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Handbuch Stadtsoziologie

Frank Eckardt (Hrsg.)

Handbuch Stadtsoziologie
Herausgeber
Frank Eckardt Bernhard Schmidt
Voestalpine Langenhagen, Deutschland
Linz, Österreich

Springer VS
ISBN 978-3-531-17168-5 ISBN 978-3-531-94112-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-531-94112-7

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Inhalt

Frank Eckardt
Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt ................................. 9

Referentielle Ausgangspunkte

Jan Kemper
Max Weber .................................................................. 31

Markus Schroer & Jessica Wilde


Emile Durkheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Matthias Junge
Georg Simmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Eike Hennig
Chicago School .............................................................. 95

Roland Lippuner
Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Benno Werlen
Anthony Giddens ............................................................ 145

Stefan Kipfer, Parastou Saberi & Thorben Wieditz


Henri Lefebvre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Julia Lossau
Spatial Turn ................................................................. 185

Konzeptionelle Debatten

Walter Siebel
Die europäische Stadt ....................................................... 201
6 Inhalt

Kathrin Wildner
Transnationale Urbanität ..................................................... 213

Johanna Hoerning
Megastädte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Frank Eckardt & Johanna Hoerning


Postkoloniale Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Sybille Frank
Eigenlogik der Städte ........................................................ 289

Detlef Sack
Urbane Governance ......................................................... 311

Annette Harth
Stadtplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Bernhard Schäfers
Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

Themenfelder der Stadtsoziologie

Andreas Farwick
Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

Annika Müller
Soziale Exklusion ............................................................ 421

Olaf Schnur
Nachbarschaft und Quartier ................................................. 449

Jürgen Hasse
Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

Oliver Frey
Städtische Milieus ........................................................... 503

Wolf-Dietrich Bukow
Multikulturalität in der Stadtgesellschaft ..................................... 527
Inhalt 7

Katharina Manderscheid
Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

Detlef Baum
Soziale Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

Bernhard Frevel
Kriminalität und lokale Sicherheit ............................................ 593

Rainer Kilb
Die Stadt als Sozialisationsraum .............................................. 613

Nina Schuster
Queer Spaces ................................................................ 633

Andrej Holm
Gentrification ............................................................... 661

Janet Merkel
Kreative Milieus ............................................................. 689

Rauf Ceylan
Islam und Stadtgesellschaft .................................................. 711

Paula Marie Hildebrandt


Urbane Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721

Michael Spörke
Die behindernde/behinderte Stadt ........................................... 745

Martin Klamt
Öffentliche Räume ........................................................... 775

Constanze A. Petrow
Städtischer Freiraum ......................................................... 805

Autorenangaben ............................................................ 839


Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt
Frank Eckardt

Die Beschäftigung mit der Stadt in der Soziologie fällt mit dem Entstehen der Disziplin
als solcher zusammen und scheint eine der Voraussetzungen überhaupt gewesen zu sein,
sich mit der Dynamik moderner Gesellschaften wissenschaftlich auseinanderzusetzen.
Die Reflexion der Bedeutung des urbanen Raums für das Entstehen der Moderne hat von
daher die Gründungsväter der Soziologie (Weber, Simmel, Durkheim) und insbesonde-
re ihre Weiterentwicklung zu einer empirischen Wissenschaft durch die Chicago School
maßgeblich beeinflusst. Aus diesem Grunde scheinen die Begriffe Stadt und Gesellschaft
nahezu synonym geworden zu sein. Das Entstehen einer Stadtsoziologie als Bindestrich-
Disziplin hat diesen Gründungszusammenhang von moderner Gesellschaftswissenschaft
und der Entwicklung der modernen Großstadt in den Hintergrund gerückt. In der So-
ziologie nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem sich die Stadtsoziologie als Teildisziplin
national und international konstituierte, wurde die Stadt mehr oder weniger auf die me-
thodische Dimension sozialwissenschaftlichen Forschens reduziert. Die Stadt war in ers-
ter Linie das Spiegelbild der Gesellschaft, in der Konflikte und soziale Ungleichheiten
sich abbildeten. Das Städtische als solches, die Erfahrung also in einer städtischen Ge-
sellschaft, aufzuwachsen, zuzuwandern, sich dort aufzuhalten und zu orientieren, diese
sich anzueignen und in ein vielfältiges und widersprüchliches Verhältnis zu ihr zu tre-
ten, konnte mit einem Stadtverständnis, in dem Städte lediglich die Bühne für die Gesell-
schaft darstellen, nicht mehr thematisiert werden. Doch die heutigen Debatten um die
Stadt und die Bedeutung der räumlichen Dimension für die Erforschung und das Ver-
ständnis des Gesellschaftlichen weisen auf die große Komplexität hin, mit der sich die
Soziologie wieder der Stadt annähert.
Heute, in Zeiten der „Krise der Soziologie“, wie sie prominente Vertreter des Fachs
diagnostizieren, wird die Stadtsoziologie mit der Frage konfrontiert, welche Bedeutung
sie haben kann, wenn tatsächlich die übergroße Mehrheit der Menschen in Städten lebt
und es kaum mehr relevante soziologische Forschungsthemen außerhalb von Städten
geben kann. Diese grundsätzliche Frage an die Stadtsoziologie ist Motivation für eine
grundlegende Rekapitulation des Faches und für dieses Handbuch. Hierbei soll auf die
Frage der möglichen Bedeutung der Stadtsoziologie in einer nahezu vollkommen urba-
nisierten Welt mit der Annahme geantwortet werden, dass die Selbstverständlichkeit des
Städtischen die eigentliche Bedeutung der gesellschaftlichen Urbanität verdeckt und da-
durch auch mögliche Wandel in der Struktur städtischer Gesellschaften nicht erkennbar
werden. Die Stadtsoziologie beharrt deshalb darauf, dass das Leben in einer städtischen

F. Eckardt (Hrsg.), Handbuch Stadtsoziologie,


DOI 10.1007/978-3-531-94112-7_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
10 Frank Eckardt

Gesellschaft als eine besondere Erfahrung weiterhin als Forschungsgegenstand und nicht
lediglich als Forschungsrahmen zu betrachten ist.
Mit dem überholten Ansatz, die Stadtsoziologie über ihren Forschungsgegenstand zu
definieren, ging bislang die konzeptionelle Herausforderung einher, sich der „Stadt“ in
ihrer Bedeutungsvielfalt und Vielschichtigkeit von unterschiedlichen Perspektiven zu nä-
hern. Wenn sich aber nun die Stadtsoziologie nicht mehr durch ihren Forschungsgegen-
stand definieren kann, weil dieser omnipräsent geworden ist, stellt sich die Frage, ob sich
der Begriff des Städtischen, ja der Stadt überhaupt, noch rechtfertigt. Da der Begriff der
„Stadt“ kein diskursiv erzeugter ist, der lediglich auf wissenschaftliche Referenzen oder
aus der Deutungshoheit einzelner Fachdisziplinen zurückzuführen ist, bedarf es einer
konzeptionellen und forschungsbezogenen Fundierung der Stadtsoziologie. Die Erfah-
rung des städtischen Lebens wird öffentlich reflektiert, und die Soziologie der Stadt ist
Teil dieses Prozesses. Ziel des vorliegenden Handbuches ist es, die Stadtsoziologie wieder
näher an die öffentliche Diskursivität heranzuführen. Dazu ist eine Neuausrichtung der
Stadtsoziologie in ihren theoretischen Ausgangspunkten, den disziplinären und transdis-
ziplinären Anschlüssen und längerfristigen und aktuellen Themengebieten darzustellen,
notwendig. Das Handbuch Stadtsoziologie will für alle interessierten Leser einerseits ein
profundes Überblickswissen zu den einzelnen behandelten Themen anbieten und an-
dererseits auch aktuelle Kontroversen und verschiedene Interpretationen zu den unter-
schiedlichen Positionen in der Stadtsoziologie wiedergeben.
Das Handbuch geht von der Tatsache aus, dass die Stadtsoziologie ein nur teilweise
institutionalisiertes Forschungsfeld der Soziologie ist und dass sie ihre theoretische Viel-
falt und Attraktivität durch eine hohe Aufmerksamkeit für andere Teildisziplinen der
Soziologie und andere Disziplinen (Geografie, Politikwissenschaften, Architekturtheorie,
Philosophie, Migrations- und Genderstudies, Kulturwissenschaften etc.) verdankt. Aus
diesem Grunde werden auch Themen und Autoren zu Wort kommen, die teilweise nicht
im engeren Sinne der (Stadt-)Soziologie zugerechnet werden können. Nicht zuletzt da-
durch soll das Handbuch auch für Leser in anderen (Teil-)Disziplinen interessant und für
die Lehre in dem breiten Feld der Stadtforschung, Stadtplanung und Sozialwissenschaf-
ten einsetzbar sein.
An dieser Stelle soll einleitend anhand einiger illustrativer Darlegungen die transdiszi-
plinäre Verortung der Stadtsoziologie ansatzweise beschrieben werden, die sich zunächst
in einer längeren Tradition in der Beschäftigung mit der Frage nach dem Städtischen zu
behaupten hätte. In der rund sechstausendjährigen Erfahrung der menschlichen Zivili-
sation mit dem Zusammenleben in Städten ist die wissenschaftliche Reflexion, wie sie
mit der Soziologie begonnen hat, eine relativ neue Art der Auseinandersetzung. Hat sie
einen neuen Erkenntnisstand auf die Frage nach der Bedeutung der urbanen Erfahrung
erzielen können ? In einem ersten Argumentationsschritt wird deshalb die Diskussion
um die Tradition der Stadtforschung in der vorwissenschaftlichen oder allgemein geis-
tigen Diskursivität darzustellen sein. Rom ist hierfür das paradigmatische Vorbild. Mit
der Beobachtung der modernen Großstadt, für die die Beobachtungen Engels (1970) zu
Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt 11

Manchester und der Soziologie in Chicago maßgeblich waren, dürfte dann erkennbar
werden, in welcher Weise die Soziologie Neuland in der Stadtbetrachtung betritt, welche
andere Herangehensweisen und neuen Vorannahmen damit verbunden waren, dass die
Stadt nun im Lichte der objektiven Erkenntnis und einer naturalistischen Attitüde be-
schrieben werden soll. Anschließend an kritischen Debatten über die soziale Konstruk-
tion von Erkenntnissen und der notwendigen Akzeptanz der Multiperspektivität in der
Soziologie wird hier schließlich die Kernthese vertreten, dass die Stadtsoziologie im Zu-
sammenhang mit einer sich neu ausrichtenden Wissensgesellschaft sich nur als ein trans-
disziplinäres Vorgehen entwickeln lässt.

Die urbane Erfahrung

B: „Qui est (…) iste tandem urbanitatis color ?“


C: „Nescio (…) tantum esse quondam scio“
(Cicero, Brut. 171)

In diesem Dialog Ciceros lautet die Frage – ketzerisch gestellt – : welche Farbe hat denn
diese Urbanität, von der Du immer redest, Cicero ? Die weise Antwort lautet: Das weiß
ich auch nicht, aber ich weiß, dass sie eine hat. Der römische Politiker, berühmt wegen
seiner brillanten Redekunst, befand sich damals in keiner leichten Situation. Nach und
nach untergrub der erfolgreiche Feldherr Julius Cäsar die Grundrechte des Senats und
schuf damit die Basis für seine spätere Alleinherrschaft. Wenn Cicero dagegen opponier-
te, konnte er leicht verdächtigt werden, das Ansinnen Cäsars nur deshalb zu torpedie-
ren, weil er sich selbst mehr Macht aneignen wolle. Die Berufung auf die Götter schien
schließlich ebenso wenig zu wirken wie das Beschwören der tradierten Römischen Re-
publik. Ciceros Argument ist vielmehr: Eine Alleinherrschaft passe nicht zu der Art und
Weise, wie man in Rom zusammen lebe. Das Ideal einer sich selbst regierenden Stadt, die
sich an Tugenden orientiert über das Zusammenleben verständigt, das ist der Grundge-
danke Ciceros, dem „Gralshüter republikanischer Werte“ (Reinhardt, 2008, 16).
Doch das Festhalten an der Idee einer republikanischen Stadt, im ursprünglichen
Sinne, dass die Stadt eine „res publica“ – also eine Angelegenheit der Öffentlichkeit – sei,
dies ist Cicero noch bei der Aufdeckung der berühmten Verschwörung des Catilina ge-
lungen, aber auch er konnte mit all seiner Eloquenz und Rhetorik nicht die weitere Ent-
Republikanisierung Roms verhindern. Denn Rom war schon lange nicht mehr der Ort
einer sich überschaubar und abgrenzbar gestaltenden Stadt. Rom war Chaos, zerrissen
zwischen den Ansprüchen einer antiken Weltmacht und den Notwendigkeiten lokaler
Selbstverwaltung. Der Dichter Vergil beschreibt sie in einem Brief an Meliboeus:

„urbem quam dicunt Romam, putavi


Stultus ego huic nostrae similem, quo saepe solemus
12 Frank Eckardt

Pastores ovium teneros depellere fetus.


Sic coanibus catulos simlies, sic matribus haedos
Noram, sic parvis compore magna solebam
Verum haes tantum alias inter caput extulit urbes
Quantum lenta solent inter viburna cupressi
(Vergil., ecl. 1,19 – 25)

Von der Stadt, die sie Rom nennen, dachte ich Dummkopf, sie sei unserem Städtchen hier
ähnlich, in das wir Hirten gewöhnlich die zarten Lämmer hinabtreiben. So wusste ich, dass
Welpen den Hunden, Zicklein den Geißen ähneln, so pflegte ich Großes mit Kleinem zu ver-
gleichen. Aber diese hat ihr Haupt so hoch über andere Städte erhoben wie Zypressen über
biegsame Wandelröschensträucher (Übers. d. A.)

Dieses Rom ist schon lange nicht mehr jene Polis, die Cicero, der sich sehr um die Über-
tragung der griechischen Philosophie ins Lateinische verdient gemacht hat, im Sinne
hatte. Nähe und Überschaubarkeit waren die unausgesprochenen Vorannahmen jener
athenischen Demokratie, die sich in der Metropole des Römischen Reiches schlicht-
weg als verstaubte Utopie herausstellte. Versorgungskrisen, eine wachsende soziale Kluft,
Aufstände, Mord und Totschlag, Brände, Zerstörungen, Massenhinrichtungen und Kon-
fiskationen, Besetzungen, wirtschaftliche und politische Interessenkonflikte und eine
überforderte Ordnungsmacht prägten das Angesicht Roms, begleitet von relativ kurzen
Ruhephasen. Rom war multiethnisch und multikulturell, sozial in vieler Hinsicht gespal-
ten, und es gab keine gemeinsamen gesellschaftlichen Orientierungspunkte. Zugleich
überzeichnet diese Problemskizze die Alltagslage der Metropole. Die Stadt wuchs, baute
Häuser, richtete soziale und gebaute Infrastruktur ein, die zum Teil noch heute sichtbar
ist wie die Aquädukte, und bildete eine reiche kulturelle Hinterlassenschaft aus, die auch
dem heutigen Leser wie hier mit den Texten von Cicero und Vergil als Referenzpunkt
dienen kann (vgl. Kolb, 2009).
Rom ist das Paradebeispiel dafür, dass mit dem „Städtischen“ etwas einher geht, das
sich nicht mehr nur in Abgrenzung zum Ländlichen verstehen lässt und das im erheb-
lichen Maße die Begrifflichkeiten der Sprache und des damaligen Verständnisses von
Gesellschaft und Zusammenleben zu übersteigen scheint. Sich in der Stadt zu orientie-
ren und somit auch überleben zu können, war eine alltägliche Herausforderung für die
Bewohner Roms. Die Erfahrung des Städtischen ließ sich weder damals noch heute auf
eine Essenz reduzieren. Rot war die Stadt vom vielen Blut, das um sie vergossen wurde.
Schwarz von den vielen Bränden. Grau sicherlich, von dem Staub der Straßen und des
Drecks. Aber die Säulen und Tempel waren bunt, wie wir heute wissen. Das Alles und
vieles mehr, je nach persönlicher Perspektive, muss für Cicero die Farbe der Stadt gewe-
sen sein, die er nicht benennen konnte. Das Leben in der Stadt war etwas, das für ihn
nicht lediglich die sichtbare, gebaute Stadt betraf. Jedoch wußte Cicero auch nicht, wie
man diese nicht-sichtbare, gelebte Urbanität in einfachen Worten hätte beschreiben kön-
Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt 13

nen. Die komplexe Wirklichkeit Roms konnte er so wenig in Worte fassen, wie es jenen
Millionen Zuwanderern im Laufe der Jahrhunderte ebenso nicht gelang, ihre Erfahrun-
gen aus der beschaulichen Kleinstadt und dem Land mit ihren Leben in Rom zu verglei-
chen. Der Stadt und auch dem Diskurs über die Stadt fehlt es seit zwei Jahrtausenden an
einer sich leicht zu erschließenden und konsensuellen Begrifflichkeit und einem Ver-
ständnis, das sich als ein allen zugänglicher Duktus abbilden ließe.

Die Städte der Zivilisation

Die Beschreibung und auch die gesellschaftliche Ausprägung einer entsprechenden Hal-
tung gegenüber der städtischen Erfahrung von Ambivalenz und Konflikt und zugleich
von Innovation und Synergie hat sich nach dem Untergang Roms lange als irrelevant
betrachten lassen. Dies ist zumindest für den westlichen Kulturkreis der Fall. Rom war
eine spezifische Form der urbanen Menschheitserfahrung, die man als großstädtisch be-
schreiben kann, die aber nicht einzigartig ist, auch wenn der Einwand zu verfolgen ist,
dass Großstädte nicht mit allen Formen von Städten gleichzusetzen sind. Über die Groß-
städte und Metropolen der Antike schreibt der Althistoriker Christian Meier: „Glanz
und Elend, Elite und Masse, Entscheidung und das Anheimgegebensein an die großen
Strömungen und Moden der Zeit, und in alledem Faszination und Schauder: Schwer zu
entwirren, was da alles zusammenkommt und in reizvollen Vorstellungen zusammenge-
dacht wird.“ (Meier, 2006, S. 8)
Gegen die Behauptung einer quasi epochenübergreifenden Problemstellung, die sich
intellektuell wie gesellschaftlich durch das Entstehen einer metropolitanen Urbanität
herauskristallisiert hat, lässt sich einwenden, dass eine solche Perspektive menschliche
Geschichte jenseits der Erfahrung des Städtischen ignoriere oder nicht genügend in Be-
tracht ziehe. Dieser Einwand wäre nur dann nachzuvollziehen, wenn unter anderen ge-
sellschaftlichen und historischen Umständen das Städtische von den Bewohnern und
Beobachtern genuin und kategorisch anders erfahren würde. Dies mag zu einem gewis-
sen Grade auch so sein und den Differenzen aufgrund der spezifischen Kontextualität ur-
banen Lebens wäre auch forschend nachzugehen, dennoch lässt sich gerade auch durch
das Gegenüberstellen von Berichten aus anderen geschichtlichen Zusammenhängen zei-
gen, dass die Relevanz des Städtischen – wie es sich vor allem, aber eben nicht nur in den
Metropolen zeigt – nicht hintergehbar ist. Die urbane Erfahrung ist historisch für die
Entwicklung der Gesellschaften bis heute von konstituierender Bedeutung.
Um dies zu zeigen, mögen zwei Beispiele aus der modernen Geschichte angeführt
werden, die die Wichtigkeit einer solchen Problemsicht unterstreichen: die industriellen
Städte Europas und Nordamerikas im 19. Jahrhundert und die Mega-Städte des 21. Jahr-
hunderts. „Da in diesen großen Städten die Industrie und der Handel am vollständigsten
zu ihrer Entwicklung kommen, so treten also auch hier ihre Konsequenzen in Bezug auf
das Proletariat am deutlichsten und offensten hervor“, so schreibt Friedrich Engels (1970)
14 Frank Eckardt

über das London des 19. Jahrhunderts in seinen Eindrücken über das Leben der engli-
schen Arbeiterklasse. „Hier ist die Zentralisation des Besitzes auf den höchsten Punkt
gekommen; hier sind die Sitten und Verhältnisse der guten alten Zeit am gründlichs-
ten vernichtet.“ (28) Die Stadt ist der Ort der Kontraste für Engels. Reichtum und Elend
liegen neben einander. Das Augenmerk liegt auf der einsamen Masse und der Entfrem-
dung: „Hier ist der soziale Krieg, der Krieg aller gegen alle offen erklärt.“ (30) Die Stadt
im Industriezeitalter ist für Engels wie für viele andere Zeitgenossen durch eine stren-
ge Klassentrennung gekennzeichnet. Entgegen einer schablonenhaften Wahrnehmung
dieser Klassenunterschiede war sich Engels aber sehr wohl bewusst, dass das Leben in
Manchester, welches er aus eigener Erfahrung kannte (vgl. Whitfield, 1988) und das dem
Zeitalter des Frühkapitalismus seinen Namen gegeben hat, vielschichtig und vielseitig
war, wenngleich er das Elend der industriellen Großstädten in den Vordergrund rückte.
Die Arbeiterschaft der großen Städte lebte für Engels in einer „Stufenleiter verschiede-
ner Lebenslagen“ (ebd.), und wie einst der römische Urbanismus als eine eindeutig neue
Qualität menschlicher Erfahrung verstanden wurde, so kann dies auch für das Entstehen
der industriellen Stadt behauptet werden.
Die Reflexion der modernen Großstadt schließt einerseits an einen alten Topos an
und thematisiert zugleich eine neue historische Erfahrung. Die Besonderheit des Urba-
nen als einer beschreibbaren städtischen Erfahrung hat sich nie erledigt, sondern sich
vielmehr in historisch spezifischer Form immer wieder neu manifestiert. Wenn man dem
Städtischen keinen ontologischen oder anthropologischen Stellenwert – im Sinne einer
„Urban Anthropology“ (vgl. Low, 1996) – geben will, dann lässt sich gesellschaftswissen-
schaftlich nach den Bedingungen dieser Erfahrung fragen und das Städtische als eine
Leitfrage für das Verständnis der Vorbedingungen für das Entstehen und den Wandel
von Gesellschaft auffassen.
Die Relevanz einer sich um die Erkundung des Städtischen bemühenden Gesell-
schaftstheorie ergibt sich zudem aus der Aktualität der zu beobachtenden Veränderun-
gen städtischer Wirklichkeiten. Hierzu gehört eine offensichtliche Transformation der
wirtschaftlichen Basis der Städte in der OECD-Welt, wie sie mit den Schlagwörtern der
Globalisierung, der fortschreitenden Dominanz der Dienstleistungsökonomie und den
damit einher gehend veränderten sozialen, politischen und kulturellen Rahmen verbun-
den ist. Dieser Prozess, der als Postindustrialisierung oder Postfordismus bezeichnet
wird, ruft viele Fragen auf, die mit Bezug auf die Beziehung des Lokalen zum Staat, der
sozialen Integration und der politischen Steuerung zwar teilweise eine grundlegend neu
zu denkende Konzeption von städtischer Gesellschaft zu implizieren scheinen, die in der
stadtsoziologischen Perspektive, wie sich das Städtische zum Gesellschaftlichen verhält,
aber von noch wesentlicher und grundsätzlicher Bedeutung sind.
Die Beschäftigung mit der Stadt ist deshalb von einer historischen und akut-gesell-
schaftlichen Doppelperspektive getragen, die ob der Besonderheit der städtischen Er-
fahrung andere Grundbedingungen der Gesellschaft in gleicher Weise nicht bieten kann
und die eben jene Besonderheit des Städtischen, von der seit Cicero die Rede ist, auf-
Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt 15

recht erhält. Das Manchester des 19. Jahrhunderts und das Bombay des 21. Jahrhunderts
mögen hierzu Denkfiguren abgeben, die ein solches zweifaches Verständnis – einem
historisch singulären, bei dem einzelne Gesellschaftsformationen nachvollzogen werden
können und einem, welches das Allgemeine einer städtisch-räumlichen/stadträumlichen
Vergesellschaftung erklärt – zu thematisieren in der Lage sind. „Mit gut 16 Millionen
Einwohnern ist Bombay die größte Stadt auf diesem von Städten bevölkerten Planeten“
schreibt Suketu Metha in der Einleitung zu seinem Reportagenband „Bombay Maximum
City“ (2008, 13). „Bombay verkörpert die Zukunft der urbanen Zivilisation auf der Erde.“
Der preisgekrönte Journalist lässt seinen nüchternen Konstatierungen und Beschreibun-
gen ein schnelles „Gott steh uns bei“ folgen. Ein Stoßseufzer wie er die Fassungslosigkeit
so vieler Stadtbeobachter, der von Vergil bis Engels schon zu hören war, erneut zum Aus-
druck bringt. Die Stadt raubt unsere Sinne, lässt nach Atem und Orientierung schnap-
pen. Es ist aber nicht das Anstimmen eines Lieds des Untergangs – wie es die städtische
Erfahrung von der „Hure Babylon“ bis zu Nietzsches und Spenglers Hass auf die Stadt
auch immer begleitet hat –, es ist vielmehr der Versuch, auch in dieser sogenannten
Megacity das Besondere und das Lokale ebenso wie die Grundzüge der heutigen Ge-
sellschaft nachzuvollziehen: „Irgendwo unter den Trümmern des heutigen Bombay, liegt
diese Stadt, die so viel Raum in meinem Herzen einnimmt, eine wunderschöne Stadt am
Meer, ein Inselstaat der Hoffnung in einem uralten Land. Gibt es noch eine Heimkehr
für mich ? Ich ging der Frage nach und entdeckte die verschiedenen Städte in mir“ (ebd.).

Die Ära der Soziologie

In gleicher Weise war einst Chicago, die nach damaligem Verständnis am schnellsten
wachsende Großstadt der bisherigen Menschheitsgeschichte, der Ort dieser doppelten
Erfahrung: Stadt und Gesellschaft. „Modern men are made aware in more ways than
former generations that their lot is affected by the existence of other men“; heißt es in
der allerersten Ausgabe der allerersten soziologischen Fachzeitschrift, erste Seite, in
der Nummer 1 des American Journal of Sociology. Die Abhängigkeiten der Menschen
von einander ist das Hauptargument jener anonym gebliebenen Autoren, die mit ihrem
Einleitungsbeitrag die „Ära der Soziologie“ (so die Überschrift) behaupten und ein
Selbstverständnis zum Ausdruck bringen, das in vieler Hinsicht nicht nur ein diszipli-
nenhistorisch interessantes Dokument darstellt, sondern im Vergleich zu den Beobach-
tungen, Reflexionen von Rom, Manchester und Bombay einen Hinweis darauf geben
könnte, in welcher Weise – zumindest von der Intention her – Chicago und das Entste-
hen der Soziologie eine besondere Perspektive auf das Städtische, in seiner universellen
und lokalen Ambivalenz, bieten kann.
Unzweifelthaft ist der Blick der amerikanischen Soziologen der ersten Generation ein
von der großstädtischen Erfahrung geprägter und damit zunächst einmal nicht wesent-
lich anderer als jener, den Dichter, Journalisten, Beobachter jeder Art und eben auch
16 Frank Eckardt

Stadtbewohner und -besucher in allen Zeiten zum Ausdruck gebracht haben. Davon
möchte man sich auch gar nicht distanzieren. Im Gegenteil sucht das hier in Worte ge-
fasste Wissenschaftsverständnis bewusst die Nähe zu anderen Zeitgenossen: „The journal
will attempt to translate sociology into the language of ordinary life (…) It is not sup-
posed essential to the scientific or even the technical character of thought that it shall be
made up of abstractly formulated principles. On the contrary, the aim of science should
be to show the meaning of familiar things, not to construct a kingdom of itself (…) If so-
ciology is to be of any influence, it must be able to put its wisdom about things that inter-
est ordinary men in a form which men of affairs will see to be true to life.“ (13 f.).
Dennoch insistieren die Herausgeber auf eine besondere Rolle, die die Soziologen
einnehmen in dieser neuen Zeit, in der sie sich als Teil einer „Bewegung“ verstehen, die
sich darüber Gedanken und Sorgen macht, dass der Mensch diejenige Spezies sei, die
nun anderen Menschen am meisten zusetze. Die Beziehungen zwischen den Menschen
seien nun wesentlicher für das Verstehen des Menschen als sein Naturverhältnis. Sozial-
geschichtlich thematisiert die Soziologie eine für Amerika neue Erfahrung, die sich mit
der raschen Urbanisierung in der Weise ausdrückt, dass das Leben mit und gegen ande-
re in einer räumlichen Organisation stattfindet, in der es vor allem um den geteilten, d h.
öffentlichen Raum geht (vgl. Fischer 2010, 161 – 194). Hierüber sei, so die Soziologen der
ersten Stunde, das Wissen der Gesellschaft „inconstant and erratic“ (ebd, S. 3). Man ver-
steht sich als Teil dieser „movement of the common heart to realize the undying hope for
social justice and human brotherhood“ (S. 4), aber keinesfalls ist die Soziologie „identical
with it or comprehensive of it“ (S. 5, im Text hervorgehoben).
Die selbstdefinierte Rolle wird aber nicht nur ex negativo, in Abgrenzung gegenüber
der christlichen Religion und den sozialen Bewegungen der Progressive Era definiert,
vielmehr sucht man nach einer Beschreibung, die sich zunächst an dem Wissenschafts-
paradigma jener Zeit, der Evolutionstheorie, in langen Zitaten von Herbert Spencer und
Benjamin Kidd, in denen der Anschluss an die prävalenten Theorien „of our scientific
century“ (S. 10) gesucht wird, orientiert. Die Rede ist von „classifiers“, „abstractors“, „uni-
versal law“, „strength and vigor“, „comparison“, „processes“ und noch anderen Vokabeln,
die die Soziologie als Teil der sich langsam abzeichnenden Entstehung der modernen
Wissenschaften auszeichnen. Wissenschaftsgeschichtlich hat sich die Soziologie damit in
die damalige Entwicklung einer objektivierten Weltsicht, die sich in erster Linie um rea-
litätstreue Abbildung bemüht (vgl. Daston und Galison, 2007), eingereiht. Es greift daher
zu kurz, die frühen Stadtsoziologen lediglich als Biologisten oder Darwinisten abzuhan-
deln. Vielmehr wird deutlich, dass sich in Chicago eine Art und Weise der Auseinander-
setzung mit menschlicher Erfahrung zu organisieren versuchte, die in erster Linie das
Verständnis („wisdom“) der Mitmenschen zu vergrößern sucht („translate sociology into
the language of ordinary life“) und dabei die zu jener Zeit vorhandenen Möglichkeiten
der systematischen und kohärenten Wissensproduktion, im Sinne eines Objektivitätsan-
spruches, betreiben will.
Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt 17

Stadtbeobachtung

Anders als Cicero bemüht sich also die Stadtsoziologie nicht um eine politische oder
auch im Unterschied zur Poesie des Vergils nicht um eine rein subjektive Herangehens-
weise in der Erkundung städtischen Lebens. Die Soziologie, wie sie in Chicago gegrün-
det wird, geht einher mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der die Wissenschaften
sich auf das (wenn auch teilnehmende) Beobachten zurückziehen. Dem haftet eine ge-
wisse naive Vorstellung von Objektivität in dem Sinne an, als dass künstlich behauptet
wird, die Stadt sei das Laboratorium, in der bestimmte soziale Gesetzmäßigkeiten gefun-
den werden könnten, die ungeachtet der eigenen persönlichen Position Abstraktionen
ermöglichen, die jedem fair denkenden Zeitgenossen plausibel erscheinen müssten. Die
Frage nach der Farbe des Städtischen bleibt damit aber nicht dieselbe. Mit dem Entste-
hen einer um Realitätsnähe und eine radikal empirische Sichtweise bemühten Soziologie
schließt die Frage nach der Stadt an die Bestrebungen jener Zeit um eine wissenschaft-
liche Weltsicht an. Die Soziologie bemüht sich um eine wirklichkeitsgetreue Annäherung
an die gesellschaftlichen Sachverhalte und nicht mehr um die Ergründung des Eigent-
lichen und die zu dechiffrierenden Sinnzusammenhänge – so wie auch die gleichzeitig
entstehende Fotografie, die Sozialstatistik und -geographie und die ersten Ansätze einer
rationalen Stadtplanung. Der städtische Zusammenhang, innerhalb dessen diese „Bewe-
gung“ stattfindet, lässt es als nachvollziehbar erscheinen, dass jene Chicagoer Stadtsozio-
logie auch das Entstehen der modernen Gesellschaft und der sie umgebenden Großstadt
als ununterscheidbar gedacht und empfunden haben mag. Die amerikanische Soziolo-
gie in Harvard, Michigan und Chicago war von dieser zivilisatorischen Erfahrung so
sehr geprägt, wie sie sie zugleich widerspiegelt. Verkürzt kann man sagen, dass die Stadt-
soziologie jene „transformation from a theory of meaning (…) to a theory of ethics and
society“ (Levine, 1995, S. 255) verkörperte, die weit über eine spezialisierte Beschäftigung
mit der Stadt als lediglich einem Teilthema soziologischer Forschung hinausging.
Der Übergang von einer Bedeutungssuche, der geisteswissenschaftlichen Beschäfti-
gung mit der Stadt, zu einer gesellschaftsorientierten Stadtsoziologie führte dazu, dass
der Schwerpunkt der drei tonangebenden amerikanischen Soziologen (Thomas, Park,
Cooley) sich zunächst noch um eine Erforschung der sozialen Subjektivität bemühten,
die man weiterhin an der Schnittstelle zur Bewusstseinsphilosophie sehen kann. Der be-
rühmte Satz Robert Parks, „The city is a state of mind“, verdeutlicht dies anschaulich. Mit
der Studie zum polnischen Bauern in Europa und Polen, mit der der Chicagoer Schule
der Durchbruch gelang, haben William I. Thomas und Florian Znaniecki diesen An-
satz zum allerersten Mal und mit hohem Aufwand paradigmatisch ausgebaut, in dem
die subjektiven Selbstrepräsentationen in den Kontext der urbanen Erfahrung, welche
die polnischen Bauern nach ihrer Ankunft in Chicago beeinflusste, platziert werden.
Als ethisches Anliegen lässt sich diese empirische Wissenschaft in der Weise verstehen,
dass sie sich in die Tradition der Aufklärung stellt und die öffentliche Selbstaufklärung
vorantreiben will. Dabei ist der Kerngedanke der, dass eine über sich selbst informierte
18 Frank Eckardt

Gesellschaft eine verbesserte soziale Kontrolle durchführen und damit individuelle Le-
bensplanung sich ermöglichen kann.
Mit der Abwendung von übernatürlichen Gründen und Zusammenhängen, die alt-
römische Beschwörung ewiger Tugenden, derer sich die Gründung der Stadt verdanke,
hat die Soziologie aber noch nicht jene Annahmen in Frage gestellt, die sich aus einer
weitergehenden Kritik der individuellen Erkenntnismöglichkeiten, so wie es die Grund-
idee einer objektiven Wahrnehmung voraussetzt, ergeben kann. Die Soziologie jener
Anfangsjahre war ein naturalistisches Projekt, in der das Problem der Unterscheidung
zwischen objektivierter und subjektiver Wahrnehmung der menschlichen Umgebung
als zweifelsfrei möglich galt. Die Durchdringung vom Naturalismus ist sprachlich und
kartographisch in jenen „natural areas“ auffindbar, in denen bestimmte ethnisch-sozia-
le Gruppen vorzugsweise in den Städten auffindbar seien. Der eigentliche Naturalismus
besteht allerdings nicht in jenen entliehenen Terminologien, sondern er ist Grundlage
der ethnographisch-soziologischen Stadtforschung seit der Chicago School, in der die
grundlegende Annahme gilt, dass es für alle sozialen Sachverhalte auch eine wissen-
schaftliche Erklärung gibt oder zumindest geben könnte. Mit anderen Worten, eine na-
turalistische Suche nach den „universal laws“ (s. o.) setzt sich so lange fort, bis tatsächlich
auch welche gefunden werden können. Damit schleicht sich nolens volens eine norma-
tive Sichtweise ein, in der vorab festgelegte Annahmen de re nicht mehr überprüft, son-
dern lediglich nachgewiesen werden.

