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Inhaltsverzeichnis
Danksagung .........................................................................................................4
1 Einleitung ........................................................................................................6
2 Probleme mit dem Sex: Geschichtswissenschaft und Sexualität .....................11
2.1 Geographen, Geologen, Ge-Schichten .................................................................... 11
2.2 Repressionshypothese: Unterdrückung und Befreiung ....................................... 14
2.3 Sexualisierungsthese: Mächtige Diskurse .............................................................. 15
2.4 Se x/Gen de r: Paradoxe Differenzen......................................................................... 18
3 Sexualität und Diskurs: Definitionsversuche ................................................24
3.1 Das Wort, der Begriff und der Diskurs.................................................................... 24
3.2 Kunststoff?................................................................................................................... 26
3.3 Blumige Ehebetten: Carl Linnés Sy ste ma nat urae ................................................ 27
4 Schnittstellen der Sexualität: Plurale Körper in Wissenschaft und Politik ...30
4.1 Anthropologie und Lebenswissenschaften: Geschlechtskörper –
Körpergeschlechter .......................................................................................................... 30
4.2 Biomacht und Biopolitik: Verwaltete Körper......................................................... 33
4.3 Degeneration: Der kranke Bevölkerungskörper.................................................... 35
5 Anarchismus, Sexualität und Geschlechterdebatte .........................................38
5.1 Vom anarchistischen Leben: Befreiende Wissenschaft und befreite Sexualität38
5.1.1 Staatliche Unterdrückung und individuelle Befreiung .........................................................38
5.1.2 Wissenschaft und Lebensorganisation.................................................................................40
5.1.3 Sexualität und die gesprochene Wahrheit............................................................................42
5.2 „Geschlechterproblem“ und „die Unterdrückung der Frau“ in Spanien .......... 44
5.2.1 Die juridische „Frau“: Gesetzliche Kategorisierung............................................................45
5.2.2 Die wesentliche „Frau“: Der weibliche Geschlechtscharakter............................................46
5.2.3 Die politische „Frau“: Die Wahlrechtsdiskussion ...............................................................50
5.2.4 Die arbeitende „Frau“: Erwerbstätigkeit versus Reproduktion...........................................51
5.3 Anarchismus und Neomalthusianismus: Die Anfänge ........................................ 55
5.3.1 Malthusianismus...................................................................................................................56
5.3.2 Neomalthusianismus............................................................................................................58
Danksagung
Durch die lange Zeit, die zwischen Beginn und Abschluss dieser Arbeit liegt,
haben mich viele Personen begeleitet und mich dabei unterstützt, weiterhin an mich
und die Fertigstellung dieser Arbeit zu glauben. Ihnen sei hiermit allen zutiefst
gedankt – ohne sie wäre es für mich nicht möglich gewesen, diesen Text zu
produzieren. Im Besonderen gilt mein Dank lela, die mir während all der Jahre nicht
nur eine Wohnungskollegin und ganz besondere Freundin war, sondern mit mir auch
alle emotionalen Euphorien und Depressionen durchgemacht hat, die mit dem
Schreiben einer Diplomarbeit verbunden sind, und mir durch ihre Einwürfe, durch
ihre Kritik und ihre Aufmunterungen durch viele intellektuelle und kreative
Durststrecken geholfen hat. Meinen Eltern, Heide und Walter Gutermann, danke ich
dafür, dass sie trotz all meiner und ihrer Zweifel, schlussendlich immer an mich
geglaubt haben, und die Geduld hatten, mich jahrelang finanziell und emotional
durch mein Studium und Leben zu begleiten, und sich immer dafür interessieren wer
ich bin, was ich denke, woran ich arbeite und wie ich fühle. Das gleiche gilt auch für
meine Schwester Stephanie, die mir mit ihren offenen Ohren und vielen
aufmunternden Worten schon durch viele schwere Zeiten geholfen hat und immer
für mich da war. Gregor Maderbacher hat es mir durch seine Liebe, seinen Humor
und sein Interesse an mir und meiner Arbeit möglich gemacht, endlich mein Studium
abzuschließen und mir damit neue Perspektiven zu öffnen. Ich danke ihm besonders
für das „Ausharren“ und die Geduld. Ihn kennengelernt zu haben, ist wohl das
Beste, das mir in meinem Leben passiert ist. Dem „werten kreisl“, bestehend aus Lilli
Frysak, li Gerhalter, Michaela Hafner, Sonja Niederacher, Maria Rothböck und Ulli
Seiss, danke ich für die besonders intensive Beschäftigung mit meinen Texten, die
nach Beistrich und Forschungsfaden auf den Kopf gestellt wurden, und durch die
fachliche Kompetenz dieser tollen Frauen sehr an Qualität gewonnen haben. Juan
Carlos Muñoz Bernal danke ich für die Zeit mit ihm und im Besonderen für die
damit verbundene Verbesserung meiner Spanischkenntnisse, ohne die diese Arbeit
gar nicht möglich gewesen wäre. Auch seine manchmal sehr aufreibenden, „nicht-
europäischen Gegen-Positionen“ rund um „Sexualität“ und „Geschlechter-
beziehungen“ waren letztendlich für meine Gedankengänge sehr wichtig. Bei Sandro
Barberi bedanke ich mich für die sehr intensiven Gespräche über meine und seine
5
Arbeit – ohne ihn gäbe es den ersten Teil dieser Arbeit in seiner jetzigen Form nicht.
Meinem wissenschaftlichen Betreuer Prof. Friedrich Edelmayer danke ich für die
langjährige Betreuung und das Ebnen der zahlreichen bürokratischen Hürden, die in
Spaniens Bibliotheken und Archiven lauern sowie für die Vermittlung der Kontakte
zu seinen Kollegen in Madrid, die mir sehr weitergeholfen haben. Dem Büro für
Internationale Beziehungen danke ich für die Zuerkennung eines Stipendiums für
kurzfristige wissenschaftliche Arbeiten im Ausland. Dank gilt auch den netten
Menschen mit den vielen Decknamen von der CNT Madrid, die mir bei der
Literatursuche weiter geholfen haben und auch lustige Feste feiern können. Iñigo
Agirre danke ich ganz herzlich für das besonders gute Zusammenleben während
meines Forschungsaufenthaltes in Madrid und seine fremdenführerischen Qualitäten,
für seinen speziellen Blick auf die spanische Politik und für den langjährigen
spannenden Briefwechsel. Viel Dank gilt auch Phillip Mettauer, der trotz tausender
Kilometer Distanz immer in meiner Nähe war, und mir mit persönlichen und
fachlichen Tipps immer zur Seite stand. Auch Brita Pohl danke ich für die lange und
wiedergewonnene Freundschaft, die immer auch mit spannenden und inspirierenden
Diskussionen verbunden war. Meinen ArbeitskollegInnen vom Kinderbüro der
Universität Wien danke ich, dass sie immer Rücksicht darauf genommen haben, dass
ich neben meiner beruflichen Tätigkeit meine Diplomarbeit fertig stellen musste.
Ohne dieses Zuvorkommen, hätte ich es nicht geschafft, die Arbeit zu beenden.
Zuletzt möchte ich mich herzlich bei meinen Capoeira-Trainern Mula, Regis und
Carlinhos dafür bedanken, dass sie mich durch ihre Kunst für die intensive
körperliche Betätigung begeistern konnten, und so während meiner
Diplomarbeitszeit für fröhliche, sportliche, andrenalingetränkte und verschwitzte
Stunden gesorgt haben. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzten und deshalb sage
ich jetzt einfach allen meiner Freunden und Freundinnen, die in dieser Auflistung aus
Platzgründen nicht vorkommen:
Danke!
6
1 Einleitung
„Ich weiß nicht, wie die Frage lautet, aber die
Antwort heißt mit Sicherheit: Sex.“
Woody Allen
Als am 31. März 1939 der Spanische Bürgerkrieg endete, ging ein Zeitraum
zu Ende, der von heftigen politischen Auseinandersetzungen, aber vor allem von
einer in Europa einzigartig starken anarchistischen Bewegung geprägt worden war.
Die spanischen AnarchistInnen, die bis dahin die größte ArbeiterInnen-Vereinigung
in Spanien gestellt hatten, wurden verfolgt, umgebracht, verhaftet, oder konnten sich
über die Pyrenäen nach Frankreich flüchten, wo sie in Konzentrationslagern
„angehalten“ wurden. Die spanischen Buchhandlungen quellen fast vor Literatur
über den Spanischen Bürgerkrieg und die Rolle der verschiedenen Kriegsparteien
darin über, in der – je nach politischer Ausrichtung des/der AutorIn – die eine oder
andere Seite der Schuld an diesem Krieg bezichtigt wird.
Während meines Studienaufenthaltes in Salamanca/Spanien habe ich
begonnen, mich mit der politischen und kulturellen Geschichte des Anarchismus
auseinanderzusetzen. Sowohl in der eher spärlichen österreichischen Bearbeitung des
Themas als auch in der sehr viel umfangreicheren spanischen Forschung liegt der
Schwerpunkt des Interesses auf der Rolle der anarchistischen Bewegung im
Spanischen Bürgerkrieg. In der fast unüberschaubaren Menge an Publikationen
werden vor allem die politischen, organisatorischen und institutionellen Aspekte
beleuchtet, was sich aus dem Forschungsansatz der Geschichte der
ArbeiterInnenbewegung beziehungsweise der politischen Geschichte erklären lässt.
Vergleichsweise kaum vorhanden sind bis heute Studien zu den
Ausgangspunkten und den weiteren Entwicklungen der Bewegung sowie dem
anarchistischen Diskurs, seinen Anknüpfungspunkten, den enthaltenen
Wissensformationen und seinen Auswirkungen auf gesellschaftliche
Transformationen und die Wissensproduktion. Zwar beschäftigt sich die Literatur
über den Zeitraum von den Anfängen anarchistischer Bewegungen in Spanien bis hin
zur Gründung des anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbundes CNT 1910 auch
mit kulturellen und sozialen Aspekten, jedoch fehlen in der Zeit von 1910 bis zum
Bürgerkrieg umfangreichere Studien weitgehend. Diese Arbeit will einen Beitrag zur
7
Schließung dieser Lücke leisten, indem sie sich weniger mit den AkteurInnen und
den Organisationsstrukturen des spanischen Anarchismus beschäftigt, sondern sich
auf die Anordnung des anarchistischen „Denkens“ und Wissens und seine
machtpolitischen Implikationen in der Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre des 20.
Jahrhunderts konzentriert.
Diese Periode war für Konsolidierung der Bewegung und ihre Positionierung
im späteren Bürgerkrieg von großer Bedeutung. Eine herausragende Rolle dabei hatte
zweifelsohne die große Anzahl der anarchistischen Zeitschriften, die die
unterschiedlichen ideologischen Aspekte der Bewegung beleuchteten. Von der
Forschungsliteratur wurden die Zeitschriften Estudios (1923/1928-1937) und La
Revista Blanca (1923-1936) als besonders wichtig für die anarchistische Bewegung in
Spanien eingestuft, und sie stellen deshalb den Quellenbestand der vorliegenden
Arbeit. Die Inhalte dieser Medien sollten sowohl die intellektuelle Elite als auch die
meist nicht einmal selbst des Lesens mächtige ArbeiterInnenschaft ansprechen, was
sich in Inhalt und Form der Publikationen ablesen lässt. Der Glaube an eine
progressive und befreiende Wissenschaft war für die Bewegung der Dreh- und
Angelpunkt der „authentischen“ Revolution – mit ihr sollten die Irrationalitäten der
politischen und sozialen Autoritäten wie etwa Parteien, Kirche und Militär bekämpft
werden. Kultur und Erziehung hatten im anarchistischen Denken eine herausragende
emanzipatorische Stellung inne.
Dabei gab es einige Themenschwerpunkte, um die sich die Diskussionen
immer wieder drehten. Betrachtet man die Reihe an Zeitschriften, kommt hier vor
allem den Begriffen „Geschlecht“ und „Sexualität“ eine besondere Rolle zu, die in
den medizinisch-wissenschaftlichen Diskurs eingebettet waren. Dass im
machtpolitischen Diskursen der Kategorie „Geschlecht“ eine besonders bedeutsame
Rolle zukommt, bestätigen die Forschungen im Feld der Gender-Studies seit
Jahrzehnten. Gleichzeitig untersuchte Michel Foucault schon in den siebziger Jahren
des 20. Jahrhunderts in seinen Texten das „Wissensobjekt Sexualität“ eingehend, und
zeigte die Zusammenhänge zwischen dem Konstrukt „Sexualität“ und seiner
Wirkungsmacht in und durch verschiedene Diskurse auf.
Diese Bedeutsamkeit kommt bei der genaueren Beschau der Quellen klar zu
Tage: Aufgrund der Masse an Artikeln rund um die Begriffsklammer „Sexualität“, die
in den Zeitschriften zu finden sind, war es eine durchaus schwierige Aufgabe zu
8
auszuwählen, welche der Texte für eine Analyse des Sexualitäts- und
Geschlechterdiskurses in Frage kamen. „Sexualität“ durchzieht buchstäblich
hunderte von diesen Texten. Um mit dem Problem zurecht zu kommen, das
Themenfeld und Analysematerial zu begrenzen, entstand aus der Lektüre eine Art
„Raster“, bestehend aus einem Netz von Begrifflichkeiten, die im Endeffekt die
Eckpunkte der Forschungsarbeit darstellen und die Texte zuordenbar machten.
Eine weitere Schwierigkeit, die sich aber letztendlich auch als sehr produktiv
erwies, war die Fremdsprachlichkeit der Texte. Nicht nur die spanische Sprache an
sich, sondern auch ihre Ausformung in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20.
Jahrhunderts sowie der anarchistisch-pathetische Sprachstil, zwangen mich zu einer –
manchmal fast buchstäblichen – Beschäftigung mit Sätzen und Worten. Dies machte
das Unterfangen eines diskursanalytischen Zugangs einerseits zunehmend
problematisch, forderte aber andererseits eine besondere Genauigkeit bei Lektüre
und Analyse ein, die sich im Sinnes meines theoretischen Zugangs als ausgesprochen
bereichernd auswirkte. Das Nicht-Verstehen ist schließlich oft die beste
Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnisse.
Diskursanalyse werden die Geschichte und Entstehung der „Sexualität“ sowie die
darin implizite Kategorie „Geschlecht“ nachgezeichnet.
Die Verwissenschaftlichung der „Sexualität“ und die differenzierende
Funktion des „Geschlechts“ stehen im Zentrum des dritten Kapitels. Anhand der
Studien von Thomas Laqueur und Claudia Honegger werden ihre Transformationen
seit der Aufklärung und die damit verbundene „Geburt der Sexualität“ dargestellt.
Michel Foucaults Überlegungen zur Funktion des Sexualitätsdiskurses für Politik und
Macht stehen danach im Zentrum der Betrachtungen: Die durch die Rede über
Sexualität geschaffenen „Körper“ wurden zur Zielscheibe einer „Bio-Politik“, die
letztendlich auch im anarchistischen Diskurs der untersuchten Zeitschriften eine
entscheidende Rolle spielte.
Dieser Zusammenhang wird im Kapitel fünf dieser Arbeit auf mehreren
Ebenen nachgewiesen: Der anarchistische Befreiungsdiskurses stand ganz im
Zeichen der Repressionshypothese. Die in der Gesellschaft konstatierte
„Unterdrückung“ sollte durch eine „Befreiung“ des Individuums ersetzt werden, die
gleichzeitig eine Kampfansage an die „christliche Sexualmoral“ sein sollte.
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Begrifflichkeiten prägten diese
anarchistische Rede, und mit ihnen fanden wissenschaftliche Terminologien Eingang
in den politischen Diskurs. Das Soziale und das Politische wurden „naturalisiert“ und
mit Sinn ausgestattet; „Sexualität“ wurde zu einem Schlüsselbegriff. Das soziale
„Geschlechterproblem“ durchzog dabei die meisten anarchistischen Themen. Im
zweiten Teil des Kapitels werden deshalb der in Spanien der zwanziger und dreißiger
Jahre herrschende Geschlechterdiskurs sowie die anarchistischen Gegen-Positionen
dazu vorgestellt. Die eher im sozialen und ökonomischen Bereich gehaltenen
anarchistischen Argumentationen verschoben sich im Laufe der Zeit hin zu
biologisch und medizinisch durchsetzten Begründungen des Denkens über
„Sexualität“ und „Geschlecht“. Der dritte Teil des Kapitels befasst sich mit der
Theorie und Sexualtechnologie des Neomalthusianismus, der als möglicher
Lösungsansatz für das „Geschlechterproblem“ und als „revolutionäre Waffe“ in das
anarchistische Denken aufgenommen wurde und eine wesentlich Rolle im
untersuchten Quellenmaterial zukam.
Der Quellenbestand wird im sechsten Kapitel genauer vorgestellt. Die
Materialität der Zeitschriften, ihre personellen Zusammensetzungen, ihre Positionen
10
1 Eine Suche auf www.google.de mit den Stichworten „Lehrveranstaltung + Sexualität + Geschichte“
am 16.8.2003 ergab 1090 matches. Am 7.11.2005 zeigte die Ergebnissuche schon ungefähr 13.000
Treffer an.
