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Ruth Gutermann

„Sexualität“ und „Geschlecht“ in anarchistischen


Zeitschriften Spaniens der zwanziger und dreißiger
Jahre des 20. Jahrhunderts

Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der


Philosophie aus der Studienrichtung Geschichte eingereicht an
der Universität Wien

Wien, Jänner 2006


2

Inhaltsverzeichnis

Danksagung .........................................................................................................4
1 Einleitung ........................................................................................................6
2 Probleme mit dem Sex: Geschichtswissenschaft und Sexualität .....................11
2.1 Geographen, Geologen, Ge-Schichten .................................................................... 11
2.2 Repressionshypothese: Unterdrückung und Befreiung ....................................... 14
2.3 Sexualisierungsthese: Mächtige Diskurse .............................................................. 15
2.4 Se x/Gen de r: Paradoxe Differenzen......................................................................... 18
3 Sexualität und Diskurs: Definitionsversuche ................................................24
3.1 Das Wort, der Begriff und der Diskurs.................................................................... 24
3.2 Kunststoff?................................................................................................................... 26
3.3 Blumige Ehebetten: Carl Linnés Sy ste ma nat urae ................................................ 27
4 Schnittstellen der Sexualität: Plurale Körper in Wissenschaft und Politik ...30
4.1 Anthropologie und Lebenswissenschaften: Geschlechtskörper –
Körpergeschlechter .......................................................................................................... 30
4.2 Biomacht und Biopolitik: Verwaltete Körper......................................................... 33
4.3 Degeneration: Der kranke Bevölkerungskörper.................................................... 35
5 Anarchismus, Sexualität und Geschlechterdebatte .........................................38
5.1 Vom anarchistischen Leben: Befreiende Wissenschaft und befreite Sexualität38
5.1.1 Staatliche Unterdrückung und individuelle Befreiung .........................................................38
5.1.2 Wissenschaft und Lebensorganisation.................................................................................40
5.1.3 Sexualität und die gesprochene Wahrheit............................................................................42
5.2 „Geschlechterproblem“ und „die Unterdrückung der Frau“ in Spanien .......... 44
5.2.1 Die juridische „Frau“: Gesetzliche Kategorisierung............................................................45
5.2.2 Die wesentliche „Frau“: Der weibliche Geschlechtscharakter............................................46
5.2.3 Die politische „Frau“: Die Wahlrechtsdiskussion ...............................................................50
5.2.4 Die arbeitende „Frau“: Erwerbstätigkeit versus Reproduktion...........................................51
5.3 Anarchismus und Neomalthusianismus: Die Anfänge ........................................ 55
5.3.1 Malthusianismus...................................................................................................................56
5.3.2 Neomalthusianismus............................................................................................................58

6 Anarchistische Medien: Zirkulation des Wissens ..........................................66


6.1 Generación Consciente/Estudios............................................................................ 68
6.1.1 Generación Consciente........................................................................................................68
6.1.2 Estudios ...............................................................................................................................71
6.1.3 Consultorio und Biblioteca ..................................................................................................73
6.1.4 Neomalthusianismus in Generación Consciente/Estudios.................................................76
6.2 La Revista Blanca....................................................................................................... 78
6.2.1 Primera Epoca .....................................................................................................................78
3

6.2.2 Segunda Epoca.....................................................................................................................81


6.2.3 La Revista Blanca und die Zensur .......................................................................................82
7 Geschlecht und Sexualität in Estudios und La Revista Blanca....................85
7.1 „Frausein“ und Bewusstsein: „¿Feminismo? ¡Jamás! ¡Humanismo siempre!“
............................................................................................................................................ 85
7.1.1 Das „faschistische“ „dritte Geschlecht“ ...........................................................................85
7.1.2 Wahlrecht, Recht auf Arbeit und die gefährdete Mutter .................................................89
7.1.3 „Die neue Frau“..................................................................................................................91
7.2 Sexuelle Beziehungen ................................................................................................ 95
7.2.1 „Amor libre“: das heterosexuelle Ideal.............................................................................95
7.2.2 Homosexualität: „angeborene“ oder „erworbene Abweichung“?.................................104
7.3 Neomalthusianismus und Eugenik: Revolution durch die Gebärmutter.......112
7.3.1 „Bewusste Mutterschaft“ und Neomalthusianismus......................................................112
7.3.2 Pro und Contra Reproduktionstechnologien: Federico Urales und der
Neomalthusianismus .................................................................................................................116
7.3.3 Transformationen der Biopolitik: Vom Neomalthusianismus zur Eugenik .................119
7.3.4 Von der Klasse zur Rasse ................................................................................................122
7.3.5 Moral und Sexualität: Die Sorge um Sich ......................................................................123
9 Quellen- und Literaturverzeichnis................................................................129
4

Danksagung

Durch die lange Zeit, die zwischen Beginn und Abschluss dieser Arbeit liegt,
haben mich viele Personen begeleitet und mich dabei unterstützt, weiterhin an mich
und die Fertigstellung dieser Arbeit zu glauben. Ihnen sei hiermit allen zutiefst
gedankt – ohne sie wäre es für mich nicht möglich gewesen, diesen Text zu
produzieren. Im Besonderen gilt mein Dank lela, die mir während all der Jahre nicht
nur eine Wohnungskollegin und ganz besondere Freundin war, sondern mit mir auch
alle emotionalen Euphorien und Depressionen durchgemacht hat, die mit dem
Schreiben einer Diplomarbeit verbunden sind, und mir durch ihre Einwürfe, durch
ihre Kritik und ihre Aufmunterungen durch viele intellektuelle und kreative
Durststrecken geholfen hat. Meinen Eltern, Heide und Walter Gutermann, danke ich
dafür, dass sie trotz all meiner und ihrer Zweifel, schlussendlich immer an mich
geglaubt haben, und die Geduld hatten, mich jahrelang finanziell und emotional
durch mein Studium und Leben zu begleiten, und sich immer dafür interessieren wer
ich bin, was ich denke, woran ich arbeite und wie ich fühle. Das gleiche gilt auch für
meine Schwester Stephanie, die mir mit ihren offenen Ohren und vielen
aufmunternden Worten schon durch viele schwere Zeiten geholfen hat und immer
für mich da war. Gregor Maderbacher hat es mir durch seine Liebe, seinen Humor
und sein Interesse an mir und meiner Arbeit möglich gemacht, endlich mein Studium
abzuschließen und mir damit neue Perspektiven zu öffnen. Ich danke ihm besonders
für das „Ausharren“ und die Geduld. Ihn kennengelernt zu haben, ist wohl das
Beste, das mir in meinem Leben passiert ist. Dem „werten kreisl“, bestehend aus Lilli
Frysak, li Gerhalter, Michaela Hafner, Sonja Niederacher, Maria Rothböck und Ulli
Seiss, danke ich für die besonders intensive Beschäftigung mit meinen Texten, die
nach Beistrich und Forschungsfaden auf den Kopf gestellt wurden, und durch die
fachliche Kompetenz dieser tollen Frauen sehr an Qualität gewonnen haben. Juan
Carlos Muñoz Bernal danke ich für die Zeit mit ihm und im Besonderen für die
damit verbundene Verbesserung meiner Spanischkenntnisse, ohne die diese Arbeit
gar nicht möglich gewesen wäre. Auch seine manchmal sehr aufreibenden, „nicht-
europäischen Gegen-Positionen“ rund um „Sexualität“ und „Geschlechter-
beziehungen“ waren letztendlich für meine Gedankengänge sehr wichtig. Bei Sandro
Barberi bedanke ich mich für die sehr intensiven Gespräche über meine und seine
5

Arbeit – ohne ihn gäbe es den ersten Teil dieser Arbeit in seiner jetzigen Form nicht.
Meinem wissenschaftlichen Betreuer Prof. Friedrich Edelmayer danke ich für die
langjährige Betreuung und das Ebnen der zahlreichen bürokratischen Hürden, die in
Spaniens Bibliotheken und Archiven lauern sowie für die Vermittlung der Kontakte
zu seinen Kollegen in Madrid, die mir sehr weitergeholfen haben. Dem Büro für
Internationale Beziehungen danke ich für die Zuerkennung eines Stipendiums für
kurzfristige wissenschaftliche Arbeiten im Ausland. Dank gilt auch den netten
Menschen mit den vielen Decknamen von der CNT Madrid, die mir bei der
Literatursuche weiter geholfen haben und auch lustige Feste feiern können. Iñigo
Agirre danke ich ganz herzlich für das besonders gute Zusammenleben während
meines Forschungsaufenthaltes in Madrid und seine fremdenführerischen Qualitäten,
für seinen speziellen Blick auf die spanische Politik und für den langjährigen
spannenden Briefwechsel. Viel Dank gilt auch Phillip Mettauer, der trotz tausender
Kilometer Distanz immer in meiner Nähe war, und mir mit persönlichen und
fachlichen Tipps immer zur Seite stand. Auch Brita Pohl danke ich für die lange und
wiedergewonnene Freundschaft, die immer auch mit spannenden und inspirierenden
Diskussionen verbunden war. Meinen ArbeitskollegInnen vom Kinderbüro der
Universität Wien danke ich, dass sie immer Rücksicht darauf genommen haben, dass
ich neben meiner beruflichen Tätigkeit meine Diplomarbeit fertig stellen musste.
Ohne dieses Zuvorkommen, hätte ich es nicht geschafft, die Arbeit zu beenden.
Zuletzt möchte ich mich herzlich bei meinen Capoeira-Trainern Mula, Regis und
Carlinhos dafür bedanken, dass sie mich durch ihre Kunst für die intensive
körperliche Betätigung begeistern konnten, und so während meiner
Diplomarbeitszeit für fröhliche, sportliche, andrenalingetränkte und verschwitzte
Stunden gesorgt haben. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzten und deshalb sage
ich jetzt einfach allen meiner Freunden und Freundinnen, die in dieser Auflistung aus
Platzgründen nicht vorkommen:
Danke!
6

1 Einleitung
„Ich weiß nicht, wie die Frage lautet, aber die
Antwort heißt mit Sicherheit: Sex.“
Woody Allen

1.1 Zugänge und Umgänge

Als am 31. März 1939 der Spanische Bürgerkrieg endete, ging ein Zeitraum
zu Ende, der von heftigen politischen Auseinandersetzungen, aber vor allem von
einer in Europa einzigartig starken anarchistischen Bewegung geprägt worden war.
Die spanischen AnarchistInnen, die bis dahin die größte ArbeiterInnen-Vereinigung
in Spanien gestellt hatten, wurden verfolgt, umgebracht, verhaftet, oder konnten sich
über die Pyrenäen nach Frankreich flüchten, wo sie in Konzentrationslagern
„angehalten“ wurden. Die spanischen Buchhandlungen quellen fast vor Literatur
über den Spanischen Bürgerkrieg und die Rolle der verschiedenen Kriegsparteien
darin über, in der – je nach politischer Ausrichtung des/der AutorIn – die eine oder
andere Seite der Schuld an diesem Krieg bezichtigt wird.
Während meines Studienaufenthaltes in Salamanca/Spanien habe ich
begonnen, mich mit der politischen und kulturellen Geschichte des Anarchismus
auseinanderzusetzen. Sowohl in der eher spärlichen österreichischen Bearbeitung des
Themas als auch in der sehr viel umfangreicheren spanischen Forschung liegt der
Schwerpunkt des Interesses auf der Rolle der anarchistischen Bewegung im
Spanischen Bürgerkrieg. In der fast unüberschaubaren Menge an Publikationen
werden vor allem die politischen, organisatorischen und institutionellen Aspekte
beleuchtet, was sich aus dem Forschungsansatz der Geschichte der
ArbeiterInnenbewegung beziehungsweise der politischen Geschichte erklären lässt.
Vergleichsweise kaum vorhanden sind bis heute Studien zu den
Ausgangspunkten und den weiteren Entwicklungen der Bewegung sowie dem
anarchistischen Diskurs, seinen Anknüpfungspunkten, den enthaltenen
Wissensformationen und seinen Auswirkungen auf gesellschaftliche
Transformationen und die Wissensproduktion. Zwar beschäftigt sich die Literatur
über den Zeitraum von den Anfängen anarchistischer Bewegungen in Spanien bis hin
zur Gründung des anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbundes CNT 1910 auch
mit kulturellen und sozialen Aspekten, jedoch fehlen in der Zeit von 1910 bis zum
Bürgerkrieg umfangreichere Studien weitgehend. Diese Arbeit will einen Beitrag zur
7

Schließung dieser Lücke leisten, indem sie sich weniger mit den AkteurInnen und
den Organisationsstrukturen des spanischen Anarchismus beschäftigt, sondern sich
auf die Anordnung des anarchistischen „Denkens“ und Wissens und seine
machtpolitischen Implikationen in der Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre des 20.
Jahrhunderts konzentriert.
Diese Periode war für Konsolidierung der Bewegung und ihre Positionierung
im späteren Bürgerkrieg von großer Bedeutung. Eine herausragende Rolle dabei hatte
zweifelsohne die große Anzahl der anarchistischen Zeitschriften, die die
unterschiedlichen ideologischen Aspekte der Bewegung beleuchteten. Von der
Forschungsliteratur wurden die Zeitschriften Estudios (1923/1928-1937) und La
Revista Blanca (1923-1936) als besonders wichtig für die anarchistische Bewegung in
Spanien eingestuft, und sie stellen deshalb den Quellenbestand der vorliegenden
Arbeit. Die Inhalte dieser Medien sollten sowohl die intellektuelle Elite als auch die
meist nicht einmal selbst des Lesens mächtige ArbeiterInnenschaft ansprechen, was
sich in Inhalt und Form der Publikationen ablesen lässt. Der Glaube an eine
progressive und befreiende Wissenschaft war für die Bewegung der Dreh- und
Angelpunkt der „authentischen“ Revolution – mit ihr sollten die Irrationalitäten der
politischen und sozialen Autoritäten wie etwa Parteien, Kirche und Militär bekämpft
werden. Kultur und Erziehung hatten im anarchistischen Denken eine herausragende
emanzipatorische Stellung inne.
Dabei gab es einige Themenschwerpunkte, um die sich die Diskussionen
immer wieder drehten. Betrachtet man die Reihe an Zeitschriften, kommt hier vor
allem den Begriffen „Geschlecht“ und „Sexualität“ eine besondere Rolle zu, die in
den medizinisch-wissenschaftlichen Diskurs eingebettet waren. Dass im
machtpolitischen Diskursen der Kategorie „Geschlecht“ eine besonders bedeutsame
Rolle zukommt, bestätigen die Forschungen im Feld der Gender-Studies seit
Jahrzehnten. Gleichzeitig untersuchte Michel Foucault schon in den siebziger Jahren
des 20. Jahrhunderts in seinen Texten das „Wissensobjekt Sexualität“ eingehend, und
zeigte die Zusammenhänge zwischen dem Konstrukt „Sexualität“ und seiner
Wirkungsmacht in und durch verschiedene Diskurse auf.
Diese Bedeutsamkeit kommt bei der genaueren Beschau der Quellen klar zu
Tage: Aufgrund der Masse an Artikeln rund um die Begriffsklammer „Sexualität“, die
in den Zeitschriften zu finden sind, war es eine durchaus schwierige Aufgabe zu
8

auszuwählen, welche der Texte für eine Analyse des Sexualitäts- und
Geschlechterdiskurses in Frage kamen. „Sexualität“ durchzieht buchstäblich
hunderte von diesen Texten. Um mit dem Problem zurecht zu kommen, das
Themenfeld und Analysematerial zu begrenzen, entstand aus der Lektüre eine Art
„Raster“, bestehend aus einem Netz von Begrifflichkeiten, die im Endeffekt die
Eckpunkte der Forschungsarbeit darstellen und die Texte zuordenbar machten.
Eine weitere Schwierigkeit, die sich aber letztendlich auch als sehr produktiv
erwies, war die Fremdsprachlichkeit der Texte. Nicht nur die spanische Sprache an
sich, sondern auch ihre Ausformung in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20.
Jahrhunderts sowie der anarchistisch-pathetische Sprachstil, zwangen mich zu einer –
manchmal fast buchstäblichen – Beschäftigung mit Sätzen und Worten. Dies machte
das Unterfangen eines diskursanalytischen Zugangs einerseits zunehmend
problematisch, forderte aber andererseits eine besondere Genauigkeit bei Lektüre
und Analyse ein, die sich im Sinnes meines theoretischen Zugangs als ausgesprochen
bereichernd auswirkte. Das Nicht-Verstehen ist schließlich oft die beste
Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnisse.

1.2 Aufbau der Arbeit

Sowohl die feministische Geschichtswissenschaft als auch die Historische


Diskursanalyse (die sich an vielen Stellen überschneiden) machen das eigene
„Handwerk“, die Historiographie, zu einem wichtigen Teil der eigentlichen Analyse,
und reflektieren so über die Herstellung von Geschichte. Dies erscheint im Kontext
eines scheinbar selbstverständlichen und gleichzeitig schwer abzusteckenden Themas
wie „Sexualität“ umso wichtiger, als der eigene Zugang und die Definition des
Gegenstands der Analyse damit klarer umrissen werden können.
Im ersten Kapitel wird deshalb der Frage nachgegangen, wie das Wissen über
„Sexualität“ und „Geschlecht“ in der Historiographie angeordnet und produziert
wurde, und welche Theorien, Kategorien und Begrifflichkeiten dabei entwickelt
wurden.
Das zweite Kapitel widmet sich der genaueren Absteckung und Definition
des Forschungs-„Gegenstandes“ „Sexualität“: Anhand der theoretischen
Überlegungen der Gender-Studies, der neueren Sexualitätsgeschichte und der
9

Diskursanalyse werden die Geschichte und Entstehung der „Sexualität“ sowie die
darin implizite Kategorie „Geschlecht“ nachgezeichnet.
Die Verwissenschaftlichung der „Sexualität“ und die differenzierende
Funktion des „Geschlechts“ stehen im Zentrum des dritten Kapitels. Anhand der
Studien von Thomas Laqueur und Claudia Honegger werden ihre Transformationen
seit der Aufklärung und die damit verbundene „Geburt der Sexualität“ dargestellt.
Michel Foucaults Überlegungen zur Funktion des Sexualitätsdiskurses für Politik und
Macht stehen danach im Zentrum der Betrachtungen: Die durch die Rede über
Sexualität geschaffenen „Körper“ wurden zur Zielscheibe einer „Bio-Politik“, die
letztendlich auch im anarchistischen Diskurs der untersuchten Zeitschriften eine
entscheidende Rolle spielte.
Dieser Zusammenhang wird im Kapitel fünf dieser Arbeit auf mehreren
Ebenen nachgewiesen: Der anarchistische Befreiungsdiskurses stand ganz im
Zeichen der Repressionshypothese. Die in der Gesellschaft konstatierte
„Unterdrückung“ sollte durch eine „Befreiung“ des Individuums ersetzt werden, die
gleichzeitig eine Kampfansage an die „christliche Sexualmoral“ sein sollte.
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Begrifflichkeiten prägten diese
anarchistische Rede, und mit ihnen fanden wissenschaftliche Terminologien Eingang
in den politischen Diskurs. Das Soziale und das Politische wurden „naturalisiert“ und
mit Sinn ausgestattet; „Sexualität“ wurde zu einem Schlüsselbegriff. Das soziale
„Geschlechterproblem“ durchzog dabei die meisten anarchistischen Themen. Im
zweiten Teil des Kapitels werden deshalb der in Spanien der zwanziger und dreißiger
Jahre herrschende Geschlechterdiskurs sowie die anarchistischen Gegen-Positionen
dazu vorgestellt. Die eher im sozialen und ökonomischen Bereich gehaltenen
anarchistischen Argumentationen verschoben sich im Laufe der Zeit hin zu
biologisch und medizinisch durchsetzten Begründungen des Denkens über
„Sexualität“ und „Geschlecht“. Der dritte Teil des Kapitels befasst sich mit der
Theorie und Sexualtechnologie des Neomalthusianismus, der als möglicher
Lösungsansatz für das „Geschlechterproblem“ und als „revolutionäre Waffe“ in das
anarchistische Denken aufgenommen wurde und eine wesentlich Rolle im
untersuchten Quellenmaterial zukam.
Der Quellenbestand wird im sechsten Kapitel genauer vorgestellt. Die
Materialität der Zeitschriften, ihre personellen Zusammensetzungen, ihre Positionen
10

und Ausrichtungen stehen in engem Zusammenhang mit den beschrieben


Transformationen. Sowohl Estudios als auch La Revista Blanca waren ein besonders
wichtiger Teil der anarchistischen Medienlandschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht
hatte, eine soziale Revolution einzuleiten. Durch die Verteilung eines „neuen
Wissens“ um Sexualität und Sexualtechnologien, sollten die ArbeiterInnen jenes
„Bewusstsein“ erlangen, dass für den Ausweg aus „der Misere“, die Emanzipation
und die gesamtgesellschaftliche Revolution nötig wäre.
Kapitel sieben stellt den empirischen Hauptteil der Arbeit dar: Hier werden
die Texte der ausgewählten Zeitschriften in einem Spannungsverhältnis mit den
zuvor angestellten theoretischen Überlegungen zu „Sexualität“ und „Geschlecht“
gestellt.
Den Anfang machen dabei die Diskussionen um die „weibliche
Emanzipation“ aus den „unterdrückerischen“ Gesellschaftsverhältnissen, wobei die
Angriffe auf den „bürgerlichen Feminismus“ und der utopische Rollenentwurf der
„neuen Frau“ im Zentrum stehen. Der Weg in eine „neue, befreite Gesellschaft“
sollte im spanischen Anarchismus durch eine Durchbrechung der alten, traditionellen
Gesellschaftsstrukturen und Geschlechterbeziehungen geschaffen werden. Dabei
wurde das Modell der „freien Liebe“ als neues Ideal für das Zusammenleben der
Geschlechter herangezogen. Dass dieses Modell heftig diskutiert wurde und selbst
von den „alten“ Geschlechterzuschreibungen durchzogen war, zeigt der zweite Teil,
der ebenfalls den anarchistischen Diskurs über Homosexualität, dem Gegenstück
zum heterosexuellen Modell der „freien Liebe“ in den untersuchten Quellen
analysiert. Der dritte und letzte Teil zeigt die klarste bio-politische Ausformung im
Gesellschaftsdiskurs der untersuchten Medien auf: Die sexuelle Aufklärung der
ArbeiterInnen sollte den Weg in eine zukünftige Gesellschaft bereiten, wobei die
Theoreme des Neomalthusianismus und in weiterer Folge der Eugenik zu den
zentralen Themen mutierten. Die kontrollierte und „bewusste“ Reproduktion durch
die Anwendung der Erkenntnisse dieser „neuen Wissenschaft“ sollte sowohl zu einer
Reduktion ungewollter Geburten als auch zu einer „qualitativen Verbesserung“ der
zukünftigen Generationen führen. Die Analyse der Art und Weise wie diese
Theoreme aufgenommen und in die anarchistische Rede eingepasst wurden, und
welche Transformationen in den Texten lesbar werden, stehen am Ende dieser
Arbeit.
11

2 Probleme mit dem Sex: Geschichtswissenschaft und


Sexualität

2.1 Geographen, Geologen, Ge-Schichten

In den letzten Jahren ist in der wissenschaftlichen Landschaft ein Boom an


Studien zum Thema Sexualität zu beobachten, der sich letztendlich auch in den
Lehrangeboten der verschiedenen Studienrichtungen niederschlägt.1 Dabei ist vor
allem auffällig, dass die neuesten Versuche am Thema sich zumeist der
Geschichtsschreibung der Sexualität widmen. „Sexualität“ scheint in der Disziplin
Geschichte eine immer größere Rolle zu spielen. Als Folge davon kann auch der
damit verbundene Trend zur Interdisziplinarität gesehen werden. Denn ohne einen
wissenschaftsgeschichtlichen Blick auf andere Disziplinen, die den Gegenstand
„Sexualität“ so vehement beschrieben und hervorgebracht haben, lässt er sich
schwerlich untersuchen. Ist dieser Trend der Historisierung aber wirklich so neu?
Gibt es nicht schon seit jeher eine reziproke Beziehung zwischen „Geschichte“ und
„Sexualität“?
Der Historiker Franz X. Eder sieht in seiner umfassenden Darstellung der
Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum2 diese Verbindung gegen
Ende des 19. Jahrhunderts entstehen, als die ersten Sexualwissenschafter
unzulängliche empirische Untersuchungsergebnisse durch anthropologische,
ethnologische sowie historische Ausführungen zu vervollständigen suchten, und
formuliert die These: „Sexualwissenschaft und Sexualitätsgeschichte haben damit
nicht nur ein und denselben Gegenstand, sondern auch eine gemeinsame
Entstehungsgeschichte“.3
Es waren kaum im Rahmen der Disziplin ausgebildete „Historiker“, die bis
ins frühe 20. Jahrhundert hinein so genannte „sittengeschichtliche“ Texte verfassten.
Dies erscheint umso interessanter, als die Autoren sich selbst als „Kulturhistoriker“
verstanden und bezeichneten. In diesen Schriften wurde Sexualität als die

1 Eine Suche auf www.google.de mit den Stichworten „Lehrveranstaltung + Sexualität + Geschichte“
am 16.8.2003 ergab 1090 matches. Am 7.11.2005 zeigte die Ergebnissuche schon ungefähr 13.000
Treffer an.
2 Franz X. E DER, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München 2002.
3 Ebenda, S. 10.
12

„omnipotente und omnipräsente Triebkraft der Geschichte“4 bewertet und so zum


zentralen Gegenstand vieler wissenschaftlicher Untersuchungen. Die
„Sittengeschichten“ enthielten keine entwicklungsgeschichtlichen Ansätze, sondern
waren eher verstreute Interpretationen von Repräsentationen des Sexuellen, verfasst
in der Annahme, dass diese die „soziale Praxis“ abbilden würden.5 Sie ergaben noch
keinen eigentlichen sexualitätsgeschichtlichen Diskurs.6 Ein solcher bildete sich erst
langsam im Laufe des späten 19. Jahrhundert heraus und damit bezeichnenderweise
gleichzeitig seine Institutionalisierung in Form der „Sexualwissenschaft“. Denn erst
mit einer ihr eigenen Geschichte wurde „Sexualität“ mit „tieferem“ Sinn ausgestattet,
den es zu erforschen galt. Die neue Disziplin hob sich von der Geschlechtskunde
durch eben diese Sinnsuche ab. Magnus Hirschfeld7 – Gründer des weltweit ersten
Instituts für Sexualwissenschaft – bringt dieses Moment auf den Punkt, wenn er in
der Einleitung seiner „Sexualgeschichte der Menschheit“ sein Vorhaben
folgendermaßen beschreibt:

„Eine Geschlechtskunde und eine Sexualgeschichte verhalten sich zueinander wie


Geographie zur Geologie. Der Geograph zeichnet Gebirge, Flüsse, Wälder und Meere an

4 Ebenda, S. 10.
5 Neben sexuellen Praktiken und Ritualen zeigte die ältere Kulturgeschichte in den
„Sittengeschichten“ vor allem Interesse an an der körperlichen Züchtigung und der Volksmedizin.
Vgl. dazu: Maren LORENZ, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen
2000, S. 20.
6 Von einer diskursiven Formation kann erst dann gesprochen werden, wenn eine bestimmte Anzahl

von Äußerungen in einem ähnlichen System der Streuung beschrieben werden kann, und wenn sich
bei den Gegenständen des Diskurses eine gewisse Regelmäßigkeit festmachen lässt. Diskurse sind
„institutionalisierte bzw. institutionalisierbare Redeweisen, deren Regeln und Funktionsmechanismen
gleichsam ‚positiv’ zu ermitteln sind.“ Vgl. hierzu: Achim LANDWEHR, Geschichte des Sagbaren.
Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, S. 78f; sowie Peter SCHÖTTLER, Wer
hat Angst vor dem „linguistic turn“? In: Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, S. 139.
7 Magnus Hirschfeld (1868-1939) war Arzt und Sexualwissenschafter. 1897 gründete er das

„Wissenschaftlich humanitäre Kommitee“, um sich für die Legalisierung der Homosexualität


einzusetzen – ein Vorhaben, das letztendlich scheiterte. Als Herausgeber der 1908 erstmals erschienen
Zeitschrift „Sexualwissenschaft“ gelang es ihm, auch anderen Sexualwissenschaftern (darunter
Havelock Ellis und Sigmund Freud) ein breites Forum zu eröffnen. 1919 gründete er in Berlin das
weltweit erste „Institut für Sexualwissenschaft“, das sich die Erforschung der menschlichen Sexualität
und die Aus- und Weiterbildung von Ärzten zur Aufgabe machte, gutachterliche Tätigkeiten
übernahm sowie teilweise kostenlose Beratung und Behandlung von PatientInnen und aufklärerische
Vorträge anbot. In seinem 1926 publizierten Hauptwerk „Die Geschlechtskunde“ fasste er mit Hilfe
der umfangreichen Sammlung des Instituts den Forschungsstand zusammen. Ein großer Teil der
verwendeten Daten entnahm er der Auswertung des von ihm entwickelten „Psychobiologischen
Fragebogens“, mithilfe dessen das Sexualleben und -verhalten tausender ProbandInnen systematisch
erfasst wurde. Diese Form der Datenerhebung stellte damals eine Neuerung in der Methodik dar.
1933 wurde das Institut von den NationalsozialistInnen geschlossen und später zerstört. Vgl. dazu:
Manfred HERZER, Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen
Sexologen, Frankfurt am Main/New York 1992; Ralf DOSE, Magnus Hirschfeld. Deutscher – Jude –
Weltbürger, Teetz 2005.
13

gehöriger Stelle auf der Karte oder dem Globus ein. Ihm kann es gleichgültig bleiben, warum
just hier ein Gebirgsstock aufragt oder dort ein See liegt. Anders der Geologe. Er muß
ergründen, weshalb das Anlitz der Erde so und nicht anders wurde, muß aus den
verschiedenen Schichten das Wesen der obersten, auf der wir leben, sinngemäß herleiten.
Der Geograph braucht keine Entwicklungen zu berücksichtigen. Die Erdoberfläche ist so,
wie sie ist, und das muß genügen. Der Geologe trachtet danach, ein Letztes aus dem
Vorletzten und dies aus dem Drittletzten herzuleiten. Er fragt nach dem Werden der Erde
und damit nach dem inneren Grunde ihres ‚Soseins’.“8

Da eben die Arbeit des „Geographen“ – respektive Geschlechtskundlers –


die in der einfachen Beschreibung von Sexualität besteht, noch keine wesentliche
Bedeutung in sich trägt und nur Abbildfunktion besitzt, hat die Geschichtsgebung
und -schreibung die zentrale Funktion der Sinnstiftung inne, indem sie die Reise zum
Mittelpunkt der Erde antritt. Somit wird die Herausbildung einer Sexualwissenschaft
erst möglich, wenn der Sexualität auf diesem Wege die rätselhafte und zu
enträtselnde Codefunktion in der Menschheitsgeschichte zufällt. So kommt auch
Hirschfeld im letzten Absatz der Einleitung der „Sexualgeschichte“ zu dem Schluss:

„Wenn wir also als Sexualhistoriker das Gebäude der menschlichen Sexualität
geschichtlich entstehen lassen, so sind wir darauf gefaßt, nicht jedermanns Meinung zu
treffen. Das Tatsachenmaterial liegt vor: wir schichten und tun dies nach bestem
wissenschaftlichen Wissen und Gewissen. Aber den Mörtel, der die Steine untereinander
verbindet, geben wir selbst dazu. Mit dem Sinn, den wir hineinlegen, gestalten wir das
Rohmaterial zur systematischen Einheit. Damit steuern wir unser Bestes zur Erkenntnis der
Gegenwart bei, wenn wir sie aus der Vergangenheit lückenlos herleiten können.“9

Der „Mörtel“, der die vorgenommene Schichtung zusammenhalten soll,


gestaltet die „systematische Einheit“ der Sexualität und macht es möglich,
Erkenntnisse über „den Gegenstand“ zu erlangen bzw. ihn hervorzubringen.10 Die
architektonische Betätigung der Sexualhistorie produzierte in Folge ein weites Feld,
auf dem ein Sigmund Freud die Suche nach den zusammengefügten Ge-Schichten
aufnehmen konnte.

8 Magnus HIRSCHFELD/Berndt GÖTZ, Sexualgeschichte der Menschheit, Berlin 1929, S. 4.


9 Ebenda, S. 6.
10 Von Schichten, Bergen und Oberflächen ist nicht nur bei Hirschfeld die Rede. So ist etwa im

Vorwort zu „Das Liebesleben in der Natur“ von Wilhelm Bölsche (1861-1939, der „Schöpfer des
modernen Sachbuchs“) zu lesen: „Ich habe in diesem Buche einmal von den verschiedenen Schichten
gesprochen, die sich wie Quadern eines uralten Gebirges in unserem Liebesleben aufeinander lagern.
[...] Mit diesem zweiten Bande lege ich einen Quader gleichsam unter meinen ersten. Auch der erste
handelt ja im Kern der Idee schon vom Menschen. Wenn der zweite diesen Stoff nun abermals und
energischer aufnimmt, so ist sein Zweck hauptsächlich, eine Stufe weiter in die Tiefe zu bauen. Vom
Menschen reden heißt nicht: an die glatte Oberfläche der Natur tauchen, sondern erst recht in den
geheimnisvollen Grund.“ Wilhelm BÖLSCHE, Das Liebesleben in der Natur. Eine
Entwicklungsgeschichte der Liebe, Leipzig 1900, S. V.
14

2.2 Repressionshypothese: Unterdrückung und Befreiung

Der psychoanalytische Ansatz in Bezug auf das Sexuelle wurde im Zuge der
sogenannten „Sexuellen Revolution“ der sechziger und siebziger Jahre des 20.
Jahrhunderts vor allem von den Geschichts- und Sozialwissenschaften aufgenommen
und fungierte als theoretischer Rahmen einer Sexualgeschichte, die das Werden der
„modernen, bürgerlichen Sexualität“ und ihrer zugrunde liegenden „Repression“ im
Fokus hatte.
Im Klima der politischen Umbrüche und der anti-bürgerlichen
„Befreiungsbewegungen“ (wie zum Beispiel der Zweiten Frauenbewegung, der
StudentInnenbewegung etc.) wurde versucht, dem Geheimnis einer tabuisierten und
„unterdrückten“ bürgerlichen Sexualität betont kämpferisch und „aufklärend“
entgegenzuwirken.11 Diese Haltung konnte sich bezeichnenderweise durch die
Hypothese entfalten, dass seit dem 18. Jahrhundert in Zusammenhang mit der
Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft Sexualität zunehmend unterdrückt,
tabuisiert und verschwiegen worden wäre. Nach diesen Ansichten wären vor allem
Frauen von dieser bürgerlichen Sexualmoral betroffen gewesen, indem sie ihnen
Freiheit nicht nur in ihrer Sexualität, sondern in allen Lebensbereichen genommen
hätte. Männern hätte sie ermöglicht, dem engen Prüderiekorsett zu entfliehen, indem
sie in der Unterwelt eines Prostitutions- und Pornographiemilieus das ihnen
zugesprochene sexuelle Begehren auslebten. Die aus dem konstatierten Schweigen
und der gleichzeitigen ausschweifenden männlichen Sexualpraxis resultierende
„bürgerliche Doppelmoral“ wurde als Hauptgrund für die (Geistes-)Erkrankungen
der asexualisierten Frauen (wie z.B. der Hysterie) angesehen. Erst mit den
Erkenntnissen Freuds sei es möglich geworden, Einsichten darüber zu erlangen, „wie
es um den Sex, seine gesellschaftliche Unterdrückung und um die Möglichkeit seiner
Befreiung“12 stehe.
Es waren vor allem französische und britische SozialhistorikerInnen, die sich
nun demographischen Erhebungen und quantitativen Untersuchungen über das
Sexualverhalten verschiedenster Bevölkerungsgruppen widmeten, die

11Dass dies keine Erfindung dieser Zeit war, wird in dieser Arbeit noch ausreichend gezeigt werden.
12 Franz X. EDER, „Sexualunterdrückung“ oder „Sexualisierung“? Zu den theoretischen Ansätzen
einer „Sexualgeschichte“. In: Daniela ERLACH/Markus REISENLEITNER/Karl VOLCELKA (Hg.),
Privatisierung der Triebe. Frühneuzeitliche Studien 1, Frankfurt am Main/Bern/New
York/Paris/Wien 1994, S. 7-29, hier S. 10.
15

Interpretationsmöglichkeiten der Daten diskutierten und damit das Arbeitsfeld und


die Untersuchungsmethoden der Sexualgeschichte erweiterten.13 Die zentralen
Themen waren Heirat und Familie, Illegitimität und Geburtenkontrolle, die
verschiedenen Modelle der Moral, sexuelle Gewalt, sexuelle Identitäten und
Communities. Klassische sozialgeschichtliche Forschungsobjekte wie z.B. „das
Bürgertum“ oder „die Arbeiterklasse“ bekamen Gesellschaft von „der Prostituierten“
und „dem Homosexuellen“, deren Sexualunterdrückungs-Geschichte ins Zentrum
des Interesses rückte.14 Die ForscherInnen blieben jedoch dem Essentialismus der
Freudschen Triebtheorie, die noch auf eine „Wahrheit der Natur“ verweist15, und der
von der Psychoanalyse konstatierten Repressionshypothese verhaftet.