Die Natur des Städtischen

Eine wissenschaftliche Erkundung des Städtischen, die sich im Sinne des Naturalismus
als ein normatives Verfahren organisiert, kann nur im Widerspruch zu Wissenschafts-
verständnissen späterer Zeiten verstanden werden, in denen die Reflektion der Objekti-
vität und der so genannten objektiven Rolle des Stadtforschers im Sinne des „Labors“ der
Chicago School nicht aufgegeben wird. Zumeist liegt der Normativitätskritik des Natura-
lismus eine doppelte Fehldeutung zugrunde: Zum einen wird nicht in Betracht gezogen,
mit welchem anthropologischen Bild vom Stadtbewohner und speziell vom Stadtforscher
selbst eine nicht-normative Forschung einhergehen müsste. Eine solche, auf Objektivie-
rung abzielende Verwissenschaftlichung der Stadtbeobachtung wäre aber im Grunde von
einem Menschenbild geprägt, bei dem man sich Menschen vorstellen müsste, die nicht in
irgendeiner Weise normative Sozialisationen durchlaufen hätten. Zum anderen geht die
spätere Kritik an der normativen Ausrichtung des Naturalismus zu weit, denn normati-
ve Vorprägungen und -annahmen in der Stadtforschung sollten immer offen gelegt wer-
den und sind nicht zu vermeiden. Vorab ausgeschlossen wird aber, dass es außerhalb der
geschichtlichen oder naturalistischen Beobachtung moralische oder normative Beurtei-
lungsebenen geben kann, die die Stadtforschung „leiten“ oder in Frage stellen.
Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt 19

Die Normativität beschränkt sich also auf die Begründung des Vorgehens des
Forschens und dessen Zweck: „The usual naturalist account is that the norms operative
in science are all conditional norms of the general form: if the goal is G, use the meth-
od M. The justification for such norms is itself empirical, consisting of evidence that
employing M is a relatively reliable means of obtaining G.“ (Giere, 2008, S. 219). Die Be-
gründung aus seiner empirischen Notwendigkeit abzuleiten erscheint zunächst als ein
Zirkelschluss, er ist aber im Zusammenhang mit einer selbstreflexiven Einschätzung des
Beobachters zu deuten. Hierbei ist kontextuell mit Bezug auf die Gründung der ame-
rikanischen Soziologie zumindest zu berücksichtigen, dass wissenschaftstheoretisch als
Mittelposition zwischen empirischer und rationalistischer Erkenntnistheorie eine prag-
matische der Methodik entwickelt wurde, in der begründeter Zweifel und empirische
Erkundung als Ausgangspunkte für die soziologische Forschung gesehen werden. Kon-
sequenterweise kann man auch keine Wahrheitsansprüche in der Weise stellen, wie dies
in der so genannten Realismus/Anti-Realismus-Debatte in der Philosophie wieder disku-
tiert wird, in der es vornehmlich um die Unterscheidung zwischen dem Sichtbaren und
dem Unsichtbaren geht, letztlich um die Frage, ob es jenseits der subjektiven Wahrneh-
mung Strukturen der Wirklichkeit gibt. Unbezweifelbar trifft diese Debatte insbesondere
die Stadtforschung, in der die Sichtbarkeit von Materialität unweigerlich konzeptionell
mit gedacht werden soll und in der, zumeist phänomenologisch, die Sichtbarkeit der
erste Anlass – und manchmal auch der einzige Grund – für eine stadtsoziologische For-
schung ergibt.
In vielen Herangehensweisen, welche die „Natur“ des Städtischen beschreiben oder
erforschen wollen, herrschen „Common sense realism“-Haltungen gegenüber dem Wahr-
nehmbaren vor, die sich zumeist von einem sichtbaren Körper des Städtischen ableiten
und auf diese Weise einen Common sense über dessen Bedeutung bei allen Beobach-
tern ableiten. Die anhand von lediglich sichtbarer Evidenz (bebaute Stadt) ausgeführten
Generalisierungen (die Stadt als Ganzes) sind aber weder mit realistischen noch anti-
realistischen Argumenten zu begründen. Realistisch gesehen ist dieser vorherrschende
Common Sense-Realismus grundlegend zu befragen, in dem er eben nur einzelne, selten
umfassendere und nie alle Erfahrungen und Gegenständlichkeiten der sozialen Wirk-
lichkeit konzeptionell einschließen kann (vgl. Devitt, 2002). Anti-realistisch verweist
schon der Hinweis auf die Temporalität einzelner städtischer Erscheinungen auf das Vor-
handensein von „unsichtbaren“ Prozessen und Strukturen.
Der Streit um Realismus und Anti-Realismus ist im Grunde vergleichbar mit der
gundsätzlichen Frage, ob die Grundannahme, dass mit einer wissenschaftlichen Agen-
da – sei es die von der Chicago School ererbten naturalistisch-objektivistisch Forschungs-
tradition, die auf einem Erkennen sozialer Wirklichkeiten jenseits normativer Vorgaben
aber mit einer argumentativen Erkenntnismethodik beharrt, oder seien es andere diszi-
plinäre, in den später sich ausdifferenzierten wissenschaftlichen Herangehensweisen –,
bestimmte Wahrheitsansprüche über die städtische Erfahrung gemacht werden kön-
20 Frank Eckardt

nen. Die Frage stellt sich, ob die soziologischen Aussagen nicht etwa doch von gleicher
Qualität sind als jene, eingangs zitierten Beobachtungen von Dichtern, Journalisten oder
jedem anderen Stadtbeobachter. Letztlich wird man nicht um eine Einschätzung des Er-
folges des wissenschaftlichen Erkenntnisprogramms bis dato, als ein Beitrag zu jener
„movement“, herumkommen und dabei einen außerwissenschaftlichen Standpunkt an-
nehmen müssen, wollen sich Stadtsoziologen nicht nur in der Selbstreferenz erschöpfen.
Für sie kann aber kaum etwas anderes als Beurteilungsmaßstab gelten, als die Beurtei-
lung der Wirkungs- und Erklärungskraft (ihr Bezug zur Erkenntnis und nicht bloß zum
eigenen Diskurs) der Wissenschaft allgemein, und die Haltung zur Stadtsoziologie wird
sich daran ausrichten müssen. Damit steht die Stadtsoziolgie im Schatten eines die Wis-
senschaft insgesamt betreffenden Problems, und ein Führungsanspruch im Erkennen der
Natur des Städtischen scheint mehr als fragwürdig zu werden.

Ernüchtertes Stadterkennen

Dem Glauben vieler nach sind die Wissenschaften deshalb wahrer oder produzieren
mehr Einsichten als andere Zugänge zur Wirklichkeit wie etwa Kunst oder Literatur,
weil sie so erfolgreich in ihrem Erklärungsvermögen und damit auch für das alltägliche
Leben sind (Putnam, 1981). Aus einer pessimistischen Sichtweise lässt sich dem entgegen
halten, dass es selbstverständlich Veränderungen in der technologisch-instrumentellen
Ausstattung von Teilen der Welt gibt, dass damit aber keineswegs eine menschliche Wei-
terentwicklung etwa im Sinne einer schmerzfreieren Welt verbunden sein muss und dass,
sofern solche Erfolge (wie die Abschaffung der Sklaverei) erzielt werden, diese kaum als
Ergebnis eines wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns zu sehen seien. Diese Argumen-
tation, hauptsächlich von Richard Rorty (1980) vertreten, drängt im Kontext der Ent-
wicklung einer Stadtsoziologie in einer nach-naturalistischen Wissenschaftsära zu einer
eindeutigen Positionierung.
Zugespitzt lässt sich die Realismus/Anti-Realismus-Debatte gegen den Hintergrund
der modernen Städte wie folgt diskutieren: Können die unleugbaren Verbesserungen
der menschlichen Umwelt in den Städten im 20. Jahrhundert zurückgeführt werden auf
eine wissenschaftlich informierte Stadtgestaltung ? Wenn wir diese Annahme bejahen,
dann wäre eine empirisch-historische Begründung gegeben, um eine wissenschaftliche
und implizit auch stadtsoziologische Forschung als solche weiterzuentwickeln, da sie ja
potentiell eine Botschaft hätte – nämlich eine wahrheitsnahe oder eine im Vergleich zu
anderen Zugängen zur Stadt wahrheitsnähere Einsicht in städtische Wirklichkeiten –, die,
wenn sie umgesetzt würde, die Erfolge der modernen, rationalen Stadtplanung fortsetzt.
Die Formulierung dieser Frage wird bereits Widersinn bei all jenen wecken, die die
Stadtsoziologie weiterhin als Teil eines auf Spezialwissen und Expertentum ausgerich-
teten Wissenschaftsbetriebes versteht, der auf Flaschenpost-Produktion für die „inter-
essierte Öffentlichkeit“ setzt, jener vagen Hoffnung auf die Kommunikation mit und die
Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt 21

Beratungsoffenheit von Entscheidungsträgern. In einer solchen Wissensproduktion, die


auf zukünftige Informationsmärkte oder aber auf konkrete Nachfragen (Sprich: Auf-
tragsforschung) setzt, erscheint allerdings auch die Hoffnung der pragmatisch inspirier-
ten und noch immer auch alteuropäisch motivierten Chicago School nach vergrößerter
Selbst-Kontrolle als Basis für Emanzipation unsichtbar zu werden. Die Frage nach dem
Zusammenhang der Wissenschaftlichkeit von Stadtsoziologie und der realiter vorhan-
denen, angenommenen oder nachweisbaren Erfolgseffekte verweist vielmehr auf die
Konkurrenz, in der stadtsoziologische Forschung gegenüber anderen gesellschaftlich
vorfindbaren Zugängen der Stadterkenntnis und Stadterfahrung steht.
Der Einwurf, die Relevanz dieser Frage stelle sich nicht, da es im heutigen Wissen-
schaftsbetrieb keine Alternative zu der realistischen Annahme gebe, dass die Verwissen-
schaftlichung unseres Lebens erfolgreich sei, ist zwar subjektiv nachvollziehbar, entlastet
aber nur für den Augenblick von der Selbstpositionierung, in dem man von der Konkur-
renz mit anderen Herangehensweisen, etwa der Kunst, durch disziplinären Abschluss
abgeschottet ist. „Alternativlos“, das Unwort des Jahres 2010, ist die Verwissenschaft-
lichung unseres Denkens über die Stadt niemals und ob die Frage nicht obsolet sei, weil
heute alles rational und wissenschaftlich gedacht, gefühlt und gelebt werde, wie dies etwa
Michael Hampe (2009) behauptet, ist nicht glaubhaft. Rationalität wird dann nicht in
ihrer Ambivalenz wahrgenommen, wie auch die Diskussion um die Risiko-Gesellschaft
mit ihren unvorhersehbaren Nebeneffekten (Beck, 2010) nicht berücksichtigt wird. Of-
fensichtlich lässt sich Stadtentwicklung nicht dem allgemeinen Fortschrittsdenken unter-
ordnen, sondern entfaltet ihre eigene Komplexität und Problemlagen, deren Bearbeitung
durch Rationalität Grenzen gesetzt sind. Es kann daher weder darum gehen, das Projekt
der wissenschaftlichen Stadterforschung zu optimieren oder zu minimieren, je nach Er-
wartungshaltung, sondern die intrinsische Rolle einer wissenschaftlichen Beobachtung
und ihrer Voraussetzungen kritisch zu reflektieren.

Transdisziplinäre Stadtsoziologie

Vielleicht mehr als andere Teildisziplinen der Soziologie wird die Stadtsoziologie damit
konfrontiert, dass sie sich nicht arbeitsteilig auf eine bestimmte Nische der gesellschaftli-
chen Nachfrage nach Expertenwissen zurückziehen kann. Für das Überschreiten der dis-
ziplinären wie wissenschaftlichen Grenzen insgesamt gibt es in der Stadtsoziologie nicht
nur oftmals pragmatische Gründe und methodologische Zwänge, etwa die Eröffnung
von Zugängen zum Forschungsfeld, auch ist das urbane Umfeld nicht nur als Stichwort-
und Impulsgeber für die innovative Weiterentwicklung der eigenen Forschung nützlich.
Vielmehr wird sie mit der Unmöglichkeit konfrontiert, sich im städtischen Kontext le-
diglich interdisziplinär zu verhalten. Interdisziplinarität als eine Kooperationsform zwi-
schen disziplinär ausdifferenzierten wissenschaftlichen Teilprojekten kann nicht in der
Weise funktionieren, dass eine übergeordnete Fragestellung – das wäre die Soziologie des
22 Frank Eckardt

Städtischen – sich heraus kristallisieren könnte. Die berechtigte Kritik an interdiszipli-


nären Forschungsansätzen wird insbesondere im Bereich der Stadtsoziologie nachvoll-
ziehbar, da die städtische Erfahrung, historisch wie biographisch, nicht in der Addition
unterschiedlicher Erkenntnisse aus verschiedenen Teilbereichen städtischen Lebens zu-
sammenzuführen ist. Wer die Stadt lediglich als Aggregatebene oder als Umwelt funktio-
naler Sub-Systeme betrachtet, geht an der Grunderkenntnis vorbei, dass das Meer mehr
ist als die Anzahl der Wassertropfen und die Stadt mehr als die Summe ihrer Teilsysteme.
Transdisziplinäre Stadtsoziologie hätte sich deshalb von der gescheiterten Interdiszi-
plinarität und ihrer Sprachlosigkeit, die sich aus den weitgehend unabgestimmt bleiben-
den Kompetenzen, Theorien, Methoden und Forschungsinteressen der unterschiedlichen
(Teil-)Disziplinen ergibt, abzugrenzen (vgl. Mittelstraß, 2003). Interdisziplinarität war
wissenschaftshistorisch gesehen in der Weise ein wichtiger Schritt, welcher der Domi-
nanz einzelner Theorien, ob handlungs- oder strukturtheoretisch, in der Nachkriegs-
soziologie ab den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein Ende bereitet hat. Diese
Entwicklung hat sich weitgehend durch die nach wie vor umstrittene Bedeutung kon-
struktivistischer Ansätze gegenüber eher strukturalistischer Theorien ergeben, die mit
dem „cultural turn“ und der relativen Etablierung von Cultural Studies (wie Gender Stu-
dies) vor allem im anglosächsischem Bereich vollzog. In der Stadtsoziologie ist dies durch
eine Neuorientierung zum Ausdruck gekommen, indem weniger Segregationsmuster als
verstärkt diskursive Praktiken erforscht wurden. In der deutschen Stadtsoziologie war
dies durch eine Relativierung der seit den siebziger Jahren vorherrschenden Positionen
der sogenannten, neo-marxistischen „New Urban Sociology“ der Fall, sodass heute für
eine Vielzahl von theoretischen Ausgangspositionen in der Stadtsoziologie Platz ist.
Die Hinwendung zur Multiparadigmatik in der (Stadt-)Soziologie (vgl. Reckwitz,
2005) hat zwar einerseits (und zumindest dem Prinzip nach) eine Toleranz gegenüber
anderen internen Sichtweisen auf die Gesellschaft und die Stadt ermöglicht, aber sie hat
sich gleichzeitig damit aus der Konkurrenz um die bessere Sicht-, Erklärungs-, Verständ-
nis- und letztlich auch Handlungs- und Lebensweise städtischer Gesellschaften in ihrer
Gänze verabschiedet. Gegen eine zu große Toleranz hingegen spricht, dass Transdiszip-
linarität nicht bedeuten darf, dass das Wesentliche der wissenschaftlichen Beschäftigung
mit der Stadt verwässert und unkenntlich wird. Es besteht allerdings Einigkeit darüber,
dass die Stadtsoziologie sich heute nicht über eine einzelne theoretische Sichtweise de-
finieren kann oder sich an dieser als Leitstern orientieren sollte. Die „Großen Erzählun-
gen“, wie sie Lyotard (1986) in seiner Kritik der Modernisierungstheorien genannt hat,
in der alleserklärende Ansprüche aufgehoben werden können, werden weder innerhalb
der soziologischen Theoriediskurse und schon gar nicht im urbanen Kontext akzeptiert.
Auch eine Bestimmung der Stadtsoziologie über ihren Forschungsgegenstand oder ihrer
vermeintlich besonderen Methodik entsprechen nicht der Vielfalt, mit der stadtsozio-
logisch geforscht und gedacht, hinterfragt und projektiert wird. Vorstellungen dieser
Art, dass man über eine privilegierte Art und Weise der Erkenntnisgewinnung oder eine
Monopolisierung der Gegenstandsnähe („Sie als Stadtforscher“) die Stadtsoziologie wird
Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt 23

etablieren können, sind relativ kläglich gescheitert, wie etwa der Abbau oder die Umwid-
mung der stadtsoziologischen Lehrstühle in Deutschland aktuell schmerzlich bewusst
macht. In Zeiten der Wissensgesellschaft, in der Wissenszuwächse und Publikationsmas-
sen unüberschaubar werden, aber ebenfalls der Zugang zu Wissen ubiquitär und demo-
kratisiert ist; in Zeiten, in denen eine nie gekannte Anzahl von Menschen in Städten lebt
und damit städtische Problemlagen von größter Komplexität zu beobachten sind (vgl.
Davis, 2007), wird die Selbstreflexion der Stadtsoziologie sowohl für das Selbstverständ-
nis wie für die Kommunikation in der Wissensgesellschaft geradezu zwingend.
Seit der Debatte um transdisziplinäre Beschreibungen für eine Neuausrichtung der
Soziologie im Allgemeinen, zumeist begründet durch die Krise der empirischen Sozio-
logie seit den achtziger Jahren (vgl. Smith, 1998), die sich mit der theoretischen Mul-
tiparadigmatik nach wie vor schwer tut, haben sich inzwischen viele unterschiedliche
Strategien entwickelt, um die Soziologie wieder als ein erkenntnisgenerierendes, orien-
tierungsstiftendes Unternehmen zu organisieren. Hierbei ist das Auseinanderfallen von
Push- und Pull-Faktoren in der Stadtsoziologie besonders frappant: Einerseits besteht
ein erheblicher Bedarf an systematisch geprüftem Wissen und der sich daraus formu-
lierenden Erkenntnisse über die Entwicklung der Stadt und die Dynamik urbaner Ge-
sellschaften, andererseits finden viele dieser Erkenntnisprozesse nicht innerhalb der
institutionellen Stadtsoziologie statt. Aus diesem Grunde stammen zum Beispiel auch
viele Beiträge für dieses Handbuch nicht von „waschechten“ Stadtsoziologen, ausgebildet
an einem Lehrstuhl für Stadtsoziologie. Ohne Umschweife muss man konstatieren, dass
die Stadtsoziologie in dieser Hinsicht die allgemeine Krise der Soziologie nicht nur abbil-
det, sondern ihr auch ein erhebliches Innovations-, Repräsentations- und Wirkungsfeld
nimmt, das sie für ihre Zukunftsfähigkeit brauchen dürfte.
Weder die Adaption eines neuen, übergeordneten und vermeintlich Einheit stiften-
den Theorieangebotes, noch das reine Postulat multiperspektivischer Forschungstole-
ranz wird an dieser Situation etwas helfen. Betont werden muss hingegen, dass es nicht
irgendwie um „Stadt“ in der Stadtsoziologie geht und auch nicht dass eine transdiszip-
linäre Stadtsoziologie in eine transdisziplinäre Stadtforschung einfach übergehen kann
oder gar soll. Die notwendige Selbstverständigung über die Stadtsoziologie der Zukunft
muss sich zu einer Programmatik der Kompetenzen bekennen, die wissenschaftlich aus-
gebildet und bewacht werden, die nach außen sichtbar sind und die sie von den konkur-
rierenden Angeboten des Erzählens über die Stadt abgrenzen. In Anlehnung an Zygmut
Baumans Vorschläge zur Neuerfindung der Soziologie (2005) würde dies bedeuten, dass
die Stadtsoziologie das Angebot – erstens – einer Interpretationskompetenz für unter-
schiedliche „Stimmen“ in der Stadt darstellt, mit der die Vielfalt der unterschiedlichen
Wahrnehmungen und Erfahrungen systematisch und authentisch aufgehoben werden.
Damit verbunden wäre – zweitens – eine post-moderne Sensibilisierung für eben jene
Themen und Probleme, die im Allgemeinen keine Repräsentanz hätten bzw. wo struk-
turell Macht und Ungleichgewichte räumlich und gesellschaftlich abgebildet und re-
produziert werden durch Institutionen, Akteurshandlungen, Diskurse, Lebensstile oder
24 Frank Eckardt

Handlungsprogramme. Die Aufgabe heutiger Stadtsoziologie wäre schließlich drittens,


wie es schon Charles W. Mills (1959) in den sechziger Jahren gefordert hat, den fiktio-
nalen, politischen und partikularen Vorstellungen über eine Stadt und ihre Räume, eine
soziologische Imagination entgegen zu stellen, in der es in Fortsetzung des Chicagoer
Gründungskonzepts der Soziologie um eine emanzipatorische Erzählung geht, die sich
um eine permanente Re-Formulierung aufgrund der notwendigen Inklusion immer
neuer Erzählungen von individuellen Stadterfahrungen bemüht.
Die Stadtsoziologie im transdisziplinären Wissenschaftsverständnis (vgl. Baert, 1988)
versteht sich demnach als eine historisch hinsichtlich der Erfahrungen der Verstädterung
und der Entwicklung einer nach wie vor empirisch zu ergründenden urbanen Gesell-
schaft kontextualisierenden Beobachtung, mit der sie sich von anderen Stadtbeobachtern
davon unterscheidet, dass sie von jener Selbstreflexion ausgeht, in der Fragestellungen
und Probleme der Stadt ob ihrer Relevanz und erforschbaren Realisierbarkeit abgewogen
werden können. Diese Selbstreflexion hat als Grundvoraussetzung die Erkenntnis, dass
die Stadtsoziologie Produkt der urbanen Erfahrung ist und nicht dessen externer Beob-
achter. Die Produktion stadtsoziologischer Erkenntnis ist von daher eine kommunikati-
ve Strategie, in der es zwar Prinzipien der Generation und Repräsentation von Wissen
über einzelne Aspekte städtischer Zusammenhänge gibt (Systematik, Transparenz, inter-
ne Anschlussfähigkeit, Methodendiskussion, Überprüfbarkeit, Plausibilität), deren Er-
folg allerdings nur von der Dialogfähigkeit der wissenschaftlichen Erzählung abhängt
(Bernstein 1991, 337 – 339). Diese Form der Stadtsoziologie hätte die Chance, durch ihr
besonderes Insistieren auf Intersubjektivität stärker als hermeneutische Text-Wissen-
schaften eine Kommunikationsfähigkeit herzustellen, weil sie sich in ihrer nach Wi-
dersprüchen suchenden Interpretationsfähigkeit den Fallen der Selbstreferenz und des
hermeneutischen Zirkelschlusses widersetzen kann.

Dieses Handbuch

Dieses Handbuch versteht sich als Beitrag zu einer solchen nach außen wie nach innen
notwendigen Selbstaufklärung darüber, was Stadtsoziologie heute ist. In erster Linie
soll den Leserinnen und Lesern mit einem bestimmten Interesse an einzelnen Themen,
theoretischen Ansätzen oder Diskussionen ein Einstieg in die weitergehende Forschung
ermöglicht werden. In dieser Weise mögen die folgenden Beiträge als eine Art von Nach-
schlagewerk dienen, die zu einer weiteren Beschäftigung mit der jeweiligen Thematik an-
regen mögen und zugleich eine gewisse Informiertheit hinterlassen.
Dieses Handbuch weist eine Struktur auf, die vom Allgemeinen zum Speziellen führt.
Es wurde eine Dreiteilung vorgenommen, mit der zunächst theoretische Referenzpunk-
te, auf die bis heute immer wieder in stadtsoziologischen Forschungen Bezug genom-
men wird, dargestellt und kritisch ob ihrer Aktualisierbarkeit diskutiert werden. Hierbei
ist bewusst der Kanon der immer wieder, schon fast automatisch und manchmal auch
Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt 25

nur noch verkürzt aufgegriffenen Theorieangebote um relativ junge Theoriediskurse er-


weitert worden, die wie Bourdieu oder Giddens sehr wohl in der allgemeinen Soziologie
inzwischen einen Klassikerstatus erreicht haben, aber nur wenig systematisch und pro-
grammatisch in der stadtsoziologischen Forschung rezipiert werden, obwohl sich beide
intensiv mit Fragen des Raumes beschäftigt haben.
Die kritische Reflexion der Theorieangebote, von Weber angefangen, ist nach wie vor
eine heikle Angelegenheit, da sie eine Kanonisierung und damit „Beruhigung“ an der
Theoriefront zum Ergebnis haben könnte, die dieses Handbuch nicht zum Ziel hat. Theo-
riedebatten verlaufen heute auch nicht mehr in erster Linie als epistemologisch-herme-
neutisches Vorhaben ab, in der ein Einverständnis über die Orientierungskraft einzelner
Autoren vorhanden wäre. Die verschiedenen Diskursstränge soziologischer Forschung
sollen stattdessen behilflich sein, sich über grundlegende Fragen städtischen Lebens zu
informieren und zu streiten. Aus diesem Grunde repräsentiert der zweite Teil des Hand-
buchs Diskurse, die einerseits einen gewissen Anspruch auf eine einzelthematische Er-
klärungen übersteigende theoretische Reichweite aufweisen und die andererseits auch
nicht nur einer einzelnen übergeordneten theoretischen Referenz zuzuordnen sind bzw.
von diesen lediglich abgeleitet werden.
Schließlich gibt es bestimmte Themen, die relativ konstant immer wieder von Stadt-
soziologen bearbeitet wurden und werden und der Anspruch von Fachöffentlichkeiten
geltend gemacht wird, dies insbesondere stadtsoziologisch erforscht zu sehen. Dies be-
trifft insbesondere die Segregationsforschung, die lange Zeit als das Herz der Stadtso-
ziologie gegolten hat und teilweise auch identitätsstiftend war. Dieser Geltungsanspruch,
die Stadtsoziologie mit einem einzigen Thema, sei es auch noch so relevant, zu definie-
ren, kann aus vielen, oben ausgeführten Gründen nicht mehr gelten. Allerdings birgt die
Beliebigkeit der Themen, die ein Handbuch andererseits aufzuweisen hätte, nicht nur ein
editorisches Problem. Die Inklusion von Themen, die stadtsoziologisch zu erforschen
wären oder die sich mit der Fragestellung der Gesellschaft vor dem Hintergrund der his-
torischen Erfahrung der Urbanisierung auseinandersetzen, geriete im Zeitalter der fort-
geschrittenen Verstädterung ansonsten zu einem konzeptionellen catch all-Projekt. Nur
insofern überhaupt eine soziologische Dimension in diesen Themen der Stadtforschung
und somit ein begründeter Anspruch auf Relevanz für das Verständnis der gesamtstäd-
tischen Dimension erkennbar ist, wurden thematische Beiträge in den dritten Teil des
Handbuches aufgenommen. Insbesondere hier wird man zu Recht die Auswahl kriti-
sieren können und bestimmte Themen vermissen, andere für weniger relevant halten.
Die Auswahl der Themen zeigt aber, so hofft der Herausgeber, dass es Themen gibt, die
eine gewisse Konsistenz, entweder in der theoretischen Diskussion im weiteren Feld der
Sozialwissenschaften oder aber aufgrund der anhaltenden empirischen Problemlagen,
aufweisen.
Inwieweit sich diese Themen halten, die weitere Theoriedebatten in der Stadtsoziolo-
gie beeinflussen, welche Klassiker irgendwann ob ihrer verblassenden Strahlkraft nicht
mehr oder andere wiederum wegen ihrer erneuten Aktualisierung wieder stärker von
26 Frank Eckardt

Bedeutung sein werden, wird sich nicht per definitionem klären lassen und ist auch nicht
das Anliegen dieses Handbuchs. Erreicht werden soll vielmehr, dass die Vielschichtig-
keit, Widersprüchlichkeit und Kritikfähigkeit in der Gesamtschau der Einzelbeiträge die
Stadtsoziologie zu einem attraktiven Angebot für alle, an städtischen Fragestellungen In-
teressierte dazu verleiten mag, neue Fragen an die eigene Stadtbeobachtung und an die-
ses spannende Fach zu stellen. Von daher ist dieses Handbuch weniger ein Zwischenfazit
über den Stand des Wissens in der Stadtsoziologie, sondern eher ein Neuanfang, der sich
der notwendigen und permanenten Aktualisierung der hier repräsentierten Theorien,
Diskurse und Themen bewusst ist.

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Whitfield, Roy (1988): Frederick Engels in Manchester: the search for a shadow. Salford: Working
Class Movement Library
Referentielle Ausgangspunkte
Max Weber
Jan Kemper

Klassiker, heißt es in einer aktuellen Einführung in das Werk des Soziologen Max Weber
(1864 – 1920), „lesen wir nicht, weil sie alt und berühmt sind. Auch nicht unbedingt wegen
der Problemlösungen, die sie uns hinterlassen haben – sie erweisen sich häufig als veral-
tet. Wir studieren sie wegen ihres Paradigmas – also ihr vorbildliches und zum Teil noch
heute verbindliches Beispiel für soziologische Analyse. Das Zusammenspiel von Theo-
rie, Methode, Analyse und Kritik ist es, was uns interessiert.“ (Müller 2007: 13) – Die
hier vorgenommene Anbindung des Klassiker-Begriffs an den des Paradigmas und die
damit aufgemachte Identifikation von Klassiker-Rezeption mit Paradigma-Aneignung
bzw. Paradigma-Kritik lassen die Debatten um den Klassiker-Status von Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftlern als forschungsstrategische Auseinandersetzungen um die
theoretisch-methodischen Grundlagen erscheinen, die dem Erkenntnisgegenstand einer
Disziplin seine Gestalt geben. Sie sind somit auch als forschungsreflexive Bewegungen
zu verstehen, in denen sich eine Disziplin ihrer Identität vergewissert. Was soziologi-
sche Forschung zum Gegenstand Stadt sein kann bzw. sein soll – welchen Ausschnitt der
sozialen Wirklichkeit sie auf welche Weise ansprechen und welche Leistung sie somit
für die wissenschaftsinterne wie -externe Umwelt bereitstellen kann und möchte – wird
demnach auch daran entschieden, welche Geltungsansprüche auf den Klassiker-Status
eines Forschungsprogramms reklamiert und welche Interpretationen dieses Forschungs-
programms theoriepolitisch durchgesetzt werden können.
In diesem Sinne eine Anknüpfungspflicht bzw. eine Anknüpfungsverweigerung an
den soziologischen Klassiker Max Weber auszugeben, ist kein drängendes oder perma-
nent präsentes Bedürfnis der soziologischen Stadtforschung. Grundsätzlich wird Max
Weber in stadtsoziologischen Kontexten selten zitiert (vgl. Eckardt 2004: 11). Kommt
dennoch die Frage nach der Legitimität der Behandlung Max Webers als „angebliche[n]
Ahne[n] einer Stadtsoziologie“ (Häußermann/Krämer-Badoni 1980: 144) auf, wird sie
eng mit der Frage nach dem Status von Webers posthum 1921 veröffentlichten Abhand-
lung „Die Stadt“ (2000, orig. 1921) verknüpft. Auf Webers Stadtstudie verweist, wer die
soziologische Forschung zum Gegenstand Stadt durch den Bezug auf den soziologischen
Klassiker Max Weber sachlich bereichert und sozial legitimiert sehen möchte; auf diesen
Text kommt zu sprechen, wer einen forschungsanleitenden Nutzen von Webers Stadt-
studie und deshalb ihre Anerkennungswürdigkeit als einen paradigmatischen Beitrag zur
stadtsoziologischen Forschung bestreitet.

F. Eckardt (Hrsg.), Handbuch Stadtsoziologie,


DOI 10.1007/978-3-531-94112-7_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
32 Jan Kemper

Die folgende Skizze des Verhältnisses der soziologischen Stadtforschung zum soziolo-
gischen Klassiker Max Weber nimmt daher ihren Ausgangspunkt in der Auseinanderset-
zung um den Stellenwert von Webers Stadttext im stadtsoziologischen Forschungsfeld (1).
Anschließend geht es um eine Rekonstruktion des Gegenstandsverständnisses von Stadt,
das Weber in seiner Stadtstudie entwickelt hat (2), und um den Erkenntniseffekt, der
von ihr ausgeht (3). Sodann wird die Nachfrageseite nach Webers Stadtstudie in den
Blick genommen, um zumindest in Ansätzen die Gebrauchsweisen eines Klassikers in
der soziologischen Forschung zum Gegenstand Stadt sowie die darin eingehenden For-
schungsinteressen sichtbar und verständlich machen zu können (4). Abschließend wird
ein Resümee in Hinblick auf die Frage nach der Rolle und Bedeutung Max Webers und
seiner Stadtstudie für die soziologische Stadtforschung versucht (5).

1 Die Stadtstudie Max Webers – Ein Grundlagendokument


soziologischer Stadtforschung ?