2 Franz X. E DER, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München 2002.
3 Ebenda, S. 10.
12
4 Ebenda, S. 10.
5 Neben sexuellen Praktiken und Ritualen zeigte die ältere Kulturgeschichte in den
„Sittengeschichten“ vor allem Interesse an an der körperlichen Züchtigung und der Volksmedizin.
Vgl. dazu: Maren LORENZ, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen
2000, S. 20.
6 Von einer diskursiven Formation kann erst dann gesprochen werden, wenn eine bestimmte Anzahl
von Äußerungen in einem ähnlichen System der Streuung beschrieben werden kann, und wenn sich
bei den Gegenständen des Diskurses eine gewisse Regelmäßigkeit festmachen lässt. Diskurse sind
„institutionalisierte bzw. institutionalisierbare Redeweisen, deren Regeln und Funktionsmechanismen
gleichsam ‚positiv’ zu ermitteln sind.“ Vgl. hierzu: Achim LANDWEHR, Geschichte des Sagbaren.
Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, S. 78f; sowie Peter SCHÖTTLER, Wer
hat Angst vor dem „linguistic turn“? In: Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, S. 139.
7 Magnus Hirschfeld (1868-1939) war Arzt und Sexualwissenschafter. 1897 gründete er das
gehöriger Stelle auf der Karte oder dem Globus ein. Ihm kann es gleichgültig bleiben, warum
just hier ein Gebirgsstock aufragt oder dort ein See liegt. Anders der Geologe. Er muß
ergründen, weshalb das Anlitz der Erde so und nicht anders wurde, muß aus den
verschiedenen Schichten das Wesen der obersten, auf der wir leben, sinngemäß herleiten.
Der Geograph braucht keine Entwicklungen zu berücksichtigen. Die Erdoberfläche ist so,
wie sie ist, und das muß genügen. Der Geologe trachtet danach, ein Letztes aus dem
Vorletzten und dies aus dem Drittletzten herzuleiten. Er fragt nach dem Werden der Erde
und damit nach dem inneren Grunde ihres ‚Soseins’.“8
„Wenn wir also als Sexualhistoriker das Gebäude der menschlichen Sexualität
geschichtlich entstehen lassen, so sind wir darauf gefaßt, nicht jedermanns Meinung zu
treffen. Das Tatsachenmaterial liegt vor: wir schichten und tun dies nach bestem
wissenschaftlichen Wissen und Gewissen. Aber den Mörtel, der die Steine untereinander
verbindet, geben wir selbst dazu. Mit dem Sinn, den wir hineinlegen, gestalten wir das
Rohmaterial zur systematischen Einheit. Damit steuern wir unser Bestes zur Erkenntnis der
Gegenwart bei, wenn wir sie aus der Vergangenheit lückenlos herleiten können.“9
Vorwort zu „Das Liebesleben in der Natur“ von Wilhelm Bölsche (1861-1939, der „Schöpfer des
modernen Sachbuchs“) zu lesen: „Ich habe in diesem Buche einmal von den verschiedenen Schichten
gesprochen, die sich wie Quadern eines uralten Gebirges in unserem Liebesleben aufeinander lagern.
[...] Mit diesem zweiten Bande lege ich einen Quader gleichsam unter meinen ersten. Auch der erste
handelt ja im Kern der Idee schon vom Menschen. Wenn der zweite diesen Stoff nun abermals und
energischer aufnimmt, so ist sein Zweck hauptsächlich, eine Stufe weiter in die Tiefe zu bauen. Vom
Menschen reden heißt nicht: an die glatte Oberfläche der Natur tauchen, sondern erst recht in den
geheimnisvollen Grund.“ Wilhelm BÖLSCHE, Das Liebesleben in der Natur. Eine
Entwicklungsgeschichte der Liebe, Leipzig 1900, S. V.
14
Der psychoanalytische Ansatz in Bezug auf das Sexuelle wurde im Zuge der
sogenannten „Sexuellen Revolution“ der sechziger und siebziger Jahre des 20.
Jahrhunderts vor allem von den Geschichts- und Sozialwissenschaften aufgenommen
und fungierte als theoretischer Rahmen einer Sexualgeschichte, die das Werden der
„modernen, bürgerlichen Sexualität“ und ihrer zugrunde liegenden „Repression“ im
Fokus hatte.
Im Klima der politischen Umbrüche und der anti-bürgerlichen
„Befreiungsbewegungen“ (wie zum Beispiel der Zweiten Frauenbewegung, der
StudentInnenbewegung etc.) wurde versucht, dem Geheimnis einer tabuisierten und
„unterdrückten“ bürgerlichen Sexualität betont kämpferisch und „aufklärend“
entgegenzuwirken.11 Diese Haltung konnte sich bezeichnenderweise durch die
Hypothese entfalten, dass seit dem 18. Jahrhundert in Zusammenhang mit der
Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft Sexualität zunehmend unterdrückt,
tabuisiert und verschwiegen worden wäre. Nach diesen Ansichten wären vor allem
Frauen von dieser bürgerlichen Sexualmoral betroffen gewesen, indem sie ihnen
Freiheit nicht nur in ihrer Sexualität, sondern in allen Lebensbereichen genommen
hätte. Männern hätte sie ermöglicht, dem engen Prüderiekorsett zu entfliehen, indem
sie in der Unterwelt eines Prostitutions- und Pornographiemilieus das ihnen
zugesprochene sexuelle Begehren auslebten. Die aus dem konstatierten Schweigen
und der gleichzeitigen ausschweifenden männlichen Sexualpraxis resultierende
„bürgerliche Doppelmoral“ wurde als Hauptgrund für die (Geistes-)Erkrankungen
der asexualisierten Frauen (wie z.B. der Hysterie) angesehen. Erst mit den
Erkenntnissen Freuds sei es möglich geworden, Einsichten darüber zu erlangen, „wie
es um den Sex, seine gesellschaftliche Unterdrückung und um die Möglichkeit seiner
Befreiung“12 stehe.
Es waren vor allem französische und britische SozialhistorikerInnen, die sich
nun demographischen Erhebungen und quantitativen Untersuchungen über das
Sexualverhalten verschiedenster Bevölkerungsgruppen widmeten, die
11Dass dies keine Erfindung dieser Zeit war, wird in dieser Arbeit noch ausreichend gezeigt werden.
12 Franz X. EDER, „Sexualunterdrückung“ oder „Sexualisierung“? Zu den theoretischen Ansätzen
einer „Sexualgeschichte“. In: Daniela ERLACH/Markus REISENLEITNER/Karl VOLCELKA (Hg.),
Privatisierung der Triebe. Frühneuzeitliche Studien 1, Frankfurt am Main/Bern/New
York/Paris/Wien 1994, S. 7-29, hier S. 10.
15
„Ich habe keineswegs behauptet, daß es keine Unterdrückung der Sexualität gegeben
habe. Ich habe mich nur gefragt, ob man zur Entschlüsselung der Beziehungen der Macht,
erworbener Zustand bzw. als Krankheit definiert, die es zu heilen galt. Dennoch wurden deren
Wurzeln im Trieb gedacht, der von der Bioenergie abhängig war. Ein wissenschaftliches Dilemma, das
von Freud folgendermaßen angesprochen wurde: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie.
Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in unserer Arbeit
keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen.“ Zit. nach:
EDER, „Sexualunterdrückung“ oder „Sexualisierung“?, S. 15.
16 EDER, „Sexualunterdrückung“ oder „Sexualisierung“?, S. 8.
16
dem Wissen und dem Sex die gesamte Analyse am Begriff der Repression orientieren müsse;
oder ob man diese Dinge nicht besser begreifen könnte, wenn man die Untersagungen, die
Verhinderungen, die Verwerfungen und die Verbergungen in eine komplexere und globalere
Strategie einordnet, die nicht auf die Verdrängung als Haupt- und Grundziel gerichtet ist.“17
„Das Wesentliche aber ist die Vermehrung der Diskurse über den Sex, die im
Wirkungsbereich der Macht selbst stattfinden: institutioneller Anreiz, über den Sex zu
sprechen, von ihm sprechen zu hören und ihn zum Sprechen zu bringen in ausführlicher
Erörterung und endloser Detailanhäufung.“20
Das Klagen über das Schweigen, die Heuchelei und die sexuelle Repression
war Teil eines umfassenden Prozesses dieser Konstituierung, Diskursivierung und
Intensivierung von Sexualität. Die Repressionshypothese ist demnach „in einer
allgemeinen Ökonomie der Diskurse über den Sex anzusiedeln, wie sie seit dem 17.
Jahrhundert im Inneren der modernen Gesellschaften herrscht.“21 Die PredigerInnen
der Repressionshypothese – also jene, die den Befreiungsdiskurs im Munde führen –
fungieren als produktive TeilnehmerInnen am Machtkomplex „Sexualität“, sind sie
doch dem Modell der souveränen Macht verbunden, die die Machtwirkung nur als
zwingend, negierend und beschränkend – als „Herrschaft“ – auffasst. Dieser Logik
17 Michel FOUCAULT, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 19958, S.
8. (Vorwort zur deutschen Ausgabe.)
18 Zur umfangreichen Machtdefinition Foucaults seien hier auszugsweise zwei Textstellen zitiert:
„Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. [...] [D]ie
Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“
FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 114. „Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt,
teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im
Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.“ Ebenda, S. 115.
19 Ebenda, S. 21.
20 Ebenda, S. 28.
21 Ebenda, S. 21.
17
22 Ebenda, S. 128.
23 FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 129f.
24 Vgl. dazu z.B.: Philipp S ARASIN, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main
2003, S. 30f; SCHÖTTLER, Wer hat Angst vor dem „linguistic turn“?; Klaus-Michael BOGDAL,
Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung, Wiesbaden
1999.
25 FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 166f; Michel F OUCAULT, In Verteidigung der Gesellschaft.
26 Vgl. dazu etwa: FOUCAULT, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 308-311. An dieser Stelle wird vor
allem der dem Sexualitätsdispositiv anhängige Rassismus in Anarchismus und Frühsozialismus
beschrieben, der Teil der biopolitischen Strategie ist.
27 Als prominenteste Arbeiten dazu sind sicherlich jene der US-amerikanischen Historikerin Gerda
LERNER zu nennen: Gerda LERNER, Frauen finden ihre Vergangenheit. Grundlagen der
Frauengeschichte, Frankfurt am Main 1995; Gerda LERNER, Welchen Platz nehmen Frauen in der
Geschichte ein? Alte Definitionen und neue Aufgaben. In: Elisabeth LIST/Herlinde S TUDER (Hg.),
Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt am Main 1989, S. 334-352.
28 Vgl. z.B. dazu: Gerburg TREUSCH-DIETER, „Cherchez la femme“ bei Foucault? In: Gesa DANE
(Hg.), Anschlüsse: Versuche nach Michel Foucault, Tübingen 1985, S. 80-94; Hilge LANDWEER,
Sexualität als Ort der Wahrheit? Heterosexuelle Normalität und Identitätszwang. In:
INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNGSGRUPPE FRAUENFORSCHUNG IFF (Hg.), Liebes- und
Lebensverhältnisse. Sexualität in der feministischen Diskussion, Frankfurt am Main/New York 1990,
S. 83-100.
29 Hier soll von „Transformationen“ und nicht von „Entwicklungen“ die Rede sein, da „nicht alle
„Was wir brauchen, ist die Ablehnung der festgeschriebenen und permanenten
Eigenschaften des binären Gegensatzes, eine echte Historisierung und die Dekonstruktion
der Bedingungen des geschlechtlichen Unterschieds. Und wir müssen selbstbewußter in der
Unterscheidung zwischen unserem analytischen Vokabular und dem zu analysierenden
Vokabular und dem zu analysierenden Material werden. Wir müssen Wege finden (wie
30Zum ersten Mal ausformuliert bei: Ann OAKLEY, Sex, Gender and Society, New York 1972.
31Zur Debatte um die „Frauengeschichte“ vgl. z.B.: Gerda LERNER, Welchen Platz nehmen Frauen in
der Geschichte ein?; Gisela BOCK, Frauengeschichte. In: Frank NIESS (Hg.), Interesse an der
Geschichte, Frankfurt am Main 1989, S. 77-89; Karin HAUSEN (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte,
München 1983; Alain CORBIN/Arlette FARGE/Michelle PERROT u.a. (Hg.), Geschlecht und
Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, Frankfurt am Main 1989.
20
unzureichend auch immer), wie wir unsere Analysen einer Selbstkritik unterziehen
können.“32
32 Joan Wallach SCOTT, Gender: eine nützliche Kategorie der historischen Analyse. In: Nancy KAISER
(Hg.), Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, S. 27-75, hier S. 49.
33 „Zusammenfassend kann man wohl feststellen, daß sich das beschreibende Konzept der Kategorie
Gender mit der Untersuchung der Dinge beschäftigt, die einen weiblichen Bezug haben. Es ist ein
neues Thema, eine neue Abteilung der historischen Untersuchung, aber es hat nicht die analytische
Stärke, sich mit bestehenden historischen Paradigmen auseinanderzusetzen (und sie zu verändern).“
Ebenda, S. 35.
34 Ebenda, S. 53.
35 Scott erinnert an dieser Stelle daran, dass diese Forderung schon 1975 von Natalie Zemon Davis
38 Einen guten Überblick über die Diskussion um die Kategorie Erfahrung gibt: Andrea GRIESEBNER,
Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 2005, S. 142f.
39 Barbara DUDEN, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730,
Stuttgart 1987.
40 Vgl. dazu: GRIESEBNER, Interagierende Differenzen, S. 64f.
41 Andrea Griesebner weist darauf hin, dass Butlers Theoriegebäude „nicht im ‚luftleeren Raum’
entstanden sind und erinnert deshalb an die kritischen Texte von Hazel Carby, bell hooks und
Monique Wittig: Hazel V. CARBY, White Women Listen! Black Feminism and the Bounderies of
Sisterhood. In: Centre for Contemporary Cultural Studies (Hg.), The Empire Strikes Back, London
1988, S. 212-235; bell HOOKS, Yearning. Race, Gender and Cultural Politics, Boston 1986; Monique
WITTIG, Le corps lesbien, Paris 1984. Zit. nach: Andrea G RIESEBNER, Historisierte Körper. Eine
Herausforderung für die Konzeptualisierung von Geschlecht? In: Christa G ÜRTLER/Eva
HAUSBACHER (Hg.), Unter die Haut. Körperdiskurse in Geschichte(n) und Bildern. Beiträge der 5.
Frauen-Ringvorlesung an der Universität Salzburg, Innsbruck/Wien 1999, S. 53-75.
42 Judith BUTLER, Gender Trouble, New York 1990. Die deutsche Ausgabe: Das Unbehagen der
Körperbegriff. Einerseits beschreibt er den Körper als diskursives und kulturelles Konstrukt,
andererseits legt an mancher Stelle nahe, es gäbe einen Körper (in Verbindung mit den Lüsten), der
seinen kulturellen und historischen Einschreibungen vorausgehe. Vgl. z.B.: FOUCAULT, Der Wille zum
Wissen, S. 187.
22
Gewicht“ wie die „Körper“, da sie nicht ohne einander existieren.44 Der Körper als
solcher kann nur geschlechtlich markiert in Erscheinung treten. Es gibt also keinen
Körper außerhalb der symbolischen Ordnung, da diese die sexuelle Differenz der
Körper produziert. Der Körper, als solcher variabel und performativ erscheinend,
„hat“ nicht nur eine Geschichte:
„Es ist von Anfang an klar, [...] daß die Geschichte der Materie zum Teil bestimmt
ist von der Aushandlung der sexuellen Differenz. Wir können versuchen, zur Materie als
etwas dem Diskurs Vorgängigen zurückzukehren, um unsere Thesen hinsichtlich der
sexuellen Differenz eine Grundlage zu geben. Wir können dann allerdings entdecken, daß
Materie vollständig erfüllt ist mit abgelagerten Diskursen um das biologische Geschlecht und
Sexualität, die die Gebrauchsweisen, für die der Begriff verwendbar ist, präfigurieren und
beschränken. Darüber hinaus könnten wir auf Materie rekurrieren, um eine Reihe von
Verwundungen oder Verletzungen als solche zu begründen oder nachzuweisen, nur um dann
feststellen zu müssen, daß Materie selbst durch eine Reihe von Verletzungen begründet wurde, die in
der heutigen Berufung auf Materie unwissentlich wiederholt werden.“45
„Doch hilft es nichts, im Glauben an das ‚Gute’ die ‚volle’ und ‚reale’ Repräsentation
zu stützen; sei es politisch, sei es zeichentheoretisch. Gerade in den rezenten feministischen
Debatten wird besagte Schwierigkeit dort lesbar, wo ‚die Frau’ als singuläre Repräsentation
‚der Frauen’ nach Judith Butler nicht mehr denkbar ist, was gleichzeitig aber politische
Abzweckung unter Verwendung genau dieses ‚Begriffs’ nicht verunmöglicht. Was zwischen
Unterschied und Gleichheit für den ‚Feminismus’ und ‚die Frau’ hier Geltung hat, gilt auch
für Politik im allgemeinen: Only paradoxes to offer.“47
44 Judith BUTLER, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995. Im
Original: Bodies that Matter, New York 1993.