2.3 Sexualisierungsthese: Mächtige Diskurse

Spätestens nach 1976 erfuhren diese Grundannahmen eine epistemologische


Zäsur. Mit dem Erscheinen von Michel Foucaults erstem Band seiner „Histoire de la
sexualité“ wurden die beschriebenen Grundannahmen der historischen
Sexualitätsforschung unterminiert, indem sie von Foucault selbst zum Objekt der
Analyse gemacht wurden. In der Dekonstruktion der essentialistisch gedachten
Sexualität lag die analytische Sprengkraft, die Eder als „kopernikanische Wende“16 in
der Historiographie der Sexualität beschreibt.
Foucault zeigt in diesem Text auf, dass die Annahme, Sexualität sei seit der
Aufklärung zunehmend unterdrückt worden, zwar nicht völlig falsch sei, jedoch viel
zu kurz greife, um dem Themenkomplex gerecht zu werden. So schreibt er im
Vorwort zur 8. deutschsprachigen Auflage von „Der Wille zum Wissen“ in
Verteidigung seines Textes:

„Ich habe keineswegs behauptet, daß es keine Unterdrückung der Sexualität gegeben
habe. Ich habe mich nur gefragt, ob man zur Entschlüsselung der Beziehungen der Macht,

13 EDER, Kultur der Begierde, S. 12.


14 Jeffrey WEEKS, Making Sexual History, Cambridge 2000, S.126.
15 In der Psychoanalyse wurde (bis 1972!) Homosexualität nicht mehr als angeborener, sondern als

erworbener Zustand bzw. als Krankheit definiert, die es zu heilen galt. Dennoch wurden deren
Wurzeln im Trieb gedacht, der von der Bioenergie abhängig war. Ein wissenschaftliches Dilemma, das
von Freud folgendermaßen angesprochen wurde: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie.
Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in unserer Arbeit
keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen.“ Zit. nach:
EDER, „Sexualunterdrückung“ oder „Sexualisierung“?, S. 15.
16 EDER, „Sexualunterdrückung“ oder „Sexualisierung“?, S. 8.
16

dem Wissen und dem Sex die gesamte Analyse am Begriff der Repression orientieren müsse;
oder ob man diese Dinge nicht besser begreifen könnte, wenn man die Untersagungen, die
Verhinderungen, die Verwerfungen und die Verbergungen in eine komplexere und globalere
Strategie einordnet, die nicht auf die Verdrängung als Haupt- und Grundziel gerichtet ist.“17

Indem Foucault keine „eigentliche“, „wahre“, sozusagen metahistorische


Sexualität annimmt, die es zu befreien gelte, sondern vielmehr ihre Koppelung an
spezifische Machtformen18, ist es ihm möglich aufzuzeigen, dass am „Gebäude
Sexualität“ im 18. und 19. Jahrhundert fleißig gebaut und sein Areal stetig auf Körper
und Seele erweitert wurde. Foucault fragt nicht nach dem Grund der Unterdrückung,
sondern nach den Formen, in denen Aussagen über die Unterdrückung gemacht
werden. Mit der positiven Beobachtung der „diskursiven Tatsache“19 kommt er zum
Ergebnis, dass der Sex eben nicht verschwiegen wurde. Im Gegenteil – die Diskurse
über ihn haben stetig (und vor allem in Zeiten konstatierter Unterdrückung)
zugenommen und sich vermehrt:

„Das Wesentliche aber ist die Vermehrung der Diskurse über den Sex, die im
Wirkungsbereich der Macht selbst stattfinden: institutioneller Anreiz, über den Sex zu
sprechen, von ihm sprechen zu hören und ihn zum Sprechen zu bringen in ausführlicher
Erörterung und endloser Detailanhäufung.“20

Das Klagen über das Schweigen, die Heuchelei und die sexuelle Repression
war Teil eines umfassenden Prozesses dieser Konstituierung, Diskursivierung und
Intensivierung von Sexualität. Die Repressionshypothese ist demnach „in einer
allgemeinen Ökonomie der Diskurse über den Sex anzusiedeln, wie sie seit dem 17.
Jahrhundert im Inneren der modernen Gesellschaften herrscht.“21 Die PredigerInnen
der Repressionshypothese – also jene, die den Befreiungsdiskurs im Munde führen –
fungieren als produktive TeilnehmerInnen am Machtkomplex „Sexualität“, sind sie
doch dem Modell der souveränen Macht verbunden, die die Machtwirkung nur als
zwingend, negierend und beschränkend – als „Herrschaft“ – auffasst. Dieser Logik

17 Michel FOUCAULT, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 19958, S.
8. (Vorwort zur deutschen Ausgabe.)
18 Zur umfangreichen Machtdefinition Foucaults seien hier auszugsweise zwei Textstellen zitiert:

„Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. [...] [D]ie
Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“
FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 114. „Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt,
teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im
Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.“ Ebenda, S. 115.
19 Ebenda, S. 21.
20 Ebenda, S. 28.
21 Ebenda, S. 21.
17

folgend muss man sich in der Schlacht gegen die wahrheitsunterdrückende


Gesetzesmacht mit der Wahrheit rüsten; dabei wurde Sexualität zu einem
entscheidenden Instrument für die Formulierung von Wahrheiten: Nämlich der
Wahrheit des (bürgerlichen) Individuums, sozialer und politischer Gruppen oder
Gesellschaften.
Das vor allem durch den humanwissenschaftlichen Diskurs hervorgebrachte
„Sexualitätsdispositiv“22 und seine Ausbreitung auf alle möglichen Bereiche des
Lebens sexualisierte eben auch die Identitäts- und Wahrheitssuche des modernen
und „aufgeklärten“ Subjektes.
Foucault beschreibt den Körper – und dabei im Rahmen des
Sexualitätsdispositivs vor allem den Geschlechtskörper – als wichtigste
„Relaisstation“ zur Ökonomie. Er erfuhr als Wissensgegenstand und als Element in
23
den Machtverhältnissen eine Aufwertung – oder anders gesagt: Die Zugriffe der
Macht auf den Körper des Einzelnen wie der Bevölkerung bedienen sich
vornehmlich des Sexes.
Es ist nicht verwunderlich, dass Foucaults Thesen vor allem in der
Geschichtswissenschaft großes Aufsehen erregten und zum Teil vehement abgelehnt
wurden (und werden).24 Schließlich zeigte er (auch) durch die Historisierung der
„Sexualität“ auf, dass Geschichte nicht „Wahrheit“ ans Tageslicht bringt, sondern die
vermeintliche „Wahrheit“ vielmehr umkämpft, diskontinuierlich und auch zufällig ist.
Foucaults Überlegungen zu Wissen, Macht, Diskurs, Subjekt und Körper im
Zusammenhang mit Sexualität sowie seine daraus entworfenen Begrifflichkeiten von
„Bio-Politik“ und „Bio-Macht“25 haben – vielleicht gerade weil sie sehr umstritten
sind – nachhaltig die historischen Zugangsweisen thematisiert, bestimmt und
verändert. Es wird sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit zeigen, dass sich die
Foucaultschen Thesen hinsichtlich einer Analyse des anarchistischen

22 Ebenda, S. 128.
23 FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 129f.
24 Vgl. dazu z.B.: Philipp S ARASIN, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main

2003, S. 30f; SCHÖTTLER, Wer hat Angst vor dem „linguistic turn“?; Klaus-Michael BOGDAL,
Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung, Wiesbaden
1999.
25 FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 166f; Michel F OUCAULT, In Verteidigung der Gesellschaft.

Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt am Main 2001, 286f.


18

Sexualitätsdiskurses als besonders nützlich erweisen – nicht zuletzt deshalb, weil er


an mancher Textstelle explizit auf das Thema eingeht.26

2.4 Sex/Gender: Paradoxe Differenzen

Die feministisch-historische Forschung hatte sich in den sechziger und


siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts intensiv mit der „unterdrückten Frau“ und der
damit verbundenen „unterdrückten weiblichen Sexualität“ beschäftigt und sich in
diesem Sinne auf die Suche nach den „unsichtbaren Frauen“ in der Geschichte
begeben.27 Die Frauenforschung benötigte einige Zeit, um sich von eigenen
Abwehrreflexen gegen die (politische) Kritik, die der Analyse der
Repressionshypothese immanent ist, loszumachen. Letztendlich wurden aber die
damit angebotenen Möglichkeiten teilweise aufgegriffen, reflektiert und für die eigene
Sache produktiv gewendet.28 Damit mussten jedoch zwangsläufig bestimmte
Grundkategorien des eigenen feministischen Denkens in Frage gestellt werden. Diese
Transformationen der feministisch-historischen Forschungsansätze29 sollen im
Folgenden kurz beschrieben werden, kreisen sie doch um die für eine
Sexualitätsgeschichtsschreibung relevanten Schlüsselbegriffe „Geschlecht“,
„Geschlechtlichkeit“ und „Geschlechterverhältnis“.

26 Vgl. dazu etwa: FOUCAULT, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 308-311. An dieser Stelle wird vor
allem der dem Sexualitätsdispositiv anhängige Rassismus in Anarchismus und Frühsozialismus
beschrieben, der Teil der biopolitischen Strategie ist.
27 Als prominenteste Arbeiten dazu sind sicherlich jene der US-amerikanischen Historikerin Gerda

LERNER zu nennen: Gerda LERNER, Frauen finden ihre Vergangenheit. Grundlagen der
Frauengeschichte, Frankfurt am Main 1995; Gerda LERNER, Welchen Platz nehmen Frauen in der
Geschichte ein? Alte Definitionen und neue Aufgaben. In: Elisabeth LIST/Herlinde S TUDER (Hg.),
Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt am Main 1989, S. 334-352.
28 Vgl. z.B. dazu: Gerburg TREUSCH-DIETER, „Cherchez la femme“ bei Foucault? In: Gesa DANE

(Hg.), Anschlüsse: Versuche nach Michel Foucault, Tübingen 1985, S. 80-94; Hilge LANDWEER,
Sexualität als Ort der Wahrheit? Heterosexuelle Normalität und Identitätszwang. In:
INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNGSGRUPPE FRAUENFORSCHUNG IFF (Hg.), Liebes- und
Lebensverhältnisse. Sexualität in der feministischen Diskussion, Frankfurt am Main/New York 1990,
S. 83-100.
29 Hier soll von „Transformationen“ und nicht von „Entwicklungen“ die Rede sein, da „nicht alle

theoretischen Ansätze zu bestimmten, zeitlich/räumlich fixierbaren Momenten das gleiche Gewicht


im feministisch-historischen Diskurs besaßen“. Andrea GRIESEBNER, Interagierende Differenzen.
„Vergehen“ und „Verbrechen“ in einem niederösterreichischen Landgericht im 18. Jahrhundert, Univ.
Diss. Wien 1998, S. 41. Vgl dazu auch die gedruckte Diss.: Andrea GRIESEBNER, Konkurrierende
Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien 2000. Die
folgende Darstellung will der Debatte keine Kontinuität einschreiben. Auch ist sie nicht vollständig –
es gibt in dem bereits zitierten Text ein ausführliche Auseinandersetzung damit –, sondern dient nur
der Charakterisierung themenrelevanter Eckpunkte.
19

Von Seiten der historischen Frauenforschung sowie der Lesben- und


Schwulenforschung war ab Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts an den bis
dahin geltenden essentialistischen Annahmen von Sexualität und Geschlechtlichkeit
Kritik laut geworden. Ausgehend von den Überlegungen zur Praktikabilität der
Kategorie „Frau/en“ bzw. „Geschlecht“ schlugen US-amerikanische
Theoretikerinnen die begriffliche Trennung von „Sex“ und „Gender“ vor.30 Diese
Differenzierung des biologischen Geschlechtskörpers (Sex) vom sozial und kulturell
gedachten Geschlecht (Gender) sollte essentialistischen Konzepten entgegenwirken,
biologisch argumentierte Geschlechtertheorien entkräften und es möglich machen,
„Frauengeschichte“ (neu) zu schreiben31, indem diese hinsichtlich sozialer und
kultureller Bedingungen befragt würde.
Diese begriffliche Unterscheidung, die eigentlich biologische Determinismen
zu untergraben und zu enttarnen versuchte, erwies sich jedoch als selbst nicht frei
von Biologismen: Da Sex immer noch als naturbedingte „wahre“ Körperlichkeit, als
unhinterfragter Rest bestehen blieb, konnte die sexuelle Differenz zwischen
„Männern“ und „Frauen“ nicht stringent konstruktivistisch gedacht werden. Dass
sich dieser Ansatz insofern als problematisch erwies, als er den Körper zum
ahistorischen Objekt erklärte (und damit die Kategorie „Frauen“ retten konnte) und
dadurch die vermeintliche Beweiskraft der Natur nur auf die Kultur verschob, wurde
ab den 1980er Jahren evident.
1986 forderte Joan Wallach Scott in ihrem Aufsatz „Gender, A Useful Category
of Historical Analysis“ eine Re-Definition des Gender-Begriffs als analytisches
Instrumentarium. Sie kritisiert in diesem Text die gebräuchliche Gleichsetzung von
„Gender“ und „Frauen“ und spricht sich im Anschluss für eine Hinterfragung und
Historisierung der angenommenen bipolar „fixierten“ Geschlechterunterschiede aus:

„Was wir brauchen, ist die Ablehnung der festgeschriebenen und permanenten
Eigenschaften des binären Gegensatzes, eine echte Historisierung und die Dekonstruktion
der Bedingungen des geschlechtlichen Unterschieds. Und wir müssen selbstbewußter in der
Unterscheidung zwischen unserem analytischen Vokabular und dem zu analysierenden
Vokabular und dem zu analysierenden Material werden. Wir müssen Wege finden (wie

30Zum ersten Mal ausformuliert bei: Ann OAKLEY, Sex, Gender and Society, New York 1972.
31Zur Debatte um die „Frauengeschichte“ vgl. z.B.: Gerda LERNER, Welchen Platz nehmen Frauen in
der Geschichte ein?; Gisela BOCK, Frauengeschichte. In: Frank NIESS (Hg.), Interesse an der
Geschichte, Frankfurt am Main 1989, S. 77-89; Karin HAUSEN (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte,
München 1983; Alain CORBIN/Arlette FARGE/Michelle PERROT u.a. (Hg.), Geschlecht und
Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, Frankfurt am Main 1989.
20

unzureichend auch immer), wie wir unsere Analysen einer Selbstkritik unterziehen
können.“32

Durch diese Kritik an einem beschreibenden Gebrauch des Gender-Begriffs33


stellt Scott die Frage in den Mittelpunkt, inwiefern Macht und Gender
zusammenhängen und konstatiert: „Gender ist eine wesentliche Weise, in der
Machtbeziehungen Bedeutung verliehen wird.“34 Möglich wird damit der
untersuchende Blick mit Gender als analytischem Werkzeug und gleichzeitig auf
Gender als Austragungsort, an dem sich Machtkonstellationen herstellen und
modifizieren. Das Zwei-Geschlechtermodell, so legt Scott nahe, soll relativ als
Geschlechterverhältnis und nicht oppositionell gedacht werden35, und sie fordert auf,
die Bedingungen der sexuellen Differenz zu dekonstruieren.
Das für die feministische Forschung konstituive (Kollektiv-)Subjekt „Frau“
geriet mithin ins Wanken. Dieses Konzept war schon seit den siebziger Jahren des
20. Jahrhunderts von Women of Colour und lesbischen Feministinnen politisch in Frage
gestellt worden.36 Sie machten darauf aufmerksam, dass „die Frauen“ eher durch
Differenz als durch eine gemeinsame Identität zu kennzeichnen wären und erklärten,
dass „Erfahrung immer von der im sozialen Raum eingenommenen Position
abhängig ist, für welche je nach Raum und Zeit unterschiedlich wirkungsmächtige,
ineinander verwobene und nicht voneinander isolierbare Klassifizierungssysteme wie
Rasse, Sexualität, Klasse bzw. Stand, Ethnie, Sprache, Alter, Religion, Bildungsgrad
etc. von Bedeutung sind“.37
Um zur Frage des Sex zurückzukehren: Im Zuge all dieser Debatten wurde
jene um den Körper immer virulenter. Denn wenn Scott eine Ausweitung des Gender-
Begriffs auf die Repräsentationen und Bedingungen des Geschlechtlichen fordert,
muss mithin der Körper in diese Analyse einbezogen werden. Eine der ersten

32 Joan Wallach SCOTT, Gender: eine nützliche Kategorie der historischen Analyse. In: Nancy KAISER
(Hg.), Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, S. 27-75, hier S. 49.
33 „Zusammenfassend kann man wohl feststellen, daß sich das beschreibende Konzept der Kategorie

Gender mit der Untersuchung der Dinge beschäftigt, die einen weiblichen Bezug haben. Es ist ein
neues Thema, eine neue Abteilung der historischen Untersuchung, aber es hat nicht die analytische
Stärke, sich mit bestehenden historischen Paradigmen auseinanderzusetzen (und sie zu verändern).“
Ebenda, S. 35.
34 Ebenda, S. 53.
35 Scott erinnert an dieser Stelle daran, dass diese Forderung schon 1975 von Natalie Zemon Davis

formuliert worden war. Ebenda, S. 29.


36 Vgl. hierzu v.a. den Sammelband: Gloria I. JOSEPH, Schwarzer Feminismus. Theorie und Politik

afro-amerikanischer Frauen, Berlin 1993.


37 GRIESEBNER, Interagierende Differenzen, S. 56.
21

körpergeschichtlichen Arbeiten, welche die Debatte um die „Erfahrung“38 mit


berücksichtigte und reflektierte und scheinbar ontologische Körpervorstellungen im
Zusammenhang mit der Produktion des modernen Körpers hinterfragte, lieferte
Barbara Duden.39 Die Frage nach der „Be-Deutung“, den Einschreibungen und der
Konstruktion der Körper eröffnet ein neues Feld in der Geschichtswissenschaft. Die
Bastion des gesicherten Wissens gerade für eine feministisch geprägte
40
Identitätspolitik, die auf den Körper rekurriert , gerät nachhaltig ins Wanken – das
Rückzugsgebiet „Natur“ scheint sich unter konsequent analytischen
Textproduktionen aufzulösen.
Die wohl bekannteste und umstrittenste Proponentin in der von
Abwehrreaktionen gekennzeichneten Diskussion um Sex/Gender ist zweifelsohne die
Philosophin Judith Butler.41 In ihrem 1990 erschienen Buch „Gender Trouble“42
zeichnet sich die wohl bis dahin radikalste Analyse und Kritik am – in der
Geschichtswissenschaft über die Grenzen der Geschlechterforschung hinaus
mittlerweile akzeptierten – Begriffsentwurf Sex/Gender ab. Ihre poststrukturalistisch
zu verortenden, machttheoretischen Analysen der Subjektbildung schließen kritisch
an die Arbeiten Foucaults an.43 Ihre Texte sprengen jeden kausalen Zusammenhang
zwischen „natürlichem“ und „sozialem“ Geschlecht, dem Butler einen „verlagerten
Biologismus“ zuschreibt und als Ideologie der heterosexuellen Gesellschaftsordnung
identifiziert. In ihren Überlegungen zur Materialität ist die Sprache genauso „von

38 Einen guten Überblick über die Diskussion um die Kategorie Erfahrung gibt: Andrea GRIESEBNER,
Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 2005, S. 142f.
39 Barbara DUDEN, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730,

Stuttgart 1987.
40 Vgl. dazu: GRIESEBNER, Interagierende Differenzen, S. 64f.
41 Andrea Griesebner weist darauf hin, dass Butlers Theoriegebäude „nicht im ‚luftleeren Raum’

entstanden sind und erinnert deshalb an die kritischen Texte von Hazel Carby, bell hooks und
Monique Wittig: Hazel V. CARBY, White Women Listen! Black Feminism and the Bounderies of
Sisterhood. In: Centre for Contemporary Cultural Studies (Hg.), The Empire Strikes Back, London
1988, S. 212-235; bell HOOKS, Yearning. Race, Gender and Cultural Politics, Boston 1986; Monique
WITTIG, Le corps lesbien, Paris 1984. Zit. nach: Andrea G RIESEBNER, Historisierte Körper. Eine
Herausforderung für die Konzeptualisierung von Geschlecht? In: Christa G ÜRTLER/Eva
HAUSBACHER (Hg.), Unter die Haut. Körperdiskurse in Geschichte(n) und Bildern. Beiträge der 5.
Frauen-Ringvorlesung an der Universität Salzburg, Innsbruck/Wien 1999, S. 53-75.
42 Judith BUTLER, Gender Trouble, New York 1990. Die deutsche Ausgabe: Das Unbehagen der

Geschlechter, Frankfurt am Main 1991.


43 Den Ausgangspunkt für Butlers kritische Auseinandersetzung mit Foucault bildet sein ambivalenter

Körperbegriff. Einerseits beschreibt er den Körper als diskursives und kulturelles Konstrukt,
andererseits legt an mancher Stelle nahe, es gäbe einen Körper (in Verbindung mit den Lüsten), der
seinen kulturellen und historischen Einschreibungen vorausgehe. Vgl. z.B.: FOUCAULT, Der Wille zum
Wissen, S. 187.
22

Gewicht“ wie die „Körper“, da sie nicht ohne einander existieren.44 Der Körper als
solcher kann nur geschlechtlich markiert in Erscheinung treten. Es gibt also keinen
Körper außerhalb der symbolischen Ordnung, da diese die sexuelle Differenz der
Körper produziert. Der Körper, als solcher variabel und performativ erscheinend,
„hat“ nicht nur eine Geschichte:

„Es ist von Anfang an klar, [...] daß die Geschichte der Materie zum Teil bestimmt
ist von der Aushandlung der sexuellen Differenz. Wir können versuchen, zur Materie als
etwas dem Diskurs Vorgängigen zurückzukehren, um unsere Thesen hinsichtlich der
sexuellen Differenz eine Grundlage zu geben. Wir können dann allerdings entdecken, daß
Materie vollständig erfüllt ist mit abgelagerten Diskursen um das biologische Geschlecht und
Sexualität, die die Gebrauchsweisen, für die der Begriff verwendbar ist, präfigurieren und
beschränken. Darüber hinaus könnten wir auf Materie rekurrieren, um eine Reihe von
Verwundungen oder Verletzungen als solche zu begründen oder nachzuweisen, nur um dann
feststellen zu müssen, daß Materie selbst durch eine Reihe von Verletzungen begründet wurde, die in
der heutigen Berufung auf Materie unwissentlich wiederholt werden.“45

Nach Butler ist es also die Sprache, die ununterbrochen Bedeutungssysteme


der biologischen Körper über Bezeichnungsakte performiert und produziert. „Der
Körper ist historisch und empirisch kein gemeinsamer Ausgangspunkt der
Menschheit schlechthin, keine universelle Basis der Verständigung.“46 Dass das vor
allem ein Dilemma für eine (Wissenschafts-)Politik darstellt, die sich zum großen Teil
auf die Wahrheitsfindung in der und durch sexuelle Identität stützt, zeigt sich (nicht
nur) an feministischen Diskussionen. Gleichzeitig bietet aber Butlers genealogischer
Ansatz an, sich auf paradoxere Denkarten einzulassen und damit zu neuen
Ergebnissen zu kommen:

„Doch hilft es nichts, im Glauben an das ‚Gute’ die ‚volle’ und ‚reale’ Repräsentation
zu stützen; sei es politisch, sei es zeichentheoretisch. Gerade in den rezenten feministischen
Debatten wird besagte Schwierigkeit dort lesbar, wo ‚die Frau’ als singuläre Repräsentation
‚der Frauen’ nach Judith Butler nicht mehr denkbar ist, was gleichzeitig aber politische
Abzweckung unter Verwendung genau dieses ‚Begriffs’ nicht verunmöglicht. Was zwischen
Unterschied und Gleichheit für den ‚Feminismus’ und ‚die Frau’ hier Geltung hat, gilt auch
für Politik im allgemeinen: Only paradoxes to offer.“47

44 Judith BUTLER, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995. Im
Original: Bodies that Matter, New York 1993.
45 Ebenda, S. 53.
46 Philipp SARASIN, „Mapping the body“. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und

„Erfahrung“, S. 102. In: Philipp SARASIN, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am


Main 2003, S. 100-121.
47 Alessandro BARBERI, Clio verwunde(r)t. Hayden White, Carlo Ginzburg und das Sprachproblem in

der Geschichte, Wien 2000, S. 145.


23

Das Paradoxon des „manifesten Relativwerdens von Körpern“48 fordert


gerade wegen seiner politischen Tragweite von der Geschichtswissenschaft neue
Fragen zu stellen:

„Wenn ‚der menschliche Körper’ nicht mehr der unhinterfragte Ausgangspunkt


unserer politischen und kulturellen Diskurse und Praktiken ist, sondern selbst Ort und
Objekt dieses Handelns, dann wird Körpergeschichte zur politischen Geschichte: Wer
generiert die diskursiven Muster, die die Wahrnehmung und die Praktiken strukturieren? Wer
sagt, was ‚normal’ ist und was nicht – ‚lebensunwert’, ‚genetisch nicht erwünscht’, ‚fremd’?“49

Was bedeutet nun all diese „Theorieproduktion“ für eine


Geschichtsschreibung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, der „Sexualität“
nachzuspüren? Vorerst Unsicherheit gegenüber ihrem Untersuchungs-„Gegenstand“,
die mit der tiefen Irritation darüber einhergeht, dass das Subjekt nicht mit einem
authentischen Kern cartesianischer Art ausgestattet ist, sondern erst in permanenter
Diskurs- und Wissensproduktion in Erscheinung tritt.
Ein Effekt dieser Verunsicherung ist sicherlich auch eine Vervielfältigung der
Forschungsansätze und die am Anfang dieses Kapitels konstatierte
50
Interdisziplinarisierung der „Neuen Sexualitätsgeschichte“. „Geschlecht“ und
„Körper“ werden einerseits als spezialisierte Forschungsgegenstände in die
Historiographie als „Geschlechtergeschichte“ und „Körpergeschichte“ eingebettet
und stellen damit eine Erweiterung „der Geschichte“ dar. Andere erkenntniskritische
Zugänge konzentrieren sich darauf, diese Kategorien als diskursive Erscheinungen zu
analysieren und richten dabei ihren Blick vornehmlich auf die Natur- und
Humanwissenschaften ab dem 18. Jahrhundert, in denen das „geschichtliche
Dispositiv Sexualität“51 seinen Namen erhielt.
Auf wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten dieser Art wird im folgenden
Kapitel zurückgegriffen, wenn es darum gehen soll, sich den
Untersuchungsgegenstand genauer zu erarbeiten und seine begriffliche Entstehung
nachzuzeichnen.

48 SARASIN, „Mapping the body“, S. 103.


49 Ebenda, S. 103.
50 EDER verweist dazu an verschiedenen Stellen auf die Gründung des interdisziplinär angelegten

Journal of the History of Sexuality im Jahr 1990, die sowohl ein Effekt dieser Uneindeutigkeiten ist, als
auch ein programmatisch postulierter Affekt. EDER, Kultur der Begierde, S. 14 und 22. Sowie: EDER,
„Sexualunterdrückung“ oder „Sexualisierung“?, S. 8.
51 FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 128.
24

3 Sexualität und Diskurs: Definitionsversuche

„Was dagegen niemals eine Wahrheit sein kann ist zu


wissen, was ‚die’ Sexualität und ‚die’ Macht sind: nicht, weil die
Wahrheit über solche Gegenstände nicht erreichbar wäre,
sondern weil es hier weder Wahrheit noch Irrtum geben kann.
Diese großen Gegenstände existieren nicht: in Kaleidoskopen
wachsen keine großen Bäume.“52

Aufbauend auf der Erkenntnis, dass „Sexualität“ einen ge-wichtigen und


vieldiskutierten (Forschungs-)Gegenstand der Geschichtswissenschaft darstellt, soll
im folgenden Kapitel eine Annäherung an den Begriff „Sexualität“ stattfinden. Die
Herausbildung des Begriffes und seine Verwendung und die damit verbundenen
Bedeutungszuschreibungen stehen dabei im Zentrum der sprach- und
diskurstheoretischen Überlegungen.

3.1 Das Wort, der Begriff und der Diskurs

Wenn an dieser Stelle eine Begriffsklärung von „Sexualität“ stattfinden soll,


so seien hiermit einige Überlegungen vorausgeschickt: Es ist einerseits notwendig,
eine etymologische Beschreibung des Wortes „Sexualität“ zu leisten, andererseits ist
dies – gerade im Sinne eines diskursanalytischen Ansatzes – keineswegs ausreichend.
Denn „auch der Begriff haftet zwar am Wort, er ist aber zugleich mehr als ein Wort:
ein Wort wird zum Begriff, wenn die Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungs- und
Erfahrungszusammenhanges, in dem und für den ein Wort gebraucht wird,
insgesamt in das Wort eingeht.“53 Oder anders gesagt besteht die Differenz vor allem
in der Eindeutigkeit des Wortes und der Vieldeutigkeit des Begriffs.54 Somit kann mit
einer Beschreibung der Genese des Wortes „Sexualität“ niemals eine exakte
Bestimmung vorgenommen werden, da es wenig über seine Bedeutung aussagt. Da
hier aber keine reine „Begriffsgeschichte“55 angestrebt wird, muss vielmehr die Frage
gestellt werden, wie Wörter Bedeutung erhalten und diese gleichzeitig konstruieren.

52Paul VEYNE, Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt am Main 1992, S. 65.
53 Reinhart KOSELLECK, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 119. In: DERS., Vergangene
Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 107-129.
54 Achim LANDWEHR, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse,

Tübingen 2001, S. 30f.


55 Vgl. dazu: Reinhart KOSELLECK, Einleitung. In: Otto BRUNNER/Werner CONZE/Reinhart

KOSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache


25

Den Prozess der sprachlichen Sinnproduktion bzw. der Herstellung von


Bedeutungssystemen im Sinne eines eindimensionalen Kommunikationsmediums zu
denken, ist in den Sozialwissenschaften ein durchaus gängiger Ansatz. Dies ist aber,
so merkt Joan W. Scott kritisch an, problematisch, „denn es reduziert den Begriff der
Bedeutung auf instrumentelle Äußerungen – Worte, die Menschen zueinander sagen
–, anstatt eine Auffassung von Bedeutung als Muster und Beziehungen, die
Verstehen oder ein „kulturelles“ System konstituieren, zu vermitteln.“56 Sie folgt
damit der Diskurstheorie, wie sie seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vor
allem in Frankreich entwickelt wurde.57 Der zufolge ist Bedeutung immer
mehrdimensional, wird relational begründet und richtet sich an mehr als eineN
ZuhörerIn. Sie wird in diskursiven Feldern begründet und baut gleichzeitig neue auf.
Sexualität ist – so könnte man sagen – die buchstäbliche Klammer einer
symbolischen Ordnung. Sie beschreibt und etabliert ein Feld, in dem bestimmten
Regeln zufolge laufend Bedeutungen produziert werden. Die Schwierigkeiten bei der
Definition von Sexualität treten dann auf, wenn versucht wird „das Ding an sich“
aufspüren zu wollen, da es sich eben um kein ontologisches „Ding“, sondern um
eine Formation von Aussagen, um einen Wissensgegenstand handelt. Dieser wird an
verschiedenen Eckpunkten, wie eben dem „Geschlecht“ oder dem „Körper“
ausformuliert und konstruiert.

„Die Sexualität ist keine zugrundeliegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist,
sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die
Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die
Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und
Machtstrategien miteinander verketten.“58

Die Funktionen und Transformationen des Sexualitätsdiskurses und seine


mehrfachen Vernetzungen mit Politik und Ökonomie konstituieren den
Untersuchungsgegenstand. Die Vernetzungen, „Kontaktstellen“59 und

in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII-XXVII.


56 Joan Wallach SCOTT, Sprache, Geschlecht und Geschichte der Arbeiterklasse, S. 293. In: Christoph

CONRAD/Martina KESSEL (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen
Diskussion, S. 283-309.
57 Vgl. dazu: SARASIN, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 31f. Sarasin beschreibt hier

Jaques Derrida und Michel Foucault als die Hauptproponenten der Diskurstheorie.
58 FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 128.
59 Joseph VOGL, Geschlecht ohne Ort. Das Casanova-Experiment oder: Vom Kampf der Natur gegen

die Vernunft, S. 37. In: Günther BUSCH/Uwe WITTSTOCK, Den Körper Neu Denken. Gender
Studies. Neue Rundschau, 104. Jg., 1993, Hft. 4, Frankfurt am Main 1993, S. 33-45.
26

„Abhängigkeiten“60 diskursiv aufeinander bezogener Systeme bringen Bedeutung


hervor und schaffen so Beziehungen. Im Falle dieser Untersuchung stehen die
Beziehungen zwischen Sexualität und anarchistischer Politik in Spanien in den
zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts im Zentrum. Warum nimmt
Sexualität einen derart großen Raum in den politischen Zeitschriften ein? Welche
funktionale Beschaffenheit hat diese Verbindung? Auf welche Wissenssysteme
nehmen die Aussagen über Sexualität Bezug? Welche Kategorien sind dabei
grundlegend und sinnstiftend? Um Fragen dieser Art beantworten zu können, muss
das Wort an den Orten untersucht werden, an denen es verwendet wird, es müssen
die Sätze untersucht werden, in denen es auftaucht, und analysiert werden, was mit
diesen Sätzen getan wird und von wem. Diesem Vorhaben soll anhand der
untersuchten anarchistischen Zeitschriften, Estudios und La Revista Blanca, in dieser
Arbeit Folge geleistet werden.
Ausgehend von der Begriffsbildung soll in den folgenden Kapiteln eine
Darstellung der diskursiven Formierung der Sexualität, ihrer wissenschaftlichen
Karriere und der daraus effektiv resultierenden gesellschaftspolitischen
Transformationen erfolgen. Dabei beziehe ich mich im Besonderen auf die
Forschungsarbeiten von Michel Foucault, Claudia Honegger, Thomas Laqueur und
Londa Schiebinger.