Die Anschlüsse der Soziologie an das Forschungsprogramm Max Webers sind vielfältig
und können nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Die gesellschafts-
theoretisch orientierte Diskussion um Max Weber als Klassiker der Soziologie geht dahin,
ob die einzelnen Elemente des Weberschen Forschungsprogramms – sein theoretisch auf
das „soziale Handeln“ konzentrierter und methodisch um die Konstruktion von Ideal-
typen aufgebauter Soziologieentwurf einer „verstehenden Soziologie“, sein auf den Pro-
zess der Rationalisierung konzentriertes historisch-soziologisches Forschungsprogramm,
seine politisch-praktische Gegnerschaft gegen eine feudal-junkerliche Dominanz einer-
seits, die sozialistische Arbeiterbewegung andererseits – zu einem einheitlichen, for-
schungsleitenden „Weber-Paradigma“ (Albert 2009) verdichtet werden können und
wenn ja, welchen Stellenwert es in der theorien- und methodenpluralen Situation der
gegenwärtigen Soziologie einnehmen soll. In der Einführungs- und Überblickslitera-
tur in eine Soziologie der Stadt hingegen wird die Rolle und Bedeutung Max Webers
für eine Organisation stadtsoziologischer Forschungsperspektiven vor allem mit Bezug
auf dessen Stadtstudie angesprochen (vgl. z. B. Eckardt 2004: 11 – 14; Häußermann/Siebel
2004: 92 – 93).
In der Fixierung allein auf den Stadttext Max Webers kommt die allgemeine Tendenz
der soziologischen Stadtforschung zum Ausdruck, ihre Forschungspraxis kaum entlang
einer Auseinandersetzung über gesellschaftstheoretische und methodische Ansätze der
allgemeinen Soziologie herzustellen, also über Einsätze auf der Erkenntnisseite des For-
schungsprozesses zu organisieren. Vielmehr bemüht sie sich um eine Kanonisierung und
Tradierung der Disziplin über als Grundlagendokumente zu behandelnde, von ihren
werkgeschichtlichen wie sozialgeschichtlichen Zusammenhängen entkoppelte Analysen,
die unmittelbar und gelungen Auskunft über die ‚städtisch‘ genannte soziale Wirklich-
keit geben würden. Dieser reduzierende Blick isoliert, wie zuletzt O. Schöller-Schwedes
Max Weber 33

am Beispiel der stadtsoziologischen Rezeption des bis heute als eine, wenn nicht als die
Grundlage für das stadtsoziologische Forschen angesehenen Essays „Die Großstädte und
das Geistesleben“ (1903) von G. Simmel demonstriert hat, die Stadtsoziologie von allge-
mein-soziologischen Theoriedebatten und behindert einen selbstreflexiven Umgang der
Disziplin mit ihren sozialtheoretischen Grundlagen (vgl. Schöller-Schwedes 2008).
Geht von dem Großstadtessay Simmels allerdings die eindeutige Anregung aus, es
als Ausführung über ein spezifisch ‚großstädtisch‘ zu nennendes Sozialverhalten zu lesen
und somit zum Ausgangspunkt für eine auf einen soziologischen Gegenstand Großstadt
zentrierte, spezifisch stadtsoziologische Wissensproduktion zu machen, gibt die Stadt-
studie Max Webers keine unmittelbaren Anknüpfungspunkte für soziologische Frage-
stellungen an eine ‚städtisch‘ genannte soziale Wirklichkeit vor. Webers Ausführungen
zum Themenkomplex Stadt bleiben vielmehr in doppelter Weise unzugänglich für einen
spontanen stadtsoziologischen Zugriff:
Erstens lässt sich aus der formalen Textgestalt und der Editionsgeschichte der Stadt-
studie kein offensichtlicher stadtsoziologischer Interpretationszusammenhang herleiten.
Der nachgelassene Text gilt als unvollendet; es kann – so Bruhns im Anschluss an Nippel
(2000) – begründet bezweifelt werden, dass er in der vorliegenden Gestalt überhaupt
einen einheitlich konzipierten Textkorpus abgibt. Für das Textbündel lässt sich ein wahr-
scheinlicher Bearbeitungszeitraum zwischen 1911 und 1914 angeben. Es wurde zuerst 1921
als Aufsatz unter dem Titel „Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung“ im „Archiv für
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ publiziert und ist 1922 mit der Aufnahme in „Wirt-
schaft und Gesellschaft“ als das Kapitel „Die Stadt“ ein Bestandteil des soziologischen
Hauptwerks Max Webers geworden. Dort wurden die Textpassagen unter den Abschnitt
„Typen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung“ subsumiert. Seit der 4.  Auf-
lage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ allerdings ist der Stadttext als das Kapitel „Die
nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte)“ Max Webers herrschaftssoziologischen
Ausführungen zugeordnet (vgl. zur Textgenese, Editionsgeschichte und Zuordnungspro-
blematik z. B. Kaesler 2003: 62 – 63; Nippel 2000: 11 – 15). Im Rahmen des Projekts einer
kritischen Max Weber-Gesamtausgabe sind Webers Ausführungen unter dem Titel „Die
Stadt“ entlang der Erstveröffentlichung im „Archiv“ sowohl kommentiert (Weber 1999)
als auch als Studienausgabe (Weber 2000) erneut veröffentlicht worden, nun allerdings
unter Verzicht auf den die Stadtstudie als „soziologische Untersuchung“ ausweisenden
Untertitel.
Zweitens, und für die Diskussion um den Stellenwert der Stadtstudie Max Webers
im stadtsoziologischen Forschungsfeld entscheidender, liegt ein spezifisch stadtsozio-
logisches Anknüpfen an den Inhalt des Stadttextes nicht auf der Hand. Denn Webers
Abhandlung „Die Stadt“ ist vor allem auf die Struktur und Dynamik der Stadt des euro-
päischen Mittelalters ausgerichtet. Sie wird von Weber epochal gegen die antike Polis, im
Kulturvergleich gegen Entwicklungswege in „Asien“ abgegrenzt und als eine eigenstän-
dige räumlich-soziale Formation in den Blick genommen. Ihr spricht Weber zu, eine so-
zialgeschichtliche „Sonderentwicklung“ (Breuer 2006a: 241) zu sein, deren spezifische
34 Jan Kemper

Kombinationsweise politischer, kultureller und ökonomischer Elemente sie zu einem


„strategischen Punkt“ (Parsons 1996: 55) im Übergang von der traditionalen in die mo-
derne Gesellschaft werden lässt. Mit dieser Ausrichtung ist Webers Stadtstudie nicht als
ein Bestandteil derjenigen um 1900 anhebenden sozialwissenschaftlichen Versuche zu
interpretieren, die den allgemeinen Prozess gesellschaftlicher Modernisierung an Proble-
men der Stadtentwicklung identifizierten und in den Begriffen der Verstädterung (d. h.
der starken räumlichen Verdichtung der Bevölkerung) und der Urbanisierung (d. h. der
Entwicklung und Durchsetzung einer neuartigen ‚städtischen‘ Lebensform und einer
‚urbanen‘ Psychostruktur) sozialanalytisch reflektierten (siehe zu diesen Bestimmungen
Reulecke 1985: 10 f.). Vielmehr, so die generelle Einordnung der Stadtstudie sowohl in der
soziologischen als auch in der historischen Max Weber-Forschung, fügt sie sich ein in
Webers allgemeines Forschungsinteresse an der Genese des okzidentalen Rationalismus.
Die Stadtstudie ist demnach den Bemühungen Max Webers zuzuordnen, die Entwick-
lung der modernen Gesellschaft als eine alle gesellschaftlichen Lebensvollzüge berüh-
rende Steigerung von Prozessen der Beherrschung der inneren und äußeren Natur und
der Berechenbarkeit sozialer Handlungsabläufe zu deuten sowie zu verstehen, wie und
warum diese Entwicklung zuallererst im „Okzident“ zu ihrer Entfaltung gekommen ist
(vgl. für eine Zusammenfassung der Stadtstudie Max Webers z. B. Kaesler 2003: 62 – 69;
Müller 2007: 241 – 247; Krämer-Badoni 1991: 9 – 12).
Der Hinweis auf die mangelnde Erklärungskraft einer allein auf die mittelalterliche
Stadt bezogenen und an der sich aus vormodernen Sozialzusammenhängen heraus for-
mierenden modernen Gesellschaft interessierten Untersuchung für eine Beobachtung
und Erklärung der ‚städtisch‘ genannten sozialen Wirklichkeit der bereits durchgesetz-
ten modernen Gesellschaft war dem in den 1970er Jahren anhebenden, einflussreichen
politisch-ökonomischen Ansatz im Feld der soziologischen Stadtforschung Grund
genug, Webers Stadtstudie als marginal für das stadtsoziologische Forschungsfeld ein-
zuschätzen (vgl. Castells 1976; siehe auch Krämer-Badoni 1991: 9 – 12). Gegenwärtig wird
dieser Hinweis von der historischen Max Weber-Forschung an das stadtsoziologische
Forschungsfeld herangetragen (vgl. Bruhns 2000, 2003; Nippel 1999, 2000). Für sie geht
wegen Webers analytischer Ausklammerung der Großstadt um 1900 als einen eigen-
ständigen Gegenstand und wegen seines auf die Genese des okzidentalen Rationalismus
gerichteten Forschungsinteresses eine Anbindung der Stadtstudie Webers an die Stadtso-
ziologie „an der Sache völlig vorbei“ (Nippel 1999: 13, Fn. 65) und ist deshalb die „Inan-
spruchnahme Webers als Inspirator einer ‚Stadtsoziologie‘“ ein einziges „Mißverständnis“
(Nippel 2000: 37).
Gleichwohl blieb und bleibt die Stadtstudie Max Webers Referenzobjekt für Deu-
tungs- und Orientierungsangebote im stadtsoziologischen Forschungsfeld. Wo diese Be-
zugnahmen mehr sind als rein „deklamatorische Klassikerzitate“ (Bruhns 2000: 40), auf
die H. Bruhns in der Untersuchung „Webers ‚Stadt‘ und die Stadtsoziologie“ (2000) zu
Recht einen Großteil der (gleichwohl wenigen) Weber-Bezüge der stadtsoziologischen
Forschung bringt, sind sie ein Bestandteil von soziologischen Theoretisierungen, wel-
Max Weber 35

che gleichermaßen auf die Konstruktion eines spezifischen soziologischen Gegenstands


Stadt zielen sowie zur Formulierung eines normativ-analytischen Leitbilds für eine so-
ziologisch angeleitete politisch-praktische Realitätsbearbeitung der ‚städtisch‘ genann-
ten Wirklichkeit antreten. Die Stadtstudie wird zu einer Orientierung soziologischer
Stadtforschung auf Urbanität hin verwendet, also für Begründungsversuche spezifischer,
eben ‚urbaner‘ Lebensverhältnisse aktualisiert, die sich durch die Chance zu individu-
eller Freiheit und zu solidarischen Gemeinschaftsbezügen gleichermaßen auszeichnen
lassen sollen. Und sie funktioniert als Ausgangspunkt, von dem aus die Idee der Stadt
als handlungsfähiges politisches Gemeinwesen erneuert werden kann. Dieses Rezeptions-
schicksal der Stadtstudie wird im Folgenden zunächst entlang einer Rekonstruktion des
von Weber in seinem Stadttext errichteten soziologischen Gegenstandsverständnisses der
„okzidentalen Stadt“ des Mittelalters verständlich gemacht. Im Anschluss wird die spezi-
fische Verwendung von Webers Stadtstudie in der soziologischen Stadtforschung näher
beleuchtet.

2 Der soziologische Gegenstand der Stadtstudie Max Webers

Die Anschlussfähigkeit der Stadtstudie Max Webers an die soziologische Stadtforschung


wird oft in dessen einleitenden Formulierungen gesucht, die eine sozioökonomisch orien-
tierte Stadttypologie nahe legen. Aus dem Augenmerk geraten scheint dabei die Frage
nach dem eigentlichen „Wohin“ des epochalen und soziokulturellen Vergleichs, in dem
Weber sein soziologisches Gegenstandsverständnis von Stadt entwickelt hat. Und über-
sehen wird, dass Weber sich einleitend sowohl der um Größe, Dichte und Heterogenität
gruppierten „übliche[n] Vorstellung“ (Weber 2000: 1) von Stadt als auch den bereits eta-
blierten ökonomisch, politisch und kulturell begründeten Stadtdefinitionen seiner Zeit
sowie einer universalhistorisch angelegten Bestimmung der Stadt als die „Verbindung
zentralörtlicher Markt- und Herrschaftsfunktionen“ (Breuer 2006a: 241) vor allem des-
halb versichert, um gegen sie sein spezifisches Erkenntnisinteresse an der „okzidenta-
len Stadt“ des europäischen Mittelalters herausstellen zu können. Methodisch arbeitet
Weber dafür mit dem heuristischen Instrument des Idealtypus. Mit ihm soll gelingen, auf
ein spezifisches Erkenntnisinteresse hin angelegte Schneisen in die Mannigfaltigkeit des
sozialhistorischen Materials zu schlagen. Den impliziten theoretischen Bezugspunkt der
idealtypisch orientierten Vergleichs- und Kontrastierungsoperation in Webers Stadtstu-
die gibt die soziologische Frage nach der Rolle und Bedeutung verbandsförmig gestalteter
sozialer Beziehungen. Weber untersucht die mittelalterliche europäische Stadt wesent-
lich als den „Verband der Stadtgemeinde“ (Weber 2000: 20); als „das Wichtigste“ (Weber
2000: 12) im Gesellschaftsvergleich mit den „asiatischen Städten“ (Weber 2000: 12) Her-
vorzuhebende sowie in den Stadtdefinitionen des common sense offensichtlich nicht Be-
rücksichtigte hält Weber den „Verbandscharakter“ der mittelalterlichen europäischen
Stadt und mit ihm den „Begriff des Stadtbürgers“ (Weber 2000: 12). Von hier aus – mit
36 Jan Kemper

dem Augenmerk auf ein durch eine handlungsorientierende Ordnung und einen sie ga-
rantierenden Verwaltungsstab charakterisiertes soziales Gebilde sowie auf die es tragende
gesellschaftliche Gruppe – nimmt Weber die soziale Struktur und Dynamik der mittel-
alterlichen europäischen Stadt in ihrer Bedeutung für die Formierung der modernen Ge-
sellschaft in den Blick: „Die Stadtgemeinde, und nicht ‚die Stadt‘, wurde sein eigentliches
Untersuchungsobjekt, dessen Bedeutung er für die historische Entwicklung des Bürger-
tums, des modernen Kapitalismus, des modernen, rationalen und bürokratischen Staates
und der okzidentalen Demokratie zu analysieren bestrebt war.“ (Kaesler 2003: 69; zum
Begriff des Verbandes siehe Weber 1980: 26 ff.; eine enge Verbindung zwischen Webers
Stadtstudie und seinem Verbandsinteresse zieht z. B. Bruhns 2000, 2003: 27 ff.)

2.1 Die Struktur der Stadtgemeinde

Die Struktur der Stadtgemeinde des europäischen Mittelalters wird von Weber (1) poli-
tisch-juridisch als eine spezifische Rechtsordnung und als Herrschaftsverband ange-
sprochen. Politisch-rechtliches Kernelement der Stadtgemeinde ist das ständische
Stadtbürgerrecht. Es ersetzt das Personalitätsprinzip des Rechts durch formal-abstrakte
Rechtsnormen, sieht ab von „irrationalen und magischen Beweismittel[n] […] zuguns-
ten einer rationalen Beweiserhebung“ (Weber 2000: 73 – 74) und leistet so eine Nivellie-
rung ständischer Unterschiede zwischen den Bürgern sowie eine Rationalisierung ihrer
rechtlichen Beziehungen untereinander. Zum andern zeichnet es die nun als gleichwer-
tige „Rechtsgenossen“ zueinander stehenden Bürger gegenüber Dritten als Angehörige
eines spezifischen Standes, des Bürgerstandes, aus. Als solche sind sie ausgestattet mit
ihnen eigenen Rechten, Privilegien und Pflichten (vgl. Weber 2000: 29). Etabliert, durch-
gesetzt und behauptet wird die Etablierung und Aneignung des ständischen Stadtbürger-
rechts in der Form eines Herrschaft ausübenden politischen Verbandes, zu dem die als
Bürgerstand sich konstituierenden Teile der Stadtbevölkerung sich zusammenschließen.
Der stadtratliche Verwaltungsstab des „Stadtverbandes“ (Weber 2000: 26) konstituiert-
stabilisiert die neue politisch-juridische Ordnung in Hinblick auf konkurrierende Herr-
schaftsverbände militärisch ‚nach außen‘ und setzt sie in Hinblick auf den Gehorsam der
Stadtbevölkerung mit Zwang ‚nach innen‘ durch.
Die Institutionalisierung der neuen Rechts- und Herrschaftsverhältnisse sieht Weber
(2) normativ-symbolisch ermöglicht, flankiert und bekräftigt durch eine religiös-kultische
Ordnung. Sie lässt die rechtlich sich als Bürgerschaft konstituierenden und politisch zur
Selbstverwaltung gekommenen Stadtbürger ihre Einheit auch als „Kultverband“ (Weber
2000: 24), genauer: als in ritueller Hinsicht auf ein Niederreißen sippenhafter Schran-
ken zwischen den Bürgern angelegte „Christengemeinde“ (Weber 2000: 24) erleben. Die
politisch-juridischen und die soziokulturellen Elemente der Stadtgemeinde zusammen-
genommen lassen die Stadtgemeinde soziologisch als einen spezifischen Modus des ge-
sellschaftlichen Zusammenlebens, als „Zusammentritt zu einer auf allgemeiner sakraler
Max Weber 37

und bürgerlicher Rechtsgleichheit, Konnubium, Tischgemeinschaft, Solidarität nach


außen, ruhenden Stadtbürgervergesellschaftung“ (Weber 2000: 20) erscheinen, der von
Vergesellschaftungsweisen an anderen Orten – in „Asien“ – und zu anderen Zeiten – in
der Antike – abgehoben werden kann. Diese Abhebung vollzieht Weber u. a. in Hinblick
auf den Prozess der Individuierung, den die Stadtgemeinde ebenso trägt wie sie ihn zur
Voraussetzung zu haben scheint: Die „Qualifikation zum Bürger“ (Weber 2000: 24) um-
fasst logisch und historisch die Abstreifung anderer, insbesondere verwandtschaftlicher
Pflicht- und Loyalitätsbeziehungen. „Der Bürger trat wenigstens bei Neuschöpfungen als
Einzelner in die Bürgerschaft ein. Als Einzelner schwur er den Bürgereid. Die persönli-
che Zugehörigkeit zum örtlichen Verband der Stadt, und nicht die Sippe oder der Stamm,
garantierte ihm seine persönliche Rechtstellung als Bürger.“ (Weber 2000: 24)
Schließlich wird die Stadtgemeinde (3) ökonomisch von der Umstellung von einer auf
herrschaftlichem Kommando beruhenden und am herrschaftlichen Bedarf orientierten
zu einer durch geldvermittelte Tauschbeziehungen gekennzeichneten und auf Gewinn
zielenden Wirtschaftsordnung ebenso getragen, wie sie diesen Wandel herbeiführt und
forciert. Was die mittelalterliche europäische Stadt von ihren antiken Vorläufern und den
Städten in „China, Ägypten, Vorderasien, Indien“ (Weber 2000: 12) vor allem unterschei-
det, ist nach Weber die beginnende Herauslösung der Organisation der Produktion und
der Bedingungen der Aneignung des Lebensunterhalts aus den sozialen Strukturen der
Verwandtschaft und der personengebundenen Herrschaft zugunsten einer eigenständi-
gen Sphäre geldvermittelter Tauschwirtschaft. An die Stelle des Oikos, der Hausgemein-
schaft, tritt der Markt als das basale ökonomische Organisationsprinzip (vgl. Weber
2000: 78; zu Oikos und Markt als die gegenpoligen sozioökonomischen Organisations-
prinzipien siehe auch Weber 1980: 230 ff., 382 ff.). Der Ablösung des Oikos durch den
Markt korrespondiert die Ausbildung eines neuen sozialen Typus, des „homo oecono-
micus“ (Weber 2000: 91). Dessen auf Erwerb und Gewinn angelegte Präferenzstruktur
formuliert das Motiv, das die Vereinigung untereinander gleichgestellter und auf recht-
lich formal geregelte Verkehrsverhältnisse drängende Bürger zuallererst konstituiert. Zu-
gleich reflektiert dieses Motiv die soziale Trägerschaft des Vereinigungsprozesses selbst:
Als die sozialen Trägergruppen der „Stadtbürgervergesellschaftung“ (Weber 2000: 20)
fungieren die sich zum Bürgerstand erhebenden grundbesitzenden, handelnden und ge-
werblich produzierenden Schichten der Stadtbevölkerung. Was sich als „Stadtgemein-
de“ und als „Bürgerverband“ durchsetzt, ist faktisch die Etablierung und Aneignung von
Rechten und Privilegien durch eine lokale aristokratische Führung und die (zunächst)
mit ihr verbündete ortsansässige Kaufmannschaft sowie durch die handwerklichen Pro-
duzenten. Sie errichten die stadtbürgerliche Herrschaft gegen die etablierten, feudalen
Herrschaftsgewalten, beherrschen die Entscheidungsprozesse in den Institutionen der
stadtbürgerlichen Selbstverwaltung und bestimmen die städtische Politik gegenüber den
nicht-stadtbürgerlichen Ständen bzw. Schichten inner- und außerhalb der Städte.
Die von Weber in seiner mehrdimensionalen Analyse angesprochenen Elemente
der „Stadtbürgervergesellschaftung“ (Weber 2000: 20) erlauben zusammenfassend eine
38 Jan Kemper

Konstruktion der „okzidentalen Stadt“ des Mittelalters in sechs „spezifischen Züge[n]“


(Weber 2000: 72), die allesamt die Selbstständigkeit der Stadtgemeinde im Sinne eines
Trägers von Hoheitsrechten und eines Herrschaft ausübenden politischen Verbandes an-
sprechen: Charakteristisch für die mittelalterliche Stadtgemeinde sind ihre politische
Selbstständigkeit, eine autonome Rechtssetzung, eine eigene Gerichtsbarkeit und ein
eigener Verwaltungsapparat, die Steuergewalt gegenüber den Bürgern, das Recht und die
Fähigkeit zu einer eigenen Wirtschaftspolitik sowie die Mittel zu einer Steuerung von In-
klusion und Exklusion in den Stadtverband (vgl. Weber 2000: 72 ff.).

2.2 Die Dynamik der Stadtgemeinde

Die Entstehung der mittelalterlichen Stadtgemeinde als das politisch-rechtliche, religiös-


kultische und ökonomische Vehikel im sozialen Wandel ist nicht als notwendiges Resul-
tat eines vorgezeichneten Entwicklungspfades vormoderner Sozialzusammenhänge zu
verstehen, im Gegenteil. Weber entwickelt ihre Genese in einem Interpretationszusam-
menhang, der zunächst und vor allem das politisch-aktive Handeln eines sich erfolgreich
als ‚Stadtbürgerschaft‘ zusammenschließenden und gegen die etablierten feudalen Herr-
schaftsverbände behauptenden Kollektivsubjekts hervorhebt. Konstitutionsprinzip des
menschlichen Zusammenlebens im Modus der „Stadtbürgervergesellschaftung“ (Weber
2000: 20) ist für ihn die conjuratio, eine „Eidverbrüderung“ bzw. „schwurgemeinschaft-
liche Verbrüderung“ der sich zu Bürgern erhebenden und zusammenschließenden
Teile der Stadtbevölkerung. Der Entstehung der „Stadtgemeinde“ geht ihm zufolge auf
einen willkürlich-willentlich getroffenen Beschluss handlungsmächtiger Akteure zu-
rück, qualitativ neue, auf Rechtsgleichheit und Einverständnishandeln gründende sozia-
le Beziehungen zu etablieren, und dafür sich Herrschaftsgewalten anzueignen. Die neue
Vergesellschaftungsweise nimmt sich deshalb als das Ergebnis einer Selbstermächtigung,
als eine „revolutionäre Usurpation“ (Weber 2000: 26) der bis dahin als legitim geltenden
Herrschaftsrechte aus (vgl. z. B. Weber 2000: 25 f.; zu der daran anschließenden Debat-
te um den Bedeutungsumfang des Begriffs der nichtlegitimen Herrschaft im Werk Max
Webers siehe z. B. Breuer 2000; Oexle 1994; Schreiner 1994).
Auf der Errichtung der „Stadtbürgervergesellschaftung“ in einem revolutionären Akt,
einem willentlich-willkürlichen Einschnitt in überkommene Sozialverhältnisse liegt ein
Schwerpunkt in Webers Darstellung seines Gegenstands. Doch auch die Errichtung der
Stadtgemeinde in einem „akuten Vergesellschaftungsakt“ (Weber 2000: 27) vollzieht sich
„[f]reilich nicht überall“ (Weber 2000: 26) im europäischen Mittelalter; und sie geschieht
nicht voraussetzungslos. Wie Weber insgesamt für die historisch-soziologische Analyse
den Verzicht auf Postulate objektiver Notwendigkeiten in der Rekonstruktion geschicht-
lich-gesellschaftlicher Abläufe fordert, dafür eine Rekonstruktion sozialen Geschehens
entlang von Möglichkeitsurteilen proklamiert, verzichtet er auch in der Darstellung der
Entwicklungsgeschichte zur „okzidentalen Stadt“ auf eine positive Entscheidung über den
Max Weber 39

kausalen Primat eines sozialen Strukturierungsfaktors. Die Bedingungen der Möglichkeit


für die Aneignung der politischen Herrschaft durch einen „Bürgerverband“ wägt Weber
vielmehr entlang der je spezifischen Ausprägungen in der politischen, ökonomischen und
normativ-symbolischen Dimension des gesellschaftlichen Geschehens ab. Sie werden als
fördernd bzw. hemmend für die Konstitution der mittelalterlichen Stadtgemeinde zu
einem sozialen Sondergebilde gekennzeichnet: Zum einen sind es (1) politische Umstände,
die Weber in Betracht zieht, sich begünstigend oder hemmend auf die Konstituierung
eines Bürgerverbandes ausgewirkt zu haben. Starke Territorialgewalten bzw. ausgebil-
dete bürokratische Apparate und eine „militärische Wehrlosigkeit der Untertanen“, die
aus ihrer Trennung von „Kriegsmitteln“ resultiert, haben offensichtlich „keine politische,
der Königsmacht gegenüber selbständige Bürgergemeinde“ (Weber 2000: 34 – 35) zuge-
lassen. Konkurrenz der Zentralgewalten untereinander bzw. zwischen den konkurrieren-
den feudalen Herrschaftsgewalten dagegen gaben Raum und Möglichkeit zur Entfaltung
der politischen Autonomie der Städte (vgl. Weber 2000: 89 f.). Zum anderen haben
(2) Ausprägungen im soziokulturellen Normensystem begünstigend bzw. hemmend auf die
Chance zur Eidverbrüderung gewirkt: Wo wie in „Asien“ durch eine „magische Verklam-
merung der Sippen“ (Weber 2000: 34) bzw. durch das Kastensystem die traditionellen
Loyalitätsbeziehungen und Zugehörigkeiten nicht gesprengt bzw. in Auflösung begrif-
fen gewesen seien, habe sich keine Vergesellschaftungsweise ausbilden können, die nicht
oder zunehmend weniger auf Formen der Verwandtschaft, stattdessen auf Beschluss und
Einverständnishandeln ruhe. Wo hingegen wie im „Okzident“ das Christentum als zen-
trales Moment der Lebensführung bereits durchgesetzt war, habe die Vorstellung einer
umfassend-einschließenden Kultgemeinde „Tabuschranken“ (Weber 2000: 22) zwischen
Bevölkerungsgruppen eingerissen bzw. nicht aufkommen lassen (vgl. Weber 2000: 34).
Schließlich scheinen (3) sozioökonomische Konstellationen die Chance zu einer auf ratio-
nalisierte Sozialverhältnisse drängende „Eidverbrüderung“ zu fördern oder zu blockie-
ren. Hier allerdings wird zugleich ein zirkulärer Zug in Webers Stadtstudie deutlich (vgl.
dazu Merrington 1978): Kann Weber für die ‚Stromuferkulturen‘ des Vorderen Orients
noch eindeutige „ökonomisch-soziologische[] Unterlagen“ (Weber 2000: 34) nennen, die
eine Entfaltung einer geldvermittelten Ökonomie und ihres politisch-rechtlichen Kom-
plements eines sich selbst verwaltenden Bürgerverbandes verhindert haben, bleibt ein
positives sozialgeschichtliches Explanans für die Entstehung der die Souveränitätsbestre-
bungen der Stadtgemeinde tragenden ökonomischen Potenzen des Bürgertums selbst
undeutlich. Eine sozioökonomisch angelegte Erklärung der politischen Machtansprüche
des mittelalterlichen Stadtbürgertums verkürzt Weber auf das Interesse der ökonomisch
privilegierten Schichten der Stadtbevölkerung an einer ihre soziale Macht schützenden
und fördernden politischen Selbstbestimmung. Zusammenfassend gilt für die Gelegen-
heitsstruktur der Institutionalisierung stadtbürgerlicher Selbstbestimmung im europäischen
Mittelalter: „Entscheidend war für die Entwicklung der mittelalterlichen Stadt zum Ver-
band […], daß die Bürger in einer Zeit, als ihre ökonomischen Interessen zur anstaltsmä-
ßigen Vergesellschaftung drängten, einerseits daran nicht durch magische oder religiöse
40 Jan Kemper

Schranken gehindert waren, und daß andererseits auch keine rationale Verwaltung eines
politischen Verbandes über ihnen stand.“ (Weber 2000: 26)
Die von Weber skizzierte Fortentwicklung der mittelalterlichen „okzidentalen Stadt“
kann (unter Vernachlässigung der von ihm ausführlich diskutierten nationalen und
regionalen Besonderheiten) grob in zwei Schritten zusammengefasst werden. (1) Die
interne Dynamik des etablierten stadtbürgerlichen Zusammenschlusses zu einer sozial-
politischen Interessengemeinschaft sieht Weber vor allem von dem Konflikt zwischen
stadtsässigem Adel und den nicht-adligen Teilen der Stadtbevölkerung um die politi-
sche Macht im Stadtverband und, davon abhängig, um die Ausgestaltung der städti-
schen Wirtschaftspolitik geprägt. Dessen Ausgang lässt sich (zumindest für die Städte
Nordwesteuropas) zu einer Durchsetzung der handelskapitalen Kaufmannschaft und der
in Zünften zusammengeschlossenen handwerklichen Produzenten verallgemeinern, in
deren Folge unter der „Herrschaft der Zünfte“ die Entwicklungsrichtung der mittelalter-
lichen Stadt als ein „in der Richtung des Erwerbs durch rationale Wirtschaft orientiertes
Gebilde“ (Weber 2000: 97 – 98) fundamentiert wird (vgl. Weber 2000: 97 f.; siehe Breuer
2006b für eine Analyse der südeuropäischen Stadtentwicklung als einen Fall „blockier-
ter Rationalisierung“). (2) Den Niedergang der „okzidentalen Stadt“ des Mittelalters als
eine eigenständige, von ihrer feudalen Umwelt abhebbare politisch-ökonomische For-
mation spricht Weber vor allem als einen Prozess an, der durch das Wiedererstarken
einer konzentrierten, übergeordneten politischen Gewalt und durch veränderte ökono-
mische Gewinnchancen evoziert wird. Den Schwerpunkt legt Weber auf die Entwick-
lung hin zum absolutistischen Territorialstaat. In dem Maße, wie der neuzeitliche Staat
Gestalt annimmt, wird zwar nicht die ökonomische Grundlage des Stadtbürgertums, die
Marktwirtschaft der Stadt, aber seine politische Selbstständigkeit beschnitten. Die Ra-
tionalisierung des Rechts und der Verwaltung werden nun vom absolutistischen Staat
selbst vorangetrieben (vgl. z. B. Weber 2000: 76 f.). Mehr indirekt, und durch die Figur
des Unternehmers überspielt, deutet Weber darüber hinaus die ökonomischen Verschie-
bungen an, die der „okzidentalen Stadt“ des Mittelalters ihre ökonomischen Grundlagen
nehmen. Den „ökonomische[n] Niedergang zahlreicher Städte“ sieht Weber (allerdings
nur teilweise) „durch das Entstehen von großen Hausindustrien, die auf außerstädtischer
Arbeitskraft ruhten“, bedingt und spricht die „sich neu auftuenden Erwerbschancen“
in „inländischen und überseeischen Unternehmungen des Patrimonialismus“ (Weber
2000:  77) an. Vor diesem Hintergrund kommt es zu räumlichen Standortverlagerun-
gen der „neuen kapitalistischen Unternehmungen“ (Weber 2000: 77) an geeignete neue
Standorte außerhalb der mittelalterlichen Städte und zu einem gesellschaftlichen Bedeu-
tungsverlust der Stadtgemeinde als die politische Repräsentanz ökonomisch privilegier-
ter Bevölkerungsteile. „[D]er Unternehmer“, beobachtet Weber, „rief für seine Interessen
jetzt nach anderen Helfern […] als einer lokalen Bürgergemeinschaft.“ (Weber 2000: 77)
Er findet sie in den Bestrebungen der fürstlich-absolutistischen Herrschaft, mit den kon-
kurrierenden Gewalten und der ständischen Ordnung des mittelalterlichen Sozialgefü-
ges zu brechen.
Max Weber 41

Anders formuliert: Max Webers Konstruktion der Struktur und Geschichte der „spe-
zifischen politischen und ökonomischen Eigenart der mittelalterlichen Städte“ (Weber
2000: 78) bricht ab, wo seine eigenen Ausführungen über den Monopolisierungsprozess
der politisch-herrschaftlichen Gewalt und über die Vollendung des Rationalisierungs-
prozesses auf dem Gebiet der Religionsentwicklung im „asketischen Protestantismus“
sowie die Ausführungen von K. Marx über den Durchbruch der Formen einfacher Wa-
renproduktion und -zirkulation zum historischen Sozialsystem „Kapitalismus“ im Pro-
zess der „sogenannten ursprünglichen Akkumulation“ des Kapitals und der Verlagerung
der Produktionsprozesse vom Handwerksbetrieb auf die Manufaktur anheben (vgl. für
eine Zusammenfassung der Rekonstruktion der Genese des Kapitalismus durch Marx
und Weber Roth 2003: 644 ff.). Die rationalisierenden Folgewirkungen der erkämpften
Selbstständigkeit des mittelalterlichen Stadtbürgertums auf diese Entwicklungen über
ihren Niedergang hinaus werden von Weber in Hinblick auf die Wirtschaftsweise, vor
allem aber auf den Gebieten der Verwaltung und des Rechts verfolgt. Die stadtbürger-
liche Herrschaft ist nach Weber sozialhistorisch als „ein höchst entscheidender Faktor“
(Weber 2000: 72) weniger für den Prozess der Demokratisierung politischer Herrschaft,
mehr für den der Rationalisierung der Herrschaftsausübung einzuschätzen.