45 Ebenda, S. 53.
46 Philipp SARASIN, „Mapping the body“. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und
Journal of the History of Sexuality im Jahr 1990, die sowohl ein Effekt dieser Uneindeutigkeiten ist, als
auch ein programmatisch postulierter Affekt. EDER, Kultur der Begierde, S. 14 und 22. Sowie: EDER,
„Sexualunterdrückung“ oder „Sexualisierung“?, S. 8.
51 FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 128.
24
52Paul VEYNE, Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt am Main 1992, S. 65.
53 Reinhart KOSELLECK, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 119. In: DERS., Vergangene
Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 107-129.
54 Achim LANDWEHR, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse,
„Die Sexualität ist keine zugrundeliegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist,
sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die
Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die
Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und
Machtstrategien miteinander verketten.“58
CONRAD/Martina KESSEL (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen
Diskussion, S. 283-309.
57 Vgl. dazu: SARASIN, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 31f. Sarasin beschreibt hier
Jaques Derrida und Michel Foucault als die Hauptproponenten der Diskurstheorie.
58 FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, S. 128.
59 Joseph VOGL, Geschlecht ohne Ort. Das Casanova-Experiment oder: Vom Kampf der Natur gegen
die Vernunft, S. 37. In: Günther BUSCH/Uwe WITTSTOCK, Den Körper Neu Denken. Gender
Studies. Neue Rundschau, 104. Jg., 1993, Hft. 4, Frankfurt am Main 1993, S. 33-45.
26
3.2 Kunststoff?
Auf der Suche nach einer Definition von Sexualität in Texten der neueren
Sexualitätsgeschichte findet man zahlreiche Angebote, was nicht zuletzt durch die
weiter oben ausgeführten Ansätze zu erklären ist. An verschiedener Stelle wird
jedoch wiederholt betont, dass es sich bei Sexualität um ein Konstrukt handelt. So
schreibt zum Beispiel Isabel V. Hull, Sexualität sei „ein neues, künstliches Konstrukt,
ein flexibler, ordnungsgebender Sammelbegriff, der erst im frühen 19. Jahrhundert
seinen Namen erhielt, dessen Umrisse sich allerdings schon am Ende des
achtzehnten abzeichneten.“61 Im gleichen Text ist von der „Plastizität des Begriffes
‚Sexualität’“ die Rede.62 Eder verweist auf seine Artifizialität, indem er Sexualität als
„Plastikwort“63 bezeichnet (und sich damit den von Barbara Duden geprägten Begriff
zu eigen macht)64. An dieser Stelle wäre es eigentlich notwendig, eine Diskussion der
Frage auszuführen, inwiefern nicht alle Worte und Begriffe „künstlich“ sind bzw.
Worte und Dinge niemals zusammenfallen, demnach weder „künstlich“ noch
„natürlich“ sein können. Diese Definitionsversuche unterstreichen jedoch –
übersieht man dieses Manko an Reflexion –, dass der Begriff „Sexualität“ eine relativ
junge Geschichte hat.
Die neulateinische Wortbildung „Sexualität“ (Geschlechtlichkeit) leitet sich
vom lateinischen „sexus“ (Geschlecht) ab und tauchte als substantivische Ableitung
von „sexualis“ bzw. „sexuell“ in der wissenschaftlichen Fachsprache des 19.
Jahrhunderts auf. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts fand sie als Begriff
(wirkungsmächtigen) Eingang in die Alltagssprache.65
Das „Oberflächennetz“ oder „kulturelle Deutungsmuster, das wir heute
Sexualität nennen, [hatte] sich im 18. Jahrhundert noch nicht zu einem gradlinigen
System entwickelt [...].“66 Im Zuge der sogenannten „wissenschaftlichen Revolution“,
die bekanntermaßen das menschliche Denken nachhaltig veränderte, indem die
Natur zur totalen Erklärungsgrundlage avancierte, konnte sich das Bedeutungssystem
Sexualität in der und für die Biologie, Medizin, Anthropologie und Pädagogik
entfalten.
62 Ebenda, S. 62.
63 EDER, Kultur der Begierde, S. 14.
64 Vgl. dazu: LORENZ, Leibhaftige Vergangenheit, S. 33.
65 EDER, Kultur der Begierde, S. 15.
66 HULL, „Sexualität“ und bürgerliche Gesellschaft, S. 62.
67 Vgl. dazu z.B.: E DER, Kultur der Begierde, S. 15; Gert HEKMA, A History of Sexology: Social and
Historical Aspects of Sexuality, S. 173. In: Jan BREMMER (Hg.), From Sappho to De Sade: Moments
in the History of Sexuality, S. 173-193; HULL, „Sexualität“ und bürgerliche Gesellschaft, S.64.
28
„Die Blütenblätter [...] dienen als Brautbett, das der Schöpfer so glorreich
hergerichtet, mit den feinsten Bettvorhängen geschmückt und mit vielen zarten
Wohlgerüchen erfüllt hat, damit Bräutigam und Braut ihre Hochzeit dort besonders prächtig
feiern können. Ist nun das Lager dergestalt bereitet, wird es Zeit, daß der Bräutigam seine
geliebte Braut umfängt und ihr seine Geschenke macht.“70
68 Londa SCHIEBINGER, Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der
Wissenschaft, Stuttgart 1995, 30f.
69 Vor allem in Frankreich erfuhr die Linné´sche Systematisierung eher Ablehnung. Die Brüder Jussieu
interessierten sich nicht für sein „künstliches“ System, sondern hielten vielmehr an der Entwicklung
eines „natürlichen“ Systems fest. Auch Comte de Buffon war ein Kritiker. Er machte sich über die
Systematisierung lustig, da es von so kleinen und belanglosen Merkmalen abhänge, dass der Forscher
bei seiner Arbeit in der Natur ein Mikroskop bei sich tragen müsse, um eine Pflanze bestimmen zu
können. In England hingegen wurde das Sexualsystem bereitwillig aufgenommen. SCHIEBINGER, Am
Busen der Natur, S. 50f.
70 LINNAEUS, Praeludia sponsalorium plantarum, Abschnitt 16. Zit. nach: SCHIEBINGER, Am Busen
der Natur, S. 42. Vgl. auch dazu ebd. v.a. das Kapitel „Zum Gebrauch der Metapher in der
Wissenschaft“ 43-49.
29
wesentliche Rolle in den Wissenschaften spielen und damit den fundamentalen und
ursprünglichen Geschlechtsgegensatz zwischen „männlich“ und „weiblich“, im
(Pflanzen-)Körper festmachen. An der von Linné blumig umspielten „Nahtstelle“, an
der sich die „‚gender‘-Differenz mit einer Biologie und einer Medizin des Sexes
kurzschließen würde [...], errichtet die scientia sexualis ihre normierende Wirkung.“ 71
Eine Entwicklung, vor der eben auch Pflanzen nicht gefeit waren und bisweilen zu
Linnés Zeit noch zu moralischen Diskussionen über die Anstößigkeit der von
sozialgeschlechtlichen Elementen durchsetzten Phytographie führte.72
Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein war das bedeutsame
Zusammendenken anatomischer Elemente, biologischer Funktionen, Empfindungen
und Lüste unmöglich. Im abendländischen Raum wurde die sexuelle Differenz noch
in Form der Galenschen Säftelehre konstruiert, in der der Geschlechtsunterschied
kosmischen Prinzipien unterlag. Die vier Elemente des Universums (Temperamente)
waren dabei auf Männer (heiß/trocken) und Frauen (kalt/feucht) aufgeteilt, wobei
diese nicht gegensätzlich, sondern graduell gedacht wurden. In diesem Modell
fungierten Frauen mit ihren nach innen gestülpten Penissen als „mangelhafte
Männer“ und stellten damit die unvollkommeneren Teile des Menschengeschlechts
dar.76 Die Augenscheinlichkeit der anatomischen und physiologischen Unterschiede
war dabei jedoch nicht sinnkonstituierend. So wurden etwa Blutflüsse bei Männern
oftmals analog zur heute eindeutig den Frauen zugeordenten Menstruation gesehen.
Auch die Milchbildungsfähigkeit der Brüste und damit das Stillen waren bis ins frühe
18. Jahrhundert noch nicht ausschließlich den Frauen vorbehalten.77
„Die Grenzen zwischen Mann und Frau sind dabei [im Ein-Geschlecht-Modell] in
erster Linie politische; rhetorische Aussagen über geschlechtliche Verschiedenheit und
sexuelle Lust haben Vorrang vor biologischen. Es geht um einen Körper, dessen Säfte –
Blut, Same, Milch und die verschiedenen Exkremente – insoweit fungibel sind, als sie sich
ineinander verwandeln, und dessen Prozesse – Verdauung und Fortpflanzung, Menstruation
und sonstige Blutungen – nicht so leicht voneinander zu unterscheiden oder dem einem oder
anderen Geschlecht zuzuschreiben sind, wie es nach dem 18. Jahrhundert mit ihnen
geschah.“78
„Denn aus dem vierpoligen Differenzmuster kristallisierte sich ein neues Muster von
Gegensätzen heraus, das mit der Geschlechterdifferenz zusammenfiel, sich mit
Konstruktionen sozialer und rassistischer Differenz verband und am sozialdarwinistisch
aufgeladenen Begriff der »erblichen Konstitution« festhielt: Die vielfältigen galenischen
Differenzen wurden zu moderenen Antagonismen.“79
85 Gert DRESSEL/Werner LAUSECKER, Das „Gesetz der Natur“ – Die Konstruktion bürgerlicher
Sexualitäten im Spannungsfeld von Körper und „Volkskörper“, S. 107. In : Elisabeth VAVRA (Hg.),
Familie, Horn 1993, S. 105-121.
86 FOUCAULT, In Verteidigung, S. 286.
34
„Die Bio-Politik hat es mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem
Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem und
Machtproblem zu tun [...].“88
„Wenn die Sexualität wichtig war, dann aus verschiedenen Gründen, vor allem aber
aus folgenden: Einerseits ergibt sich die Sexualität als körperliches Verhalten aus einer
individualisierenden Disziplinarkontrolle in der Form permanenter Überwachung [...];
daneben fügt sich die Sexualität dank ihrer Fortpflanzungseffekte gleichzeitig in die
umfassenden biologischen Prozesse ein, die nicht mehr den Körper des Individuums,
sondern jenes Element, jene mulitple Einheit betreffen, die die Bevölkerung ist. Die
Sexualität befindet sich an der Kreuzung von Körper und Bevölkerung.“89
Genau an dieser „Kreuzung“ von der Vorstellung des „Körper“ und dem
Konzept der „Bevölkerung“, setzte auch die, sich der Sexualität bedienende,
anarchistische Politik in Spanien an, die zwischen individualistischen und
kollektivistischen Gesellschaftsvorstellungen oszilierte.
87 Ebenda, S. 289.
88 Ebenda, S. 289.
89 Ebenda, S. 297.
35
„einerseits auf den Körper, den undisziplinierten Körper, der unmittelbar von allen
Krankheiten ereilt wird, die sexuelle Ausschweifung nach sich zieht. [...] Zugleich hat eine
ausschweifende, pervertierte Sexualität Auswirkungen auf der Ebene der Bevölkerung, da
man von dem sexuell Ausschweifenden annimmt, daß sein Erbgut, seine
Nachkommenschaft ihrerseits beeinträchtigt sein werden, und das über Generationen
hinweg bis ins siebente Glied und ins siebte des siebenten Glieds. Es handelt sich um die
Theorie der Degeneration. Die Sexualität, insofern sie ein Herd individueller Krankheiten
und andererseits der Kern der Degeneration ist, repräsentiert genau diesen
Verbindungspunkt des Disziplinären und Regulatorischen, des Körpers und der
Bevölkerung.“90
90 Ebenda, S. 297f.
91 Synonym zum Ausdruck „dégénération“ wurde von Rousseau auch der Begriff „dépravation“
verwendet, der dasselbe Phänomen bezeichnet.
92 Peter WEINGART/Jürgen KROLL/Kurt BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik
Einzig Ursachen und Auswege aus dem Problem der „Deszendenz“ unterschieden
sich je nach politischer Ideologie und Ausrichtung zum Teil eklatant und bildeten
verschiedene Schulen.95 Die jeweiligen Lösungsansätze waren dabei stets mit der
darwinistischen Evolutions- und Selektionstheorie verbunden. „Die Selektionstheorie
wird zum politischen Deutungsmuster, indem sie auf die zentralen, durch die
Industrialisierung entstandenen gesellschaftlichen Probleme des ausgehenden 19.
Jahrhunderts angewandt wird.“96
Gleich war jedoch allen, dass die Diskussion um die Degeneration Grundlage
des eugenischen Diskurses wurde, der in sich selbst zwar auch verschiedene Linien
besaß, aber im Ganzen ein gemeinsames Ziel hatte: Die Gesellschaft und ihr
Bevölkerungskörper sollte durch Eingriffe in die Fortpflanzung gesunden und damit
der drohende Verfall verhindert bzw. eine „Höherentwicklung“ der menschlichen
Gattung erreicht werden.
„Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert,
dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt,
kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die
weder das Recht noch das Wissen noch die Kraft dazu haben ... Regiert sein heißt, bei jeder
Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfaßt, taxiert,
gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizensiert, autorisiert, befürwortet,
ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden. Es heißt, unter dem
Vorwand der öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt,
verwaltet, geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepreßt, getäuscht,
bestohlen zu werden; schließlich, bei dem geringsten Widerstand, beim ersten Wort der
Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt, mißhandelt, zu Boden
98 „El progreso sistemático y seguro de la humanidad no puede hacerse en tanto no se comprenda que
únicamente la ciencia significa la verdadera revolución“ G.J. NICOLAI, Ciencia y Revolución, EST, 86,
Oktober 1930.
99 Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), *1809 in Besançon/Frankreich, Ausbildung zum Schriftsetzer.
1840 entwickelt er in seinem Aufsatz „Was ist Eigentum?“ ein eigenes Gesellschaftsmodell und
prangert die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse radikal an. 1849 gründet er eine
Tauschbank mit dem Ziel, den Zwischenhandel und das Zinswesen auszuschalten. Proudhon wurde
mehrmals wegen seiner Aussagen und Veröffentlichungen zu Gefängnisstrafen verurteilt, emigrierte
nach Belgien, wurde dort nach einiger Zeit wieder ausgewiesen und kehrte 1860 nach Paris zurück, wo
er bis zu seinem Tod 1865 noch einige Bücher veröffentlichte. Er gilt neben William Godwin als
Urheber der anarchistischen Theorie, da er als erster den Leitbegriff der Freiheit mit der
sozialistischen Idee verband. Vgl. dazu: Silke LOHSCHELDER, AnarchaFeminismus. Auf den Spuren
einer Utopie, Münster 2000, S. 16f.
39
100 Pierre-Joseph Proudhon, zit. nach: Daniel G UÉRIN, Anarchismus. Begriff und Praxis, Frankfurt am
Main 1967, S. 17f.
101 Max Stirner, zit. nach: GUÉRIN, Anarchismus, S. 19.
102 GUÉRIN, Anarchismus, S. 19f.
103 Im Anschluss an dieses anarchistische Grundprinzip ist jedoch die Gewichtung der Rolle des
Individuums sehr unterschiedlich bewertet worden und stand immer in einem Spannungsverhältnis
zur „revolutionären Masse“ und zum Kollektiv. Vgl. dazu: Hans DIEFENBACHER (Hg.), Anarchismus.
Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, Darmstadt 1996, S. 11; GUÉRIN,
Anarchismus, S. 29-40.
104 Richard CLEMINSON, „Science and Sympathy“ or „Sexual Subversion on a Human Basis“?
Anarchists in Spain and the World League for Sexual Reform, S. 112. In: Journal of the History of
Sexuality, Jänner 2003, Vol. 12, Nr. 1, S. 110-121.
105 Max Stirner (1806-1856) alias Johann Caspar Schmidt, Philosoph, vor allem bekannt geworden für
sein 1845 erschienenes Buch „Der Einzige und sein Eigentum“. Die Publikation zog kurzzeitig eine
aufgeregte Debatte nach sich, in die sich auch der Stirner-Gegner Karl Marx mit einer Gegenschrift
einschaltete. Langfristig gesehen wurde Stirner außer in den Kreisen des russischen Anarchismus und
Nihilismus kaum rezipiert. Viele bekannte AnarchistInnen distanzierten sich von den Positionen
Stirners, der sich selbst nie als Anarchist bezeichnet hatte. In „Der Einzige und sein Eigentum“ wird
jedoch eine der extremsten Individualismus-Theorien dargestellt, die Friedrich Nietzsche dazu bewog
40
verknüpfte die Forderung nach der Selbstbefreiung des Individuums mit einer
Kampfansage an die „christliche Sexualmoral“.106
Diese Verbindung wurde im spanischen Anarchismusdiskurs besonders
hervorgehoben, was sicherlich auch mit der Dominanz der katholischen Kirche über
fast alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens sowie ihrer extrem
ausgeformten Verquickung mit der staatlichen Macht zusammenhängt, die sich –
aller leisen Modernisierungstendenzen zum Trotz – lange erhalten konnte. Die als
„christlich“ oder „bürgerlich“ bezeichnete Moral bzw. Sittlichkeit wurde in der
anarchistischen Kritik als eigentlich herrschende „Unmoral“ entlarvt, die es durch
Aufklärung und rationale Erkenntnisgewinnung zu überwinden galt. Die „wahre“
Moral im Sinne eines Verantwortungsbewusstseins beanspruchten in der Folge die
anarchistischen AutorInnen für sich selbst bzw. setzten sie sich mit der Problematik
des Begriffs auseinander. So erscheint es nicht überraschend, dass „die Moral“ zu
einem Schlüsselbegriff im Rahmen der anarchistischen Sexualitätsdebatten werden
sollte.
