstruktion, zhī ѻ, sind getilgt.

B 246a ѝ഻ᠾཧӄᯩѻ≁Ⲷᴹᙗҏ Lǐ Jì 5.40; 8.1


zhōng guó, Róng, Yí – wǔ fāng zhī mín – jiē yǒu xìng [zhī mín] yě
Die Mín der Lehensfürstentümer der Mitte, der Róng- und der
Yí-Länder – kurz: die Mín der Fünf Gebiete, sie alle sind solche,
die eine eigene angeborene Natur / natürliche Anfangskonfigu-
ration haben.

5.2.4 Kontrollierte Tilgung eines Kernnomens

Dass die Tilgung eines Kernnomens unter kontrollierten Bedingungen


möglich ist, lässt sich mit vielen Beispielen belegen. Beginnen wir mit
einer Äusserung, die kontextuell auf Beispiel B 246 bezogen ist:

B 247 ӄᯩѻ≁Ⲷᴹᙗҏ […] ᶡᯩᴠཧ Lǐ Jì 5.40; 8.1/3


wǔ fāng zhī mín – jiē yǒu xìng [zhī mín] yě […] dōng-fāng [zhī mín] yuē: ‘Yí’
Die Mín der Fünf Gebiete, sie alle sind solche, die eine eigene
angeborene Natur / natürliche Anfangskonfiguration haben. […]
Die Mín des Ost-Gebiets heissen ‘Yí’.

Das Subjekt von yuē ᴠ ist hier auf den Modifikationsteil dōng-fāng
ᶡᯩ des Genitivausdrucks dōng-fāng zhī mín ᶡᯩѻ≁ reduziert, wie
aus dem Ausdruck wǔ fāng zhī mín ӄᯩѻ≁ im vorangehenden
Kontext zu schliessen ist. Dass Tilgungen dieser Art nicht nur auf geniti-
vische Konstruktionen beschränkt sind, sondern auch nachweislich bei
Relativsätzen vorkommen, lässt sich am nächsten Beispiel zeigen, wel-
ches gleichzeitig belegt, dass blosse Modifikationsteile ohne Kernnomen
in der Prädikatsnominalphrase eines Nominalsatzes realisiert werden:

B 248 䶎䓛ѻᡰ㜭⛪ҏ Mèng 1B.15; 14.18


[qǔ shì shǒu] fēi shēn zhī suǒ néng wéi [zhī 0] yě
[Ein Erblehen aufgeben] ist nicht etwas, das eine Einzelperson
zu tun vermag.
Nominalsätze 237

Die Äusserung besteht aus einem mit fēi 䶎 negierten Nominalsatz (vgl.
dazu die Ausführungen bei den Belegen B 361 bis B 363), wobei das
Subjekt aus dem Kontext heraus ein Ausdruck sein muss, welcher auf
die Aufgabe des Erblehens, qǔ Bīn ৫䛐, Bezug nimmt, also qǔ shì shǒu
৫цᆸ. Die Prädikatsnominalphrase hat die Struktur eines Relativ-
satzes: Subjekt ist shēn 䓛; es folgen die postpositionale Abgrenzung zhī
ѻ für das Nebensatzsubjekt, das Relativpronomen suǒ ᡰ (es steht für
das Objekt von wéi ⛪ im Relativsatz, referiert also auf eine Handlung,
somit auf denselben Ausdruck, der im Subjekt des Nominalsatzes
anzusetzen ist), das Modalverb néng 㜭 sowie der V2-Kern wéi ⛪. Das
Prädikat ist mit der Markierung yě ҏ versehen. Dass Tilgungen in
analogen Fällen und mit entsprechender kontextueller Stützung sehr
weitgehend sein können, belegt folgendes Beispiel:

B 249 䶎Ӫѻᡰ㜭⛪ҏཙҏ Mèng 5A.5; 20.22


[shì] fēi rén zhī suǒ néng wéi [zhī 0] yě, [shì] tiān [zhī suǒ néng wéi zhī 0] yě
Das ist nicht etwas, das ein Rén / Mensch zu bewerkstelligen
vermag, das ist etwas, das der Himmel zu bewerkstelligen ver-
mag.

Die Äusserung besteht aus zwei koordinierten Satzgefügen, und zwar


aus zwei mit yě ҏ markierten Prädikatsnominalphrasen von Nominal-
satzkonstruktionen. Die erste Teiläusserung beginnt mit der für Nominal-
sätze typischen Negation fēi 䶎. Die Prädikatsnominalphrase besteht aus
einer Relativsatzkonstruktion, welche wiederum ohne Kernnomen
gebildet ist. In der zugrundeliegenden Struktur lautet der Relativsatz wie
folgt: rén néng wéi X Ӫ㜭⛪ X. X referiert auf einen unmittelbar vorher
erwähnten Sachverhalt, nämlich auf den Umstand, dass Shùn Yáo
assistierte, und das zwanzig und acht Jahre lang (Shùn xiàng Yáo èr=shí-
yòu-bā zǎi, 㡌⴨๟Ҽॱᴹ‫ޛ‬䔹). In der zweiten Teiläusserung ist tiān
ཙ das einzige verbleibende Element der Prädikatsnominalphrase; vom
Kontext her ist tiān ཙ wie rén Ӫ zu behandeln, also funktional als Sub-
jekt in einem auf dieses Element reduzierten Relativsatz zu verstehen,
und zwar der Form tiān zhī suǒ néng wéi ཙѻᡰ㜭⛪ ‘etwas, das der
Himmel tun konnte’.
Bei den zwei eben behandelten Beispielen mit Relativsätzen in der
Prädikatsnominalphrase ist festzuhalten, dass das getilgte Kernnomen
(im deutschen mit ‘etwas’, in der Transkription mit 0 wiedergegeben) die
238 Kapitel 5

Bedingung erfüllt, ein Supernym zum Subjektsausdruck zu sein. Wenn


man dafür eine konkrete lexikalische Entsprechung, ein antikchinesi-
sches Nomen einsetzen will, so bietet sich wohl am ehesten das Verbal-
nomen wéi ⛪ ‘das Tun’ an. Vergleiche die Verwendung des Verbalno-
mens wéi ⛪ in den folgenden Beispielen:

B 250 Ӻ㠣བྷ⛪н㗙഻᭫ࡷᕇ⸕㘼䶎 Mò Zǐ 17A; 29.31


jīn, zhì dà wéi bù=yì, gōng guó, zé [tiān-xià zhī jūn-zǐ] fú (zhī) ér fēi
Wenn wir jetzt zum grossmassstäblichen Begehen von Unkor-
rektheiten, (nämlich) zu Angriffen auf andere Lehensfürsten-
tümer übergehen, so weigern sie sich, das einzusehen und sie zu
verurteilen.

Die Kette dà wéi bù=yì བྷ⛪н㗙 besteht aus dem verbalattributiv mit
dà བྷ modifizierten Verbalnomen wéi ⛪ und dem zugehörigen Kom-
plement (= OBJ) bù=yì н㗙 (vgl. die Konstruktion wéi fēi ⛪䶎 im
unmittelbaren Kontext).

B 251 ↔ѻ⛪ѫ൏ Shǐ Jì 60.20; 17.9


[yú] cǐ zhī wéi, [zhū-hóu, wáng] zhǔ tǔ
In diesem Tun machen [die Lehensfürsten und Titularkönige] die
Erde zur Herrin.

Die satzinitial realisierte Kette cǐ zhī wéi ↔ѻ⛪ ist ein sententieller
Lokativ, bestehend aus dem Kern(verbal)N wéi ⛪, dem postpositionalen
Anzeiger der adnominalen Modifikation zhī ѻ sowie dem demonstra-
tiven Determinator cǐ ↔. Als zugrundeliegende Strukturen der jewei-
ligen Relativsätze lassen sich also die folgenden Ketten rekonstruieren:

B 248a 䓛ѻᡰ㜭⛪ѻ⛪
shēn zhī suǒ néng wéi zhī wéi
‘ein Tun, das eine Einzelperson zu tun vermag’

B 249a Ӫѻᡰ㜭⛪ѻ⛪
rén zhī suǒ néng wéi zhī wéi
‘ein Tun, das ein Mensch / Rén zu bewerkstelligen vermag’
Nominalsätze 239

B 249b ཙѻᡰ㜭⛪ѻ⛪
tiān zhī suǒ néng wéi zhī wéi
‘ein Tun, das der Himmel zu bewerkstelligen vermag’

Relativsätze dieser Art (Auftreten in der Prädikatsnominalphrase des


Nominalsatzes, Tilgung des zur Subjektsnominalphrase supernymen
Kernnomens) sollen fortan mit der Begriff des GENERISCHEN RELA-
TIVSATZES gekennzeichnet sein. Analog soll von einem generischen
Genitiv oder allgemeiner von einer generischen Modifikationskonstruk-
tion die Rede sein.

5.2.5 Tilgung des Supernyms

Jetzt können wir die allgemeine Tilgungsregel in generischen Modifika-


tionskonstruktionen formulieren, die zur Äusserungsform in Beispiel B
244 führt. Die Tilgung des Kernausdrucks in der Prädikatsnominal-
phrase ist nur dann erlaubt, wenn die folgenden zwei Bedingungen
gleichzeitig erfüllt sind:

a. Der Sprecher intendiert den aus der Systematik des Lexikons sich
anbietenden unmittelbar nächsten Gattungsbegriff oder bietet andere
(lexikalische, syntaktische, kontextuelle) Signale für die Rekon-
struktion an. Damit wird e definitione eine HYPONYMIERELATION
etabliert.
b. Die prädikative Funktion des getilgten Nominalausdrucks muss ge-
wahrt bleiben, was nur dann konstant und vorhersagbar der Fall ist,
wenn der Ausdruck syntaktisch gesehen Kernnomen einer adnomi-
nalen Modifikationskonstruktion ist. Als Konstruktionstypen kom-
men vor: generische Genitive und Relativsätze (inklusive verbal-
attributive Formen).

Beide Bedingungen lassen sich unter einer sehr generellen Regel sub-
sumieren, die im AC sehr häufig angewendet wird:

Tilgbar sind bzw. getilgt werden Träger alter (rhematischer) Infor-


mation (z.B. kontextuell bekanntes Subjekt), sofern sie nicht zur
240 Kapitel 5

syntaktischen Disambiguierung, d.h. zur Sicherung der syntakti-


schen Struktur, notwendig sind.

Darum werden die Modifikationsteile (oder unerlässliche Elemente des


Modifikationsteils, vgl. Beispiel B 249) in den zur Diskussion stehenden
Fällen nie getilgt, denn sie sind einerseits Träger neuer Information (so-
zusagen der differentia specifica), andererseits werden sie zur Sicherung
der syntaktischen Interpretation der Nominalsatzstruktur benötigt.
Die Tilgungsbedingungen sind im Falle von Beispiel B 244 ge-
wahrt: guó ഻ ist das unmittelbar nächste Supernym, und die Anwesen-
heit des Modifikationsteils Fēng xìng 付ဃ im Prädikat verhindert die
Interpretation von Rèn Sù Xū=qú Zhuān=yú ԫᇯ丸ਕ亃㠮 als Prädi-
katsnomen. Analoges gilt nun für die in die Diskussion eingeführten
Beispiele B 240 und B 241, bei denen die Frage gestellt wurde, wie die
darin realisierte (komplexe) Kette kě ਟ bzw. kě dé ér shí ਟᗇ㘼伏
syntaktisch als nominal kategorisiert, also als Nominalphrase verstanden
werden können. Die Antwort ist jetzt einfach und syntaktisch einwand-
frei abgestützt zu geben: Die Kette kě dé ér shí ਟᗇ㘼伏 in B 241 ist als
Modifikationsteil einer Modifikationskonstruktion im Rahmen der Prädi-
katsnominalphrase aufzufassen. Aufgrund der darin enthaltenen verbalen
Elemente ist sie als Relativsatz zu analysieren. Das zu erschliessende
Supernym ist durch den Subjektsausdruck im Nominalsatz, nämlich
zhōng guó ѝ഻, gegeben: guó ഻. Die zugrundeliegende passive
Struktur wäre wie folgt anzusetzen: X kě dé zhōng guó ér shí zhōng guó
ਟᗇѝ഻㘼伏ѝ഻. Also: ‘Die Lehensfürstentümer der Mitte (= Sub-
jektsnominalphrase) waren (Fürstentümer = Kernnomen / Supernym),
über die verfügt werden und von denen gelebt werden konnte.’ Mit
anderen Worten: Die Wildheit der Natur verhinderte zunächst die
Nutzung der Lehen durch die Belehnten; nach der zivilisatorischen
Leistung des grossen Yǔ war diese dann möglich.

B 241 ❦ᖼѝ഻ਟᗇ㘼伏ҏ Mèng 3A.4; 11.16


rán hòu zhōng guó kě dé ér shí [zhī guó] yě
Sobald dem so war, waren die Lehensfürstentümer der Mitte
darauf solche Fürstentümer, über die (von den Rén) verfügt
werden und von denen gelebt werden konnte.
Nominalsätze 241

In Beispiel B 240 ist die Referenz des Kernnomens identisch mit dem
des Subjektsausdrucks. Unter dieser Bedingung wird das Kernnomen
einer Modifikationskonstruktion pronominalisiert, d.h. an seiner Stelle
wird das dazu verwendete Pronomen zhě 㘵 realisiert. In einem gene-
rischen Relativsatz wird dieses schliesslich getilgt. Die Rekonstruktion
lautet also:

B 240 ↫ੋભਟҏ Wén 18.6 Zuǒ


sǐ-jūn-mìng kě [zhě] yě
Sterben für den Auftrag des Fürsten ist etwas Erlaubtes.

Im folgenden typischen Beispiel wäre die erste Bedingung der oben for-
mulierten Tilgungsregel verletzt, denn als Prädikatsnomen haben wir
einen metaphorischen Ausdruck, der weder direkt aus den inhärenten
Merkmalen noch indirekt aus dem unmittelbaren Kontext erschliessbar
ist. Mit anderen Worten: Die Metaphorisierung bildet einen neuen gene-
rischen Ausdruck, der zwar die Bedingungen der Hyponymievorschrift
wieder erfüllt, aber nicht aus der Systematik des Lexikons direkt er-
schlossen werden kann:

B 252 ⿞഻ѻᒩҏᮜ⿞ѻ䕯ҏ Xī 11 fù 1 Zuǒ; 16.6


lǐ guó zhī gàn yě, jìng lǐ zhī yú yě
Ritenkonformes Verhalten ist das Gerüst des Lehensfürstentums;
respektvolles Verhalten ist das Vehikel des ritenkonformen Ver-
haltens.

Die beiden Teiläusserungen sind parallel aufgebaut: Das Subjekt ist ein
Nomen, lǐ ⿞ bzw. jìng ᮜ; die Prädikatsnominalphrase besteht aus
einem explizit mit zhī ѻ markierten Genitiv, guó zhī gàn ഻ѻᒩ bzw. lǐ
zhī yú ⿞ѻ䕯; beide Prädikate sind mit dem in Nominalsätzen üblichen
yě ҏ abgeschlossen. Im letzten Beispiel in diesem Abschnitt wäre die
zweite Bedingung der oben formulierten Tilgungsregel verletzt, denn die
stützende Subjektsnominalphrase fehlt. Die mit yě ҏ markierte Prädi-
katsnominalphrase ist die explizit mit zhī ѻ markierte Genitivkonstruk-
tion Yì=sāng zhī è rén 㘣ẁѻ佃Ӫ.
242 Kapitel 5

B 253 㘣ẁѻ佃Ӫҏ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.66


[wú] Yì=sāng zhī è rén yě
Ich bin der hungernde Mensch von Yìsāng.

Man kann sich abschliessend noch die Frage stellen, ob die zu Beginn
des Abschnitts 5.2.1 aufgeführten Belege nicht aus systematischen Grün-
den nach dem generischen Muster zu analysieren wären. Zum Beispiel:

B 147 ᱟӖ䎠ҏ Mèng 1A.3


shì yì zǒu yě
Dies ist auch Fortlaufen.

Wenn man den Prädikatsausdruck im Sinne eines generischen Genitivs


analysieren will, dann ist nichts gewonnen, denn der modifizierende Teil
muss weiterhin nominal sein (z.B. ‘der Akt des Fortlaufens’). Wenn man
ihn im Sinne eines generischen Relativsatzes analysieren will, so kann
als Supernym nur ein Nomen in Frage kommen, welches zum Subjekt
des Verbs passt. Da es sich an dieser Stelle bei Mèngzǐ um Soldaten
handelt, wäre also eine personales Supernym anzusetzen: ‘solche, die
fortlaufen’. Dies ist zwar syntaktisch wohlgeformt, aber es entspricht
nicht der Pragmatik des Textes, wo das Fortlaufen in zwei Varianten
bzw. Distanzen verglichen wird. Der Ansatz eines Verbalnomens bleibt
also in diesem Fall stabil. Das nächste Beispiel war:

B 148 ᱟỴؑҏ Chéng 6.4 Zuǒ


shì qì-xìn yě
Das ist das Aufgeben der Verlässlichkeit.

Hier gelten die gleichen Überlegungen: beim generischen Genitiv ist


nichts gewonnen; beim generischen Relativsatz müsste ein personales
Supernym angesetzt werden, was der Pragmatik des Textes Gewalt antut.
Das nächste Beispiel war:

B 149 ᱟн㠓ҏ Xī 5.5 Gǔ


shì bù=chén yě
Das ist nichtlehnsmannkonformes Verhalten.
Nominalsätze 243

Bei diesem Beispiel lässt sich in der Tat ein generischer Relativsatz
bilden, der pragmatisch zum Kontext passt: ‘das ist ein Verhalten, das
nicht lehnsmannkonform ist’ (die personale Variante ‘einer, der …’ wäre
nicht kompatibel mit dem Kontext). Da beide Möglichkeiten sich
offenbar in gewissen Fällen anbieten, stellt sich die Frage, wann man
also von einer lexikalisierten Form (Verbalnomen) ausgehen soll, wann
von einer generischen Konstruktion? Zur Beantwortung dieser Frage
muss man den Blick von der Prädikatsnominalphrase lösen und die
Situation an anderen Strukturstellen betrachten. So wird der Ansatz eines
Verbalnomens sowie die suffixale Negation eines Verbalnomens durch
den folgenden Beleg klar bestätigt:

B 150 ↔օ䄲⸕㗙㠷н㗙ѻࡕѾ Mò Zǐ 17A; 29.25


cǐ hé wèi zhī yì yǔ bù=yì zhī bié hū
Warum wird dies das Wissen um den Unterschied zwischen
standgemäss-korrektem Verhalten und unkorrektem Verhalten
genannt?!

Die Kette yì yǔ bù=yì zhī bié 㗙㠷н㗙ѻࡕ ‘der Unterschied zwischen


standgemäss-korrektem Verhalten und -unkorrektem Verhalten’ ist klar
eine nominale Konstituente: Zum einen ist die Kette yì yǔ bù=yì 㗙㠷
н㗙 genitivisch an das Kernnomen bié ࡕ angeschlossen, zum andern
verbindet die Konjunktion yǔ 㠷 nur nominale Konstituenten, womit yì
㗙 und bù=yì н㗙 als Elemente der gleichen, eben nominalen, Wort-
klasse analysiert werden müssen. Es hat hier also ein Wortbildungs-
prozess stattgefunden, das ein suffigiertes binomisches Wort erzeugt hat.
Abschliessend lässt sich also eine einfache Lexikalisierungsregel
formulieren:

Wenn aus einem Verb ein Verbalnomen in der simplexen Form ab-
geleitet wird und an einer nominalen Strukturstelle (mit Ausnahme
der Prädikatsnominalphrase) belegt werden kann, dann ist immer
auch eine suffixal erweiterte Form anzunehmen.
244 Kapitel 5

5.2.6 Supernyme in generischen Relativsätzen (I)

Das AC-Lexikon weist, wie oben ausgeführt, wenige lexikalisierte Supe-


rnyme auf (vgl. 3.5.1). Da sie also nicht besonders häufige Erscheinun-
gen sind, ist in unserem Zusammenhang die Liste möglicher (tilgbarer)
Supernyme eher klein. Zu den häufiger anzusetzenden Supernymen
gehört aufgrund von Textsorten und -inhalten wohl rén Ӫ:

B 254 нਟཡҏ
bù kě shī yě

Diese Äusserung steht im Zusammenhang einer direkten Rede. Nach


dem Entscheid des Tài wáng ཚ⦻, Bīn 䛐 aufzugeben, unterhalten sich
die Persönlichkeiten von Bin, über die besonderen Eigenschaften ihres
Herrschers und äussern unmittelbar zuvor das folgende Urteil:

B 255 ӱӪҏ Mèng 1B.15; 14.14


[Tài wáng] rén rén yě
Der Tài-König ist ein (r)echter Rén.

Das aus B 255 zu rekonstruierende Subjekt für Beispiel B 254, nämlich


rén rén ӱӪ (eventuell wäre auch Tài wáng ཚ⦻ anzusetzen), ist also
getilgt. Die satzfinale Markierung yě ҏ bringt jedoch wieder zum
Ausdruck, dass eine Prädikatsnominalphrase in der Form eines passiven
Relativsatzes anzusetzen ist, und zwar mit dem getilgten Supernym rén
Ӫ, also: bù kě shī zhī rén нਟཡѻӪ ‘ein Rén, der nicht verloren-
gehen / verloren werden darf’. Die rekonstruierte Äusserung B 254 lautet
also:

B 254a ཚ⦻нਟཡѻӪҏ Mèng 1B.15; 14.15


[Tài wáng] bù kě shī [zhī rén] yě
Der Tài-König ist ein Rén, der nicht verlorengehen / verloren
werden darf.

Oder:
Nominalsätze 245

B 254b ӱӪнਟཡѻӪҏ Mèng 1B.15; 14.15


[rén rén] bù kě shī [zhī rén] yě
Ein (r)echter Rén ist ein Rén, der nicht verlorengehen / verloren
werden darf.

Beispiele für generische Relativsätze mit dem Supernym rén Ӫ sind


häufig. Einige weitere Beispiele seien hier ohne vertiefte Analyse ange-
fügt:

B 256 ཙлᴹ䚃шн㠷᱃ҏ Lùn Yǔ 18.6; 23.21


tiān-xià yǒu dào, Qiū bù yù yì [zhī zhī rén] yě
Hätte das Reich eine korrekte Führung, so wäre ich, Qiū, einer,
der nicht an der Änderung [des Reiches] teilnehmen würde.
(Oder mit seriellen Verben: ‘[…] einer, der nicht daran
teilnehmen würde, [das Reich] zu verändern’.)

Das zum Nominalkomplement bzw. Verb yì ᱃ gehörige pronominale


direkte Objekt zhī ѻ mit der Referenz tiān-xià ཙл ist mitzuverstehen
(die Tilgung des Pronomens ist wohl auf das Auftreten der Negation bù
н zurückzuführen).

B 257 㜭㼌䙾ҏ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.24


[zhòng-Shān-fǔ] néng bǔ guò [zhī rén] yě
Vater medius-Shan war einer, der Fehler ausbessern konnte.

B 258 Ԣቬ㚎ᱟ䃎ҏ Xiāng 31 fù 7 Zuǒ; 26.19


zhòng-Ní wén shì yǔ [zhī rén] yě
medius-Ní (= Konfuzius) war einer, der von diesem Gespräch
erfuhr.

Eine häufig verwendete Formel, der ein Lehrsatz oder eine Maxime folgt
und mit der ein Sprecher signalisiert, dass er sich auf eine Autorität oder
auf autoritatives Wissen beruft, wird im Lichte dieses Ansatzes einfach
und konsequent deutbar. Z.B.:
246 Kapitel 5

B 259 ੮㚎ѻҏ Mèng 1B.15; 14.10


wú wén zhī yě

Das Subjekt besteht aus dem Personalpronomen wú ੮ (Bescheiden-


heitsform; wǒ ᡁ als kontrastive Form ist auch anzutreffen, vgl. die
Diskussion der Interaktionsformen bei Tabelle 13, S. 333). Die als
Modifikationsteil im Prädikat zu analysierende Kette wén zhī 㚎ѻ
besteht aus dem V2-Kern wén 㚎 und dem pronominalen Objekt zhī ѻ,
welches hier insofern ungewöhnlich ist, als es vorwärts referiert (sog.
KATAPHORISCHER Gebrauch). Diese Kette bildet zusammen mit dem zu
rekonstruierenden Supernym rén Ӫ (oder dem Pronomen des Kern-
nomens zhě 㘵) den Relativsatz wén zhī zhī rén 㚎ѻѻӪ ‘ein Rén, der
folgendes erfahren / gelernt hat’ bzw. wén zhī zhě 㚎ѻ㘵 ‘einer, der
folgendes erfahren / gelernt hat’. Äusserungen vom Typ des Beispiels B
259 haben also die folgende rekonstruierte Form (das Subjekt kann
pronominal oder allenfalls ein quasipronominal verwendeter Name sein):

B 260 X (Subjekt) 㚎ѻҏ


X (Subjekt) wén zhī [zhī rén] yě
(Subjekt) bin / ist ein Rén / eine Persönlichkeit Ӫ, der / die fol-
gendes erfahren / gelernt hat: […].

Oder:

B 261 X (Subjekt) 㚎ѻҏ


X (Subjekt) wén zhī [zhě] yě
(Subjekt) bin einer (㘵), der folgendes erfahren / gelernt hat: […].

5.2.7 Exkurs: Cui bono?

Man kann sich an dieser Stelle einmal fragen, was denn die hier ange-
setzte Analyse an neuen Einsichten bringt gegenüber der alten Sicht-
weise und wo allenfalls dadurch ein Zuwachs an Erkenntnis festzustellen
ist.
Zunächst ist festzuhalten, dass hiermit eine einheitliche Funktions-
beschreibung der Postposition yě ҏ vorgelegt wird, die erlaubt, alle
(mir bekannten) einfachen und komplexen Belege in der behandelten
Nominalsätze 247

Sprachschicht in einheitlicher, stringenter und kontextuell stimmiger


Weise deskriptiv und explanatorisch aufzuarbeiten. Dies mag an den
folgenden Beispielen belegt sein:

B 262 㭁ҏӺ㘼ᖼ⸕੮ᆀѻؑਟһҏ Xiāng 31 fù 7 Zuǒ; 26.15


Miè yě, jīn ér hòu zhī, wú zǐ zhī xìn kě shì yě
(ich), Miè, bin / ist es, der von heute an und in Zukunft weiss,
dass Ihm, meinem Meister, wahrhaftig gedient werden kann.

yě ҏ in der Kette Miè yě 㭁ҏ markiert einen Prädikatsausdruck, und


zwar die Prädikatsnominalphrase in einer Spaltsatzkonstruktion: ‘Der
Miè ist es, der …’. yě ҏ in der Kette wú zǐ zhī xìn kě shì yě ੮ᆀѻ
ؑਟһҏ markiert ebenfalls einen Prädikatsausdruck, und zwar das
Nebensatzprädikat in einem voll ausgebildeten Objektsatz (vgl. 4.2.1).

B 263 ❦ࡷ㡌ᴹཙлҏᆠ㠷ѻ Mèng 5A.5; 20.3


rán, zé – Shùn yǒu tiān-xià [zhī rén] yě – shú yǔ zhī
Wenn dem so ist, – da Shùn derjenige war, der das Reich hatte –
wer (sonst) hat sie ihm gegeben?

Der Einschub Shùn yǒu tiān-xià yě 㡌ᴹཙлҏ ist eine Nominalsatz-


form und besteht aus der Subjektsnominalphrase Shùn 㡌 und der mit yě
ҏ markierten Prädikatsnominalphrase yǒu tiān-xià ᴹཙл, welche die
Form eines Relativsatzes ohne Kernnomen (yǒu tiān-xià zhī rén
ᴹཙлѻӪ) mit dem V3-Kern yǒu ᴹ und dem direkten Objekt tiān-xià
ཙл hat.

B 264 㠣⇪н䗌Ӫҏᢑަ㺓㼈ਆᠸࢽ㘵 Mò Zǐ 17A; 29.16


2
zhì shā bù gū rén yě, tuō qí yī, qiú, qǔ gē, jiàn zhě
Übersetzung s. unten S. 242.

Kern der Äusserung ist das V2 zhì 㠣; nicht genanntes Subjekt ist X (=
‘wir’); Objekt ist der Relativsatz shā bù gū rén 2 yě, tuō qí yī, qiú, qǔ gē,
jiàn zhě ⇪н䗌Ӫҏᢑަ㺓㼈ਆᠸࢽ㘵, der aus einem koordinierten
Gefüge von drei Teiläusserungen besteht: (1) shā bù gū rén yě zhě
⇪н䗌Ӫҏ㘵, (2) tuō qí yī, qiú zhě ᢑަ㺓㼈㘵 und (3) qǔ gē, jiàn
zhě ਆᠸࢽ㘵. Die Teiläusserungen (2) und (3) sind problemlos zu
248 Kapitel 5

interpretierende Relativsätze, also: ‘einer, der […] ihm Kleider und Pelz
abnimmt, Hellebarde und Schwert wegnimmt’.
Die Anwesenheit der Postposition yě ҏ in (1) ist hingegen rätsel-
haft, denn eine Kette shā bù gū rén2 zhě ⇪н䗌Ӫ㘵 (ohne yě ҏ also)
wäre parallel zu (2) und (3) problemlos zu deuten. Nehmen wir die
Funktionsbestimmung ernst, dass yě ҏ einen nominalen Prädikatsaus-
druck markiert, dann muss die damit abgeschlossene Kette gezwunge-
nermassen entsprechend analysiert werden, und zwar unter Berücksich-
tigung der übergeordneten Konstruktion mit zhě 㘵. Der dreigliedrige
Aufbau der gesamten Äusserung legt nahe, die folgenden Parallelen zu
isolieren: (1) shā […] zhě ⇪㘵, (2) tuō […] zhě ᢑ㘵 und (3) qǔ […]
zhě ਆ㘵. Damit bleibt die Kette bù gū rén2 yě н䗌Ӫҏ ‘IST eine
unschuldige Person’ (Person = rén2 Ӫ), die intuitiv als das direkte
Objekt zu shā ⇪ verstanden wird – aber wie kann ein zwar nominaler,
aber durch die Anwesenheit von yě ҏ als “verbwertig” ausgewiesener
Prädikatsausdruck an einer nominalen Objektsstelle syntaktisch erklärt
werden?
Greifen wir auf Bekanntes zurück. Von der Konstruktion her ist die
Kette bù gū rén2 yě н䗌Ӫҏ also “verbwertig”, von der Position her
muss sie dagegen nominal klassifiziert werden können. Eine analoge
Situation bieten die bereits analysierten generischen Relativsätze: Der
realisierte Modifikationsteil (d.i. der Relativsatz) erscheint ebenfalls in-
tuitiv als “verbwertig” an nominaler Position (= Position der Prädikats-
nominalphrase), die Rekonstruktion des getilgten Kernnomens löst
diesen Widerspruch auf und liefert eine syntaktisch gut abgestützte
Erklärung für die Erscheinung. Man vergleiche dazu etwa die Rekon-
struktion B 254b der Äusserung B 254. Nach dieser Vorgabe ist also die
Kette bù gū rén2 yě н䗌Ӫҏ um das naheliegende Kernnomen rén Ӫ
zu ergänzen: bù gū rén2 yě zhī rén н䗌ӪҏѻӪ ‘eine Person, die eine
unschuldige Person ist’. Die Rekonstruktion liefert das folgende
Ergebnis:

B 264 㠣⇪н䗌Ӫҏᢑަ㺓㼈ਆᠸࢽ㘵 Mò Zǐ 17A; 29.16


[X] zhì shā bù gū rén2 yě [zhī rén2 zhě], tuō qí yī, qiú [zhě], qǔ gē, jiàn zhě
Gehen wir über zu dem, der einen tötet, der (für ihn) eine
unschuldige Person ist, der ihm Kleider und Pelz abnimmt,
Hellebarde und Schwert wegnimmt.
Nominalsätze 249

Warum aber so kompliziert? Im Gegensatz zur im Vergleich mit den


Teiläusserungen (2) und (3) zu erwartenden einfacheren Objektskette bù
gū rén2 н䗌Ӫ ‘eine unschuldige Person’ besteht die besondere Wir-
kung dieser Relativsatzkonstruktion in der Emphase, die der Aussage
verliehen wird: ‘eine Person, die [wirklich] eine unschuldige Person IST’.
Die pragmatische Wirkung dieser Ausdrucksweise besteht darin, den
Blick auf eine Präsupposition zu lenken, die sonst nicht nahegelegt
wäre. Die einfachere Formulierung stellt die Unschuld des Getöteten als
zwar objektiven Tatbestand dar, lässt aber offen, ob der Mörder von der
Unschuld der getöteten Person wusste, was die Geltendmachung mil-
dernder Umstände, wie z.B. das Vorliegen einer Verwechslung, erlaubte
– dass das Töten schuldiger Personen dadurch als vertretbar hingestellt
wird, sei nur nebenbei erwähnt. Der Verfasser stellt mit der gewählten
emphatischen Formulierung den Fall jedoch ganz präzise so dar, dass
dem Mörder die Unschuld der getöteten Person bekannt war, womit der
Tatbestand der vorsätzlichen Tötung in einer besonders verabscheuungs-
würdigen und absolut nicht entschuldbaren Form erfüllt ist. Die peinlich
genaue Beachtung der syntaktischen Struktur führt hier also zu einer
genaueren Erfassung der pragmatischen Seite des Textes wie auch zu
einer erhöhten Sensibilität für Einsatz und Wirkung bestimmter rhetori-
scher Strukturen, womit eine Brücke zur zweiten Frage geschlagen ist:
Wo ist inhaltlich ein Zuwachs an Erkenntnis zu verzeichnen?
Auf der inhaltlichen Seite zeichnet sich in der Tat ein interessanter
Erkenntnisbereich ab, der im oft nur diffus fassbaren (und auch für
missbräuchliche “vulgär-anthropologischen” Verallgemeinerungen nutz-
baren) Bereich von Sprache und Denken liegt: Der in gewissen Kontex-
ten und Texten anzutreffende häufige Gebrauch der durch die Realisa-
tion von yě ҏ angezeigten Nominalsatzstruktur verweist wohl auf eine
Neigung bestimmter antiker Verfasser oder Autoren zur Kategorisie-
rung, zum Denken in Gruppen oder Kategorien und zur klassifikatori-
schen sprachlichen Formulierung. Es ist ein deutlicher Unterschied, ob
jemand sagt: ‘ich habe folgendes erfahren’ oder aber ‘ich bin einer, der
folgendes erfahren hat’. Ersterer macht eine Feststellung, die für ihn
allein gilt, letzterer nimmt mit der inhaltlich (referenzsemantisch) im
wesentlichen gleichen, in der sprachlichen Form und vor allem textprag-
matisch differierenden Feststellung gleichzeitig für sich in Anspruch,
dass seine Einsicht von einer Gruppe geteilt wird, also überindividuellen
Charakter hat. Die Leichtigkeit, mit der dies sprachlich geschehen kann
250 Kapitel 5

(aber durchaus nicht muss) legt eine mögliche und wohl konstituierende
Präsupposition des kategorisierenden Denkens in China frei (was eine
deskriptive und nicht eine wertende Feststellung ist) – und hier ist m.E.
eine wichtige Beziehung aufzudecken, nämlich die gedankliche Nähe zu
Werken vom Typ des Gǔ Jīn Rén Biǎo ਔӺӪ㺘 (Hàn Shū ╒ᴨ Kap.
20), also zur Tabelle bedeutender Personen des Altertums und der
Gegenwart, aber auch zu den zahlreichen, in Mustern der Form ‘Drei X’,
‘Vier Y’, ‘Fünf Z’ usw. uns entgegentretenden Phänomenen, ja letztlich
zur ganzen Korrespondenzlehre im Umkreis der Fünf-Elementen-Lehre
(GRAHAM 1989:319 hat in diesem Zusammenhang sehr interessante
Beobachtungen anzubieten über Leistungsfähigkeit und denkerische
Ordnungsfunktion dieser Lehre.) Dass solche syntax-gestützten Erkennt-
nisse auch beim Nach-Denken überlieferter antiker chinesischer Denker
berücksichtigt werden mögen, sei hier gewünscht.
Die hier vorgelegte Analyse, die vorgeschlagene Rekonstruktions-
methode sowie die Feststellung, dass die Nominalsatzform der Tendenz
zur Kategorisierung in idealer Weise entgegenkommt, erlauben es, die
Erklärung eines bestimmten Nominalsatztyps zu präzisieren und in den
allgemeinen syntaktischen Rahmen nahtlos einzubinden. Es gibt einen
Typus von Nominalsätzen, dessen Prädikatsausdruck ein Material be-
zeichnet. Z.B.:

B 265 䓺ᵘҏ […] 㡩ᵘҏ Mò Zǐ 45


chē mù yě […] chuán mù yě
Wagen sind aus Holz. […] Schiffe sind aus Holz.

Die bisherige Erklärung lautet: Bezeichnet das Prädikatsnomen ein


Material, so bedeutet diese Art Nominalsatz: ‘X ist aus Y’. Aber wie
wäre so das Beispiel B 244 auszugrenzen? Die Erklärung im hier darge-
legten Rahmen würde lauten: Es handelt sich hier nicht um ein
Prädikatsnomen, sondern es ist als Materialkennzeichnung der Modifi-
kationsteil der genitivisch konstruierten Prädikatsnominalphrase mit dem
Kernnomen wù ⢙. So muss die Äusserung B 265 wie folgt rekonstruiert
werden:

B 265a 䓺ᵘѻ⢙ҏ […] 㡩ᵘѻ⢙ҏ Mò Zǐ 45


chē mù [zhī wù] yě […] chuán mù [zhī wù] yě
Wagen sind Dinge aus Holz. […] Schiffe sind Dinge aus Holz.
Nominalsätze 251

Die Stelle bei GRAHAM 1978:487 gewinnt an Deutlichkeit, wenn wie


folgt übersetzt wird: ‘A carriage is a thing made of wood, but riding a
carriage is not riding wood’ und ‘A boat is a thing made of wood, but
entering a boat is not entering wood’. In der Stelle NO 15 geht es näm-
lich um Kategorien und Mengen, und da würde das Prädikat mit ‘wood’
aus dem Rahmen fallen. Die Fähigkeit von mù ᵘ, in attributiver
Stellung zu erscheinen, geht übrigens klar aus dem folgenden Beispiel
hervor:

B 266 ໘ᆀ⛪ᵘ匦 Hán Fēi Zǐ 32


Mò zǐ wéi mù yuān
Meister Mo machte Drachen aus Holz.

5.2.8 Supernyme in generischen Relativsätzen (II)

Kehren wir zur Syntax zurück und lassen wir zum Nachweis der
generellen Anwendbarkeit des hier erarbeiteten methodischen Ansatzes
(Suche nach dem getilgten Kernnomen) noch einige weitere Möglich-
keiten für Supernyme Revue passieren:

B 267 ⽮⾝൏㘼ѫ䲠≓ҏ Lǐ Jì 11.17; 18.1


shè [jūn] jì tǔ ér zhǔ yīn qì [zhī suǒ] yě
Der Altar der Erdgottheit ist die Stelle, wo der Lehensfürst die
Kraft des Yin zum Herrn macht, indem er der Erdgottheit opfert.

Subjekt des Nominalsatzes ist shè ⽮, Prädikatsnominalphrase die Kette


jì tǔ ér zhǔ yīn qì ⾝൏㘼ѫ䲠≓, die durch Modifikationsanzeiger zhī
ѻ und Kernnomen suǒ ᡰ‘Stelle’ zum generischen Relativsatz zu
komplettieren ist.

B 268 㤕ሱ丸ਕᱟጷⳎ☏㘼㝙⽰㍃⾽ҏ Xī 21 fù Zuǒ; 19.8


ruò [gōng] fēng Xū=qú, [zé] shì chóng [tài-]Hào, [yǒu-]Jǐ ér xiū sì, shū huò [zhī
dào] yě
Kommt es zu einer Belehnung von Xū=qú (durch Euch), so ist
dies der Weg, um die Götter Hào und Jǐ zu verherrlichen und
dabei einerseits Opfer instand zustellen, anderseits die Xià-
Lehensfürstentümer von einem Problem zu befreien.
252 Kapitel 5

Die Äusserung, die sich an den Fürsten richtet (die rekonstruierte Be-
zeichnung gōng ‫ ޜ‬hat als Referenz den Xī-Patriarchen von Lǔ 冟‫)ޜ܆‬,
besteht aus einem impliziten konditionalen Satzgefüge (die Konjunktion
zé ࡷ ist nicht realisiert). Die Apodosis ist eine Nominalsatzkonstruktion
mit dem Demonstrativpronomen shì ᱟ als Subjekt, welches auf die in
der Protasis vorgeschlagene Handlung referiert. Die Prädikatsnominal-
phrase hat die Form eines modalen generischen Relativsatzes. Das zu
ergänzende Kernnomen bzw. Supernym ist dào 䚃 ‘Weg, Methode’.

B 269 ‫ݸ‬㠚Ỵҏᐢަօ㒬ѻᴹ Xī 11 fù 1 Zuǒ; 16.5


xiān zì qì [zhī xiān] yě, yǐ, [zé xiān] – qí hé jì zhī yǒu
Wenn der Vorfahre ein Vorfahre ist, der sich selbst aufgibt, und
es dabei bleibt – was für ein ‘ihm Nachfolgen’ gibt es da FÜR
DIESEN?!

Diese Äusserung besteht aus einem impliziten konditionalen Satzgefüge.


Die Protasis besteht aus zwei koordinierten Teiläusserungen, nämlich
aus dem mit yě ҏ markierten Nominalsatz xiān zì qì [zhī xiān] yě
‫ݸ‬㠚Ỵ[ѻ‫]ݸ‬ҏ und dem allein aus dem V2-Kern yǐ ᐢ bestehenden
Verbalsatz. Der Nominalsatz besteht aus dem Subjekt xiān ‫ ݸ‬und dem
Prädikat zì qì zhī xiān 㠚Ỵѻ‫ݸ‬, welches die Struktur eines Relativ-
satzes hat, dem das Kernnomen xiān ‫ ݸ‬und der adnominale Modifi-
kationsanzeiger zhī ѻ fehlen.
xiān ‫ ݸ‬wird hier nicht als Adverb aufgefasst. Subjekt und Prädikat
müssten dann auf den im Kontext erwähnten Markgrafen von Jìn refe-
rieren und entsprechend rekonstruiert werden: [Jìn hóu] xiān zì qì [zhī
hóu] yě [ᱹ‫ݸ]ן‬㠚Ỵ[ѻ‫ ]ן‬ҏ. ‘[Der Markgraf von Jìn] ist [ein
Markgraf], der zuerst sich selbst aufgibt’. Dieses ‘zuerst’ impliziert ein
‘nachher’, einen zweiten Schritt, der darin bestünde, dass er als nächstes
das Nachfolgen oder den Nachfolger aufgibt. Damit ergibt sich aber ein
logischer Widerspruch, denn mit der Selbstaufgabe ist eine willentliche
Ordnung der Nachfolge (jì 㒬 ist klar in einer Erbfolge zu sehen) schon
ausgeschlossen. Ausserdem weist die Textpragmatik darauf hin, dass der
Überbringer des Jadezeichens in seinem Rapport eine generalisierende
Aussage macht (und damit die tatsächlich folgende katastrophale Nach-
folgesituation in Jìn gewissermassen prognostiziert). Also ist die An-
nahme von xiān ‫ ݸ‬als Nomen mit der Bedeutung ‘Vorfahre’ syntaktisch
Nominalsätze 253

der einfachere und semantisch-pragmatisch der kontextuell zweifellos


adäquatere Ansatz.
Die Apodosis ist um den V3-Kern yǒu ᴹ herum aufgebaut. Das
Subjektspronomen ist qí ަ, womit angezeigt ist, dass es sich hier um
eine emphatische Konstruktion handelt; der referenziell zugehörige the-
matische Ausdruck ist das im Nebensatz satzinitial realisierte xiān ‫ݸ‬.
Das Objekt hé jì zhī օ㒬ѻ ist – wie so oft bei Fragen – präverbal posi-
tioniert; der Ausdruck besteht aus dem Verbalnomen jì 㒬 als Kern, aus
dem zugeordneten pronominalen Nominalkomplement zhī ѻ (welches
auf xiān ‫ ݸ‬und damit auf Jìn hóu ᱹ‫ ן‬referiert), sowie aus dem adno-
minalen Interrogativpronomen hé օ. Die Strukturentwicklung dieser
Teiläusserung wäre demnach:

→ xiān yǒu hé jì zhī ‫ݸ‬ᴹօ㒬ѻ


→ xiān – qí yǒu hé jì zhī ‫ަݸ‬ᴹօ㒬ѻ
→ xiān – qí hé jì zhī yǒu ‫ަݸ‬օ㒬ѻᴹ
→ 0 – qí hé jì zhī yǒu ަօ㒬ѻᴹ

Das generellste merkmalskompatible Lexem, welches in vielen Fällen


gleichzeitig das spezifischste Supernym darstellt, ist wù ⢙ ‘Ding’. Man
vergleiche:

B 270 ⢙ѻᐢ㠣㘵Ӫ⽵ࡷਟ⭿ҏ Xún Zǐ 17; 30.10


wù zhī yǐ zhì zhě, rén yāo zé kě wèi [zhī wù] yě.
Was aber die Dinge, die bereits eingetroffen sind, angeht, da ist
nämlich das von Rén verursachte Unheil das Ding, welches
Furcht einjagen darf.

wù ⢙ wird im thematisierten Ausdruck angeboten! In dieser Äusserung


ist eine für das AC eigentümliche emphatische Konstruktion realisiert. Da
sie sich mit dem Attribut des konditionalen Satzgefüges schmückt, der
Konjunktion KNJ-zé ࡷ, soll sie hier Pseudokonditional genannt werden.
Analoges – wenn auch schwerfälliger – ist im Deutschen zu finden: ‘was
X anbetrifft, SO …’. Zentraler Äusserungsteil ist die Nominalsatzform
rén yāo kě wèi zhī wù yě Ӫ⽵ਟ⭿ѻ⢙ҏ. Die Pseudokonditional-
konstruktion entsteht dadurch, dass der Subjektsausdruck herausgehoben
und durch die Setzung der pseudokonditionalen Konjunktion zé ࡷ vom
Prädikatsausdruck abgetrennt wird.
254 Kapitel 5

B 271 ᇞᇔਟᗇ㘼ትҏ Xún Zǐ 9; 25.18


gōng, shì kě dé ér jū [zhī wù] yě
Paläste und Häuser sind Dinge, über die von ihnen verfügt
werden kann und die von ihnen bewohnt werden können.

Aufgrund des Subjektsausdrucks gōng shì ᇞᇔ kann das zu erschlies-


sende Supernym im passiven generischen Relativsatz nur wù ⢙ ‘Ding’
sein.

B 272 ൠ䛁≁ትᗵ৳⴨ᗇҏ Lǐ Jì 5.41; 15.2


dì, yì, mín jū bì cān [zhī wù yě, bì] xiāng dé [zhī wù] yě
Boden, Stadt und Wohnstätten der Mín sind die Dinge, die eine
Dreiheit bilden und sich gegenseitig zuträglich sein müssen.

Vergleicht man diese Übersetzung und die damit verbundene Nuancie-


rung der Aussage mit der üblichen Wiedergabe (‘Boden, Stadt und
Wohnstätten der Mín müssen eine Dreiheit bilden und sich gegenseitig
zuträglich sein’), so wird ersichtlich, dass auch hier eine Kategorisierung
vorgenommen wird: Es gibt eine Gruppe von Dingen, die eine Dreiheit
bilden und sich gegenseitig zuträglich sein müssen – und dazu gehören
eben Boden, Stadt und Wohnstätten der Mín.
Obwohl mit wù ⢙ ‘Ding’ das generellste Lexem und zugleich das
spezifischste Supernym gegeben ist, ist eine letzte Verallgemeinerung
denkbar, die dem deutschen ‘etwas’ entspricht, im AC also dem Prono-
men des Kernnomens zhě 㘵. Man vergleiche die Überlegungen, die bei
der Analyse der Beispiele B 257, B 258, B 260 und B 261 schon
angestellt wurden. In den folgenden Beispielen ist der pronominale An-
satz kontextuell zwingend:

B 273 ѫ൏㘵・⽮㘼ཹѻҏ Shǐ Jì 60.20; 17.10


zhǔ tǔ zhě lì shè ér fèng zhī [zhě] yě
Wer die Erde zum Herrn macht, der ist einer, der einen Altar der
Erde aufstellt und ihr Treue bekennt.

Der Subjektsausdruck zhǔ tǔ zhě ѫ൏㘵 mit dem Pronomen zhě 㘵 als
Vertretung des Kernnomens führt zwingend zur Rekonstruktion des
generischen Relativsatzes im Prädikatsausdruck als lì shè ér fèng zhī zhě
・⽮㘼ཹѻ㘵, denn aufgrund der Bestimmung über die Hyponymie-
Nominalsätze 255

relation kann das Kernnomen im Prädikatsausdruck nicht spezifischer


sein als dasjenige im Subjektsausdruck.

B 274 ੋᆀ਽ѻᗵਟ䀰ҏ䀰ѻᗵਟ㹼ҏ Lùn Yǔ 13.3; 24.13


jūn-zǐ míng zhī, [zé shì] bì kě yán [zhě] yě; [chén] yán zhī, [zé shì] bì kě xìng
[zhě] yě
Wenn ein Fürstjunker etwas bezeichnet, dann ist das etwas, zu
dem Worte unbedingt gemacht werden können; wenn er dazu
Worte macht, dann ist das etwas, das mit Sicherheit in die Praxis
umgesetzt werden kann.
Anmerkung: Für yán wird ‘Worte machen’ gewählt (und nicht
etwa ‘sagbar’ o.Ä.), weil die erwähnten Schritte – bezeichnen,
reden, handeln – mit dem Beraterstatus des Fürstjunkers konkret
zusammenhängen. Es geht darum, etwas – ein Problem – klar zu
benennen, dem Fürsten zu einem Umgang damit zu raten, und
dann eine gewählte Strategie umzusetzen. Es handelt sich hier
nicht um einen sprachphilosophischen oder handlungstheoreti-
schen Diskurs.

Entscheidend für den pronominalen Ansatz beim Supernym des generi-


schen Relativsatzes ist das direkte Objekt, das Pronomen zhī ѻ, welches
hier eine indefinite Bedeutung hat (‘etwas’). Das Subjekt des Nominal-
satzes ist deshalb auch als pronominale Form rekonstruiert, nämlich mit
dem Demonstrativpronomen shì ᱟ. Fehlt also die konkrete Referenz,
kann das Supernym auch nicht die Form eines nominalen Lexems
annehmen.

B 240 ↫ੋભਟҏ Wén 18.6 Zuǒ


sǐ-jūn-mìng kě yě
Sterben für den Auftrag des Fürsten ist etwas, das zulässig ist.
Vgl. oben S. 229 und 241.
256 Kapitel 5

5.3 Kausale und finale Nominalsätze

Die Hyponymierelation zwischen Subjekts- und Prädikatsnominalphrase


im Nominalsatz ist zwar die auffälligste und häufigste Beziehung, aber
nicht die einzige. Es kann in diesem Zusammenhang auf zwei Typen von
Nominalsätzen hingewiesen werden, denen die Bezeichnung kausaler
bzw. finaler Nominalsatz gegeben werden soll. Kennzeichnend für diese
Satztypen ist, dass die Relation zwischen Subjekts- und Prädikatsnomi-
nalphrase semantisch in diesen beiden Bereichen liegt, also als
Begründung oder als Zielsetzung gelten können (‘das ist wegen N’ oder
‘dass ist, um zu bzw. damit N’).
Die Struktur der kausalen Nominalsätze lässt sich deutlich an der
entsprechenden Frage- bzw. Antwortform ablesen. Man vergleiche:

B 275 ᱟօ᭵ҏ Mò Zǐ 17A; 29.8


shì hé gù yě
Aus welchem Grund ist das? (Wörtlich: Dies ist aus welchem
Grund?)

Die Äusserung hat die Form des affirmativen Nominalsatzes. Die


SubjektsNP ist die resümierende pronominale Form shì ᱟ; die mit yě ҏ
abgeschlossene Prädikatsnominalphrase besteht aus dem Ausdruck hé gù
օ᭵ (Kernnomen: gù ᭵; Interrogativdeterminant: hé օ). Die Anwe-
senheit von gù ᭵ lässt keinen Zweifel offen, dass es sich hier um einen
kausalen Nominalsatz handelt. Im Deutschen lässt sich die Nominal-
satzform mit vertauschter Reihenfolge der Nominalphrasen leidlich
nachbilden.

B 276 ↔օҏ Mò Zǐ 17A; 29.4


cǐ hé yě
Warum ist das? (Wörtlich: Das ist warum?)

Diese Äusserung ist eine weitere mögliche Frageform des kausalen


Nominalsatzes. Typisch ist die mit yě ҏ abgeschlossene Prädikatsnomi-
nalphrase, welche den Grund eines bestimmten Geschehens bezeichnet:
‘X ist, weil / wegen Y’. In dieser Ausprägung der Frageform wird die
Prädikatsnominalphrase Y durch das Interrogativpronomen hé օ ‘war-
Nominalsätze 257

um?’ ersetzt (vgl. hé gù օ᭵ ‘aus welchem Grund?’ in Beispiel B 275).


Die SubjektsNP X ist hier die resümierende pronominale Form cǐ ↔ für
den näheren, unmittelbaren Kontext (shì ᱟ in Beispiel B 275 referiert
auf den weiteren Kontext). Das nächste Beispiel ist die Antwort auf die
hier gestellte Frage:

B 277 ԕ㲗Ӫ㠚࡙ҏ Mò Zǐ 17A; 29.5


[cǐ rén] yǐ kuī rén2 zì lì [zhī gù] yě.
Es ist, weil er so anderen Personen Schaden zufügt und für sich
selbst Nutzen daraus zieht.

Das satzabschliessende yě ҏ ist Signal für die Existenz eines kausalen


Nominalsatzes, wobei hier die Prädikatsnominalphrase in der Form eines
generischen Relativsatzes angesetzt ist (vgl. Beispiel B 275 und 5.2;
Kernnomen also gù ᭵). Wie der Vergleich mit Beispiel B 276 zeigt,
könnte aber auch ohne Ansatz eines getilgten Supernyms operiert wer-
den. Diese Satzform scheint eine reduzierte Komplementstruktur zu sein
(offenbar immer subjektlos). Die getilgte SubjektsNP ist cǐ ↔; die
Prädikatsnominalphrase besteht aus zwei koordinierten Relativsätzen mit
dem gemeinsamen getilgten Subjekt rén Ӫ, der erste mit dem V2-Kern
kuī 㲗 und dem zugehörigen direkten Objekt rén2 Ӫ, der zweite mit dem
V2-Kern lì ࡙ und dem zugehörigen, präverbal positionierten Reflexiv-
pronomen zì 㠚 (Referenz: rén Ӫ = Subjekt). Beiden Relativsätzen zu-
geordnet ist die durch den K-Marker yǐ ԕ angezeigte satzinitiale Modal-
bestimmung. Zwei weitere Beispiele:

B 278 ᗇѻ࠶㗙ҏ Xún Zǐ 9; 25.20


[rén zhī] dé zhī, fèn yì yě
Ihre Verfügung über all das ist wegen der Fähigkeit zu Gliedern
und zu standgemäss-korrektem Verhalten.

Die Prädikatsnominalphrase des Nominalsatzes besteht aus den zwei


asyndetisch koordinierten Nomina fèn ࠶ und yì 㗙, welche die Be-
gründung für den in der SubjektsNP genannten Sachverhalt liefern. Die
kausale Interpretation dieses Nominalsatztyps wird übrigens unmissver-
ständlich durch die Anwesenheit von gù ᭵ ‘Grund’ in der Einleitung zu
dieser Äusserung signalisiert: wú tā gù yān ❑Ԇ᭵✹ ‘es gibt dafür
keine anderen Gründe’.
258 Kapitel 5

B 279 䀾нᴽҏ Xī 19.4 Zuǒ; 22.2


[shì] tǎo [Cáo zhī] bù=fú [zhī gù] yě.
Diese Belagerung war die Bestrafung für die Unbotmässigkeit
von Cáo gegenüber Sòng.

Die Äusserung tǎo bù=fú yě 䀾нᴽҏ ist die mit yě ҏ markierte


Prädikatsnominalphrase im kausalen Nominalsatz. Der generische
Relativsatz besteht aus dem Verb tǎo 䀾 und dem suffigierten Verbal-
nomen bù=fú нᴽ. Das getilgte Kernnomen (Supernym) ist gù ᭵. Das
Subjekt des Nominalsatzes ist eine getilgte pronominale Form, wie z.B.
shì ᱟ. Im Relativsatz ist das Subjekt getilgt. Wörtlich also: ‘Dies war
aus dem Grund, weil [Sòng] die Unbotmässigkeit [von Cáo] bestrafte’.
Die Prädikatsnominalphrase in den finalen Nominalsätze gibt es
offenbar nur in einer Ausprägung, nämlich in der Form eines reduzierten
Komplementsatzes (ohne Subjektsausdruck). Eine Form mit generi-
schem Relativsatz ist weder abzuleiten noch explizit zu belegen. Wie bei
der Begründung der Finalität (vgl. 7.2.2.3) ausgeführt wird, ist die finale
Interpretation einzig und allein von den beteiligten Prädikaten / Argu-
menten und vom Kontext abhängig. Es findet keine Signalisierung durch
eine entsprechende Konjunktion statt; einzig die Intention des Prädikats-
nomens konstituiert die finale Interpretation. Z.B.:

B 280 ԕ䚄ཙൠѻ≓ҏ Lǐ Jì 11.17; 18.7


[shì tài shè] yǐ dá tiān dì zhī qì yě
Das ist, damit er so die Verbindung zwischen den Kräften von
Himmel und Erde herstellt.

Die Äusserung hat die Form eines mit yě ҏ markierten finalen


Nominalsatzes (im Deutschen mit einer konjunktionale Fügung wie ‘das
ist / war, damit / um zu …’ wiederzugeben). Kern der Äusserung ist das
V2 dá 䚄, dem das explizit mit zhī ѻ markierte genitivische Objekt tiān
dì zhī qì ཙൠѻ≓ folgt, dessen Modifikationsteil aus den zwei asynde-
tisch koordinierten Nomina tiān ཙ und dì ൠ gebildet ist. Dem Kern dá
䚄 voran geht die Markierung der modalen Bestimmung yǐ ԕ (das ist
keine finale Konjunktion!); das Subjekt tài shè ⌠⽮ ist getilgt. Das
Subjekt des Nominalsatzes, das den im Kontext genannten Sachverhalt
aufnimmt, ist getilgt und entspricht wohl dem Demonstrativpronomen
shì ᱟ.
Nominalsätze 259

B 281 ֯䲠᰾ҏ Lǐ Jì 11.17; 18.11


[shì] shǐ yīn míng yě
Das war, um zu bewirken, dass das Yin erleuchtet ist.

Die Äusserung hat die Form eines mit yě ҏ markierten finalen Nomi-
nalsatzes. Das Subjekt, das den im Kontext genannten Sachverhalt auf-
nimmt, ist getilgt und entspricht wohl dem Demonstrativpronomen shì
ᱟ. Im finalen Äusserungsteil ist der Kern das kausative V2 shǐ ֯, dem
der Objektssatz mit dem Subjekt yīn 䲠 und dem V1-Kern míng ᰾ folgt.

B 282 нਇཙ䲭ҏ Lǐ Jì 11.17; 18.9


[shì shè] bù shòu tiān yáng yě
Das ist, damit der Altar das Yang des Himmels nicht empfängt.

Im finalen Äusserungsteil (=Prädikatsnominalphrase) ist der Kern das


mit bù н negierte V3 shòu ਇ, dem das genitivisch konstruierte Objekt
tiān yáng ཙ䲭 folgt. Das Subjekt ist aus dem Kontext heraus mit shè ⽮
anzusetzen.

B 283 ഐᡀ付ҏ Xī 21 fù Zuǒ; 19.5


[shì] yīn Chéng Fēng yě
Dies war, um sich auf die Chéng-Herrin geb. Fēng, zu stützen.

Die Äusserung besteht aus einem mit yě ҏ markierten finalen Nominal-


satz. Das Subjekt, das den im Kontext genannten Sachverhalt aufnimmt,
ist getilgt und entspricht wohl dem Demonstrativpronomen shì ᱟ. Kern
ist das V2 yīn ഐ mit dem direkten Objekt Chéng Fēng ᡀ付.

5.4 Zusammenfassung

Dieses Kapitel zeigt, dass die Annahme eines eigenen Satztyps für den
Nominalsatz deskriptiv adäquat ist. Die besondere semantische Relation
zwischen der Subjektsnominalphrase und der Prädikatsnominalphrase
lassen eine für das Antikchinesische typische Konstruktion zu, nämlich
260 Kapitel 5

die der generischen Genitive bzw. der generischen Relativsätze in der


Prädikatsnominalphrase.