3 Der Erkenntniseffekt der Stadtstudie Max Webers

Weber präsentiert die mittelalterliche europäische Stadt als ein die Einheit von politischer
Souveränität, religiöser Moral und geldvermittelter Tauschwirtschaft gewährleistendes
soziales Gebilde. Sie erscheint als eine Sozialform, in der eine Ausdifferenzierung der ge-
sellschaftlichen Reproduktion in die Dimensionen der Sozial- und der Systemintegration
zwar (schon) vollzogen ist, aber (noch) nicht als problematisch in Erscheinung tritt. In
gewisser Weise wird also das an der antiken Polis gewonnene Ideal eines politisch hand-
lungsfähigen und sozial homogenen Gemeinwesens (vgl. dazu Schroer 2005: 331 f.) wie-
derholt, aber ergänzt und ausgeweitet um ein auf Erwerb und Gewinn ausgerichtetes
Handlungsstreben. Gerade in Abgrenzung zum „homo politicus“ der Antike behauptet
Weber für das Handeln des mittelalterlichen Stadtbürgers auch eine kommerziell-gewerb-
lich interessierte Handlungsorientierung. Sie aber kollidiert nicht mit den politischen
und religiösen Ordnungsvorstellungen, sondern geht mit ihnen zusammen. Der Stadt-
verband wird als eine Form sozialer Beziehung geschildert, also als „ein seinem Sinnge-
halt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten
mehrerer“ (Weber 1980: 13; Herv. im Orig. gestrichen) betrachtet, die eine Handlungs-
orientierung an gemeinschaftlich-religiösen Gesichtspunkten ebenso umschließt wie sie
ein kooperativ-politisches Einverständnishandeln bezeichnet und eine privat-ökonomi-
sche, auf Gewinn ausgerichtete Interessensverfolgung erlaubt. Das den Stadtverband tra-
gende „Bürger“-Subjekt wird als eines präsentiert, das der Vorstellung eines normativ
integrierten Gemeinwesens ebenso entspricht wie der von kollektiver Freiheit und indi-
42 Jan Kemper

vidueller Eigenverantwortung. Das menschliche Zusammenleben in der Form moderner


Gesellschaft erscheint so zumindest zu ihrem Beginn als eine Gleichzeitigkeit von indi-
vidueller Freiheit, gesellschaftlicher Zugehörigkeit und gemeinschaftlicher Selbstbestim-
mung, als Einheit von allgemeinem und besonderem Interesse.
In das zeitliche Nacheinander und kulturräumliche Nebeneinander gestellt, mag die-
ser Stadtentwurf vielleicht im Kontrast zur antiken bzw. asiatischen Stadtentwicklung
stehen. Mit Bezug auf die Geschichte der soziologischen Bearbeitung des Themenkom-
plexes Stadt wirkt er vor allem als das Gegenstück zu einem Stadtverständnis, wie es
F. Engels entlang der Industriestädte Englands entwickelt hat, von wo er „die gefühllose
Isolierung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen“ schildert und deshalb die moder-
ne Großstadt als den Ort einschätzt, an dem „der soziale Krieg, der Krieg Aller gegen
Alle, […] offen erklärt ist.“ (Engels 1970: 257) Oder wie es G. Simmel zeichnete, wenn er
von persönlichkeitsnivellierenden und gemeinschaftsgefährdenden Gefahren, aber auch
von Emanzipationsgewinnen spricht, die aus der Erosion traditionaler Vergemeinschaf-
tungsmomente und aus den Differenzierungen im sozialen Leben der modernen Groß-
stadt hervorgehen (vgl. Simmel 1903). Dort sind Ordnung und Freiheit bzw. Integration
und Differenzierung konträr gedacht; ihre Relationierung gelingt nicht bzw. nur krisen-
haft (Engels) oder bleibt notwendig prekär (Simmel). In Webers Stadtentwurf der mittel-
alterlichen Stadt als Stadtverband hingegen bleibt das Verhältnis von allgemeinem und
partikularem Interesse unproblematisch. Er übermittelt damit ein anderes Bild von Ur-
banität, als es im sozialwissenschaftlichen Großstadtdiskurs um 1900 für die moderne
Großstadt entworfen wurde. Nicht urbane Indifferenz, sondern ebenso individuell ge-
wollte wie gemeinsam durchgesetzte, kooperative Interessensvertretung ist das (Leit-)
Bild, das Weber entlang seiner Ausführungen über die „Stadtbürgervergesellschaftung“
(Weber 2000: 20) ausgibt bzw. das aus seinem Text herausgelesen werden kann (vgl. zu
diesem Leseeindruck z. B. Ringer 1994, 2004: 203 ff.).
Im Für und Wider einer Deutung der „okzidentalen Stadt“ des Mittelalters als Keim-
zelle der bürgerlichen Gesellschaft ist hervorgehoben worden, dass Weber in seiner
Stadtstudie auch jene Aspekte anspricht, die einer Interpretation der mittelalterlichen
Stadtgemeinde als die Vorwegnahme moderner Vergesellschaftung zuwiderlaufen (vgl.
Breuer 2006a: 251 f.). So lässt Weber z. B. keinen Zweifel daran, dass das ständische
Stadtbürgerrecht mehr Ausdruck der feudalen Ständeordnung war als ihr entgegen-
stand, dass der Stadtverband sich tatsächlich als eine oligarchische Herrschaft der öko-
nomisch potenten Schichten der Stadtbevölkerung ausnahm, dass faktisch ein Großteil
der Stadtgründungen nicht auf den revolutionären Akt der „Verbrüderung“, sondern auf
die politisch-ökonomischen Interessen der etablierten feudalen Herrschaft zurückzu-
führen sind.
Wenn dennoch als Grundzug der Weberschen Argumentation erscheint, die mittel-
alterlichen Stadtgemeinde als ein handlungsfähiges Kollektivsubjekt einzuführen, für
das privat-ökonomische Interessensverfolgung und kollektiv-politische Interessens-
vertretung kein Gegensatz sind, sondern zusammengehen, kann das als der Versuch
Max Weber 43

Webers genommen werden, entlang des Themenkomplexes Stadt gegen eine problema-
tisch empfundene spätbürgerliche politische Ohnmacht einen positiv-aktiven Entwurf
frühbürgerlicher Selbstbehauptung zu entfalten. Die Schilderung der gesellschaftsgestal-
tenden Kraft mittelalterlicher „Stadtbürgervergesellschaftung“ (Weber 2000: 20) erfolg-
te auch aus solchen sozialtheoretischen Erwägungen und politischen Absichten heraus,
die auf eine Gegenerzählung zu der von Weber selbst erlebten politischen Handlungs-
lähmung des wilhelminischen Bürgertums hinauslaufen (vgl. zu dieser Interpretation
Schreiner 1994: 210 f.).

4 Der Verwendungszusammenhang der Stadtstudie Max Webers


in der soziologischen Stadtforschung

Eine Aktualisierung der an der mittelalterlichen Stadtgemeinde gewonnen Beschrei-


bung der Stadt als handlungsfähigen und die Identität von Partikular- und Allgemein-
interessen garantierenden politischen Verband an der modernen Großstadt kam für Max
Weber selbst nicht in Frage. In der sich durchsetzenden modernen Gesellschaft beob-
achtete er die Ausdifferenzierung einheitlicher, wertrational orientierter Zwecksetzun-
gen in subjektiv-zweckrational orientierte Zielverfolgungen sowie eine Universalisierung
der einst als spezifisch ‚städtisch‘ erschienenen Vergesellschaftungsweise. Daran gebun-
den ist die Auflösung des Stadt/Land-Gegensatzes als taugliches Muster zur soziologi-
schen Beschreibung moderner Sozialverhältnisse. Dazu angehalten, im Rahmen des
Begleitprogramms zur Weltausstellung in St. Louis 1904 auf dem „Congress of Arts and
Science“ über die „rural community“ zu sprechen, hält Weber (so nach der englischen
Übersetzung seiner Rede) einleitend fest: „a rural society, separate from the urban so-
cial community, does not exist at the present time in a great part of the modern civilized
world.“ (Weber 1998: 212; vgl. Bonner 1998: 179 f.) Das am sozialen Gebilde der mittelal-
terlichen Stadt verdeckt thematisierte Integrationsproblem der modernen Gesellschaft
und die Frage nach der Chance eines einheitlichen Verbandshandelns werden anderswo
weiterverfolgt. Systematisch werden sie von Weber vor allem mit dem Hinweis (und in
der Hoffnung) auf die integrative Funktion bürokratisch-staatlicher Herrschaft angegan-
gen (vgl. Schimank 1996: 63 f.; für eine Zuspitzung der politisch-praktischen Impulse des
Weberschen Forschungsprogramms auf ein Bürgertum und Facharbeiterschaft umschlie-
ßendes Modernisierungsprojekt für das kaiserliche Deutschland siehe Rehmann 1998).
Im Feld der Stadtsoziologie ist die Schwierigkeit, unter veränderten sozialhistorischen
Voraussetzungen in direktem Anschluss an Webers Stadtstudie die Stadt weiterhin als
eine spezifische, von anderen sozialen Formationen qualitativ unterscheidbare sozio-
politische Einheit anzusprechen, nicht übersehen worden (vgl. Saunders 1987: 33 ff.). Die
gleichwohl vorhandenen Versuche, für eine soziologische Bestimmung und für eine so-
ziologisch angeleitete politische Realitätsbearbeitung der ‚städtisch‘ genannten sozialen
Wirklichkeit an Webers Stadtstudie anzuknüpfen, fallen vor diesem Hintergrund not-
44 Jan Kemper

wendig selektiv aus. Um das aus dem Stadttext herauslesbare, von Weber an der mittelal-
terlichen Handels- und Gewerbestadt abgetragene Ideal der Identität von Partikular- und
Allgemeininteresse entlang der modernen, kapitalistischen Stadt erneuern zu können,
muss einiges hervorgehoben, anderes ausgeblendet und Drittes so strapaziert werden,
dass von einem Anknüpfen an Webers Stadtstudie im Sinne eines geschlossenen „Weber-
Paradigmas“ im Feld soziologischer Stadtforschung nur schlecht gesprochen werden
kann. Am selektiven Umgang mit Webers Stadttext lässt sich vielmehr die je spezifische
gesellschaftspolitische Situation verfolgen, die das soziologische Forschungsinteresse am
Gegenstand Stadt (mit-)bestimmt: (a) In der Stadttheorie Hans Paul Bahrdts das Rin-
gen um einen reformpolitisch orientierten politisch-staatlichen Lenkungsanspruch für
die Stadt- und Gesellschaftsgestaltung; (b) in der Stadt- und Gesellschaftskritik Richard
Sennetts die Desillusion über die wissenschaftlich angeleiteten staatlichen Planungs-
und Steuerungsprozesse und die sie legitimierenden Integrations- und Gleichheitsver-
sprechen des Interventions- und Wohlfahrtsstaats; (c) im Diskurs um die „Europäische
Stadt“ die Dekomposition interventionsstaatlicher Planungs- und Steuerungsabsichten
und wohlfahrtsstaatlicher Integrationsmechanismen.

4.1 Die Stadtstudie Max Webers in Hans Paul Bahrdts „Theorie der Stadt“

Das Forschungsinteresse des Soziologen Hans Paul Bahrdt (1918 – 1994) in „Die moder-
ne Großstadt“ (1998, orig. 1961/1969) ist auf die Reetablierung von Urbanität fokussiert.
Stadtsoziologie soll als Soziologie der Bedingungen und der Möglichkeit einer sich eben-
so baulich ausgedrückten wie habituell internalisierten und sozial praktizierten Form der
gelungenen Balance von Integration und Differenzierung, von Einpassung und Individu-
ierung betrieben werden (vgl. Kirschenmann 1971: 130 ff.; für eine Zusammenfassung der
Stadttheorie Bahrdts siehe Häußermann/Siebel 2004: 55 – 66).
Den Kern von Bahrdts Reetablierungsversuch von Urbanität bildet die Dichotomie
„Öffentlichkeit und Privatheit“ (Bahrdt 1998: 81 ff.). Bahrdt definiert ‚städtisch‘ zu nen-
nende soziale Lebensverhältnisse als solche, die durch eine Tendenz zu einer Polarität
und zu einer Wechselbeziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre zu kenn-
zeichnen seien; die Stadt wiederum als „eine Ansiedlung, in der das gesamte, also auch
das alltägliche Leben die Tendenz zeigt, sich zu polarisieren, d. h. entweder im sozialen
Aggregatzustand der Öffentlichkeit oder in dem der Privatheit stattzufinden.“ (Bahrdt
1998: 83) Mit diesen Definitionen gelingt Bahrdt zuallererst eine soziologische Bestim-
mung einer spezifisch ‚städtisch‘ zu nennenden Form sozialer Beziehungen. Der Dua-
lismus von Öffentlichkeit und Privatheit kann erfolgreich gegen eine Reduzierung des
städtischen Sozialverhaltens auf einen einzigen städtischen Verhaltenstyp sowie gegen
allein juridische oder rein quantitative Stadtbegriffe abgegrenzt werden. „Worauf es an-
kommt“, schreibt Bahrdt in Hinblick auf eine soziologische Definition von Stadt und
Städtischem, „ist nicht die bloße Zahl beieinanderwohnender Menschen, sondern die
Max Weber 45

besondere Weise, in der sie sich gesellschaftlich zueinander verhalten.“ (Bahrdt 1998: 84)
Mit der Betonung der Ausdifferenzierung vormoderner Sozialzusammenhänge in einen
Dualismus von öffentlicher und privater Sphäre als das Proprium genuin städtischer so-
zialer Beziehungen gewinnt Bahrdt darüber hinaus einen Maßstab zu einer Bemessung
des ‚urbanen‘ Charakters der Städte seiner Zeit: „Je stärker Polarität und Wechselbezie-
hung zwischen öffentlicher und privater Sphäre sich ausprägen, desto ‚städtischer‘ ist,
soziologisch gesehen, das Leben einer Ansiedlung. Je weniger dies der Fall ist, desto ge-
ringer ist der Stadtcharakter einer Ansiedlung ausgebildet.“ (Bahrdt 1998: 83 – 84) An
diese Bestimmungen ist schließlich Bahrdts zeitdiagnostisches Urteil über die ihm gegen-
wärtigen Stadtentwicklungsprozesse gebunden. Bahrdt beobachtet vor dem Hintergrund
„wachsender privater wirtschaftlicher Macht und wachsender Bürokratisierung der Herr-
schaftsorganisation“ (Bahrdt 1998: 49) eine „Störung des Wechselverhältnisses, sowohl
der Spannung als auch der Verbindung von privaten und öffentlichen Verhaltensweisen“
(Bahrdt 1998: 33). In einer „vom Kapitalismus geprägten, bürokratisch verwalteten In-
dustriegesellschaft“ drohe die „Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit einen Teil ihrer
Kraft als Strukturprinzip der Gesellung“ (Bahrdt 1998: 49) in der Großstadt zu verlieren.
Die Argumente, mit denen Bahrdt seine soziologisch orientierte Begriffsbestimmung
der Stadt, seinen normativ-analytischen Maßstab des Städtischen und sein zeitdiagnos-
tisches Urteil über die moderne Großstadt aufbaut, werden in „Die moderne Großstadt“
vor allem unter Rückgriff auf die Stadtstudie Max Webers gewonnen. Allerdings stützt
sich Bahrdt fast ausschließlich auf den ökonomischen Aspekt der Weberschen Stadt-
betrachtung, d. h. auf die Einführung der mittelalterlichen Stadt als Marktort und auf
die Ausdeutung ihrer Vergesellschaftungsform als die einer gegen den Oikos gestellten
Marktvergesellschaftung (vgl. Bahrdt 1998: 81 f.). Eine tauschvermittelte Interaktion ga-
rantiert für Bahrdt in einer formal-soziologischen Weiterführung des Weberschen Stadt-
textes die Grundlage für einen „lückenhaft“ und deshalb „unvollständig“ bleibenden
Modus der Integration der Einzelnen in ein städtisches Zusammenleben. Gerade die ne-
gative, von geteilten Sinnzusammenhängen und soziomoralischen Imperativen abstra-
hierende Vergesellschaftung über den Markt ermögliche eine freie Interaktion zwischen
voneinander unabhängigen, von ihren weiteren Sozialbezügen absehenden Akteuren.
Das Koordinationsmedium Markt eröffne so die Möglichkeit zur Individuierung sowie
die Chance zu einer durch Distanz und stilisierter Selbstdarstellung bestimmten bürger-
lichen Öffentlichkeit. Ihr korrespondiert eine von gesellschaftlichen Reglementierungen
weitgehend unabhängige Sphäre des Privaten, in der sich die in den tauschförmig gestal-
teten Sozialbeziehungen unberücksichtigt bleibenden Persönlichkeitsaspekte artikulie-
ren und entfalten können (vgl. Bahrdt 1998: 86 f.).
Bahrdt folgt Max Weber in der Einführung des Stadtbürgers als „homo oeconomic-
us“ und lässt eine Begründung für dessen Handlungsorientierungen auf den objekti-
ven Erfahrungszusammenhang einer Tauschwirtschaft hinauslaufen. Er „erhebt das
vom Tauschhandel geprägte Verhalten zum entscheidenden Kriterium der Stadtbil-
dung.“ (Kirschenmann 1971: 133) Betont werden allerdings nur die egalitären, auf die
46 Jan Kemper

Anerkennung des anderen als Tauschpartner ausgerichteten Züge marktförmig gestal-


teter Sozialkontakte. Minimiert werden der Aspekt der Konkurrenz und das Problem
des Zugangs zu den Tauschmitteln. Darüber hinaus scheint Bahrdt die motivationalen
und vergemeinschaftenden Aspekte in Webers Stadtstudie zu vernachlässigen, die nach
Weber die (Selbst-)Konstitution der mittelalterlichen europäischen Städte als gegen
Oikos und Feudalismus gerichtete Bürgerstädte begleitet bzw. zuallererst ermöglicht
haben. Das aber wirkt sich als eine generelle Ausblendung der diesem Zusammenhang
anhängigen Problemstellungen aus. Kaum thematisiert Bahrdt entlang des Aufgaben-
und Themenfelds Stadt Möglichkeiten und Bedingungen für die Formierung politischer
Kollektivakteure, kaum stellt er die Frage nach Trägergruppen sozialer Bewegungen und
deren Interessen.
Bahrdts selektive Rezeption von Webers Stadtstudie schlägt so auf dreierlei Art und
Weise auf sein zeitdiagnostisches Urteil und auf seine Vorschläge für eine Realitätsbear-
beitung der ‚städtisch‘ genannten sozialen Wirklichkeit im Namen des Urbanitätsideals
durch. (1) Bahrdt zeichnet tendenziell ein Bild auch der durchgesetzten kapitalistischen
Gesellschaftsformation als das einer auf einfacher Warenproduktion beruhenden Ge-
sellschaft. In Überdehnung der Vorstellung der mittelalterlichen „Stadtbürgervergesell-
schaftung“ (Weber 2000: 20) als Marktvergesellschaftung (aber unter Absehung der von
Weber betonten Einheit von (Stadt-)Politik, Religion und Markt) wird der städtische So-
zialzusammenhang wesentlich als geldvermittelte Tauschgesellschaft selbständiger Pro-
duzenten verstanden. Bahrdts Modell des Dualismus von Öffentlichkeit und Privatheit
als das geschichtlich-gesellschaftlich begründete Prinzip der Soziierung in Städten bleibt
daher grundsätzlich „gebunden an das Modell einer Gesellschaft von Kleinwarenpro-
duzenten […], an den freien Wettbewerb […] und an den prinzipiellen Ausgleich von
Angebot und Nachfrage […].“ (Häußermann/Siebel 2004: 63) (2) Momente und Ten-
denzen, die diesem Modell zuwiderlaufen – die Lebenssituation der arbeitenden Klassen,
die Monopolisierungstendenz auf Märkten, die interventionsstaatlichen Eingriffe in das
ökonomische System –, werden von Bahrdt in „Die moderne Großstadt“ zwar ausgiebig
kommentiert und einerseits zur Grundlage seiner Ausführungen über die „moderne in-
dustrielle Großstadt“ (Bahrdt 1998: 131 ff.) gemacht. Sie werden aber andererseits nicht
selbst systemisch aus den Prinzipien der Marktvergesellschaftung heraus entwickelt. Die
Bedrohungen, die Bahrdt für das Prinzip der Dualität von Öffentlichkeit und Privatheit
ausmacht, haben deshalb prinzipiell kein Fundament in der Vergesellschaftungsform
„Stadt“, sondern scheinen von ‚außen‘ an sie heran zu treten. (3) Bahrdts Ratschläge zu
einer „Urbanisierung der Großstadt“ (Bahrdt 1998: 167 ff.) sind deshalb nicht auf die Auf-
lösung einer sozialen Aporie gerichtet noch werden sie von einer gesellschaftspolitischen
Auseinandersetzung zwischen sozialen Gruppen und ihren Interessen abhängig gemacht.
Das in der ökonomischen Gesellschaftsstruktur angelegt gesehene Prinzip einer freiheits-
garantierenden unvollständigen Integration soll vielmehr durch eine reformpolitisch
ausgerichtete staatliche Städtebaupolitik gestützt, flankiert und zur Geltung gebracht
werden. Stadtsoziologische Expertise für die (bau-)politischen Entscheidungen des poli-
Max Weber 47

tisch-administrativen Systems soll die Bewahrung bzw. Ermöglichung von Urbanität,


d. h. die Aufrechterhaltung der „Polarität und Wechselbeziehung von öffentlicher und
privater Sphäre“ als das „Kriterium einer städtischen Soziierung“ (Bahrdt 1998: 84) in der
Kontinuität der „Sozialgeschichte des abendländischen Bürgertums“ (Bahrdt 1998: 34)
auch für die spät- bzw. nachbürgerliche Stadt garantieren.

4.2 Die Stadtstudie Max Webers in der Stadt- und Gesellschaftskritik Richard Sennetts

Die ins Sozialphilosophische gehenden Ausführungen des Soziologen Richard Sennett


(*1943) lassen sich als Kritik der Nivellierung soziokultureller Differenzen und politi-
scher Konflikte im Rahmen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses der Nach-
kriegszeit lesen. Seine frühen Schriften „The Uses of Disorder: Personal Identity and City
Life“ und „Families Against the City“ (Sennett 1970, 1970a) sind nach Smith (1979) auf
die Diagnosen der Vereinseitigung heterogener Lebenswelten, des individuellen Erfah-
rungsverlusts und der Entdiversifizierung mannigfaltiger Lebensvollzüge konzentriert.
Diese Defizit- und Verlusterzählung arbeitet mit zwei zentralen Beobachtungen: Zum
einen sieht Sennett von dem erreichten Niveau des gesellschaftlichen Wohlstands und
von den Interventionen der bürokratisch-autoritären Apparate des politischen Systems
eine Gefährdung des individuellen gesellschaftspolitischen Engagements ausgehen. Die
durch den materiellen Wohlstand hervorgerufene gesellschaftspolitische Passivität und
die durch den Etatismus bewirkte Bevormundung korrespondiere zum anderen mit
einer im Prozess der Suburbanisierung deutlich werdenden Tendenz zum Konformis-
mus, zur Konflikt- und zur Erfahrungsunfähigkeit. Zusammengenommen dominiere ein
individualistischer ‚Rückzug ins Private‘. Ihn gelte es durch eine Erneuerung von Be-
teiligungschancen und Gestaltungsmöglichkeiten aufzuhalten und zu überwinden (vgl.
Smith 1979: 153 – 160; siehe für eine Zusammenfassung von Sennetts Werken unter dem
Gesichtspunkt der Kernthese mangelnder Konfrontationsbereitschaft und Rückzugsten-
denzen der Individuen Schroer 2005a).
Ähnlich wie Bahrdt plädiert Sennett für eine Rekonstruktion von Urbanität, verstan-
den als ein das private wie das öffentliche Anliegen im spannungsreichen Gleichgewicht
haltendes Sozialgeschehen. Anders als Bahrdt lässt Sennett seinen politisch-praktischen
Therapievorschlag aber nicht auf eine engagiert-aufgeklärte staatliche Reformpolitik hin-
auslaufen. Stattdessen schlägt er eine Schwächung der familialen und staatlichen Instituti-
onen sozialer Kontrolle durch eine Dezentralisierung und Fragmentierung von Macht vor.
Die Möglichkeit zu einer Übernahme von Verantwortung soll die problematisierte politi-
sche Apathie der Einzelnen überwinden helfen (vgl. Smith 1979: 160 – 165). Damit geht es
Sennett nicht um eine Konfrontation der sozial- und interventionsstaatlichen Stadt- und
Gesellschaftsgestaltung mit anti-staatlich und gegenkulturell akzentuierten, kommunita-
ristisch orientierten Gemeinschaftsvorstellungen, im Gegenteil. Letztere erscheinen ihm
nur als das selbst auferlegte Äquivalent zur staatlich verordneten Unmündigkeit. In ihnen
48 Jan Kemper

drohten Harmoniesehnsucht und Tugendterror den politisch-staatlichen Dirigismus und


dessen Gleichmacherei nur zu wiederholen statt aufzuheben. Die von Sennett sowohl
verteidigte als auch ersehnte „city culture“ dagegen vermag Unterschiedlichkeiten eben-
so zuzulassen wie sie Konflikte aushält und ein aufeinander bezogenes Handeln gewähr-
leistet (vgl. Schroer 2005a: 254 f.; zu Sennetts Opposition zum Kommunitarismus und zu
seinem positiven Konfliktbegriff siehe z. B. auch Sennett 2008: 197 f.).
Die Grundlage für seine Verteidigung einer spezifischen Stadtkultur sowohl gegen
ihre bürokratische Überformung als auch gegen ihre privatistische Zersetzung hatte Sen-
nett schon zuvor, mit der Herausgabe von „Classic Essays on the Culture of Cities“ (1969),
gelegt. Hier interpretiert er einleitend die Konstituierung eines aus der allgemeinen So-
ziologie ausdifferenzierten, auf den Gegenstand Stadt beschränkten Forschungsinteres-
ses als eines, dem es gelungen sei, Stadt und Städtisches als „a problem of itself “ (Sennett
1969: 4) zu verstehen. Die „complexity of experience that occurred in a city“ (Sennett
1969: 4) soll deshalb nicht auf die erklärende Variable ‚Gesellschaft‘ zurückgeführt wer-
den, sondern es soll die spezifische Stadtkultur in ihrer Eigenständigkeit gegenüber ande-
ren soziokulturellen Formationen ernst genommen und bewahrt werden. Die Stadtstudie
Max Webers ist für Sennett ein Teil dieser Bewegung. Ähnlich unbeeindruckt von der
tatsächlichen Distanz Max Webers zu den Diskursen und Institutionen der einsetzenden
Großstadtforschung um 1900 wie zuvor schon D. Martindale in der Einleitung zur ers-
ten englischen Ausgabe von „Die Stadt“ (vgl. Martindale 1958; siehe dazu auch Bruhns
2000: 40 f.) und desinteressiert an Webers eigentlicher Fragestellung, bindet Sennett den
Stadtaufsatz zunächst eng an die Formierung eines auf den Gegenstand Großstadt kon-
zentrierten Forschungsinteresses. Zusammen mit G. Simmels Großstadtessay und der
von O. Spengler formulierten Großstadtkritik geben Webers Formulierungen ihm eine
von der späteren Chicago School abzusetzende, vorgängige „German School“ sozial-
wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Stadt (vgl. Sennett
1969: 5 ff.). In dieser Reihung allerdings sieht Sennett Webers Ausführungen zugleich
dadurch hervorgehoben, dass dieser sein Interesse an der Stadt als das an einer vergan-
genen sozialen und räumlichen Anordnung artikuliert habe, die die soziopolitische Idee
eines ebenso individuierten wie kooperativen, ‚kosmopolitisch‘ gestalteten Zusammenle-
bens aufkommen wie bestätigen lassen hat (vgl. Sennett 1969: 6). Er interpretiert – ohne
weitere argumentative Bemühungen – den Stadttext Webers als grundsätzliche Ausfüh-
rung darüber, dass „the city is that social form which permits the greatest degree of indi-
viduality and uniqueness in each of its actual occurences in the world“ (Sennett 1969: 6),
und er sieht an Webers Schilderung der „okzidentalen Stadt“ des mittelalterlichen Euro-
pas demonstriert, „what richness was possible within the city’s borders“ (Sennett 1969: 8).
Mit seiner Stadtstudie sei Weber deshalb das ‚gewagte Unternehmen‘ eingegangen, durch
eine normative Auszeichnung der vergangenen mittelalterlichen Stadt der ihm gegen-
wärtigen bürokratisierten Industriestadt einen Spiegel vorzuhalten. Er lasse deren Sozi-
alverhältnisse als „less civilized than that to be found in the cities of the late Middle Ages“
Max Weber 49

(Sennett 1969: 7), sie selbst deshalb als „primitive and undeveloped“ bzw. als „a retrogra-
de urban environment“ (Sennett 1969: 7) erscheinen.
Mit dem Rekurs auf Webers Stadttext hatte Sennett unmittelbar einen Modus der Kri-
tik gewonnen, der ihm erlaubte, retrospektiv die ihm gegenwärtigen sozial- und inter-
ventionsstaatlichen Praktiken der Stadt- und Gesellschaftsplanung sowie ihr Pendant,
den bürgerlichen Retreatismus, in den Blick zu nehmen und mit einem gesellschaftspoli-
tischen Ideal zu konfrontieren, das einer einst möglich gewesenen, nun verschütteten,
aber wieder freilegbaren gesellschaftlichen Ordnung angehören solle. Grundsätzlicher
betrachtet, trägt Sennetts Rezeption der Stadtstudie Max Webers dazu bei, seine theo-
riepolitisch eingenommene doppelte Frontstellung gegen eine totalitär empfundene
politisch-administrative Gesellschaftssteuerung einerseits, gegen eine individualistische
Absage an jede Form kollektiv-kooperativ orientierten Engagements andererseits, histo-
risch zu fundamentieren.
Allerdings scheint innerhalb dieser allgemeinen Anordnung die Stellung des Stadt-
texts selbst sich verschoben zu haben. In der auf den Zusammenhang von Gesellschafts-
entwicklung, Körperanordnungen und städtischer Raumgestaltung konzentrierten
Untersuchung „Fleisch und Stein“ (1997) jedenfalls aktualisiert Sennett mit Rekurs auf
Webers Stadtstudie an der mittelalterlichen Stadt nicht mehr das Ideal eines ebenso in-
dividuierten wie geeinten Zusammenlebens. Stattdessen gibt die Stadtstudie Sennett die
Möglichkeit, bereits an der mittelalterlichen europäischen Stadtentwicklung das ungelös-
te Problem zu thematisieren, „wirtschaftlichen Individualismus und Gemeinschaft mit-
einander zu verbinden“ (Sennett 1997: 202). Jetzt stellt Sennett mit Verweis auf Webers
Stadttext die mittelalterliche Stadt zum einen als eine, die Schranken der feudal-mittelal-
terlichen Sozial- und Denkform aufbrechende, neue gesellschaftliche Formation vor, die
eine „Freiheit des individuellen Handelns“ (Sennett 1997: 201) ermöglicht hat und damit
einen veränderten, auf ihre Beherrschung ausgerichteten Umgang mit Raum und Zeit
mit sich bringt. Zum anderen – und anders als Weber – schildert er die mittelalterliche
Stadt als selbst schon zerrissen im „Konflikt zwischen Wirtschaft und Religion“ (Sennett
1997: 236). Charakteristisch für die mittelalterliche Stadt ist für ihn nun das Spannungs-
verhältnis zwischen einem ökonomischen Individualismus einerseits und religiös-mora-
lischen, gemeinschaftsbezogenen Imperativen andererseits, nicht deren Versöhnung. Die
räumliche Ordnung der mittelalterlichen Stadt reflektiert diesen Konflikt. „Die Wirt-
schaft der Stadt verlieh den Menschen eine Freiheit des individuellen Handelns, die sie
nirgends sonst fanden; die Religion der Stadt schuf Orte, an denen Menschen einander
nahe waren.“ (Sennett 1997: 201 – 202) Vorweggenommen sieht Sennett damit bereits für
die mittelalterliche Stadt das Problem, das er erst recht für die moderne Stadt geltend
machen will: „Das Motto ‚Stadtluft macht frei‘ war der ‚Imitatio Christi‘ entgegengesetzt.
Diese große Spannung zwischen Wirtschaft und Religion brachte die ersten Zeichen des
Dualismus hervor, der die moderne Stadt kennzeichnet: auf der einen Seite das Bedürf-
nis, sich im Namen der individuellen Freiheit aus der Enge der Gemeinschaft zu lösen,
50 Jan Kemper

auf der anderen Seite die Sehnsucht, einen Ort zu finden, an dem Menschen einander
nahe sind.“ (Sennett 1997: 202)
In Sennetts Stadt- und Gesellschaftskritik ist Webers Stadtstudie zunächst eingebet-
tet in den Versuch, entlang des Urbanitätsideals ein Kontrastmodell gegen die erlebte
sozialstaatliche Befriedung gesellschaftlicher Konflikte und gegen eine damit einher-
gehenden Entpolitisierung der Gesellschaft zu formulieren. Im Fortgang der Theorieent-
wicklung Sennetts werden Webers Ausführungen zum Themenkomplex Stadt allerdings
auf die Beobachtung der Sprengung des mittelalterlichen Sozialgefüges zugunsten einer
Freisetzung des ökonomischen Individualismus reduziert. Sie stehen damit für eine un-
mittelbare positive Anknüpfung zur Formulierung politisch-praktischer Handlungsauf-
forderungen für eine Stadt- und Gesellschaftsgestaltung im Rahmen des Urbanitätsideals
nicht mehr zur Verfügung. Stattdessen werden sie Teil einer Problemformulierung, die
eine Erosion sozialer Kohärenz beschreibt. Einen eindeutigen Adressaten für eine Be-
hebung des Mangels an sozialer Kohärenz kann Sennett vor dem Hintergrund seiner
Kritik an politisch-administrativ exekutierten oder kommunitaristisch begründeten Ge-
meinwohlanstrengungen allerdings nicht ausmachen. Die Stadt- und Gesellschaftskritik
Sennetts muss sich auf eine Position zurückziehen, die es als „Aufgabe der Soziologie“
ansieht, „kritische Fragen zu stellen, ohne zu erwarten, daß sie die Antworten schon
immer gleich mitliefern könnte.“ (Schroer 2005a: 262)