Stirner als den kühnsten Denker seit Hobbes zu bezeichnen. Vgl. hierzu: Hans FENKSE/Dieter
MERTENS/Wolfgang REINHARD/Klaus ROSEN (Hg.), Geschichte der politischen Ideen. Von Homer
bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1987, S. 458; G UÉRIN, Anarchismus, S. 29f; Enno RUDOLPH,
Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt. Der Einzelne als Eigener seiner selbst bei Max Stirner. In:
DIEFENBACHER (Hg.), Anarchismus, S. 24-33; http://www.lsr-projekt.de/mslex.html (7.11.2005).
106 GUÉRIN, Anarchismus, S. 31.
107 Bertrand R USSELL, Roads to Freedom: Socialism, Anarchism, and Syndicalism, London 1918, S. 49.
Zit. nach: Erwin OBERLÄNDER (Hg.), Der Anarchismus. Dokumente der Weltrevolution, Bd. 4,
Freiburg im Breisgau 1972, S. 7.
108 OBERLÄNDER, Anarchismus, S. 11f. Dass der Versuch, die „volkstümliche“ Auffassung in diese
Richtung zu verändern, misslungen ist, zeigten jüngst die Berichterstattung und die politische Reaktion
41
im Zusammenhang mit den Vorfällen beim G8-Gipfel in Genua im Juli 2001. Die Verantwortung für
die Ausschreitungen bei einer Großdemonstration – bei der ein junger Demonstrant von der Polizei
erschossen worden war – wurde noch Monate nachher von Seiten der Politik und der großen
Medienanstalten einer ominösen anarchistischen Organisation namens „black block“ zugeschrieben,
ohne dass für deren Existenz jemals ein Beweis erbracht werden konnte. Zu Zuschreibungen dieser
Art – die letztendlich auch die Funktion haben, missliebige Personen vor dem Gesetz anklagen zu
können – in der spanischen Presse des 19. Jahrhunderts vgl. auch: Philipp METTAUER, „Esta tierra es
una esponja que cuando se pisa deja fluir el anarquismo“. Rekonstruktionsversuch und Interpretation
des Überfalles auf Jerez de la Frontera im Jahre 1892 anhand der spanischen Presse, Diplom-Arbeit
Univ. Wien 2001.
109 Oberländer merkt an, dass abgesehen von der allgemeinen „Wissenschaftsbegeisterung“ des 19.
Jahrhunderts auch der von Marx und Engels betriebene „wissenschaftliche Sozialismus“ ein Anreiz
dafür gewesen sein mag. Vgl. dazu: OBERLÄNDER, Anarchismus, S. 24f.
110 Peter KROPOTKIN, Die Eroberung des Brotes und andere Schriften. Zit. nach: Ulrich RATSCH,
Vom guten und vom bösen Menschen. Der „wissenschaftliche Anarchismus“ von Peter Kropotkin.
In: DIEFENBACHER, Anarchismus, S. 60.
42
„Vielleicht aber gibt es einen anderen Grund dafür, warum es für uns so einträglich
ist, die Beziehungen des Sexes und der Macht in Begriffen der Unterdrückung zu
formulieren: das, was man den Gewinn des Sprechers nennen könnte. Wenn der Sex
unterdrückt wird, wenn er dem Verbot, der Nichtexistenz und dem Schweigen ausgeliefert
ist, so hat schon die einfache Tatsache, vom Sex und seiner Unterdrückung zu sprechen,
etwas von einer entschlossenen Überschreitung. Wer diese Sprache spricht, entzieht sich bis
zu einem gewissen Punkt der Macht, er kehrt das Gesetz um und antizipiert ein kleines Stück
der künftigen Freiheit.“114
Wie aus dem vorhergehenden Kapitel hervorgeht, waren von Beginn an jene
Themen Bestandteil des anarchistischen Diskurses und seiner Medien in Spanien, die
rund um die Begriffsklammer „Sexualität“ angesiedelt waren. Die Frage nach der
ungleichen Behandlung der Geschlechter tauchte ab Ende des 19. Jahrhunderts in
der anarchistischen Auseinandersetzung in Spanien auf und wurde zu diesem
Zeitpunkt vor allem auf der sozialen und juristischen Ebene diskutiert: Seit 1868117
wurde die „Rolle“ und „Position der Frau“ in der Ehe und Gesellschaft im
Allgemeinen, sowie in der Arbeitswelt und den eigenen Gewerkschaftsorganisationen
im Besonderen besprochen und analysiert.118 „El problema de los sexos“ – also das
„Geschlechterproblem“ – zog sich durch alle Diskussionen um Ehe, freie Liebe,
Frauenemanzipation, Familie, Kindererziehung, Homosexualität, Körperkultur,
Nudismus, Naturismus, Geschlechtskrankheiten, Prostitution und Hygiene. Dabei
bildeten die Begriffe „Liebe“, „Arbeit“ und „Sexualität “ den thematische Rahmen, in
dem auch die fehlenden Gleichberechtigung der Geschlechter im geltenden Recht
angeprangert wurde. „Die Frau“ war umkämpftes Terrain im politischen Diskurs und
ihre monolithische Kategorisierung wurde nur durch die Klassenangehörigkeit
gebrochen, sodass manchmal in „die bürgerliche Frau“ und „die proletarische Frau“
unterschieden wurde. Im juridischen, sozialen, politischen und ökonomischen
Diskurs wurden rund um „die Frau“ und – seltener in ihrer pluralisierten Form –
116 „[…] desterrarla de la clandestinidad donde lo tiene confinado la moral dominante“ Un medico
rural [Synonym für Isaac Puente RG], A modo de programa, EST, 94, Juni 1931. Zur Person Puente
vgl.: Jose Daniel REBOREDO OLIVENZA, Idealismo y anarquismo en Alava. Isaac Puente, Genesis y
desarollo de su pensamiento político (1896-1936), in: Cuardernos de sección. Historia. Geografia
1995, 23, 277-299.
117 1868 endete die isabellinische Ära und die Herrschaft der Bourbonen. Dieses Jahr gilt als Beginn
des spanischen Anarchismus. Vgl. dazu: Peer SCHMIDT (Hg.), Kleine Geschichte Spaniens, Stuttgart
2004; Walther L. BERNECKER/Horst PIETSCHMANN, Geschichte Spaniens. Von der frühen Neuzeit
bis zur Gegenwart, Stuttgart/Berlin/Köln 1993.
118 Richard CLEMINSON, Anarchism, Science and Sex. Eugenics in Eastern Spain, 1900-1937, Bern
2000, S. 14; Regula NIGG, „La emancipación de las trabajadoras ha de ser de las trabajadoras mismas“.
Frauen in der anarchistischen Presse in Spanien 1871-1907, Lizentiats-Arbeit Basel 2000.
45
„die Frauen“ Aussagen und Festschreibungen vorgenommen, die in ihrer Art und
Weise immer auf biologische und reproduktive Funktion in der Gesellschaft
verwiesen.
119 Ausnahmen sind die Regelung der Weitergabe der Nationalität der Eltern an ihre Kinder, der
Thronfolge und der Regentschaft. Vgl. dazu: NIGG, „La Emacipación“, S. 14.
120 Die Volljähigkeit wurde im Alter von 23 Jahren erreicht; das Verlassen des elterlichen Haushalts
war für unverheiratete Frauen erst mit 25 Jahren möglich. Renate WEIßENFELS, Feminismus in
Spanien. Entstehung, Bestandsaufnahme und Exkurs über den Sexismus in der spanischen Sprache,
Basel 1988, S. 10f.
121 NIGG, „La Emancipación“, S. 14f.
122 Mary NASH/Susanna TAVERA, Experiencias desiguales: Conflictos sociales y respuestas colectivas
für den Handel mit Fremden oder dafür, selbst ein Geschäft zu betreiben bzw.
arbeiten zu gehen oder Verträge abzuschließen.123 „Ungehorsam“ oder Beleidigungen
gegenüber dem Ehemann wurden im Código Penal mit harten Gefängnisstrafen
geahndet. Je nach Geschlecht waren etwa für Ehebruch sehr unterschiedliche
Strafsätze vorgesehen, wobei das Strafausmaß für Männer immer deutlich unter dem
der Frauen lag.124
Das bürgerliche Geschlechtermodell des 19. Jahrhunderts garantierte in
Spanien damit auf zwei Ebenen die Kontrolle über die weibliche Bevölkerung: Die
formale Sozialkontrolle bestand in der offenen Benachteiligung durch Gesetze
(Código Civil 1889, Código Penal 1870, Código del Comercio 1885)125. Erst mit den
Reformen der Zweiten Republik endete diese Diskriminierung der Frauen auf
legislativer Ebene weitgehend. Die informelle Sozialkontrolle basierte auf dem
Diskurs der domesticidad, also der Häuslichkeit, der die Geschlechterrollen definierte
und damit die Normen von weiblichem und männlichem Verhalten zementierte.126
„Ohne jeden Zweifel ist die Frau dem Mann nicht unterlegen. [...] Beide herrschen
im sozialen Leben, aber in verschiedener Form, in unterschiedlicher Art. Der Wert des
Mannes ist aktiv, der der Frau ist passiv [...]. Der Mann ist reflexiv, analytisch; die Frau
123 Mary NASH, Mujer, familia y trabajo en España 1875-1936, Barcelona 1983, S. 160.
124 NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S. 121.
125 Ebenda, S. 120.
126 Ebenda, S. 120.
127 NASH , Mujer, Familia y Trabajo, S. 12f.
128 NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S. 121.
47
129 „Sin duda alguna la mujer no es inferior al hombre. [...] Ambos imperan la vida social, pero en
distinta forma, de distinta manera. El valor del hombre es activo, el de la mujer es pasivo [...]. El
hombre es reflexivo, analizador; la mujer, imaginativa. En el primero obra principalmente la razón, la
conciencia; en la segunda, el sentimiento, el afecto.“ E. ESCARTÍN Y LARTIGA, El triunfo de la
anarquía. Los problemas del siglo XX, Madrid 1922, S.72f. Zit. nach: NASH, Mujer, Familia y Trabajo,
S.64f.
130 NASH , Mujer, Familia y Trabajo, S. 13.
131 Mary NASH , Un/Contested Identities: Motherhood, Sex Reform an the Modernization of Gender
Identity in Early Twentieth-Century Spain, S. 29f. In: Victoria Lorée ENDERS/Pamela Beth R ADCLIFF
(Hg.), Contructing Spanish Womanhood. Female Identity in Modern Spain, New York 1999, S. 25-50.
132 „¡Hay equivalencia, pero no identidad! ¡Hay diferenciación de funciones y de cualidades, división de
trabajo!“ ESCARTÍN Y LARTIGA, El triunfo de la anarquía. Zit. nach: N ASH, Mujer, Familia y Trabajo,
S.64.
48
Denkens“133 voran und prägten damit nachhaltig den gender-Diskurs, der eine
Schlüsselfunktion bei der Formulierung kultureller Normen und der Bestimmung der
sexuellen Differenz hatte.
Der einflussreiche spanische Endokrinologe (und Autor zahlreicher Artikel in
anarchistischen Medien) Gregorio Marañón134 stellte fest, dass Frauen als Mütter und
Ehefrauen nicht minderwertig, sondern einfach „anders“, also das Komplementär zu
den Männern, seien.135 Die Besonderheit in Marañóns Diskurs stellt die medizinisch-
wissenschaftliche Re-Definition von Weiblichkeit (und Männlichkeit) dar: Die
biologischen Eigenschaften „der Frau“ wurden mit ihrer sozialen Aufgabe
verbunden. So hatte „die Frau“ nicht nur Mutter der Familie, sondern auch die
Mutter der Gesellschaft zu sein. Dadurch war es möglich, die Geschlechterrolle von
Frauen zwar in einem neuen medizinischen Diskurs der Differenz zu definieren, sie
aber genau dadurch wiederum in allen Bereichen von ihrem Sein als Mütter abhängig
zu machen. Alle anderen Tätigkeiten müssten der Mutterschaft untergeordnet sein.
Nur Unverheiratete und Witwen sollten demzufolge ähnliche Funktionen wie
Männer ausführen dürfen, da diese nicht (mehr) den primären Aufgaben des
weiblichen Geschlechts nachgehen könnten.136 Unter dem Konzept der „sozialen
Mutterschaft“ war es trotz des generellen Ausschlusses von Frauen aus dem
öffentlichen und politischen Raumes möglich, dass diese sich Platz in der politischen
Arena machen konnten.137
Neben dem Bedeutungsinhalt des „discurso «marañoniano» de la domesticidad“ 138
befindet Mary Nash seine Verbreitung als besonders signifikant, da er durch viele
Jahrzehnte hindurch die kulturellen Normen der spanischen Gesellschaft bedingte:
Häuslichkeit und die strikte Teilung der öffentlichen und privaten Sphäre, die geschlechtliche
Arbeitsteilung und, selbstverständlich, die von der Mutterschaft ausgehend konstruierte
kulturelle Identität setzten sich fort.“139
„Es ist anzunehmen, dass, mit der Grundlage einer ausreichenden geistigen
Vorbereitung, dem Studium der sozialen Emanzipation etc., die Frau in vielen Fällen fast
[sic!] zur gleichen intellektuellen Leistung fähig sein sollte wie der Mann.“141
Zwar finden sich auch (vornehmlich von Autorinnen verfasste) Texte, die
eine geistige Unterlegenheit der Frauen vehement zu bestreiten versuchen.142 Aber
139 „Inferior, igual o diferente, la mujer no sería considerada plenamente autónoma en el discurso
español de género hasta mucho tiempo después. Aunque llegaran aires y presupuestos nuevos, estos
sólo modernizarían superficialmente el discurso de la domesticidad y continuaría vigente la estricta
división entre las esferas pública y privada, la división sexual del trabajo y, por supuesto, la identidad
cultural construída a partir de la maternidad.“ Ebenda, S. 122.
140 „[...] que imprimen su sello especial a la fisonomía intelectual del individuo [...].“ R. REMARTÍNEZ,
etc., la mujer sea capaz de casi el mismo rendimiento intelectual que el varón en muchos casos.“
Ebenda.
142 Hier seien vor allem Lucía Sánchez Saornil, eine Gründerin der Mujeres Libres, und die Sozialistin
María Cambrils genannt. Vgl. dazu: NASH, Mujer, Familia y Trabajo, S. 15f.
50
Abgeordnete des Partido Radical und stand mit ihrer Meinung nicht auf Linie ihrer
eigenen Partei und der ParteikollegInnen.146
Das wachsende Bewusstsein für die Demokratie und eine republikanische
Verfassung bedingten die Diskussion um die Gleichbehandlung von Männern und
Frauen vor dem Gesetz. So wurde letztendlich der politische Gleichheitsgrundsatz
im Artikel 25 der Verfassung festgehalten: „Als Grundlage für rechtliche Privilegien
sind ausgeschlossen: die Natur, die Abstammung, das Geschlecht, die soziale Klasse,
Reichtum, politische Ideen und auch religiöser Glauben.“147 Das Frauenwahlrecht
wurde am 1. Oktober 1931 im Parlament mit 161 gegen 121 Stimmen beschlossen
und im Artikel 34 der Verfassung festgeschrieben.148
Die Ausübung des Frauenwahlrechts und die politische Gleichstellung vor
dem Gesetz erlaubte es von nun an mehr Frauen, sich im politischen Leben
längerfristig zu integrieren – trotz der weiterhin vorherrschenden kulturellen
Diskriminierung. Anfeindungen gegenüber ihrem öffentlichen Engagement gab es
dabei von allen politischen Seiten.
149 „¿Qué medio hay para poner a la mujer en condiciones de libertad? No hay otro más que el
trabajo.“ Dictamen del Congreso de Zaragoza 1872. Zit. nach: NASH, Mujer, Familia y Trabajo, S.
300.
150 José FRANCOS RODRÍGUEZ, La mujer y la política españolas, Madrid 1920, S. 256-257. Zit nach:
Ebenda, S. 309.