Die Zusammenfassung des Regelwerks führt zur folgenden Übersicht:

(R-1a) Sv → KP + VP
(R-1b) Sn → NP + PSP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → V (KP) (KP)
(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
(R-4b) NP → (DET) NL (KP)
(R-4c) NP → S
(R-5a) NL → (PSP) NL
(R-5b) NL → N (NP)
(R-6) PSP → NP + PST
6 Verb und Adverb

6.1 Die Verbalphrase

In Kapitel 1, Grundlegung, und in Kapitel 3, Nominalphrasen, sind bei


der Analyse des deutschen Beispielsatzes (‘der neue Student analysiert
kühn das antike Beispiel’) die nominalen Strukturen in drei Ebenen
zerlegt worden. Diese dreistufige Analyse, die von einer elementaren
Ebene des Nomens N über eine mittlere der Nominalen NL bis zur
komplexen Ebene der Nominalphrase NP reicht, hat sich auch für das AC
als angemessen erwiesen. Im folgenden soll untersucht werden, ob sich
eine Stufigkeit auch bei der Analyse der Verbalphrase postulieren lässt,
wobei die spezifische, in der Prädikationsfunktion begründete Differenz
zu den nominalen, referierenden Strukturen zu berücksichtigen sein wird
(vgl. Kapitel 2). Mangels der Möglichkeit, die Grammatikalität von AC-
Sätzen von Muttersprachlern testen zu lassen, aber mit Blick auf die AC-
Materiallage, könnte man der Einfachheit halber von folgendem
aktuellen deutschen Beispiel ausgehen:

mit Freude täglich zehn Schriftzeichen lernen

Wenn wir die Konstituentenstrukturanalyse anwenden, so gelangen wir


zu folgenden Konstituenten und Konstituten:

Graphik 35: Konstituentenstrukturanalyse (Verb)

mit Freude [täglich zehn Schriftzeichen lernen]


mit Freude [täglich [ zehn Schriftzeichen lernen]]
mit Freude [täglich [ [ zehn Schriftzeichen] lernen]]

In dieser Verbalstruktur finden sich eine Reihe von Elementen, die alle
den verbalen Kern ‘lernen’ näher bestimmen, aber in je verschiedener
Weise: Die adverbiale Präpositionalphrase ‘mit Freude’ bringt die Art
und Weise, wie ‘gelernt’ wird, zum Ausdruck. Das Adverb ‘täglich’
262 Kapitel 6

bezeichnet die Frequenz, mit der ‘gelernt’ wird. Die Differenz zwischen
diesen beiden adverbialen Ausdrucksweisen besteht darin, dass das ad-
verbiale Adjunkt ‘täglich’ im Rahmen der Verbalphrase angesiedelt ist
(vgl. 6.3 unten), während die adverbiale Präpositionalphrase ‘mit Freu-
de’ als Satzadverbiale dem Satzknoten zuzuordnen ist (vgl. 7.1.1). Der
Nominalausdruck ‘zehn Schriftzeichen’, der eine Valenzkonstituente des
Verbs darstellt, bezeichnet schliesslich den Gegenstand, der ‘gelernt’
wird. Obwohl bei der Segmentierung des Beispiels in diesem Fall vier
Schnitte zu machen waren, werden vorerst einmal die folgenden zwei
Ebenen differenziert:

a. Komplemente ergänzen ein Verb zu einer Verbalen; sie gehören zur


Valenz.
b. Adverbiale Adjunkte bestimmen Verbale näher, ohne aber deren Sta-
tus zu verändern (sie bleiben Verbale).

Infolge der referierenden Funktion von Nominalstrukturen ist bei diesen


eine weitere Ebene festgestellt worden, nämlich die der Determination.
Ein identischer Sachverhalt ist bei den Verbalstrukturen, die ja eine prä-
dizierende Funktion ausüben, nicht zu erwarten und am vorgelegten Bei-
spiel auch nicht auszumachen. Dennoch lässt sich, ausgehend von der
nominalen grammatischen Kategorie der Definitheit, bei der Verbal-
struktur ein funktional analoges Strukturelement erkennen, welches hier
mit dem Begriff Finitheit bezeichnet sein soll. Darunter fallen wichtige
grammatische Kategorien des Verbs wie Tempus, Aspekt, Numerus
usw., welche die infiniten Verbformen in finite verwandeln. Für das
Deutsche als flektierende Sprache lässt sich somit auch bei den Verbal-
strukturen eine funktional analoge dritte Ebene ansetzen:

c. Finite Konstituenten determinieren Verbale und ergänzen sie zu


Verbalphrasen.

In eine Baumdarstellung umgesetzt ergibt dieses Regelwerk die folgende


Struktur (wie in Graphik 28, S. 106 ist zur Vereinfachung zunächst die
deutsche Verbalstruktur angesetzt):
Verb und Adverb 263

Graphik 36: Verbale Strukturen

VP

VL Finitiva

Adjunkt VL

V Komplement

täglich gelernt zehn Zeichen hat/Perf

So weit, so gut – aber lässt sich dieses Schema auch auf das AC über-
tragen bzw. anhand von AC-Belegen überzeugend nachweisen oder
mindestens glaubhaft machen? Gehen wir die einzelnen Ebenen durch.

6.2 Verbkomplementierung

In Kapitel 2 wurden die Strukturen auf der untersten Ebene, also auf der
Ebene der Komplementierung ausführlich dargestellt (dies entspricht
Absatz a. oben). Zur Generierung von Strukturen im Rahmen der Ver-
balphrase sind Regeln anzupassen und neue zu formulieren. Als erstes
muss das Dreistufenprinzip eingeführt werden, d.h. die Verbalphrase VP
muss neu zu einer Verbale VL und zu einem fakultativen Knoten ASP für
denjenigen Aspekt der Finitheit abgeleitet werden, der im Antikchinesi-
schen postverbal realisiert wird (also für den Perfektanzeiger yǐ ⸓, vgl.
6.4). Dann muss die Verbale (an Stelle der Verbalphrase) zu einem Verb
V mit seinen Komplementen, den Kasusphrasen abgeleitet werden. Wir
formulieren also die folgenden zwei Regeln (die Numerierung und die
Einordnung in das gesamte Regelwerk erfolgt nach der Formulierung der
dritten Regel in Abschnitt 6.3):
264 Kapitel 6

(R-X) VP → VL (ASP)
(R-Y) VL → V (KP) (KP)

Dass der Knoten ASP nur fakultativ angesetzt wird, entspringt nicht
lediglich einer systematischen Überlegung (von daher müsste die Ablei-
tung immer erfolgen), sondern dem Bedürfnis, die Strukturbäume nicht
unnötig zu komplizieren. Weiteres zur Komplementierung ist hier nicht
zu sagen. Die Ergebnisse von Kapitel 2 können mit dieser regelbezoge-
nen (und gedanklichen) Anpassung übernommen werden. Damit wenden
wir uns den übrigen zwei Ebenen zu.

6.3 Das Adverbialgefüge

Funktional ist die Modifikation des verbalen Kerns, genauer der Verbale
VL durch die Adjunktion von “Adverbien” bzw. Adverbialstrukturen mit
der adnominalen Modifikation durch Verbalattribute (“Adjektive”) bzw.
restriktive Relativsätze zu vergleichen. Verschafft man sich einen
Überblick über diesen Modifikationstyp, so ergibt sich ein Befund, für
den die folgenden Beispiele als charakteristisch gelten können:

B 284 伭伏➆㺓 Mèng 3A.4; 12.3


bǎo shí, nuǎn yì
satt essen, warm kleiden

B 285 ඀㘼䀰 Mèng 2B.11


zuò ér yán
(Er) sass während er sprach. Oder: Er sprach im Sitzen / sitzend.

B 286 ਏн䚐ॳ䟼㘼ֶ Mèng 1A.1


sǒu bù yuǎn qiān lǐ ér lái
Sie, ehrwürdiger Onkel, sind hergekommen und haben dabei
tausend lǐ für nicht weit gehalten.

Im Gegensatz zu diesen Beispielen mit adverbialen Adjunkten ist in der


folgenden Äusserung eine satzadverbiale Zeitbestimmung realisiert (man
Verb und Adverb 265

beachte dass bei fehlenden äusseren Markierungen, z.B. ér 㘼, die Zu-


weisung nach funktionalen, pragmatischen oder kontextuellen Kriterien
erfolgt):

B 287 йᴸн⸕㚹ણ Lùn Yǔ 7.14


sān yuè bù zhī ròu wèi
(Noch) im dritten Monat (danach) erkannte (Junker Kǒng) den
Geschmack von Fleisch nicht.

Zum Befund in den ersten drei Beispielen: Zunächst ist festzuhalten,


dass Adverbialstrukturen einerseits ohne Vermittlung (Beispiel B 284)
am verbalen Kern angeschlossen werden, andererseits die Vermittlung
durch das Zeichen

㘼 ér

geschieht, dessen kategorialer Status noch zu bestimmen sein wird (Bei-


spiele B 285 und B 286). Zum andern ist an den Beispielen abzulesen,
dass die “adverbialen” Elemente verschiedenen Wort- oder Konstituen-
tenklassen entstammen: in Beispiel B 284 sind es “Adverbien”, in Bei-
spiel B 285 handelt es sich um ein Verb, in Beispiel B 286 findet man
eine Verbalphrase bestehend aus einem negierten Verb mit Komple-
ment.
Die Tatsache, dass eine satzförmige adverbiale Modifikation festzu-
stellen ist (Beispiel B 285) – das Vorhandensein von negierten Verben
(Beispiel B 286) legt diese Annahme nahe –, dass eine “adverbiale”
Form anzutreffen ist (Beispiel B 284), und dass sogar eine nominale
Form existiert (Beispiel B 287), zeigt deutliche Parallelen zur Situation
bei der adnominalen Modifikation. Ausserdem erinnert der Umstand,
dass es Formen ohne Markierung (Beispiel B 284) und Formen mit
Markierung (Beispiele B 285 und B 286) gibt, wiederum unweigerlich
an die Situation bei der adnominalen Modifikation. Angesichts dieser
Befunde liegt es nahe, nicht nur die Notwendigkeit einer Wortklasse
“Adverbien” zu verneinen (wie dies bei den “Adjektiven” schon ge-
schah), sondern für das AC sogar eine einheitliche Modifikationsstruktur
zu postulieren. Da also die adnominalen Modifikationsstrukturen als
postpositional markierte Phrasen dem Kernnomen vorgelagert werden,
drängt es sich auf, eine analoge Struktur für die adverbiale Modifikation
266 Kapitel 6

anzusetzen. M.a.W.: ér 㘼 ist kategorial der Wortklasse der Postposi-


tionen zuzurechnen, gehört also in die gleiche Klasse wie zhī ѻ. Dies
erscheint auch in etymologischer Hinsicht plausibel: so wie zhī ѻ < AC
*tə aus einem einfachen divalenten Verb ‘X geht nach Y’ zu einer
prosodisch leichten PST grammatikalisiert worden sein dürfte, gehört ér
㘼 < AC *nə ablautend zu dem einfachen V2 rú ྲ < AC *na ‘X kommt
zu Y’ → ‘X kommt Y gleich’. Die strukturelle Analogie lässt sich mit
der folgenden Graphik illustrieren:

Graphik 37: Die generelle Modifikationsstruktur im AC

Adnominaler Modifikant Nominale


z.B. Genitiv, Relativsatz NL

Adverbialer Modifikant Verbale


z.B. Adverbialnomen, -satz VL

Führt man den Ansatz konsequent weiter, so liegt es nahe, analoge


Regeln und Strukturen für die Ableitung adverbialer Adjunkte anzu-
setzen. Auf der Ebene VL ist also eine Regel analog zu R-6a (alt R-5a) zu
formulieren; die weitere Ableitung wird in beiden Fällen von der Regel
R-7 (alt R-6) besorgt. Nach Einfügung der neuen Regeln und Neunume-
rierung bietet sich das Regelwerk wie folgt dar:

(R-1a) Sv → KP + VP
(R-1b) Sn → NP + PSP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → VL (ASP)
(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
(R-4b) NP → (DET) NL (KP)
(R-4c) NP → S
(R-5a) VL → V (KP) (KP)
(R-5b) VL → (PSP) VL
Verb und Adverb 267

(R-6a) NL → (PSP) NL
(R-6b) NL → N (NP)
(R-7) PSP → NP + PST

Analog zur Wortklasse der Adjektive, die sich syntaktisch als überflüssig
erwiesen hat (da als Verbalattribute über die Relativsatzkonstruktion
ableitbar; vgl. Kapitel 4), kann also die Wortklasse der Adverbien im AC
offensichtlich auch durch syntaktische Prozesse entbehrlich gemacht
werden. Die Situation lässt sich mit Blick auf das Deutsche etwa so cha-
rakterisieren: In einem lexikalischen Prozess leitet das Deutsche aus ge-
eigneten Wortwurzeln Adverbien her, so z.B. aus dem Nomen ‘Tag’ das
Adverb ‘täglich’ oder aus dem (attributiven / prädikativen) Adjektiv
‘froh’ das Adverb ‘fröhlich’ usw. Wohl aus Mangel an einer Vielfalt for-
maler derivativer Strukturen (wie etwa eines Analogons zum adverbia-
lisierende Suffix -lich) – das “gut” sino-tibetische Adverbialsuffix *-s
(vgl. Kap. 10.2 k) war in der antikchinesischen Periode offenbar bereits
nicht mehr produktiv – setzt das AC diesem lexikalischen Verfahren ein
anderes entgegen, in dem Lexeme aus den Hauptwortklassen, aber auch
Sätze in adverbialer Funktion adjungiert werden können. Dabei wirkt die
postpositionale Markierung in “einfacheren Fällen” sozusagen wie ein
Suffix, erlaubt aber, da es sich um eine syntaktische Modifikations-
struktur handelt, sogar Satzeinbettungen. Im Falle der “Adverbien” (und
“Adjektive”) haben wir es also nicht mit Homographen zu tun; dieser
Eindruck entsteht bloss auf dem Hintergrund einer Zielsprache, welche
dafür eine oder mehrere spezifische Wortklassen hat. Das ist zu beden-
ken, obwohl im Vokabularteil des Kurses aus didaktischen Gründen
Lexemen mit adverbialer Funktion nicht die eigentlichen Kategorial-
symbole N oder V, sondern auch das Kategorialsymbol ADV zugewiesen
wird.
Gehen wir anhand von Beispielen die oben vorgelegten Ansätze im
Einzelnen durch. Die erste von den Regeln erzeugte Adverbialstruktur
umfasst Nominalphrasen, welche adverbial konstruiert sind. Die oben
aufgestellten Regeln führen also bei Beispiel B 288 zur folgenden
Baumstruktur:

B 288 Ҹᰕᵋѻ Mèng 2B.12


yú rì wàng zhī
Ich hoffe täglich darauf.
268 Kapitel 6

Strukturbaum 73

Sv
KP VP
VL
PSP VL
V KP

Analog abzuleitende Beispiele sind die folgenden, wobei – wie in Äus-


serung B 288 das Nomen rì ᰕ ‘Tag’ – in Äusserung B 289 das Nomen
shí ሖ ‘Frucht, Kern; Realität’ ohne postpositionale Vermittlung adver-
bial konstruiert ist (die möglicherweise satzrythmisch oder prosodisch
konditionierten Tilgungsregeln für die postpositionale Markierung sind
noch unbekannt – auch darin erinnert die adverbiale Modifikation an die
Situation mit der Postposition zhī ѻ):

B 289 ሿӪሖн᡽ Xiāng 31 fù 7 Zuǒ; 26.16


xiǎo rén shí bù cái
Ich unbedeutender Rén bin im Kern (= wirklich) untalentiert.

Eine spezielle nominale Adverbialform ist die ‘qua-’ oder ‘als-Form’,


die im Gegensatz zum Deutschen nicht appositional zu einem Nomen,
sondern adverbial konstruiert und offenbar immer markiert ist (z.B. ‘Er
als Präsident sollte das wissen’):

B 290 㺋ੋᖵᆀ㘼⛪᭯ Lùn Yǔ 13.3; 24.1


wèi jūn dài zǐ ér wéi zhèng
Der Fürst von Wei erwartet (von Ihnen), dass (Sie) auf Ihre
Weise die Regierungsgeschäfte besorgen. (wörtlich: dass Sie als
Sie …)
Verb und Adverb 269

Strukturbaum 74

Sv
KP VP
VL
V KP
Sv
KP VP

VL
PSP VL
NP PST V KP

Die Ableitung zwischen dem Knoten KP und dem eingebetten Satz Sv ist
aus Gründen der Übersichtlichkeit vereinfacht worden.

Die von der Postpositionalphrase dominierte Nominalphrase kann auch


die Ansatzstelle für entsprechende Satzeinbettungen sein. Diese führt,
illustriert am Beispiel B 285 (wo die Satzstruktur auf das Kernverb redu-
ziert ist) zu folgenden Strukturen:
270 Kapitel 6

Strukturbaum 75

Sv
KP VP
VL
PSP VL
NP PST V
Sv
ø ø

Adverbial konstruierte Verben sind also über Satzstrukturen vermittelt.


Analog zu analysieren sind die Beispiele B 284 (ohne postpositionale
Markierung) und B 286 oben. Weitere Beispiele ohne postpositionale
Markierung sind:

B 291 ቁ㾻唁 Mò Zǐ 17A; 29.34


shǎo jiàn hēi
wenig schwarz sehen

B 292 ཊ㹼н㗙 Yǐn 1.3 Zuǒ


duō xìng bù=yì
(Er) begeht häufig / vermehrt Unkorrektheiten.

B 293 བྷҲᆻ഻ѻ᭯ Xiāng 17.7 Zuǒ


dà luàn Sòng guó zhī zhèng
(Er) störte grossmassstäblich die Ordnung des Landes Sòng.

Der Widerstand des AC gegen die Stapelung von Modifikationsebenen ist


schon bei den Genitivstrukturen und bei den Verbalattributen festzu-
stellen und hängt wohl einerseits mit der fehlenden Morphologie zusam-
men, die in solchen Fällen direkt disambiguierend wirken würde,
andererseits mit satzprosodischen Beschränkungen, die eine Wieder-
holung durch Postpositionen markierter Konstituenten verhindern. (Dies
ist z.B. eine häufig für das Neuchinesische gegebene Erklärung, wo der
Verb und Adverb 271

Unterschied von Mehrfachsetzungen von de Ⲵ etwa im vgl. zur Mehr-


fachsetzung von no ȃ im Japanischen erklärungsbedürftig wirkt.) Die
Regel R-5b, welche die adverbiale Modifikationsstruktur erzeugt, ist
eine rekursive, d.h. sie kann nacheinander eine Reihe von Modifikatio-
nen erzeugen. Die Ad-Adverbiale Modifikation, d.h. die Modifikation
einer adverbialen Modifikationsstruktur durch eine weitere adverbiale
Struktur, ist offenbar recht selten. Ein möglicher Beleg für eine doppelte
Modifikation ist Beispiel B 294, das sich so analysieren lässt:

B 294 วһሖ䟽െѻ Xiāng 22 fù 2 Zuǒ


zhí shì shí chóng tú zhī
Der Kanzler sollte wirklich nochmals darüber nachdenken.

Strukturbaum 76

Sv
KP VP
VL
PSP VL
NP PST PSP VL
NP PST V KP
Sv

ø ø

Einen weiteren aussagekräftigen Hinweis auf die hier wiederholt fest-


gestellte Eigenart des AC, dass nämlich Modifikationsstrukturen vorzugs-
weise über sententielle Strukturen vermittelt werden, sowie auf den
Widerstand gegen Stapelungen finden wir im Falle der adverbialen
Steigerung. Diese Form der adverbialen Modifikation, die im Deutschen
ohne weiteres vorkommt (z.B.: ‘er fährt sehr schnell’), kann offenbar
kaum innerhalb der adverbialen Adjunktionsstruktur gebildet werden.
Wo das Deutsche adverbial strukturieren kann (‘er schadet anderen Per-
sonen noch mehr’), muss im AC eine vermittelnde sententielle Struktur
272 Kapitel 6

benutzt werden, in der ein Teil der adverbialen Konstruktion auf die
Ebene eines vollen steigerbaren Verbs angehoben wird (womit indirekt
wieder bestätigt wird, dass das AC kaum über eine Wortklasse ADVERB
verfügt):

B 295 㲗Ӫ᜸ཊ Mò Zǐ 17A; 29.9


kuī-rén yù duō
Das (so)-anderen-Personen-Schadenzufügen ist um einiges grös-
ser.

B 296 ަн㗙৸⭊‫ޕ‬Ӫℴ Mò Zǐ 17A; 29.17


qí bù=yì yòu shèn rù-rén-lán
Sein unkorrektes Verhalten ist noch schlimmer als beim Ein-
dringen in die Koppel und Ställe anderer Personen.

Das AC verfügt mit dieser postpositionalen Konstruktion über eine Mög-


lichkeit, beliebig komplexe adverbiale Modifikationen in Haupt- und /
oder Nebensatz einzubringen. Diese komplexen Modifikationen, denen
meist Satzeinbettungen zugrunde liegen und die daher den Umfang von
Satzteilen oder Sätzen erreichen können, werden also regelmässig mit
der Postposition ér 㘼 markiert und so als Adverbialgruppe gekennzeich-
net. Das Modifikationsverhältnis hält sich an das bekannte Stellungs-
gesetz: Modifizierendes :: Modifiziertes (vgl. Graphik 29, 3.1). Von
besonderer Wichtigkeit ist aber die Feststellung, dass ér 㘼 – sieht man
von phonetischen Entlehnungen ab – keine ‘autosemantische’ Bedeutung
im Sinne eines Nomens oder eines Verbs hat, sondern einzig im Rahmen
einer syntaktischen Funktion beschrieben werden kann (darin ist es ande-
ren Signalwörtern, wie etwa yě ҏ oder zhī ѻ, durchaus gleich):

Die Postposition ér 㘼 markiert einen Satzteil als Nebensatz mit der


Funktion einer adverbialen Modifikation. Sie schliesst einen adjun-
gierten Nebensatz ab (so wie zhī ѻ im Falle des Relativsatzes). Die
semantische Rolle der adverbialen Modifikation (temporal, modal-
instrumental, konzessiv, kausal) wird durch andere, meist inhaltliche
oder pragmatische Faktoren der Äusserung bzw. des Satzes be-
stimmt.
Verb und Adverb 273

Die Funktionen dieser komplexen adverbialen Ketten entsprechen also


uns bekannten Adverbialphrasen: temporal, modal-instrumental, konzes-
siv, kausal und lokativ. Im Folgenden sollen zur Illustration der funk-
tionalen Vielfalt für diese inhaltlichen Kategorien einige Beispiele
aufgeführt werden. Obwohl kaum formale Unterscheidungskriterien an-
gegeben werden können, sind die meisten dieser mit ér 㘼 markierten
Äusserungen aus dem Kontext heraus unmittelbar verständlich:

6.3.1 Temporale Adverbialphrasen

B 285 ඀㘼䀰 Mèng 2B.11


zuò ér yán
(Er) sass während er sprach. Oder: Er sprach im Sitzen / sitzend.
Kommentar: Die deutsche Konjunktion ‘während’ drückt hier in
einer guten Entsprechung die Gleichzeitigkeit der Handlungen
aus. In vielen Fällen führt die Übersetzung mit ‘und’ auch zu
adäquaten Ergebnissen (‘er sass und sprach’), aber man sollte
sich davor hüten, ér 㘼 durchwegs mit ‘und’ zu übersetzen, denn
damit können durchaus vorhandene Nuancen des Originals
verschleiert werden.

6.3.2 Modal-instrumentale Adverbialphrasen

B 286 ਏн䚐ॳ䟼㘼ֶ Mèng 1A.1


sǒu bù yuǎn qiān lǐ ér lái
Sie, ehrwürdiger Onkel, sind hergekommen und haben dabei
tausend Lǐ für nicht weit gehalten.

B 297 㾻ަ⿞㘼⸕ަ᭯ Mèng 2A.2


jiàn qí lǐ ér zhī qí zhèng
Indem man ihr rituell-korrektes Verhalten betrachtet, erkennt
man ihre Regierungsweise / -ordnung.
274 Kapitel 6

6.3.3 Konzessive Adverbialphrasen

B 298 й䙾ަ䮰㘼н‫ޕ‬ Mèng 3A.4; 11.18


sān guò qí mén ér bù rù
Obwohl (Yǔ) dreimal an seinem Tor vorbeikam, trat er nicht ein.

B 299 ൠᯩⲮ䟼㘼ਟԕ⦻ Mèng 1A.5


dì fāng bǎi lǐ ér kě yǐ wàng
Auch wenn das Land [nur] hundert Lǐ [im Geviert] ist, kann man
dabei ein echter König sein.

B 300 ❦㘼н⦻㘵ᵚѻᴹҏ Mèng 1A.3


rán ér bù wàng zhě wèi zhī yǒu yě
Dass einer sich trotzdem nicht wie ein echter König verhält, ist
etwas, das es noch nie gegeben hat.
Kommentar: rán ❦ ist eine Proform (vgl. Kapitel 8), die auf der
Ebene des Prädikats kontextuell Gegebenes aufnimmt. Die Phra-
se rán ér ❦㘼 ist daher in der Regel konzessiv oder konsekutiv
zu interpretieren: ‘obwohl dem so ist [= trotzdem]’ oder ‘da dem
so ist’.

Die konzessiven Adverbialphrasen lassen sich wegen der sententiellen


Form der Adverbialphrase nur schlecht von den adversativen Satzge-
fügen abgrenzen (vgl. 7.2.2.5), in denen ér 㘼 als Konjunktion klassi-
fiziert wird. Für die aufgeführten Beispiele liessen sich ebensogut die
folgenden Interpretationen bzw. Übersetzungen anführen:

B 298a (Yǔ) kam dreimal an seinem Tor vorbei, aber er trat nicht ein.

B 299a Das Land ist [nur] hundert Lǐ [im Geviert], aber man kann dabei
ein echter König sein.
Verb und Adverb 275

B 300a Dem ist [zwar] so, aber dass einer sich nicht wie ein echter
König verhält, ist etwas, das es noch nie gegeben hat.

6.3.4 Kausale Adverbialphrasen

B 301 ᝋަ䋑㘼᱃ѻԕ㖺 Mèng 1A.7


ài qí cái ér yì zhī yǐ yáng
Weil einen die Kosten reuen, tauscht man es (das Rind) gegen
ein Schaf aus.

B 302 ᴹ᭵㘼৫ Mèng 4B.3


yǒu gù ér qù
Weil er einen Anlass hatte, ging er fort.
Kommentar: Kausale Adverbialphrasen sind unter gewissen
Kontextbedingungen nicht immer sauber von temporalen For-
men zu unterscheiden. Dieses Beispiel könnte auch in Über-
setzung lauten: ‘Als er einen Grund hatte, ging er fort.’

6.3.5 Das Subjekt in Adverbialphrasen

Eine Beobachtung, welche die adverbiale Qualität der Konstruktion be-


stätigt, ist die, dass in den Fällen, wo die Adverbialphrase die Form eines
adjungierten Nebensatzes hat, das Nebensatzsubjekt offenbar in allen
Fällen getilgt ist. Dies ist damit zu erklären, dass das Subjekt des Haupt-
satzes, welches ja zum dominierenden Verb in einer Konkordanzbezie-
hung steht, meist auch Subjekt der jeweiligen adverbialen Bestim-
mungen ist. Damit wird die Allgemeingültigkeit einer Regel bestätigt,
die bei den Relativ- und Komplementsatzkonstruktionen bereits formu-
liert wurde:

Nebensatzsubjekte, die referenzidentisch sind mit dem Subjekt des


Hauptsatzes, werden regelmässig getilgt.

Vollständige realisierte Sätze (d.h. mit Subjekt und Prädikat), denen ér


㘼 folgt, sind Teilsätze in einem Satzgefüge. ér 㘼 verschriftet in diesen
Fällen nicht die hier eingeführte Markierung einer Adverbialphrase, son-
276 Kapitel 6

dern die additive oder adversative Konjunktion ér 㘼 (vgl. 7.2.2.5). Die


im folgenden Beispiel realisierte, häufig vorkommende Kollokation ér
hòu 㘼ᖼ ist ebenfalls im Zusammenhang mit der Konjunktion ér 㘼 zu
behandeln (vgl. die Diskussion bei Strukturbaum 84):

B 303 ⢙Ṭ㘼ᖼ⸕㠣 Lǐ Jì 43.1; 10.16


wù gé ér hòu zhī zhì
Wenn die Wesenheiten eingehend erfasst sind, dann erst stellt
sich Wissen ein.

6.3.6 Adverbialmodifikation im Nominalsatz

Schliesslich bleibt noch zu sehen, wie die adverbiale Modifikation im


Nominalsatz strukturiert ist. Wenn sich auch in dieser Satzform nach-
weisen lässt, dass der Adjunktionsprozess analog verläuft, dann ist wohl
der Nachweis vollumfänglich erbracht, dass Modifikationsstrukturen im
AC einer allgemeinen Konstruktionsform folgen. Beim Nominalsatz ist
zunächst einmal festzustellen, dass das mögliche Spektrum der adverbi-
alen Modifikationen auf Formen beschränkt zu sein scheint, die nicht
länger als ein Wort sind und die (wohl damit im Zusammenhang ste-
hend) ohne die explizite postpositionale Kennzeichnung mit ér 㘼 auf-
treten. Im folgenden Beispiel besteht die Prädikatsnominalphrase aus
einer Genitivstruktur:

B 304 ᆀ䃐啺Ӫҏ Mèng 2A.1


zǐ chéng qí rén yě
Sie sind wahrhaftig ein Rén aus Qí.
Verb und Adverb 277

Die Struktur dieses Beispiels lässt sich wie folgt darstellen:

Strukturbaum 77

Sn
NP PSP
NP PST
NL
PSP NL
NP PST

Das Beispiel zeigt, dass sich die beiden Modifikationsstrukturen (adno-


minal und adverbial) mit dem bestehenden Regelsatz generieren lassen.
So wie aber bei der adverbialen Modifikation innerhalb der Verbalphrase
durch eine entsprechende Einschränkung gewährleistet werden muss,
dass der Postpositionsknoten nicht in ungrammatischer Weise mit der
adnominalen Postposition zhī ѻ besetzt wird, so bedarf es auch einer
Einschränkung im Nominalsatz. Dazu müssen z.T. komplizierte Be-
dingungen formuliert werden, die auf die Ableitungsgeschichte Bezug
nehmen und die hier nicht Gegenstand weiterer Erörterungen sein sollen.

6.4 Verbdetermination

Tempus ist im AC keine im Rahmen der Verbflexion realisierte grammati-


sche Kategorie. Sie wird in der Regel adverbial zum Ausdruck gebracht,
wobei hier am ehesten eine Wortklasse der ADVERBIEN anzusetzen ist.
Neben den noch zu behandelnden satzadverbialen Zeitbestimmungen
gibt es adverbiale Zeitangaben, die zwar nicht besonders häufig anzutref-
fen sind, jedoch in jenen Fällen, in denen sie realisiert werden, ins-
besondere der zeitlichen Bewertung eines Ereignisses dienen, wenn dies
278 Kapitel 6

aus dem Kontext nicht klar hervorgeht (z.B. bei Rückblenden). Darin
sind sie funktional den Aktionsarten ähnlich:

B 288 Ҹᰕᵋѻ Mèng 2B.12


yú rì wàng zhī
Ich hoffe täglich darauf.

B 305 ᡁሷ৫ѻ Mèng 1B.15; 14.12


wǒ jiāng qū zhī
Ich werde es aufgeben. (Wörtlich: ‘ich gebe es in Zukunft auf’.)

B 306 䃻ే䂖ѻ Mèng 1A.7


qǐng cháng shì zhī
Bitte versuchen (Sie) es einmal.

Diese Zeitbestimmungen lassen sich alle im Rahmen der bereits erörter-


ten adverbialen Modifikation ableiten. Im AC findet man daneben den
Ansatz zu einem Aspektsystem, das eine nur bruchstückhaft rekonstruier-
bare derivationelle Aspektmorphologie des Antikchinesischen ersetzt,
durch die Verbkategorien wie inchoativ, durativ, punktuell, stativ, termi-
nativ usw. markiert werden konnten (vgl. Kap. 10.5). Mit Aspekt be-
zeichnet man verschiedene Darstellungsweisen der inneren zeitlichen
Gliederung von Sachverhalten oder Ereignissen (im Deutschen geschieht
dies z.B. durch die zwei Formen Perfekt und Imperfekt). Die Kategorie
Aspekt wird im AC auf zweierlei Arten zum Ausdruck gebracht:

1. implizit durch Kontext oder Konstruktion:

B 307 ᶡᮇᯬ啺 Mèng 1A.5


dōng bài yú Qí
Im Osten wurde (ich) von Qí besiegt. (Perfektive Passivkon-
struktion)
Kommentar: Der perfektiv-passive Aspekt (vgl. Kap. 10.5.1) war
im Antikchinesischen durch *-s-Suffigierung markiert, die nicht-
Transitivität des Verbes zusätzlich mittels einer durch mittelchi-
nesischenen Lautwandel neutralisierten Pränasalierung: ᮇ bài <
*N-pprat-s ‘X wird von Y besiegt’, aber ᮇ bài < *pprat-s ‘X be-
siegt Y’. Inwieweit solche Minimalpaare noch als systematisches
Verb und Adverb 279

Derivationsparadigma im AC erhalten waren und also ein Satz


wie B 307 auch noch synthetisch-explizit aspektuell markiert
gewesen wäre, ist kaum zu verifizieren, weshalb vorläufig an der
Bezeichnung implizit festgehalten wird.

2. durch explizite Markierung mit dem Anzeiger des vollendeten, d.h.


perfektiven) Aspektes yǐ ⸓.

Dieser Anzeiger signalisiert bei dynamischen Verben die Vollen-


dung bzw. den Abschluss der Handlung oder des Prozesses, bei
statischen (zustands- oder eigenschaftsanzeigenden) Verben dage-
gen sinngemäss die Änderung des Zustandes:

B 308 㘱 lǎo
Zustand: er ist siebzig

→ B 308a 㘱⸓ lǎo yǐ
Zustandsänderung: er ist siebzig geworden / er ist (schon) sieb-
zig

B 309 ⸕ѻ zhī zhī


Zustand: er weiss es

→ B 309a ⸕ѻ⸓ zhī zhī yǐ


Zustandsänderung: er weiss es jetzt / er hat es erkannt

B 310 㠓ᗇѻ chén dé zhī


Prozess: der Lehensmann erlangt es / dem Lehensmann gelingt
es (allgemeine Aussage)

→ B 310a 㠓ᗇѻ⸓ chén dé zhī yǐ


Resultat: der Lehensmann hat es erlangt / dem Lehensmann ist
es gelungen (spezifische Aussage)
280 Kapitel 6

B 311 ੋ䙾 jūn guò


Allgemeine Feststellung: der Herrscher macht Fehler

→ B 311a ੋ䙾⸓ jūn guò yǐ


Spezifische Feststellung: der Herrscher hat Fehler gemacht

Da die Wirkung des Aspektes auf das Prädikat in seiner Gesamtheit


bezogen ist und von daher die typische Satzendstellung des Anzeigers zu
verstehen ist, muss yǐ ⸓ auf der Ebene der Verbalphrase generiert wer-
den, d.h. sie wird als weitere Postposition an die Verbalphrase an-
gelagert. Beispiel B 310a bietet sich in Ableitung und Baumstruktur also
wie folgt dar:

Strukturbaum 78

Sv
KP VP
VL ASP
V KP

6.5 Adverbialprädikate

Bei der Durchsicht der adverbialen Modifikationen stellt man fest, dass
eine Art der Zeitbestimmung, nämlich die der Dauer, fehlt. Da Beispiele
existieren, die (aus der Sicht des Deutschen) ohne Prädikat auszukom-
men scheinen, muss man annehmen, dass das funktionale Analogon im
AC nicht als Adverbiale, sondern als eigenständige Verbalkonstruktion
zu analysieren sei. Z.B.:
Verb und Adverb 281

B 312 ⿩‫ޛ‬ᒤᯬཆ Mèng 3A.4; 11.17


Yǔ bā nián yú wài
Yǔ verbrachte acht Jahre ausser Hauses.

Das Beispiel lässt einzig den Schluss zu, dass die Kette bā nián ‫ޛ‬ᒤ als
Prädikatsausdruck mit der angegebenen durativen Bedeutung fungieren
muss. Diesem Sachverhalt scheint allerdings das folgende Beispiel
gegenüberzustehen, bei dem scheinbar zwanglos das verbale Prädikat
yán 䀰 und eine postverbale Angabe der Dauer zhōng rì ㍲ᰕ zu iden-
tifizieren sind:

B 313 ੮㠷എ䀰㍲ᰕ Lùn Yǔ 2.9


wú yǔ Huí yán zhōng rì
Ich und Huí (wir) haben den ganzen Tag miteinander gespro-
chen.

Ist Beispiel B 312 die – wie auch immer entstandene oder zu erklärende
– Ausnahme? Bei der Beantwortung dieser Frage weist uns das folgende
Beispiel m.E. auf den richtigen Weg:

B 314 н伏йᰕ⸓ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.53


bù=shí sān rì yǐ
Mein Nicht-essen dauert schon drei Tage.

Die Tatsache, dass man intuitiv das perfektive Element ‘schon’ (hier in
der Form des Aspektanzeigers yǐ ⸓ explizit realisiert) zur Zeitbestim-
mung zieht, passt gut zur analytischen Notwendigkeit, die uns Beispiel B
312 diktiert: die prädikativen Ketten, die aus einer quantitativen Angabe
sowie einer Angabe der temporalen Einheit (Tag, Jahr usw.) bestehen,
sind funktional Verben, die von verbalen Prädikatsmarkierungen beglei-
tet sein können (Aspekt), und bei denen der Sachverhalt, dessen Dauer
prädiziert wird, in Form eines Subjektsausdrucks (Subjektssatz, Nomi-
nalkomplement usw.), einer Satzadverbiale oder eines koordinierten
Satzteils realisiert sein kann. Für Beispiel B 313 wären folgende
Analysen mit strukturnahen Übersetzungen anzusetzen:
282 Kapitel 6

B 313a ੮㠷എ䀰㍲ᰕ Lùn Yǔ 2.9


wú yǔ Huí [zhī] yán zhōng rì
Das Gespräch zwischen mir und Huí dauerte den ganzen Tag.
Kommentar: Der Subjektsausdruck besteht aus der impliziten
Genitivkonstruktion wú yǔ Huí [zhī] yán ੮㠷എѻ䀰.

B 313b ੮㠷എ䀰㍲ᰕ Lùn Yǔ 2.9


wú yǔ huí yán, [shì] zhōng rì
Als ich und Hui miteinander sprachen, da dauerte es den ganzen
Tag.
Kommentar: Die Kette wú yǔ Huí yán ੮㠷എ䀰 ist eine tem-
porale Satzadverbiale, auf welche das (Ersatz)subjekt der Kette
zhōng rì ㍲ᰕ referiert – in der Transkription mit dem Demon-
strativum shì ᱟ, in der Übersetzung mit ‘es’ angedeutet.

Die Struktur des Beispiels B 313a mit durativem Prädikat lässt sich so-
mit wie folgt darstellen:

Strukturbaum 79

Sv
KP VP
NL VL
PSP NL V
NP PST

Dass diese Form des Prädikates, nämlich eine quantitative Angabe sowie
die Angabe einer Einheit mit Masscharakter (ausser den temporalen
Massen wie eben Tag, Jahr usw. also auch Länge, Distanz oder Fläche)
nicht so ungewöhnlich ist, belegen die folgenden Beispiele:
Verb und Adverb 283

B 299 ൠᯩⲮ䟼㘼ਟԕ⦻ Mèng 1A.5


dì fāng bǎi lǐ ér kě yǐ wàng
Das Land mag (nur) hundert lǐ im Geviert sein, aber man kann
dabei ein echter König sein.
Kommentar: Es liegt ein adversatives Satzgefüge mit der Kon-
junktion ér 㘼 vor (allenfalls eine konzessive Adverbiale, vgl.
6.3.3). Der erste Teilsatz bzw. die Adverbiale besteht aus dem
Subjektsausdruck dì fāng ൠᯩ und dem komplexen Prädikat bǎi
lǐ Ⲯ䟼.

B 315 ᡆⲮ↕㘼ᖼ→ Mèng 1A.3


huò bǎi bù ér hòu zhǐ
Manche liefen hundert Schritte, hielten dann aber an.
Kommentar: Es liegt ein adversatives Satzgefüge mit der Kon-
junktion ér 㘼 vor. Der Kern des ersten Teilsatzes ist bǎi bù
Ⲯ↕, ein komplexes Prädikat. Zur Kollokation ér hòu 㘼ᖼ im
adverbialen Strukturkontext vgl. die Diskussion bei Struktur-
baum 83 und Strukturbaum 84.

B 316 䘰а㠽㘼৏䱽 Xī 25 fù 2 Zuǒ; 27.10


tuì yī shè ér Yuán xiáng
Der Rückzug (des Markgrafen von Jìn) dauerte einen einzigen
Tagesmarsch, doch Yuán ergab sich.
Kommentar: Es handelt sich um ein adversatives Satzgefüge mit
der Konjunktion ér 㘼. Der erste Teilsatz besteht aus dem Sub-
jekt tuì 䘰, einem Verbalnomen, und dem komplexen Prädikat yī
shè а㠽, welches eine Streckenangabe verbalisiert. (In den
Grammatiknotizen zur entsprechenden Textstelle wird eine alter-
native Erklärung gegeben.)

Die Integration der Masseinheit im komplexen Prädikat ist näher zu be-


gründen, denn sie könnte in vielen Fällen und auf den ersten Blick wohl
einfacher als Objekt eines semantisch entsprechend ausgestatteten Verbs
generiert werden. So hat das deutsche Verb ‘dauern’ ein durativ-
temporales Objekt (z.B. ‘die Besprechung dauerte vier Stunden’). Zu er-
wähnen sind auch die Akkusative der Ausdehnung in bestimmten indo-
europäischen Sprachen (z.B. im Lateinischen: Caesar regnum multOS
annOS obtinuerat ‘Caesar hatte viele Jahre die Regierung inne’). Im
284 Kapitel 6

Unterschied dazu finden wir im AC die quantitative Angabe nicht im


“Objekt”, sondern im Prädikat, d.h. in den Numeralen, die – auch in
verbalattributiver oder adverbialer Stellung – eben vollwertige Verben
sind. Wenn man nun davon ausginge, dass diese Numeralen den
strukturellen Kern der Aussage darstellen, dann müsste man z.B. für
adjungiertes bǎi Ⲯ in bǎi lǐ Ⲯ䟼 (B 299) und in bǎi bù Ⲯ↕ (B 315)
zwei Lexeme ansetzen, nämlich eines mit einem durativen Objekt (wel-
ches nur die Masseinheit beinhalten würde!) und eines für eine geo-
metrische Extension (wiederum nur als Masseinheit!). Nicht nur das: für
jede Änderung der Quantität müsste man ein weiteres Lexem ansetzen
(also z.B. wenn die Dauer sich auf 10 oder 1000 Jahre erstreckt oder die
Strecke nur 50 Schritte umfasst). Diese unnötige Vervielfachung der
lexikalischen Einheiten sowie insbesondere das Auseinanderklaffen von
Quantität und Masseinheit lassen sich vermeiden, wenn als Kern des
Lexems die zum Verb derivierten Masseinheiten als Basislexeme ange-
setzt wird, also lǐ 䟼 ‘ein lǐ betragen’ oder bù ↕ ‘einen Schritt machen’,
die jeweils adverbial (multiplikativ) mit einer beliebigen Numeralen
modifiziert werden, also bǎi lǐ Ⲯ䟼 ‘hundert Mal ein lǐ betragen’ oder
bǎi bù Ⲯ↕ ‘hundert Mal einen Schritt machen’.

6.6 Zusammenfassung

Die Ergebnisse dieses Kapitels führen zu einer Bestätigung des Drei-


stufenschemas in seiner Anwendung auf das Verbalgefüge im AC. Das
Schema präsentiert sich wie folgt:

A. Komplemente, d.s. Nominalphrasen, die zu Kasusphrasen abgeleitet


werden, ergänzen das Verb V zu einer Verbalen VL.

Die Anzahl Komplemente richtet sich nach der Valenz des an der
Ableitung beteiligten Verbs. An diesen Stellen sind nominale und
(davon ausgehend) sententielle Strukturen möglich.
Verb und Adverb 285

B. Adverbiale Adjunkte bestimmen Verbale VL näher, ohne aber deren


Status zu verändern. Gemäss dem allgemeinen Stellungsgesetz ste-
hen Adjunkte als modifizierende Elemente vor dem zugehörigen VL.

Das AC kennt zwei Strukturformen:


a. eine sententielle in Form von modifizierenden Adverbialsätzen;
b. eine nominale als funktionale Adverbien.

C. Postverbale Markierungen der Finitheit – als funktionale Entspre-


chungen zur nominalen Determination – existieren nur für den
Aspekt. Die übrigen Determinationen (z.B. Tempus) werden – wenn
überhaupt explizit – adverbial realisiert.

Die Zusammenfassung des Regelwerks führt zur folgenden Übersicht:

(R-1a) Sv → KP + VP
(R-1b) Sn → NP + PSP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → VL (ASP)
(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
(R-4b) NP → (DET) NL (KP)
(R-4c) NP → S
(R-5a) VL → V (KP) (KP)
(R-5b) VL → (PSP) VL
(R-6a) NL → (PSP) NL
(R-6b) NL → N (NP)
(R-7) PSP → NP + PST
7 Satz und Sätze

7.1 Die Satzebene

In den Kapiteln 1 (Grundlegung), 3 (Nominalphrasen) und 6 (Verb und


Adverb) sind die um eine Kernwortklasse organisierten Konstituenten-
gruppen in drei Ebenen zerlegt worden. Diese dreistufige Analyse, die
z.B. in der Nominalgruppe von einer elementaren Ebene des Nomens N
über jene der Nominalen NL bis zur komplexen Ebene der Nomi-
nalphrase NP reicht, hat sich für die Analyse der um die Wortklassen
Nomen und Verb aufgebauten Konstituentengruppen des AC als
deskriptiv und explanatorisch angemessen erwiesen. Da die Kategorie S
keine Wortklasse darstellt, ist keine solche Stufigkeit zu erwarten, wohl
aber sind einige Eigenarten auf der Satzebene zu beschreiben.
Obwohl von zwei grundsätzlich verschiedenen Satztypen ausge-
gangen wird, nämlich Verbalsatz und Nominalsatz, soll auf die For-
mulierung einer Regel der folgenden Art, welche die alternative Ablei-
tung formuliert, verzichtet werden:

(R-1x) S → Sv / Sn

Das nicht näher spezifizierte Symbol S soll aber durchaus als verkürzte
Form verwendet werden, wenn die Differenzierung der Satztypen aus
irgendeinem Grund irrelevant ist.

7.1.1 Satzadverbiale Bestimmungen

Bei den satzadverbialen (kurz: SA) Bestimmungen, welche die tempo-


rale, lokale oder logische Situierung des Satzes anzeigen, also gewisser-
massen das pragmatische Koordinatennetz festlegen, stellt man fest, dass
zwei Positionen im Satz eingenommen werden: In satzinitialer Position
sind etwa die folgenden Realisationsmuster zu finden:
288 Kapitel 7

B 317 иཛѻߐҏ⡦ભѻ Mèng 3B.2


zhàng fū zhī guàn yě fù mìng zhī
Wenn ein Jüngling bekappt wird, gibt ihm (sein) Vater einen
(Lebens)auftrag (oder: einen Namen).
Kommentar: Die temporale SA-Bestimmung ist in der Form
eines voll ausgebildeten Komplementsatzes realisiert. (Für
weitere Beispiele s. B 488 bis B 490.)

B 318 ᱄㘵བྷ⦻ት䛐 Mèng 1B.15; 14.4


xī zhě Tài wáng jū Bīn
In früheren (Zeiten) wohnte der Tài-König in Bīn.
Kommentar: Die temporale SA-Bestimmung ist in der Form
eines Relativsatzes ‘in [Zeiten 㘵], die früher waren’ realisiert.

B 307 ᶡᮇᯬ啺 Mèng 1A.5


dōng bài yú Qí
Im Osten wurde ich von Qí besiegt.
Kommentar: Die lokale SA-Bestimmung ist in der Form eines
einfachen Nomens realisiert.

B 319 ᱟ᭵ཙᆀᴹ‫ޜ‬ Xiāng 14 fù 3 Zuǒ


shì gù tiān-zǐ yǒu gōng
Aus diesem Grunde hat der Himmelssohn Ministerialherzöge.
Kommentar: Die kausale SA-Bestimmung hat die Form eines
von einem Determinanten begleiteten Nomens.

B 320 ᯬᱟᆻ⋫ Xī 9 fù 3 Zuǒ


yú shì Sòng zhì
Daraufhin war Sòng geordnet.
Kommentar: Die temporale SA-Bestimmung ist als Präpositio-
nalphrase realisiert.

Eine zweite Gruppe satzadverbialer Bestimmungen ist in der Regel zwi-


schen Subjekt und Prädikat, seltener vor dem Subjekt positioniert (und
dann meist invertiert), wobei es sich ausschliesslich um Adverbial-
phrasen mit der Markierung yǐ ԕ handelt. Diese decken inhaltlich zwar
das ganze mögliche Spektrum der adverbialen Bestimmungen ab und
reichen strukturell von den einfachen bis zu den komplexen nominalen
Satz und Sätze 289

Formen (Genitiv, Relativsätze, Komplementsätze), aber es scheint den-


noch so zu sein, dass diese Adverbialphrasen die bevorzugte Form für
kausale Inhalte sind (darum wohl die Markierung yǐ ԕ), während andere
adverbiale Modifikationen sich häufiger (z.B. modale und modal-instru-
mentale) oder nahezu immer (z.B. temporale) in der postpositionalen
Form mit ér 㘼 realisiert finden. Dazu einige (z.T. um in diesem Zusam-
menhang unwesentliche Konstituenten gekürzte) Beispieläusserungen
mit realisierten (und in der Umschrift kursiv gesetzten) Adverbial-
phrasen:

B 321 ⦻ԕ൏ൠѻ᭵㌌⡋ަ≁ Mèng 7B.1, gekürzt


wáng yǐ tǔ dì zhī gù mí làn qí mín
(Der Huì-)König (von Liáng) verheizte wegen (seines Wunsches
nach) Boden und Territorium seine Mín.
Kommentar: Die kausal-adverbiale NP besteht hier aus einem
Genitiv.

B 322 ަᕏԕॳ⮍ѻᡠ⭏ Huán 2 fù Zuǒ


qí dì yǐ Qiān-mǔ zhī zhàn shēng
Sein jüngerer Bruder wurde anlässlich der Schlacht von Qiān-
mǔ geboren.
Kommentar: Die temporal-adverbiale NP besteht wiederum aus
einem Genitiv.

B 323 ᱹӪԕ‫ޜ‬нᵍֶ䀾 Wén 2.3 Zuǒ


Jìn rén yǐ gōng bù=cháo lái tǎo
Rén aus Jìn kamen aus Anlass des Nichterscheinens des Patri-
archen bei Hof (in Jìn) (nach Lǔ), um (von ihm) Rechenschaft
zu fordern.
Kommentar: Die kausal-adverbiale NP besteht aus einem binomi-
schen Verbalnomen bù=cháo нᵍ und dem zugehörigen Sub-
jektsgenitiv gōng ‫ޜ‬.

B 324 ‫ޜ‬ᆛ↨⡦ԕ㽴Ԣѻ・‫ޜ‬ҏᴹሥ Xuān 18.9 Zuǒ


gōng sūn Guī-fǔ yǐ Xiāng zhòng zhī lì gōng yě yǒu chǒng
Der Patriarchenenkel Guī-fǔ genoss eine Vorzugsstellung, weil
der Xiāng-medius (d.i. sein Vater) den Patriarchen auf dem
Thron eingesetzt hatte.
290 Kapitel 7

Kommentar: Die kausal-adverbiale NP besteht aus einem voll


ausgebildeten Komplementsatz.

B 325 Ԣቬѻᗂ❑䚃ẃ,᮷ѻһ㘵.ᱟԕᖼц❑ۣ✹. Mèng 1A.7


zhòng-Ní zhī tú wú dǎo Huán, Wén zhī shì zhě. shì yǐ hòu shì wú zhuàn yān.
Unter den Gefolgsleuten des medius-Ní gab es nicht einen, der
das Dienstverhalten des Huán-Patriarchen [von Qí] oder des
Wén-Patriarchen [von Jìn] für richtiges Führungsverhalten hielt.
Deswegen gab es in den Nachfolgergenerationen der Gefolgs-
leute niemanden, der sich ihnen zuwendet.
Kommentar: Die satzinitial und vor dem Subjekt positionierte
kausal-adverbiale NP besteht aus der invertierten Kette shì yǐ
ᱟԕ ‘deswegen’ (< *yǐ shì ԕᱟ ‘wegen dem’).

Satzadverbiale Bestimmungen bestehen zwar aus bisher bekannten


Strukturen (z.B. einfache Nomina, Genitive, Relativsätze, Komple-
mentsätze), d.h. sie verwenden alle bisher eingeführten und kategorial
definierten Wort- und Konstituentenklassen, aber sie gehören funktional
zu einer neuen Kategorie. Sie sind somit von den bereits eingeführten
Kasusphrasen, welche funktional die Argumente eines Verbs repräsen-
tieren, zu differenzieren. Andererseits beschränkt sich das Spektrum der
festgestellten Markierungen interessanterweise soweit ersichtlich auf die
beiden bereits von den Kasusmarkierungen her bekannten Vertreter,
nämlich yú ᯬ und yǐ ԕ. Es zeichnet sich also hier ab, dass die antik-
chinesische Syntax kategorial keinen Unterschied zwischen Argumenten
und Adverbialen macht (vgl. 2.2.6), was der manchmal fliessenden
Grenze zwischen diesen beiden Funktionskategorien durchaus gerecht
wird. Dennoch soll hier aus didaktischen Gründen der systematischen
Versuchung nicht nachgegeben werden (da auch die Funktionalität dar-
stellbar bleiben soll), eine gemeinsame Kategorie für die Markierungen
vorzuschlagen.
In der Struktur der Ableitung muss einerseits auf die grosse Nähe
der beiden funktionalen Kategorien Rücksicht genommen werden,
andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Zuordnung der Kategorie
der Satzadverbialen eben zum Satzknoten erfolgen muss. Dazu sind
fakultativ das funktional-kategoriale Symbol AP (Adverbialphrase,
analog KP Kasusphrase) in den zwei möglichen Positionen und das
kategoriale Symbol A (Adverbialmarker, analog K Kasusmarker) einzu-
Satz und Sätze 291

führen. Es sind also die folgenden Regeln oder Regelanpassungen zu


formulieren:

(R-1a) Sv → (AP) KP (AP) VP


(R-1b) Sn → (AP) NP (AP) PSP
(R-8) AP → A + NP

Analysiert man die als satzadverbiale Bestimmungen vorkommenden


Strukturen in den vorgestellten Belegen, so stellt man fest, dass in allen
Äusserungen mit einer satzinitialen Bestimmung – bis auf Beispiel B
320 – keine Kennzeichnung erfolgt. Die Mehrheit dieser Beispiele
scheint also einer Regel zu gehorchen, wonach satzinitiale Markierungen
– egal, ob sie aus einer Kasus- oder einer Adverbialphrase hergeleitet
sind – getilgt werden. In Beispiel B 320 ist die Bestimmung pronomi-
nalisiert, weshalb wahrscheinlich die Kennzeichnung notwendig wird,
um Ambiguitäten mit anderen Konstruktionen, die mit dem Determi-
nanten shì ᱟ beginnen, auszuschliessen.
In die Baumstruktur umgesetzt ergeben diese Regeln die folgenden
z.T. vereinfachten Darstellungen (für Hinweise auf die verschiedenen
syntaktischen Konstruktionen vgl. man die Kommentare zu den
jeweiligen Beispielen oben):

B 320 ᯬᱟᆻ⋫ Xī 9 fù 3 Zuǒ


yú shì Sòng zhì
Darauf war Sòng geordnet.

Strukturbaum 80

Sv
AP KP VP
A NP V
292 Kapitel 7

B 317 иཛѻߐҏ⡦ભѻ Mèng 3B.2


zhàng fū zhī guàn yě fù mìng zhī
Wenn ein Jüngling bekappt wird, gibt ihm (sein) Vater einen
(Lebens)auftrag (oder: einen Namen).

Strukturbaum 81

Sv
AP KP VP
A NP V KP
S
ø

B 323 ᱹӪԕ‫ޜ‬нᵍֶ䀾 Wén 2.3 Zuǒ


Jìn rén yǐ gōng bù=cháo lái tǎo
Eine Persönlichkeit aus Jìn kam aus Anlass des Nichterscheinens
des Patriarchen bei Hof (in Jìn) (nach Lǔ), um (von ihm)
Rechenschaft zu fordern.

Strukturbaum 82

Sv
NP AP VP
A NP V KP
NL NP
PSP NL S
NP PST
ø

An dieser Stelle ist auf eine Besonderheit hinzuweisen, bei der man u.a.
wegen der zielsprachlichen Äquivalenten versucht sein könnte, sie unter
den temporalen adverbialen Bestimmungen abzuhandeln, nämlich auf
Satz und Sätze 293

Kollokationen mit dem Adverbialnomen hòu ᖼ. Diese Kollokation


scheint so aufgebaut zu sein, dass eine stets mit der Postposition ér 㘼
markierte Postpositionalphrase dem Adverbialnomen hòu ᖼ zugeordnet
ist, wie dies mit dem schon zitierten Beispiel B 315 und dem folgenden
Strukturbaum 83 dargestellt wird:

B 315 ᡆⲮ↕㘼ᖼ→ Mèng 1A.3


huò bǎi bù ér hòu zhǐ
Einige hielten erst nach hundert Schritten an.

Strukturbaum 83

Sv
KP AP VP
NL V
PSP NL
NP PST

Diese Analyse durchbricht in Bezug auf die postpositionalen Markie-


rungen die bisherige strenge Differenzierung zwischen adnominaler (mit
zhī ѻ) und adverbialer Modifikation (mit ér 㘼). Dem Beispiel wäre
ausserdem konsequenterweise zu entnehmen, dass in solcherart konstru-
ierten adverbialen Nebensätzen das realisierte Konstituentensubjekt
ausnahmslos ohne die subjektive Postposition zhī ѻ auftritt – ein
gewichtiger Verstoss gegen eine erwiesene Regel. Vom Regelwerk her
lassen sich zwar (wie eben gezeigt) Strukturen dieser Art im Prinzip sehr
einfach ableiten, aber als “einsame Ausnahme” bleibt diese Analyse
unbefriedigend. Im Vorgriff auf 7.2.2.5 soll hier eine systematische
Alternative zu dieser Analyse vorgestellt werden.
Es ist offensichtlich, dass hier wieder einmal die Homographie uns
den analytischen Blick verstellt: neben der Postposition ér 㘼 gibt es
nämlich auch die adversative KONJUNKTION ér 㘼. Die pragmatische
Wirkung der Kollokation […] ér hòu 㘼ᖼ ist die einer sehr empha-
tischen temporalen Bedingung, die im Deutschen sehr häufig (und
294 Kapitel 7

durchaus adäquat) mit ‘erst wenn …, dann …’ oder ‘sobald …, dann …’


oder Ähnlichem wiedergegeben wird. Das temporale Element, die homo-
graphe Struktur und wohl auch die übersetzerischen Äquivalente, verlei-
ten nun dazu, die Kollokation […] ér hòu 㘼ᖼ ebenfalls als temporale
Bestimmung zu sehen und diese satzadverbial zu interpretieren bzw. zu
analysieren. Nun lässt sich das vorhandene temporale Element durchaus
als ‘erst X, und dann Y’ wiedergeben, womit der Ansatz zu einer kon-
junktionalen Analyse gegeben wäre. Damit lässt sich das Adverbial-
nomen hòu ᖼ problemlos als Satzadverbiale im zweiten Teilsatz des
Satzgefüges ansetzen. Das Satzgefüge seinerseits ist explizit mit der
Konjunktion ér 㘼 gekennzeichnet, wobei diese Konjunktion sowohl in
additiv, adversativ wie auch konzessiv verbundenen Gefügen vorkommt
(vgl. 7.2.2.5). Im angeführten Beispiel B 315 ist die Kette bǎi bù Ⲯ↕
somit analog zu den Adverbialprädikaten (vgl. 6.5) zu analysieren, näm-
lich als binomisches Verb mit einer quantitativen Angabe sowie einer
Angabe mit Masscharakter, also ‘hundert Schritte weit gehen’. Die neue
Strukturanalyse ist aus dem folgenden Strukturbaum 84 zu ersehen:

B 315 ᡆⲮ↕㘼ᖼ→ Mèng 1A.3


huò bǎi bù ér hòu zhǐ
Manche liefen hundert Schritte, hielten dann aber an
Oder: Einige liefen hundert Schritte und hielten dann an.

Strukturbaum 84

S
S KNJ S
AP KP VP
Ø

Schliesslich ist im Zusammenhang mit den modal-instrumentalen Ad-


verbialbestimmungen auf die Gefahr hinzuweisen, die Markierung yǐ ԕ
in bestimmten Äusserungen als finale Konjunktion (= ‘um zu’) zu
analysieren. Eine finale Beziehung zwischen Sätzen oder Satzteilen wird
im AC nicht durch eine Konjunktion gestiftet oder markiert, sondern
unvermittelt durch die Semantik des Verbs oder durch inhaltliche Vor-
Satz und Sätze 295

gaben des Satzes (vgl. Belege B 323 und 7.2.2.3 unten). Die Finalität
entsteht durch die Juxtaposition der Inhalte; eine allfällige Markierung yǐ
ԕ (ein zugeordnetes pronominales Objekt zhī ѻ wird regulär getilgt) ist
also als Spur einer entsprechenden modal-instrumentalen Bestimmung
(oder, seltener, einer Kasusphrase) zu werten, wie im folgenden Beispiel
belegt:

B 326 ᓖൠԕት≁ Lǐ Jì 5.41, 15.1


duó dì yǐ jū mín
(Der Fürst) soll den Boden ausmessen und aufgrund dessen die
Mín ansiedeln.