4.3 Die Stadtstudie Max Webers im Diskurs um das Leitbild „Europäische Stadt“

Wenn richtig ist, dass sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen als Thermometer fun-


gieren und somit zumindest teilweise an ihnen die Schwankungen und Entwicklungs-
tendenzen eines gesellschaftlichen Klimas abgelesen werden können, gilt: Spätestens mit
dem Ende des Kalten Krieges ist das Verhältnis zwischen ‚Amerika‘ und ‚Europa‘ ein
problematisches geworden. Auf jeden Fall mehren sich in den letzten Jahren Ansätze
und Diskurse, die nach dem Ausmaß, der Richtung und der Art und Weise der trans-
atlantischen Kultureinflüsse fragen, sich mit amerikanischen und europäischen Gestal-
tungswegen und -vorstellungen des Sozialen auseinandersetzen und mal implizit, mal
explizit entweder die ‚Amerikanisierung‘ des ‚alten Europa‘ verlangen oder eine gegen
‚amerikanische Verhältnisse‘ gerichtete ‚Europäisierung‘ von Lebensvollzügen und Le-
bensstilen fordern. Das Feld der soziologischen Stadtforschung ist davon nicht unbe-
rührt geblieben. In ihm wird das amerikanisch-europäische Verhältnis gegenwärtig vor
allem als eines von komplementären oder gegenläufigen Entwicklungen in den ökono-
mischen, politischen und symbolisch-kulturellen Dimensionen der ‚städtisch‘ genannten
sozialen Wirklichkeit in den Blick genommen. Die Debatte ist auf Gemeinsamkeiten und
Unterschiede in den Siedlungsmustern und der baulich-räumlichen Stadtgestalt, auf di-
vergierende und kongruente Entwicklungen in Hinblick auf soziale Problemlagen sowie
Max Weber 51

und auf die verschiedenen Arten und Weisen ihrer sozialpolitischen Regulierung kon-
zentriert (vgl. Fröhlich 2009; Hannemann/Mettenberger 2011).
In das aktuelle vergleichende Interesse innerhalb der soziologischen Stadtforschung
geht mehr ein als das Bedürfnis nach Informationen über divergierende Stadtentwick-
lungsprozesse. Mit der Analyse des Verhältnisses Amerika – Europa auf der Ebene der
Stadtentwicklung unübersehbar verbunden ist die Bestrebung, entlang der Auseinan-
dersetzung mit der ‚städtisch‘ genannten sozialen Wirklichkeit Wege und Möglichkeiten
zur Eigenbestimmung einer europäischen Identität zu finden. Im nun nicht länger – wie
noch in Webers Stadtstudie – gegen die Städte „Asiens“, sondern auch und vor allem
gegen die Lebensverhältnisse in den amerikanischen Städten abzugrenzenden Siedlungs-
und Sozialtypus der „Europäischen Stadt“ hat ein Teil der gegenwärtigen soziologischen
Stadtforschung das analytische Leitmotiv gefunden, auf das hin Stadtentwicklungspro-
zesse verglichen werden. Gebunden an das Urbanitätsideal, das einen Vergesellschaf-
tungsmodus „gesellschaftlicher Integration ohne Verneinung von Differenz“ (Siebel
2004: 15) meint, fungiert die „Europäische Stadt“ dabei allerdings nicht nur als ein Be-
schreibungsmodell der ‚städtisch‘ genannten sozialen Wirklichkeit und ihres räumlichen
Ausdrucks in Europa. Sie gibt zugleich das normative Leitbild, an dem sich gegenwärti-
ge Stadtpolitik und -planung in Europa zu orientieren habe, soll eine ebenso systemisch
und sozial integrierte wie politisch handlungsfähige Stadtgesellschaft gewährleistet blei-
ben (vgl. Häußermann/Haila 2005; siehe zum Leitbild und Konzept der „Europäischen
Stadt“ auch ausführlich Giersig 2008 und Siebel in diesem Band).
Die strategischen Orientierungen im von der soziologischen Stadtforschung formu-
lierten und zu politischem Akteurswissen gewordenen Leitbild und Konzept „Europäi-
sche Stadt“ werden deutlich, wenn die Schwerpunktsetzungen in den vorgenommenen
Anknüpfungen an die Stadtstudie Max Webers in den Blick genommen werden. Im Dis-
kurs um die „Europäische Stadt“ wird u. a. mit Rekurs auf Webers Stadttext erstens ent-
lang des Begriffs des „Bürgers“ eine als „Emanzipationsgeschichte“ (Siebel 2004: 13)
gedeutete entwicklungsgeschichtliche Kontinuität politischer Subjektivität behauptet,
die in Selbst- bzw. Eigenverantwortung und Solidarität keinen Gegensatz sehen will.
Im „Bürger“ erkennt der Diskurs um die „Europäische Stadt“ das Subjekt, welches sich
nicht länger als passiver Untertan der ehemals feudalen, dann bürokratisch-anstalts-
staatlich ausgestalteten Herrschaft sehen muss, sondern als ebenso selbstbestimmtes wie
aktives Mitglied eines politischen Gemeinwesens begreifen kann. Dem entspricht zwei-
tens ein an die ‚städtisch‘ genannten Sozialverhältnisse herangetragener Entwurf einer
soziopolitischen Ordnung, die eine Gleichzeitigkeit von individueller Freiheit und ge-
sellschaftlicher Einbindung dadurch ermöglicht sieht, dass soziale Bindungen und so-
zial-moralische Urteile als selbst gewählte erscheinen können. Anknüpfend an die von
Weber skizzierte „Stadtbürgervergesellschaftung“ (Weber 2000: 20) wird für die sozio-
politischen Verhältnisse der europäischen Städte ein tradierter Modus willentlich-ratio-
naler Vergesellschaftung angenommen, der als kollektive Selbstbestimmung erscheint
52 Jan Kemper

und einst gegen feudale Herrschafts- und persönliche Abhängigkeitsverhältnisse ge-


richtet war, heute allerdings gegen die ökonomischen Zwänge des Weltmarktes bzw. der
Globalisierung zu behaupten sei (vgl. Le Galès 2006). Drittens wird hervorgehoben, was
Weber in seinem Stadttext als die „sogenannte ‚Stadtwirtschaftspolitik‘“ (Weber 2000: 6)
angesprochen hat: Die wirtschafts- und sozialpolitischen Versuche der mittelalterlichen
Stadtgemeinde, über eine Regulierung der wirtschaftlichen Konkurrenz und über eine
rudimentäre Sozialfürsorge ökonomische Stabilität und sozialen Frieden zu gewährleis-
ten. Sie erscheinen als die sozialhistorischen Fundamente für eine Tradition kommuna-
ler Sozialpolitik, die schließlich in die Ausbildung nationaler Wohlfahrtsstaaten mündete
(vgl. Siebel 2004: 32 f.).
Auch wenn die sozialpolitische Grundausrichtung diffus bleibt – unter dem Leitbild
„Europäische Stadt“ können ebenso Vorstellungen einer die Gleichheit der Chancen ga-
rantierenden wie einer auf die Gleichheit der Lebenssituationen zielenden Sozialpolitik
firmieren –, gewinnt der Diskurs um das Leitbild „Europäische Stadt“ mit der Betonung
der sozialpolitischen Aspekte mittelalterliche Stadtpolitik und ihrer angenommenen Tra-
dierung in der wohlfahrtstaatlichen Sozialpolitik einen auf die politische Bearbeitung der
sozialen Frage hin zugespitzten Zug. Mit ihm wird nicht nur der analytische Vergleich
sowie die normative Absatzbewegung gegenüber amerikanischen Sozialverhältnissen or-
ganisiert (vgl. Krämer-Badoni 2004: 441 f.). Die Herausstellung wohlfahrtstaatlicher So-
zialpolitik als das integrative Moment ‚städtisch‘ genannter Sozialverhältnisse garantiert
auch der „Bürger“-Emphase des Leitbilds den entsprechenden materiellen Unterbau.
Während das Urbanitätsmodell Bahrdts für eine materielle Fundierung der Dualität von
Öffentlichkeit und Privatheit auf der sozialstrukturellen Annahme prinzipiell gleicher
Tauschpartner aufzubauen scheint (und in Sennetts Urbanitätsideal die Frage nach der
Beschaffenheit einer dazu komplementären Sozialstruktur wohl ausgeklammert bleibt),
ist es in den Formulierungen zum Leitbild und Konzept der „Europäischen Stadt“ der
Sozialstaat, vor dessen sozialpolitischer Aktivität ein antagonistisch gedachtes Verhältnis
der sozialen Klassen als überwunden eingeschätzt und also ein einheitliches „Bürger“-
Subjekt formuliert werden kann. Wie diese integrative Funktion wohlfahrtstaatlicher So-
zialpolitik unter den Bedingungen einer tatsächlich zu beobachtenden Dekomposition
von (Sozial-)Staatlichkeit durch Dezentralisierungs- und Selbstverantwortungskonzep-
te sowie der Entwicklung neuer Formen sozial-räumlicher Ungleichheit auf städtischer
Ebene zu reformulieren ist, gibt das eigentliche Bezugsproblem, auf das der Diskurs um
das Leitbild „Europäische Stadt“ u. a. mit Hilfe seiner Weber-Rezeption sich ausrichtet
(vgl. Le Galès 2002).

5 Die Stadtstudie Max Webers und die soziologische Stadtforschung

An einem unbegründeten Bezug der Stadtsoziologie auf Max Weber glaubten Anfang
der 1980er Jahre die Stadtsoziologen H. Häußermann und T. Krämer-Badoni einen pre-
Max Weber 53

kären Zustand der soziologischen Forschung zum Gegenstand Stadt ablesen zu kön-
nen. In einer kleinen Fußnote verdichteten sie ihr allgemeines Unbehagen an einer als
theoriearm, ‚positivistisch‘ orientiert und deshalb als außengeleitet eingeschätzten Auf-
tragsforschung zu der Kritik an einem durch keine sachlichen Bezüge gedeckten, allein
legitimationsheischenden Klassiker-Traditionalismus. Sie urteilten über die Einschät-
zung Max Webers als Klassiker soziologischer Stadtforschung: „seine eigenen Schriften
geben dafür […] keine Legitimation ab.“ (Häußermann/Krämer-Badoni 1980: 144, Fn. 11)
In Hinblick auf Max Webers Abhandlung „Die Stadt“ bleibt dieses Urteil richtig, so-
weit es die doppelte Unmöglichkeit anspricht, für eine soziologische Analyse der ‚städ-
tisch‘ genannten sozialen Wirklichkeit unmittelbar an das von Max Weber in seiner
Stadtstudie errichtete Gegenstandsverständnis von Stadt anzuknüpfen: Unmöglich ers-
tens, weil dem gesellschaftlichen Gefüge, das Weber in der idealtypischen Konstruktion
des mittelalterlichen Stadtverbandes als politischen Ausdruck eines durch gemeinsame
materielle Interessen wie durch spirituale Ideale vereinigten Stadtbürgertums versteht,
mit der Auflösung der Ständeordnung in das Staatsbürgerrecht, der Monopolisierung
und Verallgemeinerung der politischen Herrschaft, der Freisetzung einer tauschvermit-
telten Ökonomie aus herrschaftsförmigen Abhängigkeits- und Ausbeutungsbeziehungen
empirisch-praktisch der Boden entzogen wurde; unmöglich zweitens, weil eine Aktua-
lisierung des in die Konstruktion der „okzidentalen Stadt“ eingehenden Forschungsin-
teresses Max Webers, nämlich die sozialhistorische Rolle und Bedeutung der Stadt und
des Stadtbürgertums in der Entfaltung der modernen Gesellschaft soziologisch zu ana-
lysieren und normativ auszuzeichnen, auf eine Umfunktionierung soziologischer Stadt-
forschung in Begründungsfiguren und Legitimationsstrategien für die gegebene soziale
Ordnung hinausläuft.
Wo dennoch – wie in der Stadttheorie Hans Paul Bahrdts, der Stadt- und Gesell-
schaftskritik Richard Sennetts und im Diskurs um das Leitbild „Europäische Stadt“ – die
Stadtstudie Max Webers Eingang in argumentative Rechtfertigungszusammenhänge für
eine Bewahrung bzw. Erneuerung von Urbanität oder für eine Reformulierung der Stadt
als ein handlungsfähiges politisches Gemeinwesen findet, ist diese Anschlussfähigkeit
deshalb nur unter höchst selektiven Gesichtspunkten zu sichern: Bahrdt liest Webers
Stadtstudie auf eine Identität von Stadt- und Marktvergesellschaftung hin und nimmt sie
zum Ausgangspunkt für einen Entwurf städtischen sozialen Lebens, dessen ebenso frei-
heitsgarantierender wie verbindender Integrationsmodus durch stadtsoziologisch ange-
leitete baupolitische Maßnahmen garantiert bleiben soll. Sennett wiederum macht von
Webers Stadtstudie zunächst dahingehend Gebrauch, dass er an ihr das Ideal eines eben-
so freiheitlichen wie geeinten städtischen Gemeinwesens gewinnt; dann trägt sie zu einer
Formulierung einer unversöhnten, zwischen ökonomischem Individualismus und ten-
denziell totalitären Gemeinwohlvorstellungen zerrissenen Gesellschaft als Dauerproblem
städtischen Zusammenlebens in der Moderne bei. Im Diskurs um das Leitbild „Europä-
ische Stadt“ schließlich ist es gerade der gegen den Markt gestellte Sozialstaat, der mit
Bezug auf Webers Stadtstudie zum historisch-kulturellen Erbe europäischer Städte tra-
54 Jan Kemper

diert werden und mit dem die politische Handlungsfähigkeit der Städte sowie urbane Le-
bensverhältnisse in ihnen stabilisiert werden sollen.
Es ist vor diesem Hintergrund weniger eine erneute Befragung der Stadtstudie Max
Webers auf ihren tatsächlichen inhaltlichen Gehalt, von der aus veränderte forschungs-
leitende Orientierungen für soziologische Forschungen zum Themenkomplex Stadt zu
erwarten sind. Eher bietet sich an, entlang der Gebrauchsweisen der Stadtstudie im stadt-
soziologischen Forschungsfeld und ihrer selektiven Rezeption Rückschlüsse auf die zeit-
diagnostischen Bedürfnisse der soziologischen Forschung zum Gegenstand Stadt und
die in sie eingehenden gesellschaftlichen Erfahrungsgehalte zu ziehen.
Gleichwohl empfiehlt sich für die soziologische Stadtforschung, auch Max Webers
Stadtstudie selbst im Blick zu behalten. Vornehmlich aus zwei Gründen: Erstens zeigt
Webers Stadtstudie paradigmatisch, wie im Bruch mit herkömmlichen, vorwissenschaft-
lichen wie wissenschaftlichen Stadtverständnissen ein spezifisches Gegenstandsver-
ständnis von Stadt errichtet wird, das ein spezifisches Forschungsinteresse und die daran
anhängige Problemwahl reflektiert. Jenseits der Feststellung, dass dieses Gegenstands-
verständnis außerhalb des von Weber gesetzten Bezugsproblems – die Formierung der
modernen Gesellschaft als ein Prozess der Rationalisierung – keine Tragfähigkeit hat,
hält Webers Stadtstudie mit diesem Vorgehen der stadtsoziologischen Forschung in Er-
innerung, dass ihr der Zugang zur ‚städtisch‘ genannten sozialen Wirklichkeit nicht un-
mittelbar gegeben, sondern vermittelt ist über den implizit oder explizit vollzogenen Akt
der Konstitution eines forschungsleitenden Gegenstandsverständnisses von Stadt und
Städtischem.
Zweitens kann ein Blick in Webers Stadtstudie dazu dienen, die stadtsoziologische
Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen sozialen Lagen, soziomoralischen
Orientierungen und Prozessen der politischen Machtbildung in Stadtentwicklungspro-
zessen wach zu halten. In diese Richtung ist P. Saunders in seiner „Soziologie der Stadt“
(1987) gegangen. Wenn es gelingt, Max Webers auf die mittelalterliche europäische Stadt
angelegte Untersuchungsperspektive, die akteursgebundene Handlungsorientierungen,
die Übersetzung sozialer in politische Macht sowie die Institutionalisierung und Legi-
timierung politischer Herrschaft thematisiert, auf die moderne, als ‚städtisch‘ wahrge-
nommene Gesellschaft zu übertragen, ohne Webers eigene soziopolitische Stoßrichtung
in Hinblick auf ein stabilisiertes Sozialgefüge zu übernehmen, dann kann die Stadtstu-
die Max Webers brauchbare Ausgangspunkte für eine am Verhältnis zwischen Posi-
tionen in der Sozialstruktur, Handlungsorientierungen, politischen Einstellungsmustern
und Praktiken der politischen Herrschaftsausübung interessierte stadtsoziologische For-
schung geben.
Max Weber 55

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Wilfried Nippel. Tübingen: Mohr Siebeck
Emile Durkheim
Markus Schroer & Jessica Wilde

Die Stadt in der heraufziehenden Moderne –


Durkheims Beitrag zur Stadtsoziologie

Die Beschäftigung mit der Stadt ist in dem Werk des französischen Soziologen Emile
Durkheim (1858 – 1917) eingebettet in den theoretischen Kontext des Wandels von einer
traditionalen, segmentär differenzierten hin zu einer modernen, funktional differen-
zierten Gesellschaft und ist somit im Kern gesellschaftstheoretisch angelegt. Dabei wird
deutlich, dass Durkheim ‚Stadt‘ und ‚Moderne‘ letztlich synonym gebraucht: Je moder-
ner die Gesellschaft wird, so Durkheim, desto eher „wird sie selber einer großen Stadt
ähnlich, die in ihren Mauern das ganze Volk umfaßt“ (Durkheim 1992: 362). Als eigen-
ständiger Untersuchungsgegenstand tritt die Stadt bei Durkheim also gar nicht in Er-
scheinung. Weder hat er ihr eine Monographie gewidmet, noch handelt es sich bei einem
der Kapitel in seinen Werken explizit um eine Untersuchung des urbanen Lebens. Und
dennoch durchzieht die Stadtthematik sein ganzes soziologisches Denken. Sie taucht an
verschiedenen Stellen seines Werkes immer wieder auf, am prominentesten in seiner Stu-
die „Über die Arbeitsteilung“ (Durkheim 1992), in der Durkheim die moderne Form
der Sozialintegration mit der früherer Gesellschaftstypen vergleicht. Damit ist auch das
eigentliche theoretische Interesse Durkheims benannt: Es gilt dem Integrationspoten-
tial der modernen Gesellschaft vor dem Hintergrund einer krisengeschüttelten französi-
schen Republik im Zeitalter der Industrialisierung. Als Analyseobjekt ist die Stadt erst im
Rahmen dieser allgemeinen Theorie der modernen Gesellschaft von Relevanz.
Die Verklammerung von Gesellschaftstheorie und Stadtsoziologie lässt sich dabei
entlang dreier Verbindungslinien nachzeichnen. Erstens wird Verstädterung ursächlich
mit dem sozialen Wandel in Verbindung gebracht, sodass Durkheim in der ihm eigenen
theoretischen Sichtweise erklären kann, warum das Stadtleben eine immer größere Aus-
dehnung annimmt, je moderner und zivilisierter – und das heißt: je differenzierter und
arbeitsteiliger – der Gesellschaftstypus ist (ebd.: 318). Zweitens ist in der Gegenüberstel-
lung von einfacher und moderner Gesellschaft der Stadt-Land-Gegensatz eingelassen,
der im theoretischen Diskurs des 19. Jahrhunderts oft zum Verständnis der Moderne he-
rangezogen wurde. Ist die Stadt eine Versinnbildlichung modernen Lebens, so illustriert
das Dorf die Struktur vormoderner Gesellschaften. Drittens sind die zeitdiagnostischen
Aussagen Durkheims über Desintegrationsprozesse, wie er sie vor allem in seiner Studie
über den Suizid (Durkheim 1983) ausformuliert hat, explizit auf den „Typ der städtischen

F. Eckardt (Hrsg.), Handbuch Stadtsoziologie,


DOI 10.1007/978-3-531-94112-7_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
60 Markus Schroer & Jessica Wilde

Gesellschaft“ (ebd.: 438) gemünzt. Die Verquickung von Gesellschaftstheorie und Stadt-
soziologie kommt hier dadurch zustande, dass sich am Stadtleben die pathologischen
Tendenzen einer Gesellschaft besonders gut ablesen lassen. Die Stadt dient Durkheim
somit als eine Art Seismograph für gesamtgesellschaftliche Verwerfungen und ist als sol-
cher von analytischem Interesse.
Fügt man diese drei Verbindungslinien zu einem Analyseraster zusammen, öffnet
sich der Blick für ein breites Fundament an Aussagen über die Stadt, das es rechtfertigt,
Durkheim als Klassiker der Stadtsoziologie zu bezeichnen. Viele seiner Befunde sind
heute wohlbekannte Topoi der Stadtsoziologie, ohne dass deren Durkheimschen Wur-
zeln eigens explizit gemacht würden: Von dekadenten und neurotischen Stadtbewohnern,
über das Leben unter Fremden als Erlösung vom „Gemeinschaftsterror des dörflichen
Zusammenlebens“ (Luhmann 1997: 813) bis hin zur Ausbreitung der Suizide und des
Wahnsinns in den Städten – Durkheim stellt ein spezifisches Theorie- und Methodenpro-
gramm für die soziologische Erklärung dieser Aspekte zur Verfügung. Zunächst wird es
in diesem Beitrag deshalb darum gehen, dieses Programm genauer vorzustellen. Durk-
heims theoretische Fassung des gesellschaftlichen Strukturwandels wird rekonstruiert,
um deutlich zu machen, in welchem Kontext die Stadt als Untersuchungsgegenstand in
Erscheinung tritt (1). Im Anschluss daran wird nach den theoretischen Verbindungsli-
nien von Stadt und Moderne gefragt (2), gefolgt von einer Fruchtbarmachung der Dop-
pelkonstruktion einfache/moderne Gesellschaft und Stadt/Land als Analyseraster für
Aussagen über die städtische Lebensweise (3). Den Schluss bilden Durkheims Zeitdia-
gnose, mit der sich die Stadt als Schauplatz von Zerfallsprozessen bestimmen lässt (4),
und ein kurzer Vergleich mit der großstadtkritischen Position von Ferdinand Tönnies (5),
dessen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft Untergangsvisionen und
Stadtkritik bis in die Gegenwart hinein prägt (vgl. Schroer 2006: 147 f.). Deutlich werden
soll hierbei vor allem, dass sich mit Durkheim ein differenziertes Bild der Stadt zeich-
nen lässt, das es weder zulässt, Durkheim ausschließlich als „Schwärmer“ für das Urba-
ne, noch als pessimistischen „Apokalyptiker“ (ebd.: 230) zu bezeichnen. Vielmehr tritt
Durkheim als ein Soziologe in Erscheinung, bei dem die Diagnose von Krisenerschei-
nungen stets mit dem Bemühen um konkrete Lösungsvorschläge zur Stärkung der Inte-
gration der Gesellschaft einhergeht.

1 Durkheims Theorie der sozialen Integration moderner Gesellschaften

Durkheim beschreibt den Wandel von der einfachen hin zur modernen Gesellschaft
als einen Prozess der Individualisierung und Differenzierung bzw. der kontinuierlichen
Ausbreitung der Arbeitsteilung. Aber weit davon entfernt, diesen Prozess als Verfalls-
prozess zu lesen, der die Integration der Gesellschaft durch eine Auflösung traditionaler
Gemeinschaften und die daraus resultierende zunehmende Vereinzelung der Individuen
gefährdet, macht er es sich zur Aufgabe, nach der Beschaffenheit des „sozialen Bandes“
Emile Durkheim 61

(Durkheim 1992: 111) in der modernen Gesellschaft zu fragen. Mit dem Wechsel in der
sozialen Organisation der Gesellschaft ändert sich lediglich auch „die Art und Weise,
wie die Menschen untereinander solidarisch sind“ (ebd.: 229). Dabei sieht Durkheim in
der Arbeitsteilung diejenige Instanz, die – jenseits der von ihr geleisteten ökonomischen
Dienste – diese neue Form der Solidarität hervorzubringen vermag (ebd.: 102). Sein
Hauptwerk „Über soziale Arbeitsteilung“ aus dem Jahr 1893 behandelt als Grundthema
also die Frage nach dem Verhältnis von Differenzierung und Integration und trägt mit
der darin ausgearbeiteten Gesellschaftstypologie (segmentär-modern) in Kombination
mit der Unterscheidung zwischen zwei Arten der Solidarität (mechanisch-organisch)
zum Verständnis von Moderne und Stadt bei.

1.1 Segmentäre Gesellschaft und mechanische Solidarität

Im Rahmen seiner „sozialen Morphologie“1 (Durkheim 1970: 169, Herv. im Original, vgl.
Schroer 2009) unterscheidet Durkheim eine ganze Stufenleiter sozialer Typen nach der
Art der Variation in der Zusammensetzung der Teile einer Gesellschaft (ebd.: 172). Für
die frühen Gesellschaftsformen ist charakteristisch, dass sie aus einer Aneinanderrei-
hung untereinander gleicher Segmente bestehen, seien es Horden, Stämme, Klans oder
Familien. Die einfache Gesellschaft lässt sich somit als „ein System von homogenen und
untereinander ähnlichen Segmenten“ (ders. 1992: 237) oder als eine „homogene Masse
(…), deren Teile sich untereinander nicht unterscheiden“ (ebd.: 229) darstellen. Der Soli-
daritätstyp, der dieser sozialen Organisation entspricht, ist die „mechanische Solidarität“,
die die Ähnlichkeit zwischen den innerhalb einer Gruppe aneinander gereihten Indivi-
duen zu ihrer Grundlage hat (ebd.: 118 ff.; 155 ff.). Dabei erfährt diese Argumentation in
Bezug auf die Frage, worin genau diese Ähnlichkeit besteht, durch die Einführung des
Begriffs des „Kollektivbewußtseins“ (ebd.: 128) eine interessante theoretische Wendung:
Die Ursache für den sozialen Zusammenhalt, so Durkheim, liegt „in einer bestimmten
Übereinstimmung des Bewußtseins aller einzelnen Individuen mit einem gemeinsa-
men Typ“ (ebd.). Unter Kollektivbewusstsein kann man mit Durkheim also die Gesamt-
heit der Wissensinhalte, Überzeugungen und Glaubensvorstellungen verstehen, die der
Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft gemeinsam sind und die sich in institutiona-

1 Verwiesen sei hier auch auf die Weiterführung des von Durkheim nur in Ansätzen formulierten Pro-
gramms einer sozialen Morphologie durch die Durkheim-Schüler Marcel Mauss und Maurice Halbwachs.
Dabei ist es vor allem Halbwachs, der diese Perspektive auch auf die Stadt übertrug, so etwa in seiner
„Morphologie der Großstadt“ (Halbwachs 2002: 58 ff). In expliziter Ausweitung des theoretischen Pro-
gramms gegenüber der Durkheimschen Fassung geht es der sozialen Morphologie nach Halbwachs nicht
nur um die materielle Gestalt der Gesellschaft im Sinne der Zahl und Art ihrer Gliederung, der Ausdeh-
nung und Dichte der Bevölkerung, sondern um den Aufweis, dass sämtliche soziale Phänomene und
Institutionen eine materielle Form besitzen, die es zu analysieren gilt. Halbwachs lässt sich also als ein
Vorreiter einer Soziologie des Raums und der Dinge heranziehen – eine theoretische Perspektive, die es
gerade in der Stadtsoziologie noch fruchtbar zu machen gilt.
62 Markus Schroer & Jessica Wilde

lisierte Praktiken bzw. kollektive Handlungs- und Denkweisen übersetzen (ebd.: 128 f.;
ders. 1970: 99 f.).
Wichtig ist es an dieser Stelle festzuhalten, dass Durkheims Konstrukt ‚Solidarität auf
der Grundlage von Ähnlichkeit‘ nicht solcherart missverstanden werden darf, dass es
sich dabei um eine Art Sympathiegefühl oder Zuneigung der Mitglieder einer Gemein-
schaft füreinander handelt. Bindung durch Kollektivbewusstsein bedeutet vielmehr die
Bindung der Individuen an die Gruppe dadurch, dass kollektive und individuelle Be-
wusstseinslagen deckungsgleich sind, sämtliche Bewegungen der Gesellschaftsmitglieder
somit „harmonisiert“ (ebd.: 156) werden: Ein starkes Kollektivbewusstsein sorgt dafür,
dass die „kollektiven Bewegungen tatsächlich überall die gleichen sind“ und dass sich
„die Willensakte (…) gemeinsam in die gleiche Richtung“ bewegen (ebd.: 156 f.). Mit an-
deren Worten: Für die segmentären Gesellschaften – und somit auch für das Dorf (vgl.
Abschnitt 2) – gilt: „Alles dachte und lebte in derselben Weise“ (ebd. 1983: 171). Es ist die-
ser Aspekt der festen Bindung der Individuen aneinander und an die Gruppe, der mit
dem Begriff „mechanische Solidarität“ zum Ausdruck gebracht werden soll. Durkheim
verwendet diesen Begriff in Analogie zu anorganischen Verbindungen, in denen die Mo-
leküle derart starr aneinandergebunden sind, dass sie „sich in ihrer Gesamtheit somit
nur in dem Maß bewegen, in dem sie keine Eigenbewegung haben“ (ebd. 1992: 182).2
Übertragen auf die theoretische Fassung sozialer Bindungen bedeutet dies: Die mechani-
sche Aneinanderreihung der Gruppenmitglieder in einfachen Gesellschaften lässt diesen
keinen eigenständigen Bewegungsspielraum, Individualisierung ist daher in solchen Ge-
sellschaften gering ausgeprägt. Durkheim geht sogar so weit zu sagen, dass in segmentä-
ren Gesellschaften Gemeinschaft nicht nur stark ist, sondern im Grunde allein existiert,
da das Individuum sich noch nicht von der Masse getrennt und zu einem persönlichen
und unterscheidbaren Wesen geworden ist (ebd.: 234 f.). Das Individuum wird hier nicht
etwa unterdrückt, sondern man kann sagen, dass es „zu diesem Zeitpunkt der Geschich-
te nicht existiert hat“ (ebd.: 250, Herv. im Original, vgl. Schroer 2000: 137 ff.).

1.2 Moderne Gesellschaft und organische Solidarität

Durkheim zufolge ist es ein „Gesetz der Geschichte“ (Durkheim 1992: 229), dass die me-
chanische Solidarität mit fortschreitender Modernisierung immer mehr an Boden ver-
liert. Die moderne Gesellschaft bringt aber, gleichsam als funktionales Äquivalent, eine

2 Durkheim ist an dieser Stelle daran gelegen dem Missverständnis vorzubeugen, dass es sich hierbei um
eine mechanische im Sinne von ‚mit künstlichen Mitteln‘ erzeugte Solidarität handelt und spezifiziert:
„Wir nennen sie nur so in Analogie zu der Kohäsion, die die Elemente der festen Körper miteinander ver-
eint, und in Gegensatz zu jener Kohäsion, die die Einheit der lebenden Körper ausmacht“ (ebd.). Indem
er das Wort ‚organisch‘ also gerade für die moderne Gesellschaft reserviert, bezieht er Gegenposition zu
großstadtkritischen Positionen, die eine organisch gewachsene Gemeinschaft einer artifiziell geschaffenen
Gesellschaft gegenüberstellen (vgl. dazu auch den Vergleich mit Ferdinand Tönnies im Abschnitt 5).
Emile Durkheim 63

andere Solidaritätsform hervor: Arbeitsteilung macht die einzelnen Individuen vonein-


ander abhängig, und es ist diese durch Spezialisierung hervorgerufene Abhängigkeit, von
Durkheim „organische Solidarität“ genannt (ebd.: 162 ff.; 183), die zur Voraussetzung für
die Integration der modernen Gesellschaft wird (ebd.: 107 ff.). „Organisch“ ist diese Soli-
daritätsform deswegen, weil die arbeitsteilige Gesellschaft einem lebenden Organismus
gleicht, in dem jedes Organ eine spezielle Funktion übernimmt und so zur Aufrechter-
haltung des Gesamtorganismus beiträgt (ebd.: 183). Soziale Kohäsion setzt hier voraus,
dass sich die Individuen unterscheiden, nicht, dass sie sich ähneln. Dass eine organische
Verbindungsart überhaupt solche Differenzen zulässt, ist dabei ein wichtiger Aspekt, den
Durkheim mit dem Verweis auf die neu gewonnene Autonomie und Bewegungsfreiheit
der spezialisierten Organe zu unterstreichen sucht. Denn diese neu gewonnene Freiheit
ist nicht nur wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Arbeitsteilung, sondern
auch hervorstechendes Merkmal einer städtischen Lebensweise, wie später noch erläu-
tert werden soll.
In struktureller Hinsicht lässt sich der Wandel des sozialen Milieus von segmentär zu
funktional differenziert wie folgt beschreiben: Mit der Auflösung der einfachen Gesell-
schaft kommt es zu einer Annäherung der zuvor stark voneinander getrennten Segmen-
te. Die Wände zwischen den Segmenten werden durchlässiger, sodass „zwischen ihnen
ein enger Kontakt entsteht, als dessen Folge es der sozialen Materie freisteht, in neue
Verbindungen einzutreten“ (ebd.: 314 f.). Soziale Beziehungen konzentrieren sich nicht
mehr auf die Gruppe, sondern „dehnen sich nach allen Seiten über ihre ursprünglichen
Grenzen hinweg aus“ (ebd.: 315). Diesen Prozess bezeichnet Durkheim auch als das An-
steigen der „dynamischen Dichte“ (ebd.) der Gesellschaft: Die Bevölkerungszahl steigt
und soziale Beziehungen verdichten sich. Es ist dieses „materielle“ und „moralische Zu-
sammenrücken der Gesellschaft“ (ders. 1970: 195), das Durkheim als zentrale Ursache
für die Entstehung der Arbeitsteilung ausmacht, da es im Zuge der Verdichtung und
Durchmischung der sozialen Milieus zu einem gesteigerten Konkurrenzkampf kommt,
der schließlich den Ausschlag für Spezialisierungs- und Differenzierungsprozesse gibt
(ders. 1992: 325 ff.). Erweitert wird die Argumentation also um einen evolutionstheore-
tischen Kern, der das bisherige Erklärungsschema über strukturelle Faktoren wie Volu-
men, Dichte und Zusammensetzung der Teile ergänzt.
Rückübersetzt in die mit der theoretischen Figur des Kollektivbewusstseins verbun-
dene Sprache bedeutet derselbe Prozess, dass der Anteil des Kollektivbewusstseins an der
Integration der Gesellschaft immer geringer wird. Die sozialen Bande, die durch gemein-
same Bewusstseinsinhalte gestiftet werden, machen in der modernen Gesellschaft nur
noch einen Bruchteil aus (ebd.: 205 f.). Die kollektiv geteilten Vorstellungen nehmen auf
Grund der Größe der sozialen Einheiten nicht nur in ihrer Zahl ab, sondern werden auch
in ihrem Inhalt zunehmend abstrakter. Wurde das Verhalten in einfachen Gesellschaften
noch konkret und bis in alle Einzelheiten vorherbestimmt, so lässt diese Strukturierungs-
leistung mit zunehmender Differenzierung nach und eröffnet Möglichkeiten für indi-
viduelle Abweichungen vom Kollektivtyp: Kollektiv- und Individualbewusstsein treten
64 Markus Schroer & Jessica Wilde

auseinander. Die moderne Gesellschaft ist also nicht nur eine arbeitsteilige, sondern auch
eine individualisierte Gesellschaft. Während die Gruppe in der einfachen Gesellschaft
das Individuum vollständig „aufsaugt“ (ebd.: 234), erlaubt die differenzierte Gesellschaft
dem Individuum Freiraum zu eigenständiger Bewegung, sowohl im physischen, als auch
im geistigen Sinne: Das Individuum wird nicht länger an seinem Herkunftsort festge-
halten und hat die Möglichkeit, „seinem eigenen Sinn zu folgen“ (ebd.: 369). „Die Kin-
der bleiben nicht mehr unbeweglich an das Land ihrer Eltern gebunden, sondern suchen
ihr Glück in allen Richtungen“ (ebd.: 354). Dabei scheint der Durkheimschen Schilde-
rung dieses Übergangs wie selbstverständlich die Annahme zu Grunde zu liegen, dass
die Kinder in Richtung Stadt ausziehen: Die „Neigung der Landbevölkerung, in die Städ-
te zu strömen“ (ebd.: 317), findet mit zunehmender Zivilisierung allgemeine Verbreitung.
Damit wäre der Zusammenhang zwischen Verstädterung und Strukturwandel bereits
hergestellt. Es gilt nun zu fragen, welche Rolle die Stadt in dem eben überblicksartig skiz-
zierten Entwicklungsprozess genau einnimmt.