151 Ebenda, S. 49.
53
zwangen viele unverheiratete Frauen in die außerhäusliche Arbeit und führten damit
zu einem Anstieg weiblicher Erwerbstätigkeit.152 Trotzdem stellten Frauen den
weitaus kleineren Teil der erwerbsarbeitenden Bevölkerung:
1930 lag der Frauenanteil im Ersten Wirtschaftssektor bei 23,67%. Im
Zweiten Sektor waren 31,82% weibliche Arbeitskräfte tätig – fast doppelt so viele
wie sechzehn Jahre zuvor: 1914 waren es noch 16,02% gewesen. Diese Zahlen zeigen
den enormen Anstieg von Frauen in der Industriearbeit. Aber der größte Teil der
Frauen verdingte sich noch immer im Dienstleistungssektor, wo der Frauenanteil bei
44,16% lag. Fehlende Ausbildung und die Orientierung an einem Frauenbild, das
vorgab, Hausarbeit und die Herstellung von Kleidern seien „natürliche Begabungen“,
waren dafür maßgeblich. Der herrschende Geschlechterdiskurs der domesticidad
förderte die Haus- und Heimarbeit.153
Bei den Löhnen gab es eine klare Ungleichheit: 1930 verdienen Arbeiterinnen
um 53% weniger als ihre männlichen Kollegen. Diese extreme Benachteiligung bei
den Löhnen wurde von der ArbeiterInnenbewegung von Anfang an als eine
Bedrohung für den Zusammenhalt der Klasse aufgefasst.154 Die Politik der
Besitzenden, die weibliche Arbeitskraft als eine Art Reserve mit geringer Entlohnung
einzusetzen, wurde von der politischen Linken kritisiert – sicherlich nicht zuletzt
wegen der vermeintlich drohenden Gefahr der Streikzersetzung. Die Konkurrenz
erwerbstätiger Frauen war gefürchtet und brachte die Gewerkschaften in eine
problematische Argumentationslage. Zwar wurde versucht, den Grund für das
„Übel“ der Frauenarbeit nicht in derselben zu sehen, sondern „im Monopol, welches
die ausbeutende Klasse ausübt“155, zu suchen. Jedoch existierte in der spanischen
ArbeiterInnenschaft nicht nur eine große Angst vor der Konkurrenz weiblicher
(billigerer) Arbeitskräfte, die zu einer Senkung der Löhne im Allgemeinen und zu
Arbeitsplatzverlusten unter den Männern führen könnten. Auch innerhalb der
ArbeiterInnenbewegung herrschte weiterhin die Meinung vor, dass im Prinzip der
Arbeitsplatz einer Frau im Haushalt und bei den Kindern sein sollte und der
explotadora.“ Dictamen del Congreso de Zaragoza 1872. Zit. nach: Ebenda, S.300.
54
männliche Arbeiter ein Vorrecht auf einen bezahlten Arbeitsplatz habe.156 Federica
Montseny, Leiterin von La Revista Blanca, formulierte dies folgendermaßen:
„Es ist zweifellos so, dass die Frau sich nicht nur den Hausarbeiten widmen sollte,
aber es ist auch zweifellos so, dass in England einer der vielen und umfassendsten Gründe
für die Existenz jener „ohne Arbeit“, die weibliche Invasion in alle Arten von
Beschäftigungen, bis hin zu den schwersten, ist. Wenn die Frauen sich hingegen aus vielen
der eroberten Plätze zurückziehen würden, um den Preis der Klassensolidarität, um den
Männern nicht die Arbeit wegzunehmen, um so die Massen der Zwangsarbeitslosen zu
vermindern, würden sie sich nicht verpflichtet sehen, körperliche Arbeiten zu verrichten, die
unnütz ihren Organismus ermüden und zerstören, der nicht minderwertig, aber doch anders
ist als der des Mannes.“157
156 José María HERNÁNDEZ DÍAZ, La Educación de la Mujer en la Primera Internacional en España
(1868-1881). In: COLOQUIO NACIONAL DE LA EDUCACIÓN (Hg.), Mujer y Educación en España,
1886-1975, Santiago de Compostela 1990, S. 185-193.; N ASH, Mujer, Familia y Trabajo, S. 54.
157 „Es indudable que la mujer no debe dedicarse únicamente a las labores caseras, pero es indudable
también que en Inglaterra una de las varias y completísimas causas de los ‚sin trabajo’ es la invasión
femenina en toda clase de ocupaciones, hasta las más pesadas. En cambio, si las mujeres se retiraran
de muchos de los sitios conquistandos, algunas veces con menoscabo de la solidaridad de clase, sobre
no quitar empleos a los hombres, disminuyendo así las masas de desocupados forzosos, no se verían
obligadas a realizar faenas que fatigan y destrozan inútilmente su organismo, no inferior, pero sí
distinto al del hombre.“ Federica MONTSENY, Las mujeres y las elecciones inglesas, LRB, 18,
15.2.1924.
158 NASH , Mujer, Familia y Trabajo, S.55f.
55
Gründungskongress der Confederación Nacional del Trabajo (CNT) 1910 die Forderung
nach gleicher Bezahlung in das Programm aufgenommen.159 Auch der Anspruch auf
Mutterschutz war in allen Programmen von ArbeiterInnenvereinigungen zu finden,
was letztendlich mit der Wahrnehmung von Mutterschaft als spezifische Funktion
und Schicksal der Frauen zusammenhing. SozialistInnen, AnarchistInnen wie auch
später KommunistInnen forderten Schutzbestimmungen für Arbeiterinnen in
Schwanger- und Mutterschaft. Diese Forderungen stießen auf das Interesse
verschiedener Sektoren der spanischen Gesellschaft: Von der einfachen Prävention
der Kinds- und Kindsbettsterberate bis hin zu eugenischen Perspektiven, die sich um
eine Verbesserung der Rasse bemühten.160 Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der
Mutterschutz laufend ausgebaut, bis hin zur fixen gesetzlichen Verankerung im
Arbeitsgesetz der Zweiten Republik.161
Dominierten Ende des 19. Jahrhunderts vor allem noch soziologische und
ökonomische Argumente den anarchistischen Geschlechterdiskurs, so ist zu
bemerken, dass sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend
biologische, medizinische und physiologische Wissenselemente durchsetzten und die
„Geschlechterfrage“ sich immer stärker mit dem Problem der Reproduktion und
Geburtenkontrolle verknüpfte. Damit stimmte der Anarchismus in den
internationalen Chor der bevölkerungspolitischen Debatten zur Lösung politischer
Probleme ein, die eine „Rationalisierung des Geschlechtslebens“162 zur Grundlage
hatten und „im Namen der Eugenik“163 im Nationalsozialismus letztendlich auf die
Spitze getrieben werden sollten. Die im spanischen Anarchismus unter dem Begriff
des „Neomalthusianismus“ diskutierten Maßnahmen der Geburtenkontrolle und
Empfängnisverhütung wurden als probates Mittel zur Erlangung der angestrebten
politischen Ziele verstanden. Durch die Re-Generation der Gesellschaft und darin
159 Dictamen sobre el trabajo de la mujer. Congreso Fundacional de la CNT, Barcelona 1910. Zit.
nach: Ebenda, S. 364f.
160 Ebenda, S. 57.
161 Ebenda, S. 58.
162 WEINGART/ KROLL/ BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, S. 15.
163 Vgl. dazu: Daniel Jo KEVLES, In The Name of Eugenics. Genetics and the Uses of Human
5.3.1 Malthusianismus
Das Konzept des Neomalthusianismus geht – wie das Wort schon besagt –
auf die Erkenntnisse des britischen Nationalökonomen, Sozialphilosophen und
Demographen Thomas Robert Malthus (1766-1834) zurück, der Ende des 18.
Jahrhunderts in England die quantitativen Zusammenhänge zwischen natürlichen
Ressourcen und Bevölkerung formulierte. Vor dem Szenario eines starken
Bevölkerungswachstums, sinkender Reallöhne und zunehmender Arbeitslosigkeit
und Verelendung in Großbritannien entwarf Malthus 1798 in seinem Buch „An Essay
on the Principle of Population“164 ein „Bevölkerungsgesetz“, indem er behauptete, „dass
die Vermehrung der Bevölkerung unbegrenzt größer ist, als die Kraft der Erde,
Unterhaltsmittel für den Menschen hervorzubringen.“165 Er bezog sich dabei aber
nicht auf Ausnahmesituationen wie etwas Missernten oder Hungersnöte, sondern
zielte auf Marktkrisen ab, die durch ein „Überangebot an Arbeitern“ zustande
kämen. Die Gesellschaft erfährt laut Malthus’schem Gesetz regelmäßig in dem
Moment Krisen, in dem fallende Löhne und steigende Arbeitslosigkeit die
„wachsenden Sozialschichten“ (ArbeiterInnen) unter das Existenzminimum drücken.
Es kommt zu einer Zunahme von „Elend“ und „Laster“ und die Bevölkerung
schrumpft wieder auf das durch den Nahrungsspielraum gegebene Maß. „Elend“ und
„Laster“ sind Malthus zufolge jene Hemmnisse (checks) des exponentiellen
Bevölkerungswachstums, die diese Krise wieder beenden. Unter dem Begriff des
Elends fasste er die „positive checks“ zusammen, die zu erhöhter Sterblichkeit führten:
„[...] alle ungesunden Beschäftigungen, harte Arbeit und die Unbilden von Natur
und Wetter, äußerste Armut, schlechte Kinderpflege, große Städte, Ausschreitungen aller
164 Es erschienen zwei Ausgaben des Buches. 1798 erschien der sogenante „First Essay“, der sich im
Untertitel unter anderem dezidiert gegen William Godwin positioniert. In diesem ersten Text
attackierte Malthus die sozialutopischen Thesen Godwins. 1803 erschien die zweite Auflage, der
„Second Essay“, der diese politischen Angriffe aussparte. Es handelte sich dabei nicht einfach um eine
Neuauflage, denn der Umfang des Textes war von 396 auf 610 Seiten angestiegen. Das weist darauf
hin, dass der politische „Kampf“ gegen Godwin durch den Erfolg des „First Essay“ gewonnen war
und Malthus nun seine Bevölkerungstheorie empirisch zu untermauern versuchte. Vgl. dazu: Gunter
STEINMANN, Thomas Robert Malthus, S. 157. In: Joachim STARBATTY (Hg.), Klassiker des
ökonomischen Denkens. Von Platon bis John Stuart Mill, Bd. 1, München 1989, S. 156-171.
165 Thomas Robert MALTHUS, Das Bevölkerungsgesetz, München 1977, S. 18. Zit. nach:
http://www.wsgn.euv-frankfurt-o.de/vc/ws2002/HatteMalthusdochRecht.ppt (20.12.2005).
57
Art, die ganze Schar gewöhnlicher Krankheiten und Epidemien, Kriege, Pest und
Hungersnot.“166
166 Thomas Robert MALTHUS, Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, 1924. Zit. nach:
Gunter STEINMANN, Malthus, S. 161.
167 MALTHUS, Das Bevölkerungsgesetz. Zit. nach: http://www.wsgn.euv-frankfurt-
o.de/vc/ws2002/HatteMalthusdochRecht.ppt (20.12.2005).
168 Karl Marx und Friedrich Engels waren erbitterte Gegner von Malthus’ Theorien. Sie kritisierten,
dass er das Elend der ArbeiterInnen ihrem Fortpflanzungsverhalten zuschrieb, anstatt die Ursache des
Übels in der kapitalistischen Produktionsweise zu suchen. Vgl. dazu: Gunter STEINMANN, Malthus, S.
170.
169 Seinen Ideen und Vorstellungen wurden in der Reform der Armengesetzgebung von 1834
beeinflusste unter anderen Charles Darwin nachhaltig, der bekannte, dass der Essay
ihn auf die Idee des natürlichen Selektionsprozesses gebracht hätte.171
Kritik von vielen Seiten blieb jedoch nicht aus: An den unterstellten
Gesetzmäßigkeiten wurden die fehlenden Bestimmungsfaktoren des
Bevölkerungswachstums beanstandet, die weit vielschichtiger waren, als es Malthus
darstellte. Auch läge eine geometrische Zunahme der Bevölkerung in modernen
Industriestaaten gar nicht vor. Die arithmetische Zunahme von Nahrungsressourcen
sei schlechthin gar nicht nachweisbar.172
Für Malthus waren zwar im Grunde alle Formen der Empfängnisverhütung
„Laster“. Diese Ablehnung verhinderte jedoch nicht, dass unter den Begriffen des
Malthusianismus und Neomalthusianismus sein Name als Synonym für die
Familienplanung und Geburtenkontrolle verwendet wurde. Trotz der politischen
Kritik an den Malthus´schen Folgerungen aus dem Bevölkerungsgesetz wurde der
Malthusianismus in Abwandlung zum Neomalthusianismus zu einer wichtigen
Theorie der sozialistischen Linken, der Frauenbewegung und des Anarchismus,
deren zentraler Bestandteil die freiwillige Geburtenkontrolle war.
5.3.2 Neomalthusianismus
Der Neomalthusianismus traf ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in
Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Skandinavien und einigen anderen
europäischen Ländern zunehmend auf Resonanz. Er wurde insbesondere von
SozialreformerInnen, liberalen PolitikerInnen, FeministInnen, ÄrztInnen,
173
EugenikerInnen, SexologInnen und AnarchistInnen vorangetrieben. Durch diese
Heterogenität der betreibenden Kräfte entwickelte sich der Neomalthusianismus in
verschiedene Richtungen. Dennoch gab es klare gemeinsame Elemente und
Forderungen. Dazu gehörten die Förderung der Sexualerziehung, die kritische
Überprüfung der kulturellen Werte rund um Sexualität und Fortpflanzung, die
Verbreitung neuer Verhütungsmethoden, die Entwicklung der Eugenik als probates
171 Darwin schrieb in seiner Autobiographie zur „Übervölkerungstheorie“ von Malthus: „Hier hatte
ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte.“ Vgl. dazu: Anna BERGMANN, Die
verhütete Sexualität. Die medizinische Bemächtigung des Lebens, Berlin 1998, S. 95.
172 Gunter STEINMANN, Malthus, S. 160f.
173 Als herausragende VertreterInnen seien hier folgende Personen genannt: Annie Besant, George
Drydale, Havelock Ellis, Marie Stopes (Großbritannien); Paul Robin, Nelly Roussel, Gabriel Hardy,
Eugène Humbert (Frankreich); Magnus Hirschfeld, August Forel (Deutschland); Luis Bulffi (Spanien).
NASH/TAVERA, Experiencias desiguales, S.136.
59
jungen „Wissenschaft“ der Eugenik bestanden – und das lange Zeit, bevor sich in
Frankreich eine organisierte Bewegung selbst als „eugenisch“ bezeichnete.176
Robin publizierte auch zusammen mit dem Anarchisten Eugène Humbert
einige Zeitschriften und Zeitungen, wie etwa Régéneration, Le Malthusien oder
Génération Consciente (der späteren Namensgeberin der spanischen Generación
Consciente), in denen er die Prinzipien der Sexualreform und des Neomalthusianismus
verbreitete.177 Die Liga hatte Kontakte mit den radikalen ArbeiterInnenverbänden
und Mitgliedern der Confédération Général du Travail. Robin selbst hatte entscheidenden
Einfluss auf die Annäherung einiger anarchistischer Kreise an den
Neomalthusianismus.178
Die französische Gesetzgebung erschwerte jedoch die Diskussion von und
Propaganda für Antikonzeptiva, indem sie die Führer der Bewegung permanenter
Verfolgung aussetzte. Wie eingangs erwähnt, hatten in der französischen Variante
des Neomalthusianismus Gruppen der ArbeiterInnenbewegung und feministische
SozialreformerInnen eine herausragende Rolle inne. 1910 gründete sich die Federación
de Grupos Obreros Neomalthusianos mit der Unterstützung von den früheren, militanten
Mitgliedern der Ligue de la régénération humaine, die sich nicht nur der Verbreitung der
Geburtenkontrolle verschrieb, sondern auch die Sexualhygiene propagierte.179
Auch Feministinnen wie Madeleine Pelletier (1874-1939) oder Nelly Roussel
(1878-1922) waren wichtige Protagonistinnen der französischen Bewegung. Roussel
vertrat die Ansicht, dass die freiwillige Beschränkung der Geburten es Frauen
erlaube, sich davon zu emanzipieren, „Mütter gegen ihren Willen“ zu sein. Die
Feministin Jeanne Dubois begriff den Neomalthusianismus nicht nur als befreiendes
Moment für die Frauen, sondern sah darin auch die Lösung gesamtgesellschaftlicher
Probleme wie Armut und Krieg. Eine Minderheit von Feministinnen propagierte die
Idee des „Gebärstreiks“, um die Emanzipation von Frauen zu fördern. 1920 wurde
mit einer neuen Gesetzgebung die neomalthusianische Propaganda verboten.180
181 Vgl.: Mary NASH, El neomalthusianismo anarquista y los conocimientos populares sobre el control
de natalidad en España, S. 316. In: Mary NASH (Hg.), Presencia y protagonismo. Aspectos de la
historia de la mujer, Barcelona 1984, S. 307-340; sowie Mary N ASH, El estudio del control de natalidad
en España: ejemplos de metodologías diferentes. In: La mujer en la historia de España (siglos XVI-
XX). Actas de las II Jornadas de Investigación Interdisciplinaria, Madrid 1984.
182 Mary NASH, El neomalthusianismo, S. 316.
183 Vgl.: José ÁLVAREZ JUNCO, La ideología política del anarquismo español (1868-1910), Madrid
1976.