Strukturbaum 85

S
S S
KP VP KP AP VP
A NP V KP
ø ø ø

7.1.2 Die Subjektsproblematik

Die wohl am häufigsten Tilgungen unterworfene Konstituente im Satz ist


die Subjektskonstituente. Es lässt sich somit in Bezug auf diesen Knoten
mit Recht die Frage stellen, ob die dafür zur Verfügung stehende
Kasusphrase KP nicht – wie die übrigen Kasusphrasen auf der Satzebene
auch – in geklammerter Form in der Regel R-1a erscheinen sollte (das
gleiche würde für die Subjektsnominalphrase in Regel R-1b gelten).
Syntaktisch formuliert hiesse die Frage: Gibt es zerovalente Verben, also
V0 im AC? Sprachtypologisch wäre die Frage nach subjektlosen, in der
generativen Grammatik häufig als “pro-drop” bezeichneten, Sprachen zu
stellen. Sehen wir uns die folgende Beispieläusserung an, die als aus-
sichtsreiche Kandidatin für eine Äusserung mit zerovalentem Prädikat,
somit für die mögliche Absenz der Subjektskonstituente im Antikchine-
sischen gelten kann (man beachte, dass 䴘 hier ein durch *-s-abgeleitetes
296 Kapitel 7

denominales Verb AC *w(r)a-s verschriftet und daher heute im 4. Ton yù


zu lesen ist – im Gegensatz zum Nomen yǔ ‘Regen’ < AC *w(r)a-q):

B 327 н䴘 Xī 3.4 Zuǒ


bù yù
(Es) regnet nicht.

Bei dieser Äusserung ist also die Subjektsposition nicht besetzt – aber ist
das Subjekt getilgt oder systematisch nicht-existent? Das deutsche ‘es’
ist ein Platzhaltersubjekt (engl. dummy subject), denn man kann auch im
Deutschen ein Subjekt angeben: ‘der Regen regnet’, evtl. ‘der Himmel
regnet’. Das Unbehagen, welches man bei diesen Beispielen allenfalls
empfindet, hängt nicht so sehr damit zusammen, dass die Subjekte falsch
gewählt wären, sondern mit der Tatsache, dass sie so selbstverständlich
sind, dass ihre Erwähnung eine besondere, markierte Wirkung hervor-
ruft, wie dies in den folgenden AC-Äusserungen auch der Fall ist:

B 328 ཙѳ䴘 Shǐ Jì 30


tiān nǎi yù
Darauf regnete der Himmel.

Dass tiān ཙ hier nicht als Lokativ ‘am Himmel (regnete es daraufhin)’
zu analysieren ist, sondern eher als (agentivisches) Subjekt, wird durch
das nächste Beispiel nahegelegt:

B 329 ੮н㜭ԕ༿䴘䴘Ӫ Shuì Yuàn 5.24


wú bù néng yǐ xià yǔ yù rén
Ich kann nicht den Sommerregen (xià yǔ) auf die Menschen
regnen lassen / machen (yù).

Die Armut an Belegen lässt allerdings einen ziemlichen Spielraum offen,


ob nämlich lokativische oder agentivische Funktionen anzusetzen sind.
Je enger aber die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat ist, je stärker
sie, wie in dieser figura etymologica, sogar den phonetischen Aspekt
miteinbezieht, umso grösser ist der stilistische Effekt ihrer Realisierung.
Die Tatsache ferner, dass Verben wie ‘regnen’ ohne weiteres metaphori-
siert werden und sogar die Realisierung eines Objektes zulassen, lässt
Satz und Sätze 297

auch für das AC die These von der Subjektlosigkeit gewisser Sätze un-
brauchbar erscheinen:

B 330 䴘㷭Ҿᆻ Wén 3.5 Zuǒ


yù zhōng yú Sòng
(Es) regnet Heuschrecken auf Sòng.

Zusammenfassend muss also die Ableitung von B 327 wie folgt aus-
sehen (der Knoten für die Subjektskonstituente darf nicht fehlen; gewisse
Belege zeigen, dass yù sogar ein zweiwertiges lokativisches Verb ist,
z.B. Xiāng 19.4 Zuǒ mit der Kette 䴘✹ ‘auf sie regnen’):

Strukturbaum 86

Sv
KP VP
neg VP KP
Ø Ø

7.1.3 Sprechaktmarkierungen

Sprachliche Kommunikation, die in einem gegebenen situativen Kontext


stattfindet, hat einen sozialen Handlungsaspekt, den man am Vollzug
von sogenannten Sprechakten beobachten kann. Sprechakte können
Fragen, Befehle, Zustimmung usw. sein. Sie stellen zwar keine
grammatischen Kategorien dar, bedienen sich aber vorzugsweise
gewisser grammatischer Formen. So werden Fragen meist in Satzformen
realisiert, die entweder durch Fragepronomina, interrogative Intonation
oder durch explizite Fragewörter gekennzeichnet sind – aber nicht aus-
schliesslich so, denn manche Äusserungen sind pragmatisch als Fragen
zu interpretieren, obwohl ihnen offensichtliche Fragemarkierungen feh-
len (‘Ich habe doch recht?’). Als methodische Regel lässt sich somit
formulieren:
298 Kapitel 7

Im Rahmen der philologischen Übersetzungs- und Deutungsarbeit


ist dieser pragmatische Aspekt von Texten unbedingt zu beachten;
er lässt sich allerdings nicht ohne weiteres an einzelnen Beispiel-
äusserungen illustrieren, sondern setzt ein (wachsendes) Gefühl für
den Text als Gesamtheit, als Handlung voraus.

Im Folgenden sollen einige deutlich fassbare Aspekte der Frage, der


Interjektion und der Negation zur Sprache kommen. Was das Regelwerk
anbetrifft, so gibt es für Frage und Interjektion nicht nur eine klare
satzfinale Normalposition für den jeweiligen Knoten SM (das Katego-
rialsymbol für die SprechaktMarkierungen), sondern auch die Markie-
rungen sind weitgehend identisch (so z.B. hū Ѿ für Frage oder Interjek-
tion). Dennoch können Interjektionen auch an anderen Stellen auftreten.
Bei der Negation gibt es eine Normalposition vor dem Verb bzw. der
Prädikatsnominalphrase, aber dieses Element ist im Rahmen von Beto-
nungs- und Kontraststrategien wesentlich beweglicher und kann auch an
anderen Stellen des Satzes platziert sein. Da die Sprechaktmarkierungen
an verschiedenen Stellen in Äusserungen (in der Regel an Zäsurstellen)
in Erscheinung treten, wäre deren Einbau in das Regelwerk nicht nur
unökonomisch, sondern würde auch suggerieren, dass diese Markierun-
gen syntaktischer Natur wären. Da die Setzung der Sprechaktmarkie-
rungen nach pragmatischen Regeln erfolgt, d.h. nach den Bedürfnissen
der Sprechsituation (man vgl. das Verhalten der Interjektionen und
besonders der Negationen), ist deren Einführung in den Satz bzw. in die
Äusserung besser über Transformationen bzw. Kontextoperatoren zu
steuern. Es muss daher auf die Formulierung von Regeln bzw. Regel-
erweiterungen verzichtet werden.

7.1.3.1 Frageformen
Bei den Fragen unterscheidet man pragmatisch zwischen den Ja / Nein-
Fragen und den materiellen Fragen. Die Ja / Nein-Fragen werden im AC
durch das Hinzufügen des satzabschliessenden Fragewortes

Ѿ hū ‘?’

am Ende der unveränderten Aussage gebildet, welches Ähnlichkeiten mit


dem Neuchinesischen ma ௾ aufweist. Zum Beispiel:
Satz und Sätze 299

B 331 ⦻䁡ѻ
wáng xǔ zhī
Der König erlaubt es. Aussage, Feststellung

B 332 ⦻䁡ѻѾ
wáng xǔ zhī hū
Erlaubt es der König? Frageform

Die Antwort auf solche Fragen wird in der Regel durch Wiederholung
des positiven oder negierten verbalen Kerns der Aussage, d.h. im beja-
henden oder ablehnenden Sinne, gebildet:

B 333 䁡ѻ
xǔ zhī
Er erlaubt es. Zustimmung

B 334 н䁡
bù xǔ
Er erlaubt es nicht. Verneinung, Ablehnung

Zustimmung bzw. Verneinung (zum Verschwinden des Objektspro-


nomens zhī ѻ vgl. 7.1.3.3 unten) kann auch durch die folgenden zwei
Proprädikate (vgl. 8.2) zum Ausdruck gebracht werden:

❦ rán ੖ fǒu
‘es ist so; ja’ ‘es ist nicht so; nein’

Etymologisch gesehen sind diese Proprädikate auf verschiedene Weise


entstanden. Im Fall von ❦ rán handelt es sich um einen durch Suffigie-
rung von *-n auf der Grundlage von rú ྲ ‘es kommt dazu’ als durativ-
kontinuativ markierten Einwortsatz ྲ *na-n ‘es ist dazu gekommen’ →
‘es ist so (geschehen)’ (vgl. Kap. 10.5.3 (d)); im Falle von ੖ fǒu handelt
es sich um die durch *-q-Suffigierung als nicht-enklitisch und mithin
offenbar “satzfähig” ausgezeichnete Form ੖ *pə-q auf Grundlage der
abhängigen Verbnegation н *pə (vgl. Kap. 8.1.3 und 10.5.3 (e)). In die-
ser Funktion ähnelt fǒu ੖ dem in manchen Mandarindialekten mögli-
chen modernchinesischen Gebrauch von bú н (im zweiten Ton) ohne
Verb.
300 Kapitel 7

Das Fragewort hū Ѿ ist einerseits eine Markierung auf der Ebene des
Satzes, andererseits erscheint es stets in Satzendstellung. In den
folgenden Strukturdarstellungen ist also der Knoten SM nicht von den
Konstituentenstrukturregeln erzeugt, sondern nachträglich über eine
entsprechende Transformation eingefügt:

B 332 ⦻䁡ѻѾ
wáng xǔ zhī hū
Erlaubt es der König? Frageform

Strukturbaum 87

Sv
KP VP SM

Neben dieser Normalform der Frage gibt es auch die vom Modernchine-
sischen her bekannte Bildung von Alternativfragen sowie von indirekten
Fragen. Diese Formen sind ebenfalls das Resultat einer Transformation,
welche eine Kopie der Verbalphrase mit eingefügter Negation herstellt –
ein Vorgang, der sich nicht von den Basisregeln syntaktisch generieren
lässt. Man beachte die Veränderungen, die bei den folgenden zwei Bei-
spielen auftreten (mit je zwei Strukturdarstellungen illustriert):

B 335 ⦻䁡ѻ੖
wáng xǔ zhī fǒu
Erlaubt es der König oder (erlaubt er es) nicht?

Strukturbaum 88

Sv
KP VP
VP VP
Satz und Sätze 301

Die kopierte und negierte Verbalphrase (das Pronomen zhī ѻ bleibt in


der Tiefenstruktur trotz der Negation bù н erhalten) wird durch die
proprädikative Negativform fǒu ੖ substituiert:

Strukturbaum 89

Sv
KP VP
VP VP

Das zweite Beispiel lautet:

B 336 ᵚ⸕⇽ѻᆈ੖ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.48


wèi zhī mǔ zhī cún fǒu
(Ich) weiss seither nicht, ob (meine) Mutter lebt oder nicht.
(strukturnah: vom Leben oder Ableben meiner Mutter)

Die zugrundeliegende Struktur (mit Auflösung der proprädikativen Form


fǒu ੖ in die Kette mǔ zhī bù=cún ⇽ѻнᆈ mit dem suffigierten
Verbalnomen bù=cún нᆈ als Kern) lässt sich wie folgt darstellen:

Strukturbaum 90

Sv
KP VP
VL
neg V KP
KP KP
ø

Auch im Rahmen der Nominalkomplementierung mit Verbalnomen oder


im Rahmen des indirekten Fragesatzes lässt sich also die Alternativfrage
302 Kapitel 7

bilden, wie das Belegbeispiel B 336 ja zeigt. Die realisierte Form stellt
sich wie folgt dar:

Strukturbaum 91

Sv
KP VP
VL
neg V KP
KP KP
ø

Das Fragewort hū Ѿ kann mit bestimmten postpositionalen Prädikats-


markierungen PST phonetische Verbindungen eingehen, d.h. Fusions-
zeichen bilden (vgl. 8.3). Dies lässt sich mit Bestimmtheit beim inter-
rogativen Nominalsatz ansetzen:

B 337 㡌Ӫ㠷
Shùn rén yú
War Shun ein Rén?

Strukturbaum 92

Sn
NP PSP SM
NP PST

Der Knoten SM wird nicht über eine Konstituentenstrukturregel einge-


führt, sondern durch eine Transformation (Umbau der indikativen
Grundstruktur in eine interrogative etc.). Ausgehend von dieser
oberflächenstrukturell gelegentlich realisierten Grundstruktur (z.B. im
Zuǒ Zhuàn), in der die postpositionale Prädikatsmarkierung yě ҏ und
Satz und Sätze 303

der Frageanzeiger hū Ѿ unmittelbare Nachbarn sind, wird meist durch


phonetische Zusammenführung der beiden Wörter das FUSIONSZEICHEN
yú 㠷 gebildet (vgl. 8.3, Abschnitt D):

Strukturbaum 93

Sn
NP PSP SM
NP PST

Die materielle Fragestellung ist – entsprechend den Sinneinheiten, die


erfragt werden können – sehr vielfältig. Formal wichtig ist, dass bei Vor-
handensein eines der folgenden Fragewörter keine zusätzliche satzfinale
Sprechaktmarkierung (etwa mit dem Fragewort hū Ѿ) erfolgt. Das allge-
meine Fragewort

օ hé ‘was (substituierend)? welches N (modifizierend)?’

bezieht sich generell auf sächliche bzw. abstrakte Referenten. Es kann


sowohl selbständige (Nominalsubstitution) wie auch modifizierende
(Modifikation) Elemente ersetzen. Z.B.:

B 338 օ‫ݸ‬৫ Lùn Yǔ 12.7; 5.3


hé xiān qǔ
Welches / was soll die Regierung zuerst aufgeben?
Kommentar: hé օ substituiert für den erfragten Referenten, das
hier das grammatische Objekt ist.

B 339 օӪҏ Mèng 2B.9


hé rén yě
Was für ein Mensch ist er?
Kommentar: hé օ steht für die erfragte Modifikation.
304 Kapitel 7

Bei Personen wird

䃠 shuí ‘wer?’

benutzt, das aus einer interrogativen Form der antikchinesischen nicht-


indikativischen Kopula entstanden ist (AC *m-tə-wuj), doch im AC
bereits weitgehend zum Personalpronomen grammatikalisiert war. Wie
hé օ kann es in beiden Verwendungsarten auftreten. Z.B.:

B 340 㘼䃠ԕ᱃ѻ Lùn Yǔ 18.6; 23.14


ér shuí yǐ yì zhī
Aber wer wird sie damit ändern?
Kommentar: Der Kontext, der eine “Methode” zur Änderung des
Reiches referiert, legt nahe, yǐ ԕ als Kasusmarkierung eines
Modals ‘auf diese Weise’ zu analysieren und nicht als “inver-
tierten” (d.h. klitisierten) Instrumental- oder Kausal-Marker shuí
yǐ 䃠ԕ (analog zu ᱟԕ, օԕ, vgl. unten).

Das Fragepronomen

ᆠ shú ‘wer / welches (aus einer Anzahl / sonst)?’

bezeichnet Personen und Sachen. Es kommt häufig in rhetorischen Fra-


gen vor, seiner Herkunft als durch *-k als distributiv markiertem Prono-
men (vgl. Kap. 10.5.3) entsprechend, besonders bei einer Wahl zwischen
zwei Möglichkeiten.

B 341 ᆠ㠷ѻ Mèng 5A.5; 20.3


shú yǔ zhī
Wer sonst gab sie ihm?

Für substituierende Fragewörter gelten die folgenden Stellungsregeln:

a. Ohne Markierung sind sie in der Regel präponiert, d.h. sie stehen
meist vor dem das erfragte Element regierenden Verb, und zwar mit
Vorliebe in der Subjektsstellung (vgl. Beispiel B 338 oben);
b. Ist das erfragte Satzglied mit einer Kasus- oder Adverbialmarkie-
rung versehen, so klitisieren sie in Zweitstellung an das Fragewort
Satz und Sätze 305

(wie übrigens im Deutschen auch) zusätzlich noch mit der entspre-


chenden Markierung, z.B.:

B 342 օԕ࡙੮഻ Mèng 1A.1


hé yǐ lì wú guó
Womit (wo-mit) nützt Ihr meinem Land?

Modifizierende Fragewörter bleiben gemäss dem allgemeinen Stellungs-


gesetz vor dem modifizierenden Element (vgl. Beispiel B 339 oben).

7.1.3.2 Interjektionen
Die Interjektionen im AC nehmen, wie das Fragewort hū Ѿ (zu dem es
ja auch die homographe Ausrufeinterjektion hū Ѿ gibt) in der Regel
eine satzfinale Position ein. Sie lassen sich also in Bezug auf ihre trans-
formationelle Eingliederung weitgehend in der gleichen Art und Weise
behandeln. Z.B.:

B 343 ழૹ Lùn Yǔ 12.11; 1.3


shàn zāi
Ausgezeichnet !!

Interjektionen kommen auch an satzinternen Zäsurstellen vor; diese Po-


sitionen sind insbesondere Ausdruck pragmatischer, auf den Gesprächs-
partner oder die Situation bezogener Konnotationen (Fokus, Betonung
usw.). Dieser Strategie entsprach im Altchinesischen prosodisch die
Hervorhebung durch den Silbentyp A (vgl. Kap. 10.3.2), dem fast alle
primären (d.h. weitgehend: nicht transparent aus Verben grammatikali-
sierten) Interjektionen angehören (vgl. z.B. hū Ѿ < *ɦɦa, hū બ < *xxa,
qǐ 䉸 < *kkhəj-q, wū 匤 < *ʔʔa, xī ‫* < ޞ‬ɦɦe, zāi ૹ < *ttsə usw.). Im
folgenden Beispiel ist das übergeordnete Kernnomen des Objektsatzes
mit der pronominalen Form shì ᱟ realisiert und mit der Interjektion zāi
ૹ versehen worden; der Objektsatz ist in der Komplementform:

B 344 ᴹᱟૹᆀѻ䗲ҏ Lùn Yǔ 13.3; 24.4


yǒu shì zāi – zǐ zhī yū yě
Und das kommt vor! – dass Sie, Junker, (so) vom Weg abkom-
men (d.h. an der Realität vorbeigehen)!
306 Kapitel 7

Strukturbaum 94

Sv

KP VP
V KP
NL
N NP
N SM

7.1.3.3 Negationen
Die Schwierigkeiten, welche die grammatische Beschreibung des syn-
taktischen Verhaltens der Negationen immer wieder bietet, hängt damit
zusammen, dass sie zwar auf der grammatischen bzw. syntaktischen
Ebene realisiert, dass sie aber gerade beispielsweise in Bezug auf ihre
Stellung im Satz von der pragmatischen Ebene aus gesteuert werden.
Eine besondere Folge daraus ist die Tatsache, dass Negationen einen
sogenannten Skopus aufweisen, d.h. sie können Ketten unterschiedlicher
Länge in einem Satz negieren. Die Äusserung ‘Ich werde Ihnen das nicht
erklären’ und die lediglich durch die Stellung der Negation sich
abhebenden (aber aus anderen situativen Kontexten stammenden) Äusse-
rungen ‘Ich werde Ihnen nicht das erklären’ oder ‘Ich werde nicht Ihnen
das erklären’ sollen dies illustrieren (mehr dazu in 8.1.2). Wir werden
hier also davon ausgehen, dass die Negation als Knoten NEG in einen
bestehenden Strukturbaum hineinkopiert wird und dass die jeweilige
Position in einer Äusserung durch pragmatische Entscheide des Spre-
chers (über Transformationen oder Kontextoperatoren) gesteuert werden.
Im folgenden sollen die wichtigsten Negationen charakterisiert werden.
Die Negationen im AC fallen in zwei deutlich getrennte (und ungleich-
gewichtige) Gruppen: Negationen im Verbalsatz und die Negation im
Nominalsatz.
Satz und Sätze 307

1. Die generelle Negation des Verbalsatzes geschieht mit der Negation

н bù ‘nicht (V)’

Zum Beispiel:

B 345 ཧᆀнֶ Mèng 3A.5


Yí zǐ bù lái
Junker Yí soll nicht kommen.

B 346 ⦻н㾻㠓
wáng bù jiàn chén
Der König empfängt den Lehnsmann nicht.

Strukturbaum 95

Sv

KP VP
neg VL
V KP

Bei di- und trivalenten Verben ist zu beachten, dass bei Negierung mit
bù н und gleichzeitiger Pronominalisierung des direkten Objektes mit
zhī ѻ das pronominalisierte Objekt praktisch ausnahmslos getilgt wird.
Z.B.:

B 347 ⦻н㾻
wáng bù jiàn (zhī)
Der König empfängt (ihn) nicht.

Man vergleiche das folgende Äusserungspaar:

B 348 ੮ᕏࡷᝋѻ Mèng 6A.4


wú dì, zé ài zhī
Was meinen jüngeren Bruder angeht, so liebe ich ihn.
308 Kapitel 7

Kommentar: Das Pronomen zhī ѻ markiert die Stelle des


präponierten Objektes wú dì ੮ᕏ; es handelt sich hier um eine
emphatische, pseudo-konditionale Spaltsatzkonstruktion.

B 349 〖Ӫѻᕏࡷнᝋҏ Mèng 6A.4


Qín rén zhī dì, zé bù ài [zhī] yě
Was den jüngeren Bruder einer Person aus Qín angeht, so bin ich
einer, der [ihn] nicht liebt.
Kommentar: Aufgrund der Parallelität mit Beispiel B 348 ist
wegen der Negation bù н ein getilgtes Objektspronomen zhī ѻ
anzusetzen.

Dass die derart realisierte monokomplementäre Äusserung u.U. mehr-


deutig sein kann, ist in 2.4.3 oben bereits erwähnt worden. Das AC kennt
noch eine Reihe von Negationen des Verbalsatzes, die in ihrer
Anwendung und in ihrer Bedeutung spezifischer sind als die generelle
Negation bù н. Im archaischen Chinesischen der Inschriften liessen sich
die meisten Negationen orthogonal zur eben eingeführten Unterschei-
dung in Nominal- und Verbalsatznegationen noch weiter systematisch
differenzieren, je nachdem ob sie eine neutrale Aussage verneinten
(indikativ), einen negativen Befehl oder Wunsch ausdrückten (injunktiv),
bzw. ob die negierte Verbalhandlung als der Kontrolle des Agens oder
Sprechers unterworfen (volitional) oder entzogen (objektiv) empfunden
wurde. Hierbei wurde die Achse indikativisch vs. injunktivisch durch
den Negationsanlaut *p- vs. *m-, die Achse volitional vs. objektiv durch
den Negationsauslaut *-t vs. *-Ø markiert. Reste dieser symmetrischen
Kontraste sind auch noch im AC erhalten, bilden aber wohl kein systema-
tisches Paradigma mehr.

2. Da das bei der Erörterung der Kausativkonstruktion analysierte


negative Kausativum, also das Verb

ᕇ fú (< AC *pə-t) ‘nicht veranlassen / verhindern, dass X’

Eigenschaften aufweist, die es mit den Negationen verbindet, soll


hier eine Strukturanalyse vorgelegt werden: Wir gehen davon aus,
dass fú ᕇ der Kette bù shǐ н֯ ‘nicht veranlassen’ entspricht (dies
ist allerdings ein Vorgang innerhalb des Lexikons, also eine Lexika-
Satz und Sätze 309

lisierung, und nicht der Syntax). Da kausative Verben per Definition


dem Willen eines veranlassenden Agens unterworfen sind, ist davon
auszugehen, dass die hier angesetzte syntaktische Struktur letztlich
eine analytische Reformulierung der im AC synchron nicht mehr
transparenten volitionalen (*-t) Morphologie des Antikchinesischen
darstellt. Eine Beobachtung, die fú ᕇ z.B. mit der Negation bù н
verbindet, ist die Tatsache, dass nach fú ᕇ pronominalisierte Kon-
stituentensatzsubjekte ausnahmslos fehlen. In solchen Fällen ist
anzunehmen, dass das Subjekt (wie bei bù н) das getilgte Pro-
nomen zhī ѻ ist. Man vergleiche die folgende Reihe:

B 350 ⦻⸕ѻ
wáng zhī zhī
Der König weiss es.

Das Beispiel B 350 wird anschliessend in eine übergeordnete, negierte


Kausativstruktur eingebettet:

B 351 㠓н֯⦻⸕ѻ
chén bù shǐ wáng zhī zhī
Der Lehnsmann lässt den König es nicht wissen.

Strukturbaum 96

Sv

KP VP

neg VL

V NP KP
NL

N NP/S

ø ø ø

Pronominalisiert man nun das Nebensatzsubjekt wáng ⦻ in Beispiel B


351 mit dem Objektspronomen zhī ѻ (das Nebensatzsubjekt nach shǐ ֯
310 Kapitel 7

wird bekanntlich zum Objekt des Hauptsatzes, vgl. Strukturbaum 58), so


muss mit diesem gemäss der oben gemachten Feststellung, dass das
Objektspronomen zhī ѻ nach der Negation bù н regulär getilgt wird,
entsprechend verfahren werden. Interessanterweise – und in Bestätigung
der hier vorgelegten Analyse – sind Beispiele mit der Kette bù shǐ (zhī)
н֯ѻ (NB: mit pronominalem zhī ѻ!) ausgesprochen selten, dagegen
sind die zahlreichen Beispiele mit fú ᕇ genau auf diesem Hintergrund
so interpretierbar. Dazu kommt, dass der Ansatz eines Nebensatzes
schlüssig erklärt, warum nach fú ᕇ pronominalisierte Objekte vorkom-
men können und dürfen: diese fallen nämlich nicht mehr unter den
Wirkungsbereich (Skopus) von fú ᕇ, weil sie noch im Komplementsatz
angesiedelt sind. Zum Beispiel:

B 352 㠓ᕇ⸕ѻ
chén fú zhī zhī
Der Lehnsmann lässt (ihn) es nicht wissen.

Strukturbaum 97

Sv

KP VP

VL

V NP KP
NL

N NP/S

ø ø ø

Man vergleiche die folgenden Belegäusserungen:

B 353 ੮ᕇᮜᆀ⸓ Zhuāng 11.4 Zuǒ


wú fú jìng zǐ yǐ
Ich weigere mich, Sie, mein Herr, zu respektieren.
Oder: Ich bin nicht veranlasst, Sie, mein Herr, zu respektieren.
Satz und Sätze 311

Kommentar: Man beachte das Objekt zǐ ᆀ zum Verb jìng ᮜ,


die sich beide im Komplementsatz befinden; d.h. eine Pronomi-
nalisierung von zǐ ᆀ mit dem Pronomen zhī ѻ würde sichtbar
bleiben.

B 354 䶎⿞ѻ⿞ […] བྷӪᕇ⛪ Mèng 4B.6


fēi lǐ zhī lǐ […], dà rén fú wéi [zhī]
Bei Riten, die falschem rituellem Verhalten entsprechen […], da
weigern sich bedeutende Persönlichkeiten, sie auszuführen.
Kommentar: Die pronominale Kopie zhī ѻ des präponierten
Objekts fēi lǐ zhī lǐ 䶎⿞ѻ⿞ ist getilgt.

B 355 ㍐䳡㹼ᙚ […] ੮ᕇ⛪ѻ⸓ Zhōng Yōng 11


sù yǐn xìng guài […] wú fú wéi zhī yǐ
In Unbekanntheit leben und Merkwürdigkeiten praktizieren […]
– ich weigere mich, das zu tun.
Kommentar: Die pronominale Kopie zhī ѻ im Komplementsatz
(Objekt zu wéi ⛪) ist realisiert.

Es ist wichtig festzuhalten, dass die Reichweite der hier vorgestellten


Erklärungen zu den Negation sich (synchron) auf die antikchinesische,
d.h. zhànguó-zeitliche Situation bezieht. Die Komplexität des archai-
schen Paradigmas der Negationen (S. 308) und die vielen diachronen
Veränderungen darin, lassen vermuten, dass in diesem Bereich nicht nur
Reinterpretationen und Neuerungen, sondern auch Archaismen zu
erwarten sind (d.h. dass in gewissen Fällen fú ᕇ doch als bù zhī нѻ
oder die Nominalnegation fēi 䶎 als bù wéi нୟ~ᜏ~㏝ zu analysieren
sind, s. unten).

3. Die Negation

ᵚ wèi (< AC *mə-t-s)

beinhaltet eine zeitliche Komponente. Die Äquivalente im Deut-


schen sind: ‘(noch) nie’, ‘(noch) nicht’, ‘(seither) nicht’, ‘bevor’. Da
die phonologisch ansonsten mit der volitional-injunktivischen
Negation wù य (< AC *mə-t) identische Form im
Antikchinesischen zusätzlich durch das beim Verb den perfektiven
312 Kapitel 7

Aspekt markierende *-s-Suffix erweitert ist, liegt die Vermutung


nahe, dass diese zeitliche Komponente ursprünglich auch
morphologisch markiert war. Dass das Suffix an eine injunktivische
Basis tritt, ist gegebenenfalls darin begründet, dass eine ‘(noch)
nicht’ eingetretene Handlung a priori nicht indikativisch i.S. von
faktisch real sein kann. Als Eigenart ist zu vermerken, dass bei
dieser Negation das pronominalisierte Objekt zhī ѻ nicht nur nicht
getilgt, sondern häufig auch invertiert wird, und zwar in die
zwischen Negation und Verb liegende Position (vgl. dazu 8.1.2).
Zum Beispiel:

B 356 ᵚѻᴹҏ Mèng 1A.3


wèi zhī yǒu yě
(Das) hat es noch nicht / nie gegeben.

4. Die Negationen

⇻ wú (< AC *mə), य wù (< AC *mə-t) und ❑ wú (*ma)

haben eine adhortativ-injunktivische, bzw. imperativische Bedeu-


tung: ‘nicht (sollen / lassen / dürfen).’ Sie kommen darum am
häufigsten vor den Verben wie lìng Ԕ ‘befehlen’ und yù Ⅲ ‘wün-
schen’ vor. Die beiden Formen scheinen so differenziert zu sein,
dass wú ⇻ analog zu bù нdie generelle (morphologisch objektive)
Form darstellt, während wù य eine kausative (morphologisch
volitionale) Form analog zu fú ᕇ ist, also funktional als wú shǐ
⇻֯ vor pronominalem (getilgtem) zhī ѻ zu interpretieren ist. Die
Form wú ❑ schliesslich scheint manchmal eine Schreibvariante zu
wú ⇻ zu sein. Sie fällt durch den abweichenden Vokalismus aus
dem altchinesischen morphologischen Paradigma der Negationen
und dürfte daher, wenn im injunktivischen Gebrauch belegt,
lediglich eine dialektale Variante von ⇻ wú sein. Vgl. zum
Beispiel:

B 357 ⇻੮ԕҏ Lùn Yǔ 11.24


wú wú yǐ yě
Seid solche, die mich (nun) nicht (für älter) halten!
Satz und Sätze 313

B 358 ⇻৻нྲᐡ㘵 Lùn Yǔ 9.25


wú yǒu bù rú jǐ zhě
Schliesse nicht Freundschaft mit einem, der nicht so gut ist wie
man selbst!

B 359 ⦻䃻य⯁ Mèng 1A.5


wáng qǐng wù yí
Ihr, König, seid gebeten, es keine Zweifel (in Euch) wecken zu
lassen!

B 360 य㚭 Mèng 1B.7


wù tīng
Weigern (Sie sich), darauf zu hören!
Machen (Sie) nicht, dass (Sie) darauf hören!

5. Die Verneinung im Nominalsatz geschieht mit der Negation fēi 䶎,


die zwischen Subjekts- und Prädikatsnominalphrase eingefügt wird.
Etymologisch gesehen handelt es sich dabei um eine mit dem aus
den indikativischen Verbnegationen bekannten *pə- versehene Form
der archaischen Kopula *(tə-)wuj (verschriftet belegt als zhuī 䳩
bzw. wéi ୟ~ᜏ~㏝). Die postpositionale Prädikatsmarkierung yě
ҏ steht in aller Regel auch in der negierten Äusserung. Zum
Beispiel:

B 361 㡌䶎Ӫҏ nach Mèng 4B.28


Shùn fēi rén yě
Shùn war nicht ein Rén.

B 362 䶎䓛ѻᡰ㜭⛪ҏ Mèng 1B.15; 14.18


[qǔ shì shǒu] fēi shēn zhī suǒ néng wéi yě
(Ein Erblehen aufgeben) ist nicht etwas, das eine Einzelperson
zu tun vermag.

B 363 㠓ֽੋᇤ䙾й⡥䶎⿞ҏ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.41


chén shì jūn yàn, guò sān jué, [zé shì] fēi lǐ yě
Macht der Vasall dem Lehnsherrn bei einer Einladung seine
Aufwartung und geht er über drei jué-Pokale Wein hinaus, so ist
das nicht ritualkonformes Verhalten.
314 Kapitel 7

Im folgenden Beispiel wird in der Regel angenommen, dass die postposi-


tionale Prädikatsmarkierung yě ҏ fehle, aber da fēi 䶎 auch von der
Negation hergeleitete Verben verschriftet, ist das keineswegs immer so
einfach zu entscheiden:

B 364 ⲭ俜䶎俜 Gōngsūn Lóng


bái mǎ fēi mǎ [yě]
Ein weisses Pferd ist kein Pferd.
Oder: ‘Weisses Pferd’ schliesst (= verneint) ‘Pferd’ aus.

Es ist zu unterstreichen, dass fēi 䶎 nicht nur einfache Nominalsätze,


sondern auch komplexe Nominalsätze (vgl. 5.2, 4.2.2 und 4.2.3) negiert.
Das kann zu einer anfänglich verwirrenden Häufung von Negationen
führen, zum Beispiel wenn die Prädikatsnominalphrase als generischer
Relativsatz ausgebildet ist:

B 365 ⊐䶎н⊸ҏ Mèng 2B.1


chí fēi bù shēn yě
Der (Stadt)graben ist nicht (fēi) etwas, das nicht (bù) tief ist.

Strukturbaum 98

Sn
NP PSP
neg PSP
NP PST
NL
PSP NL
NP PST
S

ø ø
Satz und Sätze 315

Im Einklang mit ihrer syntaktischen Funktion, nämlich der Negation


einer Nominalphrase, kann fēi 䶎 offenbar auch satzintern Nominal-
phrasen negieren, d.h. der Skopus der Negation ist auf diese eine
Nominalphrase beschränkt (diese Möglichkeit – und noch andere – muss
man bedenken, wenn fēi 䶎 realisiert ist und yě ҏ fehlt!). Es scheint, als
ob in diesen Fällen die altchinesische Funktion einer satzeinleitenden
negierten Kopula (*pə-(tə-)wuj, ‘es ist nicht so, dass’) noch besonders
greifbar geblieben ist. Vgl. z.B.:

B 16 䶎ᡁ⭏Ҳ Zhāo 27.3 Zuǒ


fēi wǒ shēng luàn
Nicht ich habe die Unordnung erzeugt.

Strukturbaum 99

Sv
KP VP
neg KP V KP

7.2 Satzgefüge

Die Notwendigkeit, komplizierte Sachverhalte und Argumentations-


zusammenhänge zum Ausdruck zu bringen, hat zur Entwicklung von
Satzverknüpfungsmustern geführt, die so weit abstrahiert sind, dass sie
auf eine Vielzahl von Beziehungen zwischen Aussagen und Äusserun-
gen angewendet werden können. Syntaktisch gesehen sind es Konjunk-
tionen, die Sätze zu Satzgefügen zusammenbinden, wobei einige der
traditionell dieser Wortklasse zugeteilten Lexeme im AC eigentlich
zweistellige verbale Prädikate sind, die Sätze dominieren können. So
kann man etwa die Folgebeziehung ‘wenn A, dann B’ auch durch einen
verbalen Ausdruck ersetzen: ‘dass A, impliziert, dass B’ oder ‘dass A,
verursacht, dass B’. Im Folgenden soll jedoch nur von den echten Kon-
316 Kapitel 7

junktionen und Satzgefügen die Rede sein, also von solchen, die
strukturell Teilsätze verbinden.

7.2.1 Konjunktionen

Eine Folge der Forderung (vgl. 3.5.2), konjunktionale Verknüpfungen


seien auf der ihr adäquaten Ebene anzusetzen, ist eine konsequentere
Beschreibung der Satzgefüge und Konjunktionen. Beispielsweise wird
die Funktion der Konjunktion

ф qiě ‘überdies, ausserdem, und’

bekanntlich als die einer koordinierenden Verbindung verbaler


Prädikate, insbesondere Verben, beschrieben. Damit wird meist an
Äusserungen der folgenden Art gedacht:

B 366 ⴞཧ䮧фӱ Xī 8 fù 2 Zuǒ


Mù-yí zhǎng qiě rén
(Patriarchensohn) Mù-yí ist älter und (überdies) rén-konform.

Damit wird an eine Verkettung auf einer Ebene der Verbalgruppe ge-
dacht. In die Terminologie des vorliegenden Grammatikmodells über-
setzt ergeben sich so die folgenden Kombinationen:

V + KNJ + V
VL + KNJ + VL
oder VP + KNJ + VP.

Äusserungen dieser Art sind aber weder besonders typisch für das syn-
taktische Verhalten der Konjunktion qiě ф noch bilden sie eine quanti-
tativ bedeutende Gruppe im Gesamtvorkommen der Äusserungen mit qiě
ф. Viel häufiger sind Äusserungen der folgenden Gestalt:

B 367 䋸ᆓҲф㖚བྷ Wén 13 fù 2 Zuǒ


Jiǎ jì luàn. qiě zuì dà
Der junior aus dem Stamm der Jiǎ ist rebellisch. Ausserdem ist
(seine) Schuld gross.
Satz und Sätze 317

In dieser Äusserung fungiert qiě ф als Konjunktion zwischen Sätzen,


wobei die Verbindung zwischen den (Teil)sätzen schon kaum mehr
syntaktisch zu beschreiben ist, denn sie wird über eine nicht explizit
ausgedrückte possessive Zuweisung der Schuld hergestellt. Diese Ver-
bindung ist im nächsten Beispiel noch lockerer und satzsyntaktisch noch
weniger beschreibbar, denn es wird Bezug genommen auf eine Äusse-
rung, die durch die im Beispiel angeführte erste Äusserung von der mit
qiě ф eingeleiteten Äusserung getrennt ist:

B 368 䄨‫ؑן‬ѻфབྷ㗙ҏ Xī 25 fù 1 Zuǒ


zhū hòu xìn zhī. qiě dà yì yě
Die Lehensfürsten werden ihm vertrauen. Ausserdem ist es (d.h.
das im Kontext angesprochene Vorgehen) grossartiges standes-
konform-korrektes Verhalten.

Und schliesslich kann die Äusserung mit qiě ф auf Sachverhalte Bezug
nehmen, die nicht einmal mehr textlich realisiert sind, sondern auf die im
Sinne von Präsuppositionen bloss kontextuell Bezug genommen wird:

B 369 фӪ਴ᴹ㜭ᴹн㜭 Chéng 5 fù Zuǒ


qiě rén gè yǒu néng yǒu bù néng
Und überhaupt: Jeder Mensch hat Sachen, die er kann, und
solche, die er nicht kann.

Aufgrund dieser Übersicht über die Äusserungen, in denen qiě ф vor-


kommt, wäre diese Konjunktion anhand ihres syntaktischen Verhaltens
mindestens auf den folgenden drei Ebenen zu klassifizieren:

a. Als koordinierende Konjunktion zwischen Verbalgruppen (VP-


Ebene);
b. als koordinierende Konjunktion zwischen Satzgruppen (S-Ebene);
c. als satzinitiale Konjunktion ohne syntaktische Koordinationsfunk-
tion (Textebene).
318 Kapitel 7

7.2.2 Satzgefüge

Im folgenden soll davon ausgegangen werden (d.h. bis zum Beweis des
Gegenteils), dass konjunktionale Strukturen stets auf der höchsten Stufe
einer Konstituentengruppe anzusetzen sind, also auf den Ebenen
Nominalphrase (NP), Verbalphrase (VP) oder – was uns hier am meisten
interessiert – eben auf der Ebene Satz (S). Das in Bezug auf den Satztyp
undifferenzierte Symbol S lässt sich hier gut verwenden. Die Regel,
welche die Generierung konjunktionaler Strukturen im Rahmen der
Satzgruppe ermöglicht, wäre also als Zusatz zur Regel R-1 zu
formulieren (die bisherigen Regeln R-1a und R-1b werden zu R-1b und
R-1c; s. Zusammenfassung 7.3). Auf der rechten Seite der Regel können
alle Kombinationen von Satztypen vorkommen:

(R-1a) S → Sv/n (KNJ) Sv/n

In die Baumdarstellung umgesetzt ergibt diese neue Regel R-1a die


folgende Struktur (anhand eines konditionalen Beispiels illustriert):

B 370 ਽н↓ࡷ䀰н丶 Lùn Yǔ 13.3; 24.8


míng bù zhèng zé yán bù shùn
Wenn die Bezeichnungen nicht korrekt sind, dann ist das
Ratgeben nicht konsequent.

Strukturbaum 100

S
Sv KNJ Sv

7.2.2.1 Konditionale Satzgefüge


Konditionale Satzgefüge können im AC entweder – wie in Beispiel B
371 – durch die explizite Verwendung der Konjunktion

ࡷ zé ‘(wenn) …, dann …’
Satz und Sätze 319

oder implizit – wie in Beispiel B 372 – durch die Aneinanderreihung


(Juxtaposition) von Sätzen gebildet werden (d.h. der Knoten für die
Konjunktion ist nicht besetzt). Dabei geht die Bedingung (Antezedens
oder Protasis) der Folge (Konsequens oder Apodosis) stets sequentiell
voraus. Die implizite Realisationsform gehört zu den absolut häufigsten
Satzgefügen überhaupt; sie ist also als Möglichkeit bei der Textanalyse
meist an erster Stelle zu bedenken:

B 371 䀰н丶ࡷһнᡀ Lùn Yǔ 13.3; 24.9


yán bù shùn zé shì bù chéng
Wenn das Ratgeben nicht konsequent ist, dann werden die
Dienste nicht vollbracht.

B 372 ഻⋫≁ᆹ
guó zhì mín ān
Herrscht im Land Ordnung, sind die Mín zufrieden.
Kommentar: Die Übersetzung zeigt, dass im Deutschen implizite
Realisationsformen ebenfalls existieren.

7.2.2.2 Konsekutive Satzgefüge


Konsekutive Satzgefüge unterscheiden sich – soweit ersichtlich – in
keiner Weise strukturell von den konditionalen Gefügen. Sie sind nur
aufgrund des Kontextes anzusetzen. Während konditionale Gefüge eine
hypothetische Relation zwischen zwei Sachverhalten zum Ausdruck
bringt (wenn X, dann Y), ist diese im konsekutiven Falle real eingetreten
(da / weil X, also / darum Y). Ein Beispiel:

B 373 ઼ࡷа Xún Zǐ 9; 25.14


hé zé yī
(Da) Harmonie herrscht, besteht folglich Einheit.

7.2.2.3 Finale Satzgefüge


Um zwei Sachverhalte oder Äusserungen in eine Zweckbeziehung (finale
Relation) zu setzen, gibt es zwei Formen. Die erste Form ist direkt ab-
hängig von der Semantik des beteiligten Verbs bzw. Prädikats: Im
Nominalsatz ist die finale Interpretation abhängig vom gewählten
Prädikatsnomen (vgl. 5.3); bei Verben, die von ihrer Bedeutung her
320 Kapitel 7

finale Ergänzungen bzw. Komplemente (d.s. Zweckbestimmungen) re-


gieren, werden diese ohne konjunktionale Verbindung als Komplement-
strukturen zugeordnet. Eine Gruppe, bei der dieser Zusammenhang
offensichtlich ist, ist die Gruppe der Verben der Bewegung. Im
folgenden Beispiel herrscht die finale Relation zwischen den seriali-
sierten Verben lái ֶ und tǎo 䀾 (die Strukturdarstellung ist verkürzt;
vgl. zum gleichen Beispiel auch Strukturbaum 82 oben):

B 323 ᱹӪԕ‫ޜ‬нᵍֶ䀾 Wén 2.3 Zuǒ


Jìn rén yǐ gōng bù=cháo lái tǎo
Rén aus Jìn kamen aus Anlass des Nichterscheinens des Patri-
archen bei Hof (zu Jìn) (nach Lǔ), um Rechenschaft zu fordern.

Strukturbaum 101

Sv

KP VP

VL
V KP
NL
N NP
Sv
KP VP
ø

Bei den Belegen B 280 und B 326 oben wurde die Feststellung gemacht,
dass eine allfällige (postverbale!) Markierung yǐ ԕ kaum je als finale
Konjunktion (= ‘um zu’) zu analysieren ist, weil das zu Fehlinter-
pretationen führen kann:
Satz und Sätze 321

B 374 Ժቩ⴨⒟ԕ⦻ᯬཙл Mèng 5A.6


Yī Yǐn xiāng Tāng yǐ wàng yú tiān xià
Yǐn aus dem Stamm der Yī assistierte Tāng, und gestützt darauf
war (dieser) dem Reich ein echter König.
Kommentar: Eine finale Interpretation ist aus syntaktischen
Gründen unmöglich, denn wenn kein neues Subjekt im zweiten
Teil des Satzgefüges genannt wird, gilt das bereits eingeführte
Subjekt weiter. Dies wäre sowohl im Textzusammenhang als
auch im generellen Kontext der Beziehungen zwischen König
und Lehnsmann inadäquat: ?Yǐn aus dem Stamm der Yī assis-
tierte Tāng, damit er (= Yǐn aus dem Stamm der Yī!) dem Reich
ein echter König sei.

Die Verbgruppe der Lokativverben eignet sich nun sehr gut, um diese
Feststellung zu untermauern. Man vergleiche die folgenden Beispiele:

B 375 ‫֯ޜ‬䡿品䋺ѻ Xuān 2.4 Zuǒ; 28.21


gōng shǐ Chú Ní zéi zhī
Der Patriarch sandte Ní aus dem Stamm der Chú, um ihn zu
ermorden.

B 376 Ӫ⑨✹ԕ䄆ว᭯ Xiāng 31 fù 7 Zuǒ; 26.1


rén yóu yán yǐ lùn zhí zhèng
Die Persönlichkeiten begeben sich dorthin, um bei dieser
Gelegenheit die Regierungsführung zu erörtern.

Die finale Interpretation des zweiten Beispiels bedarf keiner Stützung


durch eine “finale Konjunktion”. Es liegt die modal-instrumentale Ad-
verbialmarkierung yǐ ԕ vor (das zugeordnete pronominale Objekt zhī ѻ
ist getilgt). Dieser Sachverhalt stützt die These, dass finale Relationen im
allgemeinen (dies also die zweite Realisationsform) ohne konjunktionale
Kennzeichnung aufgebaut werden, und zwar durch simple Aneinander-
reihung (Juxtaposition) inhaltlich entsprechend verbundener Teilsätze.
Allerdings ist festzustellen, dass in sehr vielen finalen Relationen im
zweiten Teilsatz modale Bestimmungen (auf die Kasusmarkierung yǐ ԕ
reduziert) realisiert werden, was auf den engen Zusammenhang zwischen
Modalität bzw. Kausalität und Finalität (als zukünftiger oder geplanter
Kausaleffekt) zurückzuführen ist. Zum Beispiel:
322 Kapitel 7

B 326 ᓖൠԕት≁ Lǐ Jì 5.41, 15.1


duó dì yǐ jū mín
(Der Fürst) soll den Boden ausmessen und aufgrund dessen die
Mín ansiedeln.

7.2.2.4 Konzessive Satzgefüge


Die Konjunktion

䴆 suī ‘auch wenn; obgleich, obwohl’

bildet eigentlich eine besondere Form der Einleitung des Antezedens in


konditionalen Strukturen:

B 377 䴆ऎнᙘ Mèng 7A.12


suī lào bù yuàn
Auch wenn sie sich abmühen (müssen), so beklagen sie sich
nicht.

Bei dieser Konjunktion stellt sich die Frage der strukturellen Zuweisung,
da sie offensichtlich dem ganzen Gefüge vorausgeht und nicht als blosse
satzinitiale Konjunktion gewertet werden kann, wie etwa das in 7.2.1
behandelte qiě ф. Historisch gesehen rührt diese Schwierigkeit daher,
dass suī ursprünglich eine morphologisch komplexe Form (*s-tə-wuj)
war, die aus Kombination der Wurzel des inschriftlich gut belegten ar-
chaischen Kopulaverbs wéi 䳩~ᜏ~㏝~ୟ (AC *(tə)wuj, ‘sein, werden’)
mit dem Kausativpräfix *s- und dem detransitivierenden *-t(ə)- ent-
standen ist (‘es sei X [der Fall], dass ...’). Konzessive und, seltener,
kontrafaktische Nebensätze, die eine hypothetische Bedingung formu-
lieren, wurden im Antikchinesischen also nicht als Implikation durch
eine Konjunktion, sondern direkt, nämlich durch suī 䴆 als Matrixverb
des irrealen Antezedens gekennzeichnet. Ferner ist noch zu berücksichti-
gen, dass konditionale Strukturen manchmal mit dem diskontinuierlichen
Konjunktionenpaar gǒu 㤏 … zé ࡷ (‘wenn’ … ‘dann’) gebildet wird.
Die Regel R-1a sollte also die folgenden Kombinationsmöglichkeiten
generieren:

S → KNJ + Sv/n + KNJ + Sv/n


(gǒu 㤏 Sv/n zé ࡷ Sv/n)
Satz und Sätze 323

S → Sv/n + KNJ + Sv/n


( Sv/n zé ࡷ Sv/n)

S → KNJ + Sv/n + Sv/n


(suī 䴆 Sv/n Sv/n)

S → KNJ + Sv/n
(qiě ф Sv/n)

Diese Kombinationen können generiert werden, und zwar indem die


bereits modifizierte Regel R-1a die Maximalformel bestimmt. Je nach
der eingesetzten Konjunktion bleibt eine wechselnde Kombination von
konjunktionalen Konstituentenstellen leer:

(R-1a) S → (KNJ) Sv/n (KNJ) Sv/n

In die Baumdarstellung umgesetzt ergibt die neue Regel R-1a die


folgende erweiterte Struktur (anhand des konzessiven Beispiels B 377
illustriert):

Strukturbaum 102

S
KNJ Sv/n Sv/n
Ø Ø

7.2.2.5 Adversative Satzgefüge


Neben der Postposition ér 㘼, welche als Markierung bei komplexen
Adverbialphrasen realisiert wird, existiert ein homographes ér 㘼,
welches neben einer additiven Bedeutung ‘und’ (vgl. die Diskussion der
Kollokation […] ér hòu 㘼ᖼ bei Strukturbaum 84) auch die Funktion
einer adversativen Konjunktion ‘aber, sondern’ hat. Zum Beispiel:

B 378 ⦻ㅁ㘼н䀰 Mèng 1A.7


wáng xiào, ér bù yán
Der König lächelte, aber sagte nichts.
324 Kapitel 7

In der Baumdarstellung ergibt sich für dieses Beispiel im Gegensatz zum


eben erläuterten konzessiven Beispiel eine konjunktionale Leerstelle zu
Beginn des Satzgefüges:

Strukturbaum 103

S
Sv/n KNJ Sv/n
Ø

7.3 Zusammenfassung

(R-1a) S → (KNJ) Sv/n (KNJ) Sv/n


(R-1b) Sv → (AP) KP (AP) VP
(R-1c) Sn → (AP) NP (AP) PSP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → VL (ASP)
(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
(R-4b) NP → (DET) NL (KP)
(R-4c) NP → S
(R-5a) VL → V (KP) (KP)
(R-5b) VL → (PSP) VL
(R-6a) NL → (PSP) NL
(R-6b) NL → N (NP)
(R-7) PSP → NP + PST
(R-8) AP → A + NP

Abschliessend ist festzuhalten, dass die Knoten SM (Sprechaktmar-


kierung; vgl. Strukturbaum 87, Strukturbaum 92 bis Strukturbaum 94)
und NEG (Negation; vgl. Strukturbaum 95 bis Strukturbaum 99) nicht in
den hier zusammengefassten Basisregeln der Syntax aufgenommen sind,
weil die Setzung dieser Elemente nicht syntaktisch, sondern in erster
Linie pragmatisch (d.h. von der Sprecherabsicht her) gesteuert ist. Nach
diesem Sprecher-gesteuerten Akt der Setzung an dafür vorgesehene
Satz und Sätze 325

Strukturstellen (also auf der Ebene der Transformation) gehorchen sie


allerdings den Gesetzen der Syntax. Vgl. die Bemerkungen zum Skopus
in 8.1.2 (bei Beispiel B 393).
8 Proformen

In diesem Kapitel geht es um das grammatikalische Phänomen der Sub-


stitution, welches in seiner häufigsten Ausprägung eine Nominalsub-
stitution, oder m.a.W.: die Pronominalisierung, darstellt.

8.1 Pronomina

Die Pronominalisierung spielt sich innerhalb der Nominalstruktur ab.


Grundsätzlich ist jede der drei Ebenen (vgl. 3.6) in pronominale Struk-
turen überführbar. Strenggenommen handelt es sich hier um eine Trans-
formation, denn die semantische Interpretation, d.i. die Beantwortung
der Frage, auf wen oder was das Pronomen referiert, wird von der
zugrundeliegenden Struktur mit dem entsprechenden nominalen Knoten
bestimmt. Eine Pronominalisierungstransformation erfasst alle Struktu-
ren, die vom gemeinsamen nominalen Knoten dominiert werden – und
nur diese. Eine NP- oder NL-Struktur wird also wie folgt durch ein Pro-
nomen ersetzt bzw. substituiert:

Graphik 38: Pronominaltransformation (Ebene N)

Ausgangsstruktur Transformat
NP NP

  wird  
NL transformiert NL

  zu  
N PRN
328 Kapitel 8

Die Graphik stellt nur eine mögliche Form der Pronominalisierung dar.
Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass “Pronominalisierung” im Sinne
des vorliegenden Modells (auch wenn es sich um nominale Elemente
handelt) insofern ungenau ist, als die Proformen, welche nominale Ele-
mente substituieren können, dies auf verschiedenen Ebenen tun, d.h. sie
ersetzen Nomina (N), Nominale (NL), Nominalphrasen (NP) oder auch
ganze Teilsätze (S). Strenggenommen müsste man also von einem
“Pronomen”, einem “Pro-nominal”, einer “Pro-nominalphrase” und
einem “Pro-(konstituenten)satz” sprechen. Man vergleiche die transfor-
mative Veränderung zwischen den Strukturdarstellungen zu den beiden
folgenden Beispielen. Die Transformation setzt bei einem möglichst
hohen Knoten an, also bei NP. Dieser kann im Rahmen einer Kasusphrase
KP, einer Adverbialphrase AP oder einer Modifikationsstruktur liegen –
entscheidend ist jedoch die Einsicht, dass die jeweiligen präpositions-
artigen oder postpositionalen Markierungen nicht von der Pronominali-
sierung tangiert werden:

B 379 ⦻㾻㠓
wáng jiàn chén
Der König sieht den Lehnsmann.

Strukturbaum 104

Sv

KP VP
V KP
K NP

ø
Proformen 329

B 379a ⦻㾻ѻ
wáng jiàn zhī
Der König sieht ihn.

Strukturbaum 105

Sv

KP VP
V KP
K PRN

8.1.1 Personal- und Quasipronomina

Im AC existiert ein vielfältiges System von statusdifferenzierenden


Referenzformen, die offensichtlich an den aussersprachlichen Kontext
gebunden sind, so beispielsweise

in der ersten Person als Selbstreferenz:


ሑӪ guǎ rén ‘ich, der solitäre Rén’ (Fürst)
㠓 chén ‘ich, Euer Untertan/Ministerial’ (Lehnsmann)
с Chǒu ‘ich, Chǒu’ (Eigenname; Bescheidenheitsform)

oder in der zweiten Person als Anrede:


⦻ wáng ‘König; Euer Gnaden; Sire’
ੋ jūn ‘Sie, Fürst / Herr’ (Anrede für den Dienstherren)
ᆀ zǐ ‘Sie, Herr / Junker / (Meister)’ (höfliche Anrede
für höhere Ministerialstufen)
ཛᆀ fú-zǐ ‘Sie, ehrenwerter Junker’ (Anrede für
hochgestellte Persönlichkeiten)

Dieses Phänomen – auch als Quasipronominalisierung bezeichnet – ist


wohlbekannt (vgl. dazu DOBSON 1959:140). Es ist im zwischensprach-
lichen Vergleich typisch für Sprachentwicklungsperioden, in denen
330 Kapitel 8

ererbte grundständige Pronominalformen der ersten und zweiten Person


nach paradigmatischen Ausgleich ursprünglich flexionsmorphologisch
kodierte Status- oder Sprecherbereichsdifferenzierungen nicht mehr
regelmässig ausdrücken können. So ist es verwunderlich, dass bislang
nur selten beachtet wurde, dass die eigentlichen AC-Pronominalformen
ebenfalls Statusdifferenzierung zum Ausdruck bringen können (vgl.
GASSMANN 1984). Diese Funktion findet ihren Niederschlag in gewissen
Eigentümlichkeiten des Gebrauchs. Zunächst einmal eine Übersicht über
die gängigsten Formen der Personalpronomina:

Tabelle 12: Personalpronomina

a b c d
1. Person: ᡁ wǒ ੮ wú ։ yú Ҹ yú
*ŋŋaj-q *ŋŋa *la *la-q
2. Person: ⡮ ěr 㘼 ér ⊍ rǔ ྣ rǔ
*nəj-q *nə *na-q *na-q
3. Person: ѻ zhī ަ qí
*tə *gə

Ein Blick auf die rekonstruierten Formen zeigt, dass die Pronomen der
ersten beiden Personen nicht nur funktional, sondern auch phonologisch
erhebliche Überschneidungen aufwiesen. Die Pronomen der dritten Per-
son fallen hingegen deutlich aus dem morphonologischen Schema. Wie
in vielen anderen Sprachen handelt es sich bei ihnen um ursprüngliche
Demonstrativpronomen, die erst im klassischen AC auf ihre personale
Funktion festgelegt wurden.
Vor dem Hintergrund einer inschriftenbasierten Chronologie der
Formen der ersten beiden Personen zeigt sich, dass in ältester Zeit ein
System existiert haben muss, in dem sich im Singular yú ։ und rǔ ྣ
(bzw. die komplett homophone Variantenschreibung rǔ ⊍), im Plural
wǒ ᡁ und ěr ⡮ gegenüberstanden. Es lag also, zusätzlich zu dem durch
die verschiedenen Pronominalstämme fixierten Numerus, eine weitere
morphonologische Differenzierung ±*-j vor. In der Östlichen Zhōu-Zeit
bildete sich unter dem Druck der Analogie ein stärker symmetrisches
System heraus, in dem das (wie wǒ ᡁ) mit velarem Nasal anlautende
Proformen 331

Pronomen wú ੮ und seine allographischen inschriftlichen Vorläufer die


Rolle von yú ։ übernahmen, ohne dieses jedoch vollends zu verdrän-
gen. Die einen Glottisverschluss erfordernde Analogie im Auslaut-
bereich, wurde in der frühen Chūnqiū-Zeit durch die Einführung von yú
Ҹ bewerkstelligt, das in der edierten Literatur gut, inschriftlich jedoch
eher spärlich belegt ist, und im Anlaut das archaische *l- bewahrt hat.
Eine theoretisch anzusetzende Form *ŋŋa-q, die den paradigmatischen
Ausgleich gegenüber wǒ ᡁ auf allen Ebenen komplettiert hätte, exis-
tierte nach bisherigem Erkenntnisstand nicht. Möglicherweise wurde
dieser letzte Schritt durch die Zentralisierung des Hauptvokals von ⡮ ěr
zu *-ə- in spät-antikchinesischer Zeit verhindert. Dies führte dazu, dass
sich, nach Aufkommen von 㘼, die “vertikale” Opposition (1b–2b) der
beiden offen auslautenden, prosodisch leichten Pronomen (੮:㘼) stabi-
lisieren konnte, nicht etwa eine “horizontale” Opposition der glottal suf-
figierten Formen. Andererseits sind bereits seit dem archaischen Chine-
sischen der Orakelinschriften zwei weitere Personalpronomen der. ersten
und zweiten Person, zhèn ᵅ (*lrəm-q) und nǎi ѳ (*nnə(ŋ)-q) belegbar,
die beide glottal auslauteten und wohl ausschliesslich in adnominal
modifizierender Position im Singular verwendet wurden, wobei letzteres
etwa zur Zeit des Aufkommens von 㘼 *nə, bereits begonnen hatte, sei-
nen velar-nasalen Stammauslaut zu verlieren.
So bleibt festzuhalten, dass aus Sicht der Phonologie, nach dem Ver-
lust einer eindeutigen Stamm-Numerus-Korrelation, offenbar mindestens
eine weitere kategoriale Distinktion durch alle Entwicklungsphasen des
antikchinesischen Pronominalsystems hinweg erhalten wurde. Allerdings
wird bei der Vielfalt der Ausgleichserscheinungen und ggf. nicht mehr
rekonstruierbarer regionaler Differenzierungen davon auszugehen sein,
dass in jeder Entwicklungsphase verschiedene Pronomen zum Ausdruck
dieser Kategorie miteinander konkurrierten.

Nach welchen Kriterien lässt sich diese Vielfalt an Formen nun aber syn-
taktisch und pragmatisch klassifizieren?