3.2 Kunststoff?

Auf der Suche nach einer Definition von Sexualität in Texten der neueren
Sexualitätsgeschichte findet man zahlreiche Angebote, was nicht zuletzt durch die
weiter oben ausgeführten Ansätze zu erklären ist. An verschiedener Stelle wird
jedoch wiederholt betont, dass es sich bei Sexualität um ein Konstrukt handelt. So
schreibt zum Beispiel Isabel V. Hull, Sexualität sei „ein neues, künstliches Konstrukt,
ein flexibler, ordnungsgebender Sammelbegriff, der erst im frühen 19. Jahrhundert
seinen Namen erhielt, dessen Umrisse sich allerdings schon am Ende des
achtzehnten abzeichneten.“61 Im gleichen Text ist von der „Plastizität des Begriffes

60SCOTT, Sprache, Geschlecht und Geschichte der Arbeiterklasse, S. 294.


61 Isabel V. HULL, „Sexualität“ und bürgerliche Gesellschaft, S. 50. In: Ute FREVERT (Hg.),
Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 49-66.
27

‚Sexualität’“ die Rede.62 Eder verweist auf seine Artifizialität, indem er Sexualität als
„Plastikwort“63 bezeichnet (und sich damit den von Barbara Duden geprägten Begriff
zu eigen macht)64. An dieser Stelle wäre es eigentlich notwendig, eine Diskussion der
Frage auszuführen, inwiefern nicht alle Worte und Begriffe „künstlich“ sind bzw.
Worte und Dinge niemals zusammenfallen, demnach weder „künstlich“ noch
„natürlich“ sein können. Diese Definitionsversuche unterstreichen jedoch –
übersieht man dieses Manko an Reflexion –, dass der Begriff „Sexualität“ eine relativ
junge Geschichte hat.
Die neulateinische Wortbildung „Sexualität“ (Geschlechtlichkeit) leitet sich
vom lateinischen „sexus“ (Geschlecht) ab und tauchte als substantivische Ableitung
von „sexualis“ bzw. „sexuell“ in der wissenschaftlichen Fachsprache des 19.
Jahrhunderts auf. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts fand sie als Begriff
(wirkungsmächtigen) Eingang in die Alltagssprache.65
Das „Oberflächennetz“ oder „kulturelle Deutungsmuster, das wir heute
Sexualität nennen, [hatte] sich im 18. Jahrhundert noch nicht zu einem gradlinigen
System entwickelt [...].“66 Im Zuge der sogenannten „wissenschaftlichen Revolution“,
die bekanntermaßen das menschliche Denken nachhaltig veränderte, indem die
Natur zur totalen Erklärungsgrundlage avancierte, konnte sich das Bedeutungssystem
Sexualität in der und für die Biologie, Medizin, Anthropologie und Pädagogik
entfalten.

3.3 Blumige Ehebetten: Carl Linnés Systema naturae

Vielfach wird in der wissenschaftsgeschichtlichen Literatur das erste


Auftauchen des Sexualitätbegriffs mit dem Biologen Carl Linné in Zusammenhang
gebracht.67 Die von Carl Linné in seiner 1735 erschienenen „Systema naturae“
entwickelte Pflanzensystematik nach Geschlechtsmerkmalen, dem Methodus sexualis,
bildete (und bildet bis heute noch) die Grundlage der modernen botanischen

62 Ebenda, S. 62.
63 EDER, Kultur der Begierde, S. 14.
64 Vgl. dazu: LORENZ, Leibhaftige Vergangenheit, S. 33.
65 EDER, Kultur der Begierde, S. 15.
66 HULL, „Sexualität“ und bürgerliche Gesellschaft, S. 62.
67 Vgl. dazu z.B.: E DER, Kultur der Begierde, S. 15; Gert HEKMA, A History of Sexology: Social and

Historical Aspects of Sexuality, S. 173. In: Jan BREMMER (Hg.), From Sappho to De Sade: Moments
in the History of Sexuality, S. 173-193; HULL, „Sexualität“ und bürgerliche Gesellschaft, S.64.
28

Taxonomie. Basis seiner Klassifikation waren die pflanzlichen Geschlechtsorgane,


nach deren Verteilung, Zahl und Verwachsung er die Gliederung organisierte. Er
zielte damit eigentlich primär nicht auf die grundlegenden Sexualfunktionen ab,
sondern vielmehr auf strukturelle, morphologische Bestimmungsmerkmale. Linné
selbst bezeichnete sein System als „künstlich“– eine Feststellung, die vor der Folie
der im 18. Jahrhundert geführten Systematisierungsdebatten gelesen werden muss.68
Denn erst im ausgehenden 17. Jahrhundert wurde „entdeckt“ und wissenschaftlich
belegt, dass sich Pflanzen überhaupt geschlechtlich fortpflanzen.
Das interessante Moment an der Linnéschen Klassifikation ist aber vor allem
die Aufwertung der als männlich geltenden Pflanzenteile sowie die Sexualisierung der
Fachsprache. Denn während noch eine heiße Debatte um die Brauchbarkeit einer
durch die Geschlechtlichkeit bestimmten Taxonomie geführt wurde69, wurden die
Linnéschen Pflanzenteile zu „Ehemann“ („aner“) und „Ehefrau“ („gyne“) und der
Schlüssel zum Sexualsystem beruhte auf der „nuptiae plantarum“, also der
„Vermählung der Pflanzen“. Es gab „öffentliche“ („publicae“) und „heimliche“
(„clandestinae“) Eheschliessungen von Vegetabilien, und in Analogien und Metaphern
wurden Pflanzen zu erotischen Geschöpfen:

„Die Blütenblätter [...] dienen als Brautbett, das der Schöpfer so glorreich
hergerichtet, mit den feinsten Bettvorhängen geschmückt und mit vielen zarten
Wohlgerüchen erfüllt hat, damit Bräutigam und Braut ihre Hochzeit dort besonders prächtig
feiern können. Ist nun das Lager dergestalt bereitet, wird es Zeit, daß der Bräutigam seine
geliebte Braut umfängt und ihr seine Geschenke macht.“70

Diese (Hetero-)Sexualisierung der wissenschaftlichen Sprache mag bei Linné


selbst der praktischen Veranschaulichung und Vereinfachung gedient haben (für die
er ja schließlich so berühmt wurde). Sie zeigt aber vor allem eines: Geschlecht und
Geschlechtlichkeit sollten im angehenden Zeitalter der Klassifikationen eine

68 Londa SCHIEBINGER, Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der
Wissenschaft, Stuttgart 1995, 30f.
69 Vor allem in Frankreich erfuhr die Linné´sche Systematisierung eher Ablehnung. Die Brüder Jussieu

interessierten sich nicht für sein „künstliches“ System, sondern hielten vielmehr an der Entwicklung
eines „natürlichen“ Systems fest. Auch Comte de Buffon war ein Kritiker. Er machte sich über die
Systematisierung lustig, da es von so kleinen und belanglosen Merkmalen abhänge, dass der Forscher
bei seiner Arbeit in der Natur ein Mikroskop bei sich tragen müsse, um eine Pflanze bestimmen zu
können. In England hingegen wurde das Sexualsystem bereitwillig aufgenommen. SCHIEBINGER, Am
Busen der Natur, S. 50f.
70 LINNAEUS, Praeludia sponsalorium plantarum, Abschnitt 16. Zit. nach: SCHIEBINGER, Am Busen

der Natur, S. 42. Vgl. auch dazu ebd. v.a. das Kapitel „Zum Gebrauch der Metapher in der
Wissenschaft“ 43-49.
29

wesentliche Rolle in den Wissenschaften spielen und damit den fundamentalen und
ursprünglichen Geschlechtsgegensatz zwischen „männlich“ und „weiblich“, im
(Pflanzen-)Körper festmachen. An der von Linné blumig umspielten „Nahtstelle“, an
der sich die „‚gender‘-Differenz mit einer Biologie und einer Medizin des Sexes
kurzschließen würde [...], errichtet die scientia sexualis ihre normierende Wirkung.“ 71
Eine Entwicklung, vor der eben auch Pflanzen nicht gefeit waren und bisweilen zu
Linnés Zeit noch zu moralischen Diskussionen über die Anstößigkeit der von
sozialgeschlechtlichen Elementen durchsetzten Phytographie führte.72

So wenig Linnés Pflanzenbestimmungen mit dem Sexualitätsdiskurs des 19.


und 20. Jahrhunderts zusammenzuhängen scheinen, können doch drei wesentliche
erkenntnistheoretische Prämissen der sich zur Universalwissenschaft
aufschwingenden Anthropologie schon bei ihm festgemacht werden: das Prinzip der
Analogie, die Bedeutung des Augenscheins (Beobachtung und
Sinneswahrnehmung/Empirie) sowie das Primat der vergleichenden Betrachtung
(Differenz).73 Die Verbindung dieser drei Elemente – die sich vor allem im
folgeschweren Geschlechterdifferenzdiskurs manifestieren sollte, der bei Linné noch
recht verblümt daherkommt – legte die Basis der sich etablierenden sogenannten
Wissenschaften vom Menschen und damit einhergehenden Ausformulierung von
den Körpergeschlechtern und ihrer Sexualität. Denn „[e]rst die Wissenschaft, die den
Körper zum Forschungsgegenstand erhebt, wird die Geschlechtsmerkmale
definieren und zur Konstruktion zweier polarer Körpergeschlechter, die im
kulturellen Bereich ihre Entsprechung haben, heranziehen.“74

71 VOGL, Geschlecht ohne Ort, S. 37.


72 Beispiele für empörte zeitgenössische Reaktionen sind nachzulesen bei: Thomas LAQUEUR, Auf den
Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main
1992, S. 97; sowie SCHIEBINGER, Am Busen der Natur, S. 53.
73 Claudia HONEGGER, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das

Weib, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 108.


74 Sabine S TEIGER, Die Wahrheit der Natur. Zur Konstruktion der wissenschaftlichen Tatsache

„Frau“ durch die Medizin, Dipl.-Arbeit Univ. Wien 1997, S. 14.


30

4 Schnitts tellen der Sexualität: Plurale Körpe r in


Wissenschaft und Politik

„Im Folgenden wird unter ‚Körpergeschichte’ die


Historisierung des und dies bedeutet der pluralen Körper in der
Geschichte der Menschheit begriffen. Der physische Körper wird
nicht als monolithische anthropologische Konstante verstanden, die
nur durch die Brille [...] der modernen Biowissenschaften erkannt
werden kann.. Körper – und dies bestätigt seine in vielen
Sprachen multiple Bedeutung und Benennung – kann nur im
Spektrum seiner sich wandelnden und teilweise gleichzeitig
miteinander konkurrierenden Definitionen beschrieben und
interpretiert werden.“75

4.1 Anthropologie und Lebenswissenschaften: Geschlechtskörper –


Körpergeschlechter

Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein war das bedeutsame
Zusammendenken anatomischer Elemente, biologischer Funktionen, Empfindungen
und Lüste unmöglich. Im abendländischen Raum wurde die sexuelle Differenz noch
in Form der Galenschen Säftelehre konstruiert, in der der Geschlechtsunterschied
kosmischen Prinzipien unterlag. Die vier Elemente des Universums (Temperamente)
waren dabei auf Männer (heiß/trocken) und Frauen (kalt/feucht) aufgeteilt, wobei
diese nicht gegensätzlich, sondern graduell gedacht wurden. In diesem Modell
fungierten Frauen mit ihren nach innen gestülpten Penissen als „mangelhafte
Männer“ und stellten damit die unvollkommeneren Teile des Menschengeschlechts
dar.76 Die Augenscheinlichkeit der anatomischen und physiologischen Unterschiede
war dabei jedoch nicht sinnkonstituierend. So wurden etwa Blutflüsse bei Männern
oftmals analog zur heute eindeutig den Frauen zugeordenten Menstruation gesehen.
Auch die Milchbildungsfähigkeit der Brüste und damit das Stillen waren bis ins frühe
18. Jahrhundert noch nicht ausschließlich den Frauen vorbehalten.77

75 LORENZ, Leibhaftige Vergangenheit, 10f.


76 „Die Frau ist weniger vollkommen als der Mann aus nur einem, aber wesentlichen Grund – weil sie
kälter ist.“ „Betrachte zunächst einen beliebigen Teil, wende ihn bei der Frau nach außen, wende den
des Mannes nach innen und falte ihn doppelt, und du wirst sie bei beiden in jeder Hinsicht gleich
finden.“ G ALEN, Opera Omnia, Bd. IV, Lib. XIV, Cap. VI. Zit. nach: Nancy TUANA, Der schwächere
Samen. Androzentrismus in der Aristotelischen Zeugungstheorie und der Galenschen Anatomie, S.
212f. In: Barbara ORLAND/Elvira SCHEICH, Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur
Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften, Frankfurt am Main 1995, S. 203-223.
77 DUDEN, Geschichte unter der Haut, S. 136f.
31

„Die Grenzen zwischen Mann und Frau sind dabei [im Ein-Geschlecht-Modell] in
erster Linie politische; rhetorische Aussagen über geschlechtliche Verschiedenheit und
sexuelle Lust haben Vorrang vor biologischen. Es geht um einen Körper, dessen Säfte –
Blut, Same, Milch und die verschiedenen Exkremente – insoweit fungibel sind, als sie sich
ineinander verwandeln, und dessen Prozesse – Verdauung und Fortpflanzung, Menstruation
und sonstige Blutungen – nicht so leicht voneinander zu unterscheiden oder dem einem oder
anderen Geschlecht zuzuschreiben sind, wie es nach dem 18. Jahrhundert mit ihnen
geschah.“78

Die Transformation vom antiken Ein-Geschlecht-Modell zum modernen


Zwei-Geschlechter-Modell findet im Zuge der bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaftsformation statt, in der das Verständnis von Geschlecht und
Geschlechtskörper weitgehend neu formuliert wurde. Philipp Sarasin sieht in der
Verschiebung vom Konzept der Temperamente hin zum bipolaren
Geschlechterdualismus „ein sehr spezielles Gepräge“:

„Denn aus dem vierpoligen Differenzmuster kristallisierte sich ein neues Muster von
Gegensätzen heraus, das mit der Geschlechterdifferenz zusammenfiel, sich mit
Konstruktionen sozialer und rassistischer Differenz verband und am sozialdarwinistisch
aufgeladenen Begriff der »erblichen Konstitution« festhielt: Die vielfältigen galenischen
Differenzen wurden zu moderenen Antagonismen.“79

Thomas Laqueur beschreibt den „Zusammenbruch des Ein-Geschlecht-


Modells“ und seine Ablösung durch die Geschlechterdichotomie als
80
„erkenntnistheoretische oder sozio-politische Revolution“ und denkt dabei wohl
auch daran, dass diese letztendlich auch Teil jener Umwälzungen war, die zur
Französischen Revolution führten. Wenn alle Menschen gleich sind – warum dann
nicht auch die Frauen? Auf diese problematische Fragestellung mussten Antworten
gesucht werden, oder „[a]nders gesagt, man erfand zwei biologische Geschlechter,
um den sozialen eine neue Grundlage zu geben.“81
Am Definitionsbegriff des „Menschen“ setzt Claudia Honegger ihre Studie
an, in der sie sich mit der Herausbildung der Anthropologie und der damit
verbundenen Verlagerung der Geschlechterdifferenz in die Natur beschäftigt. Mit der
Aufklärung betritt „der Mensch“ den politischen und wissenschaftlichen „Plan; kurz
darauf folgt ihm aber das Weib und damit das vertrackte Problem mit dem

78 LAQUEUR, Auf den Leib geschrieben, S. 33.


79 Philipp SARASIN, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main
2001, S. 186.
80 LAQUEUR, Auf den Leib geschrieben, S. 34.
81 Ebenda, S. 173.
32

Geschlecht.“82 Im „Buch der Natur“ mussten nun eindeutige Unterschiede gefunden


werden, um den politischen Ausschluss von Frauen im Lichte der revolutionären
Forderungen argumentieren und garantieren zu können. Die sozialen Rollen der
Geschlechter wurden durch die Herausbildung einer weiblichen Sonderanthropologie
naturalisiert und so in den weiblichen Geschlechtskörper eingeschrieben.83 Mithin
wird der Mann zum Menschen, der im Zuge der sich im 18. und 19. Jahrhundert
ausdifferenzierenden Humanwissenschaften generalisiert wird. Die Frau hingegen
wird zum Studienobjekt der verschiedenen Teildisziplinen, in denen ihr Körper bis
ins Gewebe hinein vermessen und gewogen wird, um so feststellen zu können, dass
dieser in jedem seiner Elemente von der männlichen Norm abweicht. Die
Schlüsselrolle bei diesen Bestimmungen spielt die Medizin und dabei vor allem die
vergleichende Anatomie.
Honeggers Darstellung der Geschlechterdebatten zeigt auch, dass die
Konstituierung des Geschlechterdualismus keineswegs unumstritten oder
unausweichlich war, sondern durchaus Gegenpositionen existierten. Diese wurden
allerdings einem Verdrängungsprozeß unterworfen. Der grundsätzliche Widerspruch
im Gebäude der Aufklärung, die „dem Menschen“ Individualität, persönliche
Autonomie und politische Handlungsfähigkeit zusprach, zugleich aber „dem Weib“
Kraft der Abweichung ihres Körpers von der (männlichen) Norm gerade diese nicht
zugestand, blieb nicht unkommentiert, setzte sich aber um 1850 mit dem Enstehen
der Gynäkologie letztlich durch.
Barbara Duden zufolge bekommt im Zuge dieser Transformation das
Geschlecht der Frau einen körperlichen Ort: den „anatomisch anderen Körper [...]:
die inverse Entsprechung von Mann und Frau weicht sehr langsam einem Begriff der
physiologischen Differenz, in dem die Frau als physiologisch zur Mutterschaft
bestimmtes Wesen neu gesehen und ‚aufgewertet’ wird.“84 Dieses „Wesen der Frau“
wird infolgedessen besonders in einem geschlechtsfunktionalen Zusammenhang
gesehen und damit „natürlich“ in den reproduktiven Bereich gedrängt.

82 Ebenda, S. 6. (Kursivsetzung im Original.)


83 Ein weiterer Schritt in Richtung einer weiblichen Sonderanthropologie ist der Siegeszug der
vergleichenden Anatomie, die nicht nur im Bezug auf „das Weib“, sondern auch auf „den Wilden“,
„den Kranken“ und „den Irren“ etc. ihre Fähigkeit zur Konstituierung von Norm und Abweichung
unter Beweis gestellt hat.
84 DUDEN, Geschichte unter der Haut, S. 56.
33

Die vorgestellte Bipolarisierung der Geschlechter, deren Charaktere und


Bestimmungen für das gesellschaftliche Leben, wurde, wie beschrieben, in
anthropologischen, medizinischen und politischen, aber auch in philosophischen und
juridischen Diskursen vorangetrieben. In Verbindung mit der Beschäftigung mit der
„Natur“ der menschlichen Geschlechtlichkeit war unter diesen Vorzeichen „die
Vorstellung von ‚der Sexualität’ [...] geboren“.85

4.2 Biomacht und Biopolitik: Verwaltete Körper

„Nach der Anatomie-Politik des menschlichen


Körpers, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbreitete,
sehen wir am Ende dieses Jahrhunderts etwas auftreten, das
keine Anatomie-Politik des menschlichen Köpers mehr ist,
sondern etwas, das ich als ‚Bio-Politik’ der menschlichen
Gattung bezeichnen würde.“86

Die Verwissenschaftlichung des sexualisierten Körpers war Teil der sich ab


dem 18. Jahrhundert formierenden Bio-Politik. Foucault hat gezeigt, dass die
Diskurse in bestimmte – legitime und illegitime – Formen des sexuellen Ausdrucks
kanalisierten. Dabei waren diese Diskurse von vier prinzipiellen strategischen
Konzepten umgeben: Der Hysterisierung des Frauenkörpers, der Pädagogik des
kindlichen Sexes, der Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens und der
Psychiatrierung der perversen Lust. Aus diesen vier strategischen Ensembles traten
vier korrespondierende Figuren hervor: Die hysterische Frau, das masturbierende
Kind, das malthusianische Paar und der erwachsene Perverse.
Waren die „hysterische Frau“, das „onanierende Kind“ oder „der
Homosexuelle“ im 17. Jahrhundert noch Anomalien, die es individuell zu „heilen“
galt und an deren perversen Körpern Disziplinartechniken wie etwa die Schule, das
Gefängnis oder die Klinik angewandt wurden, so richtete sich im Laufe des 18.
Jahrhunderts der Blick auch noch auf einen anderen „Körper“:
Im Zuge der sich zunehmend nationalstaatlich orientierenden Politik in
Europa gelangte die Frage der „Bevölkerung“ zunehmend in den Brennpunkt des
Interesses. Mit der Untersuchung der Geburten- und Sterberaten sowie der

85 Gert DRESSEL/Werner LAUSECKER, Das „Gesetz der Natur“ – Die Konstruktion bürgerlicher
Sexualitäten im Spannungsfeld von Körper und „Volkskörper“, S. 107. In : Elisabeth VAVRA (Hg.),
Familie, Horn 1993, S. 105-121.
86 FOUCAULT, In Verteidigung, S. 286.
34

Kindersterblichkeit glaubte man Antworten darauf zu bekommen, an was der


Bevölkerungskörper „krankte“, und erhoffte sich durch regulatorische Maßnahmen
das „Problem der Masse“ in den Griff zu bekommen. Die Bio-Politik konstituierte
einen neuen Körper, auf dem sie ihre Machtmechanismen austragen konnte: Zum
individuellen Körper und dem Gesellschaftskörper (der durch den Vertrag der
Individuen zustande kommt) kam ein „neuer Körper: ein multipler Körper mit
zahlreichen Köpfen, der, wenn nicht unendlich, zumindest nicht zwangsläufig
zählbar ist. Es geht um das Konzept der ‚Bevölkerung’.“87 Michel Foucault hat für
diese „Zugriffe der Macht“ auf den Körper des Einzelnen und der Bevölkerung, die
sich hauptsächlich des Sexes bedienen, den Begriff der „Bio-Macht“ bzw. der „Bio-
Politik“ geprägt:

„Die Bio-Politik hat es mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem
Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem und
Machtproblem zu tun [...].“88

Die „Bevölkerung“ stellte somit gleichzeitig ein Wissensobjekt und die


Zielscheibe biopolitischer Kontrolle dar. Dass in dieser Konstellation Sexualität ein
Bereich wurde, dessen strategische Bedeutung vor allem im politischen Feld immer
größer wurde, ist naheliegend:

„Wenn die Sexualität wichtig war, dann aus verschiedenen Gründen, vor allem aber
aus folgenden: Einerseits ergibt sich die Sexualität als körperliches Verhalten aus einer
individualisierenden Disziplinarkontrolle in der Form permanenter Überwachung [...];
daneben fügt sich die Sexualität dank ihrer Fortpflanzungseffekte gleichzeitig in die
umfassenden biologischen Prozesse ein, die nicht mehr den Körper des Individuums,
sondern jenes Element, jene mulitple Einheit betreffen, die die Bevölkerung ist. Die
Sexualität befindet sich an der Kreuzung von Körper und Bevölkerung.“89

Genau an dieser „Kreuzung“ von der Vorstellung des „Körper“ und dem
Konzept der „Bevölkerung“, setzte auch die, sich der Sexualität bedienende,
anarchistische Politik in Spanien an, die zwischen individualistischen und
kollektivistischen Gesellschaftsvorstellungen oszilierte.

87 Ebenda, S. 289.
88 Ebenda, S. 289.
89 Ebenda, S. 297.
35

4.3 Degeneration: Der kranke Bevölkerungskörper

Auch die medizinische Aufwertung der Sexualität im 19. Jahrhundert hängt


mit eben dieser Position zwischen Organismus und Bevölkerung zusammen. In der
Logik der Bio-Politik brachte Sexualität zwei Arten von Wirkungen hervor, wenn sie
undiszipliniert und unregelmäßig ausgeübt würde:

„einerseits auf den Körper, den undisziplinierten Körper, der unmittelbar von allen
Krankheiten ereilt wird, die sexuelle Ausschweifung nach sich zieht. [...] Zugleich hat eine
ausschweifende, pervertierte Sexualität Auswirkungen auf der Ebene der Bevölkerung, da
man von dem sexuell Ausschweifenden annimmt, daß sein Erbgut, seine
Nachkommenschaft ihrerseits beeinträchtigt sein werden, und das über Generationen
hinweg bis ins siebente Glied und ins siebte des siebenten Glieds. Es handelt sich um die
Theorie der Degeneration. Die Sexualität, insofern sie ein Herd individueller Krankheiten
und andererseits der Kern der Degeneration ist, repräsentiert genau diesen
Verbindungspunkt des Disziplinären und Regulatorischen, des Körpers und der
Bevölkerung.“90

1755 führte Jean-Jaques Rousseau die Verwendung des


Degenerationsterminus ein, der viele Elemente des späteren Gebrauchs – und dabei
vor allem im Zusammenhang mit der Eugenik – bereits vorwegnahm. Er beschrieb
mit dem Begriff der „Degeneration“ die zwangsläufigen Folgen der Zivilisation: Der
Mensch wäre in seinem Naturzustand im Gleichgewicht. Durch die Ausweitung
seiner Bedürfnisse, den Müßiggang und der feineren Ernährung der Reichen, sowie
die gleichzeitige Überarbeitung und mangelhafte Ernährung der Armen etc., verlasse
er diesen Naturzustand. Im Zuge dieses Eintritts in die Zivilisation unterläge der
Mensch einer moralischen wie psychischen „Degeneration“91. Damit führte Rousseau
das aufklärerische Postulat der menschlichen Vervollkommnung insofern ad
absurdum, als dass er es als Ursprung des menschlichen Unglücks beschrieb.92
1766 griff George Buffon in der „Histoire naturelle“ den Begriff auf. Er
beschrieb im Kapitel „De la dégénération des animaux“ die Auswirkungen der äußeren
Lebensumstände auf die Variation der Tierarten und verwendete „Degeneration“ als
Synonym für „absteigende Deszendenz“. Schon zu dieser Zeit wurde der

90 Ebenda, S. 297f.
91 Synonym zum Ausdruck „dégénération“ wurde von Rousseau auch der Begriff „dépravation“
verwendet, der dasselbe Phänomen bezeichnet.
92 Peter WEINGART/Jürgen KROLL/Kurt BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik

und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1992, S. 43.


36

Degenerationsbegriff nicht nur als biologischer Fachbegriff, sondern auch als


politischer und gesellschaftskritischer Terminus verwendet.93
Die kultur- und zivilisationskritischen Strömungen des 19. Jahrhunderts
beriefen sich vor allem auf die Kultur- und Gesellschaftsphilosophie Rousseaus.
Bereits zu Anfang des Jahrhunderts waren drei inhaltliche Komponenten des
Degenerationsbegriffs ausgebildet, die für Vererbungslehren bis hin zum eugenischen
Diskurs zentral werden sollten und auf den erkenntnistheoretischen Elementen
basierten, die in diesem Kapitel schon beschrieben wurden:

- Die körperliche Degeneration des domestizierten Menschen,


basierend auf dem Topos des von Rousseau vorgenommenen
Vergleichs des zivilisierten Menschen mit dem domestizierten Tier.
- Die Wahrnehmung des Menschen als Naturwesen, der den
Naturgesetzen unterworfen ist.
- Die Idee der Vererbung: Degenerative Merkmale werden von
Generation zu Generation weitergegeben. Somit wird die
Akkumulation von Krankheiten und Defekten denkbar.

Die Unterwerfung des menschlichen Lebens unter die Gesetzmäßigkeiten der


Natur bezeichnet Michel Foucault als „Verstaatlichung des Biologischen“, als die
„Machtergreifung über den Menschen als Lebewesen“94, und stellt sie als
grundlegendes Phänomen des 19. Jahrhunderts dar.
Das politische Moment der Degenerationstheorien zeigt sich vor allem daran,
dass diese ab dem 19. Jahrhundert in staalichen wie nichtstaalichen politischen
Organisationen oftmals der Ausgangspunkt für politische Lösungsansätze bzw. die
Diskussionsbasis für die jeweilige Sozialpolitik waren. Unterschiede in der politischen
Ausrichtung der Diskussionsparteien zeigten sich hier nicht daran, ob die
Degeneration als gültige oder ungültige Theorie anzusehen wäre, sondern
ausschließlich daran, wie sie interpretiert wurde und welche Maßnahmen in welcher
Form zu setzen wären. Die Degeneration als Produkt einer falschen und kranken
Sexualität bedrohte linke wie rechte, konservative wie liberale, reaktionäre wie
revolutionäre Kräfte gleichermaßen und nahm deren Aufmerksamkeit in Beschlag.

93 WEINGART/KROLL/BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, S. 42.


94 FOUCAULT, In Verteidigung, S. 282.
37

Einzig Ursachen und Auswege aus dem Problem der „Deszendenz“ unterschieden
sich je nach politischer Ideologie und Ausrichtung zum Teil eklatant und bildeten
verschiedene Schulen.95 Die jeweiligen Lösungsansätze waren dabei stets mit der
darwinistischen Evolutions- und Selektionstheorie verbunden. „Die Selektionstheorie
wird zum politischen Deutungsmuster, indem sie auf die zentralen, durch die
Industrialisierung entstandenen gesellschaftlichen Probleme des ausgehenden 19.
Jahrhunderts angewandt wird.“96
Gleich war jedoch allen, dass die Diskussion um die Degeneration Grundlage
des eugenischen Diskurses wurde, der in sich selbst zwar auch verschiedene Linien
besaß, aber im Ganzen ein gemeinsames Ziel hatte: Die Gesellschaft und ihr
Bevölkerungskörper sollte durch Eingriffe in die Fortpflanzung gesunden und damit
der drohende Verfall verhindert bzw. eine „Höherentwicklung“ der menschlichen
Gattung erreicht werden.

Eine Verwissenschaftlichung der Sexualität im 19. Jahrhunderts kann nur im


Zusammenhang mit den Transformationen im Zeitalter der Aufklärung und der
damit verbundenen Sexualisierung der Wissenschaften verstanden werden. Denn mit
dem Tod der göttlichen Ordnung und dem rollenden Kopf des Königs musste eine
neue Wissens- und Gesetzesordnung geschaffen werden. „Alle die komplexen Wege,
auf denen Ähnlichkeiten von Körpern und zwischen Körpern und dem Kosmos eine
hierarchische Weltordnung bestätigten, wurden auf eine einzige Ebene reduziert: die
Natur.“97 Das biologische Geschlecht avancierte zu der Kategorie, mit der „das
Natürliche“ und „das Soziale“ erst differenziert und produziert werden konnten –
wobei Ersteres „natürlich“ die Grundlage von Zweiterem wurde. Wenn „die
Gesellschaft“ als Repräsentation des Biologischen fungiert, dann ist es nicht
verwunderlich, wenn (nicht nur) bei politisch-ideologischen Debatten und Kämpfen
der Rückgriff auf die „Wahrheit der Natur“ gang und gebe ist und ihr wesentlicher
„Kern“ – die „Sexualität“ – zum umstrittenen (und sich anzueignenden) Objekt wird.
Unter diesen Voraussetzungen und Vor-Zeichen sind auch jene Debatten um
Sexualität zu sehen, die in den anarchistischen Medien Spaniens in den 1920er und
1930er Jahren buchstabiert wurden.

95 Vgl. Kap. 5.3.2 Neomalthusianismus.


96 WEINGART/KROLL/BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, S. 18.
97 LAQUEUR, Auf den Leib geschrieben, S. 174.
38

5 Anarchismus, Sexualität und Geschlechterde batte

5.1 Vom anarchistischen Leben: Befreiende Wissenschaft und befreite


Sexualität

„Der systematische und sichere Fortschritt der


Menschheit kann nicht verwirklicht werden solange man
nicht versteht, dass einzig die Wissenschaft eine wahrhaftige
Revolution bedeutet.“98

5.1.1 Staatliche Unterdrückung und individuelle Befreiung


Im anarchistischen Diskurs im Allgemeinen sowie speziell in den für diese
Arbeit untersuchten Zeitschriften ist permanent und buchstäblich die Rede von
„Unterdrückung“: sei es angesichts von Zensur oder hinsichtlich der allgemeinen
politischen Zustände, sei es in Bezug auf die verschiedenen Institutionen des Staates,
der Kirche und der Bürokratie oder sei es eben auch aufgrund der herrschenden
Gesetze.
Schon der anarchistische Vordenker Pierre Proudhon99 beschrieb im 19.
Jahrhundert eindringlich und detailliert, wie sich die staatliche Unterdrückung mit
ihrem institutionellen Überbau manifestiert:

„Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert,
dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt,
kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die
weder das Recht noch das Wissen noch die Kraft dazu haben ... Regiert sein heißt, bei jeder
Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfaßt, taxiert,
gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizensiert, autorisiert, befürwortet,
ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden. Es heißt, unter dem
Vorwand der öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt,
verwaltet, geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepreßt, getäuscht,
bestohlen zu werden; schließlich, bei dem geringsten Widerstand, beim ersten Wort der
Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt, mißhandelt, zu Boden

98 „El progreso sistemático y seguro de la humanidad no puede hacerse en tanto no se comprenda que
únicamente la ciencia significa la verdadera revolución“ G.J. NICOLAI, Ciencia y Revolución, EST, 86,
Oktober 1930.
99 Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), *1809 in Besançon/Frankreich, Ausbildung zum Schriftsetzer.