62
hatte, die neuen Ideen zu verbreiten. Bulffi nahm dabei eine ähnliche
Sprecherposition wie Robin in Frankreich ein.184 Es wurde davon ausgegangen, dass
das libertäre Ideal von größtmöglicher Freiheit, Kraft und Fähigkeit zur
Verantwortung durch die Anwendung und Verankerung der neomalthusianistischen
Vorgaben von bewusster Kontrolle des Proletariats über die eigenen reproduktiven
Fähigkeiten erreicht werden würde. Dies wies – mit den Worten von Bulffi – die
Geburtenkontrolle als „wahrhaftig revolutionäre Waffe“ aus, was schon im Titel
seines Buches „La huelga de vientres“ – „Der Streik der Bäuche/Leiber“ – angedeutet
ist. In diesem Bestseller185 argumentierte Bulffi diese besondere Form des Streiks
folgendermaßen:
„Lassen wir es nicht länger zu, den aktuellen Staat dadurch zu begünstigen, indem
wir ihm unsere Kinder geben: derjenige, der kein Recht hat, ist auch zu nichts verpflichtet.
Fördern wir nicht länger die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, der Kinder
zeugt, deren Schicksal es ist, Fleisch der Fabriken, Ziel der kapitalistischen Ausbeutung und
zerlumpt von der Misere zu sein [...] Zahlreiche Familien zu zeugen, ohne sie ernähren zu
können, und dann in die Emigration zu flüchten, ist feige. Zahlreiche Familien zu zeugen,
ohne Mittel zu haben, ihnen Brot zu geben, indem man sie zur Misere verurteilt, ist kriminell.
Derjenige, der das Leben und die Freiheit liebt, pflanzt sich nicht in der Sklaverei fort [...]
alles was man machen könnte, wäre unnütz; deswegen schlage ich, als Agitationsergänzung
zu Militär-, Religions- und Lohnstreiks, auch den Streik der Bäuche/Leiber vor, als
schnellstes Mittel, um mit einem Male das aktuelle Sozialregime zu beenden, indem dem
Bürgertum alle Reserven entzogen werden.“186
tiene derechos, no está obligado a tener deberes. No fomentemos más la explotación del hombre por
el hombre procreando hijos que han de ser destinados para carne de fábrica, de explotación capitalista,
pingajo de miseria y de hospital [...] Procrear familias numerosas sin poder alimentarlas y huir
emigrado es una cobardía. Procrear familias numerosas sin medios de darla pan, condenándola a la
miseria, es criminal. El que ama la vida y la libertad no procrea en la esclavitud [...] todo cuanto se haga
será completamente inútil; es por lo que, como complemento a las propagandas de huelga militar,
religiosa y del salario, propongo yo también la huelga de vientres, como el medio más rápido para
acabar de una vez, restando todas las reservas a la burguesía, con el régimen social actual.“ Luis
BULFFI, La huelga de vientres. Zit. nach: NAVARRO NAVARRO, Anarquismo y Neomalthusianismo,
FN 9, S. 28.
63
ihrer Kritik auf die Theorie des natürlichen Überflusses, wie sie etwa Kropotkin
vertreten hatte.190
Die Sección Española hatte in Katalonien ähnlich doktrinale Züge wie die
englische Bewegung. Sie vertrat die Meinung, dass die Geburtenkontrolle alle
sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen im Stande sei, und damit keine
Notwendigkeit einer Revolution im anarchistischen Sinne bestehe. Die Einbeziehung
der Theorie des Neomalthusianismus in den organisierten Anarchismus fand später,
in den 1920er Jahren, durch die Kompromissschließung einiger führender
anarchistischer Kreise statt. Anarchistische Publikationen wurden zu den wichtigsten
Medien sexualreformerischer, neomalthusianistischer und eugenischer Ideen. 191
Die Plattform für das eloquente Brechen des „Schweigens über die
Sexualität“, wie es Isaac Puente 1931 als „ein Landarzt“ forderte194, waren die
zahlreichen anarchistischen Publikationen dieser Zeit. Sie nahmen eine zentrale
Stellung bei der Verbreitung anarchistischer Ideen und ihrer „libertären Kultur“ in
Spanien ein.195 Die Presse war die „Waffe“ eines offensiven Kampfes für den Aufbau
einer „neuen Gesellschaft“ und damit Medium für direkte und alternative
Information. Wenn dieses Schriftmedium auch eine Möglichkeit bot, neue
SympathisantInnen anzuwerben und als Kommunikationsforum diente, so fungierte
es doch vor allem auch als ein Wissensspeicher, in dem sich auch die
Begrifflichkeiten akademischer Disziplinen ablagerten. Der Glaube an eine
progressive Wissenschaft und an eine zukunftweisende Aufklärung war dabei ein
Dreh- und Angelpunkt der „authentischen“ Revolution. In ihrem Namen sollte der
„Irrationalismus“ politischer und sozialer Autoritäten angeprangert werden, um z.B.
Institutionen wie etwa Parteien, Kirchen und das Militär abzuschaffen.
Dominierende Themen waren dabei die Kultur, das Geschlechterverhältnis, die
Sexualerziehung und die so genannte „neue Moral“. Die Zeitschriften beleuchteten
und repräsentierten dabei die unterschiedlichsten ideologischen, politischen und
kulturellen Aspekte dieses durchaus heterogenen Anarchismus.
Es ist daher kaum verwunderlich, dass für das Jahr 1936 das Erscheinen von
über 100 verschiedenen anarchistischen Zeitschriften in Spanien nachgewiesen
werden kann.196 Aber nicht nur regelmäßig erscheinende Journale, sondern auch
193 „Ideas, ideas es lo que hace falta para ser político en el sentido de influir en la vida de los pueblos, y
los intelectuales, en su mayoría, no tienen más ideas que las de vivir de sus plumas, y claro, para vivir
de sus plumas, no pueden tener sexo, porque han de ir por el mundo con las ideas castradas.“
Comentarios, Escritores sin sexo, LRB, 46, 15.4.1925.
194 Vgl. Kapitel 5.1.3 Sexualität und gesprochene Wahrheit.
195 Viele Forschungsarbeiten unterstreichen die außergewöhnliche Bedeutung der Presse im
europäischen Anarchismus. Es wird aber auch betont, dass Spanien aufgrund der hohen Anzahl an
Publikationen dabei besonders heraus stach.
196 Vgl. dazu: Francisco MADRID SANTOS, La prensa anarquista y anarcosindicalista en España desde
67
la I Internacional hasta el final de la Guerra Civil, Diss. Universidad de Barcelona 1989. Zwischen
1870 und 1936 hat Madrid mehr als 900 Titel nachgewiesen.
197 Vgl. Francisco Javier NAVARRO N AVARRO, „El paraíso de la razón“. La revista Estudios (1928-
1937) y el mundo cultural anarquista, Valencia 1997; Lily LITVAK, La prensa anarquista 1880-1913, in:
Bert HOFMANN/Pere JOAN I TOUS/Manfred TIETZ (Hg.), El anarquismo español y sus tradiciones
culturales, Frankfurt am Main 1995, S. 215-236.; Marisa S IGUÁN BOEHMER, Literatura popular
libertaria. Trece años de „La novela ideal“ (1925-1938), Barcelona 1981; Josep Eduard ADSUAR, Guía
de la prensa libertaria en España (1850-1939), in: Anthropos. Suplementos (Pensamiento y estética
anarquista ), 5, 1988, 87-101.
198 NASH , El neomalthusianismo, S. 315.
199 Richard CLEMINSON, Anarquismo y homosexualidad. Antología de articulos de la Revista Blanca,
200 Aufgrund der Kontinuität und Identität der beiden Zeitschriften, die hier noch erörtert wird, wird
in Folge bei der inhaltlichen Beschreibung und Analyse Generación Consciente und Estudios als ein Begriff
gefasst und benannt. Ausnahmen stellen selbstverständlich Zitate und spezifische Informationen dar.
201 José Juan Pastor gab neben Generación Consciente und Estudios auch die Zeitschrift Redención heraus
und arbeitete als Redakteur 1922 bei Solidaridad Obrera. Er war ebenfalls Gründungsmitglied der World
League for Sexual Reform 1928. Vgl. dazu: Miguel IÑIGUEZ, Esbozo de una enciclopedia histórica del
anarquismo español, Madrid 2001, S. 463.
202 MADRID S ANTOS, La prensa anarquista y anarcosindicalista en España, S. 382.
69
Genannt seien hier zum Beispiel Luis Jiménez de Asúa, Gregorio Marañón oder César Juarros.
203
libertären Bewegung, zur Folge. Betroffen waren vor allem jene, die explizit
politische oder syndikalistisch-revolutionäre Inhalte hatten.204
Generación Consciente hatte zwar nicht zuletzt wegen ihrer
Solidaritätskampagnen für politische Gefangene, wie etwa Geldsammlungen oder die
Initiierung von Freilassungskampagnen, immer wieder mit den offiziellen Instanzen
der Diktatur zu kämpfen. Ohne Zweifel verursachte aber die Verteidigung des
Neomalthusianismus, der eugenischen Prinzipien und der Geburtenkontrolle im
Allgemeinen den gravierendsten Eklat mit der Diktatur.
Unter Primo de Rivera wurde eine Reihe von Anordnungen in Kraft gesetzt,
die auf den Mutterschaftsschutz und die Bestrafung von Verhütungskampagnen
abzielten. Diese Politik stand im Kontext der pro-natalistischen Politik vieler
europäischer Länder nach dem Ersten Weltkrieg. Zwangsmaßnahmen waren etwa
das Verbot der Abtreibung sowie von Verhütungsmitteln aller Art. Die Vertreter der
Geburtenkontrolle und Eugenik veranstalteten 1928 den Primer Curso Eugénico in
Madrid, an dem MedizinerInnen und WissenschafterInnen – unter ihnen auch einige
Mitarbeiter von Generación Consciente – teilnahmen. Der Kongress fand großen
Widerhall in der Presse, wurde jedoch auf persönliche Veranlassung des Diktators
verboten, indem den VeranstalterInnen das Delikt der Pornografie unterstellt
wurde.205 Die Repression gegen die VerfechterInnen von Geburtenkontrolle und
Eugenik gipfelte 1928 im Artikel 617 des neuen Strafgesetzes, der Sanktionen über
jene androhte, „die außerhalb von rein wissenschaftlichen Publikationen oder
technischen Körperschaften/Vereinen antikonzeptionelle Theorien oder Praktiken
verbreiten“ würden.206
Generación Consciente geriet damit noch stärker unter Druck, was unter
anderem an dem im Oktober 1928 zum ersten Mal gedruckten Hinweis „Visado por la
Censura“ zu erkennen ist.
204 Betroffen waren zum Beispiel Redención, Solidaridad Obrera (in Barcelona, Sevilla, La Coruña und
Gijón), Germinal, Via Libre, Cultura y Acción, Crisol, Páginas Libres, Alba Roja u.v.a.. MADRID SANTOS, La
prensa anarquista y anarcosindicalista en España, S. 515f.
205 NAVARRO N AVARRO, El paraíso, S. 40f.
206 „[...] los que fuera de publicaciones meramente científicas o actos de Corporaciones técnicas,
6.1.2 Estudios
Zwei Monate später, am 1. Dezember 1928, erschien die erste Ausgabe von
Estudios. La Revista Ecléctica und löste damit nahtlos Generación Consciente ab. Der neu
gewählte Titel mit wissenschaftlicherem Anstrich versprach weniger Behelligung
durch die Zensur des Regimes, wie aus folgendem Text der Redaktion hervorgeht:
207 „Estimado lector y amigo: Decíamos en nuestra carta anterior los obstáculos que esta Revista ha
tenido que solventar para poder seguir en su labor cultural y científica. Hoy un serio inconveniente,
motivado por el período excepcional que atraviesa España nos obliga a cambiar su titulo de
GENERACIÓN CONSCIENTE por el de ESTUDIOS. Inútil creemos añadir que la significación
moral de la Revista, su ideología y su criterio eugénico, su obra de superación mental y física seguirá
siendo la misma, desarrollada más ampliamente y con mayor tesón cada día. [...] Con uno u otro título,
y por encima de todos los obstáculos que en vano tratan de oponerse a su marcha, esta Revista estará
siempre consagrada a difundir entre el pueblo todas las inquietudes del pensamiento renovador y
fecundo, a la creación de una generación sana y culta, pletórica de vitalidad y de entereza ideal. LA
REDACCIÓN.“ Zit. nach: Ebenda, S. 42f. Dieser Text wurde der Nummer 64 der Zeitschrift als
Rundbrief beigelegt und stellt die einzige Äußerung der Redaktion zur Namensänderung dar.
208 NAVARRO N AVARRO, El paraíso, S. 38.
72
– genau dies entsprach jedoch der libertären Ideologie, die an die freie
Meinungsbildung durch den Einsatz des eigenen Verstandes, also an das Konzept
der „rationalistischen Lehre“, glaubte.209
Im Klima der Auflösung und Repression der anarchistischen Gewerkschaften
und der explizit politischen Vereinigungen entwickelten sich gerade in der Provinz
Alicante kulturell engagierte Gruppen, deren Anliegen es war, den Naturismus als
ganzheitliche Lebensform bekannt zu machen, die libertäre Pädagogik, den
Neomalthusianismus und eugenische Methoden als Garanten für die „Bewusste
Mutterschaft“ und als Basis für „Freie Liebe“ zu propagieren und die
Sexualerziehung in der Bevölkerung zu verfestigen. Aus dem Milieu dieser
Gruppierungen210 heraus muss auch die Entstehung bzw. die erzieherisch-kulturelle
Ausrichtung von Generación Consciente/Estudios gesehen werden, vertraten doch die
NaturistInnen Ansichten, die im libertären Denken von Anfang an eine wichtige
Rolle gespielt hatten.211 Generación Consciente/Estudios wurde zur medialen
Vorkämpferin der Prinzipien der Geburtenkontrolle im Allgemeinen sowie von
Neomalthusianismus, Eugenik und der „Bewussten Mutterschaft“ im Besonderen.
Estudios erschien monatlich und glich Generación Consciente nicht nur inhaltlich
und redaktionell: Auch Format, Seitenumfang und die Gestaltung der Titelblätter
blieben bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts unverändert. Die Zeitschrift
erreichte bei manchen ihrer insgesamt 102 Nummern eine Höchstauflage von circa
65.000 bis 75.000 Exemplaren212, eine überraschend hohe Zahl verglichen mit der
209 Die Enseñanza Racionalista geht auf das Erziehungskonzept von Francisco Ferrer, den Begründer
der Escuela Moderna, zurück. Der liberale Freimaurer Ferrer war eine prominente Figur in den
Auseinandersetzungen um den Zugang zu laizistischer Bildung und Schule, die seit den achtziger
Jahren des 19. Jahrhunderts in Spanien tobten. Er wurde 1909 auf dem Montjiuch wegen seiner
angeblichen Führungsrolle bei dem antimilitaristischen und antiklerikalen Aufstand der Semana Trágica
hingerichtet. Nicht zuletzt deshalb wurde er zu einem Mythos innerhalb der ArbeiterInnenschaft und
beeinflusste nachhaltig die Erziehungs- und Bildungsdiskussionen innerhalb der anarchistischen
Bewegung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Vgl. dazu: ASOCIACIÓN CULTURAL ALZINA,
La Enseñanza Racionalista en Alicante, S. 76f. In: INSTITUTO DE ESTUDIOS J UAN-GIL-ALBERT (Hg.),
El anarquismo en Alicante 1886-1945, Alicante 1986, S. 73-89.
210 Beispielhaft seien hier zu nennen: La Sociedad Naturista de Alcoy, La Sociedad Vegetariano-Naturista de
Alicante, Los Hijos del Sol, La Sociedad Naturista de Elda y Petrel. Vgl. dazu: ASOCIACIÓN CULTURAL
ALZINA, La Enseñanza Racionalista en Alicante, S. 81f.
211 Trotz der Gemeinsamkeiten von Naturismus und Anarchismus gab es auch Auseinandersetzungen
zwischen dem naturistischen Flügel, der offen die anarchistischen Anliegen unterstützte, und dem
großen entpolitisierten Flügel der therapeutisch-vegetarischen Strömung. Dieser Konflikt brach auf
dem Kongress von Malaga 1927 unter dem Vorsitz von Antonia Maymón erstmals offen aus.
ASOCIACIÓN CULTURAL ALZINA, La Enseñanza Racionalista en Alicante, S. 82.
212 Diese Auflagenzahlen werden in fast allen Studien, die auf Estudios referieren, genannt. NAVARRO
NAVARRO, El paraíso, S. 67. Vgl. Auch: Ders., Estudios, discurso anarquista y prostitución. In:
73
Historar. Revista Trimestral de Historia 2, 1999, S. 84-91; MADRID SANTOS, La prensa anarquista y
anarcosindicalista en España; CLEMINSON, Anarchism, Science and Sex, S. 169f.
213 NAVARRO N AVARRO, Anarquismo y Neomalthusianismo, S. 10.
214 Das Netzwerk an Korrespondenten reichte weit über die Grenzen Spaniens hinaus. Vor allem in
Lateinamerika erfuhr die Zeitschrift große Anerkennung. So gab es in Argentinien, Uruguay, Cuba,
Venezuela und Costa Rica so wie in vielen Städten Spaniens „administrative Korrespondenten“. In
Europa wurde außerhalb der spanischen Landesgrenzen vor allem in Frankreich und Belgien die
Zeitschrift gelesen. N AVARRO NAVARRO, El paraíso, S. 70.