1. Substitution oder Modifikation: Die meisten Formen können ein No-


men substituieren, einige werden bevorzugt als adnominale Modifi-
kationen (Possessive) verwendet (z.B. ér 㘼 und qí ަ), wenige
können fast ausschliesslich substituierend verwendet werden (z.B.
zhī ѻ). Das Verhalten könnte so generalisiert werden: Alle Formen,
332 Kapitel 8

die modifizierend verwendet werden können, können auch substi-


tuierend gebraucht werden – aber nicht umgekehrt.

2. Funktion als Satzteil: Als Nominalsubstitute können die Personal-


pronomina in unterschiedlichem Mass die Funktion von Subjekt
oder Objekt in einer Äusserung wahrnehmen. So kann wǒ ᡁ in
beiden Funktionen Nomina substituieren, wú ੮ dagegen kann nur
als Subjekt uneingeschränkt verwendet werden, als Objekt kommt
es selten und dazu nahezu ausschliesslich in negierten Äusserungen
in präverbaler Stellung vor. Es war diese Asymmetrie, die bei
gleichzeitiger offensichtlicher etymologischer Verbindung zwischen
den frei und nicht frei als Objekt gebrauchbaren Pronomen, schon
früh dazu Anlass gegeben hat (vgl. KARLGREN 1920), das antik-
chinesische Pronominalsystem als Relikt eines ursprünglichen
Kasus- oder Kongruenzmarkierungssystems zu betrachten, das zum
Zeitpunkt der Entstehung des kanonischen Schrifttums bereits durch
andere Parameter überlagert war. Wie wir gesehen haben, ist diese
Symmetrie aber ein sekundäres Artefakt der Analogie und spiegelt
nicht ein voll ausgebildetes paradigmatisches System relationaler
Morphologie wider. zhī ѻ kann praktisch nur als Objektspronomen
verwendet werden; qí ަ dagegen kommt in der tradierten Literatur
substituierend nur als Subjekt in emphatischen Hauptsätzen oder in
Nebensätzen vor. Bei der Modifikation existiert keine Einschrän-
kung bezüglich des modifizierten Satzteils. Demonstrative Verwen-
dungen von zhī ѻ vor einsilbigen Nomen finden sich noch verein-
zelt in der frühen inschriftlichen oder der archaisierenden edierten
Literatur. Überdies kann qí ަ in Inschriften der Östlichen Zhōu-
Zeit auch noch als adnominal-possessives Pronomen der ersten Per-
son fungieren.

3. Redesituation und Kontext: Der Gebrauch bestimmter Personalpro-


nomina ist abhängig von den Redeteilnehmern. Bei den Pronomina
wǒ ᡁ und wú ੮, beispielsweise, lassen sich die folgenden drei
Interaktionsformen, die Höflichkeit / Unhöflichkeit signalisieren,
unterscheiden (vgl. GASSMANN 1984):

a. Im Verkehr mit seinem Dienstherren verwendet ein Lehnsmann zur


Selbstreferenz den Ausdruck chén 㠓 ‘Euer Untertan’. Allen Herr-
Proformen 333

schern gegenüber meidet er jedoch die Verwendung der Pronomina


wǒ ᡁ oder wú ੮. Dies ist die asymmetrische Interaktionsform I.
b. Bei Personen, die den Gesprächspartner höflich mit zǐ ᆀ ‘Junker’
anreden und für die Selbstreferenz (in der Subjektsposition) prak-
tisch ausschliesslich wú ੮ verwenden, ergibt die Analyse der
Gesprächssituation, dass die beiden Gesprächspartner als ebenbürtig
betrachtet werden können. Findet Kommunikation zwischen status-
gleichen Gesprächspartnern statt, so ist dies eine symmetrische
Interaktionsform.
c. Die asymmetrische Interaktionsform II, die sich dadurch von der
Form I unterscheidet, dass der dominierende Partner nicht Fürst ist,
äussert sich darin, dass der statusniedrigere Partner für die Selbst-
referenz den persönlichen Namen verwendet. Dies ist üblich, wenn
etwa Alters- oder Rangunterschied, Lehrer-Schüler-Verhältnis oder
Wissensgefälle – kurz: alle möglichen Statusunterschiede (ausge-
nommen den der Form I zwischen Fürst und Lehnsmann) vorliegen.

Tabellarisch zusammengefasst ergibt sich für die verschiedenen


Interaktionsformen folgendes Bild:

Tabelle 13: Interaktionsform und Einsatz von Pronomina

Pronominal- sagt wer von vor wem? in welcher


form sich? Interaktionsform?
ᡁ/੮ HERRSCHER Lehnsmann asymmetrisch I
wǒ / wú
Null Lehnsmann HERRSCHER asymmetrisch I
੮ wú Herr Herr symmetrisch
ᡁ/੮ + STATUS - Status asymmetrisch II
wǒ / wú
Rufname - Status + STATUS asymmetrisch II

Ein weiteres gesprächsabhängiges pragmatisches Programm ist die Mög-


lichkeit des Kontrastes, wobei Kontrastierung und Höflichkeit häufig
komplementär sind. In diesem Programm bildet wǒ ᡁ die starke, kon-
334 Kapitel 8

trastierende, mitunter unhöfliche Form, wú ੮ dagegen die schwache,


wenig konturierte, höfliche Form. Analog wurde wohl beim Pronomen
der zweiten Person verfahren, nur dass hier die Beleglage etwas schlech-
ter ist. Eine im Sinne der Ikonizität von Referenzformen naheliegende
Korrelation auf phonologischer Ebene zeigt sich nun darin, dass die
kontrastierenden Formen sich nicht nur pragmatisch “stark” verhalten,
sondern auch durch den jeweiligen doppelkonsonantischen Auslaut *-j-q
gegenüber den offenen Silben der “schwachen” Pronomen als unab-
hängig ausgewiesen sind. Dasselbe Verfahren der Kontrastierung mit
Hilfe von *-j und / oder *-q findet sich im übrigen auch bei anderen AC-
Pronomina, in einigen chinesischen Dialekten und verwandten tibeto-
burmesischen Sprachen. Man vgl. z.B. hú 㜑 < *gga : hé օ < *ggaj
(interrogativ), fú ཛ < *pa : bǐ ᖬ < *p(r)aj-q (demonstrativ).

4. Referenzbereich: Der Referenzbereich ist nicht bei allen Personal-


pronomina gleich; einige können sowohl singularisch wie auch
pluralisch gebraucht werden (z.B. wǒ ᡁ ‘ich; wir’) andere sind auf
den singularischen Gebrauch beschränkt (z.B. yú ։ ‘ich’).

Eine tabellarische Übersicht über die Parameter 1. bis 4. zeigt die Diffe-
renzierungen des Systems der Personalpronomina:
Proformen 335

Tabelle 14: Das System der Personalpronomina

Funktion 1. P 2. P 3. P
ᡁ ੮ ։ ⡮ 㘼 ⊍ ѻ ަ
wǒ wú yú ěr ér rǔ zhī qí

Substitution + + + + 0 + + +
Modifikation + + – + + + – +
1
Satzteil Subjekt + + + + 0 + 0 +
Objekt + 0 + + 0 + + –
Interaktion2 h a/c a/c a/c a/c
höflich = b
t +
h
unhöflich = b
t a/c a/c a/c a/c
Kontrast + – 0 + 0 –
Referenzbereich s/p s/p s s/p s/p s s/p s/p
Zeichenerklärung:
+ häufig in dieser Funktion
– sehr selten / gar nicht in dieser Funktion
0 indifferent; selten vorkommend
h der Statushöhere ist mit dieser Form (un)höflich
= der Statusgleiche ist mit dieser Form (un)höflich
t der Statustiefere ist mit dieser Form (un)höflich
s/p singularisch/pluralisch
Anm. 1 als Subjekt eines Nebensatzes oder emphatisch im Hauptsatz
Anm. 2 a = asymm. Interaktionsform I; b = symm. Form; c = asymm. Form
II
336 Kapitel 8

5. Der Gebrauch der Personalpronomina ist schliesslich von der Text-


sorte, abhängig. Ist der Text in Dialogform aufgebaut, so beinhaltet
dies andere Kommunikationsformen als etwa die Gedichtform, die
Annalenform oder die Essayform. In den Texten des Shū Jīng ᴨ㏃
(Buch der Dokumente), die vornehmlich Niederschriften von Ge-
sprächen zwischen Herrschern und Lehnsleuten (also des asymmet-
rischen Interaktionstyps I) sind, kommt z.B. die Form wú ੮ nicht
vor (und stützt somit den obigen Ansatz). In kultischen Texten,
Gebeten oder Formeln kommen dagegen die Pronomina yú ։ und
yú Ҹ vor, offenbar eine Sonderform der Selbstreferenz im “Ge-
spräch” mit dem Himmel, den Gottheiten, Geistern oder höheren
Mächten oder ein Hinweis auf den für diese Gattungen typischen
besonders archaischen Sprachgebrauch. Bei Gedichten spielen mit
Sicherheit auch prosodische Überlegungen eine Rolle: starke und
leichte Silben können so signalisiert werden.

8.1.2 Zur Syntax der Personalpronomina

Bezüglich der Stellung der Personalpronomina existiert ein bisher noch


unzureichend erklärtes Phänomen: die Präponierung der als Objekte
fungierenden Personalpronomina in negierten Äusserungen. Sie erfolgt
typischerweise zwischen Negation und Verb. Einige Beispiele:

B 380 ⡦⇽ѻнᡁᝋ Mèng 5A.1


fù mǔ zhī bù (NEG) wǒ (PRN) ài (V)
Dass Vater und Mutter mich nicht lieben […]

B 381 ᱹнᡁᮁ Xiāng 9.6 Zuǒ


Jìn bù (NEG) wǒ (PRN) jiù (V)
Wenn Jìn uns nicht rettet, […]

B 382 ։нྣᗽ⇪ Zhāo 1 fù 5 Zuǒ


yú bù (NEG) rǔ (PRN) rěn shā (V)
Ich bringe es nicht über mich, Dich zu töten.

In affirmativen Sätzen können die Personalpronomina, welche als Objek-


te fungieren, in zwei Positionen vorkommen, nämlich einerseits post-
Proformen 337

verbal, wie aus der Gegenüberstellung des folgenden (aus Äusserungs-


teilen bestehenden) Beispielpaars hervorgeht:

B 383 нᡁ⸕ Wén 2.1 Zuǒ


bù (NEG) wǒ (PRN) zhī (V)
X kennt mich nicht.

B 384 ⸕ᡁ⸓ Wén 2.1 Zuǒ


zhī (V) wǒ (PRN) yǐ (ASP)
X kennt mich schon.

Andererseits können pronominalisierte Objekte präverbal realisiert sein,


allerdings müssen sie dann von einer Präposition oder Kasusmarkierung
dominiert sein, wie im folgenden Beispiel:

B 385 㠷ᡁՀཧ Zhuāng 16 fù Zuǒ


yǔ (K) wǒ (PRN) fá (V) Yí
Greift mit mir Yi an.

B 386 䃻ԕᡁ䃚 Xuān 13 fù Zuǒ


qǐng yǐ (K) wǒ (PRN) shuì (V)
Bitte überzeugt ihn (= den Gesandten) durch Meiniges (d.h. mit
meiner Meinung).

Da Präpositionen oder Kasusmarkierungen, wie wir gesehen haben (vgl.


S. 108), fast ausnahmslos verbaler Herkunft sind, sind die Pronomen in
solchen Konstruktionen aus diachroner Sicht eigentlich immer noch
postverbal, nur eben nicht gegenüber dem Hauptverb des Satzes. Ist das
Pronomen präponiert, so erfolgt die Negation vor der Präposition:

B 387 н㠚ᡁ‫ݸ‬ Zhāo 10.5 Zuǒ; Shī-Zitat


bù (NEG) zì (K) wǒ (PRN) xiān (V)
X geht nicht mir voran.

Ausserdem ist noch auf das wohlbekannte Phänomen der Tilgung des
Objektspronomens der 3. Person zhī ѻ in mit bù н negierten Äusse-
rungen hinzuweisen (vgl. 7.1.3.3). Man vergleiche:
338 Kapitel 8

B 388 ᾊᆀ䁡ѻ Xiāng 9 fù 1 Zuǒ


Chǔ zǐ xǔ (V) zhī (PRN)
Der Freiherr von Chǔ erlaubte es.

B 389 ᱹ‫ן‬н䁡 Xiāng 4.6 Zuǒ


Jìn hòu bù (NEG) xǔ (V)
Der Markgraf von Jìn erlaubte es nicht.

Dass es sich dabei um die Tilgung eines präponierten Objektspronomens


zhī ѻ handelt, wird durch die Anwesenheit dieses Pronomens der 3.
Person in präverbaler Position bei anderen Negationen nahegelegt. Z.B.:

B 390 ੮ᵚѻ㚎ҏ Xuān 11.7 Zuǒ


wú wèi (NEG) zhī (PRN) wén (V) yě
Ich habe noch nie davon gehört.

Die folgenden zwei Beispiele mit unterschiedlichen Pronomen belegen


dieses Phänomen:

B 391 ‫≁؍‬㘼⦻㧛ѻ㜭⿖ҏ Mèng 1A.7


bǎo mín ér wàng, mò (NEG) zhī (PRN) néng yù yě
Wird er König, indem er den Mín Schutz gibt, so ist niemand
einer, der ihn daran hindern kann.

B 392 ᠾ⣴ᱟ㟪㥺㡂ᱟᠢࡷ㧛ᡁᮒ᢯ Mèng 3B.9


Róng Dí shì yīng, Jīng Shū shì chéng, zé mò (NEG) wǒ (PRN) gǎn chéng
Róng und Dí – diesen bin ich entgegengetreten, Jīng und Shū –
diese habe ich gezüchtigt, und mir wagte folglich niemand zu
widerstehen.

Zunächst ist festzuhalten, dass das satzfinale yě ҏ nicht durch die An-
wesenheit von mò zhī 㧛ѻ bedingt ist, sondern in seiner gewöhnlichen
Funktion als Signal für den Nominalsatz aufgefasst werden kann, denn
es gibt Belege mit mò zhī 㧛ѻ und ohne yě ҏ, wie z.B. mò zhī yù ér bù
rén, shì bù=zhì yě 㧛ѻ⿖㘼нӱ,ᱟнᲪҏ ‘Verhält sich jemand nicht
rén-konform, obwohl niemand ihn daran hindert, so ist das Uneinsich-
tigkeit’ (Mèng 2A.7). Wie die Übersetzungen andeuten und wie der
Beleg B 392 unmissverständlich zeigt, ist zhī ѻ in der Kette mò zhī
Proformen 339

㧛ѻ als Pronomen des Objekts zu interpretieren, denn es nimmt die


gleiche Stelle ein wie das Pronomen ᡁ.
Das Pronomen der 3. Person zhī ѻ ist schliesslich dafür bekannt,
dass es nach Präpositionen oder Kasusmarkierungen, die bei Pronomi-
nalisierung der zugehörigen Nominalphrase nur präverbal positioniert
sein können, ebenfalls getilgt wird:

B 393 ԕ⛪഻⽮ Shǐ Jì 60.20; 17.2


yǐ (K) wéi (V) guó shè
Sie machten damit den Erdaltar des Lehens.

Vergleiche die analoge Situation beim trivalenten Verb yǔ 㠷:

B 231 ๟ԕཙл㠷㡌 Mèng 5A.5; 20.1


Yáo yǐ (K) tiān-xià (DO) yǔ (V) Shùn (IO)
Yáo gab das Reich Shùn.

B 233 㤕ԕ㠷ᡁ Xiāng 15 fù 3 Zuǒ


ruó yǐ (K) yǔ (V) wǒ (PRN)
Wenn Sie ihn mir geben, […]

Gibt es für dieses scheinbar so disparate Verhalten der Pronomina eine


einheitliche, syntaktisch motivierbare Erklärung? Setzt man bei der
Negation an, so bietet sich der Skopus an. Damit ist die Reichweite der
Negation gemeint. Man vergleiche das folgende deutsche Beispielpaar:

Ich habe den Yáng Bójùn nicht gefunden.


Kommentar: Die Negation erstreckt sich auf das Prädikat der
Äusserung und damit auf die ganze Aussage.

Ich habe nicht den Yáng Bójùn gefunden, (sondern …)


Kommentar: Die Negation bezieht sich nur auf “den Yáng Bójùn ”,
d.h. etwas wurde gefunden, nur nicht das offenbar gesuchte Buch.

Wie zu ersehen ist, hängt die Veränderung des Skopus der Negation mit
einer Positionsveränderung zusammen. Die Durchsicht von AC-Bei-
spielen ergibt, dass das Pronomen der 1. Person wǒ ᡁ in negierten
340 Kapitel 8

Äusserungen sowohl in postverbaler als auch in präverbaler Stellung


vorkommen kann:

B 394 Ӫнᡁ丶 Xiāng 30.7 Zuǒ


rén bù (NEG) wǒ (PRN) shùn (V)
Wenn eine Persönlichkeit uns nicht folgt, […]

B 395 ᴹһ㘼н੺ᡁ Xiāng 28.6 Zuǒ


yǒu shì ér bù (NEG) gào (V) wǒ (PRN)
Falls Ihr ein Unternehmen vorhabt und mir nichts sagt, […]

Die Lage ist auch beim Pronomen der 3. Person zhī ѻ nach der
Negation bù н alles andere als eindeutig. So weist etwa die Existenz
gewisser Fusionsformen in negierten Äusserungen darauf hin, dass zhī
ѻ in negierten Äusserungen durchaus auch postverbal anzusetzen ist:

B 396 ަᆀнᗽ伏䄨 Xiāng 4 fù 1 Zuǒ


qí zǐ bù (NEG) rěn (V) shí (V) zhū (FUS)
Seine Söhne brachten es nicht über sich, ihn zu essen!
Kommentar: Die Fusionsform zhū 䄨 steht hier für das Prono-
men zhī ѻ und die exklamatorische Interjektion SM hū Ѿ ‘!’.

B 397 Ԕቩнሻ䄨ӷ䆾 Zhuāng 28.4 Zuǒ


lìng yǐn bù (NEG) xún (V) zhū (FUS) chóu chóu
Der Kanzler sucht nicht etwas bei den Feinden, sondern […]
Kommentar: Die Fusionsform zhū 䄨 steht hier für das Prono-
men zhī ѻ und die Präposition PRP hū Ѿ.

Die Feststellung, dass in negierten Äusserungen beide Positionen von


den Pronomina eingenommen werden können (am Pronomen der 1.
Person wǒ ᡁ deutlich zu erkennen), könnte darauf hinweisen, dass der
Skopus für die Positionsdifferenz verantwortlich ist, und zwar wäre die
präverbale Position Anzeichen des eingeschränkten Skopus, der sich nur
auf einen Äusserungsteil bezieht. Dies müsste also im folgenden, bereits
erwähnten Beispiel vorliegen:
Proformen 341

B 380 ⡦⇽ѻнᡁᝋ Mèng 5A.1


fù mǔ zhī bù (NEG) wǒ (PRN) ài (V)
Dass Vater und Mutter mich nicht lieben […]

Der Skopus kann aber hier aus zwei Gründen nicht für den Präponie-
rungsvorgang verantwortlich sein: Zum einen negiert die Negation bù н
nach wie vor das Verb ài ᝋ, und nicht das präponierte nominale
Satzglied wǒ ᡁ, zum anderen wäre die skopuseinschränkende Negation
eines nominalen Satzgliedes ohnehin nicht bù н sondern fēi 䶎, wie aus
dem folgenden, bereits in 7.1.3.3 erörterten Beispiel zu ersehen ist:

B 16 䶎ᡁ⭏Ҳ Zhāo 27.3 Zuǒ


fēi wǒ shēng luàn
Nicht ich habe die Unordnung erzeugt. (Wörtlich: Ein nicht-ich,
d.h. ein anderer, hat die Unordnung erzeugt.)

Mit dem Parameter Skopus lassen sich also die Fälle nicht erfassen, in
denen die Pronomina präverbal positioniert sind. Das eben wieder
angeführte Beispiel B 380 lässt sich aber mit einem anderen
gesprächsabhängigen pragmatischen Programm in Verbindung bringen,
nämlich mit der Kontrastierung: ‘Dass Vater und Mutter mich nicht
lieben – sondern meinen Bruder, […]’. Diese Kontrastierung ist eng
verwandt mit anderen Strategien, welche der Betonung oder Hervor-
hebung von Äusserungsteilen dienen (z.B. die Extraposition) und die
ebenfalls das Mittel der Präponierung verwenden. Betonung oder
Hervorhebung ist also als Erklärung für die Präponierung heranzuziehen,
wie auch im folgenden, bereits erwähnten Beispiel:

B 381 ᱹнᡁᮁ Xiāng 9.6 Zuǒ


Jìn bù (NEG) wǒ (PRN) jiù (V)
Wenn Jìn uns nicht rettet, […]

Das nächste Beispiel kann für das Vorliegen der Betonung geradezu als
paradigmatischen Fall vorgestellt werden, denn das Pronomen rǔ ྣ ist
sogar über eine Nebensatzgrenze hinaus präponiert worden (eigentlich
ist es ja Objekt von shā ⇪ und nicht von rěn ᗽ). Damit fällt eine
Erklärung, die auf den Skopus gründet, a priori weg:
342 Kapitel 8

B 382 ։нྣᗽ⇪ Zhāo 1 fù 5 Zuǒ


yú bù (NEG) rǔ (PRN) rěn shā (V)
Ich bringe es nicht über mich, Dich zu töten.

Wie steht es aber mit dem Pronomen der 3. Person, mit zhī ѻ? Bei-
spiele, in denen die Negation wèi ᵚ realisiert ist, zeigen – wenn auch
mit sehr unterschiedlicher Häufigkeit – das ganze Spektrum der Mög-
lichkeiten, nämlich Präponierung, postverbale Position und auch
Tilgung:

B 390 ੮ᵚѻ㚎ҏ Xuān 11.7 Zuǒ


wú wèi (NEG) zhī (PRN) wén (V) yě
Ich bin einer, der noch nie davon gehört hat.

B 398 ᵚ㎅ѻҏ Xī 3 fù Zuǒ


wèi (NEG) jué (V) zhī (PRN) yě
Bevor (der Markgraf von Qí) sich von ihr getrennt hatte, […]

B 399 ୶㠓㚎ѻ㘼ᵚሏ Wén 1.10 Zuǒ


shāng chén wén zhī ér wèi (NEG) chá (V)
Shāng-chén erfuhr davon, aber bevor er der Sache genauer
nachging, [teilte er …]

Die Präponierung des Objektspronomens zhī ѻ, wie in Beispiel B 390,


lässt sich zwanglos als Betonung erklären, was auch ausgezeichnet zur
Redesituation passt, in der diese Äusserungen häufig verwendet wird. Da
in mit der Negation bù н negierten Äusserungen das Objektspronomen
zhī ѻ regelmässig – mit Ausnahme der Fusionsformen – getilgt wird,
kann kaum mit Sicherheit gesagt werden, in welcher Position die
Tilgung effektiv stattgefunden hat. Daraus wäre zu folgern, dass die
jeweilige Position von zhī ѻ für die Interpretation der Äusserung
irrelevant oder nicht im Rahmen der hier aufgeführten Kommunika-
tionsstrategien (Skopus, Betonung) zu deuten ist – eine Folgerung, die
ihrerseits nach einer Erklärung ruft. Diese mag wohl wie folgt aussehen:
Die Pronomina der 3. Person gibt es – im Gegensatz zu denen der 1. und
2. Person – in der neutralen Variante zhī ѻ aber auch in den betonten,
demonstrativen Varianten shì ᱟ und cǐ ↔ (vgl. 8.1.3). M.a.W.:
Betonung muss nicht durch die Position von zhī ѻ signalisiert werden,
Proformen 343

sondern kann durch den Einsatz anderer Pronomina geschehen. Bisher


ist nur die Rede von negierten Äusserungen gewesen; die Frage, wie die
Betonung in affirmativen Äusserungen zum Ausdruck gebracht wird,
muss deshalb noch angeschnitten werden. Schon GABELENTZ stellt in §
345 lakonisch fest:

Selten, und wohl nur im vorclassischen Stile kommt die Ante-


position auch in bejahender Rede vor, […].

Gemeint ist damit nur die Präponierung ohne Kennzeichnung. Die Frage
stellt sich also, ob es Bestandteil des Kontrastierungsprogramms ist,
wenn Objekte mit einer Kasusmarkierung in einer affirmativen Äusse-
rung präponiert werden. Gibt es also einen diesbezüglichen Unterschied
bei der Interpretation des direkten Objektes (DO) in den folgenden
Äusserungsteilen (mit nominalen Objekten)?

B 400 ཙ㠷ѻཙл Mèng 5A.5; 20.8


tiān yǔ (V) zhī (IO) tiān xià (DO)
Der Himmel gibt ihm das Reich.

B 401 ๟(н)ԕཙл㠷㡌 Mèng 5A.5; 20.1


Yáo (bù) yǐ (K) tiān xià (DO) yǔ (V) Shùn (IO)
Yáo gab (nicht) das Reich Shùn.

Aus dem Kontext des Mèngzǐ-Textes lässt sich eine Nuance heraushören:
Das Beispiel B 401 ist Bestandteil einer Frage des Schülers Wàn Zhāng,
und zwar ist es eine Frage, die Erstaunen sowohl über den Vorgang wie
über den transferierten Gegenstand zum Ausdruck bringt: Yáo gab Shùn
das Reich (man höre und staune!). Im Beispiel B 400 wird dagegen eine
Tatsache geäussert, in der angesichts des genannten Agens weder die
Berechtigung noch das Transferierte als ungewohnt beurteilt werden.
Während in affirmativen Sätzen einfache pronominalisierte Objekte in
der Regel in postverbaler Position vorkommen, sind jedoch die kasus-
markierten Nominalphrasen mit pronominalisierten Objekten regelmäs-
sig präverbal positioniert. Im Falle des Objektspronomens zhī ѻ ist
dabei festzustellen, dass es – wie bei der Negation – getilgt wird:
344 Kapitel 8

B 402 㤕ԕ㠷ᡁ Xiāng 15 fù 3 Zuǒ


ruó yǐ (K) yǔ (V) wǒ (PRN)
Wenn Sie ihn mir geben, […]

Ohne einer eingehenderen Untersuchung vorgreifen zu wollen, könnte


man also mit der nötigen Vorsicht das folgende Schema zur
Betonungsstrategie entwerfen:

Tabelle 15: Satzposition und Betonungsstrategie

NEG K-MARK PRN VERB PRN  ++


V x unbetont B 400

x V *betont (B 391)

x (x) V betont B 402

x V unbetont B 389

x V x *unbetont B 398

x x V betont B 382

x x V betont B 401
* = seltene Variante / Klammerung: zhī kann getilgt sein

Es sei schliesslich noch darauf hingewiesen, dass mit dieser Strategie


bzw. mit diesem syntaktischen Programm zwar generell Betonung zum
Ausdruck gebracht wird. Die verschiedenen inhaltlichen Varianten und
Nuancen (z.B. demonstrative Betonung, Skopusveränderung, kontrastie-
rende Betonung) sind damit aber nicht festgelegt, sondern ergeben sich
nur aus dem Kontext.

8.1.3 Demonstrativpronomina

Das System der Demonstrativpronomina im AC ist dreigliedrig. Es


umfasst zwei Ausdrücke für das Nähere, und zwar das auf einen schon
eingeführten Gesprächsgegenstand zurück verweisende, anaphorische
Pronomen
Proformen 345

ᱟ shì (AC *de-q) ‘dieses (bekannte)’

und das auf einen zuletzt eingeführten oder unmittelbar einzuführenden


Gesprächsgegenstand vorwärts verweisende, sowohl anaphorische als
auch kataphorische Pronomen

↔ cǐ (AC *tshej-q) ‘dieses (neue)’.

cǐ ↔ scheint im Nahbereich das Nähere zu bezeichnen, shì ᱟ das etwas


Entferntere. cǐ ↔ kann deshalb bei Aufzählungen anaphorisch sein und
verweist dann auf das letzte – also nähere – Glied der Aufzählung. Es
lässt sich somit je nach Kontext auch mit ‘letzteres; letztgenanntes’
übersetzen. Das dritte Element ist ein Pronomen für das Entfernte oder
für das im Gegensatz zum Näheren stehende, nämlich

ᖬ bǐ (AC *p(r)aj-q) ‘jenes’.

Aus phonologischer Perspektive sind alle drei gängigen AC-


Demonstrativpronomen durch *-q als prosodisch “unabhängig” markiert
(vgl. oben), was sie von den offen auslautenden archaischen Vorläufern
unterscheidet. Man vgl. z.B. aus dem inschriftlichen Chinesisch zī ީ <
*s-tə, zhī ѻ < *tə, shí ᱲ < *də, fú ཛ < *pa, sī ᯟ < *se, die allesamt
schwach-deiktisch sind, sich jedoch hinsichtlich ihrer Phorizität,
Proklisefähigkeit und Pragmatik unterschieden. Zwar sind die meisten
der zu erwartenden “starken” Entsprechungen erhalten – vgl. z.B. zài 䔹
< *s-ttə-q, shí ሄ~ᱟ < *də-q, bǐ ᖬ < *p(r)aj-q – zu erwartendes *se-q
fehlt jedoch! Distributionelle Beschränkungen bei Textsorten und geo-
graphischer Textherkunft legen daher den Verdacht nahe, dass bei den
Personal- und Demonstrativpronomen neben morphonologischen
Gesichtspunkten auch dialektale Parameter eine Rolle gespielt haben
dürften.
Umgekehrt findet sich das selbe Suffix *-q auch bei quantifi-
zierenden Ausdrücken wie měi ⇿ < *mmə-q ‘jeder; jedesmal’, yǒu ᴹ <
*wə-q ‘einer; einmal’, oder jǔ 㠹 < *k-la-q ‘alle, allesamt’ wieder. Die
korrespondierenden unsuffigierten Formen sind hier nicht belegt und es
bestehen historisch jeweils enge Beziehungen zum Verb, weshalb man
zögern wird, diese Elemente trotz formaler Identität als Pronomen zu
klassifizieren. Ablautvarianten zu zhī ѻ < *tə sind die Pronomen zhū 灰
346 Kapitel 8

< *ta ‘diese’ und das davon abgeleitete “starke” zhě 㘵 < *ta-q, das
Kernpronomen der adnominalen Modifikation (vgl. S. 170). Schliesslich
kann das Suffix *-q in Pronomen durch das distributive Suffix *-k ersetzt
werden, welches uns bereits im Zusammenhang mit der Negation
begegnet ist (vgl. 7.1.3.3). So finden sich z.B. die Entsprechungen

shí ሄ < *de-k ‘dieser’ (zu shì ᱟ < *de-q)


shù ᓦ < *s-ta-k-s ‘alle’ (zu zhě 㘵 < *ta-q)
huò ᡆ < *wə-k ‘einer, der > jemand; etwas’ (zu yǒu ᴹ < *wə-q)
ruò 㤕 < *na-k ‘diese deine’ (zu rǔ ྣ̚⊍ < *na-q) usw.

Die drei seit der späten West-Zhōu-Zeit belegbaren AC-Standardde-


monstrativpronomina werden an Stelle einer Nominalphrase (substi-
tuierend) verwendet. Die Homographen, die attributiv-modifizierend zu
einer Nominalphrase verwendet werden, gehören dagegen zur Wort-
klasse der Determinanten, wie in:

B 403 ᱟ俜
shì mǎ
dieses Pferd

Die Demonstrativa shì ᱟ und cǐ ↔ werden als Objektspronomina in


allen wichtigen festgestellten Positionsvarianten realisiert. Das De-
monstrativum bǐ ᖬ ist dagegen zuwenig häufig belegt, um das ganze
Spektrum zu zeigen. Eine Analyse der Kontextfaktoren ergibt, dass
Varianten bei den erstgenannten Demonstrativa im Rahmen derselben
Strategie zu erklären ist, nämlich mit dem Betonungsschema.
Proformen 347

Tabelle 16: Betonungsstrategie (Demonstrativa)

NEG PRÄP / K- PRN VERB PRN – ++ ᱟ shì ↔ cǐ


MARK

V X unbetont B 404 B 409

x V betont B 405 B 410

X X V betont B 407 B 412

X V X unbetont B 406 B 411

X X V betont B 408 B 413

B 404 ᭵৺ᱟ Dìng 3.4 Zuǒ


gù jí (V) shì (PRN)
Darum kam es (mit ihm) zu diesem.

B 405 ሑӪᱟ㚎 Xī 4.4 Zuǒ


guǎ rén shì (PRN) wèn (V)
Zu diesem habe ich Fragen.
Vgl. dazu Xiāng 18.4 Zuǒ, wo das Pronomen mit dem gleichen
Verb postverbal realisiert ist.

B 406 ৸н৺ᱟ Xiāng 27.5 Zuǒ


yòu bù (NEG) jí (V) shì (PRN)
Überdies wird es nicht zu diesem kommen.

B 407 ⭣‫⭡ן‬ᱟᗇ㖚 Xī 5 fù 2 Zuǒ


Shēn hòu yóu (PRÄP) shì (PRN) dé (V) zuì
Der Markgraf von Shēn lud durch dies Schuld auf sich.

B 408 ᱹ഻ѻભᵚᱟᴹҏ Xiāng 14.3 Zuǒ


Jìn guó zhī mìng wèi (NEG) shì (PRN) yǒu (V) yě
Im Mandat des Staates Jìn hat es einen solchen noch nie
gegeben.

Die eben belegten Varianten lassen sich auch bei Äusserungen mit dem
Demonstrativum cǐ ↔ feststellen:
348 Kapitel 8

B 409 伢↔ Zhuāng 32.5 Zuǒ


yǐn (V) cǐ (PRN)
Wenn Ihr dieses trinkt, […]

B 410 ᡁ↔ѳ→ Chéng 2.2 Zuǒ


wǒ cǐ (PRN) nǎi zhǐ (V)
Hier werde ich also bleiben.

B 411 н൘↔ Zhuāng 22.3 Zuǒ


bù (NEG) zài (V) cǐ (PRN)
Wenn er sich nicht auf dieses (Lehnsfürstentum) stützt, […]

B 412 䃻⭡↔ӑ Xī 24 fù 1 Zuǒ


qǐng yóu (PRÄP) cǐ (PRN) wáng (V)
Bitte lasst mich von diesem (Ort) verschwinden.

B 413 ᡰн↔๡ Xuān 17.6 Zuǒ


suǒ bù (NEG) cǐ (PRN) bào (V)
Wofern ich dies nicht vergelte, […] (Wörtlich: In dem Fall, wo
ich … .)

8.1.4 Possessive Konstruktionen

Wie aus der Tabelle 14 oben zu ersehen ist, können die meisten Perso-
nalpronomina auch in possessiven Konstruktionen auftreten. Dies gilt
auch uneingeschränkt für die Demonstrativpronomina. Dabei ist folgen-
des zu bedenken: Oberflächenstrukturell gesehen scheinen die posses-
siven Konstruktionen im AC den Deutschen durchaus analog zu sein. Die
naheliegende Übersetzung mit possessiven Formen, wie z.B. ‘mein’,
‘dein’, ‘sein’ usw., sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass im AC
– getreu seiner stärker verbal orientierten Struktur – possessive Kon-
struktionen implizite Genitivkonstruktionen sind, also eine Konstruktion,
in der eine nominale Konstituente durch eine andere nominale
Konstituente modifiziert wird, und nicht wie im Deutschen eine
Adjektiv-Nomen-Konstruktion. Die strukturnahe Übersetzung von wǒ
(zhī) fù ᡁѻ⡦ im Deutschen wäre also beispielsweise nicht ‘mein
Vater’ sondern ‘der Vater von mir’. Es liegt also folgende Struktur vor:
Proformen 349

Graphik 39: Pronominale Modifikation (Personalpronomina)

PRN des Modifika- Bezugs-


Modifi- tions- Nominal-
kanten anzeiger phrase

von mir / mein Vater

Die Regeln, welche die Setzung des Modifikationsanzeigers steuern,


sind nicht klar. Es könnten (formal schwer feststellbare) stilistische,
satzrhythmische oder kollokationsprosodische Gründe sein. Ziemlich
sicher aber spielen auch semantische Gründe eine Rolle, wie z.B. bei der
Differenzierung von

a. dein Haus (zum Hausbesitzer gesagt)


b. das Haus von Dir (zum Architekten gesagt).

Die korrekte Erkenntnis der Possessivstruktur ist aber aus dem folgenden
Grunde sehr wichtig: Neben den in 8.1.3 genannten Demonstrativ-
pronomina existieren noch die homographen Determinanten (vgl. 8.3
unten). Der Unterschied zwischen diesen beiden Wortklassen wird
unmittelbar klar, wenn man die folgenden zwei Beispiele vergleicht:

a. dieser Vater (Determinant)


b. der Vater von diesem (Demonstrativpronomen)

Diese Differenz wird in gewissen Belegen – wohl zur Vermeidung am-


biger Strukturen – signalisiert, und zwar so, dass die Possessivkon-
struktion unter Beteiligung von Demonstrativpronomina nach dem eben
erläuterten Muster erfolgt und der Modifikationsanzeiger zhī ѻ gesetzt
wird.
Wie aus der Tabelle 14 ebenfalls ersichtlich ist, kann das Objekts-
pronomen zhī ѻ nicht in possessiven Konstruktionen verwendet werden
(die im Shī Jīng 䂙㏃ – Buch der Lieder – anzutreffende “attributive”
Konstruktion mit zhī ѻ scheint eher auf eine Funktion als Determinant
zu weisen, und nicht als Demonstrativum). In der possessiven Konstruk-
tion tritt das Pronomen der 3. Person qí ަ auf:
350 Kapitel 8

Graphik 40: Pronominale Modifikation (Possessivpronomina)

PRN des Modifika- Bezugs-


Modifi- tions- Nominal-
kanten anzeiger phrase

von ihm / sein Vater


von ihr / ihr

Da qí ަ in den Texten meist, wenn nicht sogar ausschliesslich, geniti-


visch bzw. possessiv konstruiert ist (es pronominalisiert auch Neben-
satzsubjekte, die bekanntlich in der ersten Einbettungsphase stets als
Subjektsgenitive realisiert werden), könnte man sich fragen, ob in der
obigen graphischen Darstellung der Modifikationsanzeiger zhī ѻ über-
haupt aufzuführen ist. Systematische Gründe (Vereinheitlichung der
possessiven Konstruktion bei den Pronomina), aber auch einige seltene
und aufschlussreiche Beispiele, in denen der Modifikationsanzeiger ex-
plizit ausgedrückt ist (z.B. im Buch der Lieder oder in LSCQ 19: qí zhī
dí ަѻᮥ ‘sein Gegner (vgl.: ihm sein Gegner)’) sprechen dafür, dies
doch zu tun. Offenbar werden damit Nuancen zum Ausdruck gebracht,
die analog den oben beschriebenen zu deuten sind (qí zǐ ަᆀ ‘seine
Söhne’– qí zhī zǐ ަѻᆀ ‘die Söhne von ihm (vgl.: ihm seine Söhne)’).
Erinnert sei auch daran, dass eine Konstituente wie qí gù ަ᭵ ‘der
Grund dafür’ (und nicht ‘sein Grund’) für die Beibehaltung spricht.

8.1.5 Reflexiv- und Reziprokpronomina

Im AC gibt es zwei Reflexivpronomina:

㠚 zì (AC *dzit) und ᐡ jǐ (*k(r)ə-q)

Von der Bedeutung her (‘sich selbst, von selbst’) sind sie nicht zu unter-
scheiden, wohl aber von der syntaktischen Funktion:

㠚 Das Pronomen zì 㠚 kann in jeder Objektsfunktion (direkt, indirekt,


adverbial) realisiert werden, wobei seine Position regelmässig prä-
verbal ist. Es ist stets auf das Subjekt des Satzes (oder Nebensatzes)
Proformen 351

bezogen, in dem es realisiert ist (technisch ausgedrückt: das Prono-


men und das Referenzsubjekt sind unter dem gleichen Satzknoten S
generiert). Vgl. Beispiele B 414 und B 415.

ᐡ Das Pronomen jǐ ᐡ ist über eine Satzgrenze hinaus auf ein Subjekt
bezogen (technisch ausgedrückt: das Pronomen und das Referenz-
subjekt sind unter verschiedenen Satzknoten S generiert), wobei
seine Position regelmässig postverbal ist. Ausserdem tritt es in der
possessiven Konstruktion auf. Vgl. Beispiele B 413 bis B 418.

B 414 ‫ޜ‬н㠚䘱 Huán 3.6 Zuǒ


gōng bù zì sòng
Der Patriarch begleitet (die Braut) nicht selbst.

B 415 Ӗ㠚⇪ҏ Zhuāng 19 fù 1 Zuǒ


yì zì shā yě
Überdies war er einer, der sich selbst tötete.

B 416 ᠬަ⇪ᐡҏ Huán 17 fù Zuǒ


jù qí shā jǐ yě
X befürchtete, dass er (Y) ihn (X) töten (würde).
Kommentar: jǐ ᐡ bezieht sich nicht auf das Subjekt des
Komplementsatzes qí (Y), sondern auf das Subjekt im Hauptsatz
(X).

B 417 䄰ӪӪӖ䄰ᐡ Xuān 14.6 Zuǒ


móu rén rén yì móu jǐ
Wer gegen andere Pläne schmiedet, gegen den werden die an-
deren auch Pläne schmieden.

B 418 㦺ဌԕ⛪ᐡᆀ Yǐn 3 fù 2 Zuǒ


Zhuāng Jiāng yǐ wéi jǐ zǐ
(Ihn) machte die (geborene) Jiāng des Zhuāng(-Patriarchen von
Wèi) zu ihrem eigenen Sohn.

Dass das Pronomen jǐ ᐡ von seinem syntaktischen Verhalten und seiner


morphonologischen Gestalt her näher bei den anderen Pronomina anzu-
siedeln ist als das Pronomen zì 㠚, welches mit dem präpositionalen
352 Kapitel 8

Homographen assoziiert ist, zeigt sich deutlich auch in der folgenden,


von Beispiel B 418 abweichenden possessiven Äusserung:

B 419 ᖬᐡѻᆀ Xī 24 fù 2 Zuǒ; Shī-Zitat


bǐ jǐ zhī zǐ
Jene Kinder von ihm.
Anmerkung: Der Unterschied zur formelhaften Shījīng-Phrase bǐ
qí zhī zǐ ᖬަѻᆀ liegt in den referentiellen Bezügen: qí ަ hat
Subjektsbezug; jǐ ᐡ bezieht sich auf ein “nicht-Subjekt”.

Das Reziprokpronomen

⴨ xiāng (AC *s-taŋ) ‘gegenseitig, einander’

steht regelmässig präverbal und ist je nach Semantik des Verbs mit
‘gegenseitig’ oder aber mit ‘einander’ wiederzugeben. Z.B.:

B 420 䄨‫⴨ן‬ᵍ Zhāo 13.8 Zuǒ


zhū hòu xiāng cháo
(Wenn) die Lehensfürsten sich gegenseitig Hofbesuche abstat-
ten, […]

B 421 ᡁ⦫‫ޜ‬৺ぶ‫ྭ⴨ޜ‬ Chéng 13.4 Zuǒ


wǒ Xiàn gōng jí Mù gōng xiāng hào
Unser Xiàn-Patriarch und der Mù-Patriarch waren einander in
Freundschaft verbunden.

Etymologisch gesehen erklärt sich die Reziprozität dieses Pronomens


vielleicht als *s-direktive Derivation von einer der PRP dāng ⮦ (AC
*ttaŋ) ‘bis; zu’ zugrundeliegenden Verbalsemantik ‘sich verhalten zu,
sich befinden gegenüber’.

8.1.6 Quantoren

Es gibt im AC eine Vielfalt von quantifizierenden Ausdrücken für eine


Gesamt-, Teil- oder Nullmenge, die als Distributiva oder Quantoren
Proformen 353

bekannt sind. Zu diesen Ausdrücken gehören u.a. (die Aufzählung ist


nicht erschöpfend, vgl. auch 8.1.3):

Ⲷ jiē (AC *kkrij) ‘(Totalität, Gesamtheit), alle(s), allesamt, aus-


nahmslos’

B 422 ӪⲶᴹѻ Mèng 6A.6


rén jiē yǒu zhī
Alle Menschen haben es.

㧛 mò (AC *ma-k) ‘niemand nichts, keiner / -e / -es’

B 423 ཙл㧛ᕧ✹ Mèng 1A.5


tiān xià mò qiáng yān
Keiner (der Fürstentumer) in des Reichs ist stärker als es (d.i. Jìn
㗱)

Man vergleiche auch die Belege B 391 und B 392.

਴ gè (*kka-k) ‘jeder (einzelne), je, jeweils’

B 424 བྷཛ਴ᝋަᇦ Mò Zǐ 14.11


dài fū gè ài qí jiā
Von den Dàifū liebt ein jeder seine Familie.

ᡆ huò (*wwə-k) ‘einige, jemand; einer; der eine – der andere’

B 425 ᡆᴠ Mèng 1B.15; 14.17


huò yuē
jemand / einer / ein anderer sagte: “[…]”

ࠑ fán (*b(r)[ə,o]m) ‘im allgemeinen, in allen Fällen, wann immer;


insgesamt’

B 426 ࠑӄㅹҏ Mèng 5B.12


fán wǔ děng yě
Insgesamt sind es fünf (Rang)stufen.
354 Kapitel 8

Diese Beispiele genügen zur Illustration der syntaktischen Konstruktion,


nicht jedoch der vielfältigen semantischen Beziehungen (vgl. HARBS-
MEIER 1981). Die Diskussion über den kategorialen Status der Quantoren
kommt in der Regel zum Schluss, diese seien Adverbien. Da sie prak-
tisch ausschliesslich in präverbaler Stellung vorkommen, scheint diese
Zuweisung bestätigt zu sein. Problematisch daran ist bloss, dass die
Quantoren – inhaltlich gesehen – gar nicht das Verb modifizieren, son-
dern nominale Elemente der Äusserungen (z.B. Subjekt oder Objekt), ja
sogar selbst Träger der Referenz sein können. In diesem Sinne sind sie
doch als nominale oder allenfalls pronominale Konstituenten aufzufas-
sen. Hierfür spricht auch, dass die meisten Quantoren morphologisch
durch das Distributivsuffix *-k markiert sind, das beim Adverb weitge-
hend unbekannt ist. Die Gegenüberstellung der folgenden Beispiele mit
dem Quantor jiē Ⲷ legt die (pro)nominale Interpretation erst recht nahe,
denn sie illustrieren mit aller Deutlichkeit den bei den Quantoren in
erster Linie zu beachtenden Parameter, nämlich die Unterschiede im
Referenzbezug.

B 422 ӪⲶᴹѻ Mèng 6A.6


rén jiē yǒu zhī
Alle Menschen haben es.
Kommentar: jiē Ⲷ hat in dieser Äusserung Subjektsbezug.

B 427 ᆛᆀⲶ⇪ѻ Xiāng 14.4 Zuǒ


Sūn zǐ jiē shā zhī
Meister Sun tötete sie alle.
Kommentar: jiē Ⲷ hat in dieser Äusserung Objektsbezug. Es
kann aus semantischen Gründen nicht Subjektsbezug haben, weil
das Subjekt in der Einzahl ist.

Diese beiden Beispiele genügen eigentlich, um die adverbiale These zu


falsifizieren. Auch der Ansatz einer genitivischen Konstruktion in Bei-
spiel B 422 kann die Analyse von Beispiel B 427 nicht wesentlich beein-
trächtigen, denn es ist nicht an eine modifizierende Genitivkonstruktion
zu denken (etwa: rén (zhī) jiē ӪѻⲶ ‘die Gesamtheit der Menschen /
Persönlichkeiten’), sondern an eine appositive (etwa: rén jiē ӪⲶ ‘die
Menschen / Persönlichkeiten, alle’). Damit bleibt der pronominale Cha-
rakter des Quantors erhalten. Man könnte noch zugunsten der adver-
Proformen 355

bialen These argumentieren, dass die Beispiele ein weiteres Mal die
ausgeprägte Prädikatsbezogenheit des AC illustrieren. Die Quantifikation
erfolgt nicht im Rahmen nominaler Strukturen (die deutsche Kon-
struktion, ‘alle Menschen / Persönlichkeiten’, kann strukturell nicht
nachgebildet werden), sondern mit Proformen im Rahmen der Adver-
bialgruppe des Verbs. Die Quantoren wären im wesentlichen Spezia-
lisierungen des allgemeinen adverbialen Ausdrucks des Masses, wie an
der folgenden quantifizierenden Äusserung abzulesen ist:

B 428 ཊ㹼н㗙 Yǐn 1.3 Zuǒ


duō xìng bù=yì
Wenn er noch mehr / weitere Unkorrektheiten begeht, [dann …]
Wörtlich: wenn er in grösserem Umfang / Masse Unkorrekthei-
ten begeht, dann […]

Die adverbiale These stützt sich offenbar zur Hauptsache auf den Um-
stand, dass quantifizierende Ausdrücke präverbal, und zwar meist un-
mittelbar vor dem Verb positioniert sind. Wie in diesem Kapitel schon
aufgezeigt, können viele pronominale Formen im Rahmen bestimmter
Kommunikationsstrategien oder syntaktischer Konstruktionen (etwa das
Relativpronomen suǒ ᡰ) präverbal positioniert sein. Warum Quantoren
wie jiē Ⲷ oder mò 㧛 immer vor dem Verb positioniert sind, hängt mit
ihrer inhärenten Definitheit zusammen.

8.1.7 Relativpronomina

Siehe die Ausführungen über die Syntax der Relativsätze in 4.1.

8.1.8 Fragepronomina

Man vergleiche die Ausführungen zu den Fragesätzen in 7.1.3.1.


356 Kapitel 8

8.2 Proprädikate

Im AC lassen sich je eine affirmative und eine negierende Form identifi-


zieren, welche Prädikatsstrukturen substituieren können. Man vergleiche
die folgenden Beispiele (und die Ableitung in 7.1.3.1):

B 429 䃠ᴠн❦ Yǐn 1.3 Zuǒ


shuǐ yuē bù rán
Wer würde sagen, es sei nicht so gewesen?

B 430 ᵚ⸕ਟ੖ Xiāng 31 fù 8 Zuǒ


wèi zhī kě fǒu
Ich weiss nicht, ob er es erlaubt oder nicht.

B 431 н❦ࡷ੖ Yǐn 11 fù 4 Zuǒ


bù rán zé fǒu
Wenn es nicht so war (dass man Mitteilung machte), dann tat
man es nicht (nämlich das Ereignis in die Annalen eintragen).

Eine häufige Äusserungsform dieser Proprädikate ist natürlich die Be-


stätigung oder Ablehnung einer Aussage. In dieser Funktion sind sie den
deutschen Satzproformen ‘ja’ und ‘nein’ vergleichbar. Etymologisch
betrachtet ist das positive Proprädikat rán ❦ (*na-n) ein durch das
durativ-kontinuative Aspektsuffix *-n von dem Verb rú ྲ < *na ‘es
kommt zu X’ abgeleitetes Verb. Dieselbe Wurzel erscheint als *-k-
distributive Derivation in ruò 㤕 (*na-k) ‘es kommt (jeweils) dazu’. Die
funktional entsprechende negative Form fǒu ੖ (*pə-q) hingegen gehört
zu einem anderen morphologischen Entstehungshintergrund. Sie ist ein
mittels des uns aus dem Bereich des Pronomen mittlerweile wohlbe-
kannten Suffixes *-q gegenüber der einfachen indikativischen Negation
bù н (*pə) als prosodisch unabhängig ausgezeichnetes Verb.
Proformen 357

8.3 Fusionsformen

Für das Objektspronomen zhī ѻ (AC *tə) und das Demonstrativprono-


men shì ᱟ (AC *de-q) gilt es als erwiesen, dass sie phonetische Verbin-
dungen mit bestimmten Präpositionen und Sprechaktmarkierungen
eingehen. Es liegt in diesen Fällen das relativ seltene Phänomen vor,
dass das Schriftsystem eine durch umgangssprachliche allegro-Sprech-
weise ausgelöste Assimilationserscheinung, bei der zwei prosodisch
offenbar leichte Silben monosyllabiert werden, auch durch Setzung eines
einfachen Schriftzeichens signalisiert, während das Gros der umgangs-
sprachlichen Verschleifungen dieses Typs keinen Niederschlag in der
Schrift gefunden haben dürfte. Dafür hat sich der Begriff der Fusions-
oder Allegroform eingebürgert. Die folgenden Fusionsformen treten in
der Literatur regelmässig auf:

A. Wird in einer mit der Markierung yú ᯬ eingeleiteten Kasusphrase


das Objekt mit shì ᱟ pronominalisiert, so entsteht die folgende
Fusionsgleichung:

ᯬᱟ yú shì (AC *ʔa de-q) → ✹ yān (*ʔa-n)

Das Erscheinen von auslautendem *-n anstelle des zu erwartenden *-t


wird oft als Lenitionserscheinung vor der satz- oder phrasenfinalen
Sprechpause aufgefasst und ist auch aus anderen Allegroformen bekannt.
Möglicherweise handelt es sich aber auch um einen Fall der im tibeto-
burmesischen und tai-kadaiischen Areal verbreiteten “Rhinoglottophilie”
(MATISOFF 1975, SPRIGG 1987), bei der die “Umklammerung” der
fusionierten Silben durch glottale Artikulationen (*ʔ- … -q) die Ab-
schwächung des auslautenden Wurzeldentals zu *-n begünstigt hat. Die
traditionelle Erklärung von ✹ yān als Fusion von yú zhī ᯬѻ (AC *ʔa
tə) ist, wie Smith (2012) kürzlich gezeigt hat, nicht nur phonetisch weni-
ger plausibel, sondern schon deshalb unwahrscheinlich, weil yān ✹ auch
graphisch in zhànguó-zeitlichen Bambusleisteninschriften leicht als Li-
gaturschreibung der beiden Einzelzeichen yú shì ᯬᱟ zu erkennen ist.
358 Kapitel 8

B 432 䝝ᴹӪ✹ Zhuāng 28.4 Zuǒ


Zhèng yǒu rén yān
Was [das Fürstentum] Zhèng angeht, so hat [Chǔ] Persönlich-
keiten in dieses platziert. (Wörtlich: … Persönlichkeiten in die-
sem vorhanden sein gemacht.)
Kommentar: Pronominalisierung und Präponierung des lokativen
Objekts in einer Äusserung mit dem trivalent-kausativen Verb
yǒu ᴹ ‘haben / besitzen’.

B 433 㖚㧛བྷ✹ Zhuāng 19 fù 1 Zuǒ


zuì mò dà yān
Keine Schuld ist grösser als diese.
Kommentar: Komparativstruktur, in der das durch die Präposi-
tion yú ᯬ eingeführte Vergleichsglied pronominalisiert ist.

B 434 ‫・ޜ‬㘼≲ᡀ✹ Yǐn 1.5 Zuǒ


gōng lì ér qiú chéng yān
Nach seiner Inthronisierung erbat der Patriarch (von Lǔ) den Ab-
schluss (eines Friedens) von diesem (d.i. dem Herzog von Sòng).
Kommentar: Äusserung mit dem trivalenten Hauptverb qiú ≲,
dessen indirektes Objekt pronominalisiert ist.

B. Wird unmittelbar vor einer mit der präpositionsartigen Kasusmar-


kierung yú ᯬ eingeleiteten Kasusphrase mit realisierter Nominal-
phrase das (direkte) Objekt mit zhī ѻ pronominalisiert, so entsteht
die folgende Fusionsgleichung:

ѻᯬ zhī yú (AC *tə ʔa) → 䄨 zhū (AC *ta)

B 435 ᜐ⦻୿䄨‫ޗ‬ਢ䙾 Zhuāng 32 fù Zuǒ


Huì wáng wèn zhū nèi shǐ Guò
Der Huì-König erkundigte sich danach beim Annalisten des
Innern Guò.
Kommentar: Das DO des trivalenten Verbs wèn ୿ ist pronomi-
nalisiert.
Proformen 359

B 436 䝝Ӫഊ䄨ቩ∿ Yǐn 11.4 Zuǒ


Zhèng rén qiú zhū Yǐn shì
Persönlichkeiten von Zhèng hielten ihn beim Vorsteher des
Stamms der Yǐn gefangen.
Kommentar: Das DO vor dem Lokativobjekt ist pronominalisiert.

An diesen Fusionsvorgängen sind besonders die trivalenten Verben


beteiligt:

Tabelle 17: Fusionskombinationen bei trivalenten Verben (Typ I)

‫ޜ‬ ԕ 䞂 伢 㠓 ԕ 䞂 ᯬ 㠓
gōng yǐ jiǔ yìn chén yǐ jiǔ yú chén
SUB K DO V IO K DO K IO

‫ޜ‬ 伢 㠓 䞂
‫ޜ‬ 伢 ѻ 䞂
‫ޜ‬ ԕ 䞂 伢 㠓
‫ޜ‬ ԕ 伢 㠓
‫ޜ‬ 伢 㠓 ԕ 䞂
‫ޜ‬ 伢 ѻ ԕ 䞂
‫ޜ‬ 伢 䞂 ᯬ 㠓
‫ޜ‬ 伢 FUS-B 䄨 㠓
‫ޜ‬ 伢 䞂 ✹ FUS-A

‫ޜ‬ 伢 ѻ ✹ FUS-A

Die Tabelle zeigt, dass sowohl direkte (mit der Kasusmarkierung yǐ ԕ


signalisierte) wie auch indirekte (mit der Kasusmarkierung yú ᯬ signa-
lisierte) Objekte in verschiedenen Pronominalkombinationen mit den
obigen Fusionsformen auftreten können. Das Demonstrativpronomen shì
ᱟ (FUS-A) bzw. das Objektspronomen zhī ѻ bilden mit den jeweiligen
Kasusmarkierungen zusammen die aufgeführten Äusserungsmöglich-
keiten (FUS-B; vgl. auch 2.5.1). Ersichtlich wird auch, dass das Objekts-
360 Kapitel 8

pronomen nach der Kasusmarkierung yǐ ԕ als Nullform auftritt. Werden


beide Objekte postverbal pronominalisiert, so geht in jedem Fall die
Fusionierung der markierten Phrase vor.
Bei den konversen Verben (vgl. Graphik 22, 2.5.1) gibt es die fol-
genden, weniger zahlreichen Möglichkeiten:

Tabelle 18: Fusionskombinationen bei trivalenten Verben (Typ II)

‫ޜ‬ ୿ 㠓 ԕ ᭯ ᯬ 㠓
gōng wèn chén yǐ zhèng yú chén
SUB V IO K DO K IO

‫ޜ‬ ୿ 㠓 ᭯
‫ޜ‬ ୿ ѻ ᭯
‫ޜ‬ ୿ ᭯ ᯬ 㠓
‫ޜ‬ ୿ FUS-B 䄨 㠓
‫ޜ‬ ୿ ᭯ ✹ FUS-A

‫ޜ‬ ୿ ѻ ✹ FUS-A

C. Tritt das Objektspronomen zhī ѻ unmittelbar vor dem interroga-


tiven oder exklamatorischen Wort hū Ѿ auf, so kann die folgende
Fusionsgleichung entstehen:

ѻѾ zhī hū (AC *tə ɦɦa) → 䄨 zhū (AC *ta)

B 437 ❦ࡷⴏ䄨 Xiāng 11.1 Zuǒ


rán, zé méng zhū
Wenn dem so ist, so lasst es uns in einem Eidbund beschwören!
Kommentar: Fusion des Objektspronomens mit der exklamato-
rischen Interjektion SM hū Ѿ.

B 438 ᆀ㚎䄨 Zhāo 8 fù 2 Zuǒ


zǐ wén zhū
Habt Ihr es erfahren?
Proformen 361

Kommentar: Fusion des Objektspronomens mit dem Fragewort


SMhū Ѿ.

Während die Fusionsform yān ✹ (Fall A) noch als eine Proform im


Sinne der bereits besprochenen Formen gelten könnte – es wird eine syn-
taktisch zusammengehörige Konstituente, nämlich die Kasusmarkierung
und die zugehörige Nominalphrase, zusammengefasst – ist die Existenz
der Fusionsform zhū 䄨 (Fälle B und C) ein unübersehbarer Beleg dafür,
dass Fusionsformen nicht das Ergebnis von syntaktischen Transforma-
tionen sind, sondern von phonetischen Prozessen in der Oberflächen-
struktur. Und dies gilt strenggenommen auch für yān ✹, denn die
Fusion des Demonstrativpronomens in Objektposition mit der Kasusmar-
kierung kann erst nach der Pronominalisierung, also nach der syntak-
tischen Transformation stattfinden. Die anschliessende Fusion müsste
dann als eine (gewiss zweifelhafte) Superpronominalisierung aufgefasst
werden. Die Fusionsformen haben demzufolge nicht Wortklassenstatus,
sondern sind zweifellos als Spuren zu werten, welche auf eine gewisse
Nähe antiker Texte zur gesprochenen Sprache verweisen.

D. Eine weitere Fusionsform ist bei der Frageform des Nominalsatzes


anzusetzen. Bei der Fragebildung im Nominalsatz kann man – im
Sinne einer Verallgemeinerung der Fragesatzbildung – davon ausge-
hen, dass das satzfinale yě ҏ mit dem Fragewort hū Ѿ (aber auch
mit der homographen – und gleichlautenden – exklamatorischen
Interjektion hū Ѿ) die folgende Fusionsgleichung eingeht:

ҏѾ yě hū (AC *llaj-q ɦɦa) → 㠷 yú (*la)


oder → ↏ yú (*la)

B 439 ཛᆀ㚆㘵㠷 Lùn Yǔ 9.6


fú-zǐ shèng zhě yú
Ist der ehrenwerte Meister ein Weiser?
Kommentar: Nominaler Fragesatz.