1840 entwickelt er in seinem Aufsatz „Was ist Eigentum?“ ein eigenes Gesellschaftsmodell und
prangert die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse radikal an. 1849 gründet er eine
Tauschbank mit dem Ziel, den Zwischenhandel und das Zinswesen auszuschalten. Proudhon wurde
mehrmals wegen seiner Aussagen und Veröffentlichungen zu Gefängnisstrafen verurteilt, emigrierte
nach Belgien, wurde dort nach einiger Zeit wieder ausgewiesen und kehrte 1860 nach Paris zurück, wo
er bis zu seinem Tod 1865 noch einige Bücher veröffentlichte. Er gilt neben William Godwin als
Urheber der anarchistischen Theorie, da er als erster den Leitbegriff der Freiheit mit der
sozialistischen Idee verband. Vgl. dazu: Silke LOHSCHELDER, AnarchaFeminismus. Auf den Spuren
einer Utopie, Münster 2000, S. 16f.
39

geschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt, füsiliert, beschossen, verurteilt, verdammt,


deportiert, geopfert, verkauft, verraten und obendrein verhöhnt, gehänselt, beschimpft und
entehrt zu werden. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral [...].“100

In der anarchistischen Auffassung mutierte zuweilen der moderne bürgerliche


Staat zum entmenschlichten Souverän, der den „alten“ König des absolutistischen
Staates als „armselige[n] Monarch[en]“101 erscheinen ließ. Da der bürgerliche Staat
jedoch bis zu einem gewissen Grad Partizipation zuließ, war diese Argumentation
sehr ambivalent und wurde deshalb auch kritisch diskutiert und immer wieder von
verschiedenen SprecherInnen abgeschwächt bzw. zurückgenommen. Die Republik
wurde gegenüber der Monarchie letztendlich als „bessere Herrschaftsform“ bewertet
– dass aber jedwede staatliche Regierung auf dem Prinzip der Herrschaft und
Unterdrückung basiere, blieb immer wichtigste Grundannahme des anarchistischen
Denkens.102
Dieser Unterdrückung entgegengesetzt wurde das „Individuum“, welches
sich durch die (Selbst-)Erkenntnis seiner Lage der gesellschaftlichen Repression
erwehren könnte und die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten im Stande wäre.103
Stärker als im Marxismus wurde im Anarchismus ein kultureller Wechsel durch die
Verbreitung libertärer Werte – einschließlich der „sexuellen Befreiung“ – verfolgt
und es wurde angenommen, dass dieser Wechsel zumindest teilweise auch innerhalb
des kapitalistischen Systems erreichbar wäre. Schon jetzt könne sich das Individuum
durch Bildung und durch die Aneignung des „revolutionären Werkzeugs“ der Kultur
emanzipieren.104 Schon die radikal-individualistische Philosophie Max Stirners105

100 Pierre-Joseph Proudhon, zit. nach: Daniel G UÉRIN, Anarchismus. Begriff und Praxis, Frankfurt am
Main 1967, S. 17f.
101 Max Stirner, zit. nach: GUÉRIN, Anarchismus, S. 19.
102 GUÉRIN, Anarchismus, S. 19f.
103 Im Anschluss an dieses anarchistische Grundprinzip ist jedoch die Gewichtung der Rolle des

Individuums sehr unterschiedlich bewertet worden und stand immer in einem Spannungsverhältnis
zur „revolutionären Masse“ und zum Kollektiv. Vgl. dazu: Hans DIEFENBACHER (Hg.), Anarchismus.
Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, Darmstadt 1996, S. 11; GUÉRIN,
Anarchismus, S. 29-40.
104 Richard CLEMINSON, „Science and Sympathy“ or „Sexual Subversion on a Human Basis“?

Anarchists in Spain and the World League for Sexual Reform, S. 112. In: Journal of the History of
Sexuality, Jänner 2003, Vol. 12, Nr. 1, S. 110-121.
105 Max Stirner (1806-1856) alias Johann Caspar Schmidt, Philosoph, vor allem bekannt geworden für

sein 1845 erschienenes Buch „Der Einzige und sein Eigentum“. Die Publikation zog kurzzeitig eine
aufgeregte Debatte nach sich, in die sich auch der Stirner-Gegner Karl Marx mit einer Gegenschrift
einschaltete. Langfristig gesehen wurde Stirner außer in den Kreisen des russischen Anarchismus und
Nihilismus kaum rezipiert. Viele bekannte AnarchistInnen distanzierten sich von den Positionen
Stirners, der sich selbst nie als Anarchist bezeichnet hatte. In „Der Einzige und sein Eigentum“ wird
jedoch eine der extremsten Individualismus-Theorien dargestellt, die Friedrich Nietzsche dazu bewog
40

verknüpfte die Forderung nach der Selbstbefreiung des Individuums mit einer
Kampfansage an die „christliche Sexualmoral“.106
Diese Verbindung wurde im spanischen Anarchismusdiskurs besonders
hervorgehoben, was sicherlich auch mit der Dominanz der katholischen Kirche über
fast alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens sowie ihrer extrem
ausgeformten Verquickung mit der staatlichen Macht zusammenhängt, die sich –
aller leisen Modernisierungstendenzen zum Trotz – lange erhalten konnte. Die als
„christlich“ oder „bürgerlich“ bezeichnete Moral bzw. Sittlichkeit wurde in der
anarchistischen Kritik als eigentlich herrschende „Unmoral“ entlarvt, die es durch
Aufklärung und rationale Erkenntnisgewinnung zu überwinden galt. Die „wahre“
Moral im Sinne eines Verantwortungsbewusstseins beanspruchten in der Folge die
anarchistischen AutorInnen für sich selbst bzw. setzten sie sich mit der Problematik
des Begriffs auseinander. So erscheint es nicht überraschend, dass „die Moral“ zu
einem Schlüsselbegriff im Rahmen der anarchistischen Sexualitätsdebatten werden
sollte.

5.1.2 Wissenschaft und Lebensorganisation


Von Anfang an war der Begriff des Anarchismus mit negativen
Zuschreibungen wie denen der Gewalttätigkeit, der Unordnung und der Irrationalität
behaftet. So meinte zum Beispiel der Philosoph Bertrand Russell im Jahr 1918, dass
„[n]ach volkstümlicher Ansicht [...] ein Anarchist jemand [ist], der Bomben wirft und
andere Greueltaten begeht, entweder weil er mehr oder weniger geistesgestört ist
oder weil er extreme politische Ansichten als Vorwand für kriminelle Neigungen
benutzt.“107 Proudhon hatte, um diese Zuschreibungen wissend, sich selbst als
„Anarchist“ bezeichnet bzw. versucht, eine positive Neudefinition des Begriffs als
„herrschaftsfreie Ordnung“ zu etablieren.108

Stirner als den kühnsten Denker seit Hobbes zu bezeichnen. Vgl. hierzu: Hans FENKSE/Dieter
MERTENS/Wolfgang REINHARD/Klaus ROSEN (Hg.), Geschichte der politischen Ideen. Von Homer
bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1987, S. 458; G UÉRIN, Anarchismus, S. 29f; Enno RUDOLPH,
Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt. Der Einzelne als Eigener seiner selbst bei Max Stirner. In:
DIEFENBACHER (Hg.), Anarchismus, S. 24-33; http://www.lsr-projekt.de/mslex.html (7.11.2005).
106 GUÉRIN, Anarchismus, S. 31.
107 Bertrand R USSELL, Roads to Freedom: Socialism, Anarchism, and Syndicalism, London 1918, S. 49.

Zit. nach: Erwin OBERLÄNDER (Hg.), Der Anarchismus. Dokumente der Weltrevolution, Bd. 4,
Freiburg im Breisgau 1972, S. 7.
108 OBERLÄNDER, Anarchismus, S. 11f. Dass der Versuch, die „volkstümliche“ Auffassung in diese

Richtung zu verändern, misslungen ist, zeigten jüngst die Berichterstattung und die politische Reaktion
41

Das anarchistische Modell, soziale Organisation wissenschaftlich zu


begründen, kann nicht zuletzt als der Versuch gelesen werden, dem negativen
Diskurs seiner Gegner entgegenzuwirken. Da dieser Ansatz zudem in hohem Grade
mit der Forderung nach Aufklärung und dem Postulat der Rationalität in Einklang
steht, kann der „wissenschaftliche Anarchismus“, wie ihn Peter Kropotkin als Erster
entwarf, als eines der Grundkonzepte des Anarchismus gelten.109
Um das anarchistische Gesellschaftsprinzip auf ein wissenschaftliches
Fundament zu stellen, wandte Kropotkin naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie
etwa die der Darwinschen Evolutionstheorie und der Elektrizität an. Damit sollte die
Richtigkeit der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung festgestellt werden.
Ein gutes Beispiel für diesen Zusammenhang ist die Umlegung des
Atommodells auf die Körperorganisation: Die „unendlich kleinen Atome, die in alle
Richtungen drängen, schwingen, sich bewegen, leben“ und aus denen sich die Welt
zusammensetzt, assoziieren sich zu „unabhängigen Zellen“ und weiters zu einer
„Föderation von Organen“, um sich gegen die existenzfeindlichen Bedingungen ihrer
Umwelt wehren zu können.110 Das wissenschaftliche Prinzip dieses
Zusammenschlusses von Zellen und Teilchen in der Natur sollte nun, Kropotkin
zufolge, konsequenterweise auch auf die Gesellschaft angewandt werden. Denn was
für die Natur gültig sei, wäre es auch in der Gesellschaft.
Auf die Auslegung der (zu Kropotkins Zeit dominierenden)
Evolutionstheorie Darwins, der zufolge das zentrale Gesellschaftsprinzip der Kampf
ums Überleben zwischen den Individuen und die Natur ein großes Schlachtfeld sei,
reagierte Kropotkin seinen eigenen Rückschlüssen entsprechend mit einer

im Zusammenhang mit den Vorfällen beim G8-Gipfel in Genua im Juli 2001. Die Verantwortung für
die Ausschreitungen bei einer Großdemonstration – bei der ein junger Demonstrant von der Polizei
erschossen worden war – wurde noch Monate nachher von Seiten der Politik und der großen
Medienanstalten einer ominösen anarchistischen Organisation namens „black block“ zugeschrieben,
ohne dass für deren Existenz jemals ein Beweis erbracht werden konnte. Zu Zuschreibungen dieser
Art – die letztendlich auch die Funktion haben, missliebige Personen vor dem Gesetz anklagen zu
können – in der spanischen Presse des 19. Jahrhunderts vgl. auch: Philipp METTAUER, „Esta tierra es
una esponja que cuando se pisa deja fluir el anarquismo“. Rekonstruktionsversuch und Interpretation
des Überfalles auf Jerez de la Frontera im Jahre 1892 anhand der spanischen Presse, Diplom-Arbeit
Univ. Wien 2001.
109 Oberländer merkt an, dass abgesehen von der allgemeinen „Wissenschaftsbegeisterung“ des 19.

Jahrhunderts auch der von Marx und Engels betriebene „wissenschaftliche Sozialismus“ ein Anreiz
dafür gewesen sein mag. Vgl. dazu: OBERLÄNDER, Anarchismus, S. 24f.
110 Peter KROPOTKIN, Die Eroberung des Brotes und andere Schriften. Zit. nach: Ulrich RATSCH,

Vom guten und vom bösen Menschen. Der „wissenschaftliche Anarchismus“ von Peter Kropotkin.
In: DIEFENBACHER, Anarchismus, S. 60.
42

Gegenthese. Er vertrat – im Anschluss an die neuen Erkenntnisse über Licht,


Magnetismus und Elektrizität, und nicht zuletzt wegen seiner Tierbeobachtungen –
die Ansicht, dass der Kern der Darwinschen Evolutionstheorie das Gesetz der
„gegenseitigen Hilfe“ sei111, und verteidigte damit das anarchistische
Gesellschaftsprinzip der freien Assoziation als evolutionär und fortschrittlich. Der
„Geselligkeitstrieb“ als fundamentale Eigenschaft von Atomen, Tieren und folglich
auch Menschen wurde von Kropotkin zum Naturgesetz erklärt. Die menschliche
Entwicklung verlaufe dem Naturgesetz entsprechend hin zur größtmöglichen
Freiheit der Individuen und sei naturwissenschaftlich beschreib- und vorhersehbar.112
Dieser kurze Ausflug in das wissenschaftliche Denken im Anarchismus am
Beispiel Kropotkins zeigt schon die Argumentationen, mit denen auch die
Sexualitätsdebatten der in dieser Arbeit untersuchten Zeitschriften ausgestattet sind:
Kropotkin argumentierte nicht nur als Theoretiker der anarchistischen
ArbeiterInnenbewegung, sondern zugleich auch als Naturwissenschafter, Soziologe
und Anthropologe.113 Es verwundert daher nicht, dass Kropotkins Texte immer
wieder Bestandteil der Zeitschriften waren.
Gesellschaftliche Strukturen und Vorgänge wurden im spanischen
Anarchismus über die Natur(wissenschaft) diskursiviert und mit Sinn ausgestattet –
so der Grundtenor, auch wenn dies oftmals kontroversiell diskutiert wurde. Dies war
allerdings kein spezifisch anarchistisches Phänomen: Im späten 19. Jahrhundert
begann man im politischen und sozialen Denken die Gesellschaft als einen
funktionierenden bzw. kranken Körper zu beschreiben, der moralischer und
physischer Pflege und Sorge bedürfe, um seine Gesundheit garantieren zu können.

5.1.3 Sexualität und die gesprochene Wahrheit


Im Umkreis seiner Analyse des Zusammenhangs von Sexualität und Wahrheit
beschrieb Michel Foucault in kritischer Art und Weise die Funktionsweise dessen,
was er als Repressionshypothese folgendermaßen zu fassen versuchte:

„Vielleicht aber gibt es einen anderen Grund dafür, warum es für uns so einträglich
ist, die Beziehungen des Sexes und der Macht in Begriffen der Unterdrückung zu

111 RATSCH, Vom guten und vom bösen Menschen, S. 61.


112 LOHSCHELDER, AnarchaFeminismus, S. 30f.
113 Vgl. dazu: Reinhard MOCEK, Biologie und soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und

der Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 2002, S. 239f.


43

formulieren: das, was man den Gewinn des Sprechers nennen könnte. Wenn der Sex
unterdrückt wird, wenn er dem Verbot, der Nichtexistenz und dem Schweigen ausgeliefert
ist, so hat schon die einfache Tatsache, vom Sex und seiner Unterdrückung zu sprechen,
etwas von einer entschlossenen Überschreitung. Wer diese Sprache spricht, entzieht sich bis
zu einem gewissen Punkt der Macht, er kehrt das Gesetz um und antizipiert ein kleines Stück
der künftigen Freiheit.“114

Hatte Foucault diesen Zusammenhang bei Wilhelm Reich und Herbert


Marcuse aufgewiesen, sicher aber auch an marxistisch orientierte Feminismen
gedacht115., so lässt sich im Anschluss daran argumentieren, dass auch die
individualistische Staatskritik des Anarchismus vor derartigen Polemiken gegen das
Gesetz nicht gefeit war. Die von Negationen durchzogenen anarchistischen „Gegen-
Diskurse“ waren dabei mit dem permanenten Anspruch auf Überschreitung
verbunden und konnten nur deshalb zirkulieren, weil sich mit der umfassenden
anarchistischen Presselandschaft bereits ein medialer Austauschrahmen etabliert
hatte.
Es ist also kaum verwunderlich, dass derartige Repressionshypothesen – wie
sie durch und in den libertären Medien kursierten – für die Konsolidierung des
organisierten Anarchismus zwischen 1910 und dem Ausbruch des Spanischen
Bürgerkrieges maßgeblich waren und das politische Selbstverständnis prägten. Wenn
also „die einfache Tatsache, vom Sex und seiner Unterdrückung zu sprechen, ein
Stück der künftigen Freiheit“ versprach, wie es Foucault ausdrückte, und gleichzeitig
den „SprecherInnen“ buchstäblich einen „Gewinn eintrug“, rückte damit auch die
angestrebte Revolution durch den strategischen Einsatz und Ertrag des
Sexualitätsdiskurses näher. Die Sexualität trat dadurch immer stärker in den
Mittelpunkt ideologischer Auseinandersetzungen.
Im Namen der Ausgeschlossenen wurde der Anspruch auf Subversivität
erhoben, indem der „offizielle“, „herrschende“ staatliche und kirchliche Diskurs
angegriffen und in Frage gestellt wurde. Gleichzeitig gab der Sexualdiskurs vor, eine
Alternative zu den gängigen moralischen Werten und postulierten Verhaltenskodizes
zu besitzen, die durch soziale Kontrolle reguliert würden. So war es das beredte
Anliegen des Anarchismus, das „große Schweigen“ über die Sexualität zu brechen,
um sie der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion zugänglich zu machen. Es

FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 15.


114

Vgl. TREUSCH-DIETER, „Cherchez la femme“ bei Foucault? sowie Kap. 2. Geschichtswissenschaft


115

und Sexualwissenschaft dieser Arbeit.


44

ging also darum, die Sexualitätsproblematik – so „ein Landarzt“ im Jahre 1931 in


einer der untersuchten Zeitschriften – „aus der Verborgenheit auszugraben, wohin
sie von der herrschenden Moral verbannt worden war“.116

5.2 „Geschlechterproblem“ und „die Unterdrückung der Frau“ in


Spanien

Wie aus dem vorhergehenden Kapitel hervorgeht, waren von Beginn an jene
Themen Bestandteil des anarchistischen Diskurses und seiner Medien in Spanien, die
rund um die Begriffsklammer „Sexualität“ angesiedelt waren. Die Frage nach der
ungleichen Behandlung der Geschlechter tauchte ab Ende des 19. Jahrhunderts in
der anarchistischen Auseinandersetzung in Spanien auf und wurde zu diesem
Zeitpunkt vor allem auf der sozialen und juristischen Ebene diskutiert: Seit 1868117
wurde die „Rolle“ und „Position der Frau“ in der Ehe und Gesellschaft im
Allgemeinen, sowie in der Arbeitswelt und den eigenen Gewerkschaftsorganisationen
im Besonderen besprochen und analysiert.118 „El problema de los sexos“ – also das
„Geschlechterproblem“ – zog sich durch alle Diskussionen um Ehe, freie Liebe,
Frauenemanzipation, Familie, Kindererziehung, Homosexualität, Körperkultur,
Nudismus, Naturismus, Geschlechtskrankheiten, Prostitution und Hygiene. Dabei
bildeten die Begriffe „Liebe“, „Arbeit“ und „Sexualität “ den thematische Rahmen, in
dem auch die fehlenden Gleichberechtigung der Geschlechter im geltenden Recht
angeprangert wurde. „Die Frau“ war umkämpftes Terrain im politischen Diskurs und
ihre monolithische Kategorisierung wurde nur durch die Klassenangehörigkeit
gebrochen, sodass manchmal in „die bürgerliche Frau“ und „die proletarische Frau“
unterschieden wurde. Im juridischen, sozialen, politischen und ökonomischen
Diskurs wurden rund um „die Frau“ und – seltener in ihrer pluralisierten Form –

116 „[…] desterrarla de la clandestinidad donde lo tiene confinado la moral dominante“ Un medico
rural [Synonym für Isaac Puente RG], A modo de programa, EST, 94, Juni 1931. Zur Person Puente
vgl.: Jose Daniel REBOREDO OLIVENZA, Idealismo y anarquismo en Alava. Isaac Puente, Genesis y
desarollo de su pensamiento político (1896-1936), in: Cuardernos de sección. Historia. Geografia
1995, 23, 277-299.
117 1868 endete die isabellinische Ära und die Herrschaft der Bourbonen. Dieses Jahr gilt als Beginn

des spanischen Anarchismus. Vgl. dazu: Peer SCHMIDT (Hg.), Kleine Geschichte Spaniens, Stuttgart
2004; Walther L. BERNECKER/Horst PIETSCHMANN, Geschichte Spaniens. Von der frühen Neuzeit
bis zur Gegenwart, Stuttgart/Berlin/Köln 1993.
118 Richard CLEMINSON, Anarchism, Science and Sex. Eugenics in Eastern Spain, 1900-1937, Bern

2000, S. 14; Regula NIGG, „La emancipación de las trabajadoras ha de ser de las trabajadoras mismas“.
Frauen in der anarchistischen Presse in Spanien 1871-1907, Lizentiats-Arbeit Basel 2000.
45

„die Frauen“ Aussagen und Festschreibungen vorgenommen, die in ihrer Art und
Weise immer auf biologische und reproduktive Funktion in der Gesellschaft
verwiesen.

5.2.1 Die juridische „Frau“: Gesetzliche Kategorisierung


Ist in den Verfassungen und Verfassungsänderungen von 1812 bis 1876 bis
auf wenige Ausnahmen119 vom Individuum nur in der männlichen Form die Rede, so
sind die spezifischen Rechte und Pflichten von Frauen in den Gesetzestexten sehr
genau dargelegt. Es wird dabei grundsätzlich in „ledige volljährige“120 und
„verheiratete“ Frauen unterschieden, wobei festzustellen ist, dass ledigen volljährigen
Frauen ähnliche Rechte zugesprochen wurden wie Männern. Sie konnten
beispielsweise über ihren persönlichen Besitz selbstständig verfügen. Frauen, die sich
hingegen verehelichten, hatten weder persönliche noch Erwerbsautonomie und
genossen keinerlei ökonomische Unabhängigkeit.121 Sogar über eigene Verdienste
hatten sie kein Bestimmungsrecht – das Gesetz erkannte also keineswegs die
Notwendigkeit verheirateter Arbeiterinnen an, über ihre eigenen Einkünfte selbst zu
verfügen, sondern schrieb fest, dass diese vom Ehemann zu verwalten seien.122
Bis zur Einführung der Verfassung der Zweiten Republik im Jahre 1931 war
der „Gehorsam“ verheirateter Frauen ihren Ehemännern gegenüber in der
spanischen Gesetzgebung des Código Civil von 1889 vorgeschrieben. So wurde schon
im Artikel 57 als Prinzip der Ehe formuliert, dass der Ehemann seine Frau zu
beschützen und die Ehefrau ihrem Gatten zu gehorchen habe. Auch die Artikel 58
bis 62 legten den Verlust über Besitz und Autonomie der Ehefrau als Untergebene
ihres Mannes fest: Der Wohnort konnte nur vom Mann bestimmt werden, er war
alleiniger Verwalter der gesamten Besitztümer und Repräsentant der Ehefrau. Diese
benötigte seine Einwilligung für öffentliche Handlungen (wie etwa das Erscheinen
vor Gericht), Einkäufe, die nicht dem alltäglichen Bedarf der Familie entsprachen,

119 Ausnahmen sind die Regelung der Weitergabe der Nationalität der Eltern an ihre Kinder, der
Thronfolge und der Regentschaft. Vgl. dazu: NIGG, „La Emacipación“, S. 14.
120 Die Volljähigkeit wurde im Alter von 23 Jahren erreicht; das Verlassen des elterlichen Haushalts

war für unverheiratete Frauen erst mit 25 Jahren möglich. Renate WEIßENFELS, Feminismus in
Spanien. Entstehung, Bestandsaufnahme und Exkurs über den Sexismus in der spanischen Sprache,
Basel 1988, S. 10f.
121 NIGG, „La Emancipación“, S. 14f.
122 Mary NASH/Susanna TAVERA, Experiencias desiguales: Conflictos sociales y respuestas colectivas

(Siglo XIX), Madrid 1994, S. 120.


46

für den Handel mit Fremden oder dafür, selbst ein Geschäft zu betreiben bzw.
arbeiten zu gehen oder Verträge abzuschließen.123 „Ungehorsam“ oder Beleidigungen
gegenüber dem Ehemann wurden im Código Penal mit harten Gefängnisstrafen
geahndet. Je nach Geschlecht waren etwa für Ehebruch sehr unterschiedliche
Strafsätze vorgesehen, wobei das Strafausmaß für Männer immer deutlich unter dem
der Frauen lag.124
Das bürgerliche Geschlechtermodell des 19. Jahrhunderts garantierte in
Spanien damit auf zwei Ebenen die Kontrolle über die weibliche Bevölkerung: Die
formale Sozialkontrolle bestand in der offenen Benachteiligung durch Gesetze
(Código Civil 1889, Código Penal 1870, Código del Comercio 1885)125. Erst mit den
Reformen der Zweiten Republik endete diese Diskriminierung der Frauen auf
legislativer Ebene weitgehend. Die informelle Sozialkontrolle basierte auf dem
Diskurs der domesticidad, also der Häuslichkeit, der die Geschlechterrollen definierte
und damit die Normen von weiblichem und männlichem Verhalten zementierte.126

5.2.2 Die wesentliche „Frau“: Der weibliche Geschlechtscharakter


Die Subordination von Frauen wurde lange mit ihrer angeblichen natürlichen
Minderwertigkeit argumentiert: Durch die Reproduktionsfunktion sei die Frau ein
inferiores Wesen, passiv, unvollständig und im Ganzen das Komplementär zum
„intelligenten Mann“. Diese Geschlechterordnung herrschte nicht nur in
konservativen und katholischen Kreisen127, sondern wurde auch von Republikanern
und Liberalen, von SozialistInnen und AnarchistInnen (wenn auch in abgemilderter
Form) vertreten, die die weibliche Identität in ihrem biologischen Mandat – wie etwa
der Reproduktionsarbeit – erfüllt sahen und das „weiblichen Wesen“ an seinen
„naturgegebenen Platz“ verwiesen.128 In einer anarchistischen Publikation aus dem
Jahr 1922 heißt es:

„Ohne jeden Zweifel ist die Frau dem Mann nicht unterlegen. [...] Beide herrschen
im sozialen Leben, aber in verschiedener Form, in unterschiedlicher Art. Der Wert des
Mannes ist aktiv, der der Frau ist passiv [...]. Der Mann ist reflexiv, analytisch; die Frau

123 Mary NASH, Mujer, familia y trabajo en España 1875-1936, Barcelona 1983, S. 160.
124 NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S. 121.
125 Ebenda, S. 120.
126 Ebenda, S. 120.
127 NASH , Mujer, Familia y Trabajo, S. 12f.
128 NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S. 121.
47

einfallsreich/phantasievoll. Im ersten wirkt vor allem die Vernunft, das Bewusstsein; in


Zweiterer das Gefühl, der Affekt.“129

Das patriarchale Familiensystem zählte zu den unumstößlichen Werten der


spanischen Gesellschaft. Die Diskussionen rund um die intellektuelle Unterlegenheit
„der Frau“, die Ende des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas und den USA
geführt wurden, hallten auch in Spanien nach: Physiologische, biologische und
anatomische Argumentationen vieler Autoren vermischten sich im Laufe der Zeit mit
den Einflüssen neuer Disziplinen wie etwa der Psychologie, der Psychoanalyse und
der Soziologie, um den Mangel an geistiger Leistungsfähigkeit des weiblichen
Geschlechts zu beweisen. Trotz vieler gegenteiliger Argumente und Beweise hielt
sich bei der Mehrheit der spanischen Bevölkerung ein kontinuierlicher Zweifel an
den weiblichen Fähigkeiten und war so die Begründung zur Aufrechterhaltung der
strikten Arbeitsteilung und Rollenverteilung der Geschlechter.130 Jegliche
Übertretung der festgeschriebenen weiblichen Geschlechterrolle, eben auch die der
weiblichen Erwerbstätigkeit, wurde nicht nur als Gefährdung der Männer, sondern
der ganzen Gesellschaft angesehen.131
Durch die Modernisierung, die in Spanien sehr spät, also erst Anfang des 20.
Jahrhunderts, einsetzte, zeigte sich auch eine Änderung im Geschlechterdiskurs, wie
sie in anderen europäischen Staaten schon eingetreten war. Die wesentlichen sozialen
Geschlechtsdifferenzen wurden von der Unterschiedlichkeit und Komplementarität
des Körpergeschlechts aus argumentiert. So heißt es beispielsweise im schon weiter
oben zitierten Text El triunfo de la anarquía: „Es gibt Äquivalenz, aber keine Identität!
Es gibt Unterschiede in der Funktion und den Eigenschaften, Arbeitsteilung!“132
Die Verkünder dieser Botschaft waren nun nicht mehr die kirchlichen
Priester, sondern Mediziner. Sie trieben eine „Biologisierung des sozialen

129 „Sin duda alguna la mujer no es inferior al hombre. [...] Ambos imperan la vida social, pero en
distinta forma, de distinta manera. El valor del hombre es activo, el de la mujer es pasivo [...]. El
hombre es reflexivo, analizador; la mujer, imaginativa. En el primero obra principalmente la razón, la
conciencia; en la segunda, el sentimiento, el afecto.“ E. ESCARTÍN Y LARTIGA, El triunfo de la
anarquía. Los problemas del siglo XX, Madrid 1922, S.72f. Zit. nach: NASH, Mujer, Familia y Trabajo,
S.64f.
130 NASH , Mujer, Familia y Trabajo, S. 13.
131 Mary NASH , Un/Contested Identities: Motherhood, Sex Reform an the Modernization of Gender

Identity in Early Twentieth-Century Spain, S. 29f. In: Victoria Lorée ENDERS/Pamela Beth R ADCLIFF
(Hg.), Contructing Spanish Womanhood. Female Identity in Modern Spain, New York 1999, S. 25-50.
132 „¡Hay equivalencia, pero no identidad! ¡Hay diferenciación de funciones y de cualidades, división de

trabajo!“ ESCARTÍN Y LARTIGA, El triunfo de la anarquía. Zit. nach: N ASH, Mujer, Familia y Trabajo,
S.64.
48

Denkens“133 voran und prägten damit nachhaltig den gender-Diskurs, der eine
Schlüsselfunktion bei der Formulierung kultureller Normen und der Bestimmung der
sexuellen Differenz hatte.
Der einflussreiche spanische Endokrinologe (und Autor zahlreicher Artikel in
anarchistischen Medien) Gregorio Marañón134 stellte fest, dass Frauen als Mütter und
Ehefrauen nicht minderwertig, sondern einfach „anders“, also das Komplementär zu
den Männern, seien.135 Die Besonderheit in Marañóns Diskurs stellt die medizinisch-
wissenschaftliche Re-Definition von Weiblichkeit (und Männlichkeit) dar: Die
biologischen Eigenschaften „der Frau“ wurden mit ihrer sozialen Aufgabe
verbunden. So hatte „die Frau“ nicht nur Mutter der Familie, sondern auch die
Mutter der Gesellschaft zu sein. Dadurch war es möglich, die Geschlechterrolle von
Frauen zwar in einem neuen medizinischen Diskurs der Differenz zu definieren, sie
aber genau dadurch wiederum in allen Bereichen von ihrem Sein als Mütter abhängig
zu machen. Alle anderen Tätigkeiten müssten der Mutterschaft untergeordnet sein.
Nur Unverheiratete und Witwen sollten demzufolge ähnliche Funktionen wie
Männer ausführen dürfen, da diese nicht (mehr) den primären Aufgaben des
weiblichen Geschlechts nachgehen könnten.136 Unter dem Konzept der „sozialen
Mutterschaft“ war es trotz des generellen Ausschlusses von Frauen aus dem
öffentlichen und politischen Raumes möglich, dass diese sich Platz in der politischen
Arena machen konnten.137
Neben dem Bedeutungsinhalt des „discurso «marañoniano» de la domesticidad“ 138
befindet Mary Nash seine Verbreitung als besonders signifikant, da er durch viele
Jahrzehnte hindurch die kulturellen Normen der spanischen Gesellschaft bedingte:

„Minderwertig, gleich oder anders – die Frau wurde im spanischen


Geschlechterdiskurs noch lange Zeit danach nicht als völlig autonom angesehen. Obwohl
sich die Vorraussetzungen änderten, modernisierten sie nur oberflächlich den Diskurs der

133 NASH, Un/Contested Identities, S. 26.


134 Gregorio Marañón (1887-1960), ab 1908 Arbeit als Mediziner, führte in Deutschland zusammen
mit Paul Ehrlich Studien zu Syphilis mit denen er in Spanien reussierte. Er veröffentlichte zahlreiche
medizinische Texte, war aber auch auf anderen Gebieten wie der Literaturwisseschaft publizistisch
tätig, wo er etwa die Figur des Don Juan und seinen Einfluss auf den spanischen Charakter analysierte.
Er war Mitglied der von Magnus Hirschfeld gegründeten Weltliga für die Sexualreform. 1934 wurde er
zum Mitglied der Real Academia Española de la Lengua gewählt. Vgl. dazu: Artikel Gregorio Marañón,
http://es.wikipedia.org/w/index.php?title=Gregorio_Marañón&oldid=1938613 (2.1.2006)
135 NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S. 122.
136 NASH , Mujer, Familia y Trabajo, S. 15.
137 NASH , Un/Contested Identities, S. 35f.
138 NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S. 122.
49

Häuslichkeit und die strikte Teilung der öffentlichen und privaten Sphäre, die geschlechtliche
Arbeitsteilung und, selbstverständlich, die von der Mutterschaft ausgehend konstruierte
kulturelle Identität setzten sich fort.“139

Während des gesamten Zeitraums der Zweiten Republik in Spanien wurde an


diese Idee angeschlossen. Die Akzeptanz der vermeintlichen weiblichen
Andersartigkeit war in allen Gesellschaftsschichten wirksam, obwohl es innerhalb der
politischen Linken Nuancierungen gab. So trat sie zumindest offiziell und
oberflächlich betrachtet für eine allgemeine Anerkennung der Gleichheit von
Fähigkeiten, Rechten und Pflichten zwischen den Geschlechtern ein. Liest man
jedoch Aussagen zum Thema genau, ergibt sich oftmals ein anderes Bild: Roberto
Remartínez, Autor der Ratgeberkolumne Preguntas y Respuestas in der Zeitschrift
Estudios führte auf eine Leseranfrage, ob Frauen oder Männer intelligenter wären,
zwar an, dass die (auch von ihm angenommene) weibliche geistige Inferiorität nicht
eindeutig physiologisch beweisbar sei. Die Differenzen seien abhängig von den
Funktionen der Hormondrüsen, die „der intellektuellen Physiognomie des
Individuums ihren speziellen Stempel aufdrücken“140 und so die
Charakterdifferenzen zwischen Männern (aktiv, willensstark, rational) und Frauen
(passiv, emotional, intuitiv) prägten. Er beschrieb die intellektuelle Benachteiligung
der Frauen aber vor allem als eine überlieferte Langzeitfolge der schlechten geistigen
Erziehung und der fehlenden Übung des rationalen Denkens. Jedoch bemerkte er
seiner eigenen Argumentation widersprechend zuletzt:

„Es ist anzunehmen, dass, mit der Grundlage einer ausreichenden geistigen
Vorbereitung, dem Studium der sozialen Emanzipation etc., die Frau in vielen Fällen fast
[sic!] zur gleichen intellektuellen Leistung fähig sein sollte wie der Mann.“141

Zwar finden sich auch (vornehmlich von Autorinnen verfasste) Texte, die
eine geistige Unterlegenheit der Frauen vehement zu bestreiten versuchen.142 Aber

139 „Inferior, igual o diferente, la mujer no sería considerada plenamente autónoma en el discurso
español de género hasta mucho tiempo después. Aunque llegaran aires y presupuestos nuevos, estos
sólo modernizarían superficialmente el discurso de la domesticidad y continuaría vigente la estricta
división entre las esferas pública y privada, la división sexual del trabajo y, por supuesto, la identidad
cultural construída a partir de la maternidad.“ Ebenda, S. 122.
140 „[...] que imprimen su sello especial a la fisonomía intelectual del individuo [...].“ R. REMARTÍNEZ,

Preguntas y Respuestas, EST, 151, März 1936.


141 „Es de creer que con la base de una suficiente preparación mental, estudios, emacipación social,

etc., la mujer sea capaz de casi el mismo rendimiento intelectual que el varón en muchos casos.“
Ebenda.
142 Hier seien vor allem Lucía Sánchez Saornil, eine Gründerin der Mujeres Libres, und die Sozialistin

María Cambrils genannt. Vgl. dazu: NASH, Mujer, Familia y Trabajo, S. 15f.
50

auch diese Äußerungen entsprechen zumeist den stereotypen


Charakterzuschreibungen der Geschlechter a la Marañón.