215 Vgl.: Ebenda, S. 35.
74
Mit dem „Consultorio“ erfüllte sich ein prinzipielles Ziel von Generación
Consciente/Estudios: Er bot die Möglichkeit einer generellen medizinischen Beratung
und durch den Ratgeber konnten gleichzeitig die von der Publikation verteidigten
Prinzipien verbreitete werden, da die Mehrheit der beratenden Ärzte gleichzeitig
Autoren der Kolumne waren. Neben der allgemeinen medizinischen Beratung
wurden durch den „Consultorio“ schwangerschafts- und
geschlechtskrankheitsverhütende Verschreibungen getätigt.
Eine andere wichtige Einrichtung von Generación Consciente/Estudios war ihre
„Biblioteca“ – eine Rubrik, in der selbst- sowie fremdverlegte Bücher vorgestellt
wurden. Durch sie wurde ein umfassender Fundus von Büchern mit ganz
verschiedenen Themen distribuiert und verkauft, der von anderen Verlagen publiziert
wurde. Selbst funktionierte die Bibliothek auch wie ein Eigenverlag, indem sie ihre
eigenen Reihen veröffentlichte. Eben diese Einrichtung war es, welche die Zeitschrift
mehrfach vor dem finanziellen Ruin bewahrte bzw. die einzige halbwegs verlässliche
Einnahmequelle war. Außerdem sollte damit das Grundprinzip der erzieherischen
Arbeit an der ökonomisch und sozial schlechter gestellten Bevölkerung gefördert
werden.
Die Bedeutung der „Biblioteca de la Generación Consciente/Estudios“ kann vor
allem am Umfang der für sie reservierten Seitenanzahl in der Zeitschrift abgelesen
werden: Im Normalfall okkupierte die Bewerbung des Bücherkataloges alle
Umschlagseiten, und manchmal nahm dieser sogar mehrere Seiten am Anfang und
Ende jeder Nummer ein. Gleichzeitig wurden in der Sektion „Bibliografía“ ausführlich
die Neuerscheinungen kommentiert.
Aus der umfangreichen Palette an Themen der Biblioteca216, wie etwa denen
der Literatur, Kultur, Politik, Ökonomie, anarchistische Ideologie, Medizin,
Populärwissenschaft und Pädagogik, stechen vor allem jene Schriften hervor, die sich
mit Sexualität, Neomalthusianismus und dem „Frauenproblem“ auseinander setzen.
Der Stellenwert dieser Themen innerhalb des gesamten angebotenen Spektrums
kann daran festgemacht werden, dass beispielsweise im Juli 1926 der Anteil der sich
mit Sexualität beschäftigenden Bücher fast 28 Prozent betrug. Allein die von
216Navarro Monerris hat in seiner Arbeit die Biblioteca statistisch ausgewertet und kommt damit für
das Jahr 1928 auf eine Zahl von 1027 vertriebenen Titeln. José N AVARRO MONERRIS, Generación
Consciente. Sexualidad y control de natalidad en la cultura revolucionaria española, Unveröffentl.
Arbeit, Alicante 1988, S. 36.
75
Generación Consciente/Estudios selbst verlegten Texte weisen einen noch weit höheren
Prozentsatz der Thematik auf, woran sich wiederum deutlich die
Schwerpunktsetzung der Zeitschrift zeigt.217
Zugleich wurden häufig Publikationen beworben, die sich mit Sexualität und
Geburtenkontrolle beschäftigten. Titel wie etwa „La Educación Sexual de los Jóvenes“
von Dr. Mayoux, „Generación Consciente“ von Franck Sutor, „La Libertad Sexual de las
Mujeres“ von Julio R. Barcos, El exceso de población y el problema sexual“ von G. Hardy
oder „Huelga de Vientres“ von Luis Bulffi wurden mit Lobreden überschüttet:
220 GC, 11, Juni 1924. Zit. nach: N AVARRO N AVARRO, Anarquismo y neomalthusianismo, S. 16.
77
„[...] nicht nur du selbst hast die Aufgabe die Spezies zu verbessern, deine Aufgabe
ist es, sie moralisch und physisch anzuheben [...] Damit du studierst und überlegst, und damit
du andere, die wie du leiden, dazu einlädst zu studieren und nachzudenken, legen wir dir die
Seiten von Generación Consciente in die Hände.“221
221 “[...] no sólo tú es tu deber aumentar la especie, tu deber es elevar moral y fisicamente [...] Para que
estudies y medites y para que invites a estudiar y meditar a las que como tú sufren, ponemos en tus
manos las páginas de Generación Consciente.“ GC, 7, Februar 1924. Zit. nach: N AVARRO NAVARRO,
Anarquismo y neomalthusianismo, S. 16.
222 Die Verwendung des Begriffs „Obsession“ in diesem Zusammenhang stammt von Navarro und
Ballano, Delaville, Antonia Maymón, Higinio Noja Ruiz, Fortunato Barthe, Roberto Remartínez,
Alfonso Camín, León Sutil, Emilio Mistral. Es gab mehrmalige Kollaborationen mit Luis Jiménez de
Asúa, Regina Opisso, Ángel Samblancat, Sebastián Gomila, Antonia Guardiola neben einer Anzahl an
anerkannten Medizinern und Wissenschaftern. NAVARRO NAVARRO, Anarquismo y
neomalthusianismo.
78
226 Als kleiner Ausschnitt an Beispielen seien hier erwähnt: Emanuela SCARDOVI, Editoria militante e
cultura libertaria. La Revista Blanca. In: Spagna Contemporanea, 5, 1994, S. 45-60; Carmen SENABRE
LLABATA, La estética anarquista a través de La Revista Blanca. In: Anthropos, Supl., 5, März 1988, S.
16-72; Susanna TAVERA GARCÍA, La Revista Blanca. Análisis de una publicación anarquista (1931-
1936), Dipl.-Arb. Universidad de Barcelona 1973; Annalisa CORTI, La Revista Blanca. Revista de
„Sociología, Ciencia y Arte“. In: Estudios de Historia Social, 40-41, 1987, S. 103-264; Maria Angeles
GARCÍA-MAROTO, La mujer en la prensa anarquista. España 1900-1936, Madrid 1996; sowie viele der
publizierten Texte von Mary NASH und Richard CLEMINSON.
227 George WOODCOCK, Anarchism, London 1970, 348. Auch: NAVARRO N AVARRO, „El paraíso de
la razón“, 68.
228 NAVARRO N AVARRO, El Paraíso S. 68.
229 SENABRE LLABATA, La estética anarquista, S. 44.
230 NAVARRO N AVARRO, El Paraíso S. 68.
231 Juan Carret Montseny (1864-1942), geb. in Reus, gest. in Salon/Frankreich. Als Fassbinder und
Student schloss er sich 1887 dem Anarchismus an. 1888 Sekretär der Föderation der Fassbinder
Spaniens. 1891 heiratet er Teresa Mañé. 1892 und 1896 verhaftet, ein Jahr Gefängnisstrafe in
Montjuich, 1897 Verbannung nach England. Im gleichen Jahr heimliche Rückkehr nach Madrid. 1898
79
Gustavo233 heraus. Eigentlich war der Titel Evolución Intelectual vorgesehen, jedoch
entschieden die HerausgeberInnen sich dann doch anders. La Revista Blanca wurde
1898 als Antwort auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Spanien sowie in der
nationalen und internationalen anarchistischen Bewegung gegründet. Sie bezog sich
bewusst auf die Pariser Zeitschrift Revue Blanche: Die von Alexandre Natason geleitete
Publikation „hatte mit einzigartiger Aufmerksamkeit einige Aspekte der spanischen
Intellektuellen verfolgt und gezollt und verfolgten Politikern, die sich aus Spanien
flüchtend an das Nachbarland wandten, einen herzlichen Empfang bereitet.“ 234
Auch der Zeitpunkt der Gründung war kein Zufall, sondern stand ganz im
Zeichen der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse von 1898, als Spanien die
letzten Überseekolonien Cuba, Puerto Rico und die Philippinen verlor. Was als
„historische Tragödie“ und nachhaltige Krise das Land bewegte235, machten die
gründete er zusammen mit Mañé La Revista Blanca. 1912 Verbannung aus Madrid. Danach lebte er in
Barcelona als Journalist und Bühnenautor. 1923 gab er erneut und diesmal zusammen mit seiner
Tochter Federica Montseny wieder La Revista Blanca heraus. In den folgenden Jahren editierte er viele
Text-Kollektionen, darunter La Novela Ideal (1925), La Novela Libre (1929), El Luchador (1931) und
viele andere Broschüren. Nach dem Bürgerkrieg Flucht ins französische Exil, Aufenthalte in den
Konzentrationslagern St. Laurent, Montpellier und Salón, wo er schließlich starb. IÑIGUEZ, Esbozo
de una Enciclopedia histórica del anarquismo español, S. 416.
232 Montseny benutze auch einige andere Synonyme wie etwa: Hipatía, Mario del Pilar, Siemens,
Doctor Boudín, Remigio Olivares, Un profesor de la normal, Rudolf Sharfenstein, Ángel Cunillera,
Antonio Galcerán, Ricardi Andrés, Un Trimardier, Charles Money und Ricos de Andes. Im weiteren
werde ich sein wichtigstes Synonym (Urales) verwenden damit es zu keinen Verwechslungen mit
seiner Tochter Federica Montseny kommt und weil die Forschungsliteratur ihn zumeist auch so nennt.
Innerhalb der anarchistischen Bewegung war und ist es oftmals üblich, sich ein oder mehrere
Synonyme zuzulegen, was es nicht unbedingt erleichtert, die Texte den jeweiligen AutorInnen
zuzuordnen. Der Grund für die Verwendung von Decknamen mag in den staatlichen Verfolgungen
liegen, denen AnarchistInnen immer wieder ausgesetzt waren und ihnen heute noch die besondere
Aufmerksamkeit der Polizei und anderer Überwachungsorgane beschert. Bei meinen
Forschungsbesuchen in der Zentrale der CNT Madrid konnte ich mich davon überzeugen, dass diese
Namensgebung heute noch immer Usus ist und den betreffenden Personen wohl auch einen
abenteuerlichen Hauch an Klandestinität verleihen soll. Die Geschichte dieser Tradition (nicht nur in
der anarchistischen Bewegung!) wäre meiner Meinung nach durchaus eine eigene Forschungsarbeit
wert!
233 Teresa Mañé alias Soledad Gustavo (1865-1939), Lehrerin, leitete ab 1891 eine eigene Schule,
verheiratet mit Juan Montseny alias Federico Urales, Mutter von Federica Montseny, rief 1892 eine
Initiative für die Gefangenen vom Aufstand in Jeréz de la Frontera sowie die angeblichen Mitglieder
der Mano Negra ins Leben, Herausgeberin vieler Zeitschriften. IÑIGUEZ, Esbozo de una Enciclopedia
histórica, S. 369f.
234 „había prestado singular atención a algunos aspectos de la intelectualidad española y había
tributado un cordial recibimiento a los perseguidos políticos que huyendo de España se dirigían als
país vecino.“ TAVERA G ARCÍA, Revista Blanca, S. 3.
235 Der Verlust der Kolonien und der Zusammenbruch des Restaurationssystems wurde damals unter
der Bezeichnung „Desaster von 1898“ zusammengefasst. Im Zusammenhang mit dem „Desaster von
1898“ – nach dem ganze Künstler- und Philosophieschulen anfingen sich mit der Situation Spaniens
in sehr pessimistischer Art auseinanderzusetzen – ist auffällig, dass viele der vorgeschlagenen
Lösungen aus der Krise Spaniens in medizinischer und pathologisch-degenerationistischer Sprache
beschrieben wurden. „Spain, as a living organism, was an ill or degenerated society; the positivist
80
AnarchistInnen als Chance aus, ihre eigenen Organisationen zu stärken und eine
politische Ideologie für Spanien zu entwickeln. Auch stand die Zeitschrift im
Zeichen der Verteidigung politisch Gefangener in Folge der Gesetzgebung von
1896236 und der daraufhin in Barcelona stattgefundenen Jagd auf „anarchistische
Terroristen“.237
Aus diesem Grund suchte Urales für die Durchführung des Projekts nach
bekannten und von der spanischen Öffentlichkeit anerkannten DenkerInnen und
AutorInnen und gewann letztendlich sogar progressive Republikaner dafür, sich an
der Publikation zu beteiligen. Selbstverständlich waren aber vor allem bekannte
AnarchistInnen dabei: Anselmo Lorenzo, Teresa Claramunt, Eliseo Reclús und
Kropotkin und viele andere publizierten regelmäßig in La Revista Blanca. Urales
suchte sogar die Kollaboration mit Miguel Unamuno, einem der wichtigsten
spanischen Autoren der generación ´98, um sich durch seine Bekanntheit vor dem
Publikationsverbot zu schützen.
Die inhaltlichen Schwerpunkte der Publikation lagen in Soziologie, Kunst
und Wissenschaft, die aus anarchistischem Blickwinkel behandelt wurden –
dementsprechend lautete ihr Untertitel auch Sociología, ciencia y arte. Damit stand die
Zeitschrift – wie schon dargestellt – in der Tradition von zahlreichen anderen
anarchistischen Publikationen.
1903 litt die Zeitschrift schon unter großen finanziellen Problemen, weshalb
das Suplemento de la Revista Blanca, die Beilage der Zeitschrift, in diesem Jahr zur
doctor should situate himself with a scientific attitude before the patient and determine the three
stages of clinical analysis: diagnostic, prognostic and therapeutic.“
Regenerationisten aller politischen Lager waren angehalten, Daten zu sammeln, zu klassifizieren, zu
analysieren und zu interpretieren, um die konkreten Probleme des Landes zu identifizieren und
spezielle Lösungen zu finden. CLEMINSON, Anarchism, Science and Sex, S. 74.
236 Als Reaktion auf eine Serie von Bombenanschlägen wurden 1894 und 1896 „Gesetze zur
Unterdrückung des Terrorismus“ erlassen. Auch wurde eine neue, gefürchtete Polizeieinheit
geschaffen: La brigada político-social. Am 2. September 1896 wurde „La Segunda Ley Antiterrorista“
erlassen, mit der die Strafen für verurteilte „Terroristen“ und verdächtigte „Komplizen“ verschärft
wurden. Auch wurde damit der Besitz von jeglicher entzündbarer Flüssigkeit zu einem Delikt erklärt,
und die Fälle ab nun der Militärgerichtssprechung unterstellt. Aufgrund dieses Gesetzes wurden in
Barcelona im folgenden Jahr an die 400 AnarchistInnen verhaftet und gefoltert sowie fünf
Anarchisten in den sogenannten „Prozessen von Montjuich“ hingerichtet. Walther BERNECKER,
España entre tradición y modernidad. Política, economia, sociedad (siglos XIX y XX), Madrid 1999, S.
180; Carmen UTRERA/Dolores CRUZ, Cronología de la historia de España. Bd. 3: La España del siglo
XIX, Madrid 1999, S. 86.
237 CLEMINSON, Anarquismo y Homosexualidad, S. 32.
81
238 Tierra y Libertad wurde 1930 zum offiziellen Presseorgan der FAI (Federación Anarquista Ibérica).
239 Federica Montseny, geb. 1905 in Madrid, gest. 1994 in Toulouse. Einzige Tochter der libertären
AktivistInnen Federico Urales und Teresa Mañé, besuchte keine formelle Schule, sondern wurde von
ihrer Mutter (Lehrerin) nach den Grundsätzen von Montessori und Ferrer i Guardia unterrichtet. Mit
17 Jahren trat sie der damals verbotenen CNT bei und publizierte in zahlreichen anarchistischen
Publikationen wie etwa Solidaridad Obrera (1931-1939), El Luchador (1931-1933), Tierra y Libertad und
Nueva Senda. Sie war Autorin von drei Romanen („La Victoria“ 1925, „El Hijo de Clara“ 1927, „La
Indomable“ 1928) und zahlreichen Erzählungen und Geschichten. In Summe war sie zwischen 1921
und 1936 Autorin von mehr als 40 Titeln. 1936 wurde sie die erste weibliche Ministerin Spaniens. Am
Ende des Bürgerkriegs flüchtete sie nach Frankreich. 1941 wurde sie an die Franquisten ausgeliefert
und in Spanien inhaftiert. Nach ihrer Freilassung Rückkehr nach Frankreich, wo sie 1994 starb. Zur
Person Montseny vgl. auch: Mary NASH, Federica Montseny: dirigente anarquista, feminista y ministra.
In: Arenal. Revista de Historia de las Mujeres, Bd. 1, 2, Juli-Dezember 1994, S. 259-271; Susanna
TAVERA I GARCIA, Revolucionarios, publicistas y bohemios: los periodistas anarquistas (1918-1936), S.
385f. In: HOFMANN/JOAN I TOUS /TIETZ (Hg.), El anarquismo español y sus tradiciones culturales,
S. 377-392. Weiters ihre Autobiographie: Federica MONTSENY, Mis primeros cuarenta años, Barcelona
1987.