B 440 ੮ᗇ㾻㠷੖ Xiāng 30 fù 1 Zuǒ


wú dé jiàn yú fǒu
Ob ich einer bin, der (es) zu sehen bekommt oder nicht, […]
Kommentar: Indirekte Rede.
362 Kapitel 8

Es existieren im archaischen und antiken Chinesisch noch eine halbes


Dutzend weiterer Fusionsformen, in denen Spuren von Pronominal-
stämmen vermutet werden. Da sie allerdings auch nicht ansatzweise so
systematisch und häufig verwendet werden, wie die hier besprochenen,
soll auf ihre weitere Darstellung verzichtet werden.
9 Emphasemuster

Emphase ist strenggenommen ein pragmatischer Prozess. Sie bedient


sich vornehmlich zweier grammatischer Mittel, nämlich einerseits pho-
netischer und phonischer (Silbenton und Satztonmuster), andererseits
auch syntaktischer Mittel (Position und Konstruktion). Beim ersten
Mittel handelt es sich um einen Vorgang, der keine oder nur vermutbare
Spuren in schriftlichen Äusserungen und Texten hinterlässt. Hierzu ge-
hören unter anderen:

– Konkatenierungen von Silben im markierten Silbentyp A (vgl. Kap.


10.3.2) bei expressiven Ausrufen, wie in wū-hū 匤બ (< AC *ʔʔa
xxa), āi zāi ૰ૹ (< AC *ʔʔa ttsə) hū zāi Ѿૹ (< *xxa ttsə) usw.
– zerdehnt gesprochene, also disyllabische ‘lento’-Formen von ge-
wöhnlich monosyllabisch auftretenden Begriffen, wie z.B. gōu dú
ਕ☶ (< AC *kko=llok) neben gǔ ば (< AC *kk(l)ok), ein Ortsname,
Xū=yú 丸㠮 (< *s-no=lo) und sī=xū ᯟ丸 (< *se=*s-no) neben
einfachem xū 丸 (< *s-no) ‘einen Moment lang’, bù=lái нᶕ
(*pə=rrə(k)) neben lí 䊽 (< *(Cə)=rrə) ‘Wildkatze’ usw.
– Erweiterung durch Silben ohne erkennbare syntaktische Funktion
bei invertierbaren zweisilbigen Protasiseinleitungen, z.B. ruò nǎi
㤕ѳ (*nak nnəŋ-q) neben nǎi ruò ѳ㤕 (*nnəŋ-q nak) nǎi ruò fú
ѳ㤕ཛ (*nnəŋ-q nak ba) und ruò nǎi fú 㤕ѳཛ (*nak nnəŋ-q ba)
‘wenn wir nun also dazu übergehen, dass ...’; Einschub von zhī ѻ in
Pronominalformen, z.B. mò 㧛 (< *mma-k) neben wú huò ❑
ᡆ˄*ma wwə-k), mò huò 㧛ᡆ (< *mma-k wwə-k) und mò zhī huò
㧛ѻᡆ (< *mma-k tə wwə-k) usw.

Da unklar ist, inwieweit bei solchen Phänomenen auch dialektale, sozio-


lektale und diachrone Hintergründe, oder gar Substrateinflüsse eine
Rolle gespielt haben, wollen wir uns in diesem Kapitel allerdings auf die
Darstellung einiger herausragender syntaktischer Konstruktionsmuster
beschränken.
364 Kapitel 9

9.1 Thematisierung eines Satzgliedes

Unter Thematisierung wird hier folgendes verstanden: Beliebige Satz-


glieder – vorzugsweise jedoch die nominalen – können aus ihrer übli-
chen Position in der Äusserung nach links in die meist satzinitiale
Stellung versetzt werden, wodurch sie zum Thema der Äusserung wer-
den. In der linguistischen Literatur werden manchmal auch die Begriffe
“Topikalisierung”, “Fokussierung” oder “Linksversetzung” verwendet.
Meist geschieht dies nicht, ohne dass eine Proform als Spur an der ur-
sprünglichen Position hinterlassen wird, im Unterschied zur Präponie-
rung kasusmarkierter Objekte (vgl. 8.1.2). Es ist nachdrücklich zu
betonen, dass das Satzthema nicht eine syntaktische Funktion innehat,
sondern einer pragmatisch motivierten Emphasegebung dient. Dabei ist
festzustellen, dass die syntaktische Integration des Themas von unter-
schiedlicher Konsistenz ist: in den nachstehenden ersten drei Beispielen
ist eine syntaktische Einbindung über pronominale Formen deutlich
festzustellen, im vierten Beispiel ist ein starker situativer referenzieller
Zusammenhang gegeben, während die syntaktische Einbindung schwach
ist.

B 441 Das Wintersemester, das werde ich nicht überleben.


B 442 Die Grosse Mauer, die würden viele Leute gerne sehen.
B 443 Ein gutes Lehrbuch, das wäre zu begrüssen.
B 444 Einen Porsche – er ist doch verrückt, so etwas zu fahren!

Die folgenden Abschnitte behandeln die wichtigeren linksversetzenden


Prozesse, wobei die Beschreibung der benutzten syntaktischen Struktu-
ren im Vordergrund steht. Die Frage, ob im einzelnen Fall eine Topikali-
sierung, eine Fokussierung oder eine andere Form von Emphase vorliegt,
wird nur bei Bedarf angeschnitten. Zunächst ist vielmehr zu klären, wie
Themen strukturell zu behandeln sind. Es ist deutlich, dass wir es mit
einer Transformation zu tun haben. Da diese Transformation ein Satz-
glied aus dem Satzverband herauslöst, muss dieses Glied eine entspre-
chende Position in der Strukturdarstellung einnehmen, nämlich ausser-
halb des ursprünglichen Satzverbandes. Mit anderen Worten: Das
Satzglied muss links neben den bestehenden Satzknoten zu liegen
Emphasemuster 365

kommen (technisch gesprochen: es muss zur “linken Schwester” wer-


den), was zur folgenden strukturellen Einbindung führt:

Graphik 41: Struktur der Thematisierung

NP S

9.1.1 Thematisierung eines Objektes

Postverbale Objekte aller Komplexitätsstufen – in der Regel direkte


Objekte – können nach links in die satzinitiale Position versetzt werden,
wobei die verlassene postverbale Position mit dem Objektspronomen zhī
ѻ markiert wird. Das geschieht allerdings nur dann regelmässig, wenn
das zugehörige Verb nicht negiert ist; ist es negiert, so ist die Tilgung
des Pronomens die Regel.

Graphik 42: Linksversetzung eines Objekts

Subjekt Verb Objekt

Thema Subjekt Verb

Man vergleiche die folgende kommentierte Beispielreihe:

B 445 㚆Ӫ੮нᗇ㘼㾻ѻ⸓ Lùn Yǔ 7.26


shèng rén, wú bù dé ér jiàn zhī yǐ
Einen weisen Rén, den habe ich nicht zu Gesicht bekommen.
Kommentar: Das “adjektivisch” modifizierte Objekt shèng rén
㚆Ӫ ist thematisiert; postverbal erscheint die pronominale Spur
zhī ѻ.
366 Kapitel 9

B 446 ᱟ䶎ѻᗳӪⲶᴹѻ Mèng 6A.6


shì fēi zhī xīn, rén jiē yǒu zhī
Ein Sensorium für den Unterschied zwischen Recht und Unrecht,
das haben alle Menschen.
Kommentar: Das genitivisch konstruierte Objekt shì fēi zhī xīn
ᱟ䶎ѻᗳ ist thematisiert; postverbal ist die pronominale Spur
zhī ѻ.

B 447 䚃ѻн㹼ᐢ⸕ѻ⸓ Lùn Yǔ 18.7


dào zhī bù=xìng, yǐ zhī zhī yǐ
Das Nichtpraktizieren des Führens, das ist mir schon bekannt.
Kommentar: Das mit einem Nominalkomplement konstruierte
Objekt dào zhī bù=xìng 䚃ѻн㹼 ist thematisiert; postverbal
erscheint die pronominale Spur zhī ѻ.

B 448 䚃ѻн㹼ҏᡁ⸕ѻ⸓ Zhōng Yōng 3.1


dào zhī bù xìng yě, wǒ zhī zhī yǐ
Dass das Führen nicht praktiziert wird, das habe ich schon be-
merkt.
Kommentar: Das als Komplementsatz (vollständige Markierung
mit dem subjektiven zhī ѻ und dem abschliessenden yě ҏ – im
Gegensatz zu B 447) konstruierte Objekt dào zhī bù xìng yě
䚃ѻн㹼ҏ ist thematisiert; postverbal erscheint die pronomi-
nale Spur zhī ѻ. Vergleiche Strukturbaum 106 und Struktur-
baum 107 unten.

B 449 ᆀᕂަ⡦㘵ᴹѻ Mèng 3B.9


zǐ shì qí fù zhě, yǒu zhī
Der Fall, dass ein Sohn seinen Vater ermordet, der kommt vor.
Kommentar: Das Objekt zǐ shì qí fù zhě ᆀᕂަ⡦㘵 (= Rela-
tivsatz) ist thematisiert; postverbal ist die pronominale Spur zhī
ѻ.

B 450 䶎⿞ѻ⿞[…]བྷӪᕇ⛪ Mèng 4B.6


fēi lǐ zhī lǐ […], dà rén fú wéi [zhī]
Riten, die rituellem Verhalten zuwiderlaufen […] – diese auszu-
führen weigern sich bedeutende Persönlichkeiten.
Emphasemuster 367

Kommentar: Die pronominale Spur zhī ѻ des präponierten


Objekts fēi lǐ zhī lǐ 䶎⿞ѻ⿞ ist nach der negierten Form
regulär getilgt.

B 451 㤕᷌㹼↔ަ䝝഻ሖ䌤ѻ Xiāng 31 fù 7 Zuǒ; 26.17


ruò guǒ xìng cǐ qí Zhèng guó shí lài zhī
Wenn es so ist, dass Ihr letzteres tatsächlich durchführt, dann
wird sich das Lehen Zheng wirklich auf Euch stützen.
Kommentar: Wird das Objekt als Pronomen thematisiert, so er-
scheint das mit dem Subjektspronomen identische Pronomen qí
ަ in der Themaposition; als Spur des präponierten Objekts er-
scheint regulär das Pronomen zhī ѻ. Man beachte, dass neben
dem Thema auch ein reguläres Subjekt realisiert ist, nämlich
Zhèng guó 䝝഻.

Strukturbaum 106

Sv

KP VP
V KP
S

Strukturbaum 107

NP Sv

KP VP
V PRN
368 Kapitel 9

9.1.2 Thematisierung des Hauptsatzsubjekts

Sogar das Subjekt, welches die starke satzinitiale Position einnimmt,


kann thematisiert werden. Die emphatische Wirkung rührt daher, dass
das Subjekt zwar in der satzinitialen Position vorkommt, dass diese
Position jedoch die reguläre ist. Durch die Thematisierung wird also eine
markierte Position eingenommen. Die verlassene Position wird ebenfalls
pronominal markiert, jedoch nicht mit dem für die Objektsposition reser-
vierten Pronomen zhī ѻ, sondern entweder mit einem Demonstrativ-
pronomen, z.B. shì ᱟ, oder häufiger mit dem Subjektspronomen qí ަ.
Der emphatische Charakter solcher Äusserungen wird noch dadurch
unterstrichen, dass in sehr vielen Fällen satzabschliessend die exklama-
torische Interjektion (SM) hū Ѿ realisiert ist.

Graphik 43: Linksversetzung des Subjekts

Subjekt Verb Objekt

Thema Verb Objekt

Man vergleiche die folgende kommentierte Beispielreihe:

B 452 ᱹ‫❑ަן‬ᖼѾ Xī 11 fù 1 Zuǒ; 16.3


Jìn hóu – qí wú hòu hū
Der Markgraf von Jìn, der wird keine Nachfahren haben!
Kommentar: Das Subjekt Jìn hóu ᱹ‫ן‬des Satzes Jìn hóu wú
hòu ᱹ‫❑ן‬ᖼ ist thematisiert; an der Subjektsstelle erscheint
eine pronominale Spur in der Form des Subjektspronomens qí
ަ.

B 94 㠗ᆛ䚄ަᴹᖼᯬ冟Ѿ Huán 2.6 Zuǒ


Zāng-sūn Dá – qí yǒu hòu yú Lǔ hū!
Zāng-sūn Dá – der wird Nachkommen haben in Lǔ!
Kommentar: Das Subjekt Zāng-sūn Dá 㠗ᆛ䚄des Satzes Zāng-
sūn Dá yǒu hòu yú Lǔ 㠗ᆛ䚄ᴹᖼᯬ冟 ist thematisiert; an der
Subjektsstelle erscheint eine Spur in der Form des Subjekts-
pronomens qí ަ.
Emphasemuster 369

B 453 ‫⸕ަੋݸ‬ѻ⸓ Zhuāng 4 fù Zuǒ


xiān jūn – qí zhī zhī yǐ
Die Ahnfürsten, die erkannten es schon.
Kommentar: Das Subjekt xiān jūn ‫ ੋݸ‬des Satzes xiān jūn zhī
zhī yǐ ‫⸕ੋݸ‬ѻ⸓ ist thematisiert; an der Subjektsstelle
erscheint eine Spur in der Form des Subjektspronomens qí ަ.

B 454 ❑⡦❑ੋᱟ⿭⦨ҏ Mèng 2A.1


wú fù wú jūn, shì qín shòu yě
Ohne Vater und ohne Herrscher sein, dies ist sich wie Tiere
verhalten.
Kommentar: Das Subjekt des Nominalsatzes, bestehend aus den
koordinierten Nominalkomplementen wú fù ❑⡦ und wú jūn
❑ੋ, ist thematisiert; an der Subjektsstelle erscheint eine Spur
in der Form des Demonstrativpronomens shì ᱟ.

Man vergleiche die Veränderungen in den beiden folgenden Struktur-


bäumen:

Strukturbaum 108

Sv

KP VP
V PRN

Strukturbaum 109

NP Sv

KP VP
V PRN
370 Kapitel 9

9.1.3 Die Spalt- und Sperrsatzkonstruktion

Die in 9.1.1 und 9.1.2 diskutierten Strukturen beruhen beide auf der
Linksversetzung des zu betonenden Satzgliedes unter Hinterlassung
einer pronominalen Spur. In der folgenden Konstruktion sind die Ein-
griffe wesentlich grösser, denn die entstehende Satzform ist immer die
eines besonderen Nominalsatzes, der unter dem Begriff Spalt- oder
Sperrsätze bekannt ist. Z.B.:

B 455 Er war es, der die These aufstellte.


B 456 Was mir fehlt, sind einige gute Beispiele.

Ausgehend von einfachen Sätzen wie

B 455a Er stellte die These auf.


B 456a Mir fehlen einige gute Beispiele.

wird ein referenzielles Satzglied (‘er’ / ‘einige gute Beispiele’) entweder


zur Subjekts- (‘er war …’) oder Prädikatsnominalphrase (‘… sind einige
gute Beispiele’) in einem Nominalsatz vom Typ Spalt- (Beispiel B 455)
oder Sperrsatz (Beispiel B 456) gemacht. Der verbleibende Satzteil wird
mit einem relativen Anschluss (‘er …, der …’ / ‘[das,] was mir fehlt,
…’) in die Konstruktion integriert. Im AC existiert eine analoge
konstruktive Möglichkeit:

Graphik 44: Spaltsatzkonstruktion (Objekt)

Subjekt Verb Objekt

Relativsatz

Subjekts-NP Prädikatsnominalphrase PST


Emphasemuster 371

Wie Graphik 44 und Graphik 45 verdeutlichen, gibt es beim Nominalsatz


zwei Positionen, in die das zu betonende Satzglied versetzt werden kann:
Subjekts- oder Prädikatsnominalphrase. In der Graphik 44, welche die
Spaltsatzkonstruktion darstellt, wird die zu betonende Nominalphrase
des zugrundeliegenden Verbalsatzes in die Position der Subjektskasus-
phrase versetzt, während der Rest des Verbalsatzes in einen Relativsatz
transformiert wird, der die Position der Prädikatsnominalphrase ein-
nimmt. Diese linksversetzte Konstruktion scheint Fokus oder Kontrast
zu markieren (‘nicht etwas anderes, sondern das’). Man vergleiche das
folgende Beispiel:

B 457 冊ᡁᡰⅢҏ Mèng 6A.10


yú wǒ suǒ yù yě
Fische sind [Dinge], die ich begehre / will.
Kommentar: Das Objekt yú 冊 des Verbalsatzes wǒ yù yú ᡁⅢ
冊 (‘Ich begehre / will Fisch[e]’) ist zur Subjektskasusphrase
eines Spaltsatzes gemacht worden; der verbleibende Teil des
Verbalsatzes, nämlich wǒ yù (X) ᡁⅢ ist mit dem von den
restriktiven Relativsätzen her bekannten, mit suǒ ᡰ markierten
Konstruktion als Prädikatsnominalphrase – Markierung mit yě
ҏ – beigefügt (vgl. 4.1.3.3 oben).

Graphik 45: Sperrsatzkonstruktion

Subjekt V Objekt

Relativsatz

Subjektsnominalphrase Prädikats-NP PST

Wie aus der Graphik 45 zu ersehen ist, wird die zu betonende Nominal-
phrase des zugrundeliegenden Verbalsatzes in die Prädikatsnominal-
phrase versetzt, während der Rest des Verbalsatzes als transformierten
372 Kapitel 9

Relativsatz die Subjektskasusphrase bildet. Diese rechtsversetzte Kon-


struktion wirkt wie eine spannungssteigernde Verzögerungsemphase.
Zum Beispiel:

B 458 ⣴ӪѻᡰⅢ㘵੮൏ൠҏ Mèng 1B.15; 14.9


Dí rén zhī suǒ yù zhě wú tǔ dì yě
Was die Di-Rén begehren, ist mein Boden und Territorium.
Kommentar: Das Objekt wú tǔ dì ੮൏ൠ des Verbalsatzes dí rén
yù wú tǔ dì ⣴ӪⅢ੮൏ൠ ist Prädikatsnominalphrase eines
Sperrsatzes (Markierung mit yě ҏ); der Rest des Verbalsatzes,
nämlich dí rén yù (X) ⣴ӪⅢ, bildet eine mit suǒ ᡰ markierte
restriktive Relativsatzkonstruktion in der Subjektskasusphrase
(vgl. 4.1.3.3 oben).

Man beachte die Unterschiede zwischen Spaltsatz (Strukturbaum 111)


und Sperrsatz (Strukturbaum 112):

Strukturbaum 110

Sv

KP VP
V KP
Emphasemuster 373

Strukturbaum 111

Sn

NP PSP
NP PST
Sv SB 110

KP VP
PRN V

Strukturbaum 112

Sn

NP PSP
NP PST
Sv SB 110

KP VP
PRN V

Bei den bisher behandelten Beispielen ist aus dem zugrundliegenden


Verbalsatz das Objekt (genauer: ein referenzielles Element, das nicht
Subjekt ist) entweder in die Subjektskasusphrase (Spaltsatz) oder in die
Prädikatsnominalphrase (Sperrsatz) versetzt worden. Was geschieht,
wenn das betroffene Element Subjekt im zugrundeliegenden Verbalsatz
ist? In einem solchen Fall wird das Subjekt des Verbalsatzes in die
Prädikatsnominalphrase versetzt (die Subjektskasusphrase bleibt leer =
‘es’), während der Rest des Verbalsatzes in der Form eines appositiven
374 Kapitel 9

Relativsatzes an das Kernnomen in der Prädikatsnominalphrase ange-


schlossen wird, wie die folgende Graphik 46 zeigt:

Graphik 46: Spaltsatzkonstruktion (Subjekt)

Subjekt V Objekt

Appositiver
Relativsatz

Prädikats-NP PST Subjektsnominalphrase

Man vergleiche das folgende Beispiel:

B 459 ≲ҏ⛪ᆓ∿ᇠ Mèng 4A.14


Qiú yě wéi Jì shì zǎi
Es war Qiú, der Verwalter des Vorstehers des Stamms der Jì
war.
Kommentar: Das Subjekt Qiú ≲ des Verbalsatzes Qiú wéi Jì shì
zǎi ≲⛪ᆓ∿ᇠ ist zur Prädikatsnominalphrase eines Spaltsatzes
gemacht worden (Markierung mit yě ҏ); der Rest des Verbal-
satzes, nämlich Qiú wéi Jì shì zǎi ≲⛪ᆓ∿ᇠ, ist mit dem von
den appositiven Relativsätzen her bekannten markierungslosen
Anschluss dem übergeordneten Kernwort Qiú ≲ beigefügt (vgl.
4.2.4 oben).

9.1.4 Der Pseudokonditionalsatz

Im AC existiert eine weitere charakteristische Konstruktion zur Emphase-


gebung. Da sie mit der Sprechaktmarkierung zé ࡷ signalisiert wird,
welche homograph zur konditionalen Konjunktion zé ࡷ ist, soll sie hier
Pseudokonditional heissen. Im Deutschen gibt es eine strukturnahe, aber
stilistisch meist holprige Paraphrase, die auch mit einer Markierung aus
Emphasemuster 375

dem Konditionalbereich arbeitet: ‘Was das angeht / anbetrifft, so …’ Die


AC-Konstruktion kann für Objekts- wie für Subjektskasusphrasen
verwendet werden.

Graphik 47: Pseudokonditionalkonstruktion

Subjekt Verb Objekt

Subjekt Verb Objekt

Man vergleiche die folgende kommentierte Beispielreihe:

B 460 ᡁࡷ⮠ᯬᱟ Lùn Yǔ 18.8


wǒ zé yì yú shì
Was mich angeht, so unterscheide ich mich von diesen.
Kommentar: Das Subjekt wǒ ᡁ des Verbalsatzes wǒ yì yú shì
ᡁ⮠ᯬᱟ (ich unterscheide mich von diesen) ist zum rudimen-
tären Quasi-Antezedens im Pseudokonditionalsatz nach links
versetzt worden; der verbleibende Teil des Verbalsatzes, nämlich
yì yú shì ⮠ᯬᱟ bildet das Quasi-Konsequens der mit der
Sprechaktmarkierung zé ࡷ explizit markierten Konstruktion
(vgl. 7.2.2.1 oben).

B 461 〖Ӫѻᕏࡷнᝋҏ Mèng 6A.4


Qín rén zhī dì, zé bù aì yě
Was die jüngeren Brüder einer Person aus Qin angeht, so bin
ich einer, der sie nicht liebt.
Kommentar: Das Objekt Qín rén zhī dì 〖Ӫѻᕏ des Verbal-
satzes (X) bù aì Qín rén zhī dì нᝋ〖Ӫѻᕏ (Ich liebe den
jüngeren Bruder einer Person aus Qin nicht) ist zum rudimen-
tären Quasi-Antezedens im Pseudokonditionalsatz nach links
versetzt worden; der verbleibende Teil des Verbalsatzes, nämlich
bù aì yě нᝋҏ (= generischer Relativsatz in der Prädikatsnomi-
nalphrase eines Nominalsatzes) bildet das Quasi-Konsequens der
mit der Sprechaktmarkierung zé ࡷ explizit markierten Kon-
struktion (vgl. 7.2.2.1 oben).
376 Kapitel 9

B 462 ަᡰழ㘵੮ࡷ㹼ѻ Xiāng 31 fù Zuǒ; 26.5


qí suǒ shàn zhě wú zé xìng zhī
Finden sie etwas sachgemäss, so setze ich es in die Praxis um.
Kommentar: Dieses Beispiel ist das Resultat von zwei emphase-
gebenden Prozessen: 1. Das als Relativsatz konstruierte Objekt
qí suǒ shàn zhě ަᡰழ㘵 des Verbalsatzes wú xìng qí suǒ shàn
zhě ੮㹼ަᡰழ㘵 (ich halte das in Bewegung, was sie sachge-
mäss finden) ist thematisiert; postverbal erscheint die pronomi-
nale Spur zhī ѻ (vgl. 9.1.1 oben). 2. Anschliessend daran ist das
Subjekt wú ੮ des Verbalsatzes zum rudimentären Antezedens
im Pseudokonditionalsatz nach links versetzt worden; der
verbleibende Teil des Verbalsatzes, nämlich xìng zhī 㹼ѻ bildet
das Konsequens der mit der konditional-konsekutiven Konjunk-
tion zé ࡷ explizit markierten Konstruktion (vgl. 7.2.2.1 oben).

Ein Beispiel in der Strukturdarstellung:

Strukturbaum 113

Sv
KP VP

KP SM V KP
K PRN

9.2 Thematisierung des Prädikats

Nicht nur nominale Satzglieder lassen sich thematisieren; auch prädika-


tive Elemente können emphatisch herausgehoben und nach links versetzt
werden. Im Deutschen geschieht dies z.B. wie folgt:

B 463 (Es ist) grossartig, wie diese Studenten kalligraphieren können!


Emphasemuster 377

B 464 Lang ist’s her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben!

Die prädikativen Elemente werden also durch Linksversetzung empha-


tisch herausgehoben. Im AC kann dies in analoger Weise gebildet wer-
den, wobei das linksversetzte Prädikat typischerweise mit sonst satzfinal
auftretenden emphatischen Interjektionen markiert wird.

Graphik 48: Linksversetzung des Prädikats

Subjekt Prädikat

Prädikat Subjekt

Man vergleiche die folgende kommentierte Reihe:

B 465 བྷૹ๟ѻ⛪ੋҏ Lùn Yǔ 8.19


dà zāi! – Yáo zhī wéi jūn yě
Grossartig! – wie Yáo sich als Fürst benahm.
Kommentar: Die unmarkierte Reihenfolge der Äusserung wäre
yáo zhī wéi jūn yě dà ๟ѻ⛪ੋҏབྷ, also ‘Wie Yáo sich als
Fürst benahm, war grossartig’ (vgl. 4.2.1, Beispiel B 195 oben).
Das verbale Prädikat dà བྷ ist nach links versetzt und mit der
emphatischen Sprechaktmarkierung zāi ૹ markiert worden; der
verbleibende Teil des Verbalsatzes, nämlich der Komplement-
satz Yáo zhī wéi jūn yě ๟ѻ⛪ੋҏ, ist in die postverbale Posi-
tion versetzt.

B 466 ѵ⸓ૹ⭡ѻ㹼䂀ҏ Lùn Yǔ 9.12


jiǔ yǐ zāi! – Yóu zhī xíng zhà yě
Lang ist’s schon her, seit Yóu einen Betrug begangen hat!
Kommentar: Die unmarkierte Reihenfolge der Äusserung wäre
yóu zhī xíng zhà yě jiǔ yǐ ⭡ѻ㹼䂀ҏѵ⸓, also ‘Dass Yóu
einen Betrug begangen hat, ist schon lange her’ (vgl. 4.2.1,
Beispiel B 195 oben). Das mit der Aspektmarkierung yǐ ⸓ ver-
sehene verbale Prädikat jiǔ ѵ ist nach links versetzt und mit der
emphatischen Sprechaktmarkierung zāi ૹ markiert worden; der
378 Kapitel 9

verbleibende Teil des Verbalsatzes, nämlich der Komplement-


satz yóu zhī xíng zhà yě ⭡ѻ㹼䂀ҏ, ist in die postverbale
Position versetzt.

B 467 䟾ૹ⭡ҏ Lùn Yǔ 13.3; 24.6


yě zāi! – Yóu yě
Ein Hinterwäldler! – Du, Yóu, bist einer!
Kommentar: Die unmarkierte Reihenfolge der Äusserung vom
Typ Nominalsatz wäre Yóu yě yě ⭡䟾ҏ. Die Prädikats-
nominalphrase yě 䟾 (die wegen der Hyponymierelation im
Nominalsatz personal zu interpretieren ist) ist nach links versetzt
und mit der emphatischen Sprechaktmarkierung zāi ૹ markiert
worden; der verbleibende Teil des Nominalsatzes, nämlich die
Subjektskasusphrase Yóu ⭡, ist in die prädikative Position vor
die Prädikatsmarkierung ҏversetzt.

Man vergleiche die Veränderungen in den beiden folgenden Struktur-


bäumen:

Strukturbaum 114

Sv

KP VP
S

Strukturbaum 115

Sv
VP KP
VP SM S
Emphasemuster 379

Die im Deutschen gegebene Möglichkeit der Verwendung von Prover-


ben bzw. Stellvertreterverben scheint im AC nicht vorhanden zu sein.
Über eine Spaltsatzkonstruktion wird das prädikative Element (‘ein-
deutige Belege finden’) mit dem Proverb ‘tun’ in eine emphatische Posi-
tion nach links versetzt:

B 468 Was wir tun müssen, ist eindeutige Belege finden.

Diese Form mit “Identität” zwischen (altem) Prädikatskern und (neuem)


Proverb ist nicht zu verwechseln mit der in B 456 belegten Möglichkeit,
Objekte (auch in Form von Nebensätzen) zu präponieren, was ein Palette
von Verben erlaubt (die natürlich nicht Proverben sind, sondern
unveränderte Bestandteile des Prädikats): ‘was wir hoffen können, …’ (<
‘wir hoffen …’), ‘was wir fürchten müssen, …’ (< ‘wir müssen fürchten
…’), ‘was wir dringend in Angriffnehmen müssen, …’ (< ‘wir müssen
dringend in Angriffnehmen …’), usw.

9.3 Weitere Formen der Thematisierung

9.3.1 Das Wesensthema

Das Wesensthema besteht aus einer Komplementierungsform, in der die


im zugrundeliegenden Satz prädizierte Eigenschaft oder Beschaffenheit
einer Person oder eines Wesens durch die verzögerte Nennung empha-
tisch hervorgehoben wird. Es entsteht eine Form von Als- oder Qua-
Beziehung. Das Subjekt des Wesensthemas, welches gemäss der
Komplementierungsregel mit der Subjektsmarkierung zhī ѻ versehen
wird, ist gleichzeitig das Subjekt des nachfolgenden Äusserungsteils und
aufgrund der Identitätsregel getilgt. Der verbale Kern im Wesensthema
ist ohne Ausnahme das divalente statische Verb wéi ⛪, welches als
Proform für das zugrundeliegende Prädikat gelten kann. Das Prädikat
wird mit der Prädikatsmarkierung yě ҏ abgeschlossen. Subjekts- und
Prädikatsnominalphrase im Wesensthema gehören der gleichen Kate-
gorie an. Man vergleiche die folgenden Belege:
380 Kapitel 9

B 469 ަ⛪≓ҏ㠣བྷ㠣ࢋ Mèng 2A.2


qí wéi qì yě, zhì dà, zhì gāng
Sie (= meine kultivierende Lebensenergie) ist als Kraft so be-
schaffen, dass sie zu Mächtigkeit und Unnachgiebigkeit tendiert.
Kommentar: Die Kette qí wéi qì yě ަ⛪≓ҏ ist ein vollständig
ausgebildetes Komplement: das korrekte pronominale Neben-
satzsubjekt qí ަ (die Subjektsmarkierung zhī ѻ ist in solchen
Fällen ja getilgt; Referenz: hào rán zhī qì ⎙❦ѻ≓ ‘kultivieren-
de Lebensenergie’) und das Prädikat wéi qì ⛪≓ mit der ab-
schliessenden Prädikatsmarkierung yě ҏ. Subjekts- und Prädi-
katsnominalphrase im Wesensthema gehören der gleichen
Kategorie an. Das Subjekt des Wesensthemas ist gleichzeitig das
Subjekt des nachfolgenden Äusserungsteils und aufgrund der
Identitätsregel getilgt.

B 470 ަ⛪Ӫҏ, ሿᴹ᡽ Mèng 7B.29


qí wéi rén yě, xiǎo yǒu cái
Er (= Kuò aus dem Stamm der Pén-chéng) ist als Mensch so
beschaffen, dass er in geringem Masse über Talent verfügt.
Kurz: Als Mensch hat er in geringem Masse Talent.
Kommentar: Die Kette qí wéi rén yě ަ⛪Ӫҏ ist ein vollstän-
dig ausgebildetes Komplement: das korrekte pronominale
Nebensatzsubjekt qí ަ (die Subjektsmarkierung zhī ѻ ist in
solchen Fällen ja getilgt; Referenz ist der Personenname Pén-
chéng Kuò ⳶ᡀᤜ ‘Kuò aus dem Stamm der Pén-chéng’) und
das Prädikat wéi rén ⛪Ӫ mit der abschliessenden Prädikatsmar-
kierung yě ҏ. Subjekts- und Prädikatsnominalphrase im We-
sensthema gehören der gleichen Kategorie an. Das Subjekt des
Wesensthemas ist gleichzeitig das Subjekt des nachfolgenden
Äusserungsteils und aufgrund der Identitätsregel getilgt.

B 471 ަ⛪Ӫҏྭழ Mèng 6B.13


qí wéi rén yě, hào shàn
Er (= Junker Yuè-zhèng) ist als Persönlichkeit so beschaffen,
dass er das Sachgemässe liebt.
Kurz: Als Persönlichkeit liebt er das Sachgemässe.
Kommentar: Die Kette qí wéi rén yě ަ⛪Ӫҏ ist ein vollstän-
dig ausgebildetes Komplement: das korrekte pronominale Ne-
Emphasemuster 381

bensatzsubjekt qí ަ (die Subjektsmarkierung zhī ѻ ist in sol-


chen Fällen ja getilgt; Referenz ist der Personenname Yuè-zhèng
zǐ ′↓ᆀ ‘Junker Yuè-zhèng’) und das Prädikat wéi rén ⛪Ӫ
mit der abschliessenden Prädikatsmarkierung yě ҏ. Subjekts-
und Prädikatsnominalphrase im Wesensthema gehören der
gleichen Kategorie an. Das Subjekt des Wesensthemas ist gleich-
zeitig das Subjekt des nachfolgenden Äusserungsteils und auf-
grund der Identitätsregel getilgt.

Man vergleiche die folgende Strukturdarstellung:

Strukturbaum 116

S
NP Sv
S KP VP
Ø

Die kategoriale Identität von Subjekts- und Prädikatsausdruck führt


dazu, dass die Kategorie des Subjekts zwingend für die Interpretation des
Prädikats herangezogen werden muss. Man vergleiche die folgenden
Belege:

B 472 ⍱≤ѻ⛪⢙ҏн⳸、н㹼 Mèng 7A.24


liú shuǐ zhī wéi wù yě, bù yíng kē bù xíng
Fliessendes Wasser ist als Ding so beschaffen, dass es sich erst
bewegt, wenn es eine Vertiefung gefüllt hat.
Kurz: Als Ding bewegt sich fliessendes Wasser erst wenn es eine
Vertiefung gefüllt hat.
Kommentar: Die Kette liú shuǐ zhī wéi wù yě ⍱≤ѻ⛪⢙ҏ ist
ein vollständig ausgebildetes Komplement: das Nebensatzsub-
jekt liú shuǐ ⍱≤ ist mit der Subjektsmarkierung zhī ѻ verse-
hen, das Prädikat wéi wù ⛪⢙ mit der abschliessenden Prä-
dikatsmarkierung yě ҏ. Subjekts- und Prädikatsnominalphrase
im Wesensthema gehören der gleichen Kategorie an. Das Sub-
382 Kapitel 9

jekt des Wesensthemas ist zugleich das Subjekt des nachfol-


genden Äusserungsteils und aufgrund der Identitätsregel getilgt.

B 473 ਔѻ⛪䰌ҏሷԕ⿖᳤; Ӻѻ⛪䰌ҏሷԕ⛪᳤ Mèng 7B.8


gǔ zhī wéi guān yě, jiāng yǐ yù bào; jīn zhī wéi guān yě, jiāng yǐ wéi bào
Die Alten waren als Passwärter so beschaffen, dass sie durch
ihre Funktion Gewalttaten abwehren sollten; die Heutigen sind
als Passwärter so beschaffen, dass sie durch ihre Funktion Ge-
walttaten verüben sollen.
Kurz: Als Passwärter sollten die Alten durch ihre Funktion Ge-
walttaten abwehren; die Heutigen sollen durch ihre Funktion
Gewalttaten verüben.
Kommentar: Die Ketten gǔ zhī wéi guān yě ਔѻ⛪䰌ҏ bzw.
jīn zhī wéi guān yě Ӻѻ⛪䰌ҏ sind vollständig ausgebildete
Komplemente: die Nebensatzsubjekte gǔ ਔ bzw. jīn Ӻ sind mit
der Subjektsmarkierung zhī ѻ versehen, das Prädikat wéi guān
⛪䰌 mit der abschliessenden Prädikatsmarkierung yě ҏ. Sub-
jekts- und Prädikatsnominalphrase im Wesensthema müssen als
der gleichen Kategorie zugehörig angesehen werden; in diesem
Fall macht nur eine Personengruppe Sinn, denn sie lässt sich
gleichzeitig den drei Nomina gǔ ਔ, jīn Ӻ und guān 䰌 unter-
stellen. Das Subjekt des Wesensthemas ist gleichzeitig das Sub-
jekt des nachfolgenden Äusserungsteils und aufgrund der
Identitätsregel getilgt.

B 474 ਔѻ⛪ᐲҏԕަᡰᴹ᱃ަᡰ❑㘵 Mèng 2B.10


gǔ zhī wéi shì yě, yǐ qí suǒ yǒu yì qí suǒ wú zhě
Die Alten waren als Handeltreibende so beschaffen, dass sie das,
was sie hatten, gegen das, was sie nicht hatten, tauschten.
Kurz: Als Handeltreibende haben die Alten das, was sie hatten,
gegen das, was sie nicht hatten, getauscht.
Kommentar: Die Kette gǔ zhī wéi shì yě ਔѻ⛪ᐲҏ ist ein
vollständig ausgebildetes Komplement: das Nebensatzsubjekt gǔ
ਔ ist mit der Subjektsmarkierung zhī ѻ versehen, das Prädikat
wéi shì ⛪ᐲ mit der abschliessenden Prädikatsmarkierung yě
ҏ. Subjekts- und Prädikatsnominalphrase im Wesensthema
müssen als der gleichen Kategorie zugehörig angesehen werden;
in diesem Fall macht nur eine Personengruppe Sinn, denn sie
Emphasemuster 383

lässt sich gleichzeitig den zwei Nomina gǔ ਔ und shì ᐲ unter-


stellen. Das Subjekt des Wesensthemas ist gleichzeitig das
Subjekt des nachfolgenden Äusserungsteils und aufgrund der
Identitätsregel getilgt.

Nicht immer ist die Kollokation X ѻ⛪ Y ҏ als Wesensthema zu


analysieren. Kann das Zeichen ⛪ nämlich nicht – wie in den bisherigen
Belegen – als Verschriftung der Proform wéi aufgefasst werden, müssen
andere Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, wie im folgenden
Beleg, wo das Verb wèi ⛪ ‘X ist für Y’ anzusetzen ist:

B 475 ≁ѻ⛪䚃ҏ, ᴹᙶ⭒㘵ᴹᙶᗳ, ❑ᙶ⭒㘵❑ᙶᗳ Mèng 3A.3


mín zhī wèi dào yě, yǒu héng chǎn zhě yǒu héng xīn, wú héng chǎn zhě wú
héng xīn
Die Mín sind [unter der folgenden Bedingung] für Führende: Die
[Führenden], die einen konstanten Lebensunterhalt existieren
machen, lassen konstante (kardiale) Einstellungen existieren; die
[Führenden], die einen konstanten Lebensunterhalt verschwin-
den lassen, lassen konstante Einstellungen verschwinden.
Kommentar: Die Kette mín zhī wéi/wèi dào yě ≁ѻ⛪䚃ҏ ist
eine satzinitiale temporal-konditionale Bestimmung in Form
eines Komplementsatzes. Ausgangspunkt für eine korrekte Inter-
pretation ist die Analyse der Prädikatskette ⛪䚃. Hierbei sind
drei Analysemöglichkeiten denkbar: (a) wéi (2. Ton) dào wird
als paraphrasierende Form für ein Verb dǎo ‘führen’ aufgefasst
mit dem divalenten Proverb wéi und dem Objekt dào, also ‘den
Anführer machen’ – analog zu ‘mitteilen’ und ‘Mitteilung ma-
chen’. Diese Interpretation macht kontextuell wenig Sinn. (b) In
wéi dào wird wéi (2. Ton) als putatives trivalentes Verb aufge-
fasst, also ‘X hält Y für Z’. Darin wäre X = mín, Y = eine Person
und Z = dào. Daraus ergibt sich die wörtliche Übersetzung: ‘die
Mín halten Y für einen/den Führenden’. Auch diese Inter-
pretation ergibt im gegebenen Kontext wenig Sinn, woraus sich
die hier bevorzugte ergibt: (c) In der Kette wèi (4. Ton) dào wird
wèi als benefaktives divalentes Verb ‘X ist für Y’ aufgefasst
(vgl. Lùn Yǔ 7.15: fú-zǐ wèi Wèi jūn hū? ཛᆀ⛪㺋ੋѾ ‘Ist der
werte Junker für den Fürsten von Wèi?’ Daraus ergibt sich die
hier vorgeschlagene Übersetzung.
384 Kapitel 9

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass aus der Logik der Konstruktion
(z.B. Zugehörigkeit von Subjeks- und Prädikatsausdruck zur gleichen
Kategorie) wichtige Einsichten in die lexikalische Struktur gewonnen
werden können.

9.3.2 Das Zitat

Das Zitat bezieht sich auf zwei gleich strukturierte Formen: auf das
Redezitat wie auf ein zu definierendes Thema. Das Redezitat besteht aus
einer appositiven Genitivform, in der eine Äusserung aus dem Kontext
thematisch aufgenommen werden kann. Die Äusserung wird (meist)
unverändert realisiert, das genitivische Kernwort dazu wird immer mit
zhě 㘵 pronominalisiert (es ist eigentlich müssig, darüber zu spekulieren,
welches das Kernwort ist, aber das Nomen wèi 䄲 ‘das Gesagte / die
Bedeutung’ scheint der geeignetste Kandidat zu sein). Beim Redezitat ist
die Form der nachfolgenden Äusserung nicht festgelegt, das definierende
Thema hingegen ist immer in eine Nominalsatzform eingebettet. Man
vergleiche die folgenden kommentierten Beispiele:

B 476 ᴠཙ㠷ѻ. ཙ㠷ѻ㘵䃴䃴❦ભѻѾ Mèng 5A.5; 20.4-5


yuē tiān yǔ zhī. tiān yǔ zhī zhě – zhūn zhūn rán mìng zhī hū
Junker Mèng sprach: Der Himmel erlaubte es. Zhāng aus dem
Stamm der Wàn sprach: “[Zur Aussage] ‘der Himmel hätte es
erlaubt’ – hat er das in expliziter Form getan, als er das an-
ordnete?”
Kommentar: Die Kette tiān yǔ zhī ཙ㠷ѻ aus der ersten Äusse-
rung wird als Redezitat aufgenommen und in die appositive
Genitivkonstruktion eingebettet, bei der das Kernwort wèi 䄲
(‘das Gesagte’, ‘die Aussage’) mit zhě 㘵 pronominalisiert ist.
Die nachfolgende Äusserung hat die Form eines Fragesatzes,
wobei auf den Inhalt des Redezitats pronominal mit zhī ѻ (nach
dem Verb mìng ભ) Bezug genommen wird.

B 477 ᖱ㘵кՀлҏ Mèng 7B.2


zhēng zhě shàng fá xià yě
[Der Begriff] “Strafexpedition” – das ist der Angriff des Oberen
auf einen Unteren.
Emphasemuster 385

Oder: [Die Bedeutung von] “Strafexpedition” ist Angriff des


Oberen auf einen Unteren.
Kommentar: Der zu definierende Ausdruck zhēng ᖱ steht als
thematischer Ausdruck in einer appositiven Genitivkonstruktion,
bei der das Kernwort wèi 䄲 (die Bedeutung) mit zhě 㘵 pro-
nominalisiert ist. Die nachfolgende Äusserung hat die Form
eines Nominalsatzes, in dem die Definition als Nominalkomple-
ment realisiert ist (Verbalnomen fá Հ mit dem Subjektskomple-
ment shàng к und dem Objektskomplement xià л).

B 478 ⿞㗙㘵㚆Ӫѻᡰ⭏ҏ Xún Zǐ 23


lǐ yì zhě shèng rén zhī suǒ shēng yě
[Der Begriff] “rituelles und standgemäss-korrektes Verhalten” –
ist etwas, das die weisen Rén hervorgebracht haben.
Oder: [Die Bedeutung von] “rituelles und standgemäss-korrektes
Verhalten” ist das, was die weisen Rén hervorgebracht haben.
Kommentar: Der zu definierende koordinierte Ausdruck lǐ yì
⿞㗙 steht als thematischer Ausdruck in einer appositiven Geni-
tivkonstruktion, bei der das Kernwort wèi 䄲 (die Bedeutung)
mit zhě 㘵 pronominalisiert ist. Die nachfolgende Äusserung hat
die Form eines Nominalsatzes, in dem die Erklärung als Relativ-
satz realisiert ist.

9.3.3 Das Verhältnisthema

Die in 9.1 beschriebenen Konstruktionen bauen auf Satzglieder der zuge-


hörigen Äusserung auf, so in 9.1.1 und 9.1.2 auf Objekt bzw. Subjekt, in
9.1.3 auf ein Satzglied des zugrundeliegenden unmarkierten Satzes, in
9.1.4 auf der Dislokation des Subjekts der Äusserung. Damit ist eine
engere, meist über pronominale Formen hergestellte, syntaktisch be-
schreibbare Integration des Themas gegeben. Diese Thematisierungs-
prozesse betreffen stets eine einzelne Konstituente des zugrunde-
liegenden Satzes. Daneben kennt die antikchinesische Syntax die
Möglichkeit, den im zugrundliegenden Satz beschriebenen Sachverhalt,
bei dem eine Beziehung zwischen zwei Konstituenten festgehalten wird,
über eine relationale Konstruktion zu thematisieren. Die Palette der
Möglichkeiten ist daher heterogen und hängt einerseits vom verbalen
386 Kapitel 9

Kern, andererseits davon ab, zwischen welchen Konstituenten ein


Verhältnis als Thema gesetzt werden soll. Die syntaktische Bindung
reicht von pronominalen Bezügen bis zu Analogiemustern ohne solchen
Bezug. Die folgende Darstellung illustriert diesen diffuseren Bezug:

Graphik 49: Verhältnisthemen

Die AC-Konstruktion für Verhältnisthemen weist interessante syntak-


tische Merkmale auf. Als Konstruktion für das Verhältnisthema wird in
der Regel die Komplementsatzform (vgl. 4.2.1) realisiert, also die
Struktur eines Nebensatzes mit einer Subjektsmarkierung zhī ѻund
einer Prädikatsmarkierung yě ҏ. Man vergleiche die folgenden drei
Belege, von denen die ersten zwei normale Komplementstrukturen
aufweisen (Subjekt- bzw. Objektsatz), während der dritte Beleg ein Ver-
hältnisthema zeigt:

B 195 ᭵≁ѻᗎѻҏ䕅 Mèng 1A.7


gù mín zhī cóng zhī yě, qīng
Also ist es für die Min leicht, ihm zu folgen.
Kommentar: Die Kette mín zhī cóng zhī yě ≁ѻᗎѻҏ ist ein
Subjektsatz zum Prädikat qīng 䕅. Die Nebensatzstruktur ist voll
ausgebildet: das Nebensatzsubjekt mín ≁ ist regulär mit zhī ѻ,
das Nebensatzprädikat cóng zhī ᗎѻ mit yě ҏ markiert. Im
Nebensatz ist ein eigener verbaler Kern, nämlich cóng ᗎ,
realisiert.

B 196 с㾻⦻ѻᮜᆀҏ Mèng 2B.2


Chǒu jiàn wáng zhī jìng zǐ yě
Ich, Chou, sehe, dass der König Sie ehrerbietig behandelt.
Kommentar: Die Kette wáng zhī jìng zǐ yě ⦻ѻᮜᆀҏ ist ein
Objektsatz zum Prädikat jiàn 㾻. Die Nebensatzstruktur ist voll
ausgebildet: das Nebensatzsubjekt wáng ⦻ ist regulär mit zhī
Emphasemuster 387

ѻ, das Nebensatzprädikat jìng zǐ ᮜᆀ mit yě ҏ markiert. Im


Nebensatz ist ein eigener verbaler Kern, nämlich jìng ᮜ, reali-
siert.

B 479 ੋѻᯬ≃ҏപઘѻ Mèng 5B.6


jūn zhī yú méng yě, gù zhōu zhī
Ein Lehnsherr verhält sich gegenüber Kolonisten so, dass er sie
aus Prinzip (mit dem Notwendigen) versorgt.
Kommentar: Die Kette jūn zhī yú méng yě ੋѻᯬ≃ҏ ist ein
Verhältnisthema in Komplementsatzform. Dieses ist durch
Transformation aus einem zugrundeliegenden Satz der Form jūn
gù zhōu méng ੋപઘ≃ ‘der Lehnsherr versorgt Kolonisten aus
Prinzip (mit dem Notwendigen)’ herzuleiten. Im Verhältnis-
thema ist das Subjekt jūn ੋ mit der Markierung zhī ѻ, das
Prädikat yú méng ᯬ≃ mit dem Verhältnisobjekt méng ≃
abschliessend mit der Markierung yě ҏ versehen. Im Komple-
ment scheint kein Verb vorhanden zu sein.

Die Charakterisierung der analogen Elemente im Verhältnisthema als


“Subjekt” (also jūn ੋ) bzw. “Prädikat” (also yú méng ᯬ≃) mag nur
aufgrund der oberflächlichen Ähnlichkeit mit der Nebensatzform
gerechtfertigt sein, denn das zentrale Merkmal im Vergleich mit der
Komplementsatzform scheint zu sein, dass kein verbaler Kern verwendet
wird. Da, wo das Verb zu erwarten wäre, taucht das Zeichen yú ᯬ auf,
welches als Verschriftung der präpositionsartigen Kasusmarkierung gut
bekannt ist. Wenn yú ᯬ als Markierung des Verhältnisses zu klassi-
fizieren wäre, würde sich die Frage stellen, ob eben im Verhältnisthema
von “Subjekt” bzw. “Prädikat” gesprochen werden kann. Als Konse-
quenz müsste auch die Frage gestellt werden, ob die beiden charak-
teristischen Markierungen der Nebensatzform, nämlich zhī ѻund yě ҏ
hier korrekt interpretiert sind. Zusammenfassend also die Frage: Liegt
beim Verhältnisthema wirklich eine Komplementsatzform vor oder
nicht?
Beginnen wir mit folgender Feststellung: In allen untersuchten Fäl-
len von Verhältnisthemen ist die erste Konstituente (also jūn ੋ in B
479) klar das Subjekt des zugrundeliegenden Satzes (also jūn gù zhōu
méng ੋപઘ≃) und daher auch als Subjekt der Nebensatzform zu
interpretieren. Der folgende Beleg lässt den Schluss zu, dass das un-
388 Kapitel 9

mittelbar folgende zhī ѻ im Verhältnisthema in der Tat die gleiche


Funktion innehat wie in der normalen Komplementsatzform, nämlich
Abgrenzung des Nebensatzsubjektes. Dies äussert sich darin, dass bei
Pronominalisierung des Subjekts die typische Pronominalform qí ަ
realisiert wird.

B 480 ᰾ੋѻᯬ‫ޗ‬ҏ။ަ㢢㘼н㹼ަ䄱н֯⿱䃻
ަᯬᐖਣҏ֯ަ䓛ᗵ䋜ަ䀰н֯⳺䗝
ަᯬ⡦‫ݴ‬བྷ㠓ҏ㚭ަ䀰ҏ Hán Fēi Zǐ 9.2
míng jūn zhī yú nèi yě, yú qí sè, ér bù xíng qí yè, bù shǐ sī qǐng.
qí yú zuǒ yòu yě, shǐ qí shēn bì zé qí yán, bù shǐ yì cí.
qí yú fù xiōng dà chén yě, tīng qí yán yě.
Ein intelligenter Herr verhält sich Personen im Inneren des Pa-
lastes gegenüber so, dass er sich ihrer Schönheit erfreut, sie aber
nicht ihre Aufwartung machen lässt, und so, dass er nicht zulässt,
dass sie privat Bitten vortragen. Seiner Entourage gegenüber
verhält er sich so, dass er bewirkt, dass sie persönlich ihre Rat-
schläge verantworten müssen, und so, dass er nicht zulässt, dass
sie Gewinn aus ihren Aussagen ziehen. Den Onkeln, älteren
Vettern und bedeutenden Chen gegenüber verhält er sich so, dass
er einer ist, der auf ihre Ratschläge hört.
Kommentar: Der Subjektsausdruck míng jūn zhī ᰾ੋѻ aus der
Kette míng jūn zhī yú nèi yě ᰾ੋѻᯬ‫ޗ‬ҏ wird in den fol-
genden analogen Verhältnisthemen in der pronominalisierten
Form qí ަ wiederaufgenommen, also qí yú zuǒ yòu yě ަᯬᐖ
ਣҏ und qí yú fù xiōng dà chén yě ަᯬ⡦‫ݴ‬བྷ㠓ҏ. Das
abschliessende yě ҏ kann auch auf die ganze Passage bezogen
werden (was aus stilistischen Gründen in der Übersetzung nur im
Schlussteil getan wurde).

Der Konstituentencharakter des Subjektsausdrucks zeigt sich auch darin,


dass es ausgelassen werden kann:

B 481 ੋᆀѻᯬ⢙ҏ,ᝋѻ㘼ᕇӱ.ᯬ≁ҏ,ӱѻ㘼ᕇ㿚 Mèng 7A.45


jūn zǐ zhī yú wù yě, ài zhī ér fú rén; yú mín yě, rén zhī ér fú qīn
Ein Fürstjunker verhält sich Tieren gegenüber so, dass er sie
liebt, aber sich weigert, sie rén-konform zu behandeln, gegen-
Emphasemuster 389

über den Mín verhält er sich so, dass er sie rén-konform behan-
delt, sich aber weigert, sie wie Nahverwandte zu behandeln.
Kommentar: Die erste Verhältnisthema lautet vollständig jūn-zǐ
zhī yú wù yě ੋᆀѻᯬ⢙ҏ, und darin ist auch der Subjekts-
ausdruck jūn-zǐ zhī ੋᆀѻ realisiert. Im zweiten Verhältnis-
thema fehlt dieser Ausdruck; vollständig müsste er lauten: jūn-zǐ
zhī yú mín yě ੋᆀѻᯬ≁ҏ.

Wenn zhī ѻ – wie eben gezeigt – als postpositionale Subjektsabgren-


zung zu klassifizieren ist, dann ergibt sich aus der Logik der Komple-
mentstruktur folgende Konsequenz: zhī ѻ als Markierung des Neben-
satzsubjekts entfaltet bekanntlich eine nominalisierende Wirkung auf das
Prädikat. Diese nominalisierende Wirkung wird durch die abschliessende
Setzung von yě ҏ neutralisiert. Wenn also das Verhältnisthema allem
Anschein nach kein verbales Prädikat enthält, welches nominalisiert
würde, warum sollte dann abschliessend ein yě ҏ gesetzt werden?
Daraus ist als zu schliessen, dass eine Konstituente des Verhältnisthemas
als Verb zu klassifizieren ist. Da die letzte Konstituente klar das Ver-
hältnisobjekt darstellt, gibt es nur eine Möglichkeit: yú ᯬ ist nicht eine
Präposition, sondern ein Verb.
Der lokativ-verbale Charakter von yú ᯬ ist aus frühen Texten (z.B.
Shī Jīng) gut, in späteren antikchinesischen Texten selten (z.B. LSCQ)
belegt (subkategorisiert in eine statische ‘X befindet sich in Y’ und in
eine dynamische ‘X begibt sich nach Y’ Variante), zudem lässt sich auch
in anderen Fällen zeigen, dass Präpositionen aus Verben abgeleitet
werden (z.B. cóng ᗎ). Da es sich beim Verhältnisthema um eine stark
formalisierte Struktur im Sinne einer stehenden Wendung handelt,
konnte in diesem Rahmen ein wohl archaischer Gebrauch offenbar über-
leben. Als Bedeutung bzw. als übersetzerisches Äquivalent wäre anzu-
setzen: ‘X verhält sich gegenüber Y so, dass …’ oder eine Paraphrase
davon. Als nominale Form wäre somit anzusetzen: ‘das Verhältnis von X
zu Y’. Welche Paraphrase gewählt wird, hängt letztlich von der Gestalt
und von der Bedeutung des Prädikats im zugrundeliegenden Satz ab.
Während die bisherigen Belege ein zugrundliegendes dynamisches
Prädikat aufwiesen, ist im folgenden Beleg ein nominales, also statisches
Prädikat realisiert:
390 Kapitel 9

B 482 ਓѻᯬણҏ, ⴞѻᯬ㢢ҏ, 㙣ѻᯬ㚢ҏ, 啫ѻᯬ㠝ҏ, ഋ㛒ѻ


ᯬᆹ֊ҏᙗҏ Mèng 7B.24
kǒu zhī yú wèi yě, mù zhī yú sè yě, ěr zhī yú shēng yě, bì zhī yú chòu yě, sì zhī
zhī yú ān yì yě xìng yě
Wie der Mund auf schmackhafte Speisen, die Augen auf Farben,
die Ohren auf Töne, die Nase auf Gerüche und die vier Extremi-
täten auf Wohlbefinden und Bequemlichkeit reagieren – diese
Reaktionen sind naturgegebene Konfigurationen.
Kommentar: Die mutmassliche Struktur des zugrundeliegenden
Satzes lässt sich mit dem ersten Verhältnisthema illustrieren: kǒu
xìng yú wèi yěਓᙗᯬણҏ ‘der Mund ist eine naturgegebene
Konfiguration in Bezug auf schmackhafte Speisen’.

Die folgende Strukturdarstellung zeigt, wie die Linksversetzung des Ver-


hältnisthemas wirkt:

Strukturbaum 117

S
NP Sn
S

Das Verhältnisthema ist noch durch eine weitere Eigenheit gekenn-


zeichnet: Während das erste Element im Verhältnisthema durchwegs das
Subjekt des zugrundeliegenden Satzes darstellt, ist das vom Verb yú ᯬ
dominierte Verhältnisobjekt im zugrundeliegenden Satz keineswegs eine
funktional stets identische Konstituente. Sie kann aus verschiedenen
Arten von Objekten stammen, z.B. direktes oder indirektes Objekt, sie
kann auch aus dem modifizierenden Elemen einer Genitivkonstruktion
stammen – kurz: sie kann ein beliebiges nominales Element aus dem
zugrundeliegenden Satz sein. Man vergleiche die folgenden Belege:
Emphasemuster 391

B 483 ሑӪѻᯬ഻ҏⴑᗳ✹㙣⸓ Mèng 1A.3


guǎ rén zhī yú guó yě jìn xīn yān ěr yǐ
Ich, der solitäre Rén, verhalte mich gegenüber meinem Fürsten-
tum so, dass ich mein Herz ganz und gar für dieses erschöpft
habe.
Kommentar: Der zugrundeliegende Satz ist wie folgt zu rekon-
struieren: guǎ rén jìn xīn yú guó ěr yǐ ሑӪⴑᗳᯬ഻㙣⸓, also
‘Ich erschöpfe ganz und gar mein Herz für den Staat’. Thema-
tisch herausgehoben ist das Verhältnis zwischen dem Subjekt
guǎ rén ሑӪ und dem Lokativ guó ഻, wobei das “Subjekt” guǎ
rén ሑӪ die Subjektsmarkierung zhī ѻ erhält, das Verhältnis-
objekt yú guó ᯬ഻, das “Prädikat”, hingegen mit der Prädikats-
markierung yě ҏ versehen wird. Da die Fusionsform yān ✹ in
yú shì ᯬᱟ (vgl. 8.3) = yú guó ᯬ഻ aufzulösen ist, entsteht eine
oberflächliche Übereinstimmung des markierten Lokativs zum
formal identisch markierten Verhältnisobjekt.

B 484 ๟ѻᯬ㡌ҏ, ֯ަᆀҍ⭧һѻ, Ҽྣྣ✹ Mèng 5B.6


Yáo zhī yú Shùn yě, shǐ qí zǐ jiǔ nán shì zhī, èr nǚ nǜ yān
Yáo verhielt sich gegenüber Shùn so, dass er seine Söhne, neun
junge Männer, schickte, um ihm zu dienen, und zwei Töchter,
um sich mit ihm vermählen.
Kommentar: Die zugrundeliegenden Sätze sind wie folgt zu re-
konstruieren: (a) Yáo zhī yú Shùn yě, shǐ qí zǐ jiǔ nán shì zhī
๟֯ަᆀҍ⭧һ㡌, ‘Yáo schickte seine Söhne, neun junge
Männer, um Shùn zu dienen’ (b) Yáo shǐ èr nǚ nǜ yú Shùn
๟֯Ҽྣྣᯬ㡌 ‘Yáo schickte zwei Töchter, um sich mit Shùn
zu vermählen’. Im Fall (a) ist weder eine formale noch eine
funktionale Identität zwischen dem Objekt Shùn 㡌 von shì һ
und dem Verhältnisobjekt yú Shùn ᯬ㡌 festzustellen; im Fall
(b) ist die Übereinstimmung wenigstens formal gegeben. Hierbei
erscheint das Prädikat in (b) in einem nominalen Polyptoton des
Subjektes, also in jener Spielart der figura etymologica, bei der
das Subjekt eines Satzes zur selben Wortwurzel gehört wie das
Prädikat, hier nǜ ྣ (AC *nra-s) ‘sich beweiben, vermählen’, das
durch exoaktiv-direktive *s-Suffigierung vom zugrundeliegen-
den Nomen *nra-q ‘Frau’ abgeleitete Verb.
392 Kapitel 9

B 485 ӱӪѻᯬᕏҏ, н㯿ᙂ✹, нᇯᙘ✹, 㿚ᝋѻ㘼ᐢ⸓ Mèng 5A.3


rén rén zhī yú dì yě, bù cáng nù yān, bù sù yuàn yān, qīn ài zhī ér yǐ yǐ
Eine rén-konforme Persönlichkeit verhält sich gegenüber einem
jüngeren Bruder so, dass er weder einen Zorn auf ihn aufhebt
noch einen Groll gegen ihn über Nacht stehen lässt, sondern ihn
ganz einfach als Nahverwandten behandelt und liebt.
Kommentar: Die in den Ketten nù yān ᙂ✹, yuàn yān ᙘ✹ und
qīn ài zhī 㿚ᝋѻ realisierten Objekte sind funktional verschie-
den und formal nur zum Teil mit dem Verhältnisobjekt yú dì
ᯬᕏ identisch.