5.2.3 Die politische „Frau“: Die Wahlrechtsdiskussion


Die wenigen feministisch Aktiven um die Wende zum 20. Jahrhundert in
Spanien143 entwickelten zwar vielfältige Strategien, um die Situation von Frauen in
der Gesellschaft zu verbessern, jedoch akzeptierten sie dabei im Großen und Ganzen
die proklamierte Geschlechterdifferenz und die damit verbundene soziale
Rollenaufteilung. Sie stellten die herrschenden Machtverhältnisse zwar in Frage und
führten mit ihrem Engagement kleine Veränderungen der Normen und Werte
herbei, doch wurde nicht um politische Rechte – auch nicht um das Wahlrecht –
gekämpft.144
Ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts tauchten in den feministischen
Strömungen neue, politische Forderungen auf. Der Ruf nach dem Frauenwahlrecht
wurde in Spanien erstmals laut. Aber noch am Vorabend der Zweiten Republik
konnte nur eine sehr kleine Minderheit an Frauen für die Durchsetzung des
allgemeinen Frauenwahlrechts mobilisiert werden. So waren es auch nicht die
Suffragetten, die letztendlich das Frauenwahlrecht durchsetzten, sondern es wurde
im Zuge der allgemeinen Revision der diskriminierenden Gesetze am Beginn der
Zweiten Republik eingeführt.145
Dabei kam es aber zu nicht unerheblichen Auseinandersetzungen: Da in
Spanien die Meinung vorherrschte, dass Frauen prinzipiell konservativ wählten, ergab
sich die eigenartige Situation, dass vor allem die sozialistische wie auch die
republikanische Partei die Forderung nach dem Frauenwahlrecht zurückwiesen, die
Konservativen diese jedoch unterstützten. So sprach sich Margarita Nelken, eine
führende Sozialistin, für eine Aufschiebung des Frauenwahlrechts aus, weil ihrer
Meinung nach die Spanierinnen noch nicht dafür vorbereitet wären. Auch Victoria
Kent, Führerin des Partido Radical-Socialista lehnte es ab. Im Gegensatz dazu
verteidigte Clara Campoamor das Frauenwahlrecht. Sie war Präsidentin der
Suffragettenbewegung der Unión Republicana Femenina, Rechtsanwältin und
143 Mary N ASH und Susanna TAVERA bieten einen guten Überblick über die „erste feministische
Welle“ in Spanien und detaillierte Informationen über ihre Protagonistinnen. NASH/TAVERA,
Experiencias desiguales, S. 68-72 sowie 107-128.
144 Ebenda, S. 120.
145 Ebenda, S. 125.
51

Abgeordnete des Partido Radical und stand mit ihrer Meinung nicht auf Linie ihrer
eigenen Partei und der ParteikollegInnen.146
Das wachsende Bewusstsein für die Demokratie und eine republikanische
Verfassung bedingten die Diskussion um die Gleichbehandlung von Männern und
Frauen vor dem Gesetz. So wurde letztendlich der politische Gleichheitsgrundsatz
im Artikel 25 der Verfassung festgehalten: „Als Grundlage für rechtliche Privilegien
sind ausgeschlossen: die Natur, die Abstammung, das Geschlecht, die soziale Klasse,
Reichtum, politische Ideen und auch religiöser Glauben.“147 Das Frauenwahlrecht
wurde am 1. Oktober 1931 im Parlament mit 161 gegen 121 Stimmen beschlossen
und im Artikel 34 der Verfassung festgeschrieben.148
Die Ausübung des Frauenwahlrechts und die politische Gleichstellung vor
dem Gesetz erlaubte es von nun an mehr Frauen, sich im politischen Leben
längerfristig zu integrieren – trotz der weiterhin vorherrschenden kulturellen
Diskriminierung. Anfeindungen gegenüber ihrem öffentlichen Engagement gab es
dabei von allen politischen Seiten.

5.2.4 Die arbeitende „Frau“: Erwerbstätigkeit versus Reproduktion


Die Polemik um den Zutritt von Frauen in den „öffentlichen Raum“ und die
weibliche Rolle als ángel del hogar – also als Engel des Haushalts – begann mit den
ersten Forderungen nach der Gleichstellung der Geschlechter Ende des 19.
Jahrhunderts, und setzte sich ungebrochen bis zum Ende des Spanischen
Bürgerkriegs in allen politischen Lagern fort. Der Zugang von Frauen in den
„öffentlichen“ – und ganz im Sinne des 19. Jahrhunderts männlichen – Raum
manifestierte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts zu allererst in den Bereichen der
industriellen Produktionsarbeit und der Gewerkschaften, auch wenn Frauen nur in
übergangsmäßigen und sekundären Positionen tätig waren. Die Wahrnehmung der
Erwerbstätigkeit von Frauen, die durch die veränderten Tätigkeitsbereiche erst
sichtbar wurde, war ein Novum und wurde zu einem dominierenden politischen
Thema.

146 Ebenda, S. 126f.


147 „No podrán ser fundamento de privilegio jurídico: la naturaleza, la filiación, el sexo, la clase social,
la riqueza, las ideas políticas, ni las creencias religiosas“. Zit. nach: Ebenda, S. 127.
148 Cándida MARTÍNEZ/Reyna PASTOR/M.a José DE LA P ASCUA/Susanna TAVERA, Mujeres en la

Historia de España. Enciclopedia biográfica, Barcelona 2000, S. 451.


52

Diese Veränderungen sind nicht nur den ökonomischen und demografischen


Transformationen um die Jahrhundertwende zu verdanken, sondern eben auch
einem – wenn auch nicht sehr einflussreichen, aber dennoch stetigen – ideologischen
Druck von diversen liberalen, sozialistischen und anarchistischen Kreisen. Vor allem
die beiden letzteren formulierten ihre politischen Forderungen auf der theoretischen
Grundlage der rechtlichen Gleichheit aller Menschen und damit eben auch der
Gleichberechtigung der Geschlechter. Schon auf dem Zweiten Kongress der
Federación Regional de la Primera Internacional im Jahr 1872 in Zaragoza wurde zumindest
festgehalten: „Welches Mittel gibt es, um die Frau in den Zustand der Freiheit zu
bringen? Es gibt nichts anderes als die Arbeit.“149
Auf dem Gründungskongress der CNT 1910 war die weibliche
Erwerbstätigkeit auch Thema im Rahmen der Forderungen nach allgemeiner
Unabhängigkeit und Freiheit für alle Menschen. 1920 wurde das Recht auf Arbeit für
Frauen ratifiziert, um „mit Würde dem eigenen Lebensunterhalt nachzukommen, um
eine sittsame Unabhängigkeit zu erreichen oder um zur Erleichterung eines armen
Haushaltes beizutragen“150. In dieser Formulierung ist der Kompromiss zwischen
dem konservativen Weltbild des „ángel del hogar“ und der Notwendigkeit des
zusätzlichen Verdienstes für die meisten Haushalte abzulesen. Auch äußert sich darin
die Angst vor einer sich ausbreitenden Prostitution als einziger Ausweg von Frauen
aus der ökonomischen Abhängigkeit.
Der Anstieg weiblicher Erwerbstätigkeit unter den ArbeiterInnen kann aber
nur bedingt auf diese gesetzliche Regelung zurückgeführt werden, sondern entstand
aus einfacher ökonomischer Notwendigkeit innerhalb einer sich mehr und mehr
industrialisierenden Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert erfasste dieses Phänomen auch
Frauen aus anderen sozialen Schichten, vor allem aus dem kleinen und mittleren
Bürgertum.151
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kam es in Spanien zu einem
Bevölkerungswachstum mit einem leichten Frauenüberhang von 51%. Dies und auch
die Abnahme der Geburtenrate und der Anstieg des durchschnittlichen Heiratsalters

149 „¿Qué medio hay para poner a la mujer en condiciones de libertad? No hay otro más que el
trabajo.“ Dictamen del Congreso de Zaragoza 1872. Zit. nach: NASH, Mujer, Familia y Trabajo, S.
300.
150 José FRANCOS RODRÍGUEZ, La mujer y la política españolas, Madrid 1920, S. 256-257. Zit nach:

Ebenda, S. 309.
151 Ebenda, S. 49.
53

zwangen viele unverheiratete Frauen in die außerhäusliche Arbeit und führten damit
zu einem Anstieg weiblicher Erwerbstätigkeit.152 Trotzdem stellten Frauen den
weitaus kleineren Teil der erwerbsarbeitenden Bevölkerung:
1930 lag der Frauenanteil im Ersten Wirtschaftssektor bei 23,67%. Im
Zweiten Sektor waren 31,82% weibliche Arbeitskräfte tätig – fast doppelt so viele
wie sechzehn Jahre zuvor: 1914 waren es noch 16,02% gewesen. Diese Zahlen zeigen
den enormen Anstieg von Frauen in der Industriearbeit. Aber der größte Teil der
Frauen verdingte sich noch immer im Dienstleistungssektor, wo der Frauenanteil bei
44,16% lag. Fehlende Ausbildung und die Orientierung an einem Frauenbild, das
vorgab, Hausarbeit und die Herstellung von Kleidern seien „natürliche Begabungen“,
waren dafür maßgeblich. Der herrschende Geschlechterdiskurs der domesticidad
förderte die Haus- und Heimarbeit.153
Bei den Löhnen gab es eine klare Ungleichheit: 1930 verdienen Arbeiterinnen
um 53% weniger als ihre männlichen Kollegen. Diese extreme Benachteiligung bei
den Löhnen wurde von der ArbeiterInnenbewegung von Anfang an als eine
Bedrohung für den Zusammenhalt der Klasse aufgefasst.154 Die Politik der
Besitzenden, die weibliche Arbeitskraft als eine Art Reserve mit geringer Entlohnung
einzusetzen, wurde von der politischen Linken kritisiert – sicherlich nicht zuletzt
wegen der vermeintlich drohenden Gefahr der Streikzersetzung. Die Konkurrenz
erwerbstätiger Frauen war gefürchtet und brachte die Gewerkschaften in eine
problematische Argumentationslage. Zwar wurde versucht, den Grund für das
„Übel“ der Frauenarbeit nicht in derselben zu sehen, sondern „im Monopol, welches
die ausbeutende Klasse ausübt“155, zu suchen. Jedoch existierte in der spanischen
ArbeiterInnenschaft nicht nur eine große Angst vor der Konkurrenz weiblicher
(billigerer) Arbeitskräfte, die zu einer Senkung der Löhne im Allgemeinen und zu
Arbeitsplatzverlusten unter den Männern führen könnten. Auch innerhalb der
ArbeiterInnenbewegung herrschte weiterhin die Meinung vor, dass im Prinzip der
Arbeitsplatz einer Frau im Haushalt und bei den Kindern sein sollte und der

152 Ebenda, S. 49.


153 Ebenda, S. 50f.
154 Ebenda, S. 53.
155 „Causa de estos males no está en el trabajo de la mujer, sino en el monopolio que ejerce la clase

explotadora.“ Dictamen del Congreso de Zaragoza 1872. Zit. nach: Ebenda, S.300.
54

männliche Arbeiter ein Vorrecht auf einen bezahlten Arbeitsplatz habe.156 Federica
Montseny, Leiterin von La Revista Blanca, formulierte dies folgendermaßen:

„Es ist zweifellos so, dass die Frau sich nicht nur den Hausarbeiten widmen sollte,
aber es ist auch zweifellos so, dass in England einer der vielen und umfassendsten Gründe
für die Existenz jener „ohne Arbeit“, die weibliche Invasion in alle Arten von
Beschäftigungen, bis hin zu den schwersten, ist. Wenn die Frauen sich hingegen aus vielen
der eroberten Plätze zurückziehen würden, um den Preis der Klassensolidarität, um den
Männern nicht die Arbeit wegzunehmen, um so die Massen der Zwangsarbeitslosen zu
vermindern, würden sie sich nicht verpflichtet sehen, körperliche Arbeiten zu verrichten, die
unnütz ihren Organismus ermüden und zerstören, der nicht minderwertig, aber doch anders
ist als der des Mannes.“157

Neben der unterstellten Konkurrenz und der damit implizierten Zersetzung


des Zusammenhaltes der ArbeiterInnenschaft war das fehlende soziale Bewusstsein
und die mangelnde Militanz der Arbeiterinnen im Klassenkampf ein weiteres
Vorurteil. Auch die ArbeiterInnen-Presse sagte den Frauen regelmäßig das Fehlen
eines sozialen Bewusstseins nach, welches sie vom gewerkschaftlichen und sozialen
Kampf entfernen und entfremden würde. Die Frauen wurden beschuldigt, die
bürgerlichen Ideale und die katholische Doktrin zu akzeptieren, und damit den
revolutionären Prozess zu bremsen. Dies entsprach keineswegs der Realität: Die
Präsenz von Frauen in verschiedenen sozialen Auseinandersetzungen im 19. und 20
Jahrhundert zeigt sehr deutlich, dass eher das Gegenteil der Fall war. Die aktive und
oft entscheidende Teilnahme an klassenkämpferischen Aktionen, wie etwa an den
Streiks der den ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die Existenz von
Frauenvereinigungen innerhalb der sozialistischen und anarchistischen Bewegung,
sowie letztendlich die Teilnahme am antifaschistischen Kampf während des
Spanischen Bürgerkriegs widerlegen diese Annahmen.158
Mit diesen Argumentationen im Hintergrund wurde wegen der Angst vor
einer Konkurrenzsituation zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern auf dem

156 José María HERNÁNDEZ DÍAZ, La Educación de la Mujer en la Primera Internacional en España
(1868-1881). In: COLOQUIO NACIONAL DE LA EDUCACIÓN (Hg.), Mujer y Educación en España,
1886-1975, Santiago de Compostela 1990, S. 185-193.; N ASH, Mujer, Familia y Trabajo, S. 54.
157 „Es indudable que la mujer no debe dedicarse únicamente a las labores caseras, pero es indudable

también que en Inglaterra una de las varias y completísimas causas de los ‚sin trabajo’ es la invasión
femenina en toda clase de ocupaciones, hasta las más pesadas. En cambio, si las mujeres se retiraran
de muchos de los sitios conquistandos, algunas veces con menoscabo de la solidaridad de clase, sobre
no quitar empleos a los hombres, disminuyendo así las masas de desocupados forzosos, no se verían
obligadas a realizar faenas que fatigan y destrozan inútilmente su organismo, no inferior, pero sí
distinto al del hombre.“ Federica MONTSENY, Las mujeres y las elecciones inglesas, LRB, 18,
15.2.1924.
158 NASH , Mujer, Familia y Trabajo, S.55f.
55

Gründungskongress der Confederación Nacional del Trabajo (CNT) 1910 die Forderung
nach gleicher Bezahlung in das Programm aufgenommen.159 Auch der Anspruch auf
Mutterschutz war in allen Programmen von ArbeiterInnenvereinigungen zu finden,
was letztendlich mit der Wahrnehmung von Mutterschaft als spezifische Funktion
und Schicksal der Frauen zusammenhing. SozialistInnen, AnarchistInnen wie auch
später KommunistInnen forderten Schutzbestimmungen für Arbeiterinnen in
Schwanger- und Mutterschaft. Diese Forderungen stießen auf das Interesse
verschiedener Sektoren der spanischen Gesellschaft: Von der einfachen Prävention
der Kinds- und Kindsbettsterberate bis hin zu eugenischen Perspektiven, die sich um
eine Verbesserung der Rasse bemühten.160 Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der
Mutterschutz laufend ausgebaut, bis hin zur fixen gesetzlichen Verankerung im
Arbeitsgesetz der Zweiten Republik.161

5.3 Anarchismus und Neomalthusianismus: Die Anfänge

Dominierten Ende des 19. Jahrhunderts vor allem noch soziologische und
ökonomische Argumente den anarchistischen Geschlechterdiskurs, so ist zu
bemerken, dass sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend
biologische, medizinische und physiologische Wissenselemente durchsetzten und die
„Geschlechterfrage“ sich immer stärker mit dem Problem der Reproduktion und
Geburtenkontrolle verknüpfte. Damit stimmte der Anarchismus in den
internationalen Chor der bevölkerungspolitischen Debatten zur Lösung politischer
Probleme ein, die eine „Rationalisierung des Geschlechtslebens“162 zur Grundlage
hatten und „im Namen der Eugenik“163 im Nationalsozialismus letztendlich auf die
Spitze getrieben werden sollten. Die im spanischen Anarchismus unter dem Begriff
des „Neomalthusianismus“ diskutierten Maßnahmen der Geburtenkontrolle und
Empfängnisverhütung wurden als probates Mittel zur Erlangung der angestrebten
politischen Ziele verstanden. Durch die Re-Generation der Gesellschaft und darin

159 Dictamen sobre el trabajo de la mujer. Congreso Fundacional de la CNT, Barcelona 1910. Zit.
nach: Ebenda, S. 364f.
160 Ebenda, S. 57.
161 Ebenda, S. 58.
162 WEINGART/ KROLL/ BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, S. 15.
163 Vgl. dazu: Daniel Jo KEVLES, In The Name of Eugenics. Genetics and the Uses of Human

Heredity, Cambridge 1995.


56

vornehmlich der ArbeiterInnenschaft sollte eine „bessere Gesellschaft“ erschaffen


und gezeugt werden.

5.3.1 Malthusianismus
Das Konzept des Neomalthusianismus geht – wie das Wort schon besagt –
auf die Erkenntnisse des britischen Nationalökonomen, Sozialphilosophen und
Demographen Thomas Robert Malthus (1766-1834) zurück, der Ende des 18.
Jahrhunderts in England die quantitativen Zusammenhänge zwischen natürlichen
Ressourcen und Bevölkerung formulierte. Vor dem Szenario eines starken
Bevölkerungswachstums, sinkender Reallöhne und zunehmender Arbeitslosigkeit
und Verelendung in Großbritannien entwarf Malthus 1798 in seinem Buch „An Essay
on the Principle of Population“164 ein „Bevölkerungsgesetz“, indem er behauptete, „dass
die Vermehrung der Bevölkerung unbegrenzt größer ist, als die Kraft der Erde,
Unterhaltsmittel für den Menschen hervorzubringen.“165 Er bezog sich dabei aber
nicht auf Ausnahmesituationen wie etwas Missernten oder Hungersnöte, sondern
zielte auf Marktkrisen ab, die durch ein „Überangebot an Arbeitern“ zustande
kämen. Die Gesellschaft erfährt laut Malthus’schem Gesetz regelmäßig in dem
Moment Krisen, in dem fallende Löhne und steigende Arbeitslosigkeit die
„wachsenden Sozialschichten“ (ArbeiterInnen) unter das Existenzminimum drücken.
Es kommt zu einer Zunahme von „Elend“ und „Laster“ und die Bevölkerung
schrumpft wieder auf das durch den Nahrungsspielraum gegebene Maß. „Elend“ und
„Laster“ sind Malthus zufolge jene Hemmnisse (checks) des exponentiellen
Bevölkerungswachstums, die diese Krise wieder beenden. Unter dem Begriff des
Elends fasste er die „positive checks“ zusammen, die zu erhöhter Sterblichkeit führten:

„[...] alle ungesunden Beschäftigungen, harte Arbeit und die Unbilden von Natur
und Wetter, äußerste Armut, schlechte Kinderpflege, große Städte, Ausschreitungen aller

164 Es erschienen zwei Ausgaben des Buches. 1798 erschien der sogenante „First Essay“, der sich im
Untertitel unter anderem dezidiert gegen William Godwin positioniert. In diesem ersten Text
attackierte Malthus die sozialutopischen Thesen Godwins. 1803 erschien die zweite Auflage, der
„Second Essay“, der diese politischen Angriffe aussparte. Es handelte sich dabei nicht einfach um eine
Neuauflage, denn der Umfang des Textes war von 396 auf 610 Seiten angestiegen. Das weist darauf
hin, dass der politische „Kampf“ gegen Godwin durch den Erfolg des „First Essay“ gewonnen war
und Malthus nun seine Bevölkerungstheorie empirisch zu untermauern versuchte. Vgl. dazu: Gunter
STEINMANN, Thomas Robert Malthus, S. 157. In: Joachim STARBATTY (Hg.), Klassiker des
ökonomischen Denkens. Von Platon bis John Stuart Mill, Bd. 1, München 1989, S. 156-171.
165 Thomas Robert MALTHUS, Das Bevölkerungsgesetz, München 1977, S. 18. Zit. nach:

http://www.wsgn.euv-frankfurt-o.de/vc/ws2002/HatteMalthusdochRecht.ppt (20.12.2005).
57

Art, die ganze Schar gewöhnlicher Krankheiten und Epidemien, Kriege, Pest und
Hungersnot.“166

Die so genannten „Laster“ wären jene „preventive checks“, die zu einer


verminderten Geburtenrate führten. Dazu zählte Malthus Enthaltsamkeit,
Empfängnisverhütung, Abtreibung, Kindstötung und „unnatürliche Leidenschaften“
wie etwa die Homosexualität.167
Das Malthus’sche Bevölkerungsgesetz wurde zu einem wichtigen Bestandteil
der klassischen Ökonomie und zur verhassten Theorie der sozialistischen
Bewegung168, was sich in der (von Malthus beabsichtigten) Auseinandersetzung mit
dem individualistischen Anarchisten William Godwin zeigte: Malthus leitete aus
seinen eigenen Erkenntnissen ab, dass die Armensozialpolitik das zukünftige Elend
steigere, da damit die Gruppe der Arbeitslosen (die an der eigenen Lage selbst Schuld
sei) vergrößert würde und sich das Problem verschärfe, und griff damit die egalitären
Thesen Godwins offen an. Würde man diesen folgen, müsse eine Gesellschaft
sozialer Gleichheit in Armut und Elend versinken. Sein Text hatte zum erklärten
Ziel, gegen die soziale Armengesetzgebung vorzugehen, was ihm teilweise auch
gelang.169 Malthus glaubte, dass jene Vorteile für die menschliche Entwicklung, die
durch die Wissenschaft gewonnen würden, von der anwachsenden Bevölkerung
buchstäblich „aufgefressen“ werden. Es wird anhand seiner Theorie sichtbar, dass es
nicht um die Lösung des Armutsproblems ging, sondern um die Angst des
Bürgertums und der Aristokratie, vom explodierenden proletarischen
Bevölkerungswachstum überrollt und ins Elend gezogen zu werden. Dazu meint
Steinmann: „Das First Essay war das Buch der Stunde. Es artikulierte den neuen
Zeitgeist und entsprach dem Bedürfnis der herrschenden Klassen nach einer
ideologischen Begründung der bestehenden Gesellschaftsordnung.“170 Der Text

166 Thomas Robert MALTHUS, Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, 1924. Zit. nach:
Gunter STEINMANN, Malthus, S. 161.
167 MALTHUS, Das Bevölkerungsgesetz. Zit. nach: http://www.wsgn.euv-frankfurt-
o.de/vc/ws2002/HatteMalthusdochRecht.ppt (20.12.2005).
168 Karl Marx und Friedrich Engels waren erbitterte Gegner von Malthus’ Theorien. Sie kritisierten,

dass er das Elend der ArbeiterInnen ihrem Fortpflanzungsverhalten zuschrieb, anstatt die Ursache des
Übels in der kapitalistischen Produktionsweise zu suchen. Vgl. dazu: Gunter STEINMANN, Malthus, S.
170.
169 Seinen Ideen und Vorstellungen wurden in der Reform der Armengesetzgebung von 1834

weitgehend Rechnung getragen. Gunter S TEINMANN, Malthus, S. 159f.


170 Ebenda, S. 157.
58

beeinflusste unter anderen Charles Darwin nachhaltig, der bekannte, dass der Essay
ihn auf die Idee des natürlichen Selektionsprozesses gebracht hätte.171
Kritik von vielen Seiten blieb jedoch nicht aus: An den unterstellten
Gesetzmäßigkeiten wurden die fehlenden Bestimmungsfaktoren des
Bevölkerungswachstums beanstandet, die weit vielschichtiger waren, als es Malthus
darstellte. Auch läge eine geometrische Zunahme der Bevölkerung in modernen
Industriestaaten gar nicht vor. Die arithmetische Zunahme von Nahrungsressourcen
sei schlechthin gar nicht nachweisbar.172
Für Malthus waren zwar im Grunde alle Formen der Empfängnisverhütung
„Laster“. Diese Ablehnung verhinderte jedoch nicht, dass unter den Begriffen des
Malthusianismus und Neomalthusianismus sein Name als Synonym für die
Familienplanung und Geburtenkontrolle verwendet wurde. Trotz der politischen
Kritik an den Malthus´schen Folgerungen aus dem Bevölkerungsgesetz wurde der
Malthusianismus in Abwandlung zum Neomalthusianismus zu einer wichtigen
Theorie der sozialistischen Linken, der Frauenbewegung und des Anarchismus,
deren zentraler Bestandteil die freiwillige Geburtenkontrolle war.

5.3.2 Neomalthusianismus
Der Neomalthusianismus traf ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in
Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Skandinavien und einigen anderen
europäischen Ländern zunehmend auf Resonanz. Er wurde insbesondere von
SozialreformerInnen, liberalen PolitikerInnen, FeministInnen, ÄrztInnen,
173
EugenikerInnen, SexologInnen und AnarchistInnen vorangetrieben. Durch diese
Heterogenität der betreibenden Kräfte entwickelte sich der Neomalthusianismus in
verschiedene Richtungen. Dennoch gab es klare gemeinsame Elemente und
Forderungen. Dazu gehörten die Förderung der Sexualerziehung, die kritische
Überprüfung der kulturellen Werte rund um Sexualität und Fortpflanzung, die
Verbreitung neuer Verhütungsmethoden, die Entwicklung der Eugenik als probates

171 Darwin schrieb in seiner Autobiographie zur „Übervölkerungstheorie“ von Malthus: „Hier hatte
ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte.“ Vgl. dazu: Anna BERGMANN, Die
verhütete Sexualität. Die medizinische Bemächtigung des Lebens, Berlin 1998, S. 95.
172 Gunter STEINMANN, Malthus, S. 160f.
173 Als herausragende VertreterInnen seien hier folgende Personen genannt: Annie Besant, George

Drydale, Havelock Ellis, Marie Stopes (Großbritannien); Paul Robin, Nelly Roussel, Gabriel Hardy,
Eugène Humbert (Frankreich); Magnus Hirschfeld, August Forel (Deutschland); Luis Bulffi (Spanien).
NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S.136.
59

Mittel zur Verbesserung der Gesundheit der Nachkommenschaft, und die


Ausweitung der Familienplanung als Garantie für Gesundheit und Verringerung der
Mütter- und Kindersterblichkeit. 174
Wie schon gesagt, waren es insbesondere SozialreformerInnen, Ärzte und
Ärztinnen und SexologInnen, die am neomalthusianistischen Diskurs beteiligt waren.
Für sie galt die Geburtenkontrolle als absolute soziale Notwendigkeit zur Lösung der
gesellschaftlichen Probleme. Mit der Forderung nach der Einführung und
Verbreitung des Wissens um Familienplanung und Verhütungsmethoden begaben sie
sich oftmals in Konflikt mit den vorherrschenden traditionellen Werten, vor allem
deshalb, weil damit Sexualität und Reproduktion voneinander abgelöst wurden.
Die Entstehung des Neomalthusianismus ging langsam und in Etappen vor
sich: Mit dem Gerichtsprozess gegen die beiden britischen VerfechterInnen der
Geburtenkontrolle Annie Besant und Charles Bradlaugh im Jahr 1877 und der damit
verbundenen Polemik erfuhr die Bewegung in Großbritannien eine Expansion. Noch
im selben Jahr wurde die Malthusian League gegründet. Diese forderte einerseits die
Umsetzung progressiver Ideen, wie etwa die Verteidigung des Rechts von Frauen auf
Sexualität und die Selbstbestimmung der Bevölkerung bei der Verhütung,
andererseits vertrat sie die bürgerliche Wirtschaftspolitik und war auf politischer
Ebene ganz klar konservativ und der ArbeiterInnenbewegung gegenüber feindlich
eingestellt.175
Im Gegensatz dazu entwickelte sich die Bewegung in Frankreich gegen Ende
des 19. Jahrhunderts rund um die politische Linke. Auf Initiative des libertären
Pädagogen und Freidenkers Paul Robin, der im englischen Exil mit den dortigen
NeomalthusianistInnen in Kontakt getreten war, wurde 1896 die Ligue de la
Régénération Humaine gegründet. In ihren Gründungsprinzipien findet sich nicht nur
die Forderung nach der Limitierung des Bevölkerungswachstums, sondern es wurde
auch ausdrücklich festgehalten, dass die Qualität der Bevölkerung vor der Quantität
zu stehen habe. Diese Forderung weist die engen Verflechtungen auf, die zwischen
neomalthusianistischen Theoremen, der frühsozialistischen Linken und der relativ

174 Ebenda, S.135f.


175 Ebenda, S.137f.
60

jungen „Wissenschaft“ der Eugenik bestanden – und das lange Zeit, bevor sich in
Frankreich eine organisierte Bewegung selbst als „eugenisch“ bezeichnete.176
Robin publizierte auch zusammen mit dem Anarchisten Eugène Humbert
einige Zeitschriften und Zeitungen, wie etwa Régéneration, Le Malthusien oder
Génération Consciente (der späteren Namensgeberin der spanischen Generación
Consciente), in denen er die Prinzipien der Sexualreform und des Neomalthusianismus
verbreitete.177 Die Liga hatte Kontakte mit den radikalen ArbeiterInnenverbänden
und Mitgliedern der Confédération Général du Travail. Robin selbst hatte entscheidenden
Einfluss auf die Annäherung einiger anarchistischer Kreise an den
Neomalthusianismus.178
Die französische Gesetzgebung erschwerte jedoch die Diskussion von und
Propaganda für Antikonzeptiva, indem sie die Führer der Bewegung permanenter
Verfolgung aussetzte. Wie eingangs erwähnt, hatten in der französischen Variante
des Neomalthusianismus Gruppen der ArbeiterInnenbewegung und feministische
SozialreformerInnen eine herausragende Rolle inne. 1910 gründete sich die Federación
de Grupos Obreros Neomalthusianos mit der Unterstützung von den früheren, militanten
Mitgliedern der Ligue de la régénération humaine, die sich nicht nur der Verbreitung der
Geburtenkontrolle verschrieb, sondern auch die Sexualhygiene propagierte.179
Auch Feministinnen wie Madeleine Pelletier (1874-1939) oder Nelly Roussel
(1878-1922) waren wichtige Protagonistinnen der französischen Bewegung. Roussel
vertrat die Ansicht, dass die freiwillige Beschränkung der Geburten es Frauen
erlaube, sich davon zu emanzipieren, „Mütter gegen ihren Willen“ zu sein. Die
Feministin Jeanne Dubois begriff den Neomalthusianismus nicht nur als befreiendes
Moment für die Frauen, sondern sah darin auch die Lösung gesamtgesellschaftlicher
Probleme wie Armut und Krieg. Eine Minderheit von Feministinnen propagierte die
Idee des „Gebärstreiks“, um die Emanzipation von Frauen zu fördern. 1920 wurde
mit einer neuen Gesetzgebung die neomalthusianische Propaganda verboten.180

176 CLEMINSON, Anarchism, Science and Sex, S. 127f.


177 Francisco Javier NAVARRO N AVARRO, Anarquismo y Neomalthusianismo: La revista „Generación
Consciente“ 1923-1928, FN 7, S. 28. In: Arbor 615, März 1997, S. 9-32.
178 CLEMINSON, Anarchism, Science and Sex, S. 128.
179 NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S.137f.
180 Ebenda, S.138f.
61

Mary Nash zufolge durchlief die Haltung gegenüber dem


Neomalthusianismus in anarchistischen Texten Spaniens verschiedene Etappen:181
Die Diskussion um die Legitimität der Geburtenkontrolle war bis zum
Beginn des 20. Jahrhunderts in den anarchistischen spanischen Medien nicht zentral.
International betrachtet ist die anarchistische Haltung gegenüber den
neomalthusianistischen Prinzipien zu dieser Zeit als ablehnend zu charakterisieren,
da diese Ideen mit sozialdarwinistischen bzw. malthusianistischen Konzepten
identifiziert wurden, die ihre AnhängerInnenschaft vor allem im Bürgertum hatten.
Im Mittelpunkt der Kritik stand die malthusianische These des Konfliktes zwischen
dem Mangel an natürlichen Ressourcen und den menschlichen
Reproduktionskapazitäten, da die anarchistische Theorie stark von der Idee des
Überflusses und der Harmonie zwischen Mensch und Natur geprägt war.182 Die
meisten Linken waren der Geburtenkontrolle gegenüber feindlich eingestellt und
standen in Opposition zum Malthusianismus – die natürlichen Ressourcen müssten
ja nur fair aufgeteilt werden. Der unerschütterliche Glaube an die reiche Natur (und
ihre Wissenschaft) wirkte sich auf die Ablehnung der „neuen Ideen“ aus, was sich in
der zeitgenössischen Diskussion widerspiegelt.183 Zu dieser Zeit war also die
anarchistische Debatte noch nicht endgültig im Feld der Sexualität und ihrer
Technologisierung situiert.
In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts gewann der französische
Neomalthusianismus in Spanien, zuerst besonders in Katalonien, an Einfluss. Der
wichtigste Repräsentant dieser Strömung war Luis Bulffi, der 1904 in Barcelona
erstmals die Monatsschrift Salud y Fuerza (1904-1914) herausgab. Sie wurde zum
Medium der Sección Española de la Liga de la Regeneración Humana, einer spanischen
Ablegerin der von Paul Robin gegründeten französischen Vereinigung. Die
AutorInnen verfolgten den französischen Weg der Ligue de Régénération Humaine und
pflegten auch direkte und enge Kontakt zu dieser Vereinigung. In Salud y Fuerza
sowie anderen Publikationen wurde eine große Kampagne entfacht, die zum Ziel

181 Vgl.: Mary NASH, El neomalthusianismo anarquista y los conocimientos populares sobre el control
de natalidad en España, S. 316. In: Mary NASH (Hg.), Presencia y protagonismo. Aspectos de la
historia de la mujer, Barcelona 1984, S. 307-340; sowie Mary N ASH, El estudio del control de natalidad
en España: ejemplos de metodologías diferentes. In: La mujer en la historia de España (siglos XVI-
XX). Actas de las II Jornadas de Investigación Interdisciplinaria, Madrid 1984.
182 Mary NASH, El neomalthusianismo, S. 316.
183 Vgl.: José ÁLVAREZ JUNCO, La ideología política del anarquismo español (1868-1910), Madrid

1976.
62

hatte, die neuen Ideen zu verbreiten. Bulffi nahm dabei eine ähnliche
Sprecherposition wie Robin in Frankreich ein.184 Es wurde davon ausgegangen, dass
das libertäre Ideal von größtmöglicher Freiheit, Kraft und Fähigkeit zur
Verantwortung durch die Anwendung und Verankerung der neomalthusianistischen
Vorgaben von bewusster Kontrolle des Proletariats über die eigenen reproduktiven
Fähigkeiten erreicht werden würde. Dies wies – mit den Worten von Bulffi – die
Geburtenkontrolle als „wahrhaftig revolutionäre Waffe“ aus, was schon im Titel
seines Buches „La huelga de vientres“ – „Der Streik der Bäuche/Leiber“ – angedeutet
ist. In diesem Bestseller185 argumentierte Bulffi diese besondere Form des Streiks
folgendermaßen:

„Lassen wir es nicht länger zu, den aktuellen Staat dadurch zu begünstigen, indem
wir ihm unsere Kinder geben: derjenige, der kein Recht hat, ist auch zu nichts verpflichtet.
Fördern wir nicht länger die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, der Kinder
zeugt, deren Schicksal es ist, Fleisch der Fabriken, Ziel der kapitalistischen Ausbeutung und
zerlumpt von der Misere zu sein [...] Zahlreiche Familien zu zeugen, ohne sie ernähren zu
können, und dann in die Emigration zu flüchten, ist feige. Zahlreiche Familien zu zeugen,
ohne Mittel zu haben, ihnen Brot zu geben, indem man sie zur Misere verurteilt, ist kriminell.
Derjenige, der das Leben und die Freiheit liebt, pflanzt sich nicht in der Sklaverei fort [...]
alles was man machen könnte, wäre unnütz; deswegen schlage ich, als Agitationsergänzung
zu Militär-, Religions- und Lohnstreiks, auch den Streik der Bäuche/Leiber vor, als
schnellstes Mittel, um mit einem Male das aktuelle Sozialregime zu beenden, indem dem
Bürgertum alle Reserven entzogen werden.“186

Das hier skizzierte Szenario wiederholt sich in den anarchistischen Medien


unzählige Male, wenn über die Frage der Sexualität geschrieben und diskutiert wird:
Aus dem Elend der ArbeiterInnen erscheint die freiwillige Geburtenkontrolle und die
Aufklärung über Verhütungstechniken als Ausweg und zugleich als revolutionärer
Akt. In späteren Texten der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wird
sich ein weiterer Aspekt dieser „revolutionären Waffe“ hinzugesellen – nicht nur das

184 NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S.139f.


185 „La huelga de vientres“ erreichte in seiner elften Auflage 1911 eine Anzahl von 134.000 Exemplaren.
186 „No consintamos por más tiempo en favorecer el estado actual dándoles nuestros hijos: quien no

tiene derechos, no está obligado a tener deberes. No fomentemos más la explotación del hombre por
el hombre procreando hijos que han de ser destinados para carne de fábrica, de explotación capitalista,
pingajo de miseria y de hospital [...] Procrear familias numerosas sin poder alimentarlas y huir
emigrado es una cobardía. Procrear familias numerosas sin medios de darla pan, condenándola a la
miseria, es criminal. El que ama la vida y la libertad no procrea en la esclavitud [...] todo cuanto se haga
será completamente inútil; es por lo que, como complemento a las propagandas de huelga militar,
religiosa y del salario, propongo yo también la huelga de vientres, como el medio más rápido para
acabar de una vez, restando todas las reservas a la burguesía, con el régimen social actual.“ Luis
BULFFI, La huelga de vientres. Zit. nach: NAVARRO NAVARRO, Anarquismo y Neomalthusianismo,
FN 9, S. 28.
63

neomalthusianistische Argument („der Entzug menschlicher Reserven für die


Fabriken“) steht dabei im Vordergrund, sondern vor allem die Steigerung der
„Qualität“ des proletarischen Nachwuchses durch eugenische Maßnahmen wird zum
politischen Ziel erklärt. Gleichzeitig mit der diskursiven Trennung von Sexualität und
Fortpflanzung, sowie der medialen Verbreitung von Geburtskontrolltechnologien,
wies Bulffi in seinem Text auf den Umstand hin, dass Frauen die ersten wären, die
von einer Änderung im Fortpflanzungsverhalten auf Grundlage dieser
Wissensformen profitieren würden.
Trotz alledem fand der Neomalthusianismus – und damit auch die
grundlegende Frage nach der Limitierung der Geburtenziffern – im ersten Jahrzehnt
des 20. Jahrhunderts unter den Libertären in Spanien kaum AnhängerInnen und
repräsentierte zu diesem Zeitpunkt noch keinen wesentlichen Teil ibero-
anarchistischer Theoreme.187 Trotzdem kann die publizistische Arbeit von Bulffi als
Basis für die spätere Akzeptanz in den anarchistischen Kreisen gesehen werden, da
nicht zuletzt Salud y Fuerza eine Vielzahl an Büchern und Broschüren herausgab, die
später jahrelang die Bibliotheken anderer neomalthusianistischer Veröffentlichungen
wie z.B. Generación Consciente188 oder Estudios nährte.189 Dank des Erfolges von Huelga
de Vientres wurde die Edition von neomalthusianischen Zeitschriften vermehrt zu
einer Strategie von SozialreformerInnen, um eine Sexualerziehung bei der
LeserInnenschaft zu verankern und das Wissen um Verhütungsmethoden zu
verbreiten. Die Publikationen waren ein großer Erfolg und wurden von einem
großen Publikum regelrecht „verschlungen“.
Am Beginn des 20. Jahrhunderts gab es, abgesehen von Katalonien, nur
einige wenige neomalthusianistische Gruppen in Spanien, die weitgehend isoliert
agierten, und auch nicht direkt in die anarchistischen Organisationen integriert waren
oder wurden. Das hatte einerseits mit der Haltung von Bulffi zu tun, die nie offen
anarchistisch war, andererseits standen wichtige Anarchisten wie etwa Leopoldo
Bonafulla, Federico Urales und Anselmo Lorenzo dem Neomalthusianismus und
jeder Form der Geburtenkontrolle offen feindlich gegenüber. Sie bezogen sich bei

187 Vgl.: NASH, El neomalthusiansmo, S. 319.


188 Als augenfälligstes Beispiel sei an dieser Stelle folgende Veröffentlichung erwähnt: Franck S UTOR,
Generación Consciente [sic!]. Anatomía, fisiología, preservación científica y racional de la fecundación
no deseada, Biblioteca de Salud y Fuerza, Barcelona 1913.
189 Vgl.: NAVARRO N AVARRO, Anarquismo y Neomalthusianismo.
64

ihrer Kritik auf die Theorie des natürlichen Überflusses, wie sie etwa Kropotkin
vertreten hatte.190
Die Sección Española hatte in Katalonien ähnlich doktrinale Züge wie die
englische Bewegung. Sie vertrat die Meinung, dass die Geburtenkontrolle alle
sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen im Stande sei, und damit keine
Notwendigkeit einer Revolution im anarchistischen Sinne bestehe. Die Einbeziehung
der Theorie des Neomalthusianismus in den organisierten Anarchismus fand später,
in den 1920er Jahren, durch die Kompromissschließung einiger führender
anarchistischer Kreise statt. Anarchistische Publikationen wurden zu den wichtigsten
Medien sexualreformerischer, neomalthusianistischer und eugenischer Ideen. 191

Ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts fanden neomalthusianistische


und in weiterer Folge eugenische Theoriediskussionen breiten Eingang in
anarchistische Medien und erfuhren dort eine vermehrt positive Rezeption. In
diesem Kontext sind Zeitschriften wie Generación Consciente und Estudios, aber auch
Ética, Iniciales, Eugenica y Orto sowie die eher soziologisch-philosophisch orientierte La
Revista Blanca Ausdruck für die Assimilation dieser Ideen durch abgegrenzte
anarchistische Kreise, die sich der Verbreitung der Prinzipien der Geburtenkontrolle
buchstäblich „verschrieben“ hatten.
Sie waren Schnittpunkte für ideologische Aspekte, wissenschaftliche
Theorien und soziologisches Denken. Ein besonderer Schwerpunkt lag neben den
tagespolitischen Inhalten auf der Auseinandersetzung um die soziale Organisation
der Geschlechter, der Sexualität und dem Imperativ biotechnologischer
Interventionen auf diesem Gebiet. Sie sind auch Ausdruck der Veränderungen im
spanischen Anarchismus seit 1900: Anschließend an die Debatten um die
Jahrhundertwende bildeten sich bis in die 1930er Jahre viele Sektoren heraus, die ob
ihres Eklektizismus und ihrer Intellektualität herausstachen. Diese wollten das
sexuelle Begehren „korrekt“ kanalisieren, ohne gleichzeitig seine physiologische
Notwendigkeit zu verneinen. Wie im gesamten europäischen Hygiene- und
Sexualwissenschaftsdiskurs tauchte hierbei der zentrale Begriff der „Sorge um sich“

190 NASH, El neomalthusiansmo, S. 317f.


191 NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S.140f.
65

auf, der dem anarchistischen Individualismuskonzept besonders entgegenkam.192 Der


veränderte Umgang mit sich selbst, „die Sorge um sich“, sollte dabei – genau so wie
die Sorge um die (Sexualität der) Anderen – fundamentale Veränderungen
herbeiführen, um die gewünschte Gleichberechtigung herzustellen. Neben der Frage
nach dem, was sich verändern müsste, wurde vor allem das „Wie“ verhandelt. Dabei
sticht eben vor allem die Verbreitung neomalthusianistischer und eugenischer
Theoreme ins Auge, die als biotechnologische Strategien und deren Einsatz die
„künftige Gesellschaft“ produzieren sollten. Populationsregelungen und biopolitische
Eingriffe in den demographischen Volkskörper, die in den Lebenswissenschaften seit
dem 19. Jahrhundert diskutiert wurden, dominierten sogar die anarchistische Rede
über Sexualität und durchzogen regelmäßig ihre Medien.
„Sexualität“ wurde in den Texten buchstäblich zu einem Schlüsselbegriff des
politischen Lebens, das Wissen darum zu einer politischen Forderung, der Umgang
mit ihrer Technologie zum politischen Instrument. Im folgenden Kapitel werden
Medien, Proponenten und Transformationen dieses Sexualitätsdiskurses näher
beschrieben.

192 CLEMINSON, Anarchism, Science and Sex, S. 111.


66

6 Anarchistische Me dien: Zirkulation des Wissens

„Ideen, Ideen fehlen um Politiker in dem Sinne zu sein,


das Leben der Völker/Dörfer zu beeinflussen, und die
Intellektuellen, in ihrer Mehrheit, haben nicht mehr Ideen, als von
ihren Federn zu leben; und klar: Um von ihren Federn zu leben,
können sie keinen Sex/kein Geschlecht haben, da sie mit
kastrierten Ideen durch die Welt gehen müssen.“193

Die Plattform für das eloquente Brechen des „Schweigens über die
Sexualität“, wie es Isaac Puente 1931 als „ein Landarzt“ forderte194, waren die
zahlreichen anarchistischen Publikationen dieser Zeit. Sie nahmen eine zentrale
Stellung bei der Verbreitung anarchistischer Ideen und ihrer „libertären Kultur“ in
Spanien ein.195 Die Presse war die „Waffe“ eines offensiven Kampfes für den Aufbau
einer „neuen Gesellschaft“ und damit Medium für direkte und alternative
Information. Wenn dieses Schriftmedium auch eine Möglichkeit bot, neue
SympathisantInnen anzuwerben und als Kommunikationsforum diente, so fungierte
es doch vor allem auch als ein Wissensspeicher, in dem sich auch die
Begrifflichkeiten akademischer Disziplinen ablagerten. Der Glaube an eine
progressive Wissenschaft und an eine zukunftweisende Aufklärung war dabei ein
Dreh- und Angelpunkt der „authentischen“ Revolution. In ihrem Namen sollte der
„Irrationalismus“ politischer und sozialer Autoritäten angeprangert werden, um z.B.
Institutionen wie etwa Parteien, Kirchen und das Militär abzuschaffen.
Dominierende Themen waren dabei die Kultur, das Geschlechterverhältnis, die
Sexualerziehung und die so genannte „neue Moral“. Die Zeitschriften beleuchteten
und repräsentierten dabei die unterschiedlichsten ideologischen, politischen und
kulturellen Aspekte dieses durchaus heterogenen Anarchismus.
Es ist daher kaum verwunderlich, dass für das Jahr 1936 das Erscheinen von
über 100 verschiedenen anarchistischen Zeitschriften in Spanien nachgewiesen
werden kann.196 Aber nicht nur regelmäßig erscheinende Journale, sondern auch

193 „Ideas, ideas es lo que hace falta para ser político en el sentido de influir en la vida de los pueblos, y
los intelectuales, en su mayoría, no tienen más ideas que las de vivir de sus plumas, y claro, para vivir
de sus plumas, no pueden tener sexo, porque han de ir por el mundo con las ideas castradas.“
Comentarios, Escritores sin sexo, LRB, 46, 15.4.1925.
194 Vgl. Kapitel 5.1.3 Sexualität und gesprochene Wahrheit.
195 Viele Forschungsarbeiten unterstreichen die außergewöhnliche Bedeutung der Presse im

europäischen Anarchismus. Es wird aber auch betont, dass Spanien aufgrund der hohen Anzahl an
Publikationen dabei besonders heraus stach.
196 Vgl. dazu: Francisco MADRID SANTOS, La prensa anarquista y anarcosindicalista en España desde
67

Flugblätter, Pamphlete, Ratgeber, Kurzgeschichten und Fortsetzungsromane waren


Teil dieser vielfältigen Medienlandschaft, die sich der „Aufklärung der
ArbeiterInnen“ verschrieben hatte.197 Es ging um die gerechte Verteilung des neuen
Wissens und um die Frage, wie man es in der „Gegen-Kultur der ArbeiterInnen“
verwenden könne.
Dabei war auch die Rezeption der Ideen einer „anderen Sexualität“ im ersten
Drittel des 20. Jahrhunderts sehr wichtig. Der Anarchismus war unter allen
Strömungen der spanischen Linken zwischen 1870 und 1939 jene, die den Fragen,
die mit Sexualität und Reproduktion zusammenhingen, am meisten Aufmerksamkeit
schenkte. Mary Nash schreibt, dass die AnarchistInnen „einen der spanischen
Gesellschaftssektoren“ konstituierten, der „sich am meisten um diese Themen
gekümmert und darüber geschrieben hat“.198 In diesem Zusammenhang
unterschieden sie sich weitgehend von den marxistischen SozialistInnen Spaniens, die
„Sexualität“ fast ausschließlich unter ökonomischen Aspekten diskutierten und für
die das Thema keine wichtige Rolle im Kampf gegen den Kapitalismus spielte.199
Wegen der besonders hohen Auflagen und einem großen Bekanntheitsgrad
waren in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem zwei
Zeitschriften von großer Bedeutung: La Revista Blanca und Estudios. Diese bilden den
zentralen Quellenkorpus dieser Arbeit und sollen im Folgenden genauer vorgestellt
werden.
Da die Zeitschriften Teil des großen medialen Netzwerkes im spanischen
Anarchismus waren, wird im Text hin und wieder auf andere Zeitschriften, Texte
und AutorInnen verwiesen werden. Vor allem im Fall von Estudios kann und will die
Darstellung nicht ohne Bezug auf das Vorgänger-Medium Generación Consciente
auskommen, da sowohl die inhaltliche Ausrichtung als auch die redaktionelle
Besetzung im Grunde identisch waren.

la I Internacional hasta el final de la Guerra Civil, Diss. Universidad de Barcelona 1989. Zwischen
1870 und 1936 hat Madrid mehr als 900 Titel nachgewiesen.
197 Vgl. Francisco Javier NAVARRO N AVARRO, „El paraíso de la razón“. La revista Estudios (1928-

1937) y el mundo cultural anarquista, Valencia 1997; Lily LITVAK, La prensa anarquista 1880-1913, in:
Bert HOFMANN/Pere JOAN I TOUS/Manfred TIETZ (Hg.), El anarquismo español y sus tradiciones
culturales, Frankfurt am Main 1995, S. 215-236.; Marisa S IGUÁN BOEHMER, Literatura popular
libertaria. Trece años de „La novela ideal“ (1925-1938), Barcelona 1981; Josep Eduard ADSUAR, Guía
de la prensa libertaria en España (1850-1939), in: Anthropos. Suplementos (Pensamiento y estética
anarquista ), 5, 1988, 87-101.
198 NASH , El neomalthusianismo, S. 315.
199 Richard CLEMINSON, Anarquismo y homosexualidad. Antología de articulos de la Revista Blanca,

Generación Consciente, Estudios e Iniciales (1924-1935), Madrid 1995, S. 29.


68

6.1 Generación Consciente/Estudios200

6.1.1 Generación Consciente


Die Monatsschrift Generación Consciente wurde im Juni 1923, einige Monate vor
dem Staatsstreich durch Primo de Rivera, erstmals publiziert und erschien bis
November 1928.
Sie kann als Abspaltungsprodukt der Wochenschrift Redención gesehen
werden, die den Untertitel Órgano del Sindicato Único de Trabajadores de Alcoi y portavoz de
la CNT trug und sich damit als Organ der einzigen Arbeitergewerkschaft von Alcoi
und damit der CNT ausgab. Redención war rationalistisch orientiert und beinhaltete
auch schon eigene Sektionen, die der Naturmedizin, Geburtenkontrolle und dem
„Frauenproblem“ gewidmet waren. Gleichzeitig wurde durch sie auch der
Bücherkatalog der neomalthusianistischen Zeitschrift Salud y Fuerza distribuiert.
Aufgrund des Erfolges genau dieser Inhalte bei der LeserInnenschaft sowie des
ausführlichen kulturellen Teils der Publikation entschied sich ein Teil der Redaktion
1923 für die Gründung einer eigens diesen Themen gewidmeten Zeitschrift. So
entstand Generación Consciente als neue Monatsschrift, die sogar die neue politische –
und damit auch die mediale – Situation überlebte, die durch den Staatsstreich Primo
de Riveras entstanden war. Die personelle Kontinuität der Herausgeberschaft
manifestiert sich nicht nur inhaltlich, sondern auch institutionell, waren doch sowohl
Leiter als auch Redaktionsanschrift dieselben wie jene von Redención geblieben. Die
Redaktion unter der Leitung von José Juan Pastor201 wurde 1925 von Alcoi nach
Valencia verlegt, wo sie über das Jahr 1928 hinaus bis 1937 und dem Ende der
Nachfolgezeitschrift Estudios auch verblieb.202
Generación Consciente pflegte internationale Kontakte mit
NeomalthusianistInnen und EugenikerInnen. Als Beleg dafür kann die Teilnahme
von Juan José Pastor und Isaac Puente, einem der wichtigsten Mitarbeiter, als

200 Aufgrund der Kontinuität und Identität der beiden Zeitschriften, die hier noch erörtert wird, wird
in Folge bei der inhaltlichen Beschreibung und Analyse Generación Consciente und Estudios als ein Begriff
gefasst und benannt. Ausnahmen stellen selbstverständlich Zitate und spezifische Informationen dar.
201 José Juan Pastor gab neben Generación Consciente und Estudios auch die Zeitschrift Redención heraus

und arbeitete als Redakteur 1922 bei Solidaridad Obrera. Er war ebenfalls Gründungsmitglied der World
League for Sexual Reform 1928. Vgl. dazu: Miguel IÑIGUEZ, Esbozo de una enciclopedia histórica del
anarquismo español, Madrid 2001, S. 463.
202 MADRID S ANTOS, La prensa anarquista y anarcosindicalista en España, S. 382.
69

spanische Repräsentanten des Gründungskomitees der „Welt-Liga für die


Sexualreform“, die sich 1928 in Kopenhagen konstituierte, gelten. Auch wurden
regelmäßig Texte von Autoren aus anderen europäischen und amerikanischen
Ländern publiziert.
Der Untertitel beider Publikationen war Revista Ecléctica – eklektische
Zeitschrift. Diese Benennung zeigt die inhaltliche Meinungsvielfalt und die Diversität
der Diskussionsansätze auf, die in den Zeitschriften gepflegt wurden. Weder
Generación Consciente noch Estudios unterwarfen sich einer bestimmten
syndikalistischen Doktrin. In beiden Medien kamen viele verschiedene, zum Teil sehr
differierende Meinungen zum Ausdruck und folglich in die Druckerpresse.
Generación Consciente war essentiell an der Verbreitung und Angleichung von
Anarchismus und den neuen Ideen rund um Neomalthusianismus, Eugenik und
Sexualreform beteiligt. Das Medium unternahm große Anstrengungen, um die
Popularisierung der Geburtenkontrolle – ausgehend vom libertären Postulat der
Suche nach einem würdevollen, selbstbestimmten und glücklichen proletarischen
Leben – voranzutreiben. Als Ausgangspunkt der Kampagne kann das Ideal der
„Bewussten Mutterschaft“ („maternidad consciente“) bezeichnet werden, die von den
leitenden Mitarbeitern der Zeitschrift betrieben wurde. Unter diesen befanden sich
auch bekannte Mediziner und Wissenschafter, die nicht unbedingt mit der
anarchistischen Bewegung in Zusammenhang standen.203 Die Herausbildung
naturistischer Gruppen in dieser Zeit zusammen mit dem Interesse an einer
gerechten Verteilung wissenschaftlicher Erkenntnisse – im Speziellen der
neomalthusianistischen und eugenischen Theoreme – vervollständigen das
ideologische und kulturelle Profil der entstehenden Medien wie Generación Consciente,
Estudios sowie weiterer anarchistischer Schriften.
Im Gegensatz zu vielen anderen anarchistischen Medien und Organen
konnte die Zeitschrift Generación Consciente mit ihrer Nachfolgerin Estudios bis über
das Ende der Diktatur Primo de Riveras im Jahre 1930 hinaus veröffentlicht werden
und überlebte die neue politische Situation, die durch den Staatsstreich entstanden
war. Der Staatstreich setzte die Verfassung außer Kraft und hatte die Zensur von
Publikationen, sowie das Verschwinden einiger der wichtigsten Presseorgane der

Genannt seien hier zum Beispiel Luis Jiménez de Asúa, Gregorio Marañón oder César Juarros.
203

NAVARRO N AVARRO, Anarquismo y Neomalthusianismo, S. 9-32.


70

libertären Bewegung, zur Folge. Betroffen waren vor allem jene, die explizit
politische oder syndikalistisch-revolutionäre Inhalte hatten.204
Generación Consciente hatte zwar nicht zuletzt wegen ihrer
Solidaritätskampagnen für politische Gefangene, wie etwa Geldsammlungen oder die
Initiierung von Freilassungskampagnen, immer wieder mit den offiziellen Instanzen
der Diktatur zu kämpfen. Ohne Zweifel verursachte aber die Verteidigung des
Neomalthusianismus, der eugenischen Prinzipien und der Geburtenkontrolle im
Allgemeinen den gravierendsten Eklat mit der Diktatur.
Unter Primo de Rivera wurde eine Reihe von Anordnungen in Kraft gesetzt,
die auf den Mutterschaftsschutz und die Bestrafung von Verhütungskampagnen
abzielten. Diese Politik stand im Kontext der pro-natalistischen Politik vieler
europäischer Länder nach dem Ersten Weltkrieg. Zwangsmaßnahmen waren etwa
das Verbot der Abtreibung sowie von Verhütungsmitteln aller Art. Die Vertreter der
Geburtenkontrolle und Eugenik veranstalteten 1928 den Primer Curso Eugénico in
Madrid, an dem MedizinerInnen und WissenschafterInnen – unter ihnen auch einige
Mitarbeiter von Generación Consciente – teilnahmen. Der Kongress fand großen
Widerhall in der Presse, wurde jedoch auf persönliche Veranlassung des Diktators
verboten, indem den VeranstalterInnen das Delikt der Pornografie unterstellt
wurde.205 Die Repression gegen die VerfechterInnen von Geburtenkontrolle und
Eugenik gipfelte 1928 im Artikel 617 des neuen Strafgesetzes, der Sanktionen über
jene androhte, „die außerhalb von rein wissenschaftlichen Publikationen oder
technischen Körperschaften/Vereinen antikonzeptionelle Theorien oder Praktiken
verbreiten“ würden.206
Generación Consciente geriet damit noch stärker unter Druck, was unter
anderem an dem im Oktober 1928 zum ersten Mal gedruckten Hinweis „Visado por la
Censura“ zu erkennen ist.

204 Betroffen waren zum Beispiel Redención, Solidaridad Obrera (in Barcelona, Sevilla, La Coruña und
Gijón), Germinal, Via Libre, Cultura y Acción, Crisol, Páginas Libres, Alba Roja u.v.a.. MADRID SANTOS, La
prensa anarquista y anarcosindicalista en España, S. 515f.
205 NAVARRO N AVARRO, El paraíso, S. 40f.
206 „[...] los que fuera de publicaciones meramente científicas o actos de Corporaciones técnicas,

propaguen teorías o prácticas anticoncepcionales“ Zit. nach: Ebenda, S. 41f.


71

6.1.2 Estudios
Zwei Monate später, am 1. Dezember 1928, erschien die erste Ausgabe von
Estudios. La Revista Ecléctica und löste damit nahtlos Generación Consciente ab. Der neu
gewählte Titel mit wissenschaftlicherem Anstrich versprach weniger Behelligung
durch die Zensur des Regimes, wie aus folgendem Text der Redaktion hervorgeht:

„Geschätzter Leser und Freund:


In unserem letzten Editorial beschrieben wir die Schwierigkeiten, die diese
Zeitschrift zu überwinden hatte, um ihre kulturelle und wissenschaftliche Arbeit fortsetzen
zu können. Heute zwingt uns ein ernsthaftes Hindernis, verursacht durch diese
außergewöhnliche Periode, die Spanien gerade durchmacht, ihren Titel GENERACIÓN
CONSCIENTE durch ESTUDIOS zu ersetzen. Es ist unserer Meinung nach überflüssig zu
erwähnen, dass die moralische Bedeutung der Zeitschrift, ihre Ideologie und ihr eugenisches
Kriterium, ihre geistige und physische Überwindung dieselben bleiben, ja ausführlicher und
mit noch mehr Beharrlichkeit täglich weiterentwickelt werden. [...] Mit dem einen oder
anderen Titel, allen Hindernissen überlegen, die sich ihr vergeblich in den Weg stellen
mögen, wird sich diese Zeitschrift immer der Aufgabe widmen, alle Unruhen des
erneuernden und fruchtbaren Denkens in der Bevölkerung zu verbreiten, sowie eine gesunde
und gebildete Generation, strotzend vor Vitalität und ideeller Charakterfestigkeit, zu
schaffen.
DIE REDAKTION.“207

Ob die Namensänderung der Grund für die erfolgreiche Fortsetzung der


Publikation war, ist nicht zu eruieren. Fest steht aber, dass das Projekt Generación
Consciente/Estudios trotz aller Widrigkeiten die politische Herrschaft Primo de Riveras
bei weitem überlebte und erst im Juni 1937 – mitten im Spanischen Bürgerkrieg –
sein Ende fand. Francisco J. Navarro Navarro sieht den Grund für dieses
„Überleben“ vor allem in der kulturellen und erzieherischen Ausrichtung, die sich im
Wesentlichen auf theoretische Bereiche beschränkte.
Auch die eklektische Haltung trug sicherlich dazu bei, einer endgültigen
Zensur durch das Regime zu entgehen.208 Die Diskussion verschiedener
Lehrmeinungen vermittelte den Eindruck, das Blatt habe keine politische „Doktrin“

207 „Estimado lector y amigo: Decíamos en nuestra carta anterior los obstáculos que esta Revista ha
tenido que solventar para poder seguir en su labor cultural y científica. Hoy un serio inconveniente,
motivado por el período excepcional que atraviesa España nos obliga a cambiar su titulo de
GENERACIÓN CONSCIENTE por el de ESTUDIOS. Inútil creemos añadir que la significación
moral de la Revista, su ideología y su criterio eugénico, su obra de superación mental y física seguirá
siendo la misma, desarrollada más ampliamente y con mayor tesón cada día. [...] Con uno u otro título,
y por encima de todos los obstáculos que en vano tratan de oponerse a su marcha, esta Revista estará
siempre consagrada a difundir entre el pueblo todas las inquietudes del pensamiento renovador y
fecundo, a la creación de una generación sana y culta, pletórica de vitalidad y de entereza ideal. LA
REDACCIÓN.“ Zit. nach: Ebenda, S. 42f. Dieser Text wurde der Nummer 64 der Zeitschrift als
Rundbrief beigelegt und stellt die einzige Äußerung der Redaktion zur Namensänderung dar.
208 NAVARRO N AVARRO, El paraíso, S. 38.
72

– genau dies entsprach jedoch der libertären Ideologie, die an die freie
Meinungsbildung durch den Einsatz des eigenen Verstandes, also an das Konzept
der „rationalistischen Lehre“, glaubte.209
Im Klima der Auflösung und Repression der anarchistischen Gewerkschaften
und der explizit politischen Vereinigungen entwickelten sich gerade in der Provinz
Alicante kulturell engagierte Gruppen, deren Anliegen es war, den Naturismus als
ganzheitliche Lebensform bekannt zu machen, die libertäre Pädagogik, den
Neomalthusianismus und eugenische Methoden als Garanten für die „Bewusste
Mutterschaft“ und als Basis für „Freie Liebe“ zu propagieren und die
Sexualerziehung in der Bevölkerung zu verfestigen. Aus dem Milieu dieser
Gruppierungen210 heraus muss auch die Entstehung bzw. die erzieherisch-kulturelle
Ausrichtung von Generación Consciente/Estudios gesehen werden, vertraten doch die
NaturistInnen Ansichten, die im libertären Denken von Anfang an eine wichtige
Rolle gespielt hatten.211 Generación Consciente/Estudios wurde zur medialen
Vorkämpferin der Prinzipien der Geburtenkontrolle im Allgemeinen sowie von
Neomalthusianismus, Eugenik und der „Bewussten Mutterschaft“ im Besonderen.
Estudios erschien monatlich und glich Generación Consciente nicht nur inhaltlich
und redaktionell: Auch Format, Seitenumfang und die Gestaltung der Titelblätter
blieben bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts unverändert. Die Zeitschrift
erreichte bei manchen ihrer insgesamt 102 Nummern eine Höchstauflage von circa
65.000 bis 75.000 Exemplaren212, eine überraschend hohe Zahl verglichen mit der

209 Die Enseñanza Racionalista geht auf das Erziehungskonzept von Francisco Ferrer, den Begründer
der Escuela Moderna, zurück. Der liberale Freimaurer Ferrer war eine prominente Figur in den
Auseinandersetzungen um den Zugang zu laizistischer Bildung und Schule, die seit den achtziger
Jahren des 19. Jahrhunderts in Spanien tobten. Er wurde 1909 auf dem Montjiuch wegen seiner
angeblichen Führungsrolle bei dem antimilitaristischen und antiklerikalen Aufstand der Semana Trágica
hingerichtet. Nicht zuletzt deshalb wurde er zu einem Mythos innerhalb der ArbeiterInnenschaft und
beeinflusste nachhaltig die Erziehungs- und Bildungsdiskussionen innerhalb der anarchistischen
Bewegung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Vgl. dazu: ASOCIACIÓN CULTURAL ALZINA,
La Enseñanza Racionalista en Alicante, S. 76f. In: INSTITUTO DE ESTUDIOS J UAN-GIL-ALBERT (Hg.),
El anarquismo en Alicante 1886-1945, Alicante 1986, S. 73-89.
210 Beispielhaft seien hier zu nennen: La Sociedad Naturista de Alcoy, La Sociedad Vegetariano-Naturista de

Alicante, Los Hijos del Sol, La Sociedad Naturista de Elda y Petrel. Vgl. dazu: ASOCIACIÓN CULTURAL
ALZINA, La Enseñanza Racionalista en Alicante, S. 81f.
211 Trotz der Gemeinsamkeiten von Naturismus und Anarchismus gab es auch Auseinandersetzungen

zwischen dem naturistischen Flügel, der offen die anarchistischen Anliegen unterstützte, und dem
großen entpolitisierten Flügel der therapeutisch-vegetarischen Strömung. Dieser Konflikt brach auf
dem Kongress von Malaga 1927 unter dem Vorsitz von Antonia Maymón erstmals offen aus.
ASOCIACIÓN CULTURAL ALZINA, La Enseñanza Racionalista en Alicante, S. 82.
212 Diese Auflagenzahlen werden in fast allen Studien, die auf Estudios referieren, genannt. NAVARRO

NAVARRO, El paraíso, S. 67. Vgl. Auch: Ders., Estudios, discurso anarquista y prostitución. In:
73

LeserInnenschaft von spezialisierten, eher medizinisch orientierten Zeitschriften


dieser Jahre.213 Dies kann mit der für die AnarchistInnen so wichtigen Rolle der
Wissenschaft als entscheidendes Instrument für die soziale und ideologische
Transformation erklärt werden. Die Distribution der Zeitschriften wurde – wie bei
den Medien der ArbeiterInnenbewegung üblich – über ein großes Netzwerk von
Korrespondenten oder paqueteros organisiert.214 Es gab auch zahlreiche morosos, die
nicht rechtzeitig ihre Rechnung zahlten und deshalb in den Publikationen oftmals
gerügt wurden.215

6.1.3 Consultorio und Biblioteca


Generación Consciente hatte zwei sehr spezielle Sektionen, die in Estudios
fortgeführt wurden. Zum einen gab es die Rubrik „Consultorio Médico“, in der
Anfragen von LeserInnen weitestgehend medizinischer Art publiziert und
beantwortete wurden. Zum anderen fungierte Generación Consciente/Estudios als Verlag
für eigene Publikationen, der auch eine wichtige ökonomische Absicherung der
Zeitschrift darstellte, die oftmals in finanziellen Schwierigkeiten steckte.
In der Einrichtung der medizinischen Beratungsecke des „Consultorio Médico“
wurden Adressen von beratenden Medizinern, die mit der Publikation in Verbindung
standen, zur Verfügung gestellt, welche die LeserInnen mit dem darin abgedruckten
Kupon verbilligt oder gratis konsultieren konnten. Zwei in den naturistisch geprägten
libertären Kreisen sehr bekannte Mediziner – Isaac Puente und der schon weiter
oben zitierte Roberto Remartínez – waren die ersten, die ihre Dienste den
LeserInnen auf diese Weise anboten. Später kamen auch andere hinzu. Die
Beratungen fanden persönlich oder über Schriftwechsel statt. Diese Sektion
entwickelte sich im Nachfolgeblatt Estudios zu einer LeserInnen-Beratungsecke
weiter, die häufig mehrere Seiten einnahm.