1.3 Die Stadt im Kontext des allgemeinen Strukturwandels

Verstädterung und Modernisierung verlaufen nicht einfach nur parallel, sondern Städte-
bildung bringt Durkheim zufolge die Veränderung des sozialen Milieus von einfach zu
komplex, von mechanisch zu organisch integriert als deren Folgewirkung zum Ausdruck:
Die Gründung von Städten ist eines der ersten Anzeichen dafür, dass die „segmentäre
Organisation (…) ihr Relief verloren [hat]“ (Durkheim 1992: 243). Diese Formulierung
macht erneut deutlich, dass die Stadt bei Durkheim nicht als eigenständiger Forschungs-
gegenstand, sondern nur im Hinblick auf seine allgemeine Theorie des sozialen Wandels
von Relevanz ist.3 Im Rahmen dieser Theorie wird sie als „charakteristisches Symptom“
(ebd.: 316) für den bereits beschriebenen Prozess der (dynamischen) Verdichtung sozia-
ler Beziehungen herangezogen. Die segmentäre Organisationsform verschwindet jedoch
nicht vollständig. Vielmehr enthält jede Gesellschaft Spuren des Typs, der ihr unmittelbar
vorausging, so auch die moderne Gesellschaft (ebd.: 319 f.): Das Dorf, als ein „ursprüng-
lich nur (…) sesshaft gewordener Klan“ (ebd.: 319), ist bei Durkheim eine Art letztes
verbleibendes soziales Molekül einfacher Gesellschaften. Stadt und Land bringen den
Wechsel der Beziehungsmuster von geschlossenen zu immer offener werdenden sozial-

3 Nach Peter Saunders ist genau dies der Grund, warum den stadtsoziologischen Aussagen Durkheims lan-
ge Zeit so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Da der Stadt selbst kein Erklärungspotential in Bezug
auf die Entstehung der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft zukommt, habe es Durkheim nicht für nö-
tig gehalten, eine explizite Stadttheorie zu formulieren. Die Stadt ist allenfalls als Anschauungsmaterial für
Prozesse von Interesse, die im Rahmen einer allgemeinen Sozialtheorie erklärt werden, in der die Stadt
aber nur einen Nebenfaktor darstellt. Entsprechend war es auch diese allgemeine Theorie der Arbeits-
teilung, die im Fokus der Interpreten stand, und nicht deren stadtsoziologische Aspekte (vgl. Saunders
1987: 19 ff.).
Emile Durkheim 65

räumlichen Organisationsformen im Übergang zur modernen Gesellschaft also paradig-


matisch zum Ausdruck. Während das Dorf „ein nach außen viel dichter geschlossenes
und viel eher auf sich verwiesenes System“ (ebd.: 239) darstellt, steht die Stadt für die
Durchlässigkeit sozialer Milieus und die daraus resultierende Interaktionsvielfalt.
Die Suche nach den Ursachen für den Strukturwandel hat Durkheim darüber hin-
aus zu einer weiteren Betrachtung der Stadt geführt: Wurden mit Volumen und Dichte
die eigentlichen Ursachen für das Entstehen der Arbeitsteilung identifiziert, so resul-
tiert letztlich aus seinem evolutionistischem Ansatz das Denken in Differenzierungspro-
zessen. In diesem Erklärungsschema wird der Stadt eine Nebenrolle als Schauplatz für
den härter werdenden Überlebenskampf zugewiesen (ebd.: 325 ff.). Da sich gerade in der
Stadt die Bevölkerung konzentriert, wird diese sowohl zum Austragungsort für den Kon-
kurrenzkampf als auch zu dem Ort, an dem sich in der Folge Spezialisierung ereignen
und der Kampf entschärfen kann:

„In ein und derselben Stadt können die verschiedensten Berufe nebeneinander leben, ohne
sich gegenseitig schädigen zu müssen, denn sie verfolgen verschiedene Ziele. (…) [J]eder
kann sein Ziel erreichen, ohne die anderen daran zu hindern, das ihre zu erreichen. (…)
Da sie verschiedene Dinge erbringen, können sie sie parallel erbringen“ (ebd.: 326).

Das Leben in der Stadt gleicht nach Durkheim der von Darwin beschworenen Eiche, auf
der verschiedene Insektenarten gerade auf Grund ihrer Differenziertheit „in guter Nach-
barschaft miteinander leben“ (ebd.). Es vermindert Konflikte, da die Gelegenheiten ge-
ringer werden, „sich zu begegnen“ (ebd.). Spezialisierung bzw. Stadtleben bedeuten also:
Man „belästigt sich gegenseitig nicht“ (ebd.) und geht seiner Tätigkeit nach, „ohne sich
den anderen aufzuzwingen“ (ebd.: 248).4

2 Stadt und Moderne

Bisher hat die Stadt in erster Linie in Durkheims Suche nach den Ursachen der Arbeits-
teilung ihren Platz als Analyseobjekt gefunden. Jenseits dieser engen Fokussierung las-
sen sich jedoch weitere Verbindungen zwischen Stadt und Moderne ausmachen, die das
Urbane wieder als paradigmatisch für das moderne Leben schlechthin ausweisen. Einige
solcher Verbindungslinien werden nachfolgend vorgestellt: Die Stadt steht für den Be-
deutungsverlust territorialer Verortung in der Moderne, für die Herauslösung aus so-

4 Der theoretische Zusammenhang von Konkurrenzkampf und Arbeitsteilung im Stadtraum wurde dann
vor allem von der Humanökologie der Chicago School um Robert E. Park weiter ausgearbeitet. In der
programmatischen Schrift „The City“ (Park/Burgess/McKenzie 1967) wird das evolutionistische Argu-
ment Durkheims aufgegriffen und nach einer Art raumfunktionalistischen Analyse die geographische
Verteilung der Berufs- und Bevölkerungsgruppen untersucht (vgl. zu weiteren Vergleichspunkten zwi-
schen Durkheim und der Chicago School Saunders 1987: 56 ff.).
66 Markus Schroer & Jessica Wilde

zialen Nahverhältnissen, für eine Leben unter Fremden und die damit einhergehenden
Freiheitspotentiale.

2.1 Stadt und Raum in der Moderne

Um den sozialtheoretischen Aspekt der moralischen Annäherung der Bevölkerung zu


illustrieren, wählt Durkheim bezeichnenderweise selbst ein Beispiel aus der Stadtge-
schichte. Er verweist auf die antike römische Stadt, in der „die Häuser keineswegs dicht
aneinandergebaut“ waren, während sie in der modernen europäischen Stadt „ständig
dichter“ zusammengerückt sind (Durkheim 1992: 316). Das Häuserbeispiel scheint also
auf den ersten Blick Durkheims raumsoziologische These zu bestätigen, dass eine Ver-
änderung der sozialen Organisation mit einer Veränderung der räumlichen Organisa-
tion der Gesellschaft einhergeht, der physische Raum also nach Art einer Ablichtung die
sozialen Verhältnisse zum Ausdruck bringt (vgl. Schroer 2006: 48 ff.). In Bezug auf das
Verhältnis von territorialer Einheit und sozialem Milieu in der modernen Gesellschaft
gilt nun unter raumsoziologischen Gesichtspunkten allerdings, dass sich Durkheim die
moderne Vergesellschaftungsform als gänzlich ortsunabhängig vorstellt. Soziale Bezie-
hungen bleiben nicht auf lokale, territoriale Einheiten beschränkt, sondern breiten sich
zusammen mit der fortschreitenden Arbeitsteilung auch über die Grenzen der Stadt hin-
weg aus (Durkheim 1992: 70 f.; 245). So handelt es sich beim Dorf nicht nur deswegen um
eine Spur segmentärer Organisation, weil es eine Art „umgebildeter[r] Klan“ (ebd.: 239)
oder „eine Art großer Familie“ (ebd.: 59) ist, sondern auch weil es sich als Milieu auf
der Grundlage örtlich umrissener Einheiten konstituiert, und diese bilden gleichsam
die Segmentstruktur höherer Gesellschaften (ebd.: 241 ff.). Moderne Vergesellschaf-
tung bedeutet demnach die nahezu vollständige Einebnung oder Nivellierung der Seg-
mente: Je fortgeschrittener eine Gesellschaft ist, desto „konturloser“ wird sie (ebd.: 242).
Somit gilt auch für Durkheim, was für die moderne Soziologie generell festgestellt wurde:
Die Entwicklung der vormodernen zur modernen Gesellschaft wird mit einem sukzes-
siven Bedeutungsverlust des Raums bzw. räumlicher Verortung gleichgesetzt (Schroer
2006: 9 ff.; 47). Sei es das Dorf, die Provinz oder eben auch die Stadt – als territoriale Ein-
heiten erwecken sie in uns keine tiefen Gefühle mehr (Durkheim 1992: 70).
Die Lockerung der Verbindung zum Territorium geht mit einer zunehmenden Indif-
ferenz gegenüber dem sozialen Nahbereich einher. Hat das Dorf als Einheit mit hohem
Kohäsionsgrad noch ausdrücklich „familiaren Charakter“ (ebd.: 239), verlieren Familie
und Nachbarschaft in der Stadt ihre Bindekraft: Da das Lebenszentrum des Stadtbewoh-
ners sich nicht mehr ausschließlich an seinem Wohnort befindet und die Mitglieder von
Familie und Nachbarschaft durch eine „Fülle der Geschäfte und Mittelpersonen getrennt“
werden (ebd.: 361), treten sie auch weniger oft und weniger regelmäßig in Kontakt. In
der Folge lockert sich das Band des Stadtmenschen gegenüber seinen Nachbarn, „weil
sie einen geringeren Platz in seiner Existenz einnehmen“ (ebd.: 363). Vor diesem Hinter-
Emile Durkheim 67

grund muss auch das oben erwähnte Häuserbeispiel noch einmal herangezogen werden:
Das Näherrücken der Häuser in der Stadt bedeutet nämlich gerade nicht, dass der Stadt-
bewohner dadurch auch engeren Kontakt zu seinen Nachbarn hätte. Durkheim zufolge
spiegelt die materielle Nähe in der modernen Gesellschaft die Intimität der Beziehungen
nur ungenau wider: Räumliche und soziale Nähe fallen auseinander (ebd.: 245). Die Stadt
ist somit schon bei Durkheim ein Ort, an dem sich in erster Linie Fremde begegnen (vgl.
Simmel 2005, Schroer 1997).

2.2 Die Stadt als Ort der Fremdheit

Die Stadt als Ort der anonymen Begegnung zwischen Fremden scheint mithin einer der
wenigen gemeinsamen Nenner von theoretischen Konzeptionen des Urbanen zu sein
(vgl. Schroer 2006: 244 ff.). Auch Durkheim bestimmt die Stadt als einen Ort, an dem „in
der Regel keiner den anderen kennt“ (Durkheim 1992: 361). In der Stadt werden die so-
zialen Kontakte nicht nur aus dem Bereich der vertrauten Gemeinschaft herausgehoben,
sondern auch generell in ihrer Qualität verändert. Die Begegnungen mit anderen werden
flüchtiger und oberflächlicher. Übersetzt in die Theoriesprache Durkheims: Dort, wo ein
hohes soziales Volumen und eine hohe Dichte herrschen, werden persönliche Beziehun-
gen selten und schwach: „Man verliert die anderen leichter aus den Augen, selbst die, die
uns ganz eng umgeben, und im selben Maß interessiert man sich für sie immer weniger“
(ebd.: 361). Durkheim greift also auf, was in fast allen Analysen der modernen Großstadt
in der ein oder anderen Form angesprochen wird: die Gleichgültigkeit und Distanz, mit
der die Stadtmenschen einander begegnen:

„Wir wünschen das Tun und Lassen einer Person nur zu kennen, wenn ihr Bild in uns Er-
innerung und Empfindungen weckt, die mir ihr verbunden sind (…). Wenn es sich da-
gegen um jemanden handelt, den wir nur selten und im Vorübergehen bemerken, dann
fühlen wir, was ihn betrifft, kein Echo; er läßt uns kalt, und folglich bewegt uns nichts, uns
über das, was ihm zustößt, zu unterrichten noch zu beobachten, was er tut“ (Durkheim
1992: 360 f.).

An Stelle aber eines Lamentos angesichts dieses Nachlassens der Aufmerksamkeit für an-
dere begrüßt Durkheim diese Gleichgültigkeit. Ähnlich wie Georg Simmels „Blasiertheit“
und „Reserviertheit“ (Simmel 2006: 19/23) hat sie eine Schutzfunktion, wobei es in der
Durkheimschen Variante die fast schon despotisch wirkende dörfliche Gemeinschaft ist,
vor der das Individuum geschützt werden muss. So lässt sich auch für das Durkheimsche
Stadtbild das bereits von Max Weber herangezogene Sprichwort in Anspruch nehmen:
„Stadtluft macht frei“ (Weber 1980: 742/809).
68 Markus Schroer & Jessica Wilde

2.3 Die Befreiung des Individuums vom „Joch des Kollektivs“

In der städtischen Lebensweise kulminiert die von Durkheim diagnostizierte allgemei-


ne historische Bewegung, die den „Platz des Individuums in der Gesellschaft“ mit fort-
schreitender Zivilisation wachsen lässt (Durkheim 1992: 249). Individualisierung und
Verstädterung hängen eng zusammen, sodass auch in der Durkheimschen Soziologie es
vor allem der Stadtmensch ist, der individualisiert ist. Waren die Mitglieder einfacher
Gesellschaft in Verhalten und Denken quasi gleichgeschaltet, duldet die moderne Gesell-
schaft erstmals Abweichungen vom Kollektivtyp. Das Individuum wird aus dem festen
Griff der Gruppe entlassen, Individualität bildet sich aus: Stadt steht für „Freiheit“ und
„Emanzipation“ (ebd.: 365). Sie wird in der Folge zu einem Ort der Heterogenität und
Vielfalt, das Dorf verharrt dagegen in Einförmigkeit und Homogenität, wobei letztere
eindeutig unter negativem, erstere unter positivem Vorzeichen stehen. Denn es ist gera-
de die kleine Gruppe segmentärer Art, die besonders despotisch ist:

„Wenn sie klein ist, wenn sie jedes Individuum stets und jederzeit von allen Seiten umfängt,
dann erlaubt sie es ihm nicht, sich frei zu entfalten. Da sie stets präsent ist und ständig
agiert, läßt sie ihm keinen Raum für Eigeninitiative. Das ändert sich, wenn die Gesell-
schaft eine gewisse Größe erreicht. (…) In einer Masse ist man viel freier als in einer klei-
nen Clique. Daher können die individuellen Unterschiede dort besser zutage treten, die
Tyrannei des Kollektivs nimmt ab, der Individualismus vermag sich faktisch zu etablieren“
(Durkheim 1999: 90).

In der Stadt nimmt die Überwachung durch das Kollektiv ab, weil die kollektive Auf-
merksamkeit auf Grund der Zunahme von Volumen und Dichte der Bevölkerung nicht
mehr imstande ist, „den Bewegungen eines jeden einzelnen zu folgen“ (ders. 1992: 360).
Man ist niemals so gut versteckt, wie in einer Menschenmenge. Es sind daher vor allem
die Großstädte, in denen der Mensch am wenigsten dem „Joch des Kollektivs“ (ebd.) un-
terworfen ist. Anonymität konstituiert eine Sphäre freien Handelns, die frühere Gesell-
schaften nicht kannten: Erst die moderne Stadt räumt der Persönlichkeit einen Platz zur
Entfaltung der Individualität ein und institutionalisiert den faktisch erweiterten Spiel-
raum als ein „Recht auf größere Autonomie“ (ebd.: 362). Durkheim zeichnet hier also
gesellschaftstheoretisch nach, was Richard Sennett als das wesentliche Merkmal der
Stadtkultur des 19. Jahrhunderts beschreiben wird: Das Recht des (Stadt-)Menschen, „in
Ruhe gelassen zu werden“ (Sennett 2008: 64); die Vorstellung, dass jedermann „das öf-
fentliche Recht auf einen unsichtbaren Schutzschirm“ und „eine unsichtbare Mauer des
Schweigens“ (ebd.) – also auf ein Nicht-Angesprochen-Werden und ein Nicht-Anspre-
chen-Müssen – besitze.
Emile Durkheim 69

3 Stadt und Land: Über unkultivierte Bauern und neurotische Stadtbewohner

Legt man die Aussagen Durkheims über die zivilisierte Welt im Vergleich zu früheren
Gesellschaften mit den Aussagen über die Stadt im Vergleich zum Land übereinander, so
ergibt sich ein buntes Raster an Merkmalen des Stadtlebens, die man bereits aus bekann-
ten Deutungsmustern und verbreiteten Stereotypen kennt: Stadtmenschen sind nicht nur
kultivierter und intelligenter als Bauern, sondern auch rastloser und neurotischer. Wäh-
rend der Bauer sich in seiner Einfalt mit seinen bescheidenen Verhältnissen zufrieden
gibt, strebt es den Stadtmenschen nach mehr und anderen Reichtümern. Die Stadt ist der
Ort der Kunst, Kultur und Wissenschaft, für die der Bauer bekanntlich wenig übrig hat.
Während das Dorf, auf ewig gefangen in der Tradition, in seinen Gewohnheiten erstarrt,
ist die Stadt der Ort des permanenten Wandels. Dass sich mit Durkheim für derlei Be-
funde durchaus soziologische Erklärungen finden lassen, soll exemplarisch anhand von
vier Aspekten illustriert werden: Geklärt werden soll, warum der Stadtmensch eine Affi-
nität für Bildung und Wissenschaft hat, warum er unter gereizten Nerven leidet, warum
er dennoch alles Neue einer Kultur hervorbringt und schließlich, warum der Städter
mehr und andere Bedürfnisse hat als der Bauer.

3.1 Warum das Rad in der Stadt erfunden wurde

Bei Georg Simmel ist die Stadt der Sitz des Geisteslebens, hat das großstädtische Seelen-
leben einen „intellektualistische[n] Charakter“ (Simmel 2006: 10). Durkheim sekundiert:
Je mehr das Milieu dem Wandel unterworfen ist, desto größer wird der Anteil der Intel-
ligenz im Leben. Zivilisation und geistiges Leben schreiten parallel voran. Erst der mo-
derne Mensch hat das Bedürfnis nach Bildung und Wissenschaft (Durkheim 1992: 332 f.).
Zur Erklärung zieht Durkheim seine nun schon vertrauten Argumentationen heran: zum
einen ein evolutionstheoretisches Argument, demzufolge mit dem härter werdenden
Konkurrenzkampf auch der Geist und das Denken stärker beansprucht werden, und zum
anderen seine theoretische Figur des zurückweichenden Kollektivbewusstseins. Die ehe-
mals mit der Autorität der Tradition ausgestatteten Glaubensvorstellungen verlieren mit
diesem Rückzug an Gültigkeit und öffnen kritischer Reflexion und Wissenschaft die Tür.
Der Städter hat ein „größeres und empfindlicheres Gehirn“ (ebd.: 332) als der Bauer,
genauso wie es – so Durkheim in seinem gewohnt lapidarem Ton – doch bekannt sei,
dass der städtische Arbeiter viel intelligenter ist als der Landarbeiter (ebd.). Man würde
Durkheim jedoch Unrecht tun, wollte man den Vorwurf des Naturalismus oder Biolo-
gismus gegen ihn erheben. Vielmehr zieht er zur Erklärung dieses Unterschieds dieselbe
soziale Ursache heran, die auch schon für die Entstehung der Arbeitsteilung verantwort-
lich war: der Konkurrenzkampf als Folge der mit der Modernisierung einhergehenden
Durchmischung der sozialen Milieus. Der Städter steht im Zentrum dieses Kampfes und
entwickelt seine geistigen Fähigkeiten schlicht aus dem Grunde, dass er durch den här-
70 Markus Schroer & Jessica Wilde

teren Kampf dazu gezwungen wird, „denn man muß sich den Kopf zerbrechen, um die
Mittel zu finden, weiterzukämpfen, um neue Spezialisierungen zu erfinden“ (ebd.: 332 f.).
„Geübtere Geister“ (ebd.: 333) haben dann wiederum im Gegensatz zum Bauern auch
andere, nämlich intellektuelle Bedürfnisse: In einem Umfeld permanenten Wandels ge-
nügen ihnen „ungeschlachte Erklärungen“ (ebd.) nicht mehr: „Man verlangt neue Auf-
klärungen, und die Wissenschaft nährt und befriedigt diese Ansprüche zugleich“ (ebd.).
Das zweite Erklärungsmuster dagegen zeichnet das Bild des Stadtmenschen als eines
Intellektuellen, der traditionelle Glaubensvorstellungen mit neuen, wissenschaftlich
fundierten Glaubenssätzen ersetzt hat. Der Wissenschaft kommt deshalb eine zentra-
le Bedeutung in der modernen Gesellschaft zu, weil die kollektiven Vorstellungen, die
bis dahin das Verhalten konkret bestimmt haben, ihre Wirkung verloren haben. Der
Mensch „sucht (…) das Licht der Aufklärung von dem Augenblick an, wo die stumpfe
Gewohnheit den Anforderungen der neuen Zeit nicht mehr genügt“ (ebd.: 174). Nun ist
die Schwächung der traditionellen Dogmen und Gewohnheiten nirgends so weit fortge-
schritten wie in der modernen Großstadt. Wenn Durkheim also von der „Intelligenz der
Modernen“ (ebd.: 182) redet, so hat er moderne (städtische) Individuen vor Augen, die
das „Joch der Tradition“ (ebd.: 431) abgeschüttelt haben und die so entstandene Lücke
mit Bildung und Wissenschaft zu füllen versuchen.

3.2 Warum Stadtmenschen Neurotiker sind

Geisteskrankheiten halten Schritt mit der Zivilisation „und wüten weit eher in den Städ-
ten als auf dem Land, und in den großen Städten mehr als in den kleinen“ (Durkheim
1992: 332) – so ein weiterer Befund, den Durkheim seinem statistischen Material entneh-
men kann. Neurasthenie, als „eine Art rudimentärer Geisteskrankheit“ (ders. 1982: 55),
findet dabei seine besondere Aufmerksamkeit: Als eine „intensive nervöse Aufwal-
lung“ des Nervensystems (ebd.) ist sie dabei, in unseren „überfeinerten Gesellschaften“
(ebd.:  199) zu einer Allgemeinerscheinung zu werden (ebd.: 54). Das moderne städti-
sche Leben scheint also das Nervenleben sehr zu beanspruchen, eine Beobachtung, die
ebenfalls bei Georg Simmel zu finden ist, der von einer „Steigerung des Nervenlebens“ als
Merkmal der Großstadt spricht (Simmel 2006: 9, Herv. im Original).
Zwar selbst nicht explizit den Zusammenhang von Stadtleben und Neurasthenie her-
stellend, liest sich der Katalog an Symptomen, den Durkheim für das Nervenleiden auf-
stellt, wie eine Beschreibung des zivilisierten (also auch städtischen) Menschen, die er
an anderen Stellen seines Werkes anstellt. Bei Neurasthenie handelt es sich in der Durk-
heimschen Darstellung um eine „Zerrüttung des Nervensystems“ im Sinne einer „exzes-
siven Reizfähigkeit“ (1983: 55). Die angegriffenen Nerven des Neurasthenikers reagieren
bereits „bei der geringsten Berührung mimosenhaft empfindlich“ (ebd.). Die Reizschwel-
le sowohl für Schmerz als auch für angenehme Empfindungen liegt beim Neurasthe-
niker bedeutend niedriger, sodass er für Einwirkungen sensibler ist, die andere kaum
Emile Durkheim 71

berühren (ebd.). Vergleicht man dies nun mit Aussagen Durkheims über die Moder-
ne, so wird deutlich, dass der Neurastheniker in erster Linie in der städtischen Welt zu
Hause ist: „Überzivilisation“, so Durkheim, bewirkt eine „Verfeinerung des Nervensys-
tems“ (ebd.: 377). Während der Primitive sich gerade durch seine „Unempfindlichkeit“
auszeichnet, ist der Zivilisierte empfänglicher „für überstarke Reize wie übertriebene
Niedergeschlagenheit“ (ebd.). Seine Empfänglichkeit für mehr Vergnügungen ist un-
trennbar verbunden mit einer Empfänglichkeit für Schmerzen, die bei Durkheim bereits
an das Pathologische grenzt.
Mit dieser übersteigerten Sensibilität geht auch eine rastlose, hektische Aktivität ein-
her, Merkmale, die gewöhnlich mit dem Stadtleben assoziiert werden. Zunächst wieder
ein Blick auf den Neurastheniker: Auf Grund seiner nervösen Gereiztheit ist das Denken
des Neurasthenikers „ständig außer Fassung“ und „immer in Bewegung“ (ders. 1983: 56).
Er lebt in einem Zustand „ständiger Erschütterung“ (ebd.), wobei es gerade diese Instabi-
lität in den Beziehungen zu seiner physischen und sozialen Umwelt ist, die in ihm einen
„Hang zu Neuerungen und Neuheiten“ (ebd.) begründet. Als „unablässig sprudelnder
Brunnen neuer Ideen“ wird er somit zum „allerbeste[n] Wegbereiter des Fortschritts“
(ebd.: 65). Dabei kommt seine „geistige Vorstellungskraft“ (ebd.: 66) den Gesellschaften
höchster Kulturstufen zu Gute und es sind diese, in denen Neurastheniker am häufigsten
zu finden sind und in denen sie ihre „Daseinsberechtigung“ haben (ebd.). Kurzum: Der
Neurastheniker leidet, weil er „zu sehr im tätigen Leben steht“ (ebd.), ein Leiden, von
dem Menschen früherer Kulturstufen noch nicht befallen waren:

„Wenn der Wilde auch nicht die Freuden fühlt, die uns ein aktives Leben bereitet, so kennt
er doch seinerseits keine Langeweile, diesen Schrecken kultivierter Geister; er läßt sein Le-
ben ruhig dahinfließen, ohne beständig das Bedürfnis zu haben, die viel zu kurzen Augen-
blicke mit zahllosen und eiligen Taten zu füllen“ (ders. 1992: 298).

Implizit ist hier der Stadtmensch gemeint, der ein rastloses, hektisches Dasein führt,
während der Bauer fernab von jeglichem Lärm der Stadt sein beschauliches Leben lebt.
Es ist somit auch der Stadtmensch, von dem – genauso wie vom Neurastheniker – jegli-
cher Wandel und alles Neue ausgeht.

3.3 Warum alles Neue aus der Stadt kommt

Moderne und Stadt stehen für permanenten Wandel und ständige Erneuerung, für Un-
beständigkeit und Schnelllebigkeit. Das Dorf dagegen strahlt unbeweglich ruhende
Gleichförmigkeit aus; es steht für die Macht der Tradition, die die Dorfbewohner in ihren
Gewohnheiten festhält, ja sogar die Neuerungen fürchten lehrt, so zumindest Emile
Durkheim über frühere, weniger zivilisierte Gesellschaften (Durkheim 1992: 68). Die
Frage nun, warum die Stadt der Ort ist, von dem aus sämtliche Neuerungen ausgehen,
72 Markus Schroer & Jessica Wilde

lässt sich wieder mit der bereits bekannten Durkheimschen Formel von der Variation des
sozialen Milieus beantworten: In einer differenzierten Gesellschaft, die aus zahlreichen
und verschiedenen Elementen gebildet ist, kommt es zu ständigen Umgruppierungen,
und diese wiederum stellen ebenso viele „Quellen von Neuerungen“ dar (ebd.). Orga-
nisch zusammengehaltene Gesellschaften zeichnen sich gerade durch die Beweglichkeit
und den Freiraum aus, den sie ihren Teilen gewährt, und die in der Folge auch zu stän-
digen Neuerungen führen. Dagegen verharren mechanisch zusammengehaltene Gesell-
schaften in einem stationären Zustand, „den sie gar nicht verlassen wollen“ (ebd.: 309).
Und Durkheim fügt hinzu: „Das gleiche gilt für die ländlichen Bezirke der zivilisier-
ten Völker“ (ebd.: 310). Das Dorf „sehnt sich nach nichts Neuem“ und empfindet keine
„Freude am Wechsel“ (ebd.). Ganz anders dagegen der Stadtmensch. Nicht mehr im Den-
ken und Fühlen an die Traditionen und Gewohnheiten des Dorfes gebunden, zieht es ihn
in die Stadt, weil er dort seinen vielfältigen Neigungen und Interessen nachgehen kann.
Und es ist dieser, in seinem Denken bewegliche und individualisierte Mensch, der die
Stadt zu einem Ort der Neuerungen macht:

„Tatsächlich sind die großen Städte die Zentren des Fortschritts. In ihnen werden die neuen
Ideen, Moden, Sitten, Bedürfnisse geboren, die sich dann später auf das übrige Land aus-
breiten. Wenn sich die Gesellschaft ändert, so im allgemeinen in ihrem Gefolge und um sie
nachzuahmen. Die Geister sind hier derart beweglich, daß alles, was aus der Vergangenheit
kommt, ein wenig verdächtig ist. Im Gegenteil dazu erfreuen sich die Neuerungen, wel-
che es auch immer seien, eines fast gleichen Prestiges wie vormals die Sitten der Vorfahren.
Der Sinn ist hier von Natur aus auf die Zukunft gerichtet. Daher wandelt sich hier das Le-
ben mit einer außerordentlichen Geschwindigkeit: Glaubensüberzeugungen, Geschmack,
Leidenschaften sind in beständiger Evolution, und kein Boden ist für Evolutionen aller Art
günstiger“ (ebd.: 358).

Es bedarf nun aber auch eines bestimmten Menschentypus, um diese größere Vielfalt an
Reizen wertschätzen zu können. Der einfache und der zivilisierte Mensch, der Bauer und
der Städter, unterscheiden sich auf Grund der verschiedenen Beschaffenheit der Milieus,
aus denen sie kommen, in ihren Bedürfnisstrukturen grundlegend voneinander. Der
Städter sammelt nicht nur Reize, sondern auch Reichtümer ohne Ende. Ins Stereotyp ge-
wandt: Stadtmenschen sind zutiefst dekadent.

3.4 Warum Stadtmenschen reicher, aber auch nicht glücklicher sind

Im Rahmen seiner Suche nach den Ursachen für das Fortschreiten der Arbeitsteilung
entwickelt Durkheim eine Art soziologische Theorie des Glücks (Durkheim 1992: 289 ff.).
Entgegen der teleologischen Sichtweise, die dem Fortschritt der Zivilisation das Streben
der Menschen nach Glück zu Grunde legt, behauptet er, dass das Mehr an Produkten
Emile Durkheim 73

und Reichtümern, die mit der Arbeitsteilung einhergehen, den modernen Menschen
nicht notwendigerweise glücklicher machen. Durkheim zufolge liegen die Grenzen des
menschlichen Glücksempfindens in der jeweiligen „geschichtlich bestimmten Konstitu-
tion des Menschen“ (ebd.) begründet; sie stellen sich somit relativ zu der jeweiligen, stets
aus den Gesellschaftsstrukturen hergeleiteten „physischen und moralischen Entwick-
lung“ (ebd.) der Menschen ein. Mit anderen Worten: Mit der Art des sozialen Milieus
geht auch eine spezifische Art und Weise, glücklich zu sein, einher. Stadtsoziologisch
gewendet beinhaltet diese Theorie also eine Erklärung dafür, warum der Bauer kein Be-
dürfnis nach Bildung, Kunst und Kultur hat und warum der Stadtmensch, obwohl nur er
diese Zivilisationsgüter genießen kann, darum nicht zufriedener ist.
In Bezug auf Durkheims Gesellschaftstypologie gilt nun: Je weniger fortgeschrit-
ten und je weniger kultiviert das Milieu ist, desto niedriger liegt auch die obere Gren-
ze an Bedürfnissen. Nur der Stadtmensch weiß „all die Verfeinerungen der Zivilisation“
(ebd.: 297) zu schätzen, während der Bauer weniger und einfachere Bedürfnisse hat:

„Wenn der Bauer mit seinen Existenzbedingungen harmonisiert, dann ist er ästhetischen
Vergnügungen gegenüber, die für Gebildete normal sind, verschlossen und muß dies sein;
dasselbe gilt für den Wilden in Bezug auf die Zivilisation“ (ebd.: 296).

Dieser Zusammenhang trifft nicht nur für den Bereich Kunst und Kultur, sondern in
Bezug auf sämtlichen „materiellen“ und „geistigen Luxus“ (ebd.) zu, der mit der Zivilisa-
tion einhergeht. Gilt also für den Bauern, dass ihn der Reichtum und die Vielfalt der An-
reize, die mit dem Stadtleben verbunden werden, nicht glücklicher machen, weil er kein
Gefallen an ihnen finden würde, so muss auch der Stadtmensch bedenken, dass seinem
Streben nach Glück Grenzen gesetzt sind. Denn Glücksempfinden stellt sich stets nur in
einem „mittleren Bereich der angenehmen Tätigkeit“ (ebd.: 291) her, jenseits dessen „die
Krankheit beginnt und das Vergnügen endet“ (ebd.: 294). Durkheim tritt hier als Vertre-
ter von Maß und Mitte als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung von Ordnung ein:
Extreme grenzen stets an das Pathologische und gefährden somit den Zusammenhalt der
Gesellschaft. So kommt er in Bezug auf die Lockungen der Zivilisationsgüter zu dem er-
nüchternden Fazit: „Damit sind wir auch nicht glücklicher“ (ebd.: 334). Vor allem in sei-
ner Studie über den Suizid weitet er diesen Befund zu einer Zeitdiagnose aus, die kein
sehr gutes Licht auf die moderne, städtische Gesellschaft wirft. Die großen Städte Euro-
pas stellen hier vielmehr den primären Schauplatz für Anomie und zunehmende Verein-
zelung der Individuen dar: eine „Selbstmordzone Europa“ (ebd.: 304).

4 Anomie und Egoismus als städtische Phänomene

„Die Zivilisation konzentriert sich in den großen Städten; der Selbstmord ebenso“ (Durk-
heim 1992: 304). Jedoch ist es nicht die Stadt an sich, der ursächlich diese Wirkung auf
74 Markus Schroer & Jessica Wilde

den Suizid zugeschrieben wird. Vielmehr formen und entwickeln sich die großen Städte
unter dem Einfluss der gleichen Ursachen, die auch die Entwicklung des Suizids beein-
flussen, und diese sind in der Beschaffenheit der modernen Gesellschaft zu suchen (ebd.
1983: 142). Der heuristische Kunstgriff Durkheims besteht darin, aus der Analyse der Ur-
sachen für Suizide Rückschlüsse über die Eigenschaften des sozialen Milieus zu ziehen,
in dem sich diese ereignen. Denn für Durkheim ist der Suizid nicht als isolierter Einzel-
vorgang von Interesse, dessen Erklärung in den Umständen der individuellen Tat oder
in dem psychischen Zustand des Selbstmörders zu suchen ist (ebd.: 30 ff.), sondern es ist
die Gesamtheit der Suizide – die „soziale Selbstmordrate“ einer Gesellschaft (ebd.: 35) –
die er als „charakteristischen Index“ (ebd.: 34) für einen bestimmten Zustand im sozia-
len Gefüge heranzieht. Durkheim zufolge hat jede Gesellschaft eine spezifische Neigung
zum Suizid, die einen bestimmten „Zustand sui generis der Kollektivseele“ (ebd.: 35) aus-
drückt. Es lohnt sich also auch unter stadtsoziologischen Gesichtspunkten einen Blick
auf den Suizid zu werfen, denn aus der Durkheimschen Analyse der spezifisch modernen
Suizidarten, die ja vor allem in der „städtischen Zivilisation“ (ebd.: 57) Verbreitung fin-
den, erfahren wir auch etwas über den Kollektivzustand der Stadt.
Die Befunde sind allerdings auf den ersten Blick alarmierend, und es wäre entspre-
chend ein leichtes, ihnen eine sowohl kulturkritische als auch großstadtkritische Les-
art zu entnehmen. Für das ausklingende 19. Jahrhundert stellt Durkheim fest, dass die
Suizidrate kontinuierlich steigt (ebd.: 32), es ist von der „Verzweiflung der Modernen“
(ebd.: 182) die Rede und überhaupt ist die Zufriedenheit in den zivilisierten Ländern viel
seltener als in einfachen Gesellschaften (ders. 1992: 302). Die Gegenwartsgesellschaften
sind von einer „pessimistischen Strömung“ (ders. 1983: 433), einer „Kollektivneigung zur
Freudlosigkeit“ (ebd.) und einer „kollektiven Melancholie“ (ebd.: 438) erfasst worden, die
als Tendenzen bedrohliche Ausmaße annehmen. Kurzum: Der gegenwärtige Zustand des
Suizids ist pathologischen Ursprungs und drückt eine „kollektive Krankheit“ (ebd.: 10)
aus, an der die moderne Gesellschaft leidet. Unzufriedenheit und Melancholie sind hier-
bei symptomatisch für zwei Erscheinungen des modernen Lebens, denen jeweils ein
Suizidtypus entspricht: Anomie und Egoismus.