B 486 ੋᆀѻᯬ⿭⦨ҏ, 㾻ަ⭏, нᗽ㾻ަ↫ Mèng 1A.7


jūn zǐ zhī yú qín shòu yě, jiàn qí shēng, bù rěn jiàn qí sǐ
Ein Fürstjunker verhält sich Tieren gegenüber so, dass er – da er
ihr Am-Leben-Sein gesehen hat – es nicht erträgt, ihr Sterben zu
sehen.
Kommentar: Das Verhältnisobjekt qín shòu ⿭⦨ stammt aus
den modifizierenden Teilen (qí ަ) der Ketten qí shēng ަ⭏
bzw. qí sǐ ަ↫, deren zugrundliegende Form qín shòu zhī shēng
⿭⦨ѻ⭏ bzw. qín shòu zhī sǐ ⿭⦨ѻ↫ lautet.

B 487 Ӫѻᯬ䓛ҏ, ެᡰᝋ Mèng 6A.14


rén zhī yú shēn yě, jiān suǒ ài
Die Menschen verhalten sich der eigenen Person gegenüber so,
dass sie das, was sie lieben, unterschiedslos behandeln.
Kommentar: Das Verhältnisobjekt shēn 䓛 stammt aus dem Re-
lativpronomen suǒ ᡰ. Der zugrundliegende Satz ist wie folgt zu
rekonstruieren: rén jiān ài shēn Ӫެᝋ䓛 ‘die Menschen lieben
ihre Person unterschiedslos’. Paraphrasiert ist das gewiss so zu
verstehen, dass die Menschen ‘alles an sich gleichermassen lie-
ben’, d.h. sie machen keinen Unterschied zwischen z.B. dem
wichtigen Kopf und dem weniger wichtigen kleinen Finger. Man
beachte, dass rén Ӫ (AC *nin) und shēn 䓛 (*hniŋ) zudem in
einem paronomastischen, gelegentlich in Texten volksetymo-
logisch aufeinander bezogenen Verhältnis zueinander stehen,
welches auf der Schriftebene noch dadurch unterstrichen wird,
dass 䓛 in seinen älteren paläographischen Formen eine Erwei-
terung des Zeichens Ӫ darstellt.
Emphasemuster 393

Vergleicht man das Verhältnisthema mit der Palette der Strukturen, die
sich der Komplementsatzform bedienen, so fällt die Ähnlichkeit mit den
satzadverbialen Bestimmungen (Temporalphrasen) auf (vgl. 7.1.1, insbe-
sondere Beleg B 317). Man vergleiche die folgenden Belege:

B 488 ᱄㘵᮷⦻ѻ⋫ዀҏ, 㙅㘵ҍа Mèng 1B.5


xī zhě, Wén wáng zhī chí Qí yě, jīng zhě jiǔ yī
In der Vergangenheit, als der Wén-König Qí ordnete, da ent-
richteten die Felder einen Teil von neun (in Steuern).
Kommentar: Die temporale SA-Bestimmung Wén wáng zhī chí
Qí yě ᮷⦻ѻ⋫ዀҏ ist in der Form eines voll ausgebildeten
Komplementsatzes realisiert.

B 489 ेᇞ唍ѻ伺ࣷҏ, н㟊᫃, нⴞ䘳 Mèng 2A.2


Běi-gōng Yǒu zhī yǎng yǒng yě, bù fū náo, bù mù táo
Wenn Yǒu aus dem Stamm der Běi-gōng seinen Mut nährte, da
zuckte er nicht mit der Haut weg und ging mit dem Blick nicht
aus dem Weg.
Kommentar: Die temporale SA-Bestimmung Běi-gōng Yǒu zhī
yǎng yǒng yě ेᇞ唍ѻ伺ࣷҏ ist in der Form eines voll aus-
gebildeten Komplementsatzes realisiert.

B 490 ໘ѻ⋫௚ҏ, ԕ㮴⛪ަ䚃ҏ Mèng 3A.5


Mò zhī chí sāng yě, yǐ bó wéi qí dào yě
Als Junker Mò die Leichenbegängnisse ordnete, da war er einer,
der die Kargheit zu seiner Wegleitung erhob.
Kommentar: Die temporale SA-Bestimmung Mò zhī chí sāng yě
໘ѻ⋫௚ҏ ist in der Form eines voll ausgebildeten Komple-
mentsatzes realisiert.

Die konsequente, satzinitiale Stellung der temporalen satzadverbialen


Bestimmungen wirft die Frage auf, ob das Verhältnisthema nicht eine
Sonderform dieser Struktur sei, mit dem Unterschied, dass das Prädikat
stets vorgegeben ist. Während die eben erwähnten Belege temporaler
Natur sind, scheint die adäquate Interpretation des Verhältnisthemas
doch eher eine modale zu sein, denn der zugrundliegende Satz macht in
der Regel eine Aussage zur Modalität der Beziehungen zwischen den
Konstituenten des Verhältnisthemas.
394 Kapitel 9

Es ist im übrigen wichtig, die Realisierung bzw. das Fehlen der


Markierungen zhī ѻ oder yě ҏ sorgfältig zu beachten. Man vergleiche:

B 491 ੋᆀᯬަᡰн⸕㫻䰅ྲҏ Lùn Yǔ 13.3; 24.7


jūn zǐ yú qí suǒ bù zhī gài quē rú yě
Der Fürstjunker ist bei dem, was er nicht kennt, nämlich einer,
der wachsam daran herangeht.
Kommentar: Die Kette jūn zǐ yú qí suǒ bù zhī ੋᆀᯬަᡰн⸕
sieht zunächst aus wie ein Verhältnisthema, es fehlen aber so-
wohl die Subjektsmarkierung zhī ѻ als auch die Prädikats-
markierung yě ҏ. Bei näherer Betrachtung zeigt sich auch, dass
der aus einem Relativsatz bestehende Lokativ yú qí suǒ bù zhī
ᯬަᡰн⸕ räumlich und nicht relational aufzufassen ist.

B 492 ᚕѻᯬӪབྷ⸓ Mèng 7A.7


chǐ zhī yú rén dà yǐ
Das Verhältnis des Schamgefühls zum Menschen ist schon etwas
Wichtiges.
Kommentar: Die Kette chǐ zhī yú rén ᚕѻᯬӪ ist aufgrund der
fehlenden Markierung mit yě ҏ als eine genitivisch konstruierte
Nominalkomplementstruktur mit dem Verbalnomen yú ᯬ als
Kern, mit chǐ ᚕ als postpositional mit zhī ѻ markiertes Sub-
jektskomplement und mit rén Ӫ als Objektskomplement aufzu-
fassen. Wir haben es hier mit einer normalen Satzstruktur mit
verbalem Kern dà བྷ und ohne Verhältnisthema zu tun.

B 493 哂哏ѻᯬ䎠⦨, 匣ࠠѻᯬ伋匕, ⌠ኡѻᯬшු, ⋣⎧ѻᯬ㹼


▖于ҏ. 㚆Ӫѻᯬ≁Ӗ于ҏ Mèng 2A.2
qí lín zhī yú zǒu shòu, fèng huáng zhī yú fēi niǎo tài shān zhī yú qiū dié, hé hǎi
zhī yú xíng lǎo lèi yě. shèng rén zhī yú mín yì lèi yě.
Die Zugehörigkeit des männlichen und weiblichen Einhorns zu
den laufenden Landtieren, die Zugehörigkeit des männlichen und
weiblichen Phönix zu den fliegenden Vögeln, die Zugehörigkeit
des Tài-Bergs zu den Hügeln und Bodenerhebungen, die Zuge-
hörigkeit des Gelben Flusses und der See zur ablaufenden Pfütze
ist wegen der Gattung. Die Zugehörigkeit des weisen Rén zu den
Mín besteht ist auch wegen der Gattung.
Emphasemuster 395

Kommentar: Die Prädikatsnominalphrase lèi yě 于ҏ der kau-


salen Nominalsätze liegt ohne Verhältnisthema vor.

Während wir es hier mit normalen Satzstrukturen ohne Verhältnisthema


zu tun haben, zeigen die folgenden zwei Belege deutlich, dass die Ketten
der Form ‘Xѻᯬ Y’, also ohne yě ҏ, “normale” genitivische Nominal-
konstituenten sind, die in allen Funktionen auftreten können. yú ᯬ ist
hier als Nominalisierung des Verbs, also als deverbales Verbalnomen
mit der Bedeutung ‘Verhältnis (zu)’ zu analysieren. Im folgenden treten
sie als gewöhnliche Themen auf:

B 494 ⒟ѻᯬԺቩ, ᆨ✹㘼ᖼ㠓ѻ. ᭵нऎ㘼⦻ Mèng 2B.2


Tāng zhī yú Yī Yǐn, xué yān ér hòu chén zhī. gù bù láo ér wàng.
Was das Verhältnis des Tāng zu Yǐn aus dem Stamm der Yī
anbetrifft, so hat er zuerst von ihm gelernt und ihn dann zum
Lehnsmann gemacht. Daher: Ohne sich abzumühen verhielt er
sich wie ein rechter König.

B 495 ⒟ѻᯬԺቩ, ẃ‫ޜ‬ѻᯬ㇑Ԣ, ࡷнᮒਜ Mèng 2B.2


Tāng zhī yú Yī Yǐn, Huán gōng zhī yú Guǎn zhòng, zé bù gǎn zhào
Was das Verhältnis des Tāng zu Yǐn aus dem Stamm der Yī
sowie des Huán-Patriarchen zum medius aus dem Stamm der
Guǎn anbetrifft, so wagten [Erstere] nicht, [Letztere] herbei zu
zitieren.
Kommentar: In diesem Satz ist die thematisierte Position der
nominalen Ketten Tāng zhī yú Yī Yǐn ⒟ѻᯬԺቩ und Huán
gōng zhī yú Guǎn zhòng ẃ‫ޜ‬ѻᯬ㇑Ԣ durch die mit zé ࡷ
markierte pseudokonditional Konstruktion noch unterstrichen.

In dieser Eigenschaft können solche nominalen Konstituenten auch an


anderen Stellen im Satz auftreten, nicht nur satzinitial (das Verhält-
nisthema tritt dagegen stets satzinitial auf). Daher ist auch immer genau
zu prüfen, ob die Anwesenheit von yě ҏ als konstruktives Element des
Verhältnisthemas zu werten ist oder nicht. In den folgenden drei Belegen
gehört yě ҏ zur normalen Satzkonstruktion:
396 Kapitel 9

B 496 ઘ‫ޜ‬ѻнᴹཙл⥦⳺ѻᯬ༿, Ժቩѻᯬ⇧ҏ Mèng 5A.6


Zhōu gōng zhī bù yǒu tiān-xià yóu Yì zhī yú Xià, Yī Yǐn zhī yú Yīn yě.
Der Nichtbesitz des Reichs durch den Ministerialherzog von
Zhōu ist etwas, das identisch ist mit dem Verhältnis des Yì zur
Dynastie der Xià oder des Yǐn aus dem Stamm der Yī zur
Dynastie der Yīn.

B 497 ަᡰԕ᭮ަ㢟ᗳ㘵Ӗ⥦ᯗᯔѻᯬᵘҏ Mèng 6A.8


qí suǒ yǐ fàng qí liáng xīn zhě yì yóu fǔ jīn zhī yú mù yě
Der Grund, weshalb er die natürlichen Sensorien dafür vernach-
lässigt, ist doch etwas [der Aktion von] Beil und Axt am Baum
Vergleichbares.

B 498 […, ࡷ ]ཙлօ [ఌ]Ⲷᗎ᱃⢉ѻᯬણҏ Mèng 6A.7


[… zé] tiān-xià hé [shì] jiē cóng Yì Yá zhī yú wèi yě?
[…], was wäre der Grund dafür, dass sich dann die Ge-
schmacksreaktionen welcher Art auch immer im Reich allesamt
an der Reaktion des Yá aus dem Stamm der Yì auf schmackhafte
Speisen orientieren?
Proformen 397

9.4 Zusammenfassung

(R-1a) S → (KNJ) Sv/n (KNJ) Sv/n


(R-1b) Sv → (AP) KP (AP) VP
(R-1c) Sn → (AP) NP (AP) PSP
(R-2) KP → K + NP
(R-3) VP → VL (ASP)
(R-4a) NP → NP (KNJ) NP
(R-4b) NP → (DET) NL (KP)
(R-4c) NP → S
(R-5a) VL → V (KP) (KP)
(R-5b) VL → (PSP) VL
(R-6a) NL → (PSP) NL
(R-6b) NL → N (NP)
(R-7) PSP → NP + PST
(R-8) AP → A + NP
10 Genealogie, Phonologie und Morphologie des
Antikchinesischen

10.1 Sprachliche Vielfalt in China

Die durch die mehr als 1.2 Milliarden Sprecher chinesischer Dialekte in
Ost-, Südostasien und weltweiten Migrantenexklaven konstituierte
sinitsche Sprachfamilie ist heute mit weitem Abstand die grösste
erstsprachliche Sprechergemeinschaft der Welt (vgl. Englisch mit ca.
365 und Spanisch mit ca. 405 Millionen Muttersprachlern). Sie ist nach
gegenwärtigem Forschungsstand in mindestens zehn Subfamilien zu
untergliedern, die aufgrund aussersprachlicher politischer, historischer
und soziologischer Kriterien bzw. des mit wenigen Ausnahmen
gemeinsamen Schriftsystems traditionell als “Dialekte” bezeichnet wer-
den. Die sprachlichen Distanzen zwischen diesen Subfamilien können
allerdings sowohl in lexikalischer und phonologischer, als auch in
syntaktischer und (sehr selten) morphologischer Hinsicht so gross sein,
dass eine wechselseitige Verständigung der Sprecher ohne Rekurs auf
einen hochsprachlichen Standard (pǔtōnghuà Პ䙊䂡 in der VR China,
guóyǔ ഻䃎 in Taiwan, huáyǔ 㨟䃎 in Singapur) oder eine andere inter-
dialektale lingua franca nicht gewährleistet ist. Einzeldialekte verhalten
sich demnach hinsichtlich des Kriteriums der gegenseitigen Verständ-
lichkeit gesprochener Umgangssprache oftmals so zueinander, wie dies
einzelne Sprachen im durch die Bildung von Nationalstaaten geprägten
Europa tun; Dialektverbünde entsprechend häufig so wie einzelne indo-
europäische Sprachfamilien (Germanisch, Romanisch, Slavisch, usw.).
Dies gilt sowohl für das Verhältnis zwischen geographisch weit vonein-
ander entfernten Subfamilien wie etwa dem Nördlichen Mandarin
(běifāng guānhuà ेᯩᇈ䂡) und dem Kantonesischen (yuèyǔ ㋔䃎) im
Süden, als auch gelegentlich für benachbarte Sprachfamilien, wie etwa
dem Nördlichen Mandarin und den sogenannten Jìn ᱻ-Dialekten in
Shānxī ኡ㾯 und angrenzenden Gebieten. Im Extremfall sind Einzel-
dialekte sogar innerhalb von sinitischen Subfamilien wie etwa dem Mǐn
400 Kapitel 10

䯙 in den unwegsamen Tälern und Gebirgsregionen von Fújiàn ⾿ᔪ


wechselseitig teilweise unverständlich. Geographische Distanz zwischen
Sprechergemeinschaften ist mithin nur sehr bedingt als Indikator für
sprachliche Nähe tauglich, was u.a. auf verschieden intensive interdia-
lektale Kontaktperioden, unterschiedliches Einwirken von Substrat- und
Adstrateinflüssen nicht-sinitischer Sprachen und ggf. auf weitere nicht-
linguistische Faktoren zurückzuführen ist.
Gleichwohl gilt für alle sinitischen Sprachen grundsätzlich die An-
nahme der Abstammung aus einer altchinesischen Gemeinsprache, die
dem Antikchinesischen diachron vorausging. Ausnahmen hierzu bilden
allenfalls die hinsichtlich ihres jeweiligen Status als stark sinisierte
tibeto-burmesische Sprache oder aber als erratische antikchinesische
Dialekte umstrittenen Sprachen Bái ⲭ (auch “Mínjiā” ≁ᇦ genannt, ca.
800’000 Sprechern in Yúnnán 䴢ই) und Tǔjiā ൏ᇦ (gegenseitig nicht
verständlicher Nord- und Süddialekt in Nordwest-Húběi ⒆े und
Húnán ⒆ই, ca. 70’000 Sprecher), sowie Mischsprachen wie das Wǔ-
túnhuà ӄኟ䂡 in Ost-Qīnghǎi 䶂⎧ (tibetisch-mongolisch-chinesische
Elemente, ca. 2000 Sprecher), das Huíhuīhuà എ䕍䂡 (austronesische
Elemente aus der Cham-Subfamilie, sinitische Elemente aus mindestens
drei verschiedenen sinitischen Sprachgruppen, ca. 5000 zumeist mosle-
mische Sprecher) in zwei Kreisen der Insel Hǎinán ⎧ই und andere. Die
frühesten Abspaltungen aus dem gemeinsinitischen Dialektkontinuum in
vormittelchinesischer Zeit, möglicherweise bereits zu Beginn der Hàn-
Dynastie, waren nach allgemeiner Auffassung der Dialektologie die
heute nur noch in vergleichsweise randlagigen “Rückzugsgebieten” ge-
sprochenen Mǐn 䯙- und Jìn ᱻ-Familien.
Die Abgrenzung von Dialekt vs. Sprache ist, selbst bei Rückgriff auf
ausserlinguistische (z.B. politische, soziologische oder ethnische) Krite-
rien immer hochgradig problematisch, “Sprache” mithin immer auch ein
Konstrukt der über sie sprechenden. Nach Zählungen des chinesischen
UNESCO-Delegierten für Sprachgefährdungsfragen werden auf dem
Territorium der VR China neben den sinitischen Sprachen heute etwa
130 weitere Sprachen gesprochen, von denen der allergrösste Teil vom
Aussterben noch im 21. Jh. bedroht ist. Die sinitische Sprachgruppe, die
in Orakeltexten der Skapula- und Plastroneninschriften (jiǎgǔwén
⭢僘᮷) der Shāng ୶-Zeit seit spätestens dem ausgehenden 13. Jh.v.
Chr. erstmals in schriftlich fixierten Texten fassbar geworden ist, liegt
geographisch und in vielerlei Hinsicht auch sprachtypologisch in einer
Genealogie, Phonologie und Morphologie 401

Mittelposition zwischen einer Vielzahl nicht-sinitischer Sprachfamilien.


Es ist daher wenig verwunderlich, dass von diesen benachbarten Sprach-
familien in der rund 250jährigen Geschichte der Forschungshypothesen
zur Herkunft des Chinesischen nur wenige noch nicht in einen genealo-
gischen Zusammenhang mit einer Frühform des Chinesischen gebracht
worden sind. Die Funktion des sich erst seit dem Ende der Zeit der
streitenden Reiche (475–221 v.Chr.) als chinesische (Huá-Xià 㨟༿)
Ökumene selbstdefinierenden Gebietes als politisch-kultureller Kommu-
nikationsknoten und inter-ethnischer Schmelztiegel wird in jüngster Zeit
zunehmend durch archäologische und molekularbiologische Befunde
bestätigt, die immer stärker von der traditionellen Vorstellung einer
monolithisch-isolierten Entstehung der chinesischen Zivilisation am
Gelben Fluss mit ausschliesslich linearen lokalen oder zentrifugalen
nachfolgenden Entwicklungen abrücken.
Graphik 50 zeigt eine stark schematisierte Rekonstruktion der mut-
masslichen ursprünglichen Verbreitungsgebiete und Ausbreitungsbewe-
gungen von 22 Sprachfamilien Ost- und Zentralasiens, auf Grundlage
von Bündeln typologischer Merkmale der belegten Sprachnachkommen
und einigen historischen Zusatzannahmen (vgl. JANHUNEN 1998).
Inwieweit solche sprachstrukturellen “Cluster” diagnostischen Wert für
die Rekonstruktion genealogischer Verhältnisse haben, ist derzeit schwer
zu beurteilen, die numerische Simulation phyologenetischer Sprach-
entwicklungen zudem ausserordentlich komplex. Unzweifelhaft aber
dürften seit Entstehung des Sinitischen im ausgehenden Neolithikum
(jedenfalls vor 1500 v.Chr.) zu den in Graphik 50 schraffiert markierten
zehn Sprachfamilien zumindest Kontakte bestanden haben, die sich,
mehr oder weniger prominent, in lexikalischen und strukturellen
Parallelen sowie in toponomastischen Daten widerspiegeln sollten.
Graphik 50: Karte der angenommenen Verbreitungsbewegungen asiatischer Sprachen (Basis JANHUNEN 1998)
Russland EA
UR (Sibirien) Kamčat.
JU AM KA
JE Sachalin
IE Kasachstan TG JR
TU MO Mongolei Mandschurei AI
Kirgistan KO
Usbekistan
IE Turkmen. Tajikis.
Korea
Japan

Aserbaid.
Afghanist. BU China
Tibet
Pakistan ST AN Okinawa
Iran Nepal Bhut.
IE Indien KU TK Taiwan
DR Bangl. Laos AA HM
NI Burma Thailand Viet-
nam
Hainan Philip-
Kambod. pinen

Malaysia
ŚrL Indonesien
Genealogie, Phonologie und Morphologie 403

Legende: AA – Austroasiatisch; AI – Ainu; AM – Amurisch; AN –


Austronesisch; BU – Burushaski; DR – Dravidisch; EA – Eskaleutisch;
HM – Hmong-Mien; IE – Indoeuropäisch; JE – Jenisejisch; JR – Japan.-
Ryūkyū; JU – Jukaghirisch; KA – Kamčukotisch; KO – Koreanisch; MO
– Mongolisch; NI – Nihali; ST – Sino-Tibetisch; TG – Tungusisch; TK –
Tai-Kadaiisch; TU – Turkisch; UR – Uralisch

10.2 Genealogie

Wissenschaftliche Theorien zur Sprachgenealogie, wie sie seit der so-


genannten “Leipziger Schule der Junggrammatiker” in der zweiten
Hälfte des 19. Jh. entwickelt wurden und – trotz zahlloser Verfeine-
rungen und einiger antipositivistischer Gegenentwürfe – bis heute fester
Bestandteil der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft geblieben
sind, identifizieren typischerweise drei linguistische Kriterien für den
Nachweis von Sprachverwandtschaft. Es handelt sich dabei um das Vor-
liegen

(a) lautgesetzlicher, d.h. weitgehend ausnahmsloser phonologischer


Wortentsprechungen,
(b) eines gemeinsamen, d.h. ererbten Grundwortschatzes,
(c) morphologischer Parallelen, insbesondere auch solcher im Bereich
von paradigmatischen Unregelmässigkeiten,

zwischen den verglichenen Einzelsprachen. Hinzu sollte extralingui-


stisch (d) ein plausibles, d.h. allenfalls auch historisch-archäologisch
begründbares Kontaktszenario für eine postulierte Sprachverwandtschaft
treten. Molekularbiologische und andere physisch-anthropologische Evi-
denztypen, die in jüngster Zeit zunehmend im Zusammenhang mit
linguistischen Genealogien diskutiert und zur taxonomischen Modell-
bildung herangezogen werden, sind prinzipiell von linguistischen Genea-
logien unabhängig, weshalb ihre Hinzuziehung für Fragen der histori-
schen Sprachwissenschaft bestenfalls sekundär-heuristischen Wert
besitzt.
404 Kapitel 10

Aufgrund vielfältiger Untersuchungen an genetisch und typologisch


nicht-verwandten Sprachfamilien werden heute regelmässige morpholo-
gische Entsprechungen als ein diachron stabileres und somit bedeutsa-
meres Verwandtschaftsindiz angesehen als solche im Lexikon oder in
der Phonologie. Dies wirft für Sprachen mit isolierender Typologie, in
denen die Wörter morphologisch völlig unveränderlich sind, so dass
grammatische Beziehungen entweder ausschliesslich auf der Ebene der
Syntax oder durch selbständige Wörter mit nur grammatischer Funktion
ausgedrückt werden, das Problem auf, dass das wichtigste Kriterium für
die Feststellung von Verwandtschaft prinzipiell nicht beurteilt werden
kann. In letzter Konsequenz hätte dies einerseits zur Folge, dass allen
isolierenden Sprachen genealogisch der Status von Isolaten zukäme,
deren nächsten Sprachverwandten sich somit wie etwa im Fall des
Baskischen in Europa, des Hadza in Afrika oder des Nihali in Südasien,
unwiederbringlich unserer Kenntnis entzögen. Andererseits wären solche
Verwandtschaftshypothesen über die Affiliation einer Sprache, die keine
morphologische Komponente umfassen, a priori nur wenig überzeu-
gungskräftig. Da das Antikchinesische, wie wir in Kapitel 10.3.1 sehen
werden, im Gegensatz zu einem in Europa seit den ersten missionars-
linguistischen Beschreibungen chinesischer Sprachformen im 16. Jh.
festsitzendem Klischee, jedoch durchaus eine ausgebildete derivatio-
nelle, wenn wohl auch kaum relationale Morphologie i.S. der flektieren-
den Sprachen besass, wird einer Berücksichtigung der zum Alt- bzw.
Antikchinesischen parallelen Wortbildungs- und -derivationsmecha-
nismen bei der Beurteilung von Verwandtschaftshypothesen grosses
Gewicht zukommen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die gegen-
wärtig in der Literatur konkurrierenden Hypothesen zur Genealogie des
Antikchinesischen in drei Gruppen einteilen:

i. solche, die lediglich die Kriterien (a), (b) und (d) zu erfüllen vor-
geben;
ii. solche, die darüber hinaus regelmässige morphologische Parallelen
(c) aufzuzeigen versuchen;
iii. solche, die aufgrund der Annahme der Nicht-Nachweisbarkeit von
(c) eine quasi-agnostische Position einnehmen oder die das Siniti-
sche als Mischsprache, d.h. als Endprodukt einer Hybridisierung
ursprünglich genealogisch nicht-verwandter Sprachfamilien be-
trachten.
Genealogie, Phonologie und Morphologie 405

Das traditionelle Modell einer Genealogie in der historisch-vergleichen-


den Sprachwissenschaft ist der sich von einem ursprachlichen Wurzel-
knoten aus bis zu den Einzelsprachen und -dialekten verzweigende
Stammbaum. Obschon es wichtig ist sich stets zu vergegenwärtigen, dass
“vertikale” Stammbäume von Sprachen lediglich idealisierte Projektio-
nen von Sprachwandelphänomenen – etwa gemeinsamen Neuerungen
bzw. Beibehaltungen von Merkmalen der zugrundeliegenden Gemein-
sprache, Isoglossenbündeln und anderen sprachwissenschaftlichen Kon-
strukten sind, die keineswegs in jedem Fall mit der durch die vielfach
von “horizontalen” Beeinflussungen überlagerten historischen Realität
deckungsgleich sein müssen – hat sich die Stammbaum-Metapher als
durchaus nützlich erwiesen, um einzelne Sprachen in einer historischen
Typologie einordnen zu können.
In einer “non-liquet”-Hypothese (Typ III), wie sie z.B. von den
amerikanischen Sprachwissenschaftlern Roy Andrew Miller (1988),
Chris Beckwith (1988) und David Prager Branner (2000, 2003) in Bezug
auf das Antikchinesische vertreten wird, wäre das Sinitische gewis-
sermassen zugleich Ursprung und terminaler Knoten auf der Sprach-
familienebene. Zwar könnte eine weitere Aufgliederung des sinitischen
Stammbaums in Subfamilien (=Dialekte) beschrieben und anhand des
internen Vergleichs dieser Subfamilien in Kombination mit der
antikchinesischen Textevidenz und Lehnwortabgleichungen auch eine
“proto-sinitische” Sprachwurzel rekonstruiert werden. Deren weitere
Herkunft bliebe jedoch zwangsläufig ungeklärt, ihre Zeittiefe eher
“flach”. Das Sinitische wäre somit eine Sprachfamilie, die den selben
taxonomischen Status einnähme wie etwa das Erdferkel (Orycteropus
afer) in der Zoologie, das als einziger Vertreter der Säugetierordnung der
Röhrenzähner (Tubulidentata) gilt und dessen auffällige typologische
Ähnlichkeiten mit anderen Arten (wie etwa Ameisenbär, Hase, Ratte und
Schwein) daher allein auf konvergenter Evolution beruhen.
Eine weitere Spielart dieser Hypothese ist die Klassifikation des
Gemein-Sinitischen als Kreolsprache, die durch Pidginisierungsprozesse
im intensiven Sprachkontakt der oben skizzierten Huá-Xià-Ökumene
entstanden sei und dadurch recht eigentlich gar keinen rekonstruierbaren
Stammbaum besitze (vgl. BLUNDEN / ELVIN 1990, DÈNG XIǍOHUÁ
2001, 2004, WÁNG JÌNGLIÚ 2001, DE LANCEY 2011a, b). Obwohl das
Antikchinesische tatsächlich diverse Merkmale aufweist, die es mit
Pidgin- und Kreolsprachen teilt – z.B. die kanonische Subjekt-Verb-
406 Kapitel 10

Objekt-Konstituentenabfolge, die einfache Silbenstruktur und Phono-


taktik und natürlich das Fehlen von Flexionsmorphologie – gibt es auch
deutliche Unterschiede. So sind prototypische Kreolsprachen auch durch
die Abwesenheit von semantisch unvorhersagbaren Derivationsmustern
im Wortbildungsbereich und durch die Nicht-Verwendung von lexika-
lischem Ton zur Differenzierung von Monosilben oder zur Kodierung
grammatischer Funktionen gekennzeichnet (MCWHORTER 1998, 2001).
Diese Kriterien treffen zumindest auf das spätere Antikchinesische
offensichtlich nicht zu und lassen insofern die Annahme einer Genese
durch Kreolisierung wenig plausibel erscheinen. Kurzum: Kreolsprachen
sind zwar strukturell simpel, aber nicht alle strukturell simplen Sprachen
sind auch Kreole! (ANSALDO / MATTHEWS 2001, BISANG 2009, BEHR
2010).
In die Gruppe der sich v.a. auf lexikalische und phonologische
Übereinstimmungen stützenden Hypothesen (Typ I) fallen die folgenden
Theorien, die wir hier nur kurz graphisch zusammenfassen wollen. Die
Hauptvertreter der Hypothesen sind in Klammern vermerkt, terminale
Familien werden durch einen senkrechten Strich gekennzeichnet. Zur
weiteren (niedrigstufigeren) Verzweigungen der jeweiligen Stammbäu-
me, Sprachen, bzw. zu Sprecherzahlen und geographischen Informa-
tionen konsultiere man z.B. die regelmässig aktualisierten Angaben des
Ethnologue (<www.ethnologue.com>; 14.3.2013). Hier soll lediglich ein
sehr grober Überblick über die jeweils vermutete Makroposition der sini-
tischen Sprachfamilie gegeben werden, ohne genauer auf die naturge-
mäss vielfältigen Kontroversen über innere Struktur oder weitergehende
Gruppierungen der mit ihr verbundenen Sprachfamilien einzugehen.
Genealogie, Phonologie und Morphologie 407

a. Sino-Tai
WULFF 1934, LI FANG-KUEI 1976, PRAPIN MANOMAIVIBOOL 1975,
1976, XÍNG GŌNGWǍN 1998, GŌNG QÚNHǓ 2001, TING PANG-HSIN
2004, PĀN WÙYÚN 2005, LUÓ YǑNGXIÀN 2008, 2012 u.a.
Chinesische
Dialekte |
Sinitisch
Bai |
Sino-Tai

Be ...
Tai
Zhuang-Tai ...

Kam ...
Tai-
Kam-Sui
Kadaiisch
Sui ...

Kra ...

Hlai ...

b. Sino-Kaukasisch
STAROSTIN 1984, 1995, 1996 u.a.
Chinesische
Dialekte |
Sinitisch
Sino-
Bai |
Sino-Kaukasisch

Sino- Kiranti
Kiranti
Tibetisch

Tibeto-Burmesisch …

Jenisejisch …

Nordost-Kaukasisch …
Nord-
Kaukasisch
Nordwest-Kaukasisch …
408 Kapitel 10

c. Sino-Tibetisch-Austroasiatisch
GORGONIEV 1967

Sinitisch |
Sino-
Tibetisch
Sino-Austroasiatisch

Tibeto-Burmesisch …

Nord …
Munda
Süd …

Austro-
Nord …
asiatisch

Ost …

X Viet-Muong …

Süd …

Nikobaresisch |

d. Sino-Austrisch oder “Pan-Austrisch”


ZHÈNG-ZHĀNG 1995, PĀN 1995 u.a.
Austronesisch
(AN) …
Austrisch
Austroasiatisch
Sino-Austrisch

Makro- (AA) …
Austrisch
Tai-Kadaiisch (TK) …

Hmong-Mienisch (HM) …

Sinitisch |
Sino-
Tibetisch
Tibeto-Burmesisch (TB) …
Genealogie, Phonologie und Morphologie 409

e. Sino-Indoeuropäisch (Sino-Indogermanisch)
EDKINS 1871, SCHLEGEL 1872, GEORGIEVSKIJ 1888, ULENBROOK
1967, 1968, 1998, ULVING 1968, CHANG 1986, ZHŌU 2002 u.a.

Sinitisch |
Sino-Indo-euro-päisch

Anatolisch | Griechisch |

Tocharisch | Keltisch |

Indo-
Indo-Iranisch … Germanisch |
Europäisch

Balto-Slavisch … Armenisch |

Italisch … Albanisch |

Trümmersprachen (Phrygisch, Messapisch,


Venetisch, Thrakisch, Makedonisch, Illyrisch) |

f. Sino-Na-Dene
SAPIR 1921, SHAFER 1952, 1957, BENGTSON 1993

Sinitisch |
Sino-
Tibetisch
Tibeto-Burmesisch …
Sino-Dene

Athabaskisch-Eyak-Tlingit Tlingit |

Eyak-Athabaskisch Eyak |
Na-Dene
Athabaskisch …

Haida |
410 Kapitel 10

g. Dene-(Sino-)Kaukasisch
BENGTSON / BLAŽEK 1995

Na-Dene …

Sinitisch |
Sino-
Tibetisch
Tibeto-Burmesisch
Dene-Kaukasisch

Sino-
Kaukasisch
Jenisejisch …

Nord-Kauskasisch …

Sumerisch

Burushaski

Vaskonisch Baskisch

Während diese sieben Hypothesen sicherlich nicht alle den gleichen


wissenschaftlichen Stellenwert haben – manche fussen auf eher ober-
flächlichen Streifzügen durch die Wörterbücher und grosszügig “zusam-
mengebastelten” lexikalischen Vergleichslisten, andere auf jahrzehn-
telanger Rekonstruktionsarbeit an den verglichenen Sprachfamilien und
Protosprachen – so sind sie sich doch insofern ähnlich, als eine Berück-
sichtigung morphologischer Korrespondenzen bestenfalls in Form von
lexikalischen Vergleichen sogenannter “Funktionswörter” (Synseman-
tika) stattfindet, meistens jedoch überhaupt nicht. Eine relativ pro-
minente Schicht austroasiatischer Lehnwörter im Antikchinesischen ist
in jüngster Zeit auch durch das Etymologische Wörterbuch des
Antikchinesischen von Schuessler (SCHUESSLER 2007) postuliert, von
Spezialisten des Austroasiatischen jedoch sehr unterschiedlich beurteilt
worden (SIDWELL 2008, 2010 vs. PEIROS 2011). Inwieweit die Vertei-
lung dieses mutmasslichen Wortschatzes im antikchinesischen Lexikon
ein Kriterium für die Schichtung antikchinesischer Texte sein könnte ist
Gegenstand von noch ergebnisoffenen Diskussionen (MCCRAW 2010),
weshalb hier auf eine weitergehende Darstellung der Argumente
vorläufig verzichtet wird. Von den genannten sieben Hypothesen unter-
Genealogie, Phonologie und Morphologie 411

scheiden sich die folgenden, die wie folgt schematisiert und kritisiert
werden können:

h. Sino-Tibetisch-Indoeuropäisch
PULLEYBLANK 1965, 1975, 1993, 1996, SHAFER 1963, 1965

Sinitisch |
Sino-Tibetisch (ST)
ST-IE

Tibeto-Burmesisch …

Indoeuropäisch (IE) …

Diese Hypothese, die im Gegensatz zu (e.) das Konzept eines “klassi-


schen” Sino-Tibetischen (vgl. unten j.) auf einer tieferen Ebene mit dem
Indoeuropäischen verbindet, ist insofern problematisch, als die ins Feld
geführte lexikalische Evidenz teilweise sogenannte Elementarparallelen
(Wörter wie ‘Mama’, ‘Papa’ usw., die in allen Sprachen der Welt
ähnlich klingen) bzw. lautmalerische Wörter (Onomatopoetika) berück-
sichtigt und sich ansonsten auf Wortschatzbereiche konzentriert, die der
historischen Sprachwissenschaft seit langem als typisch für den Bereich
der Entlehnung, nicht aber der Urverwandtschaft bekannt sind. Hierzu
gehören im konkreten Vergleichsfall des Antikchinesischen z.B. das
Vokabular des Wagenbaus (Wörter wie ‘Streitwagen’, ‘Nabe’, ‘Speiche’
usw.), des Maurerhandwerks (‘Mauer’, ‘ummauerter Hof’, ‘befestigtes
Dorf’ usw.), der Apikultur (‘Honig’), der Subsistenzwirtschaft (Mass-
angaben, Getreidenamen) und der Fauna (‘[Jagd]hund’, ‘Löwe’, ‘Pferd’)
ursprünglich nicht-einheimischer Tiere (vgl. etwa LUBOTSKY 1998,
LUBOTSKY / STAROSTIN 2003). Viele dieser Wörter sind innerasiatische
“Wanderwörter” par excellence, die sich nicht nur im Sino-Tibetischen
und Indogermanischen, sondern auch in anderen Sprachfamilien und
Einzelsprachen des weiteren Areals, wie etwa dem “Altaischen” und
Uralischen nachweisen lassen. Oft genug lässt sich allerdings die
Ausgangssprache eines pan-zentralasiatischen Wanderwortes durch die
Überlagerung mit mannigfaltigen Kontakt- und Migrationserscheinungen
späterer Zeit nicht mehr feststellen. Zudem sind an den für die
Hypothese zitierten Wortgleichungen auf indoeuropäischer Seite zumeist
nur das Tocharische und die östlichen Gruppen des Indoiranischen
beteiligt, also die beiden geographisch dem Verbreitungsgebiet des
412 Kapitel 10

Antikchinesischen am nächsten gelegenen indoeuropäischen


Sprachfamilien. Auch dies verweist wiederum eher auf frühe Lehnkon-
takte als auf einen gemeinsamen Stammbaum.
Im Bereich der Morphologie dient PULLEYBLANK die Beobachtung
als Hauptargument für seine Verwandtschaftshypothese, dass das Indo-
europäische massiv und das Sino-Tibetische zumindest bruchstückhaft
Systeme von paradigmatischem Vokalwechsel (“Ablaut” oder “Apo-
phonie”) aufweisen. Tatsächlich dürfte es kaum zu bestreiten sein, dass
Ablaut- und allenfalls auch sekundäre Umlautmuster in etwa einem
Dutzend der tibeto-burmesischen Subfamilien in Verbal- und Pronomi-
nalparadigmen belegbar sind. Dass es auch im Antikchinesischen Vokal-
alternationen in etymologisch bzw. semantisch verwandten Minimalpaa-
ren gab, ist eine Einsicht, die bereits auf die einheimisch-chinesischen
Philologen der mittleren Qīng ␵-Zeit zurückgeht. Allerdings liessen sie
die Frage ungeklärt, ob es sich dabei um ein morphologisches, ein
dialektales, ein soziolektales oder gar um ein rein diachroniebedingtes
Phänomen handele. Zwar ist Pulleyblanks Charakterisierung der Grund-
funktion des antikchinesischen Ablauts zur Markierung von “extrover-
ten”, d.h. vom Sprecher wegzielenden, nach aussen gerichteten vs.
“introverten”, d.h. bei ihm verbleibenden, nicht-telischen Handlungen in
der Tat auf einige verbale Minimalpaare gut anwendbar. Man vergleiche
z.B.

tán 䃷 < AC *llam ‘sprechen, sich unterhalten’ INTROVERT


tán 䆊 < AC *lləm ‘sprechen über’ EXTROVERT

zhuó ᯛ < AC *hllak ‘hacken, spalten’ INTROVERT


tī ࢄ < AC *hllik ‘zerhacken, abhacken’ EXTROVERT

pǎng 䁚 < AC *phaŋ-s ‘nachfragen, s. erkundigen’ INTROVERT


pìng 㚈 < AC *pheŋ-s ‘anfragen, werben um’ EXTROVERT

usw. Die durch den Ablaut markierte Distinktion hat ganz offensichtlich
Überschneidungen mit dem Subklassifizierungsrahmen (und also der
Valenz) des Verbes, ist mit ihm aber nicht gänzlich identisch. Anderer-
seits ist in zahlreichen Fällen keine grundlegende Bedeutungsdifferenz
zwischen den verglichenen Verben feststellbar. Vgl. z.B.:
Genealogie, Phonologie und Morphologie 413

zhé ᠮ < AC *t-nep ‘s. fürchten vor, gelähmt sein’


zhé ឩ < AC *t-nip id.

tuò ⋠ < AC *ttak ‘tropfen, tröpfeln’


dī ┤ < AC *ttek id.

cāng 㫬 < AC *s-hrraŋ ‘azurfarben, grün/grau/blau sein’


qīng 䶁 < AC *s-hrreŋ id. usw.

Oder die Distinktion wird durch das Vorhandensein weiterer Deriva-


tionsaffixe überlagert, die somit eine eindeutige Funktionszuweisung des
Vokalwechsels erschweren. Vgl. z.B.

guǎng ᔓ < AC *kkʷaŋ-q ‘weit, ausladend sein’


hóng ᕈ < AC *N-kkʷəŋ-q ‘weit, riesig sein’

yuē ᴠ < AC *wat ‘sprechen, sagen’


wèi 䄲 < AC *wət-s ‘meinen, bezeichnen’

jiān ี < AC *kkin ‘hart, solide sein’


jiān 㢡 < AC *kk-r-ən ‘hart (Boden); schwierig sein’ usw.

Schliesslich kommen Ablauterscheinungen auch massiv ausserhalb der


Kategorie des Verbes vor (i.) oder sie sind gar wortartenderivationell
(ii.). Vgl. z.B.:

i. yǐ 㸫 < AC *ŋaj-q ‘Ameise’ (N)


yǐ 㷈 < AC *ŋəj-q id. (N)

náng ᴙ < AC *nnaŋ ‘früher, einst’ (ADV)


réng ӽ < AC *nnəŋ ‘wie zuvor, weiterhin’ (ADV)

huī ᗭ < AC *hməj ‘Flagge, Emblem; signalisieren’ (N/V)


huī 哮 < AC *hmaj ‘Flagge; signalisieren’ (N/V)

ii. dāo ࠰ < AC *ttaw ‘Messer’ (N)


diāo 䴅 < AC *ttiw ‘schnitzen’ (V)
414 Kapitel 10

xuán ᯻ < AC *N-swen ‘rotieren’ (V)


xún ᰜ < AC *N-swin ‘Zyklus von 10 Tagen’ (N)
‘überall, rundherum’ (ADV)

yǒng ໵ < AC *ʔ(r)oŋ-q ‘verstopfen, schwellen’ (V)


yǐng ⲝ < AC *ʔreŋ-q ‘Schwellung, Struma’ (N) usw.

So erweist sich die postulierte “introvert/extrovert”-Dichotomie einer-


seits als zu umfassend, um funktional-semantisch mit der Vielzahl von
vergleichsweise strikt grammatikalisierten Verwendungsbereichen beim
indoeuropäischen Verb (Markierung von Tempus-, Modus- und Aspekt-
kategorien) korrelierbar zu sein. Andererseits ist sie zu unscharf, um
auch nur alle innerchinesischen Fälle zufriedenstellend beschreiben zu
können. Darüber hinaus ergibt sich keinerlei Vergleichbarkeit der eigent-
lichen derivationellen Morphologie zwischen dem Indoeuropäischen und
dem Antikchinesischen. Sollten also tatsächlich morphologische Über-
einstimmungen zwischen einem Vorläufer der sinitischen Sprachen und
dem Indoeuropäischen bestanden haben, so müssten sie in einer durch
Standardmethoden der vergleichenden Sprachwissenschaft kaum noch
erreichbaren Zeittiefe angesiedelt gewesen sein.
Genealogie, Phonologie und Morphologie 415

i. Sino-Tibetisch-Austronesisch
WULFF 1942, SAGART 1992, 1993, 1994, 1995, 2005

Paiwanisch …

Puyuma …

Proto-Austronesisch (PAN) Rukai-Tsouisch …

West-PAN …
STAN

Nord-PAN …

Ostküsten-Verband …

Tibeto-Burmesich …

Sinitisch …

Diese genealogische Hypothese ist auf regelmässigen phonologischen


Entsprechungen aufgebaut, die den gesamten segmentalen Bereich der
verglichenen Wortwurzeln, inklusive jener auslautenden laryngalen
Elemente betreffen, die durch den Prozess der Tonogenese (vgl. Kap.
10.3.6) in nach-antikchinesischer Zeit eliminiert wurden. Lexikalische
Korrespondenzen umfassen sowohl einige Dutzend genuin antikchine-
sische Worte aus dem eher entlehnungsresistenten Grundwortschatz
(z.B. Körperteilbezeichnungen wie ‘Knochen’, ‘Ellenbogen’, ‘Kopf’,
‘Busen’, zoologische Termini wie ‘Wurm’, ‘Schlange’, ‘Blutegel’,
Naturerscheinungen wie ‘Erde’, ‘Mond’, ‘Wind’, eine Reihe von ein-
fachen Verben wie ‘gehen’, ‘graben’, ‘folgen’, ‘im Mund halten’,
‘sagen’, ‘waschen’, ‘heiss sein’ usw.), als auch einige Elemente kultu-
rellen Vokabulars, u.a. aus dem Bereich des Ackerbaus (‘Hirse’, ‘Reis’),
des Handwerks (‘flechten’, ‘Netz’), der Jagd (‘jagen’, ‘Armbrust’), der
religiösen Praxis (‘Tumulus’, ‘Trauerkleidung’), des gewässernahen
Habitats (‘Auster’, ‘Mangrovenkrabbe’) usw. Morphologische Verglei-
che des antikchinesischen detransitivierenden Nasalpräfixes, des valenz-
steigernden Präfixes *s-, des im Chinesischen eher seltenen nominalisie-
renden *-n-Suffixes und des Infixes *-r- für über mehrere Partizipienten
416 Kapitel 10

distribuierte Handlungen (vgl. Kap. 10.5.4) mit funktionalen austro-


nesischen Entsprechungen werden ebenfalls angenommen. Sie sind aber
derzeit noch nicht durch eine ausreichende Zahl von einzelsprachlichen
Belegen abgesichert.
Wenn die Hypothese Sagarts trotz dieser zunächst sehr positiven
Bilanz vorläufig nur skeptisch beurteilt werden kann, so deshalb, weil sie
in den lexikalischen Vergleichen einen Prozess der sogenannten “kano-
nischen Reduktion” mehrsilbiger austronesischer Wortwurzeln postu-
liert. Kanonische Reduktion von Segmenten bedeutet, dass von einer
typischen austronesischen Wurzel der Struktur *C1VC2C3VC4 (wobei C
einen beliebigen Konsonanten, V einen beliebigen Vokal symbolisiert),
nur die zweite Silbe dieser Wurzel *_____(C2)C3VC4 im Antikchine-
sischen bzw. Tibeto-Burmesischen entspricht und somit die Vergleichs-
möglichkeiten rein rechnerisch potenziert werden. Man vgl. z.B.

PAN *kukut :: AC 僘 *kkut > gǔ ‘Knochen’


PAN *Limatek :: AC 㴝 *tik > zhì ‘Blutegel’
PAN *panaq :: AC ᕙ *Cə-nna-q > nǔ ‘Armbrust’
PAN *qiCeluR :: AC থ *kə-rro[r,j]-q > luǎn ‘Ei’ usw.

Zwar sind solche Reduktionsprozesse innerhalb einzelner austrone-


sischer Sprachen durchaus historisch belegbar, hier wohl jedoch wieder-
um dem Arealeinfluss mono- bzw. sesquisyllabischer Sprachen
Südostasiens zuzuschreiben. Jedenfalls führt ihre unbeschränkte Akzep-
tanz in lexikalischen Gleichungen gefährlich nah an den Bereich der
Nicht-Falsifizierbarkeit heran, was a fortiori auch für die gelegentlich
postulierte Korrelierbarkeit antikchinesischer Silbentypen (Typ A/B, vgl.
Graphik 59) mit proto-Austronesischen Artikulationstypen der Anlauge
in der ausgefallenen ersten Wurzelsilbe gilt. Zudem existieren Kor-
respondenzen, bei denen in einem Paar im Antikchinesischen fast oder
vollständig synonymer Lexeme regelmässige Komparanda des einen
Paarteils zum Proto-Austronesischen, des anderen zum Tibeto-Burme-
sischen beobachtet werden können, so dass eine vielfältig verschlungene
und langwährende Kontaktgeschichte im Hintergrund anzunehmen ist.
Man vgl. z.B.:
Genealogie, Phonologie und Morphologie 417

PAN *uliq ‘in der Lage sein, können; Instrumental-Marker’ ::


AC ԕ *lə-q > yǐ ‘nehmen, nutzen; Instrumental/Modal-Marker’
vs.
AC ⭘ *loŋ-s > yòng ‘nutzen, gebrauchen; Instrumentalmarker’ ::
Tibetisch longs ‘nutzen, geniessen; Instrumentalmarker’ usw.

So bleibt abzuwarten, ob die weitere Forschung genügend morphologi-


sche Evidenz für eine Sprachverwandtschaft zwischen dem neolithischen
Proto-Sinitischen und dem wohl aus einem Urheimatsgebiet entlang der
chinesischen Ostküste stammenden Austronesischen erbringen wird.
Essentiell hierfür wird auch eine bessere Kenntnis der internen Struktur
des Tibeto-Burmesischen und seiner genauen Beziehung zum Sinitischen
sein – eine Frage der wir uns im Rahmen der folgenden Standardhypo-
these zur Sprachverwandtschaft des Chinesischen zuwenden werden.
418 Kapitel 10

j. Standard-Sino-Tibetisch
SIMON 1930, SHAFER 1966, BENEDICT / MATISOFF 1972, MATISOFF
2003, BODMAN 1980, COBLIN 1986, PEIROS / STAROSTIN 1996,
JEON 1996, XUĒ 2001, HANDEL 2008 u.v.a.m.

Sinitisch Dialekte … |

Kuki-Chin-Naga …

Kāma-
Abor-Miri-Dafla …
rūpisch
Sino-Tibetisch

Bodo-Garo …

Bodisch …

Hima-
Zentral-H. …
layisch Hima-
layisch
Kiranti …

Qiangisch

Tibeto-
Kachinisch
Burme-
sisch
Burmisch …

Burmesisch |
Lolo-
Burme-
Nord …
sisch

Loloisch Zentral …

Süd …

Bai |

Karenisch Karen |

Diese in ihren Wurzeln bis in die Kolonial- und Missionarslinguistik der


Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichende Hypothese verbindet die ca.
Genealogie, Phonologie und Morphologie 419

380 heute noch gesprochenen tibeto-burmesischen Sprachen und ihre


wenigen schriftlich attestierten vormodernen Vorläufer mit den siniti-
schen Sprachen als erste Verzweigung eines nach den ältesten bezeugten
Schriftsprachen der Familie als “sino-tibetisch” bezeichneten Stamm-
baums. Sie wird daher gelegentlich auch als “gabelförmiges Sino-
Tibetisch” (“bifurcate Sino-Tibetan”) bezeichnet, verfügt mittlerweile
über hunderte wohletablierte Wortgleichungen aus allen Wortschatz-
bereichen und gilt als Standardannahme, die in viele massgebliche
Nachschlagewerke und Lehrbücher Eingang gefunden hat. Allerdings
stammen die meisten in der Literatur zitierten Wortgleichungen lediglich
aus einer Handvoll gut dokumentierter Einzelsprachen und die genau-
eren Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Subfamilien sind noch
weitgehend unerforscht. Festzuhalten bleibt aber, dass die Hypothese die
obengenannten Kriterien (a–d) erfüllt, da sie mindestens die folgenden
morphologischen Elemente mit deutlicheren Parallelen der Funktionen
umfasst (vgl. Kapitel 10.5):

beim Verb:
x *s-Präfix (kausativ, direktiv, inchoativ, deverbal)
x *N-Präfix (valenzvermindernd, detransitivierend, antikausativ)
x *-t-Suffix (valenzsteigernd, direktiv, applikativ)
x *-s-Suffix (deverbal, mediopassiv, exoaktiv)
x *-r-Infix (repetitiv, intensiv)

beim Nomen, Pronomen:


x *-n-Suffix (nominalisierend, kollektiv)
x *-k-Suffix (distributiv)
x *m-Präfix (körperteilbezeichnend, tierbezeichnend)

Allerdings fehlen unter den morphologischen Parallelen, im Gegensatz


zu einigen anderen Untergruppen der sino-tibetischen Sprachen, solche
von Irregularitäten in Flexionsparadigmen geographisch nicht-benach-
barter Sprachen, die von besonders hohem diagnostischen Wert für die
Feststellung der Verwandtschaft wären (JACQUES 2007, 2010).Überdies
existieren unter diesen morphologischen Parallelen, wie BODMAN (1980)
und VAN DRIEM (1993, 1997, 1999, 2001, 2002, 2007) in einer Reihe von
Arbeiten gezeigt haben, keine solchen gemeinsamen Innovationen, mit-
tels derer sich die sinitischen Sprachen als Gruppe gegenüber den tibeto-
420 Kapitel 10

burmesischen Sprachen absetzen liessen. Hieraus folgt, dass die Position


des Sinitischen “tiefer” innerhalb des Stammbaums zu verorten sein
dürfte und die Bezeichnung der übergeordneten Gesamtsprachgruppe als
“Sino-Tibetisch” irreführend ist. Mit anderen Worten: Das Sinitische ist
in einer solchen “revidierten” sino-tibetischen Perspektive Teil einer
Sprachgruppe, die man aufgrund der übereinstimmenden Morphologie
einfach als “Tibeto-Burmesisch” bezeichnen könnte. Da die nächsten
morphologischen Verwandten innerhalb dieser riesigen Familie bei den
mit dem Alttibetischen verwandten Sprachen einerseits (Tamang,
Gurung, Lepcha, Dongkha, Newari usw.) und den sogenannten Kiranti-
Sprachen im heutigen Nepal andererseits zu finden seien, schlägt VAN
DRIEM in Anlehnung an den alten Staatsnamen Tibets (Bod) die
Bezeichnung “Bodisch” für diesen Nordwest-Tibeto-burmesischen Kno-
ten vor, so dass das revidierte “Sino-Tibetisch” auch unter dem Namen
“Sino-Bodisch” bekannt geworden ist:
Genealogie, Phonologie und Morphologie 421

k. Revidiertes Tibeto-Burmesisch
BODMAN (1980) und VAN DRIEM (1993, 1997, 1999, 2001, 2002)

Barisch …

Westlich Sal- …
(Revidiertes) Tibeto-Burmesisch

Kāmarū-
pisch …
Himalayisch-
NW= Kiranti …
Bodisch Bodisch-
Nördlich Tibetisch …
(“Sino- Chines.
Bodisch”) NO= Dialekte |
Sinitisch
Bai |
Östlich
Lolo-
Burmesisch
SW

Karen |
Südlich
Qiangisch …
SO
Rungisch …

Ein diagnostisches Merkmal für die Zugehörigkeit zur bodischen


Sprachgruppe innerhalb des Tibeto-Burmesischen ist etwa das Vorliegen
eines Suffixes *-s, das den Ablativ bzw. Ergativ markiert (LAPOLLA
2003). Im Klassischen Tibetischen tritt dieses *-s-Element z.B. zur
Bildung des Ablativs an die Dativ-/Lokativbasis: -la-s, -na-s. Ein
Hinweis auf die Einordnung des Antikchinesischen innerhalb des Sino-
Bodischen, nicht etwa in einem höher gelegenen Knoten, wäre demnach
der Nachweis eben dieses Elements. In der Tat liegt das ablativische
Suffix *-s petrifiziert in Form von aus Verben grammatikalisierten
Adverbien im Antikchinesischen vor, die oft noch lange in nach-
antikchinesischer Zeit durch tonale Sonderlesungen gekennzeichnet
blieben. Man vgl. z.B. (JACQUES 2002, 2003):
422 Kapitel 10

ᗙ fù < AC *N-p(r)uk ‘wiederholen’ (V) →


fù < AC *N-p(r)uk-s ‘wiederholt, nochmals’ (ADV)

й sān < AC *s-(h)lləm ‘drei sein’ (NUM/V) →


sàn < AC *s-(h)lləm-s ‘dreimal, dreifach’ (ADV)

⦷ lǜ < AC *rut ‘zusammenrechnen, abgleichen’ (V) →


lǜ < AC *rut-s ‘insgesamt, aufs Ganze gesehen’ (ADV)

ᴤ gēng < AC *kkraŋ ‘verändern, erneuern’ (V) →


gèng < AC *kkraŋ-s ‘wiederholt, nochmals; überdies’ (ADV)
usw.

Allerdings taucht dasselbe Suffix mit ablativischen und allativischen


Funktionen nach Nomen und Pronomen auch im rGyalrong, einer
lexikalisch dem Qiangischen und dem ausgestorbenen Tangutischen
nahestehenden Sprache Nordwest-Sìchuāns auf, so dass hierdurch ledig-
lich der höher liegende östliche Knoten des revidierten Tibeto-Burmesi-
schen identifiziert würde (JACQUES 2003, 2004).
Das Beispiel zeigt, dass zwar ein revidierter, mehrfachverzwei-
gender tibeto-burmesischer Stammbaum derzeit die wohl wahrschein-
lichste genealogische Hypothese zum Antikchinesischen darstellt, jedoch
noch viel einzelsprachlich-deskriptive Kärrnerarbeit zu leisten sein wird,
bis auch nur seine engere Verwandtschaft sicher und in adäquater
Detailliertheit identifiziert werden kann.

10.3 Rekonstruktion

Obwohl chinesische medizinische Quellen, die Einsichten in die artikula-


torische Phonetik und die Physiologie der an ihr beteiligten Sprech-
organe erkennen lassen, ebenso wie philologische Kommentare, die ein
gewisse Reflexion über die Phänomene des Sprachwandels und der
dialektalen Abweichungen von der Standardsprache implizieren, bis weit
in die Hàn-Zeit zurückreichen (vgl. BEHR 2005), setzt eine erste theore-
tische Beschäftigung mit der lautlichen Struktur der eigenen Sprache in
Genealogie, Phonologie und Morphologie 423

China erst mit der zunehmenden Verbreitung des Buddhismus im frühen


chinesischen Mittelalter (3.–4. Jh. n. Chr.) ein. Die durch die neue
Religion vermittelte Bekanntschaft mit dem Sanskrit und anderen
zentralasiatischen Sprachen mag dabei ebenso eine Rolle gespielt haben,
wie die rasch wechselnden Fremdherrschaften, die grosse soziale und
geographische Mobilität und die Entstehung neuer Dialekte. Dem trat ein
zunehmendes Bedürfnis zur Normierung einer gelehrten Standard-
sprache seitens der Gentry gegenüber, das fast die gesamte chinesische
Geschichte hindurch, insbesondere in seiner Funktion im staatlichen
Prüfungswesen, ein Hauptmotor für die Entwicklung phonologischer
Beschreibungs- und Analysetechniken bleiben sollte.