Historar. Revista Trimestral de Historia 2, 1999, S. 84-91; MADRID SANTOS, La prensa anarquista y
anarcosindicalista en España; CLEMINSON, Anarchism, Science and Sex, S. 169f.
213 NAVARRO N AVARRO, Anarquismo y Neomalthusianismo, S. 10.
214 Das Netzwerk an Korrespondenten reichte weit über die Grenzen Spaniens hinaus. Vor allem in

Lateinamerika erfuhr die Zeitschrift große Anerkennung. So gab es in Argentinien, Uruguay, Cuba,
Venezuela und Costa Rica so wie in vielen Städten Spaniens „administrative Korrespondenten“. In
Europa wurde außerhalb der spanischen Landesgrenzen vor allem in Frankreich und Belgien die
Zeitschrift gelesen. N AVARRO NAVARRO, El paraíso, S. 70.
215 Vgl.: Ebenda, S. 35.
74

Mit dem „Consultorio“ erfüllte sich ein prinzipielles Ziel von Generación
Consciente/Estudios: Er bot die Möglichkeit einer generellen medizinischen Beratung
und durch den Ratgeber konnten gleichzeitig die von der Publikation verteidigten
Prinzipien verbreitete werden, da die Mehrheit der beratenden Ärzte gleichzeitig
Autoren der Kolumne waren. Neben der allgemeinen medizinischen Beratung
wurden durch den „Consultorio“ schwangerschafts- und
geschlechtskrankheitsverhütende Verschreibungen getätigt.
Eine andere wichtige Einrichtung von Generación Consciente/Estudios war ihre
„Biblioteca“ – eine Rubrik, in der selbst- sowie fremdverlegte Bücher vorgestellt
wurden. Durch sie wurde ein umfassender Fundus von Büchern mit ganz
verschiedenen Themen distribuiert und verkauft, der von anderen Verlagen publiziert
wurde. Selbst funktionierte die Bibliothek auch wie ein Eigenverlag, indem sie ihre
eigenen Reihen veröffentlichte. Eben diese Einrichtung war es, welche die Zeitschrift
mehrfach vor dem finanziellen Ruin bewahrte bzw. die einzige halbwegs verlässliche
Einnahmequelle war. Außerdem sollte damit das Grundprinzip der erzieherischen
Arbeit an der ökonomisch und sozial schlechter gestellten Bevölkerung gefördert
werden.
Die Bedeutung der „Biblioteca de la Generación Consciente/Estudios“ kann vor
allem am Umfang der für sie reservierten Seitenanzahl in der Zeitschrift abgelesen
werden: Im Normalfall okkupierte die Bewerbung des Bücherkataloges alle
Umschlagseiten, und manchmal nahm dieser sogar mehrere Seiten am Anfang und
Ende jeder Nummer ein. Gleichzeitig wurden in der Sektion „Bibliografía“ ausführlich
die Neuerscheinungen kommentiert.
Aus der umfangreichen Palette an Themen der Biblioteca216, wie etwa denen
der Literatur, Kultur, Politik, Ökonomie, anarchistische Ideologie, Medizin,
Populärwissenschaft und Pädagogik, stechen vor allem jene Schriften hervor, die sich
mit Sexualität, Neomalthusianismus und dem „Frauenproblem“ auseinander setzen.
Der Stellenwert dieser Themen innerhalb des gesamten angebotenen Spektrums
kann daran festgemacht werden, dass beispielsweise im Juli 1926 der Anteil der sich
mit Sexualität beschäftigenden Bücher fast 28 Prozent betrug. Allein die von

216Navarro Monerris hat in seiner Arbeit die Biblioteca statistisch ausgewertet und kommt damit für
das Jahr 1928 auf eine Zahl von 1027 vertriebenen Titeln. José N AVARRO MONERRIS, Generación
Consciente. Sexualidad y control de natalidad en la cultura revolucionaria española, Unveröffentl.
Arbeit, Alicante 1988, S. 36.
75

Generación Consciente/Estudios selbst verlegten Texte weisen einen noch weit höheren
Prozentsatz der Thematik auf, woran sich wiederum deutlich die
Schwerpunktsetzung der Zeitschrift zeigt.217
Zugleich wurden häufig Publikationen beworben, die sich mit Sexualität und
Geburtenkontrolle beschäftigten. Titel wie etwa „La Educación Sexual de los Jóvenes“
von Dr. Mayoux, „Generación Consciente“ von Franck Sutor, „La Libertad Sexual de las
Mujeres“ von Julio R. Barcos, El exceso de población y el problema sexual“ von G. Hardy
oder „Huelga de Vientres“ von Luis Bulffi wurden mit Lobreden überschüttet:

„'Streik der Bäuche!'


Hier gibt es eine Broschüre, die in keinem Haushalt fehlen sollte. Eine kurze und
bündige Abhandlung der elementaren Hygieneregeln, dessen Lektüre neue Horizonte sowohl
für die Hygiene als auch für das eheliche Glück eröffnet.
GESUNDE UND GEBILDETE KINDER, das sollte das Motto des modernen
Vaters sein, des Vaters, der sich für seine Nachkommen die besten Qualitäten und
Fähigkeiten wünscht, schlussendlich des wahren Liebhabers/Liebenden der Kultur und des
Fortschritts.“218

Die HerausgeberInnen von Generación Consciente/Estudios widmeten sich der


Verbreitung solcher Texte nicht zuletzt aufgrund ihrer Involviertheit in die
Kampagne für Geburtenkontrolle und Sexualreform. Navarro Navarro kommt in
seiner Auswertung auf eine Gesamtanzahl von 456 verschiedener Titel, die über die
„Biblioteca“ beworben wurden. Davon widmeten sich 18,5 Prozent der Publikationen
den Themen „Sexualität“, „Neomalthusianismus“ und „Frau“.219

217 NAVARRO N AVARRO, Anarquismo y Neomalthusianismo, S. 19f.


218 „'¡Huelga de Vientres!' He aquí un folleto que no debe faltar en ningún hogar. Breve y
compendioso tratado de elementares reglas higiénicas, cuya lectura abre nuevos horizontes a la dicha y
a la felicidad conyugal. HIJOS SANOS Y EDUCADOS, tal debe ser el lema del padre moderno, del
padre que desea para su descendencia las mejores cualidades y aptitudes, del verdadero amante, en fin,
de la cultura y del progreso.“ GC, 25, August 1925. Zit nach NAVARRO NAVARRO, Anarquismo y
neomalthusianismo, S. 31.
219 NAVARRO N AVARRO, El paraíso, S. 227f.
76

Abbildung 1: Graphische Darstellung der thematischen Anteile der „Biblioteca de Estudios“.


Navarro Navarro, El paraíso, S. 228.

6.1.4 Neomalthusianismus in Generación Consciente/Estudios


Die Diffusion des neomalthusianistischen Ideals wurde zu einem der
wichtigsten Ziele der Zeitschrift. Einerseits sollte, dem neomalthusianistischen
Prinzip entsprechend, durch die Reduzierung der Geburten die Lebensqualität in der
ArbeiterInnenschaft gehoben werden, andererseits aber auch durch die Erkenntnisse
der Eugenik die qualitative Anhebung des Erbmaterial und der Nachkommenschaft
erreicht werden und „das Leben an sich“ verbessert werden. Es wurde unterstrichen,
dass die Seiten von Generación Consciente/Estudios vor allem „dem Studium der
Generation und den anderen/übrigen Aspekten des Sexualproblems“220 gewidmet
waren. Das angestrebte Ideal stellte die „bewusste“ und „freiwillige Mutterschaft“
dar, die auf der Basis einer „neuen Sexualmoral“ – weit entfernt von der in der
bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Sittlichkeit – hergestellt werden sollte. Aus
diesem Grund wurde „die Frau“ einerseits zu einem der wichtigsten Themen
innerhalb der Debatten, andererseits wurde sie gleichzeitig als medialer Transmitter
der formulierten Ideen an/geschrieben:

220 GC, 11, Juni 1924. Zit. nach: N AVARRO N AVARRO, Anarquismo y neomalthusianismo, S. 16.
77

„[...] nicht nur du selbst hast die Aufgabe die Spezies zu verbessern, deine Aufgabe
ist es, sie moralisch und physisch anzuheben [...] Damit du studierst und überlegst, und damit
du andere, die wie du leiden, dazu einlädst zu studieren und nachzudenken, legen wir dir die
Seiten von Generación Consciente in die Hände.“221

Die „Obsession“222 für die Diskursivierung der physischen und spirituellen


Regeneration der ArbeiterInnenklasse blieb in der Zeitschrift konstant. Das in den
Texten verfolgte Ziel war die harmonische Entwicklung der Individuen innerhalb
einer vom Anarchismus stark propagierten Philosophie der Wiederentdeckung einer
„Naturverbundenheit“ des Menschen, in der „die Steigerung des menschlichen
Wesens in seinen physiologischen Aspekten und seiner körperlichen Schönheit –
Blut und Nerven, Muskeln und Denken“ stattfinden sollte, um damit letztendlich
„langsam die unendliche Harmonie aller Formen“223 zu erlangen.
Doch es wurde auch klar dargelegt, dass das Denksystem der „biologischen
Regeneration“ und die damit verbundene kulturelle Erneuerung zwar vor allem
durch die ArbeiterInnenorganisationen vorangetrieben werden sollte, jedoch nicht in
doktrinärer Art bzw. nicht durch eine bestimmte politische Institution.224 Dies geht
schon aus dem Untertitel Revista Ecléctica, eklektische Zeitschrift, hervor. Es wurden
also verschiedene Meinungen und politische Konzepte diskutiert, ohne jedoch die
anarchistische Herkunft der Publikation jemals vergessen zu machen. Der postulierte
Eklektizismus manifestiert sich an der unterschiedlichen Herkunft der
MitarbeiterInnen225, Kommentaren und der beworbenen Bücher.

221 “[...] no sólo tú es tu deber aumentar la especie, tu deber es elevar moral y fisicamente [...] Para que
estudies y medites y para que invites a estudiar y meditar a las que como tú sufren, ponemos en tus
manos las páginas de Generación Consciente.“ GC, 7, Februar 1924. Zit. nach: N AVARRO NAVARRO,
Anarquismo y neomalthusianismo, S. 16.
222 Die Verwendung des Begriffs „Obsession“ in diesem Zusammenhang stammt von Navarro und

wurde von mir wegen seiner Trefflichkeit direkt übernommen.


223 GC, 12, Juli 1924. Zit. nach: NAVARRO N AVARRO, Anarquismo y neomalthusianismo, S. 32.
224 NAVARRO MONERRIS, Generación Consciente, S. 30.
225 Unter den festen MitarbeiterInnen befanden sich unter anderen Isaac Puente, David Díaz, Adolfo

Ballano, Delaville, Antonia Maymón, Higinio Noja Ruiz, Fortunato Barthe, Roberto Remartínez,
Alfonso Camín, León Sutil, Emilio Mistral. Es gab mehrmalige Kollaborationen mit Luis Jiménez de
Asúa, Regina Opisso, Ángel Samblancat, Sebastián Gomila, Antonia Guardiola neben einer Anzahl an
anerkannten Medizinern und Wissenschaftern. NAVARRO NAVARRO, Anarquismo y
neomalthusianismo.
78

6.2 La Revista Blanca

In Anbetracht dessen, dass die spanische Anarchismusforschung der


Zeitschrift La Revista Blanca als Quelle und Untersuchungsgegenstand beachtliche
Aufmerksamkeit geschenkt hat, kann sie wohl als eine der bekanntesten und
meistzitierten anarchistischen Blätter der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert und der
zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Spanien gewertet werden.226
Nach Meinung von George Woodcock war sie überhaupt die wichtigste
anarchistische theoretische Zeitschrift in Spanien.227 Diese Wertung mag nicht zuletzt
mit der hohen Auflagenzahl, der inhaltlichen Bandbreite sowie der prominenten
Besetzung der Redaktion durch die Familie Montseny zusammenhängen.
„Es ist unvermeidlich, La Revista Blanca mit Estudios zu vergleichen“228, meint
Navarro Navarro in seiner Studie zu Estudios. La Revista Blanca erreichte eine
durchschnittliche Auflage von 6000 bis 8000 Exemplaren. Andere Quellen sprechen
von bis zu 12.000 Exemplaren.229 Besonders die von der Zeitschriftenredaktion
herausgegebenen Buchkollektionen – wie etwa „La Novela Ideal“ – erreichten
230
Auflagen bis zu 50.000 Stück.
Die Zeitschrift erschien in zwei Phasen. Von 1898 bis 1904 – der so
genannten primera época – und von 1923 bis 1936, der segunda época.

6.2.1 Primera Epoca


Juan Montseny231 alias Federico Urales232 gründete 1898 die Zeitschrift La
Revista Blanca und gab sie zusammen mit seiner Frau Teresa Mañé alias Soledad

226 Als kleiner Ausschnitt an Beispielen seien hier erwähnt: Emanuela SCARDOVI, Editoria militante e
cultura libertaria. La Revista Blanca. In: Spagna Contemporanea, 5, 1994, S. 45-60; Carmen SENABRE
LLABATA, La estética anarquista a través de La Revista Blanca. In: Anthropos, Supl., 5, März 1988, S.
16-72; Susanna TAVERA GARCÍA, La Revista Blanca. Análisis de una publicación anarquista (1931-
1936), Dipl.-Arb. Universidad de Barcelona 1973; Annalisa CORTI, La Revista Blanca. Revista de
„Sociología, Ciencia y Arte“. In: Estudios de Historia Social, 40-41, 1987, S. 103-264; Maria Angeles
GARCÍA-MAROTO, La mujer en la prensa anarquista. España 1900-1936, Madrid 1996; sowie viele der
publizierten Texte von Mary NASH und Richard CLEMINSON.
227 George WOODCOCK, Anarchism, London 1970, 348. Auch: NAVARRO N AVARRO, „El paraíso de

la razón“, 68.
228 NAVARRO N AVARRO, El Paraíso S. 68.
229 SENABRE LLABATA, La estética anarquista, S. 44.
230 NAVARRO N AVARRO, El Paraíso S. 68.
231 Juan Carret Montseny (1864-1942), geb. in Reus, gest. in Salon/Frankreich. Als Fassbinder und

Student schloss er sich 1887 dem Anarchismus an. 1888 Sekretär der Föderation der Fassbinder
Spaniens. 1891 heiratet er Teresa Mañé. 1892 und 1896 verhaftet, ein Jahr Gefängnisstrafe in
Montjuich, 1897 Verbannung nach England. Im gleichen Jahr heimliche Rückkehr nach Madrid. 1898
79

Gustavo233 heraus. Eigentlich war der Titel Evolución Intelectual vorgesehen, jedoch
entschieden die HerausgeberInnen sich dann doch anders. La Revista Blanca wurde
1898 als Antwort auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Spanien sowie in der
nationalen und internationalen anarchistischen Bewegung gegründet. Sie bezog sich
bewusst auf die Pariser Zeitschrift Revue Blanche: Die von Alexandre Natason geleitete
Publikation „hatte mit einzigartiger Aufmerksamkeit einige Aspekte der spanischen
Intellektuellen verfolgt und gezollt und verfolgten Politikern, die sich aus Spanien
flüchtend an das Nachbarland wandten, einen herzlichen Empfang bereitet.“ 234
Auch der Zeitpunkt der Gründung war kein Zufall, sondern stand ganz im
Zeichen der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse von 1898, als Spanien die
letzten Überseekolonien Cuba, Puerto Rico und die Philippinen verlor. Was als
„historische Tragödie“ und nachhaltige Krise das Land bewegte235, machten die

gründete er zusammen mit Mañé La Revista Blanca. 1912 Verbannung aus Madrid. Danach lebte er in
Barcelona als Journalist und Bühnenautor. 1923 gab er erneut und diesmal zusammen mit seiner
Tochter Federica Montseny wieder La Revista Blanca heraus. In den folgenden Jahren editierte er viele
Text-Kollektionen, darunter La Novela Ideal (1925), La Novela Libre (1929), El Luchador (1931) und
viele andere Broschüren. Nach dem Bürgerkrieg Flucht ins französische Exil, Aufenthalte in den
Konzentrationslagern St. Laurent, Montpellier und Salón, wo er schließlich starb. IÑIGUEZ, Esbozo
de una Enciclopedia histórica del anarquismo español, S. 416.
232 Montseny benutze auch einige andere Synonyme wie etwa: Hipatía, Mario del Pilar, Siemens,

Doctor Boudín, Remigio Olivares, Un profesor de la normal, Rudolf Sharfenstein, Ángel Cunillera,
Antonio Galcerán, Ricardi Andrés, Un Trimardier, Charles Money und Ricos de Andes. Im weiteren
werde ich sein wichtigstes Synonym (Urales) verwenden damit es zu keinen Verwechslungen mit
seiner Tochter Federica Montseny kommt und weil die Forschungsliteratur ihn zumeist auch so nennt.
Innerhalb der anarchistischen Bewegung war und ist es oftmals üblich, sich ein oder mehrere
Synonyme zuzulegen, was es nicht unbedingt erleichtert, die Texte den jeweiligen AutorInnen
zuzuordnen. Der Grund für die Verwendung von Decknamen mag in den staatlichen Verfolgungen
liegen, denen AnarchistInnen immer wieder ausgesetzt waren und ihnen heute noch die besondere
Aufmerksamkeit der Polizei und anderer Überwachungsorgane beschert. Bei meinen
Forschungsbesuchen in der Zentrale der CNT Madrid konnte ich mich davon überzeugen, dass diese
Namensgebung heute noch immer Usus ist und den betreffenden Personen wohl auch einen
abenteuerlichen Hauch an Klandestinität verleihen soll. Die Geschichte dieser Tradition (nicht nur in
der anarchistischen Bewegung!) wäre meiner Meinung nach durchaus eine eigene Forschungsarbeit
wert!
233 Teresa Mañé alias Soledad Gustavo (1865-1939), Lehrerin, leitete ab 1891 eine eigene Schule,

verheiratet mit Juan Montseny alias Federico Urales, Mutter von Federica Montseny, rief 1892 eine
Initiative für die Gefangenen vom Aufstand in Jeréz de la Frontera sowie die angeblichen Mitglieder
der Mano Negra ins Leben, Herausgeberin vieler Zeitschriften. IÑIGUEZ, Esbozo de una Enciclopedia
histórica, S. 369f.
234 „había prestado singular atención a algunos aspectos de la intelectualidad española y había

tributado un cordial recibimiento a los perseguidos políticos que huyendo de España se dirigían als
país vecino.“ TAVERA G ARCÍA, Revista Blanca, S. 3.
235 Der Verlust der Kolonien und der Zusammenbruch des Restaurationssystems wurde damals unter

der Bezeichnung „Desaster von 1898“ zusammengefasst. Im Zusammenhang mit dem „Desaster von
1898“ – nach dem ganze Künstler- und Philosophieschulen anfingen sich mit der Situation Spaniens
in sehr pessimistischer Art auseinanderzusetzen – ist auffällig, dass viele der vorgeschlagenen
Lösungen aus der Krise Spaniens in medizinischer und pathologisch-degenerationistischer Sprache
beschrieben wurden. „Spain, as a living organism, was an ill or degenerated society; the positivist
80

AnarchistInnen als Chance aus, ihre eigenen Organisationen zu stärken und eine
politische Ideologie für Spanien zu entwickeln. Auch stand die Zeitschrift im
Zeichen der Verteidigung politisch Gefangener in Folge der Gesetzgebung von
1896236 und der daraufhin in Barcelona stattgefundenen Jagd auf „anarchistische
Terroristen“.237
Aus diesem Grund suchte Urales für die Durchführung des Projekts nach
bekannten und von der spanischen Öffentlichkeit anerkannten DenkerInnen und
AutorInnen und gewann letztendlich sogar progressive Republikaner dafür, sich an
der Publikation zu beteiligen. Selbstverständlich waren aber vor allem bekannte
AnarchistInnen dabei: Anselmo Lorenzo, Teresa Claramunt, Eliseo Reclús und
Kropotkin und viele andere publizierten regelmäßig in La Revista Blanca. Urales
suchte sogar die Kollaboration mit Miguel Unamuno, einem der wichtigsten
spanischen Autoren der generación ´98, um sich durch seine Bekanntheit vor dem
Publikationsverbot zu schützen.
Die inhaltlichen Schwerpunkte der Publikation lagen in Soziologie, Kunst
und Wissenschaft, die aus anarchistischem Blickwinkel behandelt wurden –
dementsprechend lautete ihr Untertitel auch Sociología, ciencia y arte. Damit stand die
Zeitschrift – wie schon dargestellt – in der Tradition von zahlreichen anderen
anarchistischen Publikationen.
1903 litt die Zeitschrift schon unter großen finanziellen Problemen, weshalb
das Suplemento de la Revista Blanca, die Beilage der Zeitschrift, in diesem Jahr zur

doctor should situate himself with a scientific attitude before the patient and determine the three
stages of clinical analysis: diagnostic, prognostic and therapeutic.“
Regenerationisten aller politischen Lager waren angehalten, Daten zu sammeln, zu klassifizieren, zu
analysieren und zu interpretieren, um die konkreten Probleme des Landes zu identifizieren und
spezielle Lösungen zu finden. CLEMINSON, Anarchism, Science and Sex, S. 74.
236 Als Reaktion auf eine Serie von Bombenanschlägen wurden 1894 und 1896 „Gesetze zur

Unterdrückung des Terrorismus“ erlassen. Auch wurde eine neue, gefürchtete Polizeieinheit
geschaffen: La brigada político-social. Am 2. September 1896 wurde „La Segunda Ley Antiterrorista“
erlassen, mit der die Strafen für verurteilte „Terroristen“ und verdächtigte „Komplizen“ verschärft
wurden. Auch wurde damit der Besitz von jeglicher entzündbarer Flüssigkeit zu einem Delikt erklärt,
und die Fälle ab nun der Militärgerichtssprechung unterstellt. Aufgrund dieses Gesetzes wurden in
Barcelona im folgenden Jahr an die 400 AnarchistInnen verhaftet und gefoltert sowie fünf
Anarchisten in den sogenannten „Prozessen von Montjuich“ hingerichtet. Walther BERNECKER,
España entre tradición y modernidad. Política, economia, sociedad (siglos XIX y XX), Madrid 1999, S.
180; Carmen UTRERA/Dolores CRUZ, Cronología de la historia de España. Bd. 3: La España del siglo
XIX, Madrid 1999, S. 86.
237 CLEMINSON, Anarquismo y Homosexualidad, S. 32.
81

Tageszeitung Tierra y Libertad238 umbenannt und damit ausgegliedert wurde. 1904


wurde die Zeitschrift ganz eingestellt.

6.2.2 Segunda Epoca


Ab 1923 erschien La Revista Blanca wieder unter neuer redaktioneller Leitung:
Federica Montseny239, die später – während des Spanischen Bürgerkrieges 1936 – das
Amt der Sozial- und Gesundheitsministerin innehatte, führte nun zusammen mit
ihrem Vater die Zeitschrift, die ihre Eltern gemeinsam gegründet hatten und in der
wieder vor allem theoretische und kulturelle, aber auch soziologisch-medizinische
Themen behandelt wurden. Federica Montseny war zweifelsohne jene Person, die La
Revista Blanca (allein durch ihre rege Arbeit als Autorin) signifikant repräsentierte und
mit ihrer Arbeit so gut wie jede Ausgabe dominierte. Sie übte aber gleichzeitig nie
eine restriktive, sondern eine weitgehend egalitäre Redaktionspolitik aus.240
Die Zeitschrift erschien von 1923 bis 1933 alle 14 Tage und ab der Nummer
252 vom 16. November 1933 sogar wöchentlich. Es gab ebenfalls illustrierte
Wochenbeilagen, die ab 1929 separat zu beziehen und zu bezahlen waren. Im Mai
1936 wurde angekündigt, dass aufgrund der finanziellen Lage und der abnehmenden
Qualität wie Quantität die Zeitschrift wieder alle zwei Wochen erscheinen würde.241
Die Gestaltung des Umschlags wechselte mehrfach im gesamten
Erscheinungszeitraum. Ab 1925 wurden allegorische Bilder wie etwa „Die Freiheit“
oder „Die Justiz“ für das Titelblatt eingesetzt. Ab 1929, also kurz vor Ende der
Diktatur Riveras, wurden vermehrt „exemplarische“ Fotografien, grafische

238 Tierra y Libertad wurde 1930 zum offiziellen Presseorgan der FAI (Federación Anarquista Ibérica).
239 Federica Montseny, geb. 1905 in Madrid, gest. 1994 in Toulouse. Einzige Tochter der libertären
AktivistInnen Federico Urales und Teresa Mañé, besuchte keine formelle Schule, sondern wurde von
ihrer Mutter (Lehrerin) nach den Grundsätzen von Montessori und Ferrer i Guardia unterrichtet. Mit
17 Jahren trat sie der damals verbotenen CNT bei und publizierte in zahlreichen anarchistischen
Publikationen wie etwa Solidaridad Obrera (1931-1939), El Luchador (1931-1933), Tierra y Libertad und
Nueva Senda. Sie war Autorin von drei Romanen („La Victoria“ 1925, „El Hijo de Clara“ 1927, „La
Indomable“ 1928) und zahlreichen Erzählungen und Geschichten. In Summe war sie zwischen 1921
und 1936 Autorin von mehr als 40 Titeln. 1936 wurde sie die erste weibliche Ministerin Spaniens. Am
Ende des Bürgerkriegs flüchtete sie nach Frankreich. 1941 wurde sie an die Franquisten ausgeliefert
und in Spanien inhaftiert. Nach ihrer Freilassung Rückkehr nach Frankreich, wo sie 1994 starb. Zur
Person Montseny vgl. auch: Mary NASH, Federica Montseny: dirigente anarquista, feminista y ministra.
In: Arenal. Revista de Historia de las Mujeres, Bd. 1, 2, Juli-Dezember 1994, S. 259-271; Susanna
TAVERA I GARCIA, Revolucionarios, publicistas y bohemios: los periodistas anarquistas (1918-1936), S.
385f. In: HOFMANN/JOAN I TOUS /TIETZ (Hg.), El anarquismo español y sus tradiciones culturales,
S. 377-392. Weiters ihre Autobiographie: Federica MONTSENY, Mis primeros cuarenta años, Barcelona
1987.
240 CLEMINSON, Anarquismo y Homosexualidad, S. 31.
241 Para los Lectores de „La Revista Blanca“, LRB, 383, 22.5.1936.
82

Dokumente und Bildreproduktionen in der Publikation abgedruckt, die von kurzen


Glossaren begleitet waren, die die „soziale Bedeutung“ der Darstellungen
(Prostitution, Armut etc.) erläuterten.
Das Format blieb das gleiche wie in der primera época. Neben dem Titel und
Untertitel („Ciencia, Sociología y Arte“) waren oft kurze Slogans zu lesen, die sich direkt
an das Publikum, „den Leser“ richteten:

„Leser: Egal welcher dein Zustand/Beschaffenheit/Rang und Geschlecht ist, höre


nicht auf, diese Zeitschrift zu lesen“242

Oder:

„Was du hier [vielleicht] deinen Meinungen entgegengesetzt siehst, könnte sie genau
hier widerlegen.“243

Ebenso wie bei Estudios hatte die Redaktion Probleme mit der Zahlungsmoral
der AbonnentInnen bzw. der paqueteros, die auch als „vampiros de prensa“ – also
„Vampire der Presse“ – bezeichnet wurden.244 Und genauso wie Generación
Consciente/Estudios hatte La Revista Blanca auch eine „Biblioteca“ mit umfangreichem
Katalog, über den Publikationen beworben und vertrieben wurden245, womit die
Zeitschrift finanziell abgesichert werden konnte. Ab 1931 war das Weiterbestehen
der Zeitschrift gänzlich von allen anderen Publikationen der Familie Montseny
abhängig, wie Federica Montseny in einem Interview 1976 erzählte.246

6.2.3 La Revista Blanca und die Zensur


Ebenso wie Generación Consciente/Estudios wurde La Revista Blanca in einem
Zeitraum publiziert, in dem die Zensur anarchistischer Schriften ein ernsthaftes
Problem darstellte. In allen Ausgabe ist die folgende – graphisch herausstechende –
Notiz zu finden: „Der Text dieser Nummer wurde der vorhergehenden Zensur der
Regierung vorgelegt.“247 Die Publikation musste jedoch nicht – wie viele andere
anarchistische Medien – eingestellt werden, und niemals wurde eine Ausgabe
eingezogen. Auch sah sich die Redaktion nicht gezwungen, den Titel der Zeitschrift

242 „Lector: sea cual fuera tu condición y sexo, no dejes de leer esta revista“
243 „Lo que aquí veas contrario a tus opiniones, aquí mismo puedes refrutarlo“
244 MADRID S ANTOS, La prensa anarquista, S. 383f.
245 Hier sind vor allem folgende Publikationsreihen zu nennen: „La Novela Ideal“ (ab 1925), „Colección

Voluntad“ (ab 1926), „La Novela Libre“ (ab 1929) und „El Mundo al Día“ (ab 1935).
246 TAVERA I G ARCIA, Revolucionarios, publicistas y bohemios, S. 390.
247 „El texto de este número ha sido sometido a la previa censura gubernativa“
83

zu wechseln. Warum hatte La Revista Blanca auf den ersten Blick keine solchen
Probleme? Dazu ist 1926 zu lesen:

„Diese Zeitschrift wird so publiziert, dass die Forderungen, die das Pressegesetz
vorschreibt und die aktuelle Regierung auferlegt hat, erfüllt werden und die Tatsache, durch
die Zensur gekommen zu sein, befreit sie [die Zeitschrift] – laut den eigenen Aussagen des
aktuellen Ministerpräsidenten – davon, denunziert, beschlagnahmt oder zurückbehalten zu
werden.“248

Die Redaktion versuchte es zu vermeiden, direkt über die politische oder


gesellschaftliche Aktualität zu schreiben und wich eher auf „theoretische Fragen“
aus. Bei dieser „Flucht aus der aktuellen Politik“ wurde der „Kultur“ ein besonders
wichtiger Platz eingeräumt. Die anarchistische Propaganda blieb dabei klar und
konstant, wurde aber auf historische Fragen umgelegt und ließ „brennende“
politische Fragen aus.
Es ergab sich also die paradoxe Situation, dass während der Verfolgung der
militanten AnarchistInnen – zu denen die Mitglieder der Redaktion zum Teil auch
gehörten – und einer Rezession politischer sowie sozialer Aktivitäten innerhalb der
Bewegung, diese einen kulturellen Aufschwung erlebte. In dieser Zeit entstanden
auch enge Verbindungen zwischen individualistischen NaturistInnen und
AnarchistInnen, die die Redaktion 1923 so beschrieb:

„Ziemlich viele Libertäre nennen sich heute Individualisten und nicht wenige davon
sind vom régimen alimenticio [etwa: Ernährungsbewegung/DiätikerInnen] und haben sogar aus
ihrem Verhalten eine Doktrin gemacht, finden ihren idealen Rahmen auch nirgends mehr, als
in der Gleichheit der Güter und dem Verschwinden aller Herrschaft.“249

Auch betätigten sich Militante, die durch die Repression nicht unmittelbar
politisch aktiv sein konnten, vermehrt im Bereich der Erziehung, gründeten
rationalistische Schulen, Bildungseinrichtungen und so genannte Ateneos.
Federica Montseny gab gegenüber der Historikerin Annalisa Corti
retrospektiv zu, dass die Strategie, dem Regime nicht negativ aufzufallen, diesem die
Möglichkeit gab, sich gegenüber demokratischen Regierungen eine „Patina des

248 „Esta Revista se publica cumpliendo los requisitos que marca la ley de imprenta y los que ha
impuesto el actual gobierno, y el hecho de haber pasado por la censura, la exime, según propias
declaraciones del actual Presidente del Ministerio, de ser denunciada, secuestrada ni retenida.“ Doppelt
umrandeter Textkasten in: LRB, 74, 15.6.1926.
249 „Hoy, bastantes libertarios se dicen individualistas y no pocos que del régimen alimenticio y aun de

las costumbres han hecho una doctrina, no hallan su marco ideal más que en la igualdad de bienes y en
la desaparición de todo gobierno.“ La Redacción, Nuestras ideas y nuestros propósitos, LRB, 1,
1.6.1923.
84

Liberalismus“ anzueignen.250 Erst in den letzten Tagen der Diktatur von Primo de
Rivera wurde wieder schärfere und konkretere politische Kritik in den Seiten von La
Revista Blanca formuliert. Nach dem Ende der Diktatur ab den 1930er Jahren wurden
politischen Fragen wieder wesentlich mehr Platz eingeräumt und die Texte über
Kunst und Kultur traten zugunsten von Debatten über die aktuelle Politik etwas in
den Hintergrund.

Die vorgestellten Medien nahmen in der anarchistischen Presselandschaft


eine besondere Position ein: Als von der Diktatur relativ unbehelligte Zeitschriften
stellen sie eine Ausnahme dar; die sehr hohen Auflagenzahlen zeugen von der
Bedeutsamkeit beider Medien und ihrer Inhalte für die anarchistische Bewegung.
Die Zeitschrift Generación Consciente/Estudios repräsentiert eine entscheidende
Phase der Anpassung anarchistischer Ideen an Neomalthusianismus, Eugenik und
Sexualreform und setzte sich mit aller Kraft für die Verbreitung dieser Postulate
unter der Bevölkerung ein. Vor allem im Bereich der „Theorie und Praxis“ der
Geburtenkontrolle waren die Zeitschriften sehr aktiv. Sie gewannen große Bedeutung
durch und bei ihrem hergestellten Publikum und entwickelten sich zu
Vorkämpferinnen dieser Prinzipien in der Gesamtheit der libertären Bewegung im
Spanien der zwanziger und dreißger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Auch La Revista Blanca deckt dieses Thema – wenn auch mit anderen
thematischen Zugängen – ab. Sexualität und Geschlecht wurden auf einer kulturell-
moralischen Ebene diskutiert und die „neue Moral“ propagiert. Dass dies im
Endeffekt genauso auf die Frage der „Reproduktion“ hinauslief, wird der folgende
Teil dieser Arbeit zeigen.

250 CORTI, La Revista Blanca. Zit. nach: Navarro Navarro, El paraíso, FN 20, S. 37.
85

7 Geschlecht und Sexualität in Estudios und La Revista


Blanca

7.1 „Frausein“ und Bewusstsein: „¿Feminismo? ¡Jamás! ¡Humanismo


siempre!“

In der anarchistischen Presse wurde der Feminismus als „el problema feminista“
rege diskutiert. Diese oftmals verwendete Formulierung zeigt, dass Feminismus nicht
als positive Denkweise oder Bewegung, nicht als ein Lösungsansatz eines
gesellschaftlichen Problems aufgefasst wurde, sondern als dessen Ursache. Aber
nicht nur der „Feminismus“ wurde in eine unmittelbare wörtliche Beziehung zum
„Problem“ gesetzt: Auch „Sexualität“ und „Geschlecht“ unterlagen permanent
derartigen Junktimierungen und mutierten oft vom Hauptwort zu einem
adjektivischen Anhängsel des „Problems“. So gab es neben „el problema de los sexos“251
(„Geschlechterproblem“), „el problema sexual“252 („Sexualproblem“), „el problema del
amor“253 („Liebesproblem“) auch noch „la mujer, problema del hombre“254 („die Frau,
Problem des Mannes“).
Federica Montseny war eine der bekanntesten und einflussreichsten
ExponentInnen der ibero-anarchistischen Haltung gegenüber dem
„Geschlechterproblem“, die sich durch ihre Position als Chrefredakteurin in La
Revista Blanca niederschlug: Die anarchistische Bewegung in Spanien war dem – als
bürgerliche Bewegung wahrgenommenen – Feminismus und der Frauenbewegung
gegenüber ablehnend eingestellt und verneinte die Beschwörung einer spezifischen
„Frauenproblematik“. Vielmehr wurde die Union zwischen den Geschlechtern
postuliert, um die Ausbeutung von Männern wie Frauen gleichermaßen zu
bekämpfen und eine umfassende Revolution herbeizuführen.

7.1.1 Das „faschistische“ „dritte Geschlecht“


Montseny widmete zwar der weiblichen Emanzipation und ihren
Implikationen besonders viel Aufmerksamkeit, lehnte jedoch den Feminismus als

251 LRB, 139, 1.3.1929.


252 LRB, 314, 25.1.1935; EST, 138, 1935; EST, 161, Februar 1937; EST, 163, April 1937.
253 LRB, 24, 15.5.1924.
254 LRB, 86, 15.12.1926; LRB, 89, 1.2.1927; LRB, 93, 1.4.1927; LRB, 94, 15.4.1927; LRB, 97, 1.6.1927;

LRB, 108, 15.11.1927.