4.1 Der anomische Suizid und die Stadt

Jegliche Störung des Gleichgewichts, so auch Phasen steigenden Reichtums, kann an-
omische Zustände bewirken und die Zahl der Suizide in die Höhe treiben (Durkheim
1983: 278 f.). Anomie kann mit Durkheim definiert werden als ein Zustand der allgemei-
nen Norm-, Regel- und Orientierungslosigkeit, der vor allem in Zeiten rapiden sozialen
Wandels eintritt und der mit einer Entgrenzung der Bedürfnisse einhergeht (ebd.: 279 ff.).
Denn was in diesen gesellschaftlichen Umbruchsphasen fehlt, ist der mäßigende Einfluss
sozialer Gruppen, die durch den Zwang, den ihre Regeln auf das Individuum ausüben,
die Begierden und Bedürfnisse der Einzelnen disziplinieren. Unterliegen diese Gruppen
Emile Durkheim 75

im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung einem grundlegenden Wandel oder sind sie
in Auflösung begriffen, kommt es zur folgenden pathologischen Erscheinung:

„Wenn die öffentliche Meinung keine Orientierung mehr gibt, werden die Appetite keine
Schranke mehr kennen. Zudem befinden sie sich sowieso infolge der gesteigerten allge-
meinen Aktivität in einem gereizten Zustand. Sie werden angestachelt durch die reichere
Beute, die ihnen vorgehalten wird, und die althergebrachten Regeln verlieren ihre Autori-
tät, weil man ihrer überdrüssig ist. Der Zustand der gestörten Ordnung oder Anomie wird
also dadurch noch verschärft, daß die Leidenschaften zu einem Zeitpunkt, wo sie einer
stärkeren Disziplin bedürfen, weniger diszipliniert sind“ (ebd.: 289).

Historischer Schauplatz dieses Spektakels ist die industrialisierte, kapitalistische Stadt im


ausgehenden 19. Jahrhundert, deren rapide Entwicklungsdynamik Durkheim als Zeitge-
nosse deutlich vor Augen hat. In expliziter Abgrenzung zur Landwirtschaft, in der „die
alten Regelkräfte noch am meisten zu spüren sind“ (ebd.: 294), bestimmt Durkheim die
städtische Industrie- und Geschäftswelt als die Sphäre, in der anomische Zustände vor-
herrschen. Dort hat sich eine „Vergötzung des Wohlstands“ (ebd.: 292) ausgebreitet, die
die Menschen rastlos, fieberhaft, mit „überhitztem Ehrgeiz“ und „überreizten Begierden“
(ebd.: 292; 289) nach immer neuen Dingen und noch unbekannten Genüssen streben
lässt. Doch die Befriedigung, die diese dem Städter verschaffen können, stellt sich, wie
bereits erläutert, nur ein, wenn sie in Maßen genossen werden, sodass die Unersättlich-
keit des Städters ein Suizid förderndes Krankheitssymptom, sein unstillbarer Durst ein
„immerwährendes Strafgericht“ ist (ebd.: 281).
Ganz anders dagegen der Bauer auf dem Land, der zwar mühsam sein Dasein
fristet, aber weit weniger vom Suizid betroffen ist (ebd.: 278). Entgegen der landläufigen
Auffassung führt Armut die Menschen nämlich nicht zu Verzweiflungstaten (ebd.: 186),
sondern bringt ihnen die „Bescheidung“ bei (ebd.: 290). Das Elend bildet einen Schutz-
wall der Immunität gegen „die sittliche Gefahr, die ein jeder Reichtum mit sich bringt“
(ebd.). Durkheim fordert daher mit warnender Stimme eine „Kultur der Mäßigung“
(ebd.: 292) angesichts einer Krise, die sich von der Industriewelt in die anderen Sekto-
ren der Gesellschaft auszubreiten beginnt. In seiner Diagnose erscheint die Stadt somit
als eine Art Krankheitsherd, von dem aus ein „ansteckender Einfluss“ (ebd.: 363) von der
großen auf die kleine Stadt und von der kleinen Stadt auf das Land ausgeht. Die Entgren-
zung der Begierden ist jedoch nicht das einzige Problem. Die städtische Zivilisation birgt
neben der Tendenz zur Anomie auch eine Tendenz zum Egoismus in sich, der das zweite
große Gefährdungspotential moderner Gesellschaften darstellt.
76 Markus Schroer & Jessica Wilde

4.2 Der egoistische Suizid und die Stadt

Mit seiner Erörterung des egoistischen Suizidtypus greift Durkheim das Thema der Ver-
einzelung moderner Menschen auf. Der egoistische Suizid resultiert aus einer Lockerung
des sozialen Gefüges einer Gruppe, die dadurch zustande kommt, dass die kollektiven
Regeln und Vorstellungen, die die Lebensführung der Gruppenmitglieder bisher struk-
turiert haben, an Autorität und Wirkung einbüssen – ein Prozess, der generell mit fort-
schreitender Modernisierung einhergeht (Durkheim 1983: 162 ff.). Das kollektive Leben
gibt dem Einzelnen nicht mehr genügend Inhalt, sodass der moderne Mensch die sol-
cherart entstandene Leere selber füllen muss (ebd.: 170; 184 f.). Religion, Familie und
Staat lassen in ihrer Bindekraft nach und entlassen das Individuum in seine Autono-
mie: Es ist nun frei, seinen Privatinteressen zu folgen und ist in diesem Sinne „egoistisch“
(ebd.: 232). Pathologisch wird dieses an sich normale Phänomen der Individualisierung,
wenn der als „zeitweilige Krise“ (ebd.: 170) erfahrene Geltungsverlust kollektiver Vorstel-
lungen zum Dauerzustand wird. An die Stelle der alten Normen und Gruppenzugehö-
rigkeiten sind noch keine neuen getreten, die dem Individuum Halt geben könnten. Dies
führt zu der von Durkheim beschworenen Vereinzelung und „Verzweiflung der Moder-
nen“ (ebd.: 182). Depression und Melancholie nehmen überhand und treiben Menschen
zur Selbsttötung. „Übertriebene Vereinzelung“ (ebd.: 238), die über ein normales Maß
an Individualisierung hinausgeht, wird somit zum Krankheitssymptom der Gesellschaft:

„So formen sich Strömungen von Depression und Enttäuschung, die nicht etwa von ir-
gendeinem bestimmten einzelnen ausgehen, die vielmehr den Stand des Zerfalls, in dem
sich die Gesellschaft befindet, deutlich machen. In ihnen spiegelt sich wieder das Nachlas-
sen der sozialen Bindungen, eine Art kollektiver Asthenie, sozialen Kränkelns, in ähnlicher
Weise wie die Melancholie des einzelnen, wenn sie chronisch ist, ihrerseits in ihrer Art den
schlechten organischen Allgemeinzustand des Betreffenden widerspiegelt“ (ebd.: 238 f.).

Es sind nun in besonderem Maße die Stadtmenschen, die Durkheim zufolge einen „Hang
zur Vereinzelung“ (ebd.: 422) haben und denen die Melancholie besonders eigen ist
(ebd.: 338). Darüber hinaus sind die Intelligenzberufe, also eine überwiegend städtische
Klientel, vom egoistischen Suizid besonders betroffen, da in diesem Milieu die Auto-
rität der Tradition am ehesten in Frage gestellt und das Individuum der Wirkung des
Kollektivs entzogen wird (ebd.: 182 f.; 289). Überspitzt formuliert ließe sich also, nimmt
man Anomie und Egoismus als zwei verschiedene Aspekte ein und desselben Zustands,
folgendes (Krankheits-)Bild des Stadtmenschen zeichnen: Bei einem Stadtmenschen
handelt es sich um die vielfach beschworene einsame Monade, deren Beziehungen zu an-
deren Menschen nur noch spärlich sind, weil sich aus einer übertriebenen Vereinzelung
heraus „leere Räume (…) trennend zwischen die Menschen schieben und sie einander
entfremden“ (ebd.: 324). Von Gemeinschaft, Religion und Familie einsam zurückgelas-
sen, frönt er nur noch den Reichtümern und Vergnügungen, die das Stadtleben zu bieten
Emile Durkheim 77

hat. Alles in allem ein Zustand, von dem Durkheim sagt: „Es ist kein Wunder, dass unter
solchen Umständen der Wille zum Leben seine Kraft verliert“ (ebd.: 289).

5 Zwischen Antiurbanismus und Apologie des Großstadtlebens

So düster Durkheims Zeitdiagnose stellenweise auch klingen mag, den kulturpessimisti-


schen und antiurbanistischen Stimmen seiner Zeit kann man ihn nicht zurechnen. Trotz
seiner Beschäftigung mit neuzeitlichen Sozialpathologien ist sein Blick auf die Stadt nicht
von einer romantischen Verklärung der Vergangenheit oder dem Wunsch einer Wie-
derverländlichung der Großstadt getrübt. Dies soll abschließend anhand von zwei As-
pekten deutlich gemacht werden. Erstens soll gezeigt werden, dass bei Durkheim eine
„Apologie der Arbeitsteilung“ (König 2008: 13) und somit der städtischen Moderne in
den Grundfesten der Theorie angelegt ist. Dies bewahrt ihn davor, die Verhältnisse an-
gesichts der krisenhaften Entwicklungen zurückschrauben zu wollen. Stattdessen sieht
sich Durkheim als Reformer, der bestimmten pathologischen Auswüchsen einer an sich
normalen Entwicklung konkrete Therapievorschläge entgegenhalten will. Zweitens soll
seine Gegenposition zu Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Ge-
sellschaft deutlich gemacht werden, die Untergangsvisionen und Stadtkritik bis in die
Gegenwart hinein prägt (vgl. dazu auch Schroer 2006: 147 f.). Ins Auge sticht dabei, dass
Durkheim und Tönnies sich im Kern ihrer zeitdiagnostischen Aussage zwar durchaus
treffen, da sie beide von einer Ablösung traditioneller bzw. gemeinschaftlicher Formen
der Sozialbeziehungen durch neue, gesellschaftliche Integrationsformen ausgehen, diesen
Prozess jedoch vollkommen unterschiedlich bewerten: Während Tönnies’ seine Hoff-
nung auf eine Wiederbelebung gemeinschaftlicher Handlungsvollzüge in einer dem Un-
tergang geweihten Gesellschaft richtet, setzt Durkheim auf das Integrationspotential der
Arbeitsteilung.

5.1 Das Stadtleben zwischen Normalität und Pathologie

Bei Durkheims Theorie der modernen Gesellschaft handelt es sich nicht um eine Verfalls-
theorie. Der Anschuldigung, dass die Arbeitsteilung zur Auflösung von Gemeinschaften,
zu Vereinzelung und Entmoralisierung führt, hält Durkheim die These entgegen, dass
die moderne Gesellschaft mit der organischen, auf Zusammenarbeit gegründeten Solida-
rität ein funktionales Äquivalent für das Verschwinden der traditionalen Moral hervor-
bringt. Durkheim positioniert sich also nicht als Schwarzmaler, sondern als Begründer
einer optimistisch und funktionalistisch argumentierenden Modernisierungstheorie
(Schroer 2006: 139 f.). Deutlich wird diese optimistische Grundhaltung in der theoreti-
schen Argumentation, dass der mit der Arbeitsteilung einhergehende Strukturwandel an
sich ein normales Phänomen ist und damit auch als funktional und nützlich angesehen
78 Markus Schroer & Jessica Wilde

werden muss, während es nur der gegenwärtigen epochalen Umbruchsphase geschul-


det ist, dass Anomalien und Pathologien virulent werden (vgl. Durkheim 1970: 141 ff.).
So sagt Durkheim auch in Bezug auf die Verstädterung, die ja Ausdruck des allgemeinen
Strukturwandels und genau in diesem „normal“ ist (ebd.: 147 f.), dass es sich hierbei kei-
neswegs um ein pathologisches Phänomen handelt, weil sie sich „in Übereinstimmung
mit der Natur des entwickelten Sozialtyps“ entfaltet (ders. 1992: 318). Und er führt aus:
„Selbst wenn wir annehmen, daß diese Bewegung für unsere Gesellschaften bedrohliche
Ausmaße angenommen hätte, (…) so wird sie dennoch weitergehen“ (ebd.). Durkheim
hält sich also in seiner Bewertung bezüglich der Richtung des gesellschaftlichen Wandels
bewusst zurück: Ob Verstädterung als Phänomen gewünscht oder verflucht, normativ
begrüßt oder verurteilt wird, spielt für ihn zunächst keine Rolle, da es sich um ein nor-
males Phänomen gesellschaftlichen Strukturwandels handelt, der Wünschen und Ideal-
vorstellungen einzelner Akteure gegenüber blind verläuft (Durkheim 1970: 115 ff.; 176 ff.).
Was der Soziologe jedoch tun kann und muss, ist durch gezielte reformerische Eingriffe
den diagnostizierten Krisenzuständen beizukommen: Das „pathologische Sein“ soll in
das „Sollen der Normalität“ überführt werden (König 2008: 19).
Durkheim setzt diesbezüglich seine Hoffnungen in die soziale Gruppe an sich. Nur
die Gruppe vermag es, einen heilsamen moralischen Einfluss auf das Individuum aus-
zuüben und damit die arbeitsteilige Gesellschaft in ihr normales Funktionieren umzu-
leiten. Waren es früher noch Kirche, Familie und Staat, die das Individuum integrierten
und als soziale Einheiten mit „prophylaktischer Wirkung“ (Durkheim 1983: 446) gegen
Vereinzelung und Anomie dem Einzelnen Halt zu geben vermochten, so zeichnet sich die
gegenwärtige Situation gerade dadurch aus, dass diese Einheiten im Zuge des Struktur-
wandels ihre Funktion eingebüßt haben. Aber an Stelle von Resignation hält Durkheim
diesem Befund einen konkreten Lösungsvorschlag entgegen: Berufsgruppen könnten, so
Durkheim, als funktionales Äquivalent neue Integrationspotentiale freisetzen und zur
Überwindung der anomischen Zustände beitragen (ders. 1992: 41 ff.). Als intermediäre
Gruppe mit moralischer Autorität sollen sie neue Solidaritätsgefühle wecken und somit
als neue „Lebensquelle sui generis“ (ebd.: 69) dienen. Durkheims Diagnose aktueller Kri-
senerscheinungen speist sich also gerade nicht aus antimodernen Impulsen, wie sie vor
allem für die konservative Kulturkritik des 19. Jahrhunderts kennzeichnend sind. Viel-
mehr fällt gerade im Vergleich mit Ferdinand Tönnies auf, dass Durkheim nicht dem Un-
tergangspathos der Großstadtkritik seiner Zeit verfällt.

5.2 Durkheim vs. Tönnies: Wider die Verklärung einer homogenen Gemeinschaft

Auffallend bei der Gegenüberstellung der stadtsoziologischen Aussagen der beiden Klas-
siker sind zunächst die zeitdiagnostischen Parallelen beider Autoren. Die Großstadt wird
bei beiden als Hauptschauplatz von Modernisierungsprozessen bestimmt. Beiden gilt
die traditionelle Form der Sozialintegration als gebunden an den Nahraum: an Familie,
Emile Durkheim 79

Nachbarschaft, den Ort oder das Dorf (Tönnies 2005: 12 ff.). Beide ziehen den Stadt-
Land-Gegensatz heran, um theoretisch den Wechsel in Art und Qualität menschlicher
Beziehungen im Übergang zur Moderne deutlich zu machen. So ist auch bei Tönnies die
Ausbreitung moderner Großstädte ein Zeichen dafür, dass das (moderne) „Zeitalter der
Gesellschaft“ das (vormoderne) „Zeitalter der Gemeinschaft“ (ebd.: 215) abgelöst hat, ge-
meinschaftliche Lebensformen mithin zu verschwinden drohen. Steht bei Tönnies das
Dorf für die naturwüchsige, auf Zuneigung und gegenseitigem Vertrauen basierende Ge-
meinschaft, ist die Stadt der Ort der Gesellschaft, an dem Zwecke, rechnerisches Kal-
kül, Tauschinteressen und Entfremdung vorherrschen. In dieser kulturpessimistischen
Klage liegt jedoch zugleich der zentrale Unterschied zwischen beiden Autoren. Während
Durkheim, wie zuvor erläutert, im Grunde eine positive, hoffnungsvoll gestimmte Ein-
schätzung in Bezug auf das Integrationspotential moderner Gesellschaften hegt, kommt
Tönnies zu dem ernüchternden Fazit: „So ist die Großstadt und gesellschaftlicher Zu-
stand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes“ (ebd.: 215).
Deutlich wird diese unterschiedliche Einschätzung des Modernisierungsprozesses,
vergleicht man das Tönniessche Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft mit Durk-
heims Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarität. Die Attribu-
te ‚mechanisch‘ und ‚organisch‘ werden von beiden Autoren in umgekehrter Reihenfolge
gebraucht: Während bei Tönnies Gemeinschaft „ein lebendiger Organismus“ ist, natur-
wüchsig und damit das „dauernde und echte Zusammenleben“ (ebd.: 4), ist Gesellschaft
nichts als „ein bloßes Nebeneinander voneinander unabhängiger Personen“, „ein me-
chanisches Aggregat und Artefakt“ (ebd.). Bei Durkheim dagegen ist es gerade die mo-
derne, arbeitsteilige Gesellschaft, der er den Anstrich des Natürlichen verleiht, indem er
ihr Funktionieren mit dem eines Organismus vergleicht, während es sich bei der Dorf-
gemeinde um die durch „mechanische“ Solidarität alternativlos aneinander gebundene
Gemeinschaft handelt. Nirgends wird die abweichende normative Konnotation so deut-
lich wie in dieser unterschiedlichen Begriffsfassung: Gilt Tönnies die Gemeinschaft als
grundsätzlich zu bejahende und bewahrenswerte Instanz, die mit Metaphern der Wärme
und Geborgenheit belegt wird, feiert Durkheim die Auflösung traditionaler Bindungen
als Befreiung aus der bedrückende Enge der dörflichen Gemeinschaft, die ja bekannt
dafür sei, „wie sehr sie ihre Mitglieder absorbiert, (…) wie sehr sie alle, die ihr angehö-
ren, in ihrem Kreis gefangen hält und in ihre Abhängigkeit zwingt“ (Durkheim 1999: 91).
Durkheim vermeidet es mit dieser Umkehrung also, einer romantisierenden Verklä-
rung gemeinschaftlicher Formen des Zusammenlebens das Wort zu reden und die ge-
genwärtigen Verhältnisse angesichts aktueller Krisenerscheinungen als die Quelle allen
Übels zu verteufeln. Seine Bemühungen richten sich vielmehr auf die Korrektur eini-
ger Schönheitsfehler im Aufbau der modernen Gesellschaft. In das Werk von Tönnies
dagegen ist eine grundlegende Kritik der Moderne eingelassen, die auch nur ein ent-
sprechend pessimistisches Fazit zulässt: Sollen die Menschen wieder „freundlicher, un-
egoistischer, genügsamer“ gemacht werden (ebd.: 214), müssen die gesellschaftlichen
Kräfte an sich aufgehoben werden: „Der Staat, als die Vernunft der Gesellschaft, müßte
80 Markus Schroer & Jessica Wilde

sich entschließen, die Gesellschaft zu vernichten“ (ebd.). Das Gelingen solcher Versuche,
so Tönnies, sei jedoch „außerordentlich unwahrscheinlich“ (ebd.).

Schluss

Fragt man rückblickend nach dem stadtsoziologischen Gehalt der Durkheimschen So-
ziologie, so erstaunt zunächst die Vielseitigkeit der Aussagen über die Stadt, die sich aus
dem Werk ziehen lassen, schließlich richtete sich Durkheims Forschungsinteresse nie
explizit auf den Gegenstand Stadt an sich. Sein theoretisches und zeitidagnostisches Ziel
war in erster Linie, Strukturaussagen über die moderne Gesellschaft zu machen, und es
ist dieser übergeordnete Rahmen, in dem die Stadt erst ihren Platz als relevantes For-
schungsobjekt findet. Stadtsoziologie tritt hier weniger als Bindestrich-, sondern viel-
mehr als allgemeine Soziologie in Erscheinung. Somit gilt für Durkheim wie auch für
die anderen Klassiker der Soziologie, die sich an der Wende zum 20. Jahrhundert theo-
retisch mit der neu entstehenden Industriemoderne befassten: „Stadtanalysen sind Ge-
sellschaftsanalysen, Gesellschaftsanalysen auch Stadtanalysen“ (Friedrichs 1980: 14). Als
tragende Säulen einer im engeren Sinne stadtsoziologischen Lesart von Durkheims Ge-
sellschaftstheorie können dabei folgende Zugänge zum Thema Stadt identifiziert werden:
Erstens hält Durkheims Soziologie einen breiten Fundus an Kategorien und Begriffen
bereit, mit denen sich die Strukturmerkmale und Beziehungsmuster städtischer Gesell-
schaften analysieren lassen – von Differenzierung und Individualisierung bis hin zur
Enterritorialisierung und Anonymisierung sozialer Beziehungen. Zweitens bietet Durk-
heim einen theoretisch und methodisch reflektierten Erklärungsschlüssel für (stadt-)
soziologisch relevante Phänomene an, der sich auf die Formel reduzieren lässt, die Ursa-
chen sozialer Tatbestände stets in der Beschaffenheit des sozialen Milieus zu suchen und
diese nach Faktoren wie Volumen, Dichte, Homogenität oder Heterogenität zu befra-
gen. Stadtsoziologie wird hier also als eine Makrosoziologie konzipiert, der es vor allem
darum geht, subjektübergreifende Strukturphänomene zu erfassen. Schließlich erweisen
sich Durkheims zeitdiagnostische Aussagen über Krisenerscheinungen der modernen
Gesellschaft als aufschlussreich und anschlussfähig für aktuelle Diskurse innerhalb der
Stadtsoziologie, die unter die Stichwörter Desintegration und Anomie subsumiert wer-
den können.
Bestechend an dem von Durkheim skizzierten Panorama stadtsoziologischer Einsich-
ten ist dabei gerade, dass es sich einer eindeutigen normativen Einschätzung der Stadt
entzieht, die Frage nach der Zuordnung Durkheims zu den „Schwärmern“ oder „Apo-
kalyptikern“ unter den Stadtforschern also einer differenzierten Antwort bedarf. Auf der
einen Seite feiert Durkheim das Stadtleben als gelungenes Beispiel moderner Integra-
tion durch Arbeitsteilung, auf der anderen Seite redet er in teils alarmierenden Tönen
von den Krankheiten städtischer Zivilisation. Insbesondere seine Aussagen zur Anomie
und zum Zerfall der Familie nehmen stellenweise einen durchaus kulturkritischen An-
Emile Durkheim 81

strich an, ohne jedoch seine Befunde in eine Verfallstheorie münden zu lassen. Ist das
Durkheimsche Szenario einer umfassenden Verstädterung der sozialen Welt trotz seiner
theoretischen Verteidigung der Moderne also durchaus nicht frei von Skepsis und Zwei-
fel in Bezug auf die Integrationskraft solch umfassender Gebilde, so hindert sein Soziolo-
gieverständnis Durkheim dennoch daran, in dieser Entwicklung ein Untergangsszenario
ausmachen zu wollen. Vielmehr ließe sich leicht ausmalen, was Durkheim Großstadtkri-
tikern entgegenhalten würde: Der Soziologie sollte es darauf ankommen, sich von den
vorgefassten Meinungen und „Vulgärvorstellungen“ (Durkheim 1970: 116) zu lösen, die
die von ihm despektierlich „Moralisten“ genannten Theoretiker in ihre „hausbackenen
Theorien“ einfließen lassen (ders. 1983: 19). Gerade den Antiurbanisten würde Durkheim
also raten, sich an die von ihm aufgestellte erste Regel der soziologischen Methode zu
halten: Verstädterung als sozialen Tatbestand nüchtern und werturteilsfrei wie ein Ding,
commes les choses, zu betrachten.

Literatur

Durkheim, Emile (1970 [1895]): Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingelei-
tet von René König, 3. Aufl. Neuwied/Rhein: Luchterhand
Durkheim, Emile (1983 [1987]): Der Selbstmord. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Durkheim, Emile (1999): Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral.
Herausgegeben von Hans-Peter Müller. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Durkheim, Emile (1992 [1893]): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer
Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp
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laden: Westdeutscher Verlag
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König, Matthias (2008): Wie weiter mit Emile Durkheim ? Hamburg: Hamburger Edition
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tigation of Human Behavior in the Urban Environment. Chicago: UP
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Schroer, Markus (1997): Fremde, wenn wir uns begegnen. Von der Universalisierung der Fremd-
heit und der Sehnsucht nach Gemeinschaft. In: Nassehi, Armin (Hg.): Nation, Ethnie, Min-
derheit. Historische und systematische Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Georg
Weber zum 65. Geburtstag. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. S. 15 – 39
Schroer, Markus (2000): Das Individuum der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Schroer, Markus (2006): Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums.
Frankfurt am Main: Suhrkamp
Schroer, Markus (2009): Materielle Formen des Sozialen. Die ‚Architektur der Gesellscahft‘ aus
Sicht der sozialen Morphologie. In: Fischer, Joachim/Delitz, Heike (Hrsg.): Die Architek-
tur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie. Bielefeld: transcript Verlag.
S. 19 – 48
Simmel, Georg (2006 [1903]): Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp
82 Markus Schroer & Jessica Wilde

Sennett, Richard (2008): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität.
Berlin: BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH
Tönnies, Ferdinand (2005 [1935]): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Sozio-
logie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studien-
ausgabe. Tübingen: Mohr Siebeck
Georg Simmel
Matthias Junge

1 Einleitung

Für eine Auseinandersetzung mit Simmels Arbeiten zur Stadt ist es vorab bedeutsam,
diese in sein gesamtes Werk einzuordnen. Denn Simmel entwickelt im engeren Sinne
des Wortes keine Stadtsoziologie. Für ihn ist „die“ Stadt, vor allem die Großstadt Berlin
seiner Zeit, ein geeignetes Beispiel, um Grundzüge und wichtige Konzeptionen seiner
Soziologie zu erhellen. Simmels Arbeiten zur Stadt, den Lebensstilen des Städters, seine
Auseinandersetzungen mit einer Soziologie des Raumes, sie alle sind Beiträge zur Veran-
schaulichung seiner Denkungsart, nicht jedoch intendiert als Beiträge zu einer Soziolo-
gie der Stadt.
Diese den fraglichen Werken nicht gerecht werdende Interpretation geht auf die ame-
rikanische Rezeption vor allem bei Wirth und Park zurück (vgl. Lindner 2004: 170).
Damit wird jedoch die reichhaltig dimensionale Vielfalt der Überlegungen von Simmel
nicht eingefangen. Simmels Analysen sind vielfach in sich gebrochen. Er entwickelt, so
David Frisby, gleichzeitig eine Raumsoziologie, eine ästhetische Analyse des Städtischen
und schließlich drittens eine Analyse der Moderne durch die Analyse des Städtischen
hindurch (vgl. Frisby 1992: 116).
Simmel bedient sich dabei eines Verfahrens, das für die Soziologie der Gründervä-
ter kennzeichnend ist: durch die Analyse einzelner Phänomene hindurch eine gesamt-
gesellschaftliche Untersuchung der modernen Gesellschaft vorzulegen. Nur vor diesem
Hintergrund wird verstehbar, warum vor allem die Skizzen von Lebensstilen als Ausein-
andersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen sein Thema und den Fokus seiner
Auseinandersetzung mit dem Städtischen prägen.
Im Befund einer eigentümlichen Vermengung perspektivischer Hinsichten auf die
Stadt ist sich die Sekundärliteratur neuerer Zeit im europäischen Sprachraum einig.
Es geht immer um die Analyse sowohl der Stadt in ihrer räumlichen Struktur wie zu-
gleich um eine Analyse moderner Gesellschaften. Im Prinzip wird die Stadtanalyse zum
Fundament einer Gesellschaftsanalyse. In dieser Perspektive erweist sich Simmel nicht
als Stadtsoziologe, sondern in erster Linie als Soziologe der Moderne am Beispiel des
Städtischen.
Für die „Gründerväter“ der deutschen Soziologie, neben Simmel vor allem Ferdinand
Tönnies (1855 – 1936) und Max Weber (1864– 1920), bestand eines ihrer zentralen Probleme
in der Erfassung und soziologischen Kennzeichnung der Moderne. Dieses zumeist sehr

F. Eckardt (Hrsg.), Handbuch Stadtsoziologie,


DOI 10.1007/978-3-531-94112-7_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
84 Matthias Junge

abstrakte, formale und häufig vage bleibende Konzept wurde von den Gründervätern
in dekomponierter Form aufzuklären gesucht. Nicht also als Moderne im Allgemeinen,
sondern durch Aufklärung einzelner Elemente der Moderne. Die Stadt, Verstädterungs-
tendenzen, entstehende Großstädte wie Berlin, München, Paris oder Wien, sie wurden
von den Gründervätern als ein ausgezeichnetes Merkmal moderner Gesellschaften be-
trachtet. Bei Tönnies ist dieses Interesse an der Stadt im Begriffspaar und Titel seines
Hauptwerkes „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) eingeschlossen, bei Max Weber
prägt sein Interesse an „der“ Stadt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen von der An-
tike bis zur Gegenwart große Teile von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1922). Und diese
intensive Beschäftigung mit der Stadt verbindet die unterschiedlichen Ausprägungen der
entstehenden Soziologien und erlaubte „Brücken“ zu bauen zwischen den unterschiedli-
chen Ausprägungen soziologischen Fragens zwischen Amerika und Deutschland, exem-
plarisch verkörpert im Kontakt zwischen Simmel und Robert Ezra Park (vgl. 1915; 1952).