10.3.1 Evidenztypen und Methodik der Rekonstruktion

Wurden Lautannotationen in frühen Kommentaren zunächst meist in


Form von gleichlautenden (homophonen) oder ähnlich lautenden (ho-
möophonen) Glossenzeichen niedergelegt, setzte sich seit dem 3. Jh.
n.Chr. zunehmend die sogenannte fǎnqiè ৽࠷-Methode durch. Durch
sie teilte (qiè ࠷) man die Lesung einer zu repräsentierenden (৽ fǎn)
Silbe so auf, dass jene durch jeweils zwei nach rein phonologischen Kri-
terien ausgewählte “Transkriptionssilben” dargestellt werden konnte.
Hierbei repräsentierte die erste Transkriptionssilbe den Anlaut, die zwei-
te sowohl den Ton als auch den gesamten Reimbestandteil der abzubil-
denden Silbe. Vgl. z.B. für die vier mittelchinesischen Töne (A: píng ᒣ
‘eben’, B: shǎng к ‘steigend’, C: qù ৫ ‘ausgehend’, D: rù ‫‘ ޕ‬ein-
gehend’):

A: tóu 九 ‘Kopf’ MC *duw


→ dù ᓖ < *d(uH) + hóu ‫(* < ן‬h)uw
B: zhòng 䟽 ‘schwer’ MC *drjowngX
→ zhí ⴤ < *dr(ik) + lǒng 䳤 < *(l)jowngX
C: jì ᇴ ‘anvertrauen’ MC *kjeH
→ jū ት < *k(jo) + yì 㗙 < *(ng)jeH
D: rì ᰕ ‘Sonne’ MC *nyit
→ rén Ӫ < *ny(in) + zhì 䌚 < *(tsy)it
424 Kapitel 10

Im Idealfall hätte eine solche Methode nun dazu führen können, dass ein
Minimalinventar von Transkriptionssilben geschaffen worden wäre,
durch welches der Silbenkanon des Frühmittelchinesischen vollständig
und eindeutig beschrieben werden könnte. Dies ist allerdings nur ansatz-
weise geschehen, so dass sich historisch eher eine Folge vergleichsweise
unhandlicher und oftmals instabiler Annotationssysteme ergab. Ein
Problem bestand z.B. darin, dass die Position von Mediallauten (*-j-, *-
w- u.ä.) zwischen dem Anlaut und dem Hauptvokal einer Silbe stets
umstritten blieb, und daher für segmental identische Zielsilben, je nach
der angenommenen Positionszuweisung des Mediallautes, verschiedene
fǎnqiè-Angaben gewählt werden konnten (vgl. HSU 2009, HANDEL 2010
zur Verteilung und Diachronie der Mediallaute). Auch mögen – bewusst
oder unbewusst – semantische Gesichtspunkte bei der Wahl der Tran-
skriptionszeichen gelegentlich eine Rolle gespielt haben.
Seit etwa der Mitte des dritten Jahrhunderts wurden fǎnqiè-Angaben
zusammen mit semantischen Glossen auch unabhängig von den Texten,
auf die sie sich bezogen, zu lexikographischen Listen und regelrechten
Wörterbüchern kompiliert. Die technische Terminologie der Phonologie
dieser Zeit ist in vielen Teilbereichen der vor-kaiserzeitlichen Musik-
theorie entliehen. Allerdings datiert das älteste vollständig erhaltene
Reimwörterbuch aus dieser Tradition, das von dem aus einer zentral-
asiatischen Xiānbēi 凞ঁ-Familie stammenden Lù Fǎyán 䲨⌅䀰 (562–
?) nach jahrelangen Diskussionen einer Gruppe von rund zwanzig promi-
nenten Literaten zusammengestellte Qìeyùn ࠷丫 (Abgetrennte Reime),
erst von 601 n. Chr. Es spiegelt nach allgemeiner Auffassung einen pho-
nologischen Standard der ausgehenden Suí-Periode wider, der wahr-
scheinlich insofern nicht umgangssprachlich-natürlich ist, als er die
maximalen phonologischen Distinktionen mehrerer Prestigedialekte der
Zeit in einem Metaystem zusammenfasst und dabei zu einem recht
feinmaschigen Netz von 36 Anlauten (shēng 㚢) und 193 Reimen (yùn
丫) für die etwa 12’000 glossierten Zeichen gelangt. Es existieren
mehrere Revisionen und zahllose Erweiterungen dieses grundlegenden
Reimwörterbuches, von denen das von Chén Péngnián 䲣ᖝᒤ (961–
1017) und anderen zusammengestellte Guǎngyùn ᔓ丫 (Erweiterte
Reime) aus dem Jahre 1008, mit seiner Einordnung von 26’194 Einzel-
zeichen in 206, vom Qièyùn nur unwesentlich verschiedene Reimkate-
gorien, sicherlich das bedeutendste ist.
Genealogie, Phonologie und Morphologie 425

Die dem Qìeyùn zugrundeliegende Konstruktion der mittelchinesi-


schen Silbenstruktur ist folgende (die angegebenen chinesischen Be-
schreibungstermini sind allerdings teilweise sehr viel späteren Datums
als die Erkenntnis der beschriebenen Struktur!):

Graphik 51: Konstruktion der Silbenstruktur im Qìeyùn ࠷丫

Ton (shēng 㚢)
Silbe (zì ᆇ)

Anlaut Reim
(shēngmǔ 㚢⇽) (yùnmǔ 丫⇽)

medialer vokalischer Auslautkonsonant


Halbvokal Nukleus (Coda)
(‘Reimkopf’, (‘Reimbauch’, (‘Reimschwanz’
yùntóu 丫九) yùnfù 丫㞩) yùnwěi 丫ቮ)

Soweit sich das anhand des spärlichen Materials nachvollziehen lässt,


blieb bis in die ausgehende Táng-Zeit dieses relativ einfache Modell der
Silbenstruktur des Qièyùn weitgehend unverändert, bevor in weiteren,
wiederum durch Kontakt mit zentralasiatischen Buddhisten katalysierten
Entwicklungsschritten, die Analyse der spätmittelchinesischen Silbe suk-
zessive verfeinert wurde. Hierbei wurden zunächst die einzelnen Zeichen
einer Reimgruppe nach den folgenden Artikulationsorten klassifiziert:

x chún ଷ ‘labial’
[→ zhòngchún 䟽ଷ ‘bilabial’ : qīngchún 䕅ଷ ‘labiodental’]
x shé 㠼 ‘lingual’
[→ shétóu 㠼九 ‘apikal’ : shéshàng 㠼к ‘retroflex’]
x chǐ 喂 ‘dental’
[→ chǐtóu 喂九 ‘alveolar’ : zhèngchǐ ↓喂 ‘alveolopalatal’]
x yá ⢉ ‘velar’
x hóu ஹ ‘laryngal’
426 Kapitel 10

Dann wurden die Artukulationsarten im Sinne von Merkmalsmatritzen


hierarchisch umschrieben, d.h. das Vorhandensein oder die Abwesenheit
eines Mediallautes *-w- durch die Opposition kāikǒu 䮻ਓ (‘geöffneter
Mund’) vs. hékǒu ਸਓ (‘geschlossener Mund’) markiert, die Vokalhöhe
durch die Termini ‘Wendung nach innen bzw. aussen’ (nèi- / wàizhuǎn
޵ཆ䕹) bezeichnet und jede Silbe in einen von vier verschiedenen
‘Tabellenrängen’ (děng ㅹ, engl. ‘grades’ oder ‘divisions’) eingeordnet,
deren phonetische Manifestation im Mittelchinesischen bzw. Grundlagen
im Antikchinesischen bis heute sehr umstritten sind. Aus dieser
Feinanalyse resultieren spätmittelchinesischen Reimtabellen wie das
Yùnjìng 丫䨑 (publiziert 1161) oder das Qīyīn lüè г丣⮕ (ca. 1160),
nach denen die Weiterentwicklung der einheimischen Phonologie in
dieser Periode auch unter dem Namen děngyùnxué ㅹ丫ᆨ, ‘Lehre von
Rängen und Reimen’ bekannt geworden ist. Sie klassifiziert
silbenunterscheidende Merkmale ausschliesslich distributionell, also als
binäre Merkmalsoppositionen oder mehrgliedrige Merkmalshierarchien,
nicht jedoch durch Beschreibung, geschweige denn die Notation der
tatsächlich realisierten Phonetik.
Weitere technische, teilweise für einzelne Reimwörterbücher oder
ihre Autoren idiosynkratische phonologische Termini existieren zuhauf
(vgl. für einen sehr kompetenten Überblick die Beiträge in BRANNER ed.
2005) in der Literatur, sollen hier aber nicht thematisiert werden. Fasst
man die mindestens seit der Periode der Fünf Dynastien (908–960)
bekannten phonologischen Distinktionen in einem System zusammen, so
ergibt sich eine bereits sehr intrikate interne Hierarchie der segmentalen
und suprasegmentalen Silbendistinktionen im Spätmittelchinesischen,
die man wie in Graphik 52 schematisieren könnte. (Die in eckigen
Klammern angegebenen phonetisch distinktiven Merkmale sind [sth] =
Stimmhaftigkeit, [son] = Sonoranz, [asp] = Aspiration, [rd] = Rundung ~
Anwesenheit von medialem *-w-, [ho] = Vokalhöhe).
Graphik 52: Kategorienhierarchie der spät-MC Reimwörterbücher
píng ᒣ(‘eben’)
㚢 shēng (‘Ton’) shǎng к (‘steigend’)
qù ৫ (‘ausgehend’)
Silbe rù ‫‘( ޕ‬eingehend’)

㚢(⇽) shēng(mǔ) (‘Anlaut’) 丫(⇽) yùn(mǔ) (‘Reim’)

(Artikulationsstelle) 丫九 yùntóu 丫㞩 yùnfù 丫ቮ yùnwěi


(1-36 Artikulationsart) (‘R.kopf’) Medial (‘R.bauch’) Nukleus (‘R.schwanz’) Coda

X ◱ zhuó ㅹ děng Ѿ hū 䕹 zhuǎn


(—) (‘trübe’) (‘Grad’) (‘Rufweise’) (‘Wendung’)
[-son] [+son] ? Rundung Vokalhöhe

␵ ␵◱ а Ҽ й ഋ
qīng qīngzhuó (I) (II) (III) (IV)
(‘rein’) (‘rein-trübe’) (kein Merkmal im MC
[-sth] [+sth] systematisch zuzuordnen)

‫␵ޘ‬ ⅑␵ ‫◱ޘ‬ ⅑◱
quánqīng cìqīng quánzhuó cìzhuó
(‘kompl. (‘sekund. (‘kompl. (‘sekund. 䮻ਓ ਸਓ ޵䕹 ཆ䕹
rein’) rein’) trübe’) trübe’) kāikǒu hékǒu nèizhuǎn wàizhuǎn
[-son] [-son] [-son] [+son] (‘offener (‘geschl. (‘Wendung (‘Wendung
[-sth] [-sth] [+sth] [+sth] Mund’) Mund’) nach innen’) nach aussen’)
[-asp] [+asp] [-asp] [-asp] [-rd] [+rd] [-ho] [+ho]
428 Kapitel 10

Parallel zur Standardisierung und Verbreitung dieses formalen Be-


schreibungsapparates seit der Sòng-Zeit wandte sich die einheimische
chinesische Phonologie, stets getrieben von der Erfahrung einer bestän-
dig zunehmenden Inkompatibilität zwischen den von der Gegenwarts-
aussprache ausgehenden Zeichenlesungen und den lautlichen Struk-
turelementen der klassischen Poesie und Kunstprosa, zunehmend von
ihrem normativen Programm ab und der eher rekonstruktiv-historischen
Fragestellung nach der Aussprache des Antikchinesischen zu. Hierdurch
rückten zwei weitere Evidenztypen in den Mittelpunkt der Betrachtung,
die bis heute von grösster Wichtigkeit für die Rekonstruktion des Antik-
chinesischen geblieben sind: zum einen die Reime (inkl. Tonpara-
digmen) der ältesten und älteren Poesie, zum anderen die Serienbildung
von Schriftzeichen, die das selbe Lautelement (shēng 㚢, Phonetikum
oder Phonophor) besitzen oder homophonophorisch (xiéshēng 䄗㚢)
sind. Diese beiden Evidenztypen sind insofern überlappend, als – wie
bereits den späteren Míng-Phonologen bekannt war – die Reimung in
den ältesten poetischen Anthologien normalerweise die Gesamtheit oder
den überwiegenden Teil jener phonologischen Identitätskriterien vor-
aussetzt, die auch die Zugehörigkeit zu einer Phonophor-Serie ermög-
lichen. Vereinfacht gesprochen sind lediglich die diachronen Entste-
hungshintergründe der beiden Evidenzarten verschieden, da Phonophor-
Serien tendentiell ältere oder zumindest weniger normierte Gegeben-
heiten reflektieren als die poetischen Reime in der edierten Literatur und
häufig über einen langen Zeitraum angewachsen sind, der wiederum
diachrone Schichtungen bedingt. Überdies ist im Falle der Phonophor-
Identität natürlich auch der Anlaut einer Wortwurzel zu berücksichtigen,
der für die Reimung unbedeutend ist. Das phonologische Verhältnis
einer Phonophorserie zum korrespondierenden Reim ist also nicht
“kommutativ”: Während alle homophonophoren Zeichen per Definition
auch miteinander reimen müssten (und es mit wenigen Ausnahmen wohl
auch getan haben), wird meist nur ein geringer Teil der miteinander
reimenden Zeichen auch zu ein und derselben Phonophorserie gehören.
Tatsächlich scheint es sogar häufig eine Tendenz zur Vermeidung
der Verwendung von homophonophorischen Zeichen als Reimzeichen
gegeben zu haben. Dies wird vor dem Hintergrund einer morphologi-
schen Reinterpretation der xiéshēng-Serien (vgl. Kap. 10.5) verständlich,
da ihr zufolge jedes homophonophorische Reimpaar zugleich Teil einer
morphologischen Derivationsbeziehung und mithin einer etymologi-
Genealogie, Phonologie und Morphologie 429

schen Figur gewesen wäre, was rhetorisch nicht immer wünschenswert


erschienen sein kann.
Die vormoderne Phonologie in China operierte nun bis in das letzte
Drittel des 19. Jh. bei der Rekonstruktion des Alt- und Mittelchine-
sischen fast ausschliesslich mit dem eben skizzierten evidentiellen
Trivium: Lautangaben in Reimwörterbüchern, Analyse von poetischen
Reimen, Konsistenz von xiéshēng-Serien. Hierbei bildete die Evidenz
der Reimwörterbücher gewissermassen das Gerüst der Rekonstruktion,
während die poetischen Reime den Auslautbereich, die xiéshēng-Serien
den Anlautbereich verfeinern halfen. Hinzu traten allenfalls noch die
sporadische Berücksichtigung von paronomastischen Glossen bei Hàn-
zeitlichen Klassikerexegeten bzw. in Texten wie dem Shìmíng 䟻਽
(Analysierte Benennungen) des Liú Xī ࢹ➅ (gest. 329 n. Chr..) oder
dem Fāngyán ᯩ䀰 (Regionale Ausdrücke) des Yáng Xióng ᨊ䳴 (55.
v.–18 n.Chr.), in frühmittelchinesischen Glossensammlungen wie Lù
Démíngs 䲨ᗧ᰾ (ca. 550–630 n.Chr.) Jīngdiǎn shìwén ㏃ި䟻᮷ (Ana-
lysen zu den Schriftzeichen der kanonischen Schriften) von 583, Schrift-
zeichenwörterbüchern wie dem Yùpiān ⦹ㇷ (Erlesene Kapitel) von
543, oder auch buddhistischen Thesauren wie dem Yīqièjīng yīn yì а࠷
㏃丣㗙 (Lautungen und Bedeutungen im Tripiṭaka) von 655, dem Xù
yīqièjīng yīn yì 㒼а࠷㏃丣㗙 (Fortsetzung der Lautungen und Be-
deutungen im Tripiṭaka von 984–987) und ähnlichen Werken. Die philo-
logische “Unübersichtlichkeit” der Beleglage hat vielfach den Verdacht
genährt, ein Gutteil der mittelchinesichen Ausspracheangaben könnte
das Produkt künstlicher Lesetraditionen der textexegetischen und
rhetorisch-didaktischen Philologietraditionen und somit nur sehr bedingt
als Grundlage für die Rekonstruktion der antikchinesischen Phonologie
und Morphologie tauglich sein (vgl. etwa BRANNER 2005). Gerade die
mangelnde Kohärenz der von den verstreuten Glossen implizierten
phonologischen Kategorien spricht jedoch für einen nicht bewusst, in der
Gelehrtenstube geplanten, sondern eher für einen gewachsenen, vielfach
dialektal und diachron zu differenzierenden Zustand. Dessen unbenom-
men erfuhren die einzelnen phonemischen Kategorien der spätmittel-
chinesischen Reimwörterbücher im Laufe der Zeit eine gewisse termino-
logische Standardisierung. Einzelne (oftmals das jeweils erste)
Beispielzeichen einer Anlautkategorie fungierten als Platzhalter für die
Gesamtkategorie in theoretischen Beschreibungen und Tabellenkopf-
zeilen, die Abfolge der Kategorien aufeinander wurde fixiert usw. Eine
430 Kapitel 10

ausgesprochen praktische Methode, die durch diese Tradition bereitge-


stellten distributionellen Fakten auf eine phonetisch neutrale, diakritika-
freie Repräsentation abzubilden, ist die Transkription des Mittelchine-
sischen nach BAXTER (1992), die in diesem Buch verwendet wird. In ihr
werden die 9 Reihen der 36 traditionell geschiedenen Anlautpositionen
wie folgt transkribiert und dem heutzutage gebräuchlichen Set der
traditionellen Merkzeichen zugeordnet:

Graphik 53: MC-Anlautkategorien und ihre Transkription

I. labial IV. retroflex obstruent VIII. velar


Ib. labiodental V. dental sibilant IX. laryngal
II. dental VI. retroflex sibilant
III. lateral VII. palatal

I. p ᑞ ph ⓲ b і m ᰾

(>Ib. pv 䶎 pvh ᮧ bv ཹ mv ᗞ )

II. t ㄟ th 䘿 d ᇊ n ⌕

III. l ֶ

IV. tr ⸕ trh ᗩ dr ▴ nr ၈

V. ts ㋮ tsh ␵ dz ᗎ s ᗳ z

VI. tsr 㦺 tsrh ࡍ dzr ጷ sr ⭏ zr ⿚Ҽ

VII. tsy ㄐ tsyh ᰼ dzy ⿚ ny ᰕ sy ᴨ zy 㡩 y ௫ഋ

VIII. k 㾻 kh ⓚ g 㗔 ng ⯁

IX. ʔ ᖡ x ᳹ h ॓ (hj) ௫й

Reihe Ib ist sekundär, d.h. in nach-frühmittelchinesischer Zeit durch


Labiodentalisierung von Reihe I entstanden, die normalerweise in der
Transkription erscheint. Sie wird aber in spätmittelchinesischen Reim-
tabellen aus Nordchina traditionell terminologisch geschieden, ebenso
wie *hj- (yù sān ௫й), das in Rang III in allophonischer Komple-
Genealogie, Phonologie und Morphologie 431

mentärverteilung zu *y (yù sì ௫ഋ) in Rang IV steht und deshalb bei der


Zählung der 36 Anlaute nicht berücksichtigt wird. Da eine vollständige
Darstellung der Transkription der 206 mittelchinesischen Reimkatego-
rien den Rahmen des Lehrwerks sprengen würde, sei hier auf die
ausführliche Darstellung in BAXTER (1992, Kap. 2.3, S. 61–85)
verwiesen. Die Tonnotation ist denkbar einfach, da lediglich Ton C (qù
৫, ‘ausgehend’) und B (shǎng к, ‘steigend’) durch grossgeschriebenes
*H und *X nach der Silbe differenziert werden müssen, während Ton A
(píng ᒣ, ‘eben’) durch Nichtkennzeichnung und Ton D (rù ‫ޕ‬, ‘ein-
gehend’) durch Vorliegen der Auslaute *-p, *-t, *-k, *-wk bereits hinrei-
chend gekennzeichnet ist. Mittelchinesische Transkriptionen für etwa
9000 Zeichen finden sich über den Rahmen des hier bereitgestellten
Glossars in BAXTERs online verfügbarem Etymological Dictionary of
Common Chinese Characters:

<http://crlao.ehess.fr/docannexe.php?id=1227> (14.3.2013)

Wie man leicht sieht, bedeutet “Rekonstruktion” in einem solchen durch


die einheimische Tradition vorgegebenen Rahmen nun nicht die Resti-
tuierung eines früheren Aussprachezustandes aufgrund des Vergleichs
verschiedener Reflexe desselben Wortes in verwandten Sprachen oder
Dialekten, unter Formulierung von regelmässigen, diachron operieren-
den Lautgesetzen, wie dies etwa in der historisch-vergleichenden
Sprachwissenschaft des Indoeuropäischen oder Finno-Ugrischen gilt.
“Rekonstruktion” ist hier vielmehr eine Methode sui generis, die weit-
gehend koextensiv mit der Festlegung der Position einer typischerweise
literarischen Zeichenlesung innerhalb eines Systems von phonologischen
Merkmalsoppositionen ist.Man könnte daher auch sagen: die traditio-
nelle chinesische Phonologie – wenngleich von grosser Raffinesse hin-
sichtlich der Beschreibung phonologischer Systemhaftigkeit gekenn-
zeichnet – blieb über Jahrhunderte hinweg dem äusseren Schleier der
Schriftzeichen verhaftet, ohne je einen adäquaten Beschreibungsapparat
für die dahinter liegende phonetische Realität oder ein tiefergehendes
Bewusstsein für Prinzipien des regelmässigen Lautwandels zu ent-
wickeln.
Dieser Zustand änderte sich erst als europäische Sinologen wie die
Engländer Joseph Edkins (1823–1905) und Edward Harper Parker (1849–
1926), der Ire Thomas Watters (1840–1901), der Deutsche August
432 Kapitel 10

Conrady (1864–1924), der Franzose Henri Maspéro (1883–1945), und


v.a. der Schwede Claes Bernhard Karlgren (1889–1978) begannen,
Methoden und Techniken der westlichen Sprachwissenschaft auf die
Rekonstruktion des Chinesischen anzuwenden, und dabei sukzessive
eine Reihe von neuen Evidenztypen erschlossen. Sie umfassten im Laufe
der Zeit

(a) intern
x den Vergleich Daten der sinitischen Einzelsprachen (Dialekte) nach
dem Vorbild der historisch-vergleichenden Methode in Europa;
x die Überprüfung der anhand der edierten Literatur gewonnenen
Einsichten durch inschriftlich-paläographische Belege;
x die Analyse von sogenannten Wortfamilien oder (chin. cízú 䂎᯿),
also semantisch verwandten Worten, die etymologisch zu einer
Wortwurzel (und mithin oft auch zu einer xiéshēng-Serie) gehören
(engl. allofams), d.h. die Methode der “internen Rekonstruktion”;
x die Analyse von innerchinesischen Lehnschreibungen von Zeichen
(jiǎjiè ‫ُٷ‬, tōngjiǎ 䙊‫ )ٷ‬und der Rephonetisierung von ursprüng-
lich mit semantischer Funktion gebrauchten Determinativen;
x das Studium der Morpho(no)logie derivationeller Affigierungs- und
Infigierungsprozesse;
x die Untersuchung der Phonologie ludisch-expressiver Sprachformen
(Geheimsprachen, Palindromlesungen, Allegro-/Lentoformen, phon-
ästhetische Reduplikationen usw.).

und (b) extern


x die Analyse sino-xenischer Lesetraditionen der chinesischen Schrift-
zeichen (sino-japanischer, -koreanischer, -vietnamesischer, -taispra-
chiger usw.);
x die Analyse von Transkriptionsdaten fremdsprachiger Wörter aus
allen benachbarten Sprachfamilien, besonders im buddhistischen
Sprachkontakt, sowie von hybriden Wortbildungen im Antikchine-
sischen und umgekehrt;
x die Berücksichtigung typologischer Universalien (Artikulierbarkeit,
Markiertheit, Natürlichkeit, Ikonizität usw.);
x die Auswertung fremdsprachendidaktischer und anderer zweispra-
chiger Materialien (Vokabellisten, Reisesprachführer usw.) im vor-
modernen China.
Genealogie, Phonologie und Morphologie 433

Während die Dialektdaten als direkter phonetischer “Input” für die


distributionellen Kategorien der traditionellen Rekonstruktionsverfahren
und letztlich auch als Hintergrund für oberflächenphonetikneutrale
Transkriptionen wie die oben skizzierte dienten, fungierten die meisten
anderen genannten Evidenztypen meist lediglich als Filter bzw. Kor-
rektiv für die “traditionell” gewonnenen Rekonstruktionen. Die wechsel-
seitige Abhängigkeit einzelner Evidenztypen oder Gruppen von Evi-
denztypen voneinander und die daraus resultierende Frage nach ihrer
Kompatibilität, Gewichtung und Hierarchisierung im Rekonstruktions-
prozess ist bis heute eines der meistdiskutierten Probleme der histori-
schen Phonologie des Chinesischen. Dies zumal nur selten der Versuch
unternommen worden ist, für jeweils separate Evidenzkorpora auch
separate Rekonstruktionen zu schaffen und diese erst in einer Art
“Superrekonstruktion” gegeneinander abzugleichen.

10.3.2 Silbentypologie, Tonogenese, Silbenprosodie

Das heutige Hochchinesische (engl. Mandarin Chinese), das zwar auf


Grundlage des Peking-Dialektes standardisiert wurde, jedoch durchaus
weder phonologisch noch lexikalisch vollständig mit diesem Dialekt
identisch ist, verfügt über ein vergleichsweise einfaches phonologisches
System. Damit eine Silbe dieses Systems in der Lage ist, einen Kontur-
ton zu tragen, muss sie aus mindestens zwei Taktschlägen (“Moren”)
bestehen. Notiert man die zwei Taktschläge jedes der vier Konturtöne
mit einem auf den sino-amerikanischen Linguisten Y. R. Chao (Zhào
Yuánrèn 䏉‫ݳ‬ԫ, 1892–1982) zurückgehenden Verfahren auf einer nu-
merischen Skala von 1 (tief) bis 5 (hoch), so ergeben sich für die Stan-
dardsprache (pǔtōnghuà Პ䙊䂡) die folgenden Werte:

T1 [55]
T2 [35]
T3 [214] (vor Sprechpause); > [35] (vor T3); > [21] (vor T1, T2, T4)
T4 [51]

Hinzu kommt der sogenannte “leichte Ton” (qīngshēng 䕅㚢), der


irreführenderweise gelegentlich auch als “fünfter” Ton geführt wird. Er
tritt im Neuchinesischen nach Suffixen (-le Ҷ, -zhe ⵰, -guo 䙾 usw.),
434 Kapitel 10

reduzierten Silben (Typ: shǒubazhǎngr ᡻ᐤᦼ‫‘ ނ‬Handflächen’) und in


einigen lexikalisch kontrastierten Minimalpaaren (Typ: dōngxī ᶡ㾯 ADJ
‘Ost-West’ vs. dōngxi N ‘Ding, Sache’ usw.) auf. Silben im leichten Ton
sind prosodisch jeweils um eine More reduziert, weshalb ein Tonverlauf
nicht mehr möglich ist und nur noch zwischen verschiedenen Tonhöhen-
ebenen unterschieden werden kann (maximal 3: H=hoch, M=mittel,
T=tief). Die genaue Position des leichten Tons im Stimmspektrum ist
sowohl von der unmittelbaren phonologischen Umgebung als auch von
der Satzintonation, sowie von individuellen Sprechermerkmalen ab-
hängig. Aus perzeptionsökonomischen Gründen liegt seine Position aber
typischerweise in einer gewissen, jedoch nicht maximalen Entfernung
vom Tonhähenendpunkt der zweiten More einer vorhergehenden nicht-
reduzierten Silbe.d˳
Im Anlautbereich unterscheidet das Hochchinesische die folgenden
24 Phoneme: (Pīnyīn / [IPA-Umschrift] / Beispielzeichen)

Graphik 54: Anlaute des modernen Hochchinesischen

ORT / ART [-ASP] [+ASP] [+NAS] [+FRIK] [+STH, +KNT]

b p m f w
LABIAL ᐤ ᙅ 䮰 伋 ⑙
[b˳] [pʰ] [m] [f] [w]~[ʋ]
d t n l
ALVEOLAR བྷ ཚ ই 㩭
[d˳] [tʰ] [n] [l]
z c s
SIBILANT 䋷 ᆈ ᡰ
[ts] [tsʰ] [s]
zh ch sh r
RETROFLEX ⸕ ⭒ һ Ӫ
[d˳ʐ ] [tʂʰ] [ʂ] [ɻ]~[ʐ]
j q x y
PALATAL ㎀ г 㾯 㾱
[tɕ] [tɕʰ] [ɕ] [j]
g k h Ø/y
GUTTURAL ⅼ 㤖 唁 丣
[g̊] [kʰ] [x] [ɰ]~Ø
Genealogie, Phonologie und Morphologie 435

Während die Anlautsysteme vieler südchinesischer Dialekte erheblich


einfacher als dieses sind, können die Tonsysteme oft deutlich komplexer
ausfallen. Man vgl. etwa das Kantonesische von Guǎngzhōu ᔓᐎ mit
nur 18 möglichen Anlautpositionen bei neun phonemischen Tönen: T1
[55], T2 [21], T3 [35], T4 [13], T5[33], T6 [22], T7 [5], T8 [33], T9
[22]~[2]. Umgekehrt ist wiederum das Reservoir möglicher Reime im
Mandarin sehr viel kleiner als z.B. im Kantonesischen (68 Reime) oder
gar im Süd-Mǐn (bis zu 92 Reime). Folgende 35 Positionen werden
unterschieden:

Graphik 55: Reime des modernen Hochchinesischen

(i) e a ei ai ou ao en an eng ang er

i ie ia iu iao in ian ing iang


Pīnyīn

u (u)o ua ui uai un uan ong uang

ü üe ün üan iong

(z͎̩̩ ,ɹ) ɯʌ A ei ae oɷ ɑo ən an ʌŋ ɑŋ əɻ (ɚ)

i iɛ iA ioɷ iɑo in iɛn iɴ iɑŋ


IPA

u uo uA ueɪ uae uən uan ɷɴ Uɑŋ

y yɛ yɪɴ yan yɷɴ

Die maximale Silbe (σmax) im modernen Hochchinesischen hat demnach


folgende Form, wobei die Anzahl der in den jeweiligen Positionen
auftretenden Segmente durch Subskripte wiedergegeben ist und alle
Positionen bis auf den vokalischen Nukleus nur fakultativ gefüllt
werden:
436 Kapitel 10

Graphik 56: Maximale Silbe im Modernen Hochchinesischen

(T4) +[σmax (C23) (G4) V9 (V5) (C4) ]


Hierbei wird die G-Position (= “glide”), welche in obiger Tabelle pho-
nemisch-schematisierend durch Vollvokale belegt ist, phonetisch durch
halbvokalische Allophone -y-, -w-, -ɥ- und -ɰ- realisiert.

Die Töne der neuchinesischen Dialekte gehen in nicht immer völlig laut-
gesetzlicher Linearität auf ein spätmittelchinesisches Tonsystem von acht
Tönen zurück, in dem die vier frühmittelchinesischen Töne (A: píng ᒣ
‘eben’, B: shǎng к ‘steigend’, C: qù ৫ ‘ausgehend’, D: rù ‫‘ ޕ‬ein-
gehend’) in Abhängigkeit von der Stimmhaftigkeit des anlautenden
Konsonanten einer Silbe in zwei sogenannte “Register” (Hochton vs.
Tiefton) aufgespalten worden waren. Während in den meisten modernen
Dialekten einzelne Kategorien zusammengefallen sind, bis hin zur
Reduktion auf ein Zweitonsystem in einigen nordwestchinesischen
Mandarindialekten, haben einige südliche Dialekte wie das Kantone-
sische den ‘eingehenden’ Ton in Abhängigkeit von der Qualität des
silbischen Hauptvokals noch weiter aufgespalten (D1a/b):

Graphik 57: Entstehung der mittelchinesischen Tonregister

TON ᒣ к ৫ ‫ޕ‬

D1a [+hoch]
REGISTER

[-STH.] A1 B1 C1 D1
D1b [-hoch]

[+STH.] A2 B2 C2 D2

Diese in den Dialekten zwischen dem siebten und dem neunten nach-
christlichen Jh. vollzogene Aufspaltung in zwei durch endgültige
Phonematisierung einer ursprünglich lediglich allophonischen Koartiku-
lation des Stimmhaftigkeitsunterschieds im Anlaut ist im zwischen-
sprachlich-typologischen Vergleich der gewiss häufigste Mechanismus
der Entstehung von Registertonsystemen. Sie ist zugleich ein in Ost- und
Genealogie, Phonologie und Morphologie 437

Südostasien weitverbreitetes Arealmerkmal, das gelegentlich auch solche


Sprachen vereinnahmt, die sich in ihrer phonologischen und morpholo-
gischen Struktur zunächst stark vom Mittelchinesischen unterschieden.
Zudem war die Registeraufspaltung ein in der mittelchinesischen Poesie
viel genutztes verskonstituierendes Element und möglicherweise eine der
Motivationen für die Abfassung von normativen Reimwörterbüchern
zum Gebrauch in literarischen Kontexten
Wenn aber komplexe Tonsysteme dieses Typs sekundär entstehen
konnten, stellt sich natürlich die Frage, ob auch die vier frühmittel-
chinesischen Töne nicht etwa Ursprungs-, sondern vielmehr Endzustand
eines tonogenetischen Mechanismus waren, der dann in antikchine-
sischer Zeit stattgefunden haben müsste. In der Tat folgen heute die
meisten Forscher der Auffassung ANDRÉ-GEORGES HAUDRICOURTs
(1911–1996), der erstmals gezeigt hatte, dass ebenso wie im frühen
Vietnamesischen der Ausfall von Endkonsonanten im Antikchinesischen
Ausgangspunkt und Motor der Tonogenese war, das Aufkommen der
“vier Töne” (sì shēng ഋ㚢) also gewissermassen kompensatorischen
Charakter besass. In dem hier vertretenen Modell der Rekonstruktion des
Antikchinesischen (BAXTER 1992, SAGART 1999) gestaltet sich die
Herkunft der frühmittelchinesischen Töne aus den zugrundeliegenden
antikchinesischen Endkonsonanten folgendermassen, wobei der glottale
Verschlusslaut als Ausgangspunkt für die Entstehung des steigenden
Tons hier mit *-q anstatt -ʔ transkribiert wird (vgl. 10.4)

Graphik 58: Antikchinesische Tonogenese

MC-TON AC-ENDKONSONANT
A píngshēng ᒣ㚢 < *-Ø, *-m, *-n, -ŋ, *-r, *-j (< *-l), *-w
B shǎngshēng к㚢 < *-q
C qùshēng ৫㚢 < *-s
D rùshēng ‫ޕ‬㚢 < *-p, *-t, *-k, *-ᵂk

Zugleich impliziert die Beobachtung dieses Auslautausfalls, dass die


Silbenstruktur des Antikchinesischen segmental ungleich komplexer
gewesen sein muss, als jene des Mittel- oder Neuchinesischen. Dies gilt
438 Kapitel 10

ebenso für den Bereich des Auslauts vor der eben beschriebenen Tono-
genese, also auch für den Anlaut. Sowohl die vielfältigen Kontakte
zwischen verschiedenen mittelchinesischen Artikulationsarten und -posi-
tionen innerhalb homophonophorischer Serien, als auch die Lautent-
wicklungen einzelner Anlaute zum Mittelchinesischen oder aber die
diversen kollateralen Evidenztypen (Transkriptionen, sino-xenische
Lesungen, tibeto-burmesischen Komparanda usw.) lassen sich nämlich
nur dann widerspruchsfrei systematisieren, wenn man davon ausgeht,
dass die Silbe im Antikchinesischen, im Gegensatz zu praktisch allen
neuchinesischen Dialekten, noch eine Vielzahl von Konsonanten-
häufungen (“Cluster”) zuliess. Will man überdies der Vielfalt möglicher
xiéshēng-Serien und Wortfamilienbeziehungen und dem Phänomen
Rechnung tragen, dass Cluster in den natürlichen Sprachen der Welt
weder intern beliebig strukturiert, noch beliebig komplex sein können,
sondern vielmehr gewissen typologischen Restriktionen unterliegen,
ergibt sich fast zwangsläufig die Notwendigkeit die Idee aufzugeben,
dass das Antikchinesische eine durchweg monosyllabische Sprache ge-
wesen sei (vgl. PĀN WÙYÚN 1998, SAGART 1999, JĪN LǏXĪN 2002). Zu
diesen typologischen Restriktionen gehören u.a.

i. das “Hjelmslev’sche Auflösungssprinzip”:


“Wenn eine Sprache Konsonantensequenzen der Länge m in der An-
fangs- oder Endposition einer Silbe umfasst, so umfasst sie immer
auch die möglichen kontinuierlichen Subsequenzen m-1.” (C1C2C3
→ C1C2 und C2C3)
ii. das Prinzip des silbischen Sonoranzgipfels:
“Die Schallfülle einer wohlgeformten Silbe fällt vom Sonoranz-
gipfel des Hauptvokals zu den Silbenrändern hin kontinuierlich ab.”
iii. das Prinzip der Markiertheit minimaler Sonoranzdistanzen:
“Je kleiner der Sonoranzabstand zwischen benachbarten Konsonan-
ten eines anlautenden oder auslautenden Clusters oder zum Sono-
ranzgipfel des Hauptvokals, desto markierter ist die Gesamtsilbe.”

Anlautende Clustersilben, die einem oder mehreren dieser Prinzipien


zuwiderlaufen, sind im phonologischen Sytem am ökonomischsten
dadurch zu stabilisieren bzw. erhalten, dass sie um einen zusätzlichen
silbischen Peak erweitert werden. Die minimale Struktur in der dies
erfolgen kann, ist die Kombination aus einer CVC-Hauptsilbe mit einer
Genealogie, Phonologie und Morphologie 439

phonetisch reduzierten Silbe, die neben dem ersten “überzähligen”


Konsonanten noch einen gemurmelten Stützvokal (auch schwa- oder
svarabhakti-Vokal genannt) enthält, so dass eine superschwere, nämlich
anderthalb Silben lange (“sesquisyllabische”) Wortform mit jambischen
Betonungsmuster *Cə.C'VC resultiert. Alternativ böte sich nur der
Verlust eines der anlautenden Konsonanten bzw. eine weiterreichende
Assimilation der anlautenden Konsonanten an, die beide die morphemi-
sche Transparenz der Wortform gefährdeten. Jambische Silbenstrukturen
sind sowohl in den austroasiatischen, als auch in diversen tibeto-
burmesischen und einigen tai-kadaiischen Sprachen nachweisbar, was
ihre arealtypologische Plausibilität beträchtlich erhöht. Sie sind metrisch
im Normalfall einfachen Monosilben gleichgestellt, weshalb ausge-
schlossen werden dürfte, dass das Antikchinesische eine silben- oder
morenzählende Versprosodie besass.
Da allerdings die Grundeinheit der Verschriftung jeweils die mono-
syllabische Hauptsilbe war, werden Sesquisilben im Schriftsystem des
AC nur äusserst selten direkt greifbar, nämlich nur in solchen Fällen, in
denen die reduzierte jambische Silbe etwa aus Gründen der graphischen
oder metrischen Symmetrie ausnahmsweise durch ein eigenständiges
Schriftzeichen repräsentiert wird. So finden wir z.B. AC-Schreibweisen
des Standardwortes für ‘Schreibpinsel’ bǐ ㅶ (AC *p-rut) als bù=lǜ нᖻ
(AC *pə-rut), oder des Attributs ‘brillant, leuchtend’ in den Varianten
zhuó ☟ (AC *ll-r-ewk), zhuó ⚬ (AC *t-lewk), dì Ⲵ (*t-llewk) und
zhī=dí ѻ㘏 (AC *tə-llewk), in denen verschiedene Übergangszustände
auf dem Weg von der komplexen Monosilbe zur jambischen Sesquisilbe
petrifiziert wurden.
Fassen wir die bislang angestellten Erwägungen entlang der Argu-
mentation von SAGART (1999) zusammen, so resultiert daraus die fol-
gende, vom Mittel- und Neuchinesischen radikal abweichende Typologie
der antikchinesischen Silbe, wobei C =Konsonant, V =Vokal, p =Präfix-,
i =Infix-, 0 =wurzelinitial, f =final (Kodakonsonant), s =Suffix-, σ =Silbe:
440 Kapitel 10

Graphik 59: Silbenstruktur des Antikchinesischen

PROSODIE: (Silbentyp) A / B

INFIXPOSITION:

SEGMENTE: * [ (C) (Cp) (Ci) C0 (Ci) V (Cf) (Cs) (Cs) σ

EPENTHESE: ə (Schwa)

Generell wurden bei jeder Silbe zwei Prosodietypen (A/B) unterschie-


den, die ihre Spuren in der oben bereits angesprochenen Notation von
vier Rängen (sì děng ഋㅹ) in spätmittelchinesischen Reimwörter-
büchern hinterlassen haben und mit der Entwicklung des mittel-
chinesischen Vokal- und Anlautsystems aufs Engste verknüpft sind. Bei
Aufspaltung von Silben in morphologischen oder ludischen Prozessen
(sogen. “Dimidiationen”) wird die prosodische Silbenkontur einheitlich
auf zwei Silben verteilt, was die Annahme nahelegt, dass es sich bei der
Distinktion um einen suprasegmentalen Effekt gehandelt haben muss.
Die Silbenprosodie wurde augenscheinlich jedoch nicht als poetisches
Stilmittel eingesetzt und es bestehen verschiedene Theorien über ihre
oberflächenphonetische Realisierung. Diese umfassen u.a. die Postulie-
rung

(a) einer phonemischen Längendistinktion des Hauptvokals (A = lang,


B =kurz oder umgekehrt);
(b) einer auf den Ausfall von vor-antikchinesischen Präfixen zurückzu-
führenden Gespanntheitsopposition (A =gespannt, B =ungespannt);
(c) einer Erweichung (“Jodierung”) der/s Anlautkonsonanten durch
prävokalisches *-j- (A =unjodiert, B =jodiert);
(d) einer Druckakzent-Prominenz innerhalb der universell bimoraisch-
angesetzten Hauptsilbe (A = [σ 'μμ], B = [σ μ'μ]);
(e) eines hoch/tief-Registertonsystems (A =hoch, B = tief).

Wir folgen in diesem Lehrbuch dem Vorschlag (b) (vgl. FERLUS 2009)
und notieren die statistisch gesehen markierten, mutmasslich gespannten
(d.h. mit vorgeschobener Zungenwurzel “[+ATR]”) artikulierten Silben
Genealogie, Phonologie und Morphologie 441

des Typs A durch Doppelschreibung des Anlautkonsonanten, ohne hier-


durch eine Festlegung hinsichtlich der Frage einer Herkunft aus ausge-
fallenen vor-antikchinesischen Präsilben implizieren zu wollen. Bei
Vorliegen eines Präfixes oder einer jambischen Präsilbe wird ebenfalls
der anlautende Wurzelkonsonant verdoppelt (Typ *C(ə)-ll-). In ortho-
graphisch komplexen Segmentschreibungen wie bei stimmlosen Sonan-
ten (*hn-, *hm-, *hŋ-, *hŋʷ; *hl-, *hr-; *hw-, *hj-) wird der ursprünglich
stimmhafte Bestandteil (Typ *hnn-), bei alveolodentalen Affrikaten (*ts,
*tsh, *dz) der obstruente Bestandteil gedoppelt (Typ: *tts-). Solche rein
notationellen silbenprosodischen Doppelschreibungen sind von echten
Konsonantenclustern mit zwei nicht-identischen Bestandteilen leicht zu
unterscheiden.
Im Gegensatz zum Neuchinesischen existierten also in dieser antik-
chinesischen Struktur minimale CV-Silben mit obligatorischem konso-
nantischen Anlaut, während maximal durchaus Monosilben mit mehr-
fachkonsonantischen An- und Auslauten und zusätzlichen jambischen
Präsilben möglich waren, die ihrerseits im Extremfall wiederum
Sequenzen des Typs *(C)Cə(r)- duldeten. Infixales *-r- wurde dabei
nach allen präfixalen Konsonanten, mit Ausnahme des bezüglich des
Artikulationsortes unterspezifizierten *N-, jeweils vor dem Wurzelan-
lautkonsonant realisiert. Ob dies sogar dann galt, wenn *-r- Teil einer
reduzierten jambischen Vorsilbe war, ist anhand der vorliegenden
Evidenz kaum nachvollziehbar. Ohne eine vollständige Liste aller mög-
lichen Typen anführen zu wollen, vgl. man zur Illustration der
Gesamtstruktur z.B. folgende komplexe AC-Silben:
442 Kapitel 10

Graphik 60: Silbenkomplexität im Antikchinesischen

STRUKTUR Z NC AC GLOSSE
CpC0VCf ⁨ pú <*p-hrrok ‘Rohblock’

CpC0VCfCs ഋ sì <*s-lij-s ‘vier’


MONOSILBEN

C0CiVCfCs ॆ huà <*hŋŋʷ-r-aj-s ‘Wandlung’

CpCpC0VCs һ shì <*m-s-rə-s ‘dienen; Dienst’

CpCiC0VCf ᇶ mì <*mr-lit ‘dicht’

CpCiC0VCfCs 唭 mǐn <*mr-liŋ-q ‘Kröte’

CpC0CiVCfCs ₛ hèng <*N-kkʷraŋ-s ‘unberechenbar’


Cpə-C0VCf ᷇ lín <*Cə-rəm ‘Wald’
SESQUISILBEN

Cpə-C0VCfCp 䐟 lù <*Cə-rrak-s ‘Strasse’

CpCpə-C0VCf 䴆 suī <*s-tə-wuj ‘selbst’ (KNJ)


Cpə-C0CiVCf ~ <*mə-praj ~
㻛 pī ‘offen’ (Haare)
CpəCi-C0VCf <*mər-paj

Das Antikchinesische war also entgegen einem nach wie vor sehr weit-
verbreiteten Klischee weder eine rein monosyllabische, noch eine tonale
Sprache, sondern hinsichtlich seiner prosodischen Beschaffenheit am
ehesten jenem südostasiatischen “jambischen” Sprachtyp vergleichbar,
der durch heutige atonale austroasiatische Sprachen repräsentiert wird.

10.4 Abriss der Phonologie des Antikchinesischen

Ausgehend von dem im vorangehenden Kapitel umrissenen phonologi-


schen System des Mittelchinesischen, sowie den Überlegungen zur
Silbentypologie und -prosodie seiner diachronen Vorläufer, lässt sich
Genealogie, Phonologie und Morphologie 443

nun im Zusammenspiel mit der distributionellen Analyse der Reimdaten


des Shī Jīng 䂙㏃, der Konsistenz von xiéshēng-Serien und anderen
internen Evidenztypen bereits ein recht vollständiges System phonolo-
gischer Distinktionen des Antikchinesischen entwerfen. Antikchinesisch
sei hier definiert als diejenige Sprachstufe, die aufgrund der Evidenz
antikchinesischer (edierter) Texte intern rekonstruiert werden kann und
die noch über produktive Elemente derivationeller Morphologie verfügte
(vgl. unten, Kapitel 10.5). Die Darstellung folgt hier wiederum dem
sechsvokalischen System in BAXTER (1992) unter Akzeptanz sämtlicher
in SAGART (1999) vorgeschlagener Revisionen. Lediglich affixale glot-
tale Verschlusslaute werden hier als *-q/*q- angesetzt (um ihre morpho-
logische Funktion von wurzelanlautendem *ʔ- zu unterscheiden), und die
Silbenprosodie wird, wie oben beschrieben, in eine orthographische
Gespanntheitsmarkierung des Anlauts umgeschrieben. Legt man die in
Graphik 59 eingeführte Unterteilung der möglichen Silbenpositionen
zugrunde, so verfügte das Antikchinesische über folgendes Segment-
inventar:

Graphik 61: Segmentinventar des Antikchinesischen

Cp (7): *s-, *p-, *t-, *k-, *m-, *N-, *q-


C0 (33): *p-, *ph-, *b-, *m-, *hm- LABIAL
*t-, *th-, *d-; *n-, *hn- DENTAL
*ts-, *tsh-, *dz-; *s- DENTAL-SIBILANT
*l-, *hl-; *r-, *hr- LATERAL/RHOTISCH
*k-, *kh-, *g-, *ŋ-, *hŋ-; *x- VELAR
*ʔ LARYNGAL
*kʷ-, *khʷ-, *gʷ-, *ŋʷ-, *hŋʷ- LABIOVELAR
*w-, *hw- LABIOVELAR-APPRO-
XIMANT
*ʔʷ LABIOLARYNGAL
Ci (1): *-r-
V (6): *-i-, *-ə-, *-u-, *-e-, *-a-, *-o-
Cf (10): *-p, *-t, *-k; *-m, *-n, *-ŋ;
*-r, *-j (< *l), *-w, *-ʷk
Cs (4): *-s, *-q, *-n, *-k, (?*-t, ?*-ŋ)
444 Kapitel 10

In jüngster Zeit wird von einigen Autoren auch die Ansetzung von
antikchinesischen uvularen bzw. labiouvularen Anlautreihen (*q-, *qh-,
*ɢ-; *qʷ-, *qʷh-, *ɢʷ-) diskutiert (PĀN 1997, BAXTER / SAGART 2009),
die möglicherweise sogar noch in frühmittelchinesischen Lehnwortdaten
ihre Spuren hinterlassen haben (PULLEYBLANK 1982). Obwohl diese Er-
weiterung des antikchinesischen Phonemsystems eine ganze Reihe von
Inkonsistenzen innerhalb der homophonophorischen Serien zu beseitigen
und im Hinblick auf manche paläographischen Lehnschreibungen sehr
überzeugend scheint, bestehen hier doch noch so viele Unsicherheiten,
dass auf die Integration dieser Reihen in die Lautangaben des vor-
liegenden Lehrbuches verzichtet wurde. Über neuere Entwicklungen auf
diesem Gebiet informiert der folgende Website, auf dem sich auch
altchinesiche Rekonstruktionen im jeweils neuesten Zustand des Baxter-
Sagart’schen Systems abrufen lassen:

<http://crlao.ehess.fr/document.php?id=1217> (14.3.2013),

sowie die folgende derzeit im Druck befindliche Monographie: W. H.


BAXTER / L. SAGART: Old Chinese: A New Reconstruction (Oxford: Ox-
ford University Press, 2013).

Das aufgrund der Evidenz des Shī Jīng anzusetzende Reimsystem um-
fasste folgende 49 Kategorien, die hier mit ihren traditionellen Merk-
namen aufgeführt werden:
Genealogie, Phonologie und Morphologie 445

Graphik 62: Die Reimkategorien des Antikchinesischen nach Baxter


(1992) und Sagart (1998)

V/Cf *i *ə *u *e *a *o

*‫׎‬- (*i> ij) ѻ ᒭA ᭟ 冊 ‫ן‬

*-w ᒭB u u ᇥA ᇥB u

*-k (*ik> it) 㚧 㿪A 䥛 䩨 ቻ

*-ʷk 㿪B u u 㰕A 㰕B u

*-j 㜲 ᗞA ᗞB ⅼA ⅼB ⅼC

*-t 䌚 ⢙A ⢙B ᴸ/⾝A ᴸ/⾝B ᴸ/ ⾝C

*-n ⵏ ᮷A ᮷B ‫ݳ‬A ‫ݳ‬B ‫ݳ‬C

*-r u ᮷C u u ‫ݳ‬D u

*-ŋ (*iŋ > in) 㫨 ߜ 㙅 䲭 ᶡ

*-m ‫ץ‬A ‫ץ‬B u 䃷A 䃷B u

*-p 㐍A 㐍B u ⳽A ⳽B u

In Klammern notierte diachrone Lautentwicklungen fanden innerhalb


des frühesten Korpus der chinesischen Poesie statt. Die hier durch u
gekennzeichneten Kategorien sind im Reimsystem des Shī Jīng nicht
nachweisbar, aber teilweise noch durch die Phonophorserien und externe
Evidenz greifbar. Natürlich konnten die Segmente nicht in beliebiger
Kombination auftreten. Neben den oben in Graphik 59 beschriebenen
positionalen Restriktionen und den hier aufgeführten möglichen Reim-
silben, kannte das Antikchinesische einige idiosynkratische segmentale
446 Kapitel 10

Kookurrenzrestriktionen, von denen die sechs wichtigsten hier kurz ge-


nannt seien:

i. *-Cf Cq-* ii. *-(h)r-Ci-V-r-* iii. *P-Ci-C0-Ci-V-*

[-resonant]

iv. *-VCf -* v. *-C0(-Ci-)VCf -* vi. *-C0(-Ci-)VCf -*

[+rund] [+labial] [+labial] [+labial] ə [w, ʷk]

10.5 Morphologie des Antikchinesischen

Die grundlegende Erkenntnis von SAGART (1999) besteht darin, die in


Graphik 59 veranschaulichte phonologische Silbenstruktur des Antikchi-
nesischen einer morphologischen Reinterpretation unterzogen zu haben.
Nach SAGART ist das hier in schwarzen Boxen dargestellte phonolo-
gische “Skelett” der Wortform zugleich die lexikalische Wortwurzel,
während alle fakultativen, sie erweiternden Bestandteile funktional
Affixe waren, die morphologische Information transportierten. Mit
anderen Worten: es hätte im Antikchinesischen weder im Anlaut noch
im Auslaut einer Silbe rein lexikalische Konsonantenhäufungen gege-
ben. Abgesehen von strukturellen und ggf. genealogischen Parallelen zu
tibeto-burmesischen Morphologien steht und fällt eine solche radikale
Hypothese natürlich mit der Frage, ob es ihr gelingt, für die zunächst
alleine aus phonologischer Sicht postulierten affixalen Elemente re-
kurrierende derivationelle und grammatische Funktionen aufzuzeigen.
Sie impliziert zwangsläufig, dass die Mitglieder einer xiéshēng-Serie
durchweg als verschieden affigierte Etyma einer Wortwurzel zu reklassi-
fizieren sind, die ggf. noch über den Rahmen der Serie hinaus morpholo-
gische Beziehungen zu anderen homophonen Serien aufweisen konnten.
Das antikchinesische Schriftsystem in seinen ältesten greifbaren paläo-
graphischen Zuständen, d.h. vor seiner sekundären Erweiterung durch
die regelmässige Hinzufügung semantischer Determinative (“Klassenzei-
chen”, “Radikale”) schreibt oft nur Wortwurzeln, nicht aber die jeweilige
Genealogie, Phonologie und Morphologie 447

derivationelle Morphologie. Phonophore funktionieren daher in vielen


inschriftlichen Textbeispielen eher als ein hinsichtlich der morpholo-
gischen Funktionen defektives Syllabar von Wortwurzeln denn als ein
logographisches Schriftsystem. Zudem ist damit zu rechnen, dass das
postulierte System zum Zeitpunkt seiner ersten systematischen Be-
obachtbarkeit in der edierten Literatur bereits in weiten Teilen unpro-
duktiv und obsoleszend war, so dass mit analogischen Überlagerungen,
vielfältigen Funktionssynkretismen und erratischen Lexikalisierungen
einzelner Derivationsmorpheme jederzeit zu rechnen ist. Ein abge-
rundetes Bild der von der Schrift nicht oder nur indirekt durch die
Gestalt der xiéshēng-Serien erschliessbaren antikchinesischen Morpholo-
gie wird daher letztlich – wenn überhaupt – nur durch den externen
Sprachvergleich mit morphologisch konservativen tibeto-burmesischen
Sprachen zu erreichen sein.
SAGARTs Modell ist seit und parallel zu seinem Erscheinen von
einigen Forschern verfeinert und erweitert worden (vgl. u.a. JACQUES
2000, 2003, JĪN LǏXĪN 2002, 2005, SCHÜSSLER 2007) und zeigt einige
Überschneidungen mit älteren Überlegungen von E.G. PULLEYBLANK
(1965, 1989, 2000 u.a.). Fasst man die derzeit bestehenden Vorschläge in
einem Schema zusammen und klassifiziert die jeweilige derivationelle
Basis nach Wortarten oder Wortartpräferenzen, so ergibt sich folgende
Maximal-Liste:
448 Kapitel 10

Graphik 63: Übersicht Affixe

TYP REK. BASIS FUNKTION DERIVATION


i. PRÄFIX *s- [V] kausativ [V]
[V>N] direktiv, exoaktiv [V]
[V>N] inchoativ [V]
[V] deverbal [N]
*N- [V] intransitiv, valenzmindernd [V>N]
(= detransitiv, dekausativ usw.)
*m- [V] kontrolliert, volitional [V]
[V] deontisch, injunktivisch [V]
[V] Nomina agentis, Körperteilbezeichnungen [N]
[N] Tierbezeichnungen [N]
*p- [X] (unbekannt) [X]
*t- [V] statisch [V]
[V] unintentionale, -freiwillige [V]
(Körperaktivitäten)
[V] detransitiv [V]
[V] farbenbezeichnend [V]
[N>V] unzählbar, abstrakt [N]
*k- [V] aktiv, konkret [V]
[N>V] konkret, zählbar [N]
*q- [X] (unbekannt) [X]

TYP REK. BASIS FUNKTION DERIVATION


ii. INFIX *-r- [V>N] repetitiv, iterativ, intensiv [V]
[V>N] distribuiert (polyagentiell, -lokal, [V>N]
-partizipiell)
[N>V] kollektiv, dualisch, pluralisch [N]
Genealogie, Phonologie und Morphologie 449

Graphik 63: Fortsetzung

TYP REK. BASIS FUNKTION DERIVATION


iii. SUFFIX *-s [V>N] exoaktiv, direktiv [N]
[V] (medio-)passiv [V]
[V] deverbal [V]
[V,NUM] adverbial [ADV]
*-q [N>V] endoaktiv [V]
[N] verwandt; körpereigen; intim [N]
[V] instrumental [N]
[PRN, NEG] nicht-enklitisch, -attributiv, “stark” [PRN, NEG]
*-k [PRN>V] distributiv [PRN]
*-j [PRN] nicht-enklitisch, nicht-attributiv [PRN]
*-n [V] durativ, kontinuativ, stativ [V]
*-t [V] applikativ, benefaktiv [V]
[V] punktual, resultativ [V]

Im folgenden sollen, wo möglich anhand von kontrastierenden Minimal-


paaren, jeweils einige wenige charakteristische Beispiele für die postu-
lierten Funktionen gegeben werden. Ausgenommen sind solche Fälle für
die bislang keine stabile Funktion erarbeitet werden konnte (z.B. *q-,
*p-), wiewohl phonologisch ausser Zweifel steht, dass die Affixpositio-
nen existiert haben: sie müssten bis zum Vorliegen widersprechender
Evidenz als Ausnahmen zum Postulat des phonotaktischen Verbots von
lexikalischen Clustern gelten. Viele der hier aufgeführten Beispiele
entstammen ROC und der eben genannten neueren Literatur. Bei Bei-
spielen, die dem Textband entnommen sind, erfolgt jeweils in Klammern
ein Verweis auf den betreffenden Lehrbuchtext. Notationell werden alle
Affixe durch Bindestriche abgetrennt, mit Ausnahme des Infixes *-r-,
das bereits durch seine Position im Wort bzw. der reduzierten Präsilbe
als solches erkennbar ist.

10.5.1 Präfigierung

(a) *s-

Das valenzsteigernde Präfix markiert morphosyntaktisch die Inkorpo-


rierung eines zusätzlichen Argumentes in das Verb, d.h. es konvertiert
450 Kapitel 10

einfache transitive Verben (V2) in kausative (V3), wobei gelegentlich


auch lessive und permissive Interpretationen möglich sind. Man vgl. z.B.

● wáng ӑ < *maŋ ‘verlieren, verlorengehen’ ↔


sāng ௚ < *s-mmaŋ (‘verloren machen’ →)
‘auslöschen’ [18]

● shí 伏 < *m-lək ‘essen’ ↔


sì 伏 < *s-m-lək-s (‘essen machen’→) ‘speisen,
füttern’ [E3]

● tiáo ọ < *lliw ‘geordnet sein’ ↔


xiū ‫~؞‬㝙 < *s-liw ‘instand stellen, reparieren’ [22]

Auch das kausative Verb par excellence, das später als Matrixverb zur
analytischen Bildung von Kausativphrasen genutzt wurde, ist seiner Her-
kunft nach bereits ein kausativ präfigiertes Verb:

● lǐ ⨶ < *rə-q ‘ordnen, markieren’ ↔


shǐ ֯ < *s-rə-q (‘ordnen machen’) → ‘ver-
ordnen, veranlassen’ [4]

Eng verwandt sind direktiv-exoaktive Bildungen, bei denen das zugrun-


deliegende ungerichtete oder reziproke Verb vom Sprecher oder Hand-
lungsträger weg, auf äusserliche Bedingungen oder Personen gerichtet
wird, ohne dabei zwangsläufig transitiv zu sein.