86

Lösungsweg aus einer geschlechterungerechten Gesellschaft vehement ab. In ihren


Texten hielt sie der Frauenbewegung das Fehlen von Idealen und Ethik vor und
kritisierte, dass diese nur systematisch die gleichen „Unrechte“ wie die Männer
einforderte; also eine Gleichheit „der Herrschaft und der Privilegien“255. Gleichzeitig
forderte sie unter anderem in ihrem Artikel mit dem programmatischen Titel „La
mujer nueva“ („Die neue Frau“) die Gleichberechtigung für alle – Männer wie Frauen:

„Sich zu vermännlichen ist und kann keine Erhebung, keine Befreiung und keine
Würde sein. Wir müssen von uns selbst ein höheres und stolzeres Konzept haben. Und in
uns muss es ein höheres Streben geben, als dieses erbärmliche Streben, dem anderen
Geschlecht nachzueifern und es zu imitieren. Wir sollten uns nicht mit allen Rechten, die der
Mann hat, zufrieden geben. Wir sollten – mit unzähmbaren Willen – alle Rechte, die man haben
sollte, anstreben.“256

Montseny vertrat und prägte die in anarchistischen Kreisen gängige Meinung,


der Feminismus sei per se bürgerlich und somit politisch abzulehnen. In ihrem
Bericht über einen „feministischen Kongress“, der im Sommer 1923 in Rom
stattgefunden hatte, brachte sie diese Haltung polemisch auf den Punkt:

„Der tagende Feminismus in Rom musste nicht erst faschistisch werden. Er war es
schon lange, denn die erzieherische Rückständigkeit, deren Opfer die Frau war und die
krankhafte Tat/Wirkung der Gesellschaft vergiftete alles Gute, Großzügige und
Begeisterte/Enthusiastische in diesen weiblichen Herzen, um nur den Traditionalismus und
den Appetit auf Exhibitionismus und Dominanz übrig zu lassen.“257

Die feministischen Emanzipationsbestrebungen waren im anarchistischen


Konzept kein Ausweg, sondern das „vergiftete“ Resultat einer (frauen-)
unterdrückenden Gesellschaft.
Aber nicht nur an dieser Stelle, sondern in fast allen Texten Montsenys
kommt diese Einstellung zum Tragen. In ihrem Artikel „Feminismo y Humanismo“
reagierte die Autorin auf einen Text, der in der Zeitung El Pueblo mit dem Titel „El
tercer sexo“ erschienen war und in dem es um den Feminismus des „dritten

255 Federica MONTSENY, La falta de idealidad en el feminismo, LRB, 13, 1.12.1923.


256 „Masculinizarse no es ni puede ser elevarse, libertarse ni dignificarse. Debemos tener de nosotras
un concepto más superior y más altivo. Y en nosotras ha de haber una aspiración más alta que esa
menguada aspiración a emular e imitar al otro sexo. No debemos contentarnos con todos los derechos que
tiene el hombre. Debemos aspirar, con voluntad indomable, a todos los derechos que habría de tener.“
[Hervorhebungen im Original] Federica MONTSENY, La mujer nueva, LRB, 72, 15.5.1926.
257 „El feminismo congregado en Roma no necesitaba volverse fascista. Hacía tiempo que lo era, pues

el atraso educacional de que ha sido víctima la mujer y la acción morbosa de la sociedad, envenenó
todo lo bueno, generoso y entusiasta de aquellos corazones femeninos para dejar tan sólo en pie el
ancestralismo y el apetito exibicionista y dominador.“ Federica MONTSENY, El movimiento femenino
internacional, LRB, 6, 15.8.1923.
87

Geschlechts“ ging. Mit dieser Bezeichnung, die in der Sexualwissenschaft dieser Zeit
angwandt wurde, um Homosexuelle begrifflich zu kategorisieren, wurden in der
Frauenbewegung engagierte Frauen als „unweiblich“ bzw. „lesbisch“ abgewertet.
Montseny bezeichnet in diesem Text wiederum den Feminismus als faschistisch:

„In Spanien existiert kein Feminismus des „dritten Geschlechts“. Es existiert auch
kein christlicher Sozialismus. In Wirklichkeit gibt es keinen Feminismus irgendeiner Art, und
wenn es ihn gäbe, dann müssten wir ihn als faschistisch bezeichnen, denn er wäre so
reaktionär und intolerant, dass seine Machtergreifung großes Unglück für die Spanier
bedeuten würde. Glücklicherweise wird so etwas nicht geschehen.“258

In Spanien gab es tatsächlich keine wirklich organisierte und vernetzte


feministische Bewegung, wie sie etwa in den USA oder auch in Großbritannien
bereits existierte. Trotzdem kam es vor allem ab der Jahrhundertwende verstärkt zu
Diskussionen um die Gleichberechtigung von Frauen; diese setzten aber nicht wie in
vielen anderen Ländern rund um das Frauenwahlrecht an, sondern thematisierten vor
allem die Bildung und Erziehung von Frauen.259
Ein Grund für die massiven Attacken auf den Feminismus, die von Montseny
und ihren politischen KollegInnen ausgingen, war wohl, dass der so genannte
„feministische“ Diskurs in Spanien vor allem von katholischen und konservativen
Frauen geführt wurde und in diesen Kreisen mitunter auch als „feministisch“
bezeichnete Organisationen gegründet wurden.260
Emanzipationsbestrebungen im Sinne einer Gleichberechtigung der
Geschlechter wurden von diesen Gruppen und Personen nicht formuliert: Vielmehr
wurde der Geschlechterdiskurs in diesen Kreisen von der Grundannahme getragen,
dass Frauen durch ihre Tugendhaftigkeit die besseren Menschen wären und sie
dadurch die Welt verbessern und retten könnten.261
Die anarchistische Polemik gegen den Feminismus wurde immer sehr spitz

258 „En España no existe el feminismo del ‚Tercer sexo’. No existe tampoco el socialismo cristiano. En
realidad, no existe feminismo de ninguna clase y si alguno hubiese, habríamos de llamarlo fascista,
pues sería tan reaccionario e intolerante, que su arribo al Poder significaría una gran desgracia para los
españoles. Afortunadamente, no sucederá tal cosa.“ Federica MONTSENY, Feminismo y Humanismo,
LRB, 33, 1.10.1924.
259 Shirley MANGINI, Las Modernas de Madrid. Las grandes intelectuales españolas de la vanguardia,

Barcelona 2001, S. 92f.


260 Als Beispiel sei hier etwa Consuelo García Ramos genannt. Sie gründete 1917 die Zeitschrift La

Voz de la Mujer und rief einige Organisationen ins Leben: 1918 die Asociación Nacional de Mujeres
Españolas ANME, 1919 die Federación Internacional Feminista, 1925 die Unión del Feminismo Español und
1925 die Casa de la Mujer. 1927 wurde sie Abgeordnete im Madrider Rathaus unter der Regierung von
Primo de Rivera. MANGINI, Las Modernas de Madrid.
261 MANGINI, Las Modernas de Madrid, S. 96.
88

und mitunter auch untergriffig formuliert: Feministisch engagierte Frauen, also


Frauen, die autonom agierten, in Frauengruppen auftraten und Frauenrechte
einforderten, wurden abwertend als „unweiblich“ bzw. „vermännlicht“
charakterisiert, indem sie etwa als „Drittes Geschlecht“ klassifiziert wurden. Diese
Kategorisierung impliziert die Unnatürlichkeit der agierenden Personen und stellt
eine eindeutig geschlechtliche Markierung, eine sex-Markierung, dar: Ein „Drittes
Geschlecht“, das nur durch eine ‚Fehlentwicklung’ der Zivilisation zustande kommen
konnte, hatte im naturistischen Weltbild keinen Platz. Aus der Perspektive eines
Anarchismus, der die Gesellschaft als biologischen Organismus beschrieb und sich
selbst als Organ dieser natürlichen Ordnung definierte262, war eine solche
‚Fehlentwicklung’ abzulehnen.
Ein weit verbreiteter Vorwurf gegen Feministinnen war, dass es ihnen
ohnehin nur darum gehe, sich zu „vermännlichen“ – was soviel hieß, wie sich am
„herrschenden“ und „unmoralischen Unterdrückungssystem“ beteiligen zu wollen.
So wurde etwa das „Hosentragen“ oder das „öffentliche Rauchen in Pariser Cafés“ 263
süffisant als ‚einzige große Sorge’ der Frauenbewegten dargestellt. Auch der
Kurzhaarschnitt bei Frauen wurde sogleich als Symbol für den bürgerlichen und als
‚unintelligent’ diffamierten Feminismus herangezogen: „[...] um lange Ideen zu
haben, braucht man wirklich keine kurzen Haare“ meinte etwa Montseny 1925.264

In der anarchistischen Rede über die Frauenbewegung, ihre Ziele und


Akteurinnen wurde also eine bewährte Form der sexistischen Diffamierung
angewandt und sich an deren Stereotypen-Archiv bedient.265 So fungierte die
„rauchende, hosentragende Frau mit Bubikopf-Haarschnitt im Café“ in den
zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts für die „neue Frau“ der
Mittelschicht in den europäischen und nordamerikanischen Metropolen als ein
Identifikationsmodell der Moderne – für das anarchistische Proletariat wurde sie zur
Verkörperung einer ‚bürgerlichen’, ‚unnatürlichen’ und ‚dekadenten’ Lebensweise.

262 Vgl. Kap. 5.1.2.


263 Vgl. hierzu z.B.: HIPATÍA, Rodando por el mundo – Aspectos del feminismo, LRB, 18, 15.2.1924.
264 „[...] para tener ideas largas, no precisan ciertamente los cabellos cortos.“ Federica MONTSENY, Las

Conquistas sociales de la mujer, LRB, 55, 1.9.1925.


265 Zu Diffamierungen dieser Art im Österreich des 19. Jahrhunderts hat Michaela Hafner eine

wertvolle dirskusanalytische Forschungsarbeit geleistet: Michaela HAFNER, Mitgift und Frauenbildung,


"Mannweiber" und, "Einzelexistenzen". Ehelose bürgerliche Frauen in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts in Wien, Dipl.-Arbeit Univ.-Wien 2005.
89

Neben dieser Polemik zielte die anarchistische Kritik an einer Politik, die für
Frauen die gleichen ökonomischen und sozialen Rechte wie die der Männer
einforderte, darauf ab, das soziale System als Ganzes in Frage zu stellen.

7.1.2 Wahlrecht, Recht auf Arbeit und die gefährdete Mutter


Im Zusammenhang mit dieser „ganzheitlichen“ Forderung stand auch die
heftige Kritik an der Forderung des Frauenwahlrechts und der
Frauenerwerbstätigkeit:
J. Beltrán formulierte 1926 in seinem Artikel „Feminismo Disolvente“266, das
Frauenwahlrecht sei nur eine Idee „der Reaktion“, um mehr politische Unterstützung
zu finden. Zwar würde scheinbar die Vorherrschaft des Mannes im Haushalt
angegriffen, seine wirkliche Autorität würde jedoch nicht in Frage gestellt. Die Frau
bliebe letztendlich Unterstützerin eines doppelten Autoritarismus: des Ehemanns
und des Staates.
Für die ArbeiterInnen habe der Feminismus die Situation insofern
verschlechtert, als er durch die Industrialisierung Massen an Frauen in „männliche“
Arbeit gedrängt habe und damit zusätzlich einen Wettkampf zwischen den
Geschlechtern um miserable Arbeitsplätze initiiert habe:

„Diese kapitalistische Maßnahme (die schon in Kraft getreten ist) bedeutet völliges
Elend für das Proletariat, aber an der Frau richtete sie noch mehr Schaden an.“267

Wie schon in den Kapiteln „die arbeitende Frau“ und „die politische Frau“
beschrieben, waren die Ablehnung sowohl gegen das Frauenwahlrecht und auch die
Skepsis gegenüber der weiblichen Erwerbstätigkeit wichtige Themen in der
anarchistischen Debatte. Beide wurden, wie der oben angeführte Artikel zeigt, in den
Medien miteinander verknüpft, um die Frage der weiblichen Produktionsarbeit zu
einer Gefährdung der weiblichen Reproduktionsarbeit zu machen:

„Die Mutterschaft ist die am stärksten Geschädigte, die besondere physiologische


Konstitution der Frau und die Gesetze, denen sie unterworfen ist, sind bekannt, also würde
sie sich mit nichtiger/unzureichender Ernährung, mit einer Arbeit, die über ihre Kräfte geht,
und ohne sanitäre Einrichtungen durch die innewohnenden Leiden ihres Geschlechts
überlastet fühlen, gehetzt durch die Anämie, und, schließlich, untergraben/begraben von der

266J. BELTRÁN, Femenismo Disolvente, Suplemento de LRB, 86, 15.12.1926.


267„Esta medida capitalista (ya en vigor) significa la miseria total del proletariado, pero en la mujer es
en donde más estragos causa.“ J. BELTRÁN, Femenismo Disolvente, Suplemento de LRB, 86,
15.12.1926.
90

weißen Pest: der Tuberkulose.“268

Der Diskurs über weibliche Erwerbstätigkeit als soziales Problem wurde in


der anarchistischen Rede an die Biologie „der Frau“ geknüpft und damit wiederum
eine Problematik entworfen, deren Basis die „besondere physiologische Konstitution
der Frau und die Gesetze, denen sie unterworfen ist“, waren.
Die Frauenerwerbsarbeit wurde einerseits kritisiert und als ‚gefährlich’
eingestuft. Die Debatte, die ja nicht nur auf Seiten der AnarchistInnen, sondern in
allen politischen Lagern geführt wurde, diente aber auch andererseits dazu,
gesamtgesellschaftliche Anliegen zu transportieren. Wollte man Frauen nicht den
Eintritt in „männliche“ Arbeitsbereiche gewähren, so wurde postuliert, die Arbeit an
sich verändern zu wollen – mit den Worten Beltrans „zu moralisieren, zu
humanisieren“:

„Wir unterstützen, dass die Arbeit ein echter Weg der Freilassung [auch: Freilassung
aus der Sklaverei] der Frau ist, weil darin ihre persönliche Unabhängigkeit liegt; aber bevor
die Arbeit dazu führt, dass die Frau im Namen eines zersetzenden Feminismus stirbt,
moralisieren, humanisieren wir diese Arbeit, damit sie, gut organisiert, die Quelle des
universellen Glücks sein kann.“269

Die Kritik am zeitgenössischen Wirtschaftssystem wurde zugleich zur Kritik


am herrschenden Geschlechtersystem. So ist 1929 in Estudios zu lesen:

„Der wunderbare wirtschaftliche Betrieb hat die familiäre Beziehung aus dem
Gleichgewicht gebracht, das Geschlecht geschwächt und in Folge zu einem Bruch zwischen
dem Mann und der Frau geführt. [...] Im biologisch-sozialen Blick unserer Tage ist die
[Erwerbs-]Tätigkeit der Frau nichts außer die Fortsetzung der männlichen Tat. Von
Notwendigkeiten wirtschaftlicher Art gezwungen, dressiert sich die Frau, um den Mann zu
ersetzen.“270

Die Angst vor der „Vermännlichung“ der Gesellschaft und der


268 „La maternidad es la mayormente perjudicada, conocida que es la particular constitución fisiológica
de la mujer y las leyes a que se halla sometida, pues con una nutrición deleznable, con un trabajo
superior a sus fuerzas y sin precauciones sanitarias, vese agobiada por las dolencias inherentes a su
sexo, acosada por la anemia, y, finalmente, minada por la peste blanca: la tuberculosis.“ J. BELTRÁN,
Femenismo Disolvente, Suplemento de LRB, 86, 15.12.1926.
269 „Sostenemos que el trabajo es la verdadera senda de la manumisión de la mujer, porque en ella

reside su independencia personal; pero antes que llevar al trabajo a morir a la mujer en nombre de un
feminismo disolvente, moralicemos, humanicemos ese trabajo, que, bien organizado, podría ser la
fuente de la felicidad universal.“ J. BELTRÁN, Femenismo Disolvente, Suplemento de LRB, 86,
15.12.1926.
270 „El portentoso movimiento económico ha desequilibrado la relación familiar, ha debilitado el sexo,

y ha devenido, en consequencia, la ruptura del hombre y la mujer. [...] En el panorama biológico-social


de nuestros días la obra de la mujer no es sino la continuación de la acción masculina. Obligada por
necesidades de índole económica, la mujer se adiestra para reemplazar al hombre.“ Jorge E. NÚÑEZ
VALDIVIA, Maternidad, Sexo y Moral, EST, 65, Jänner 1929.
91

„Entfeminisierung der Frau“ durch „die feministische Bewegung“ und ihre


Forderung nach mehr Rechten in der Arbeitswelt war durchgehend von dem
Moment des Verlusts der „Mutter“ bzw. der „Mutterschaft“ geprägt. Aufgrund
dieser Gefahr wurde in vielen der Zeitschriftenartikeln auf die „biologisch-soziale“
Beschaffenheit, Kultur und unterschiedlichen Charaktere der Geschlechter
hingewiesen und die verschiedenen sexualwissenschaftlichen Theorien dazu
vorgestellt.

7.1.3 „Die neue Frau“


Trotz der generell ablehnenden Haltung gegenüber Frauenbewegung und
Feminismus zeigte Montseny Sympathie für einen „anderen Feminismus“, den sie als
„rational, humanistisch, gelassen und ausgeglichen“ bezeichnete und der
Forderungen „weder [im Namen] des Geschlechts noch der Klasse, sondern der
Menschheit“271 stelle. Sie benannte diese Bewegung als „generelle humane
Bewegung“:

„Der rationale Feminismus, der humanistische und bewusste Feminismus, der


heitere/gelassene und ausgeglichene Feminismus, der Feminismus, der sich Humanismus
nennen sollte: Hier gibt es den Feminismus, den Emma Goldmann propagiert und der leider
auch keine ‚Rasse von Frauen, die fähig sind, der Freiheit ins Gesicht zu schauen’, gefunden
hat; es ist daher nicht möglich zu sagen, dass diese rettende Rasse existiert, weil es nur einige
wenige Exemplare/Vertreterinnen davon auf der Welt gibt. Tatsache ist, dass die Frau in
ihrer Mehrheit, heute wie gestern, der Tradition unterwürfig bleibt und sie von der
schmerzhaft eroberten relativen Unabhängigkeit nur wenige Früchte zu ernten gewusst
hat.“272

Es zeigt sich (nicht nur) an diesem Textauszug, dass Montsenys Ansichten


von einem durchaus negativen Frauenbild geprägt waren – zumindest dann, wenn sie
über ‚real existierende Frauen‘ schrieb. Sie sprach der Mehrheit der Frauen die
Fähigkeit ab, sich emanzipieren zu können und zu wollen, was unter anderem als ihr
Dauerargument gegen das Frauenwahlrecht fungierte. Spanische Frauen bezeichnete
sie als unwissende „Dienstmädchen für den Haushalt, Dienerinnen des Geistlichen,

271 Federica MONTSENY, Las conquistas sociales de la mujer, LRB, 55, 1.9.1925.
272 „El feminismo racional, el femimismo humanista y consciente, el feminismo sereno y equilibrado,
el feminismo que debe llamarse humanismo: he aquí el feminismo que Emma Goldmann propaga y
que tampoco, desgraciadamente, ha encontrado ‚una raza de mujeres capaces de mirar a la libertad
cara a cara’; ya que no es posible decir que existe esa raza salvadora porque de ella hayan en el mundo
unos cuantos ejemplares. Lo real es que la mujer, en su mayoría, hoy como ayer, continúa sumisa a la
tradición y de su relativa independencia, dolorosamente conquistada, ha sabido sacar muy pocos
frutos.“ Federica MONTSENY, La tragedia de la emancipación femenina, LRB, 25, 15.12.1924.
92

Priesterinnen des Gottes ‚wie befiehlt’ und der Göttin ‚Gewohnheit’“273.


Auf der anderen Seite wurde immer wieder das Idealbild der „neuen Frau“
formuliert und eine „Rasse von Frauen“ proklamiert, die mit Stolz und Würde ihre
Gattung vertreten würde. Mehrfach beklagt sich Federica Montseny über die
Inexistenz dieser „Rasse von Frauen“, die ihrer Meinung nach durch ihre gelebte
Weiblichkeit das angestrebte humanistische Prinzip verkörpern würde, in dem nun
einmal jedes Geschlecht seinen naturgegebenen Platz und sein eigenes Wesen
hätte274:

„Feminismus? Niemals! Humanismus immer! Feminismus zu propagieren heißt


einen Maskulinismus zu fördern, einen unmoralischen und absurden Kampf zwischen den
Geschlechtern zu schaffen, den kein Naturgesetz tolerieren würde.“275

Montseny sah keine Notwendigkeit eines autonomen Kampfes der Frauen


für ihre Freiheit, sondern lehnte diesen vielmehr vehement ab. Der anarchistische
Ansatz zur Beseitigung der gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen bestand in
einem aufklärerischen Humanismus, der an die vermeintlichen Naturgesetze
geknüpft und dem Konzept einer sozial bedeutsamen biologischen
Geschlechterdifferenz verhaftet war.
Betrachtet man die anarchistische Argumentationen gegen den Feminismus
und parallel dazu den Einsatz für eine (geschlechter-)gerechte Gesellschaft, ergibt
sich ein schizophrenes Bild. So schrieb etwa Soledad Gustavo 1923:

„In Wirklichkeit existiert für uns ein solches [Frauen-]Problem nicht, denn das
Problem, das wir lösen sollten, ist ein menschliches Problem, aber wie in der Vergangenheit
und der Gegenwart war und ist die Frau ein stärkeres Opfer der Ausbeutung als der Mann,
der Sitten/Bräuche und aus aktueller Sicht sogar des eigenen Mannes, [und deswegen] werde
ich in den Kolumnen der REVISTA BLANCA etwas behandeln, das die Frau betrifft
[...].“276

Trotz der Ablehnung eines feministisch formulierten „Frauenproblems“

273 „criadas para el hogar, siervas del cura, sacerdotisas del dios ‚qué dirán’ y de la diosa ‚costumbre’“
Federica MONTSENY, La mujer, problema del hombre LRB, 89, 1.2.1927.
274 Vgl. Kapitel 4.1 Geschlechtskörper.
275 „¿Feminismo? ¡Jamás! ¡Humanismo siempre! Propagar un feminismo es fomentar un

masculinismo, es crear una lucha inmoral y absurda entre los dos sexos, que ninguna ley natural
toleraría.“, Federica MONTSENY, Feminismo y Humanismo, LRB, 33, 1.10.1924.
276 „En realidad, para nosotros, no existe tal problema [de la mujer], pues el problema que debemos

solventar es un problema humano, pero como en el pasado y en presente la mujer fué y es víctima más
que el hombre de la explotación, de las costumbres y hasta del propio hombre de vista actual, trataré
algo que atañe a la mujer, en las columnas de LA REVISTA BLANCA [...].“ Soledad G USTAVO,
Hablemos de la mujer, LRB, 10, 15.10.1923.
93

wurde der „Ungleichheit der Geschlechter“ äußerst viel Platz eingeräumt. Dies diente
zum einen – wie schon beschrieben – dazu, die „bürgerlichen Frauen“ und die
„bürgerliche Gesellschaft“ zu kritisieren. Zum anderen wurde die sozial ungerechte
Behandlung von Frauen nicht abgestritten – im Gegenteil: Das Engagement der
anarchistischen Medien Spaniens in der Diskussion um die „Geschlechterfrage“ war
schon seit Ende des 19. Jahrhunderts enorm groß.277 Um diesem Problem
entgegenzuwirken, wurden die Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern und
die „Unterdrückung der Frau“ kritisiert und angeklagt. Um diese überwinden zu
können, war es nach anarchistischer Sicht notwendig, eine Neubewertung der
Geschlechter und des Menschen vorzunehmen und umzusetzen. Das Konzept der
„neuen Frau“ ist ein Ergebnis dieses Versuchs:
Federica Montseny widmete der „mujer nueva“ eine eigene Kolumne, in der sie
dieses Idealbild konkretisierte. Die Autorin sah „die Frau, im kollektiven Sinne des
Wortes“, vor Umbrüchen stehen: Zum einen erlebe sie einen historischen Übergang
als menschliches Wesen, zum anderen als weibliches Wesen, „[d]as heißt, innerhalb
der Spezies und innerhalb des Geschlechts, zu dem sie gehört“. Der beschriebene
„historische Umbruch“ ist die Befreiung aus der „moralischen und religiösen
Sklaverei“. Aber dabei mache „die Frau“ viele Fehler und versklave sich eigentlich
durch ihr blindes Handeln noch mehr278:

„Anstatt ihr Geschlecht zu bejahen, es zu adeln und zu würdigen, verleugnet sie es


und nimmt die Gewohnheiten und Fehler des anderen Geschlechts auf, ohne die Ästhetik
noch die Naturgesetze zu beachten.“279

Die Entwicklung einer neuen weiblichen Persönlichkeit erfordere eminente


individuelle und spirituelle Arbeitsleistung, wobei die geistige und körperliche
Gesundheit eine grundlegende Rolle spielten. Montsenys Prototyp der „mujer del
porvenir“ zeichnete sich durch Würde und Stolz auf das eigene Geschlecht,
Selbstvertrauen und Bewusstsein aus; von ihm würden Ziel und Fortschritt der
menschlichen Rasse abhängen.280

277 Vgl. ALVAREZ JUNCO, La ideología política del anaquismo español; G ARCÍA-MAROTO, La mujer en
la prensa anarquista; LOHSCHELDER, AnarchaFeminismus.
278 Federica MONTSENY, La mujer nueva, LRB, 72, 15.5.1926.
279 „En vez de afirmarse en su sexo, de ennoblecerlo y dignificarlo, reniega de él y se acoge, sin mirar

la estética ni las leyes naturales, bajo las costumbres y los errores del otro sexo.“ Federica MONTSENY,
La mujer nueva, LRB, 72, 15.5.1926.
280 Federica MONTSENY, La mujer nueva, LRB, 72, 15.5.1926.
94

„Welche Menschheit würde aus einer Generation gesunder, ausgeglichener Frauen


hervorgehen, die in vollem Besitz ihrer physischen und moralischen
Beschaffenheit/Kondition wären, schön, gut und stark, freigemacht von Ängsten und
Aberglauben, Eroberinnen des Lebens und nicht durch das gesellschaftliche Verhängnis
eroberte Plätze [...].“281

Durch das Erkennen und Akzeptieren ihres „Wesens“ wäre „die neue Frau“
die treibende Kraft der zukünftigen Freiheit und des zukünftigen Lebens.
Männlichkeit bzw. das „männliche Wesen“ wurde in diesem Befreiungsdiskurs mit
Staatlichkeit, Herrschaft und Unterdrückung gleichgesetzt.
Am Entwurf des ‚zukünftigen Lebens’, dass durch diese „neue Frau“
entstehen sollte, knüpfen die Texte in Estudios an. Die „Geschlechterfrage“ wurde in
diesem Medium über die Themen Sexualität, Mutterschaft,
Schwangerschaftsverhütung, Abtreibung und Prostitution diskutiert. Der Ansatz zu
einer „Befreiung der Frau“ – und der ArbeiterInnen insgesamt – resultierte aus der
These der sexuellen Aufklärung und ihrer befreienden Wirkung. Die „biologische“
und die „soziale Tragödie der Frau“ waren in den Texten untrennbar miteinander
verbunden. So heißt es 1932 in Estudios über die „tragedia biológica y social de la mujer“:

„Das Leben der Frau ist, in einem weitaus größeren Ausmaß als beim Mann, an das
Schicksal/die Bestimmung der Gameten282 gebunden. Die Natur verpflichtet den Mann
nicht, sich um seine Samen zu kümmern, nachdem er sie einmal abgegeben hat; was ihnen
später zustößt, hat überhaupt keinen Einfluss auf seinen Organismus. Überlegungen
moralischer Art, Forderungen vom Staat oder der gesellschaftlichen Moral etc. können ihn
dazu verpflichten, den Beginn einer Reihe von Phänomenen und Ereignissen ernst zu
nehmen; aber all das ist etwas Sekundäres, [...]; es ist eher ein soziologisches Phänomen.
Das Leben der Frau hingegen ist auch biologisch an die Bestimmung der Eizelle
gebunden, die sie produziert. Gemäß dem, was dem mikroskopischen Gameten zustößt, der
in ihrem Eierstock nistet, verläuft ihr Leben in die eine oder andere Richtung.“283

281 „¡Qué humanidad saldría de una generación de mujeres sanas, equilibradas, en plena posesión de
sus condiciones físicas y morales, bellas, buenas y fuertes, despojadas de temores y de supersticiones,
conquistadoras de la vida y no plazas conquistadas por la fatalidad social [...].“ Federica MONTSENY,
Las Conquistas sociales de la mujer, LRB, 55, 1.9.1925.
282 Gamet: Keimzelle, Geschlechtszelle
283 „La vida de la mujer se halla ligada, en un grado muchísimo mayor que la del hombre, al destino de

sus gametos. La Naturaleza [Großschreibung im Original] no le obliga al hombre a ocuparse de sus


germenes una vez que los ha emitido; lo que puede pasarles luego a éstos no inflye para nada en su
organismo. Consideraciones de índole moral, exigencias del estado o la moral social, etcétera, pueden
obligarle a tomar en serio el comienzo de una serie de fenómenos y sucesos; pero todo esto es algo
secundario [...]; es, más bien, un fenómeno sociológico. La vida de la mujer, en cambio, se halla ligada,
biológicamente también, al destino de célula ovular que produce. Según lo que le suceda al
microscómico gameto que brota de su ovario, sigue su vida una u otra dirección.“ Dr. A. W.
NEMILOW, La tragedia biológica y social de la mujer, EST, 10, Februar 1932.
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An dieser schicksalhaften Bestimmung ‚der Frau’ wurde weder in der eher


soziologischen La Revista Blanca, noch im medizinisch orientierten Estudios gezweifelt
– im Gegenteil: Die geforderte „Befreiung der Frau“ konnte keine Befreiung aus
diesem biologisch-sozialen Paar sein. Vielmehr sollten auf der Basis dieser
Erkenntnis Mittel gefunden werden, die den Frauen dazu verhelfen sollten „neue
Frauen“ zu werden und die „Auferlegungen alter Konventionen durch das Vaterland,
die Familie, die Religion und das ‚Wie-Sie-Wünschen’“284 zu überwinden. Sexuelle
Aufklärung und der bewusste Einsatz verschiedener Sexualtechnologien sollten ihnen
auf diesem Wege helfen, stolz, bewusst, befreit und gelassen mit ihren Keimzellen
zusammen zu leben.

7.2 Sexuelle Beziehungen

7.2.1 „Amor libre“: das heterosexuelle Ideal


Die Befreiung aus den alten Konventionen in Bezug auf die
„Geschlechterproblematik“ und die gleichberechtigte Geschlechterbeziehung sah der
Anarchismus im Konzept des „amor libre“ („freie Liebe“) und der „unión libre“ („freie
Gemeinschaft“/„freie Ehe“) verwirklicht. Auf dem großen Kongress der CNT im
Jahr 1936 wurde festgehalten:

„Der libertäre Kommunismus proklamiert die freie Liebe ohne andere Regulation als
den Willen des Mannes und der Frau, garantiert damit den Kindern den Schutz der
Gemeinschaft und rettet diese von den menschlichen Verirrungen durch die Anwendung der
biologisch-eugenischen Prinzipien.“285

Die Institution der Ehe, die von Kirche und Staat lizenziert wurde, wurde ob
ihrer bürgerlichen Konventionalität kritisiert und als kontraproduktiv für die „wahre
Liebe“ angesehen. Schon Bakunin hatte 1866 in seiner Schrift „Prinzipien und
Organisation der Internationalen Revolutionären Gesellschaft“ seine soziale Utopie
einer „befreiten Gesellschaft“ entworfen. Darin sah er die Abschaffung der
bürgerlichen Ehe vor und forderte an ihrer Stelle die „freie Ehe“, die das

284M. LACERDA DE MOURA, ¿Tiene sexo la inteligencia?, EST, 95, Juli 1931.
285„El Comunismo Liberatrio proclama el amor libre sin más regulación que la voluntad del hombre y
de la mujer, garantizando a los hijos la salvaguardia de la colectividad y salvando a ésta de las
aberraciones humanas por la aplicación de los principios biológicos-eugénicos.“ CNT, El Congreso
Confederal de Zaragoza, 1936. Zit. nach: CLEMINSON, Anarquismo y homosexualidad, S. 150.
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Zusammenleben auf der Grundlage von Freiwilligkeit und gegenseitigem Respekt


und Verantwortung möglich machen sollte.286 Diese Zweier-Gemeinschaft ohne
Trauschein sollte so lange dauern, bis eine oder einer der beiden die Beziehung
beenden wollte.
Der Weg zu einer „neuen befreiten Gesellschaft“ lag für den spanischen
Anarchismus – im Unterschied zum Marxismus spanischer Ausprägung – nicht nur
in der Bekämpfung des Kapitalismus. Die Lektüre der untersuchten Zeitschriften
zeigt, dass die große Vision einer „neuen Gesellschaft“ genauso wichtig war, wie das
Berücksichtigen von Details eines zukünftigen Zusammenlebens. Für die
anarchistische Bewegung war die „neue libertäre Gesellschaft“ von der Befreiung aus
den „Degenerationen der menschlichen Spezies“ abhängig. Es sollte eine „bewusste
Generation“ erschaffen werden, die durch Wissen und gezielte Aktion die Spuren der
Degenerationen beseitigen sollte – der „bewusste Arbeiter“ würde durch eine
vorurteilsfreie und offene Sexualerziehung die zwischenmenschlichen Beziehungen
revolutionieren können. Das Modell der „freien Liebe“ war der Versuch, das
anarchistische Freiheitsideal mit all seinen Implikationen in Paarbeziehungen in die
Praxis umzusetzen.

„Frei müssen wir sein, um den zu lieben, der uns gefällt, indem wir endgültig mit
diesem unmoralischen und dummen Beischlafsvertrag brechen, der legalisierte Ehe genannt
wird!“287

7.2.1.1 Zusammenhängende Konzepte: „Freie Liebe“ und „befreite Sexualität“


Dem anarchistischen Denken nach sollte jegliche menschliche Beziehung
vom Respekt gegenüber dem Individuum ausgehen, umso mehr, wenn es sich um
eine Liebesbeziehung zwischen zwei Personen handelte. Das Konzept der „freien
Liebe“ im Anarchismus war in Spanien von einer lebhaften und relativ strengen
moralischen Debatte geprägt. Die „freie Liebe“ sollte nicht für eine völlig
ausschweifende Sexualität stehen – „befreite Sexualität“ hatte in der anarchistischen
Rede einen hohen moralischen Anspruch. Die promiskuitive Auslegung des
Konzepts, wie sie angeblich in der anarchistischen Bewegung anderer Ländern
erfolgte, wurde als „animalisch“ und „vulgär“ bezeichnet und abgelehnt. Liebe sei ein

286LOHSCHELDER, AnarchaFeminismus, S. 25f.


287„¡Libres debemos ser para amar a quien nos plazca, rompiendo definitivamente con ese inmoral y
estúpido trato carnal llamado matrimonio legalizado!“ Del Amor libre, GC, 1, Juni 1923. Zit nach:
Cleminson, Anarquism