2 Die Stadt der „Philosophie des Geldes“

Was sind nach Simmel Merkmale der modernen Großstadt, aus denen sich ableiten lässt,
welche Praxis (vgl. Löw 2008: 73) der Lebensführung und welche Lebensstile sich dar-
aus ergeben ? Um diese Frage zu beantworten ist zuerst zu klären, was denn eine Stadt als
Stadt soziologisch auszeichnet, welche Merkmale eine angemessene Beschreibung des
Städtischen darstellen. Der Simmel-Kenner David Frisby hat aufbauend auf der engen
konzeptionellen Verknüpfung zwischen der Moderne und der Entwicklung des Städ-
tischen fünf Merkmale herausgearbeitet, mit denen Simmel die Stadt zu beschreiben
suchte: Ihre Exklusivität, ihre klare Grenze nach Außen (etwa durch Stadtmauern),eine
Verfestigung sozialer Formen innerhalb der Stadt, sowie eine eigentümliche Spannung
zwischen räumlicher Nähe und Distanz. Simmel hat allerdings diese Merkmale nun
nicht in systematischer oder gebündelter Form behandelt, sondern Schritt für Schritt je
Einzeln bei „Gelegenheit“ an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeitpunkten –
gemäß dem bei Simmel dominierenden essayistischen und fragmentarischem Stil (vgl.
Axelrod 1977) seines gedanklichen Arbeitens. So trägt jede neuerliche Auseinanderset-
zung mit dem Thema eine weitere Facette, ein weiteres Merkmal einer von Simmel selbst
nie unternommenen Gesamtskizze der Stadt und des Städtischen bei.
Seine erste Zuwendung zur Stadt im Kontext der Moderne liegt im sechsten Kapi-
tel der „Philosophie des Geldes“ (1900) vor. Die Einordnung der Auseinandersetzung
mit der Stadt in die „Philosophie des Geldes“ ist von Interesse für die Interpretation von
Simmels Arbeiten zur Stadt und dem Städtischen. Denn mit der „Philosophie des Gel-
des“ möchte Simmel eine soziologisch intendierte Zeit- und Gesellschaftsdiagnose vor-
legen. Sie wird vor allem bestimmt durch das Geld und den Tausch (hierzu vor allem von
Flotow 1995) und die damit in den Vordergrund rückenden gesellschaftlichen Wertbezie-
Georg Simmel 85

hungen, dem gesellschaftlich vermittelten Verhältnis zu Werten und dem Werten, des-
sen Auswirkungen auf die Lebensstile Simmel untersuchen möchte. Dabei geht Simmel
von einer einfachen Annahme aus: Alle Beziehungen zu Objekten gleich welcher Art be-
ruhen darauf, dass wir uns Objekten zuwenden, weil sie uns wertvoll erscheinen, weil
sie für uns einen Wert darstellen. Ein Wert jedoch kann zum Objekt von Tauschprozes-
sen werden und damit in den Zusammenhang von Wechselwirkungen eingehen. Welche
Konsequenzen hat es jedoch, dass alles Wertvolle getauscht werden kann ? Und Simmel
stellt diese Frage spezifischer, denn er fragt in dieser Abhandlung nach den Rückwir-
kungen dieser Tauschprozesse auf das subjektive Begehren. Die Fragen der „Philosophie
des Geldes“ zielen somit in zwei Richtungen; einerseits wird gefragt nach der Entste-
hung von Tauschprozessen auf der Grundlage je subjektiver Wert(schätzungen), und an-
dererseits soll aufgeklärt werden, wie Tauschprozesse, die in der „Philosophie des Geldes“
als Musterbeispiel für Wechselwirkungen dienen, nun ihrerseits auf die Individuen und
ihre typischen Formen des Wertens und Bewertens einwirken (vgl. hierzu die Beiträge in
Kintzelé/Schneider (Hrsg.) 1995).
Was ist unter Wechselwirkung zu verstehen ? David Hume suchte durch die Beschrei-
bung des Aufeinandertreffens zweier Kugeln den Ursachenbegriff aufzuklären. Dieses
Beispiel kann dazu herangezogen werden, um auch das Konzept der Wechselwirkung zu
verdeutlichen: Mit einem Billardqueue wird eine Billardkugeln auf eine andere Billard-
kugel gestoßen. Im Moment der Berührung setzt sich nun einerseits die getroffene Kugel
in Bewegung, andererseits verändert in diesem Moment die treffende Kugel durch die
auf sie zurückwirkende Masse der bislang ruhenden Kugel ihre Richtung. Knapp: Die er-
zeugte Wirkung wirkt auf ihre Verursachung zurück, oder auch: beide treten in Wechsel-
wirkung zueinander.
Soziologisch gewendet bedeut dies: „Wechselwirkungen entstehen immer aus be-
stimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen. Erotische, religiöse oder
bloß gesellige Triebe, Zwecke der Verteidigung wie des Angriffs, des Spieles wie des Er-
werbes, der Hilfeleistung wie der Belehrung und unzählige andere bewirken es, daß der
Mensch in ein Zusammensein, ein Füreinander-, Miteinander-, Gegeneinander-Handeln,
in eine Korrelation der Zustände mit anderen tritt, d. h. Wirkungen auf sie ausübt und
Wirkungen von ihnen empfängt.“ (1908: 17 – 18) Soziale Wechselwirkung entsteht also,
wenn sich Individuen mit ihren jeweiligen Interessen aufeinander beziehen. Im Moment
der Bezugnahme von Menschen aufeinander wird soziale Wechselwirkung konstituiert.
Das Konzept der Wechselwirkungen ist begrifflich also eine frühe Form des Konzepts der
Interaktion, allerdings eben nicht nur begrenzt auf soziale Interaktionen, sondern auch
auf andere Wechselbeziehungen wie etwa die zwischen dem subjektiven Begehren und
den Werten.
In der „Philosophie des Geldes“ führt Simmel die Bewegung der Wechselwirkung
theoriearchitektonisch vor: Begann die Untersuchung mit dem subjektiven Begeh-
ren und der dadurch erzeugten Form der Vergesellschaftung, dem geldwirtschaftlichen
86 Matthias Junge

Tausch, so wirkt diese Form nun zurück auf das subjektive Begehren, und es schließt sich
der Kreislauf der Wechselwirkung von Begehren, gesellschaftlicher Formung des Begeh-
rens und der Rückwirkung auf das Begehren (vgl. Junge 2000).
Die erste, den Stil des Lebens beeinflussende Eigenschaft, die sich aus dem Geldver-
kehr ergibt, ist das rechnende Wesen der Neuzeit. Ihr erscheint „die Welt als ein großes
Rechenexempel“ (1900: 612), denn alles wird in der Realisierung des Begehrens durch die
Verschlingung verschiedener Wertsetzungsprozesse und die damit einhergehende Ver-
sachlichung verrechnet. Es geht nun nicht mehr um das Begehren, um die Realisierung
von Werten. Sondern nun geht es um die Verwirklichung von eigenständigen Tausch-
prozessen und damit um die Gewinnung von geldwerten Vorteilen, die zuletzt nur zu
berechnen sind und die Distanz zu den Werten der Gesellschaft an sich vergrößern. Da-
durch wird zugleich eine bestimmte Gleichgültigkeit den Dingen gegenüber erzeugt:
Geld, das Mittel zu Zwecken, wird zum Selbstzweck und vergrößert die Gleichgültig-
keit gegenüber den Werten. An der Skizze dieser Umformung des Stils des Lebens – am
Mittel als Selbstweck und nicht mehr an den Zwecken des Tausches orientiert – durch
das rechnende Wesen der Neuzeit und die damit einhergehende Gleichgültigkeit ge-
genüber den ursprünglich angestrebten Werten zeigt sich die „Philosophie des Geldes“
als eine Studie der Kultur von Mittel und Zweck, die prägend auf die Lebensstile der
Moderne einwirkt.
Eine weitere Konsequenz, der durch geldwirtschaftlichen Verkehr beschleunigten so-
zialen, technischen und kulturellen Entwicklungen, einer fortschreitenden Arbeitstei-
lung im Produktionsprozess von Gütern wie auch gesellschaftlicher Verhältnisse, ist eine
wachsende Kluft zwischen objektiver und subjektiver Kultur. Objektive Kultur meint bei
Simmel „die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrs-
mittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik der Kunst“ (1900: 620). Diese objek-
tive Kultur erfährt im Zuge durchgesetzten gesellschaftlichen Geldverkehrs ein schnelles
Wachstum, sodass das Individuum mit seiner subjektiven Kultur, d. h. dem Bestand-
teil der objektiven Kultur, die es sich angeeignet hat, nicht mehr mit dem Wachstum
der objektiven Kultur Schritt halten kann. Es entsteht ein Hiatus, ein Gefälle, eine Kluft
zwischen objektiver und subjektiver Kultur, die fortwährend größer wird und das Indivi-
duum zuletzt hinter den Entwicklungen der objektiven Kultur zurück hinken lässt. Diese
Differenz von objektiver und subjektiver Kultur, ausgelöst durch gesellschaftliche Ar-
beitsteilung, Differenzierungsprozesse und geldwirtschaftlichen Verkehr, wird im Zuge
gesellschaftlicher Entwicklung immer größer.
Schließlich beschreibt Simmel einen dritten Einfluss des Geldes auf die Lebensstile.
Dabei ist zuerst die durch das Geld erzeugte Distanz zwischen den Menschen zu erwäh-
nen. Denn Modernisierungsprozesse sind vor allem Urbanisierungsprozesse, d. h. räum-
liche Verdichtungsprozesse von Menschen. Deren Konsequenz besteht nun darin: „Daß
man sich mit einer so ungeheuren Zahl von Menschen so nahe auf den Leib rückt, wie
die jetzige Stadtkultur mit ihrem kommerziellen, fachlichen, geselligen Verkehr es be-
Georg Simmel 87

wirkt, würde den modernen, sensiblen und nervösen Menschen völlig verzweifeln lassen,
wenn nicht jene Objektivierung des Verkehrscharakters eine innere Grenze und Reser-
ve mit sich brächte. Die entweder offenbare oder in tausend Gestalten verkleidete Geld-
haftigkeit der Beziehungen schiebt eine unsichtbare, funktionelle Distanz zwischen die
Menschen, die innerer Schutz und Ausgleichung gegen die allzugedrängte Nähe und Rei-
bung unseres Kulturlebens ist.“ (1900: 665; vgl. Nedelmann 1992)
Damit sucht Simmel eine Antwort auf die Frage: Wie wirkt sich städtisches Leben
auf die Persönlichkeit und die Lebensform der Individuen aus ? Festzuhalten ist hier
vor allem, dass die gesteigerte Nervenreizung durch ein erlebnisintensives Klima nur
durch die Form der Reserviertheit, der Zurückhaltung, der skeptischen Distanz ge-
genüber allem, was passiert, ertragen werden kann. Mit dieser Reaktion auf den Ur-
banisierungsprozess ist eine weitere Stilbestimmung des Lebens in modernen Städten
angesprochen. Das beschleunigte Leben erzeugt durch geldwirtschaftlichen Verkehr und
voranschreitende Urbanisierungsprozesse Veränderungen im Rhythmus und Tempo der
Lebensführung.
Rhythmus der Lebensführung bedeutet für Simmel, dass jedes Leben und jede Abfol-
ge im Leben durch eine „Hebung“ und „Senkung“ (1900: 677) geprägt ist, d. h. das Leben
folgt einer gleichförmigen Bewegung des Auf und Ab. In der rhythmischen Abfolge rea-
lisiert sich Stabilität und Dynamik in einer Weise, wie sie dem Menschen angenehm zu
sein scheint. Allerdings eröffnet das moderne geldwirtschaftlich geprägte Leben zweierlei
Umgangsweisen mit der gesellschaftlichen Beschleunigung des Lebens, die den Rhyth-
mus der inneren Zeit verändern.
Man kann mit Simmel eine symmetrisch-rhythmische, von einer individualistisch-
spontanen Rhythmik des Lebens unterscheiden (vgl. Nedelmann 1992). Die symme-
trisch-rhythmische Gestaltung des Lebens unterwirft Bedürfnisse, Begehren, Triebe
und Impulse des Individuums einer Formung. Sie formt also die Natur oder die Seele
des Menschen durch vernünftige Gestaltung und prägt sich selbst als eine stabile und
kontinuierliche Form (1900: 683). Ganz anders hingegen reagiert die individualistisch-
spontane Lebensform. Diese sucht nicht Formung individueller Bedürfnisse, Triebe und
Wertsetzungen vorzunehmen, sondern sie folgt diesen Trieben und Bedürfnissen unmit-
telbar und ist damit rhythmuslos, weil ein Rhythmus eine geordnete Abfolge ist. Die in-
dividualistisch-spontane Lebensform überschreitet diese Grenzsetzungen und passt sich
stärker der beständigen Beschleunigung und dem Wechsel von Nervenreizen an. Sie ist
dadurch dem gesellschaftlichen Geschehen und seiner Dynamik stärker ausgeliefert als
die symmetrisch-rhythmische Reaktion.
In letzter Konsequenz führt geldwirtschaftlicher Verkehr in modernen Gesellschaf-
ten auch zu einer Steigerung des Tempos des Lebens. Diese Temposteigerung dringt in
alle Poren des Vergesellschaftungsprozesses ein. Die Steigerung des Tempos des Lebens
ist auf die „beschleunigenden Wirkungen der Geldvermehrung auf den Ablauf der öko-
nomisch-psychischen Prozesse“ zurückzuführen (1992 [1900]: 698). Damit wird eine
88 Matthias Junge

Trias der unmittelbaren Bestimmungen des Lebensstils durch geldwirtschaftlichen Ver-


kehr, nämlich Distanzwirkung des Geldes, Veränderung des Rhythmus‘ des Lebens und
schließlich Veränderung im Tempo der Lebensführung, beschrieben.
Simmel hat mit diesem letzten Teilkapitel seine Studie zur Kultur von Mittel und
Zweck in modernen Gesellschaften abgeschlossen (vgl. Lichtblau 1997). Zugleich hat er
im Durchgang durch den analytischen und synthetischen Teil der Philosophie des Gel-
des die Bewegung der Wechselwirkung, wie sie aufsteigt vom subjektiven Begehren, sich
in gesellschaftlichen Formen des Tausches realisiert und von dort aus auf das subjek-
tive Begehren zurückwirkt, ausgearbeitet und eine philosophisch inspirierte, bis heute
imponierende Zeitdiagnose gegeben. Die Auseinandersetzung mit dieser Diagnose und
ihren Voraussetzungen ist bis heute nicht veraltert, wenngleich Simmels Ansatz zu einer
Soziologie des Geldes nur selten aufgegriffen wird. Beispiele jedoch für solche produk-
tiven Anknüpfungen finden sich im Sammelband von Jeff Kintzelé und Peter Schneider
(Hrsg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes (1993).

3 „Die Großstädte und das Geistesleben“

Die Großstadt Berlin war um die Jahrhundertwende eine der am stärksten expandieren-
den Städte. Man kann deren Wachstumsprozess in Preußen und Deutschland zwischen
1816 und 1910 sehr genau studieren. Lebten im Deutschen Reich 1871 4,8 % der Menschen
in Städten mit über 100 000 Einwohner, so waren es 1910 bereits 21,3 %. Demgegenüber
ging der Anteil der Personen, die in Städten oder Gemeinden unter 2 000 Einwohner
lebten, von 1871 bei 63,9 % bis auf 40 % 1910 zurück (vgl. Reulecke 1985: 202). Das Phäno-
men der Verstädterung war einem aufmerksamen Beobachter unübersehbar. Ebenso die
dadurch verursachten Probleme der Lebensführung.
In dem berühmten und später für die sich entwickelnde Stadtsoziologie bahnbre-
chenden Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ von 1903 nimmt Simmel eine
solche Analyse vor und macht sie zum Angelpunkt einer Phänomenologie der moder-
nen Großstadt (Lindner 2004). Zentral ist dabei die These: Der „Widerstand des Sub-
jekts, in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu
werden“ (1995a [1903]: 116) wird durch die Großstadt herausgefordert. Die darin ausge-
sprochene Erfahrung ist die Kernproblematik des modernen Lebens, denn die Groß-
städte sind durch eine „Steigerung des Nervenlebens“ (1995a [1903]: 116) gekennzeichnet.
Diese Steigerung der Nervenreize und die Ausprägung der „Verstandesherrschaft“ (1995a
[1903]: 118) im städtischen Leben kontrastiert vor allem mit den eher gefühlsmäßigen
und stetig dahingleitenden Formen des dörflichen Lebens. Dieser Reizzunahme kann
man sich in der Wahl des individuellen Lebensstils nur dann gewachsen zeigen, wenn
man sich zum Typus des Großstädters formt. Dieser wappnet sich mit einem „Schutz-
organ gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äuße-
ren Milieus ihn bedrohen“ (1995a [1903]:117).
Georg Simmel 89

Dieses grundlegende Merkmal im Leben von Großstädtern ist 1930 von Kurt Tuchols-
ky in „Augen in der Großstadt“ in seiner typischen Form der Flüchtigkeit sozialer Inter-
aktionsbeziehungen in modernen Großstädten beschrieben worden:

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,


die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das ? Kein Mensch dreht die Zeit zurück …
Vorbei, verweht, nie wieder.

Diese Flüchtigkeit sozialer Beziehungen kennzeichnet viele Begegnungen im städtischen


Leben. Sie gehen nicht über eine oberflächliche Wahrnehmung hinaus. Der andere bleibt
in solchen Begegnungen fremd und unbekannt und durchbricht gerade deshalb nicht
den Schutzmantel der Abschirmung gegenüber Reizen, weil die Schwelle zu einem inten-
siven Kontakt nicht überschritten wird.
Der Typus des Großstädters reagiert also auf die – durch die Geldwirtschaft und das
damit entstehende rechnende Wesen der Menschen, das etwa in der zunehmenden Ver-
breitung der das tagtägliche Leben berechen- und planbar machenden Taschenuhr (vgl.
1995 [1903]: 119) zum Ausdruck kommt – zunehmende Eindrucksintensität und Ein-
drucksumfänglichkeit des städtischen Lebens mit Rückzug von der Unmittelbarkeit der
Erfahrungen und wird zu einem Verstandeswesen. Der Verstand gilt Simmel als dasjeni-
ge Organ, das am weitesten vom Gemüt, von der Herzensregung, von den körperlichen
Affekten entfernt ist. Diese Eigenschaft macht den Verstand zu dem Organ, mit dem sich
der Städter gegen die Steigerung des Nervenlebens schützen kann, weil der Geist oder
der Verstand als kontrollierendes distanzierendes Organ gegenüber den Steigerungen
des Nervenlebens fungieren kann. Der typische Städter wird von Simmel von Anfang an
als eine Form der Bewältigung von Urbanisierungsprozessen verstanden.
Als besonders geeignet im Umgang mit der durch Geldwirtschaft und Arbeitsteilung
bedingten Zunahme von Reizen und des rechnenden Charakters, die wieder direkt auf
die Verstandestätigkeiten des Individuums reagiert, erweist sich der Lebensstil der Bla-
siertheit und die Haltung der Reserviertheit. Der Blasierte ist „die Abstumpfung gegen
die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden,
wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Un-
terschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.“ (1995a
[1903]: 121) Blasiertheit schützt vor der Überreizung des Nervenlebens durch die Entwer-
tung der jeweiligen besonderen Wertigkeit von Eindrücken, Erfahrungen und Sinnes-
erlebnissen. Von daher ist der Blasierte der typische Großstädter wie man ihn u. a. daran
erkennen kann, dass kein direkter Blickkontakt mehr gesucht wird. Das ist eine Form
der Vermeidung von Kontakt, weil dieser mit erhöhter Intensität von Nervenreizen und
Sinneseindrücken verbunden ist. Blasiertheit als Lebensstil bewältigt so die zunehmende
Spannung zwischen Reizzunahme und dem Versuch des Individuums in dieser Vielzahl
90 Matthias Junge

von Reizen als Persönlichkeit nicht unterzugehen, nicht mehr als besonderes Individuum
erkennbar zu sein.
Auf die Reizzunahme kann aber nicht allein mit Blasiertheit, der Entwertung von Rei-
zen, geantwortet werden. Der Schutz des städtischen Individuums angesichts vielfältiger
Reize und persönlicher Kontakte, Begegnungen und Berührungen verlangt zudem eine
neuartige Haltung in der sozialen Interaktion. „Die geistige Haltung der Großstädter zu
einander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen.“ (1995a
[1903]: 122) Weil der Städter nicht jede Begegnung mit anderen so persönlich wie in klei-
neren räumlichen Zusammenhängen gestalten kann, weil er sonst „innerlich völlig ato-
misieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten“ würde (1995a
[1903]: 122 – 123), ist er zu Zurückhaltung gezwungen, „zu jener Reserve, infolge deren wir
jahrelange Hausnachbarn oft nicht einmal vom Ansehen kennen und die uns dem Klein-
städter so oft als kalt und gemütlos erscheinen läßt.“ (1995a [1903]: 123)
Aber die eher problematische, gelegentlich auch negative soziale Folge der Reser-
viertheit stehen neben einer positiven Folge: sie vergrößert die persönliche Freiheit, sie
individualisiert die Persönlichkeit. Das Individuum gewinnt „Bewegungsfreiheit, weit
über die erste, eifersüchtige Eingrenzung hinaus, und eine Eigenart und Besonderheit,
zu der die Arbeitsteilung in der größer gewordenen Gruppe Gelegenheit und Nötigung
giebt.“ (1995a [1903]: 124) Weil sich in der Stadt der soziale Kreis vergrößert, deshalb
nimmt einerseits die Ähnlichkeit der Städter untereinander ab, dadurch wird anderer-
seits die Möglichkeit eröffnet, sich als je besonderes Individuum darzustellen, was wie-
derum seine Erkennbarkeit in der Vielzahl der auf das Individuum einströmenden Reize
verbessert.
Daraus ergibt sich auch eine Veränderung im Verständnis des Individualismus. Zielte
im 18. Jahrhundert, verbunden mit den im Liberalismus verkörperten Ideen von Freiheit
und Gleichheit, der Individualismus auf die allgemeine Gleichheit der Menschen, der
„allgemeine Mensch“ (1903: 131), so setzt der Individualismus des 19. Jahrhunderts im Ge-
folge der Emanzipation des Individuums von den engen sozialen Kreisen sowie der sich
vertiefenden Arbeitsteilung die „qualitative Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit“
(1903: 131) der Individuen auf seine Fahne. Es findet ein Übergang vom Ideal des quanti-
tativen zum qualitativen Individualismus statt. Nicht mehr die Gleichheit aller Menschen
sondern die Einzigartigkeit jedes Menschen wird sozial bedeutsam (vgl. Junge 1997).
Die Vergrößerung der sozialen Kreise führt nicht nur zur Individualisierung und
einer Veränderung in der Auffassung vom Individualismus, sie geht mit einer weiteren
Veränderung in der Kultur einher, die Individualisierung zwar weiter vorantreibt, aber
das Individuum zugleich mit einer kulturellen Entwicklung konfrontiert, der es zuletzt
nicht gewachsen ist. „Die Entwicklung der modernen Kultur charakterisiert sich durch
das Übergewicht dessen, was man den objektiven Geist nennen kann, über den subjek-
tiven, d. h., in der Sprache wie im Recht, in der Produktionstechnik wie in der Kunst, in
der Wissenschaft wie in den Gegenständen der häuslichen Umgebung ist eine Summe
von Geist verkörpert, deren täglichem Wachstum die geistige Entwicklung der Subjekte
Georg Simmel 91

nur sehr unvollständig und in immer weiterem Abstand folgt.“ (1995a [1903]: 129) Das
Übergewicht des objektiven über den subjektiven Geist führt zuletzt dazu, dass, verur-
sacht durch kulturelle und soziale Arbeitsteilung, eine „Atrophie der individuellen“ und
eine „Hypertrophie der objektiven Kultur“ (1903: 130) eintritt, in der die einzelne Persön-
lichkeit unterzugehen droht.
Durch diese beiden Entwicklungen – die zunehmende Individualisierung und das
Anwachsen der objektiven Kultur – wird jedoch die Vielzahl erfahrbarer Unterschiede
im städtischen Leben weiter vergrößert. Das Unterschiedswesen Mensch erfährt den Un-
terschied als eine beständige Alltagserfahrung, als eine Notwendigkeit des städtischen
Zusammenlebens. Dadurch weitet sich jedoch der individuelle Horizont, denn dauerhaft
ist etwas Neues, Andersartiges gegeben Das ist ein fruchtbarer Boden dafür, dass „die
Großstädte auch die Sitze des Kosmopolitismus gewesen“ (1903: 126) sind. Er konnte nur
in Großstädten entstehen, weil nur dort die Erweiterung der sozialen Kreise zugleich den
Blick über diese hinaus gestattete.
Mit dieser Phänomenologie der Großstadt legt Simmel zugleich das Entscheidende
des modernen Lebens offen. „Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus
dem Anspruch des Individuums, die Selbstständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen
die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und
Technik des Lebens zu bewahren“ (1995a [1903]: 116). In diesen Sätzen ist das durchge-
haltene Grundproblem der Spannung von Individuum und Gesellschaft festgehalten.
Simmels Arbeiten kreisen beständig um dieses Problem: Wie kann das Individuum in
der Gesellschaft leben, die es einerseits geschaffen hat und der es andererseits unterwor-
fen ist und deren Wirkmächtigkeit es sich nicht mehr entziehen kann ? „Die Großstädte
und das Geistesleben“ skizzieren diese Spannung von Individuum und Gesellschaft am
Beispiel der Phänomenologie der Großstadt und offenbaren, dass das moderne Leben
mit zunehmender Geldwirtschaft, Arbeitsteilung und Differenzierung das Individuum in
das Räderwerk der Gesellschaft hineinstellt, ohne ihm zugleich eine Lösung anzubieten,
wie es mit diesem Räderwerk umgehen kann. Deshalb entstehen Stile des Lebens, wie
Blasiertheit, und Haltungen wie Reserviertheit, als Formen der Bewältigung moderner
und städtischer gesellschaftlicher Verhältnisse.
Simmel hat, blickt man auf seine stadt- und raumsoziologischen Überlegungen zu-
rück, ohne Zweifel Wege für die Stadt- und Raumsoziologie geebnet. Aber Simmel ist,
wie er es erahnte, als ungenannte Quelle und Anregung in die weitere wissenschaftliche
Auseinandersetzung eingegangen. So gut wie nie jedoch finden sich explizite Bezüge auf
sein Werk, weder in der gegenwärtigen stadt- oder raumsoziologischen Diskussion (eine
Ausnahme ist etwa Lindner 1990, 1994), noch im Hinblick auf seine wichtigen Beiträ-
ge zur allgemeinen Soziologie und soziologischen Theorie (Ausnahmen sind zum Bei-
spiel Frisby 1992, Nedelmann 1992, Junge 2000; Ziemann 2000). Simmel, und implizit
auch seine Stadtsoziologie, ist Opfer einer langen Hegemonie der Kanonisierung der
Klassiker (die Simmel überging) durch Parsons in „The Structure of Social Action“ von
1937 geworden – ein Außenseiter jenseits des Mainstreams, systematisch nur schwer ge-
92 Matthias Junge

winnbringend einzusetzen, und in der Stadtsoziologie schnell durch die leichter ope-
rationalisierbaren Konzepte der Stadtsoziologie Chicagoer Prägung an den Rand der
Stadtsoziologie und Soziologie gedrängt, wo zumeist und falsch gekennzeichnet die so
genannte phänomenologische Soziologie Simmels eingeordnet wird. Gleichwohl gibt es,
etwa in den Arbeiten von Lindner (1990; 1994) oder von Helmuth Berking und Sighard
Neckel (1990), einige Studien, die fruchtbar an Simmel anknüpfen und einen „anderen“
denn konventionellen Blick auf die Stadt und die mit ihr gegebenen Lebensstile werfen.
Zum Forschungsprogramm haben sich jedoch diese Überlegungen nicht verdichtet.
So bleibt am Ende, und dies ist gar nicht resignativ zu verstehen, als Fazit nur, was
Simmel mit der Vorahnung der Rezeption seines Werkes als eines Steinbruchs, dem jeder
nach eigenem Gutdünken Steine für beliebige Zwecke entnehmen werde, ahnte – aber
ins positive gewendet und auf seine Arbeiten zum Städtischen bezogen: sie bleiben eine
Quelle der Inspiration stadtsoziologischer Forschung.

Literatur

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Ziemann, Andreas (2000): Die Brücke zur Gesellschaft. Erkenntniskritische und topographische
Implikationen der Soziologie Georg Simmels. Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz
Chicago School1
Eike Hennig

„Soziale Beziehungen sind häufig mit räumlichen Beziehungen verbunden, des-


halb sind sie bis zu einem gewissen Grad messbar.“
(Robert E. Park – Präsidentschaftsadresse zur Tagung der Amerikanischen So-
ziologischen Vereinigung, 1926)

Gute Soziologie lebt vom Zusammentreffen eines dringlichen Themas und streitbarer
Forscher an einem Ort. Dies kennzeichnet, an der Wende zum 20. Jahrhundert, die Ent-
stehung der 1890 mit Mitteln der Rockefeller Stiftung gegründeten Forschungsuniversität
mit einer Soziologengruppe in Chicago (Sinkevitch 1993). In dieser Verwirbelung ent-
steht die Chicagoer Stadtsoziologie. Als sub-kultureller Ort, als Markt- und Herrschafts-
typ ist die Stadt schon bekannt, jetzt, in Chicago, beginnt ihre empirische Erforschung.
Befruchtend wirkt der Zusammenstoß von Pragmatismus, Reformismus und rapider
Stadtentwicklung, ein nordamerikanisches Syndrom. Die Schattenseiten und Probleme,
Fragen zu Integration, Organisation und Desorganisation in der Stadt fordern eine er-
gebnisoffen-beobachtende soziologische Forschung heraus. Diese Stadtsoziologie liefert
moderne Analysen (blendet rassistisch bestimmte Minderheiten aber auch aus). Chi-
cagos Soziologie erkundet die Stadt, überwindet die am Schreibtisch ersonnenen Zu-
sammenhänge, ihr Blick geht weiter über Bibliothek und Diskussion hinaus. Anders als
zeitgleich die „Kulturkrise“ der thematisch verwandten deutschen Soziologie (Lichtblau
1996: 494 f.).
Diese Darstellung der Chicago School der Stadtsoziologie beginnt (1.) mit einem
Blick auf die Stadt. Die Stadt ist der Stimulus, wenngleich (2.) der an die Universität an-
grenzende „Black Belt“, das afroamerikanische Getto Chicagos, weniger wahrgenom-
men wird. Chicagos Soziologie ist weiß und männlich mit Vorliebe für einen harten Ton,
der als der dem modernen Fortschritt angemessene Realismus ohne Moral vorgetragen
wird. (3.) Protagonisten der Chicagoer Stadtsoziologie sind Park, Thomas und Burgess,
die 50 empirische Dissertationen zu städtischen Themen anregen. Zwei Akzente werden
besonders betont: (4.) Die Stadt als pars pro toto und (5.) Burgess’ Stadtmodell. (6.) Eine
Zusammenfassung unterstreicht den Beginn der empirischen Stadtforschung, Chicago
ist eine wichtige Gründerschule der Soziologie.
Chicago ist eine Stadt, die ab 1870 in 30 Jahren vom Präriedorf zur Metropole voran-
stürmt, eine Stadt der Migrationsströme und Industrialisierung, ein Schmelztiegel, der

1 Petra Lueken danke ich für ihre ausführliche und engagierte Kritik.

F. Eckardt (Hrsg.), Handbuch Stadtsoziologie,


DOI 10.1007/978-3-531-94112-7_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
96 Eike Hennig

vieles zusammenfügt, der aber gegenüber der Binnenzuwanderung von Afroamerikaner


aus der Armut des ländlichen Südens seine Grenzen findet. Chicago wird zum Sym-
bol für Brutalität und zur Weißen Stadt der Weltausstellung, zur Stadt unmenschlicher
Wohn- und Arbeitsbedingungen um den Schlachthof (Sinclair 1906), zur Mörder-Stadt
mit den drei Händen des Todes an der Schnapsflasche, am Revolver und am Lenkrad,
Mord und Totschlag in Chicago übersteigen den nationalen Schnitt um ein Viertel (Lesy
2008, Salerno 2006: 43 ff.). Chicago ist eine höchst widersprüchliche Stadt. Nie aber gilt
die Stadt als sterbend oder verbraucht, sie wird nicht im Untergang gesehen.
Am südlichen Rand dieser Stadt, in einem Parkviertel, nimmt die Soziologie 1892 ihre
Arbeit auf. Zu ihr gehört das erste soziologische Department, dort bildet sich in der zwei-
ten Generation die Chicago School der Soziologie. Ohne geschlossenen Theorierahmen
(Wirth 1938: 8) wird ab 1915 die kultursoziologische Untersuchung des menschlichen
Verhaltens in der Stadt das Thema dieser Forschergruppe. Die Stadt wird mikroskopiert
(Burgess in Park/Burgess 1984: 62), sie gilt im Guten wie im Schlechten als Labor und
Klinik (Park in Park/Burgess 1984: 46). Es entstehen anschauungsgesättigte Studien und
Expertisen, die die Stadt aus Sicht ihrer Übergänge, Desorganisation und Schattensei-
ten beleuchten. Eine Darstellung städtischer Lebenswelten als industriell-urbaner Ideal-
typ (im Gegensatz zum „Landvolk“, zur „rural-folk society“) schließt diese Arbeiten ab
(Wirth 1938). Bis in die 1930er Jahre dominiert Chicagos Soziologie die neue Disziplin.2
Forschungen und Deutungen kreisen um das labile Gleichgewicht und den prekä-
ren Zusammenhang der von sozialer Distanz geprägten Stadt mit ihren vielen, verschie-
denen Zuwanderern. Der Realismus des Poeten Carl Sandburg grenzt die Stadt ab von
„weichen“ Kleinstädten („against little soft cities“), bewundert den Schlachthof, die Bahn-
höfe und Umschlagplätze, das kraftstrotzende Gebaren und den Rhythmus von Abbruch
und Neubau („wrecking, planning, building, breaking, rebuilding“). Die Forschung fragt
nach Desorganisation und Reorganisation, Individualisierung und Gemeinschaft. Thema
ist das Fortwirken alter und die Entstehung neuer Kulturbezüge. Park bezeichnet die
Stadt als Geisteszustand und Lebensform („state of mind“); analytisch betrachtet man
die Stadt als Mosaik kleiner, benachbarter, jedoch getrennter Welten, normativ erscheint
sie als gegebene wie anzustrebende Umwelt zivilisierter Personen („the natural habitat of
civilized man“).
Die Wissenschaft der Gesellschaft, die Soziologie, entsteht an diesem Ort als „Er-
fahrungswissenschaft der sinnstrukturierten Welt“ (Oevermann). Es ist keine alteuro-
päische, dekadente Anti-Soziologie, die über das „niedergehende Leben“ (Nietzsche)
hinwegblickt. Es ist kein Lob auf „deutende Philosophie“ (Adorno). Das „Dickicht der
Städte“ (Brecht) mit allen Themen der komplexen Stadt (Eckardt 2009) liegt vor der Tür
des soziologischen Instituts. Maßgeblich ist die aufregende Nähe von Ereignissen, die Be-

2 Alle Protagonisten der Chicago School, Park (1925), Thomas (1927), Burgess (1934), Wirth (1947), am-
tieren – ebenso wie Albion Small (1912/13), der erste Chicagoer Soziologe (1892) und Dekan des Depart-
ments (bis 1925) – als Präsidenten der 1905 gegründeten Amerikanischen Soziologischen Vereinigung.
Chicago School 97

obachtung von sozialen Prozessen, die Interaktion von Forschern und Akteuren. Sozio-
logie als entstehende Erfahrungswissenschaft braucht und verwendet die Stadt einerseits
für ihre Forschung, andererseits findet die Stadt über diese Soziologie ihre Darstellung.
Neugierig stellt sich die Chicago School der Soziologie diesen Herausforderungen und
steht am Anfang der empirischen Stadtforschung.

1 Chicago: Der Ausgangsort und das Forschungsziel

Chicago
Hog Butcher for the World
Tool Maker, Stacker of Wheat,
Player with Railroads and the Nation’s Freight Handler;
Stormy, husky, brawling,
City of the Big Shoulders:“
(Carl Sandburg, Chicago, 1914)

Carl Sandburg schreibt über Chicago realistische, expressive Gedichte und Zeitungsre-
portagen beispielsweise über die „Chicago Race Riots“ (1919). Er beschreibt Wolkenkrat-
zer, Hinterhöfe, Straßen und Passanten. Dieselben Themen, derselbe Blick tauchen in der
Stadtsoziologie der Chicago School auf, hier verbindet sich Verstehen und Analysieren
mit Zeigen und Beschreiben. Im Einzelfall enden die Studien beim Hinweis auf Refor-
men, auf Handlungen gegenüber städtischen Missständen („urban abuses“). Übergänge
mit dem Verlust alter Gewissheiten und der Suche neuer Bindekräfte bestimmen die Bil-
der der Stadt und die Möglichkeiten der Einwohner und Zuwanderer. Die Stadt ist der
Rahmen, der auf soziale Prozesse, Werte, Normen und Verhaltensweisen einwirkt. Die
Chicago School betont nicht die bewegte Oberfläche des rapiden Wandels und Wachs-
tums. Maßgeblich sind die im Wandel von ländlicher Tradition zur modernen Stadt be-
griffenen kulturellen Einstellungen und Gefühle.
Das Ende des 20. Jahrhunderts ist die Zeit der sich herausbildenden Metropolen
(Zimmermann 1996), der zunehmenden Verstädterung, die die Welt verändern wird
(Wirth 1938: 24). Gibt es um 1800 in Europa 21 Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern,
so sind es 1900 schon 147. Die Stadt wird – Literatur, Film, Malerei spiegeln dies wider –
der konfliktreiche, moderne Lebensraum. Noch ist dieser Raum gegliedert, präsentiert
nach Funktion und Dichte als vom Stadtkern her unterscheidbare Zonen. Vor- und Gar-
tenstädte markieren den Rand, die ausufernd konturlose Stadtlandschaft (Los Angeles’
„urban sprawl“) ist dem mittleren Westen und Osten der Vereinigten Staaten noch fremd.
Gleichwohl sieht die Chicago School erste Satelliten, spricht von der Ausdehnung lokaler
Gemeinschaften zu einer ökonomischen Einheit als einem zentralisiert-dezentralisierten
System (Burgess in Park/Burgess 1984: 52). Die wahrgenommene Dynamik wird vorsich-
tig in die Zukunft verlängert.
98 Eike Hennig

Chicago wird nach dem vernichtenden Brand (18713) entlang großer Pläne (Burn-
ham 1909) und pompöser, virtueller Manifestationen wie der Weltausstellung (1893) zur
neuen Stadt. Schroff sind die Gegensätze von „Gold Coast“ im Norden bis „Back of the
Yards“ mit dem berüchtigten „Bubbly Creek“ (Sinclair 1985: 131/132), der ab 1865 auf-
gebauten „Schlachtmaschine“, Betriebsstätte für 30 Tausend Arbeiter. Hier ist Chicago
Porkopolis, laut, stinkend, mit Arbeit und Brot für insgesamt eine halbe Million Men-
schen (Sinclair 1985: 59). Uptain Sinclair (1906) berichtet hierüber politisch kritisch, was
die Chicago School nicht aufgreift. Chicago wird zur Industrie- und Arbeiterstadt, seine
Bahnhöfe zum Drehkreuz. Im Süden der Stadt gibt es Wagonbau und Schwerindustrie,
westlich der „Union Stockyards“ entsteht 1905 der erste Industriepark. Im Zentrum kon-
zentrieren sich andere Großbauten. Nach Erfindung von Fahrstuhl (1857), Klimaanla-
ge (1889) und Stahlskelettbau (1885) wird Chicagos Kern zur Stadt der Hochhäuser (vor
New York). Hierher bringt 1920 die Hochbahn täglich mehr als 500 000 Personen zu Ar-
beit, Konsum, Freizeit Zentrum. Die Architekten und Konstrukteure dieser Wolkenkrat-
zer bilden, um Sullivan und Burnham, eine weitere Chicago School, die der Architektur.
Mit seiner von 1870 bis 1920 neunfach wachsenden Bevölkerung (Philpott 1991: 117) und
dem fünffach vergrößerten Stadtgebiet übt Chicago eine Faszi