● yì ᱃ < *lek-s ‘ein/austauschen’ ↔


cì 䌌 < *s-hlek-s ‘beschenken’ [8]

● gōng ‫ޜ‬ < *kkoŋ ‘(des Patriarchen →) öffentlich ↔


sein’
sòng 䁏 < *s-N-koŋ-s ‘(in die Öffenlichkeit bringen →)
jd. verklagen’ [20]

In einigen wenigen Verben bezeichnet *s- das Einsetzen, bzw. den be-
ginnenden Verlauf der Handlung (inchoativ) und ihren Übergang in den
Zustand der Basis:
Genealogie, Phonologie und Morphologie 451

● wù ᛏ ̚ሔ < *ŋŋa-s ‘wach, aufmerksam sein’ ↔


sū 㰷 < *s-ŋŋa ‘aufwachen, wiedererstehen’

Schliessich wird *s- regelmässig zur Bildung deverbaler Nomen ver-


wendet:

● zhì 㠣 < *tik-s ‘erreichen, s. einfinden bei’ ↔


shì ᇔ < *s-tit-s ‘(was man erreicht →) Wohn-
< *-k-s stätte, Zimmer, Gemach’ [6, 7]

(b) *N-

Das artikulatorisch nicht-spezifizierte Nasalpräfix *N- gewinnt seine


phonetische Gestalt erst durch progressive Assimilation an den nach-
folgenden Konsonanten, der hierbei regressiv die Stimmhaftigkeit des
Präfixes übernimmt. Es ist extern gut aus frühen chinesischen Lehn-
worten in die Hmong-Mien-Sprachen und durch tibeto-burmesische
Parallelen belegbar, intern v.a.D. durch die Analyse mittelchinesischer
Stimmhaftigkeitsoppositionen der Anlaute in homophonophorischen
Serien. Die valenzmindernde Wirkung von *N- bei kausativen und
transitiven Verben war funktional komplementär zu *s- und resultiert
typischerweise in einfachen nicht-kausativen oder intransitiven Verben:

● zhǔ ኜ < *tok ‘jd./etwas versammeln’ ↔


shǔ ኜ < *s-tok ‘gehören zu’ [14]

● zhāng ᕥ < *traŋ ‘aufspannen, wachsen’ ↔


cháng 䮧 < *N-traŋ ‘lang sein (zeitlich / räumlich)’ [13]

Ist das (sekundäre) Endprodukt dieser Derivation ein Nomen, ist man
eher geneigt von einer de-exoaktivierenden Wirkung zu sprechen:

● zhī ѻ < *tə ‘hingehen, gehen nach’ ↔


shí ᱲ < *N-tə (‘gehen(d) →) Zeit’ [13]

● yuè 䎺 < *wat ‘etwas überschreiten’ ↔


wài ཆ < *N-wwat-s ‘Aussen(raum)’ [11]
452 Kapitel 10

Gelegentlich gewinnen die detransitivierten Verben auch passivische


bzw. reflexive Funktion, wobei der zugehörige artikulatorische Kontrast
erst sehr spät, in nach-mittelchinesischer Zeit verlorengegangen ist:

● bài ᮇ < *pprat-s ‘besiegen’ ↔


bài ᮇ < *N-pprat-s ‘besiegt werden’

● jiàng 䱽 < *kkruŋ-s ‘herunterlassen, -steigen, -kom- ↔


men’
xiáng 䱽 < *N-kkruŋ ‘s. ergeben, unterwerfen’ [22]

Das bilabiale Nasalpräfix *m- ist in seinen phonologischen Effekten auf


den Folgekonsonanten oft kaum von *N- zu unterscheiden, weshalb eine
Differenzierung letztlich nur über externe Evidenz in Form von frühen
Entlehnungen in die Hmong-Mien-Sprachen oder urverwadten Lexemen
im Tibeto-Burmesischen möglich ist (SAGART 2003). Das Päfix ist in in
volitionalen Verbformen gut belegbar. Volitional oder auch kontrolliert
nennt man solche Verbformen, in denen der Handlungsablauf dem
Willen des Handelnden objektiv unterliegt oder subjektiv zu unterliegen
scheint, so dass er sich als Agens und nicht lediglich als von aussen
betroffener Teilnehmer der Handlung erlebt. Man vgl. z.B.

● shì ༛ < *N-s-rə-q ‘Dienstmann; unterster Adels- ↔


rang’
shì ԅ < *m-s-rə-q ‘jd. als Dienstmann dienen’ [7]

Häufig ist das *m-Präfix in Kombination mit anderen (direktiven, exoak-


tiven usw.) Affixen oder in Wortfamilien anzutreffen, deren Basis nicht
mehr belegt werden kann, so dass es nicht immer einfach ist, den funk-
tionalen Kern des Präfixes zu isolieren:

● xùn 俤 < *s-lun ‘zähmen, gefügig machen’ ↔


shùn 丶 < *m-lun-s ‘sich anpassen, gefügig sein’
(*s-kausativ, *-s medio-passiv)
[24]
Genealogie, Phonologie und Morphologie 453

● liàng 䄂 < *raŋ-s ‘aufrichtig, treu sein’ ↔


mēng ⴏ < *m-raŋ ‘einen Bund schliessen, Treue-
schwur leisten’ (*-s exoaktiv)

Eng verbunden mit der volitionalen Verwendung ist die deontisch-


injunktivische Funktion von *m- in Verben wie

● lìng Ԕ < *mə-reŋ-s ‘veranlassen, anordnen’ ↔


mìng ભ < *m-reŋ-s ‘befehlen, Mandat übertragen’ [2,
20, 30]

Diese Funktion verbindet das Präfix wiederum mit den nicht-indikati-


vischen *m-Negationen wú ⇻ < *mə und wù य < *mə-t (vgl. Kap.
7.1.3.3, 4), die immer wieder auch als etymologischer Ausgangspunkt
des Präfixes genannt worden sind.
Beim Auftreten in Nomen hat *m- zwei eher seltenere Funktionen.
Zum einen kann es zur Bildung von nomina agentis oder Instrumental-
nomen auf der Grundlage von einfachen transitiven Verben verwendet
werden. Vgl.

● yù 㛢 < *luk ‘ernähren, behüten, grossziehen’ ↔


mù ⢗ < *mr-luk ‘hüten; Hirte, Beschützer’

● yán ⋯ < *lon ‘(einem Gewässerlauf) folgen, ↔


driften’
chuān 㡩 < *m-lon ‘(Drifter →) Boot’

Analog wäre man geneigt, shén ⾎ < *m-lin ‘Geist, Himmelswesen’ als
*m-präfigierte agentive Form zu derselben Verbwurzel aufzufassen, die
auch in tiān ཙ < *hllin erhalten ist, shí ሖ < *m-lit in der Bedeutung
‘Frucht’ als Nomen zu der verbal in jié ㎀ < *k-llit ‘Knoten formen, fest
werden’ attestierten Basis, oder auch shèng ҈ < *m-ləŋ-s ‘Vehikel’ als
Derivation von der Wurzel des Verbs shēng ॷ < *hləŋ ‘steigen, bestei-
gen’. Schliesslich ist *m- auch ein möglicherweise auf Substrateinfluss
zurückgehendes Präfix zur Bezeichnung von Tieren, oftmals menschen-
feindlichen Insekten, Kriech- und Schuppentieren, die im graphischen
System später durch das Klassenzeichen 㲛 markiert wurden:
454 Kapitel 10

● shé 㳷 < *m-laj ‘Schlange’


lóng 喽 < *mə-roŋ ‘Drache’
mǐn 唭 < *m-rrəŋ-q ‘Kröte’

Es ist nicht auszuschliessen, dass auch pejorative Ethnonyme wie mán


㹫 ‘Name der Südbarbaren’ nicht frei von diesem morphologischen Prin-
zip waren und damit *m-rron anstatt *mmron zu rekonstruieren wäre.

(d) *t-

*t- hat in der Derivation von Verben vier nur noch sehr bruchstückhaft
rekonstruierbare Funktionen. Hierzu gehören einige

● statische Verben
yì 〫 < *hlaj-s ‘auffüllen’ ↔
duō ཊ < *t-llaj ‘viel, zahlreich sein’ [25]

● darunter auch Farbbezeichnungen


chì 䎔 < *t-hlak ‘rot sein’ [17]
chēng 樷 < *t-kʰreŋ ‘rot sein’

● unintentionale bzw. unfreiwillige Körperaktivitäten


tūn ⏂ < *t-kkhur ‘kotzen’ ↔
huì ௉ < *t-hlot-s ‘stöhnen, grunzen’

● intransitive Verben
chū ࠪ < *t-khut ‘hinausgehen, hervorkommen’ ↔
[27, 28]

Im Nominalbereich steht *t- deutlich in komplementärer Funktion zu *k-


als Präfix zur Bezeichnung von unzählbaren, gelegentlich abstrakten
Substantiven (Massennomen). Hierzu gehören z.B.

● zhōu ㋕~八 < *t-luk ‘Getreidebrei’ [9]


chài 㸶 < *t-hmmrat-s ‘Skorpion; Myriaden’
zhì 䌚 < *t-lit ‘Substanz’
Genealogie, Phonologie und Morphologie 455

(e) *k-

Etwas besser stellt sich die Beleglage für das velare Präfix *k- dar,
dessen verbale und nominale Funktionen deutlich miteinander verknüpft
sind. Bei Verben bezeichnet häufiger *k- konkrete, aktive Vorgänge, d.h.
typischerweise Handlungsverben mit physischer Beteiligung des Han-
delnden bzw. Sprechers. Man vgl. z.B.

● huí എ~ < *wəj ‘umkreisen’ ↔


䘤~ഈ~䙕
guī ↨ < *k-wəj ‘zurückkehren nach’ [14]

● yín ␛ < *ləm ‘ausschweifend sein’ [30] ↔


kǎn Ⅿ < *k-hlləm-q ‘ausschweifend, lüstern sein’

● yuán ‫ݳ‬ < *ŋon ‘Kopf, Kappe’ ↔


guān ߐ < *k-ŋŋon ‘jd. bekappen’ [7]

Beim Nomen begegnen uns in dieser Kategorie konkrete, zählbare


Substantive, die ohne weiteres individuiert werden können:

● yù ฏ~ᡆ < *wək ‘Territorium’ ↔


gúo ഻ < *k-wwək ‘Lehensfürstentum, Land, Staat’ [2]

● wēi ေ < *ʔuj ‘Autorität, Machtentfaltung’ ↔


wèi ⭿ < *ʔuj-s ‘s. fürchten vor’ [2] ↔
guǐ 公 < *k-ʔuj-q ‘Geist, Dämon’ < ‘furchterregen-
des Wesen’

● yǔ 㠱 < *la-q ‘heben’ ↔


jǔ 㠹 < *k-la-q ‘etwas hochheben’ ↔
jū 䓺 < *k-la ‘Sänfte, Wagen’
chē < *k-hla ‘id.’ [4]
456 Kapitel 10

10.5.2 Infigierung

Das einzige Infix des Antikchinesischen war *-r-. Weitere scheinbare


Fälle mit *-l- in Zweit- oder Drittposition nach anlautenden Konsonanten
sind immer Kombinationen aus Präfixen mit einer mit *l anlautenden
lexikalischen Wurzel. Die Position von *-r- in der Silbe variierte je nach
Vorhandensein oder Abwesenheit von Präsilben. Man könnte aus Per-
spektive einiger tibeto-burmesischer Komparanda und z.B. der Silben-
struktur des klassischen Tibetischen sogar soweit gehen, anzunehmen,
dass ursprünglich alle Vorkommen von *r präverbal waren und jenes
mithin als Präfix zu gelten habe (HANDEL 2010). Es sprechen allerdings
mit Blick auf den südostasiatischen Raum keine typologischen Argu-
mente zwangsläufig dafür.
Die Funktionen von *-r- sind wiederum sämtlich aufeinander bezo-
gen. Beim Verb bezeichnet das Infix repetitive, intensive bzw. iterative
Handlungen, oder die Tatsache, dass mehrere Agentien oder Patientien
an ihr beteiligt, die Handlung also personal oder, seltener, lokal
distribuiert ist. Das Infix kodiert letztlich auf verschiedene Arten und
Weisen die Intensität der Handlung. Man vgl. z.B.

● repetitiv
xué ᆨ < *m-kkruk ‘lernen’ ↔
xiào ᮶~ᆨ < *m-kkruk-s ‘lehren’ ↔
jiāo ᮉ < *kkraw(k) ‘jd. unterweisen’ [7]

● intensiv
hào ྭ < *xxu(-q)-s ‘lieben’ ↔
xiào ᆍ < *xxru-s ‘(sehr lieben →) lieben wie ein
Kind, jd. Pietät erweisen’ [2]

gū ᆔ < *kkʷa ‘alleine’ ↔


guǎ ሑ < *kkʷra-q ‘(sehr allein sein →) alleine-
stehend, vermindert’ [2]

● bi-agentiell
shēng ⭏ < *sreng ‘gebären, zeugen, begatten’ [8]
Genealogie, Phonologie und Morphologie 457

● poly-lokal (distribuiert)
xíng 㹼 < *ggraŋ ‘hingehen nach X, reisen’ [13] ↔
zhuì 䲺 < *llrut-s ‘herunterfallen’ [30]

Beim Nomen bezeichnet *-r- vor allen Dingen Kollektivbegriffe, bzw.


die Dualität oder Pluralität von natürlichen oder künstlichen Objekten.
Vgl. z.B.

● dualisch (paralisch)
yǎn ⵬ < *ŋŋrən-q ‘Augen’

● pluralisch, kollektiv
yí ཧ < *N-ləj ‘eben’, ↔
qí 啺 < *s-lləj ‘einebnen, ausgleichen’(kaus.)
chái ݅ < *sr-lləj ‘Ebenbürtige, zur gleichen
Kategorie Gehörige’
neben singularischem
qī ࿫ < *s-hləj ‘(Ebenbürtige→) Ehefrau,
Gattin’ [10, 22]
jū ት < *k(r)a ‘hausen, wohnen’ ↔
jiā ᇦ < *kkra ‘(zusammen lebende →)
Familie’ [2]

fēng ሱ < *ph(r)oŋ ‘Lehen; belehnen’ ↔


bāng 䛖 < *pproŋ ‘Lehnstaat, Staatenverband’ [17]

Der Ausfall dieser prominenten Funktion des Infixes ist wahrscheinlich


ursächlich für das kompensatorische Entstehen von Zähleinheitsworten
(Klassifikatoren) im späten Antikchinesisch verantwortlich. Weitere
gelegentlich in der Sekundärliteratur vermutete kausative Verwendungen
des *r-Infixes können bislang nicht bestätigt werden.
458 Kapitel 10

10.5.3 Suffigierung

(a) *-s

Von allen morphologischen Elementen des Antikchinesischen war das


*-s-Suffix, das aufgrund seines mittelchinesischer Reflexes häufig auch
einfach als “qùshēng ৫㚢-Derivation” bezeichnet wird, sicherlich das
produktivste. Zumindest ist dies der äussere statistische Eindruck,
welcher allerdings möglicherweise der Tatsache geschuldet ist, dass das
*-s-Suffix am längsten überlebt hat (etwa bis in die Suí-Zeit) und in den
frühen Glossen und Reimwörterbüchern daher weitaus besser dokumen-
tiert ist als andere morphologische Elemente. Häufigster Verwendungs-
zweck ist die Bildung von exoaktiven, das heisst vom Sprecher oder
Handlungsträger weggerichteten Verben. Diese Verben sind typischer-
aber nicht notwendigerweise transitiv in dem Sinne, dass sie ein direktes
Objekt syntaktisch affizierten, sondern oft lediglich semantisch, d.h. in
ihrer Handlungsdynamik auf ein Objekt bezogen. Im Normalfall aller-
dings werden durch exoaktive *-s-Suffigierung die Übergänge von in-
transitiven oder statischen Verben zu transitiven, bzw. von bereits
transitiven zu kausativen (inkl. putativ-faktitiven) und zu ditransitiven
Verben mit mehreren Objektrollen markiert. Da wie überall in Ostasien
ein enger Bezug zwischen der kausativen Semantik und dem Passiv
besteht, können schliesslich auch passivische und mediopassivische
Verben durch *s gekennzeichnet sein. Zudem wird *-s (wie auch das
gleichlautende Präfix *s-) zur Bildung von deverbalen Nomen und aus
dem Sino-Tibetischen ererbter Adverbien genutzt, die verbalen oder
numeralen Ursprungs sind. Ob alle diese Funktionen durch den Zusam-
menfall verschiedener prä-proto-antikchinesischer spezialisierter Suffixe
in *-s entstanden oder lediglich die Funktionen eines einzigen ererbten
Suffixes im Zuge des allgemeinen Verlustes morphologischer Katego-
rien gebündelt worden sind, ist derzeit noch ungeklärt. SCHÜSSLER
(2007) rekonstruiert ein regelrechtes Suffix-Paradigma für das Antikchi-
nesische, in dem Verbstämme zunächst lexikalisch in eine exo- und eine
endoaktive Reihe geteilt werden und durch das Suffix *-s auf einer
transitiven Basis sowohl eine exoaktive als auch eine passivische Lesart
möglich sind, während durch Suffigierung mit endoaktivischem *-q (s.
unten e) und valenzminderndem *N- (vgl. 10.5.1, b) die jeweiligen
Gegenpole der endoaktiven Reihe gebildet werden. Da vollständige Pa-
Genealogie, Phonologie und Morphologie 459

radigmata dieses Typs wenig oder gar nicht erhalten sind, können wir
uns nun getrost den konkreten Kategorienbeispielen zuwenden:

● exoaktiv, direktiv
wén 㚎 < *mun ‘hören’ ↔
wèn ୿ < *mun-s ‘sich erkundigen, nachfragen’ [1]

yì ᱃ < *lek ‘wandeln’ ↔


yì ᱃ < *lek-s ‘umwandeln, verwandeln, aus-
tauschen’ [8]

wáng ӑ < *maŋ ‘verschwinden, verloren gehen’ ↔


wàng ᘈ < *maŋ-s ‘vergessen’ [28]

● medio-passiv
chí ⋫ < *lrə ‘Ordnung schaffen, regeln’ ↔
zhì ⋫ < *lrə-s ‘geordnet, geregelt’ [10]

chéng ᡀ < *deŋ ‘vollbringen, vollenden’ ↔


shèng ⴋ < *deŋ-s ‘vollendet, entfaltet’ [24]

● deverbal
tīng 㚭 < *hlleŋ ‘auf jd. hören, zuhören’ ↔
shéng 㚆 < *hlleŋ-s ‘(Hellhöriger →) Weiser’ [2, 12]

shǐ ֯ < *s-rə-q ‘jd. beauftragen’ ↔


shì ֯ < *s-rə-s ‘Gesandtschaft’ [7]

rù ‫ޕ‬ < *nəp ‘hineingehen’ ↔


nèi ޵ < *nəp-s ‘Inneres, Innenbereich’ [16]

● adverbial
vgl. die Auflistung unter (10.2. h) oben

(b) *-j

Zur Funktion *-j als Markierung für “starke”, d.h. nicht-enklitische


Stellung der Personal- und Interrogativpronomen vgl. Kap. 8.1.1.
460 Kapitel 10

(c) *-k

Vgl. zur Funktion von *-k als distributive Endung von Pronomen Kap.
8.1.3.

(d) *-n

Das relativ seltene Suffix *-n tritt in einigen Verben zur Bezeichnug des
durativ-kontinuativen Aspekts auf, d.h. es fungiert in Opposition zu *-t,
dem Marker von resultativischen-punktualen Verben, um die Abge-
schlossenheit, das Resultat bzw. den Fortbestand einer Handlung in der
Gegenwart zu bezeichnen. Vgl.:

● rú ྲ < *na ‘es kommt zu X’ ↔


rán ❦ < *na-n ‘X ist so (geschehen)’ [11]

● zài ൘ < *ddzə-q ‘sich befinden, existieren’ ↔


cún ᆈ < *ddzə-n ‘am Leben sein; überleben; be-
wahren’ [28]

● yǔ 䃎 < *ŋ(r)a-q ‘reden, sprechen über/zu’ ↔


yán 䀰 < *ŋa-n ‘sprechen, sich äussern’ [2]

(e) *-q

Das Suffix *-q ist das endoaktive Pendant zu exoaktivem *-s. Die durch
es gekennzeichneten Verbwurzeln affizieren keine äusseren Personen
oder Gegebenheiten. Es sind typischerweise intransitive, ungerichtete,
sprecherbezogene Handlungen. Man vgl. z.B.

● shí ᱲ < *N-tə ‘Zeit’ ↔


dài ᖵ < *N-ttə-q ‘warten auf’ [13]

● jìn 㿢 < *N-krən-s ‘Audienzbesuch machen’ ↔


jǐn 䅩 < *kən-q ‘achtsam sein, devot sein’ [20]

● yìn 伢 < *ʔ(r)əm-s ‘zu trinken geben’ ↔


yǐn 伢 < *ʔ(r)əm-q ‘trinken’ [20]
Genealogie, Phonologie und Morphologie 461

● jìng 䶌 < *N-tseŋ-q ‘ruhig, reglos sein’ [10]

Die nominale Facette dieser Verbfunktion zeigt sich in dem Vorliegen


von *-q in einer Vielzahl von Verwandtschafts- und Körperteilbezeich-
nungen und ggf. noch in einigen anderen dem Sprecher oder seiner in-
timen Umgebung zugehörig empfundenen Nomen. Vgl.

● Verwandtschaftsbezeichnungen
fù ⡦ < *b(r)a-q ‘Vater’
mǔ ⇽ < *m(r)[o, ə]-q ‘Mutter’
zǐ ᆀ < *tsə-q ‘Kind; Sohn’
nǚ ྣ < *nra-q ‘Tochter; junge Frau’
fù ႖ < *Cə-bə-q ‘Gattin’
dì ᕏ < *lləj-q ‘jüngerer Bruder’
zǐ ࿺ < *tsij-q ‘ältere Schwester’
jiù 㠵 < *g(r)u-q ‘Onkel mütterlicherseits’
zǔ ⾆ < *ttsa-q ‘Vorfahr, Ahn’
kǎo 㘳 < *k-hrru-q ‘Vorvater’ usw.

● Körperteilbezeichnungen
ěr 㙣 < *nə-q ‘Ohr’
kǒu ਓ < *kkh(r)o-q ‘Mund’
zhǐ ᤷ < *(mə-)kij-q ‘Finger’
shǒu ᡻ < *hnu-q ‘Hand’
chǐ 喂 < *t-khə-q ‘Zahn’
zhǒu 㛈 < *tr-ku-q ‘Ellbogen’
rǔ ң < *no-q ‘Brust’
yǎn ⵬ < *ŋŋrən-q ‘Augen’
shǒu 俆 < *hlu-q ‘Kopf’
nǎo 㞖 < *nnu-q ‘Hirn, Mark’ usw.

● unmittelbare Umgebung
hù ᡧ < *gga-q ‘Haushalt’
yǔ ᆷ < *wa-q ‘Dach, Wohnstatt’
pǔ ള < *ppa-q ‘Garten’
lǎo ▖ < *rrew-q ‘Wasserreservoir’
lǚ ን < *(Cə-)ri-q ‘Sandalen, Schuhe’ usw.
462 Kapitel 10

Eine vergleichsweise seltene Sonderbedeutung des Suffixes findet sich


in deverbalen aktivischen Instrumentalnomina des folgenden Typs
(SCHUESSLER 2002: 40 ff.)

● zhī ѻ < *tə ‘(hin)gehen’ ↔


zhǐ → < *tə-q ‘(was geht →) Fuss’ [8]

● dāng ⮦ < *ttaŋ ‘sich (angemessen) verhalten zu’ ↔


dǎng 唘 < *ttaŋ-q ‘(was sich entsprechend verhält
→) Kategorie, Partei, Clique’ [30]

● dēng ⲫ < *ttəŋ ‘besteigen, aufsteigen’ ↔


děng ㅹ < *ttəŋ-q ‘(was aufsteigt →) Rang, Stufe,
Grad’

Schliesslich hat *-q noch die Funktion der Markierung nicht-enklitischen


Gebrauchs bei Pronomen aller Art und Negationen. Für Beispiele vgl.
die Diskussion in Kapitel 8.1.3.

(f) *-t

Das Dentalsuffix *-t, für das es relativ viele Anknüpfungspunkte im


tibeto-burmesischen Vergleich gibt, ist im Antikchinesischen eher spär-
lich attestiert. Es tritt an einfache Verbbasen an und markiert dann ent-
weder applikativ-benefaktiven Gebrauch oder resultativen Verbalaspekt.
Da das Suffix im Textkorpus des Lehrbuchs nicht zweifelsfrei belegt ist,
unterbleiben an dieser Stelle weitere Erläuterungen.

10.5.4 Ablaut

Eine im antikchinesischen Lexikon sehr weitverbreitete Form der nicht-


konkatenativen Morphologie ist der Wechsel des Vokals in Wortfamilien
(“Ablaut”, “Apophonie”), dessen Funktionen sich ersten Untersuchun-
gen nach in vielerlei Hinsicht mit jenen der derivationellen Affixmor-
phologie überschneiden. Da zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder
abschliessend zwischen morpologisch und phonologisch konditioniertem
Vokalwechsel (Umlaut) unterschieden werden und auch nur sehr bedingt
Genealogie, Phonologie und Morphologie 463

eine Korrelation zu den Ablauterscheinungen in den Verbparadigmen


einiger tibeto-burmesischer Sprachen hergestellt werden kann, sei hier
lediglich prophylaktisch auf die kurze Diskussion des Phänomens in
Kapitel 10.2 verwiesen.

10.5.5 Reduplikation

Reduplikation von kompletten Silben oder von Silbenbestandteilen ist


eine im antikchinesischen Lexikon sehr weit verbreitete Wortbildungs-
strategie, die sowohl beim Verb als auch beim Nomen, beim Adverb und
v.a.D. beim Adjektiv in vielfältigen, oftmals expressiven Funktionen
belegt ist. Bereits unter den 458 phonologisch korrelierten Komposita
das das Shī Jīng (13,4% des Gesamtbestandes) besteht der Grossteil aus
reduplizierten Bildungen (359 Fälle), von denen wiederum die deskrip-
tiv-expressiven Adjektive bei weitem den grössten Anteil stellen (352).
Alliterierende (shuāngshēng 䴉㚢) und reimende (diéyùn ᴑ丫) Kom-
posita sind hingegen vergleichsweise selten (73). Auch von den 1690
Komposita, die das älteste chinesische “Wörterbuch”, das um 100 n.Chr.
fertiggestellte Shuō Wén Jiě Zì 䃜᮷䀓ᆇ des Xǔ Shèn 䁡᝾ (ca. 58–147
n.Chr.) verzeichnet, sind 44,5% ganz oder teilweise reduplizierende Bil-
dungen, wobei wiederum die Adejktive die grösste Gruppe stellen (272)
und teilweise ausschliesslich in reduplizierter Form belegt sind (50) (cf.
XIÀNG 1987: 204–228, YÚ / GUŌ 1987).
Die rasante Zunahme des reduplizierten Wortschatzes in der Chūn-
qiū- und Zhànguó-Zeit ist eventuell als kompensatorischer Prozess
gegenüber dem Abbau von Konsonantenclustern und dem Verlust von
derivationeller Morphologie zu deuten und steht sicherlich im Zusam-
menhang mit der Herausbildung einer neuen Wortprosodie und der damit
einhergehenden allgemeinen Disyllabisierungstendenz des Wortschatzes.
Von den wichtigsten universalen Grundfunktionen von Reduplikation
(MORAVCSIK 1978, 1992) im zwischensprachlichen Vergleich – Markie-
rung von Pluralität/Kollektivität (i.), Reziprozität (ii.), Distributivität
(iii.), Intensität (iv.), Wiederholung und Kontinuität (v.), Indefinitheit
(vi.), Koseformen (vii.), Abmilderung (viii.), distributiver Pluralität (ix.)
und Verachtung (x.) – sind mindestens sieben Typen auch im Antik- und
Mittelchinesischen belegt. Neben der grundlegenden Unterscheidung
von kompletten und partiellen Reduplikationen lassen sich die letzt-
464 Kapitel 10

genannten partiellen Fälle weiterhin in die drei Typen regressiv, pro-


gressiv und Fissionsreduplikation unterscheiden. Da die involvierten
phonologischen Probleme relativ komplex und zuletzt vorbildlich in SŪN
JǏNGTĀO (2008) behandelt worden sind und zudem im Korpus des
Lehrbuchs nur eine offensichtlich expressive Reduplikation auftritt
(tāotāo ┄┄, AC *hllu-hllu, ‘überflutet noch und noch’ [23]), mag hier
auf eine ausführlichere Darstellung verzichtet werden.
Anhang

A. Zwei Rekonstruktionsbeispiele

Um die in Kapitel 10 beschriebenen Evidenztypen und -hierarchien zu


veranschaulichen, seien hier abschliessend die typischen Rekonstruk-
tionswege für zwei Zeichen dargestellt. Betrachten wir zunächst das
verhältnismässig “unproblematische” Beispiel wáng ⦻ ‘König’. Wich-
tigste Ausgangspunkte für die Rekonstruktion sind einerseits die dialek-
tale Evidenz (vgl. Graphik 1), andererseits Einträge für das Zeichen in
mittelchinesischen Reimwörterbüchern bzw. -tafeln (vgl. Graphik 2).

Graphik 1: Aussprache des Wortes ‘König’ in acht sinitischen Sprachen

Mandarin ᇈ䂡 Jìn ᱻ Wú ੤ Xiāng ⒈


A2 35 A2 24 A2 24
ेӜ uaŋ ཚ৏ vɒ̃ 㰷ᐎ ɦuaŋ 䮧⋉ A2uan13
☏ই A2uaŋ42 ⑙ᐎ A2jyɔ31 䴉ጠ A2ɒŋ23
Gàn 䎓 Hakka ᇒᇦ Yuè ㋥ Mǐn 䯙
ই᰼ C1uɔŋ45 ẵ㑓 A2vɔŋ21 ᔓᐎ A2wɔŋ21 ᓸ䮰 A2ɔŋ24
䲭⊏ A2wɔŋ43 ▞ᐎ A2heŋ55
ᔪↀ C1iɔŋ52

Die links vor der Form hochgestellten Indizes bezeichnen hierbei die
Tonkategorie im Sinne von Graphik 57 in Kapitel 10, die rechts ver-
merkten den tatsächlich realisierten Tonverlauf. Aufgrund dieser Daten
lässt sich ohne weitere Zusatzannahmen, d.h. allein durch Anwendung
der historisch-vergleichenden Methode, die Protoform *ɦuaŋ A2 an-
setzen, wobei die einzelnen Lautgesetze, die hierzu (und zu den
abweichenden Tonemen in den Dialekten von Nánchāng und Jiàn’ōu)
führen, an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden können (vgl. hierzu
466 Anhang

etwa AO 1991). Wie verhält sich nun diese Rekonstruktion zu den aus
der Tradition ableitbaren distributionellen Daten?

Graphik 2: Einträge für ‘König’ in mittelchinesischen Reimwörterbü-


chern bzw. -tafeln und ihre Umsetzung

Qièyùn 切韻 (601)
Yùnjìng 韻鏡 (1161)
Guǎngyùn 廣韻 (1007/8)
雨 方 切 平 喻 陽 三 合 内 次濁

yǔ fāng qiè píng yù yáng sān hé nèi cìzhuó

*h(juX) *(p)jaŋ dimid eben *H *-aŋ III [+rd] [-ho] [+son]


=A ~Y *-j- [+sth]
[-asp]

* h j w a ŋ A 2

Die Graphik führt die mittelchinesischen Kategorien in der bis heute


weithin üblichen Zitierfolge auf und ordnet sie den jeweiligen Merkma-
len der mittelchinesischen Transkription zu. Wie man sieht, ist die Zu-
ordnung kein einfacher linearer Vorgang, da einerseits deskriptive Re-
dundanzen bestehen, so dass dasselbe rekonstruierte Segment durch
mehrere Kategorien definiert wird. Andererseits ist z.B. die supraseg-
mentale Distinktionen “tiefes Tonregister” (2) nur indirekt, nämlich
durch die Beschreibung des Silbenanlautes impliziert. Die distributionel-
le Klassifikation steht dennoch nicht im Widerspruch zu der durch den
Dialektvergleich gewonnenen, da es durchaus sehr plausibel ist, dass MC
Anhang 467

*/hjwaŋA2/ oberflächenphonetisch als *[ɦuaŋ]A2 realisiert wurde. Frei-


lich ist der mittelchinesische Tonverlauf weder aus den Dialekt-, noch
aus den Reimwörterbuchdaten zu erschliessen.
Von der mittelchinesischen Form ausgehend, gelangt man nun so
zur antikchinesischen, dass man zunächst die verfügbare Reimevidenz
(vgl. Graphik 62 in Kapitel 10 für die entsprechenden Kategorien) zu-
sammenstellt. Das Zeichen wáng ⦻ reimt

x an 28 Stellen im Shī Jīng 䂙㏃ausschliesslich mit anderen Zeichen


der antikchinesischen Reimkategorie yáng 䲭 (AC *-aŋ)
x an 1 Stelle im Lǎo zǐ 㘱ᆀ in einer reinen yáng 䲭-Serie
x an 31 Stellen in einem Korpus von 197 reimenden zhōu-zeitlichen
Bronzeinschriften, von denen lediglich 6 nicht zur Kategorie yáng
䲭 (AC *-aŋ) gehören.

Dieser sehr eindeutige Befund wird auch durch die interne Evidenz von
Textvarianten bzw. innersprachlichen Entlehnungen nicht untergraben.
Aus diesem Bereich notieren wir z.B. Entlehnungen innerhalb der homo-
phonophorischen Serie für

x huáng ⲷ < MC *hwang < AC *wwaŋ ‘erhaben, königlich’, an min-


destens sieben Stellen in den 13 Klassikern (shísān jīng ॱй㏃)
x wǎng ᖰ < MC *hjwangX < AC *waŋ-q ‘sich begeben zu, hingehen’,
an einer Stelle im Shī Jīng und regelmässig in den Orakelknochen-
inschriften
x wàng ᰪ < MC *hjwangH < AC *waŋ-s ‘strahlen, leuchten’, an min-
destens einer Stelle im Zhuāng zǐ 㦺ᆀ.

Letztere Form ist die exoaktive Parallele zu der in huáng ❼ < MC


*hjwang < AC *waŋ ‘funkelnd, glänzend’ belegten neutralen Verbform.
Die vor diesem Hintergrund isolierbare Wurzel *waŋ tritt im AC darüber
hinaus *k-präfigiert als guāng ‫ < ݹ‬MC *kwang < AC *k-wwaŋ ‘Glanz,
Glorie; glänzen’, dazu endoaktiv als huǎng ᱳ < MC *kwangX < AC *k-
wwaŋ-q ‘gleissend, grell’ und ggf. de-exoaktiv in Form von huáng 哴
MC *hwang < AC *N-kkᵂaŋ < *N-k-wwaŋ ‘gelb, goldgelb; Name des
Urkaisers huángdì 哴ᑍ’ auf. Darüberhinaus bestehen möglicherweise
Ablautbeziehungen zu jiǒng ⛟̚ഗ ‘klar, luzide’, jiǒng ⟢ ‘Glanz, Hel-
ligkeit’ und jiǒng ⚵ ‘klar, hell, gut sichtbar’ (alle aus < AC *k-wweŋ-q).
468 Anhang

Schliesslich ist eine sehr weitverbreitete homographe denominale Form


zu wáng – wàng ⦻ < MC *hjwangH < AC *waŋ-s ‘sich wie ein (r)echter
König verhalten, regieren’ erhalten. Auch die morphologische Evidenz
bietet demnach keine Anhaltspunkte gegen eine Ansetzung von AC *-aŋ
für diese Wurzel.
Für den Anlaut kämen zunächst zwei mögliche Rekonstruktionen in
Frage, die jedoch anhand der Rangnotierung in den Reimtabellen (III)
zugunsten der ersten Variante entschieden werden können:

MC yù ௫ (III) < *hj-


(IV) < *y-

Die beiden Typen werden heute in der phonologischen Literatur häufig


mit den Merkzeichen yún Ӂ (III) und yǐ ԕ (IV) geschieden. Beide Ty-
pen fallen allerdings im Spätmittelchineischen in */y-/ zusammen und
sind in den meisten heute gesprochenen Dialekten kaum noch zu diffe-
renzieren. Die Wahl von MC *h(j)- für diese Anlautkasse ist im übrigen
dadurch motiviert, dass es überwiegend vor *-w- auftritt, in südchinesi-
schen fǎnqiè-Angaben mit der Anlautklasse xiá ॓ (*x-) variiert und in
xiéshēng-Serien zu letzerer Klasse in einer Komplementärverteilung
steht. Vgl. etwa yúnӁ < MC *hjun :: hūn 兲 < *wun, yuán ී < *wjan ::
huán ẃ < *hwan usw. Überdies wird die Ansetzung von *h(j)- durch
sinoxenische Lesetraditionen gestützt. So erscheint z.B. im Sinojapa-
nischen (Go’on ੤丣 und Kan’on ╒丣) jeweils w-, im Sino-Vietname-
sischen v- für diese Anlautklasse. Ebenso sind frühe Transkriptionen be-
zeugt:

x Alt-Tibetisch wang (695 n.Chr.), ’wong (ca. 700 n.Chr.), wang (821
n. Chr.)
x Buddhist Hybrid Sanskrit (in Brāhmīschrift) wang
x Tangutisch *wã (11. Jh.)
x Jurchen *woŋ (1210), *waŋ (1413)
x Epigraphisches Yí ᖍ (Lolo) *vũ usw.

Schliesslich existieren Entlehnungen in tibeto-burmesische Sprachen wie


das rGyalrong (wɐŋ, waŋ), in Tai-Kadai-Sprachen wie Mulam (waŋ),
Mak (waŋ) ‘König’ usw., und allenfalls etymologische Beziehungen zu
tibetisch dbang ‘Macht, Stärke’, dbang-po ‘Gebieter, Fürst, göttlicher
Anhang 469

Herrscher’. Betrachtet man die Gruppe jener elf Lautgesetze (vgl. BAX-
TER 1992), die für den aufgrund des dialektalen Inputs angesetzten An-
laut des Wortes zunächst in Frage kämen, so ermöglicht die Gesamt-
schau der eben vorgestellten Evidenz zweifelsfrei die Auswahl des
letzten:

i. AC *g- > MC *h- / #__V[-hoch] (*/h-/ = *[ɣ] ~ [ɦ])


ii. AC *ɦ- > MC *hj- / #__V[-rund], σ=III (in Klitika)
iii. AC *x- > MC *x- / #__V (*/x-/ = *[x] ~ [h])
iv. AC *hŋ- > MC *x- / in xiéshēng-Serien mit *ŋ
v. AC *hŋʷ- > MC *x(w)- / in xiéshēng-Serien mit *ŋʷ
vi. AC *hm- > MC *x(w)- / in xiéshēng-Serien mit *m
vii. AC *hw- > MC *x(w)-
viii. AC *gʷ- > MC *g(w)- / σ=III
ix. AC *gʷ- > MC *g(w)- / σ=I, II, IV
x. AC *w- > MC *y(w)- / #__V[+hoch], σ=III
xi. AC *w- > MC *h(w)j- / #__V[-hoch], σ=III ✓

Die Rekonstruktionsmethode ist also immer dann besonders plausibel,


wenn es ihr gelingt, die sehr verschiedenen Evidenztypen widerspruchs-
frei miteinander abzugleichen. Bei dem Beispiel für ‘König’ funktioniert
dies gut, weil alle Belege in dieselbe Richtung deuten und das Zeichen
demnach in seiner Aussprache über die letzten zweieinhalbtausend Jahre
hinweg erstaunlich stabil geblieben ist, so dass die antikchinesische
Form *waŋ segmental keinen Unterschied zur modernen Aussprache in
Peking aufweist.
Oft kommt es aber zu Konflikten zwischen den verschiedenen Evi-
denztypen. Betrachten wir hierzu als abschliessendes Beispiel das Zei-
chen tǔ ൏ ‘Erde; Erdgottheit’ mit der mittelchinesischen Reimwörter-
buchangabe:

൏: Ԇ冟࠷ˈ䘿ပкаਸ
tǔ: tā lǔ qiè, tòu lǎo shǎng yī hé

Diese ist nach obigem Schema in die MC-Transkription *thuX umzuset-


zen und auch die dialektale Evidenz führt durchweg zu *thu B1. Ledig-
lich einige Mǐn-Dialekte, wo uns dieses Zeichen in den im Normalfall
gegenüber schriftsprachlichen Lesungen (wéndú ᮷䆰) archaischeren
470 Anhang

umgangssprachlichen Lesetraditionen (báidú ⲭ䆰) auch im Ton A be-


gegnet (vgl. Xiàmén A1tʰɔ 55, Fúzhōu A1tʰɔ 44), verhalten sich unerwartet.
Mittelchinesisch *th- hat zwei antikchinesische Quellen:

i. *hl- > MC *th- / in xiéshēng-Serien mit *tsy-, *tsyh-, *dzy-, *tr-,


AC
*trh-
ii. AC *hl- > MC *th- / in xiéshēng-Serien mit *sy-, *zy-, *y-

Es stellt sich deshalb die Frage, ob das Wort für ‘Erde; Erdgottheit’ als
AC *hlla-q (BAXTER 1992) oder als *ttha-q (SAGART 1999) zu rekon-
struieren sei. Betrachten wir die interne Evidenz aus der homophonopho-
rischen Serie (GSR 62), so wird schnell klar, dass jene zumindest ein Zei-
chen umfasst, das diagnostisch gegen die Lateralreihe (i.) ist:

⽮: ᑨ㘵࠷ˈ⿚俜кй䮻
shè: cháng zhě qiè, shàn mǎ shǎng sān kāi
MC *dzyæX < *ta-q ‘Erdaltar’

Andererseits existieren intern

x neuchinesische sesquisyllabische Formen in den Jìn-Dialekten wie


Tàiyuán ཚ৏ [7kheʔ-7laʔ] ‘Erdklumpen, Erde’
x paronomastische Glossen für tǔ ൏ wie jū ት < AC *k(r)a (Máozhuàn
∋ۣ zu Shī Jīng 237.1) oder kǔ 㤖 < AC *kkha-q
x frühe fǎnqiè-Sonderlesungen von tǔ ൏ wie 㹼䋸৽ = MC *hæX <
AC *ggra-q im Jīngdiǎn Shìwén ㏃ި䟻᮷,

die prima facie allesamt auf einen antikchinesischen Lateralanlaut hinzu-


deuten scheinen. In eine ähnliche Richtung weisen extern Transkriptio-
nen wie Alttibetisch lho-gong für Chinesisch tǔgōng ൏‫ < ޜ‬AC
*[hll,tth]a-kkoŋ oder Etymologien, die eine Verbindung des chinesischen
Begriffes mit tibeto-burmesischen Worten für ‘Erde’ behaupten, vgl.
Alttibetisch sa, Zhang-zhung slas, Proto-Kiranti *kha, Kachin (ɘ-)gá, ŋá,
Karen (Sgaw) 2hɔ-2khɔ, (Bwe) là-khò, Lohorong ba-kha, alle ‘Erde, Ort’
usw. Andererseits werden Proto-Austronesische Bezüge zu PAN *taq
‘Schlamm, Erde’ ins Feld geführt und dadurch untermauert, dass aus der
selben xiéshēng-Serie ein weiteres Element korrespondiert: tù ੀ < AC
*ttha-q :: PAN *u(n)taq ‘brechen, kotzen’. Schliesslich werden auch ty-
Anhang 471

pologische Universalien wie die Tatsache diskutiert, dass in der Periode


des Spracherwerbs beim Kind zwischen 1,5 und 3,5 Jahren in vielen
Sprachen eine Ersetzung von Anlautclustern des Typs KR- > TH- (engl.
christmas realisiert als [tʰisməs]) beobachtet werden kann, die in merk-
malgeometrischen Phonologiemodellen gut prognostizierbar ist.
Eine Entscheidung zwischen den beiden möglichen Proto-Formen
*ttha-q vs. *hlla-q wird daher davon abhängen, wie man die einzelnen
Evidenztypen gewichtet: Während BAXTER und SAGART mittlerweile
beide *ttha-q ansetzen, beharren einige Forscher in der VR China (z.B.
PĀN 2000) weiterhin auf einem lateralen Anlaut. Da Homophonopho-
riebeziehungen in der relativen Chronologie der Evidenztypen meist am
altertümlichsten sind, und externe Evidenz vor ihrer systematischen laut-
gesetzlichen Absicherung weitgehend irrelevant ist, wird eine vorsichti-
ge Rekonstruktion u.E. sicherlich der dentalen Variante zuneigen
müssen. Ähnliche komplexe Entscheidungen sind für viele Zeichen zu
treffen und sollten, wenn möglich ständig anhand von neueren paläo-
graphischen Daten überprüft werden. Die Rekonstruktion des Antikchi-
nesischen wird daher auf absehbare Zeit weder durch Algorithmen
vollständig zu automatisieren sein, noch ohne den ständigen Dialog mit
der Philologie und der Feldforschung betreibenden Tibeto-Birmanistik
bestehen können.

B. Verzeichnis der Graphiken

Graphik 1: Konstituentenanalyse ......................................................... 18


Graphik 2: Konstituentenklassen.......................................................... 19
Graphik 3: Funktionsklassen ................................................................ 21
Graphik 4: Lexikalische Konstituentenklassen .................................... 23
Graphik 5: Konstituentenhierarchie (Verbalgruppe) ............................ 27
Graphik 6: Konstituentenhierarchie (Nominalgruppe) ......................... 27
Graphik 7: Ebenen und Variablen ........................................................ 33
Graphik 8: Dinge .................................................................................. 45
Graphik 9: Positionen ........................................................................... 46
Graphik 10: Wirkungen .......................................................................... 46
Graphik 11: Monovalente Eigenschaftsverben ...................................... 51
472 Anhang

Graphik 12: Monovalente Denominalverben ......................................... 58


Graphik 13: Divalente Eigenschaftsverben ............................................ 63
Graphik 14: Verben der Stellung............................................................ 66
Graphik 15: Verben der Bewegung ........................................................ 66
Graphik 16: Existenzverben (dikomplementär) ..................................... 71
Graphik 17: Transitive Verben ............................................................... 73
Graphik 18: Blockierte Passivierung ...................................................... 76
Graphik 19: Kochen und Kochen ........................................................... 80
Graphik 20: Divalente Gefühlsverben .................................................... 87
Graphik 21: Trivalente Prädikate I ......................................................... 92
Graphik 22: Trivalente Prädikate II (konvers) ....................................... 93
Graphik 23: Äusserungsformen Trivalent I ............................................ 95
Graphik 24: Äusserungsformen Trivalent II .......................................... 96
Graphik 25: Existenzverben (trivalent) .................................................. 99
Graphik 26: Gefühlsverben (kausativ-trivalent; faktitiv) ..................... 103
Graphik 27: Konstituentenstrukturanalyse ........................................... 105
Graphik 28: Nominale Strukturen ........................................................ 106
Graphik 29: Stellungsgesetz ................................................................. 107
Graphik 30: Hyponymie der Lebewesen (Deutsch) ............................. 146
Graphik 31: Hyponymie der Lebewesen (AC) ..................................... 148
Graphik 32: Schnittmenge .................................................................... 160
Graphik 33: Argumentrollen in Adverbialkomplementen.................... 201
Graphik 34: Argumentrollen in Modalkomplementen ......................... 203
Graphik 35: Konstituentenstrukturanalyse (Verb) ............................... 261
Graphik 36: Verbale Strukturen ........................................................... 263
Graphik 37: Die generelle Modifikationsstruktur im AC ..................... 266
Graphik 38: Pronominaltransformation (Ebene N) .............................. 327
Graphik 39: Pronominale Modifikation (Personalpronomina) ............. 349
Graphik 40: Pronominale Modifikation (Possessivpronomina) ........... 350
Graphik 41: Struktur der Thematisierung............................................. 365
Graphik 42: Linksversetzung eines Objekts ......................................... 365
Graphik 43: Linksversetzung des Subjekts .......................................... 368
Graphik 44: Spaltsatzkonstruktion (Objekt) ......................................... 370
Graphik 45: Sperrsatzkonstruktion ....................................................... 371
Graphik 46: Spaltsatzkonstruktion (Subjekt) ....................................... 374
Graphik 47: Pseudokonditionalkonstruktion ........................................ 375
Graphik 48: Linksversetzung des Prädikats ......................................... 377
Graphik 49: Verhältnisthemen ............................................................. 386
Anhang 473

Graphik 50: Karte der angenommenen Verbreitungsbewegungen


asiatischer Sprachen ......................................................... 402
Graphik 51: Konstruktion der Silbenstruktur im Qìeyùn ࠷丫 ............425
Graphik 52: Kategorienhierarchie der spät-MC Reimwörterbücher ....427
Graphik 53: MC-Anlautkategorien und ihre Transkription..................430
Graphik 54: Anlaute des modernen Hochchinesischen........................434
Graphik 55: Reime des modernen Hochchinesischen ..........................435
Graphik 56: Maximale Silbe im Modernen Hochchinesischen............436
Graphik 57: Entstehung der mittelchinesischen Tonregister ................436
Graphik 58: Antikchinesische Tonogenese ..........................................437
Graphik 59: Silbenstruktur des Antikchinesischen ..............................440
Graphik 60: Silbenkomplexität im Antikchinesischen.........................442
Graphik 61: Segmentinventar des Antikchinesischen ..........................443
Graphik 62: Die Reimkategorien des Antikchinesischen nach
BAXTER (1992) und SAGART (1998) ................................ 445
Graphik 63: Übersicht Affixe....................................................... 448–449
Anhang
Graphik 1: Aussprache des Wortes ‘König’ in acht
sinitischen Sprachen ......................................................... 465
Graphik 2: Einträge für ‘König’ in mittelchinesischen
Reimwörterbüchern bzw. -tafeln und ihre Umsetzung .... 466

C. Verzeichnis der Tabellen

Tabelle 1: Kasus im AC ...................................................................... 43


Tabelle 2: Inhaltliche Verbkategorien................................................. 44
Tabelle 3: Argumentrollen und AC-Kasus.......................................... 47
Tabelle 4: Tiefenstrukturelle Valenz................................................... 50
Tabelle 5: Oberflächenstrukturelle Komplemente .............................. 50
Tabelle 6: Namensformen der Herrscher ..........................................139
Tabelle 7: Adelstitel und kanonischer Titel ......................................140
Tabelle 8: Geburtsrangbezeichnungen ..............................................141
Tabelle 9: Männliche Namensformen ..............................................143
Tabelle 10: Namen adliger Frauen (Herrschergattinnen)....................144
Tabelle 11: Definitheitsstufen .............................................................191
474 Anhang

Tabelle 12: Personalpronomina ........................................................... 330


Tabelle 13: Interaktionsform und Einsatz von Pronomina .................. 333
Tabelle 14: Das System der Personalpronomina ................................. 335
Tabelle 15: Satzposition und Betonungsstrategie ............................... 344
Tabelle 16: Betonungsstrategie (Demonstrativa) ................................ 347
Tabelle 17: Fusionskombinationen bei trivalenten Verben (Typ I) .... 359
Tabelle 18: Fusionskombinationen bei trivalenten Verben (Typ II) ... 360

D. Verzeichnis der Stellen

Diverse

Gōngsūn Lóng ...................... 314 Máo 275 .................................. 97


Guǎn Zǐ 39.8 ........................... 80 Shāng Jūn Shū ....................... 188
Huái Nán Zǐ (HNZ) 92, 117, 118 Shǐ Jì......... 36, 238, 255,296, 339
Lǚ Shì Chūn Qiū (LSCQ) ........... Shuì Yuàn.............................. 296
93, 107, 108, 182 Zhànguó Cè ..................... 92, 188
Lùn Héng 14 ........................... 36

Hán Fēi Zǐ

7 .......................................... 116 25........................................... 194


9 .................................. 183, 388 32........................... 124 (2x), 251
19 .......................................... 121 34........................................... 108
20 .......................................... 194 38................................... 116 (2x)
22 ............................................ 93 49........... 107, 116, 126, 211, 225

Lǐ Jì

5.40 ....................... 153, 235, 236 32.20...................................... 212


5.41 ................. 90, 254, 295, 322 43 (Dà Xué) ............. 55, 139, 276
11 (Zhōng Yōng) ........................
252, 259, 260, 302, 311, 366
Anhang 475

Lùn Yǔ

2.9 ................................. 281, 282 12.11.......................... 60, 98, 305


7.14 ....................................... 265 13.3..............................................
7.26 ....................................... 365 255, 268, 305, 318, 319, 378,
8.19 ....................................... 377 394
9.6 ......................................... 361 16.2........................................ 153
9.12 ....................................... 377 18.6................................ 245, 304
9.25 ....................................... 313 18.7........................................ 366
11.24 ..................................... 312 18.8........................................ 375
12.7 ....................................... 303

Mèng Zǐ

1A.1 ................ 98, 264, 273, 305 2B.9 ....................................... 303


1A.2 ........................................ 69 2B.10 ............................... 99, 382
1A.3 ............................................ 2B.11 ............................. 264, 273
135, 242, 274, 283, 293, 294, 2B.12 ............................. 267, 278
312, 391 3A.2 ....................................... 187
1A.4 ........................................ 75 3A.3 ....................................... 383
1A.5 ............................................ 3A.4 .............................................
274, 278, 283, 288, 313, 353 77, 78, 97, 123, 189, 229, 264,
1A.7 ............................................ 274, 281
75, 90, 115, 119, 120, 124, 3A.5 ............................... 307, 393
195, 207, 275, 278, 290, 323, 3B.2 ............................... 288, 292
338, 386, 392 3B.3 ....................................... 206
1B.2......................................... 70 3B.9 ....................... 177, 338, 366
1B.5................................. 95, 393 4A.2 ....................................... 137
1B.7................................. 77, 313 4A.9 ....................................... 178
1B.15........................................... 4A.14 ..................................... 374
72, 102, 206, 237, 244, 245, 4A.28 ............................. 112, 114
246, 278, 288, 313, 353, 372 4B.3 ....................................... 275
1B.16..................................... 187 4B.6 ............................... 311, 366
2A.2 ...................... 124, 273, 369 4B.28 ..................... 225, 230, 234
2A.2 ...................... 380, 393, 394 4B.28 (adaptiert) ................... 313
2B.1....................................... 314 5A.1 ............................... 336, 341
2B.2....................... 195, 386, 395 5A.3 ....................................... 392
2B.8......................... 98, 207, 229
476 Anhang

5A.5 ............................................ 6B.7 ....................................... 122


97, 123, 221, 237, 247, 304, 6B.13 ..................................... 380
339, 343, 384 7A.7 ....................................... 394
5A.6 .............................. 321, 396 7A.12 ..................................... 322
5B.4....................................... 187 7A.23 ................. 86, 96, 218, 229
5B.6............................... 387, 391 7A.24 ............................... 86, 381
5B.12..................................... 353 7A.45 ..................................... 388
6A.3 ...................................... 121 7B.1 ....................................... 289
6A.4 ...................... 307, 308, 375 7B.2 ....................................... 384
6A.6 ...................... 353, 354, 366 7B.8 ....................................... 382
6A.7 .............................. 118, 396 7B.14 ..................................... 222
6A.8 ...................................... 396 7B.24 ..................................... 390
6A.10 .................................... 371 7B.29 ..................................... 380
6A.14 .................................... 392

Mò Zǐ

14.11 ..................................... 353 45........................................... 251


17A .............................................
137, 154, 158, 215, 238, 243,
249, 257, 270, 272

Xún Zǐ

9 .... 80, 109, 153, 254, 258, 319 23........................................... 385


17 .......................... 121, 153, 254

Zuǒ Zhuàn (Chūn Qiū CQ; Gōng; Gǔ)

Āi 15 fù 3 Zuǒ......................... 37 Dìng 3.4 Zuǒ ......................... 347


Chéng 2.2 Zuǒ ...................... 348 Dìng 9 fù 3 Zuǒ ....................... 68
Chéng 4.5 Zuǒ ................ 65, 208 Huán 2 fù Zuǒ ....................... 289
Chéng 5 fù Zuǒ ..................... 317 Huán 2.6 Zuǒ................. 104, 368
Chéng 6.4 Zuǒ .............. 136, 242 Huán 3.6 Zuǒ......................... 351
Chéng 11.2 Zuǒ ...................... 37 Huán 17 fù Zuǒ ..................... 351
Chéng 13.4 Zuǒ .................... 352 Mǐn 1.6 Zuǒ........................... 207
Chéng 15.11 Zuǒ .......... 104, 106 Wén 1.10 Zuǒ ........................ 342
Chéng 17.13 Zuǒ .................. 103 Wén 2.1 Zuǒ .......................... 337
Anhang 477

Wén 2.3 Zuǒ ......... 289, 292, 320 Xiāng 9.6 Zuǒ ............... 336, 341
Wén 3.5 Zuǒ ......................... 297 Xiāng 11.1 Zuǒ ..................... 360
Wén 3.6 Zuǒ ......................... 124 Xiāng 14 fù 3 Zuǒ ................. 288
Wén 5.3 CQ ............................ 72 Xiāng 14.3 Zuǒ ..................... 347
Wén 9.1 CQ ............................ 44 Xiāng 14.4 Zuǒ ..................... 354
Wén 10.3 Zuǒ ....................... 103 Xiāng 15 fù 3 Zuǒ . 222, 339, 344
Wén 11.6 Zuǒ ....................... 109 Xiāng 17.7 Zuǒ ............. 135, 270
Wén 12.1 CQ .......................... 72 Xiāng 22 fù 2 Zuǒ ................. 271
Wén 13 fù 2 Zuǒ ................... 316 Xiāng 22.6 Zuǒ ....................... 88
Wén 18.6 Zuǒ ....... 229, 241, 256 Xiāng 25 fù 2 Zuǒ ................. 110
Xī 3 fù Zuǒ............................ 342 Xiāng 27 fù 2 Zuǒ ......... 112, 114
Xī 3.4 Zuǒ ............................. 296 Xiāng 27.5 Zuǒ ..................... 347
Xī 4.4 Zuǒ ............................. 347 Xiāng 28.6 Zuǒ ..................... 340
Xī 5 fù 2 Zuǒ......................... 347 Xiāng 30 fù 1 Zuǒ ................. 361
Xī 5.5 Gǔ ...................... 136, 243 Xiāng 30.7 Zuǒ ..................... 340
Xī 5.9 Zuǒ ............................. 131 Xiāng 31 fù Zuǒ .................... 376
Xī 8 fù 2 Zuǒ......................... 316 Xiāng 31 fù 7 Zuǒ .......................
Xī 9 fù 3 Zuǒ........... 78, 288, 291 246, 247, 268, 321, 367
Xī 11 fù 1 Zuǒ....... 241, 252, 368 Xiāng 31 fù 8 Zuǒ ................. 356
Xī 17 fù 1 Zuǒ......................... 38 Xiāng 31 fù 9 Zuǒ ................. 104
Xī 17.4 Zuǒ ............................. 74 Xuān 2.4 Zuǒ...............................
Xī 19 fù 1 Zuǒ....................... 219 42, 65, 112, 135, 154, 231,
Xī 19.3 Zuǒ ........................... 124 242, 245, 281, 301, 313, 321
Xī 19.4 Zuǒ ........................... 258 Xuān 4 fù Zuǒ ....................... 196
Xī 21 fù Zuǒ.................. 252, 260 Xuān 11.2 Zuǒ......................... 75
Xī 24 fù 1 Zuǒ............... 109, 348 Xuān 11.7 Zuǒ............... 338, 342
Xī 24 fù 2 Zuǒ (Shī-Zitat) ..... 352 Xuān 12.3 Zuǒ....................... 108
Xī 24.4 CQ ............................ 103 Xuān 13 fù Zuǒ ..................... 337
Xī 25 fù 1 Zuǒ....................... 317 Xuān 14.6 Zuǒ....................... 351
Xī 25 fù 2 Zuǒ....................... 283 Xuān 15.4 Zuǒ............... 112, 114
Xī 26.2 Zuǒ ........................... 131 Xuān 17.6 Zuǒ....................... 348
Xī 32.5 Zuǒ ........................... 229 Xuān 18.9 Zuǒ....................... 289
Xī 33.8 Zuǒ ........................... 122 Yǐn 1 fù 1 Zuǒ ................... 37, 38
Xiāng 4 fù 1 Zuǒ ................... 340 Yǐn 1.2 Zuǒ ........................... 154
Xiāng 4.6 Zuǒ ....................... 338 Yǐn 1.3 Zuǒ .................................
Xiāng 7.9 Zuǒ ......................... 39 154, 219, 270, 355, 356
Xiāng 8.8 Zuǒ ......................... 43 Yǐn 1.3 Gōng ........................... 86
Xiāng 9 fù 1 Zuǒ ................... 338 Yǐn 1.4 Zuǒ ........................... 108
478 Anhang

Yǐn 1.5 Zuǒ ........................... 358 Zhāo 26.7 Zuǒ ....................... 103
Yǐn 1.6 CQ .............................. 43 Zhāo 27.3 Zuǒ ......... 41, 315, 341
Yǐn 3 fù 2 Zuǒ....................... 351 Zhuāng 3.3 Gǔ....................... 108
Yǐn 3.5 Zuǒ ............................. 72 Zhuāng 4 fù Zuǒ .................... 369
Yǐn 9.7 Zuǒ ............................. 88 Zhuāng 11.4 Zuǒ ................... 310
Yǐn 11 fù 4 Zuǒ..................... 356 Zhuāng 12.5 Zuǒ ................... 218
Yǐn 11.1 Zuǒ ........................... 74 Zhuāng 16 fù Zuǒ .................. 337
Yǐn 11.4 Zuǒ ......................... 359 Zhuāng 19 fù 1 Zuǒ . 67, 351, 358
Zhāo 1 fù 5 Zuǒ ............ 336, 342 Zhuāng 22.3 Zuǒ ................... 348
Zhāo 7.1 Zuǒ ......................... 155 Zhuāng 28 fù Zuǒ .................... 38
Zhāo 8 fù 2 Zuǒ .................... 360 Zhuāng 28.1 Gǔ................. 67, 85
Zhāo 10.5 Zuǒ (Shī-Zitat) ..... 337 Zhuāng 28.4 Zuǒ ........... 340, 358
Zhāo 13.8 Zuǒ ....................... 352 Zhuāng 31.6 CQ ...................... 63
Zhāo 15.5 Zuǒ ......................... 36 Zhuāng 32 fù Zuǒ .................. 358
Zhāo 20.3 Zuǒ ......................... 36 Zhuāng 32.5 Zuǒ ............. 38, 348
Zhāo 25.2 Zuǒ ......................... 40

E. Index

A Adverbialphrase ...................... 32
– modale ................................ 211
A/B, Prosodietyp................... 440 Adverbialprädikat.................. 294
Ablaut ................... 132, 412, 462 Adverbialrelativsatz .............. 166
Absolutiv .............. 49, 55, 63, 99 Äusserung.............. 18, 24, 27, 30
Abstraktion ............... 48, 50, 149 Äusserungsebene ..................... 17
Adelstitel ............................... 141 Äusserungsform, minimale ..... 31
Adjektiv .................. 20, 126, 175 Affigierungsprozess .............. 432
Adjunkt . 106, 107, 126, 159, 226 Affix ...................................... 446
– genitivisches ...................... 107 Agens .......................... 49, 63, 77
– verbalattributives ....... 107, 124 Agentien, mehrere ................. 456
Adjunktion, verbalattributive 161 aktiv....................................... 455
Adnominalsatz ..............