240 CLEMINSON, Anarquismo y Homosexualidad, S. 31.
241 Para los Lectores de „La Revista Blanca“, LRB, 383, 22.5.1936.
82
Oder:
„Was du hier [vielleicht] deinen Meinungen entgegengesetzt siehst, könnte sie genau
hier widerlegen.“243
Ebenso wie bei Estudios hatte die Redaktion Probleme mit der Zahlungsmoral
der AbonnentInnen bzw. der paqueteros, die auch als „vampiros de prensa“ – also
„Vampire der Presse“ – bezeichnet wurden.244 Und genauso wie Generación
Consciente/Estudios hatte La Revista Blanca auch eine „Biblioteca“ mit umfangreichem
Katalog, über den Publikationen beworben und vertrieben wurden245, womit die
Zeitschrift finanziell abgesichert werden konnte. Ab 1931 war das Weiterbestehen
der Zeitschrift gänzlich von allen anderen Publikationen der Familie Montseny
abhängig, wie Federica Montseny in einem Interview 1976 erzählte.246
242 „Lector: sea cual fuera tu condición y sexo, no dejes de leer esta revista“
243 „Lo que aquí veas contrario a tus opiniones, aquí mismo puedes refrutarlo“
244 MADRID S ANTOS, La prensa anarquista, S. 383f.
245 Hier sind vor allem folgende Publikationsreihen zu nennen: „La Novela Ideal“ (ab 1925), „Colección
Voluntad“ (ab 1926), „La Novela Libre“ (ab 1929) und „El Mundo al Día“ (ab 1935).
246 TAVERA I G ARCIA, Revolucionarios, publicistas y bohemios, S. 390.
247 „El texto de este número ha sido sometido a la previa censura gubernativa“
83
zu wechseln. Warum hatte La Revista Blanca auf den ersten Blick keine solchen
Probleme? Dazu ist 1926 zu lesen:
„Diese Zeitschrift wird so publiziert, dass die Forderungen, die das Pressegesetz
vorschreibt und die aktuelle Regierung auferlegt hat, erfüllt werden und die Tatsache, durch
die Zensur gekommen zu sein, befreit sie [die Zeitschrift] – laut den eigenen Aussagen des
aktuellen Ministerpräsidenten – davon, denunziert, beschlagnahmt oder zurückbehalten zu
werden.“248
„Ziemlich viele Libertäre nennen sich heute Individualisten und nicht wenige davon
sind vom régimen alimenticio [etwa: Ernährungsbewegung/DiätikerInnen] und haben sogar aus
ihrem Verhalten eine Doktrin gemacht, finden ihren idealen Rahmen auch nirgends mehr, als
in der Gleichheit der Güter und dem Verschwinden aller Herrschaft.“249
Auch betätigten sich Militante, die durch die Repression nicht unmittelbar
politisch aktiv sein konnten, vermehrt im Bereich der Erziehung, gründeten
rationalistische Schulen, Bildungseinrichtungen und so genannte Ateneos.
Federica Montseny gab gegenüber der Historikerin Annalisa Corti
retrospektiv zu, dass die Strategie, dem Regime nicht negativ aufzufallen, diesem die
Möglichkeit gab, sich gegenüber demokratischen Regierungen eine „Patina des
248 „Esta Revista se publica cumpliendo los requisitos que marca la ley de imprenta y los que ha
impuesto el actual gobierno, y el hecho de haber pasado por la censura, la exime, según propias
declaraciones del actual Presidente del Ministerio, de ser denunciada, secuestrada ni retenida.“ Doppelt
umrandeter Textkasten in: LRB, 74, 15.6.1926.
249 „Hoy, bastantes libertarios se dicen individualistas y no pocos que del régimen alimenticio y aun de
las costumbres han hecho una doctrina, no hallan su marco ideal más que en la igualdad de bienes y en
la desaparición de todo gobierno.“ La Redacción, Nuestras ideas y nuestros propósitos, LRB, 1,
1.6.1923.
84
Liberalismus“ anzueignen.250 Erst in den letzten Tagen der Diktatur von Primo de
Rivera wurde wieder schärfere und konkretere politische Kritik in den Seiten von La
Revista Blanca formuliert. Nach dem Ende der Diktatur ab den 1930er Jahren wurden
politischen Fragen wieder wesentlich mehr Platz eingeräumt und die Texte über
Kunst und Kultur traten zugunsten von Debatten über die aktuelle Politik etwas in
den Hintergrund.
250 CORTI, La Revista Blanca. Zit. nach: Navarro Navarro, El paraíso, FN 20, S. 37.
85
In der anarchistischen Presse wurde der Feminismus als „el problema feminista“
rege diskutiert. Diese oftmals verwendete Formulierung zeigt, dass Feminismus nicht
als positive Denkweise oder Bewegung, nicht als ein Lösungsansatz eines
gesellschaftlichen Problems aufgefasst wurde, sondern als dessen Ursache. Aber
nicht nur der „Feminismus“ wurde in eine unmittelbare wörtliche Beziehung zum
„Problem“ gesetzt: Auch „Sexualität“ und „Geschlecht“ unterlagen permanent
derartigen Junktimierungen und mutierten oft vom Hauptwort zu einem
adjektivischen Anhängsel des „Problems“. So gab es neben „el problema de los sexos“251
(„Geschlechterproblem“), „el problema sexual“252 („Sexualproblem“), „el problema del
amor“253 („Liebesproblem“) auch noch „la mujer, problema del hombre“254 („die Frau,
Problem des Mannes“).
Federica Montseny war eine der bekanntesten und einflussreichsten
ExponentInnen der ibero-anarchistischen Haltung gegenüber dem
„Geschlechterproblem“, die sich durch ihre Position als Chrefredakteurin in La
Revista Blanca niederschlug: Die anarchistische Bewegung in Spanien war dem – als
bürgerliche Bewegung wahrgenommenen – Feminismus und der Frauenbewegung
gegenüber ablehnend eingestellt und verneinte die Beschwörung einer spezifischen
„Frauenproblematik“. Vielmehr wurde die Union zwischen den Geschlechtern
postuliert, um die Ausbeutung von Männern wie Frauen gleichermaßen zu
bekämpfen und eine umfassende Revolution herbeizuführen.
„Sich zu vermännlichen ist und kann keine Erhebung, keine Befreiung und keine
Würde sein. Wir müssen von uns selbst ein höheres und stolzeres Konzept haben. Und in
uns muss es ein höheres Streben geben, als dieses erbärmliche Streben, dem anderen
Geschlecht nachzueifern und es zu imitieren. Wir sollten uns nicht mit allen Rechten, die der
Mann hat, zufrieden geben. Wir sollten – mit unzähmbaren Willen – alle Rechte, die man haben
sollte, anstreben.“256
„Der tagende Feminismus in Rom musste nicht erst faschistisch werden. Er war es
schon lange, denn die erzieherische Rückständigkeit, deren Opfer die Frau war und die
krankhafte Tat/Wirkung der Gesellschaft vergiftete alles Gute, Großzügige und
Begeisterte/Enthusiastische in diesen weiblichen Herzen, um nur den Traditionalismus und
den Appetit auf Exhibitionismus und Dominanz übrig zu lassen.“257
el atraso educacional de que ha sido víctima la mujer y la acción morbosa de la sociedad, envenenó
todo lo bueno, generoso y entusiasta de aquellos corazones femeninos para dejar tan sólo en pie el
ancestralismo y el apetito exibicionista y dominador.“ Federica MONTSENY, El movimiento femenino
internacional, LRB, 6, 15.8.1923.
87
Geschlechts“ ging. Mit dieser Bezeichnung, die in der Sexualwissenschaft dieser Zeit
angwandt wurde, um Homosexuelle begrifflich zu kategorisieren, wurden in der
Frauenbewegung engagierte Frauen als „unweiblich“ bzw. „lesbisch“ abgewertet.
Montseny bezeichnet in diesem Text wiederum den Feminismus als faschistisch:
„In Spanien existiert kein Feminismus des „dritten Geschlechts“. Es existiert auch
kein christlicher Sozialismus. In Wirklichkeit gibt es keinen Feminismus irgendeiner Art, und
wenn es ihn gäbe, dann müssten wir ihn als faschistisch bezeichnen, denn er wäre so
reaktionär und intolerant, dass seine Machtergreifung großes Unglück für die Spanier
bedeuten würde. Glücklicherweise wird so etwas nicht geschehen.“258
258 „En España no existe el feminismo del ‚Tercer sexo’. No existe tampoco el socialismo cristiano. En
realidad, no existe feminismo de ninguna clase y si alguno hubiese, habríamos de llamarlo fascista,
pues sería tan reaccionario e intolerante, que su arribo al Poder significaría una gran desgracia para los
españoles. Afortunadamente, no sucederá tal cosa.“ Federica MONTSENY, Feminismo y Humanismo,
LRB, 33, 1.10.1924.
259 Shirley MANGINI, Las Modernas de Madrid. Las grandes intelectuales españolas de la vanguardia,
Voz de la Mujer und rief einige Organisationen ins Leben: 1918 die Asociación Nacional de Mujeres
Españolas ANME, 1919 die Federación Internacional Feminista, 1925 die Unión del Feminismo Español und
1925 die Casa de la Mujer. 1927 wurde sie Abgeordnete im Madrider Rathaus unter der Regierung von
Primo de Rivera. MANGINI, Las Modernas de Madrid.
261 MANGINI, Las Modernas de Madrid, S. 96.
88
Neben dieser Polemik zielte die anarchistische Kritik an einer Politik, die für
Frauen die gleichen ökonomischen und sozialen Rechte wie die der Männer
einforderte, darauf ab, das soziale System als Ganzes in Frage zu stellen.
„Diese kapitalistische Maßnahme (die schon in Kraft getreten ist) bedeutet völliges
Elend für das Proletariat, aber an der Frau richtete sie noch mehr Schaden an.“267
Wie schon in den Kapiteln „die arbeitende Frau“ und „die politische Frau“
beschrieben, waren die Ablehnung sowohl gegen das Frauenwahlrecht und auch die
Skepsis gegenüber der weiblichen Erwerbstätigkeit wichtige Themen in der
anarchistischen Debatte. Beide wurden, wie der oben angeführte Artikel zeigt, in den
Medien miteinander verknüpft, um die Frage der weiblichen Produktionsarbeit zu
einer Gefährdung der weiblichen Reproduktionsarbeit zu machen:
„Wir unterstützen, dass die Arbeit ein echter Weg der Freilassung [auch: Freilassung
aus der Sklaverei] der Frau ist, weil darin ihre persönliche Unabhängigkeit liegt; aber bevor
die Arbeit dazu führt, dass die Frau im Namen eines zersetzenden Feminismus stirbt,
moralisieren, humanisieren wir diese Arbeit, damit sie, gut organisiert, die Quelle des
universellen Glücks sein kann.“269
„Der wunderbare wirtschaftliche Betrieb hat die familiäre Beziehung aus dem
Gleichgewicht gebracht, das Geschlecht geschwächt und in Folge zu einem Bruch zwischen
dem Mann und der Frau geführt. [...] Im biologisch-sozialen Blick unserer Tage ist die
[Erwerbs-]Tätigkeit der Frau nichts außer die Fortsetzung der männlichen Tat. Von
Notwendigkeiten wirtschaftlicher Art gezwungen, dressiert sich die Frau, um den Mann zu
ersetzen.“270
reside su independencia personal; pero antes que llevar al trabajo a morir a la mujer en nombre de un
feminismo disolvente, moralicemos, humanicemos ese trabajo, que, bien organizado, podría ser la
fuente de la felicidad universal.“ J. BELTRÁN, Femenismo Disolvente, Suplemento de LRB, 86,
15.12.1926.
270 „El portentoso movimiento económico ha desequilibrado la relación familiar, ha debilitado el sexo,
271 Federica MONTSENY, Las conquistas sociales de la mujer, LRB, 55, 1.9.1925.
272 „El feminismo racional, el femimismo humanista y consciente, el feminismo sereno y equilibrado,
el feminismo que debe llamarse humanismo: he aquí el feminismo que Emma Goldmann propaga y
que tampoco, desgraciadamente, ha encontrado ‚una raza de mujeres capaces de mirar a la libertad
cara a cara’; ya que no es posible decir que existe esa raza salvadora porque de ella hayan en el mundo
unos cuantos ejemplares. Lo real es que la mujer, en su mayoría, hoy como ayer, continúa sumisa a la
tradición y de su relativa independencia, dolorosamente conquistada, ha sabido sacar muy pocos
frutos.“ Federica MONTSENY, La tragedia de la emancipación femenina, LRB, 25, 15.12.1924.
92
„In Wirklichkeit existiert für uns ein solches [Frauen-]Problem nicht, denn das
Problem, das wir lösen sollten, ist ein menschliches Problem, aber wie in der Vergangenheit
und der Gegenwart war und ist die Frau ein stärkeres Opfer der Ausbeutung als der Mann,
der Sitten/Bräuche und aus aktueller Sicht sogar des eigenen Mannes, [und deswegen] werde
ich in den Kolumnen der REVISTA BLANCA etwas behandeln, das die Frau betrifft
[...].“276
273 „criadas para el hogar, siervas del cura, sacerdotisas del dios ‚qué dirán’ y de la diosa ‚costumbre’“
Federica MONTSENY, La mujer, problema del hombre LRB, 89, 1.2.1927.
274 Vgl. Kapitel 4.1 Geschlechtskörper.
275 „¿Feminismo? ¡Jamás! ¡Humanismo siempre! Propagar un feminismo es fomentar un
masculinismo, es crear una lucha inmoral y absurda entre los dos sexos, que ninguna ley natural
toleraría.“, Federica MONTSENY, Feminismo y Humanismo, LRB, 33, 1.10.1924.
276 „En realidad, para nosotros, no existe tal problema [de la mujer], pues el problema que debemos
solventar es un problema humano, pero como en el pasado y en presente la mujer fué y es víctima más
que el hombre de la explotación, de las costumbres y hasta del propio hombre de vista actual, trataré
algo que atañe a la mujer, en las columnas de LA REVISTA BLANCA [...].“ Soledad G USTAVO,
Hablemos de la mujer, LRB, 10, 15.10.1923.
93
wurde der „Ungleichheit der Geschlechter“ äußerst viel Platz eingeräumt. Dies diente
zum einen – wie schon beschrieben – dazu, die „bürgerlichen Frauen“ und die
„bürgerliche Gesellschaft“ zu kritisieren. Zum anderen wurde die sozial ungerechte
Behandlung von Frauen nicht abgestritten – im Gegenteil: Das Engagement der
anarchistischen Medien Spaniens in der Diskussion um die „Geschlechterfrage“ war
schon seit Ende des 19. Jahrhunderts enorm groß.277 Um diesem Problem
entgegenzuwirken, wurden die Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern und
die „Unterdrückung der Frau“ kritisiert und angeklagt. Um diese überwinden zu
können, war es nach anarchistischer Sicht notwendig, eine Neubewertung der
Geschlechter und des Menschen vorzunehmen und umzusetzen. Das Konzept der
„neuen Frau“ ist ein Ergebnis dieses Versuchs:
Federica Montseny widmete der „mujer nueva“ eine eigene Kolumne, in der sie
dieses Idealbild konkretisierte. Die Autorin sah „die Frau, im kollektiven Sinne des
Wortes“, vor Umbrüchen stehen: Zum einen erlebe sie einen historischen Übergang
als menschliches Wesen, zum anderen als weibliches Wesen, „[d]as heißt, innerhalb
der Spezies und innerhalb des Geschlechts, zu dem sie gehört“. Der beschriebene
„historische Umbruch“ ist die Befreiung aus der „moralischen und religiösen
Sklaverei“. Aber dabei mache „die Frau“ viele Fehler und versklave sich eigentlich
durch ihr blindes Handeln noch mehr278:
277 Vgl. ALVAREZ JUNCO, La ideología política del anaquismo español; G ARCÍA-MAROTO, La mujer en
la prensa anarquista; LOHSCHELDER, AnarchaFeminismus.
278 Federica MONTSENY, La mujer nueva, LRB, 72, 15.5.1926.
279 „En vez de afirmarse en su sexo, de ennoblecerlo y dignificarlo, reniega de él y se acoge, sin mirar
la estética ni las leyes naturales, bajo las costumbres y los errores del otro sexo.“ Federica MONTSENY,
La mujer nueva, LRB, 72, 15.5.1926.
280 Federica MONTSENY, La mujer nueva, LRB, 72, 15.5.1926.
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Durch das Erkennen und Akzeptieren ihres „Wesens“ wäre „die neue Frau“
die treibende Kraft der zukünftigen Freiheit und des zukünftigen Lebens.
Männlichkeit bzw. das „männliche Wesen“ wurde in diesem Befreiungsdiskurs mit
Staatlichkeit, Herrschaft und Unterdrückung gleichgesetzt.
Am Entwurf des ‚zukünftigen Lebens’, dass durch diese „neue Frau“
entstehen sollte, knüpfen die Texte in Estudios an. Die „Geschlechterfrage“ wurde in
diesem Medium über die Themen Sexualität, Mutterschaft,
Schwangerschaftsverhütung, Abtreibung und Prostitution diskutiert. Der Ansatz zu
einer „Befreiung der Frau“ – und der ArbeiterInnen insgesamt – resultierte aus der
These der sexuellen Aufklärung und ihrer befreienden Wirkung. Die „biologische“
und die „soziale Tragödie der Frau“ waren in den Texten untrennbar miteinander
verbunden. So heißt es 1932 in Estudios über die „tragedia biológica y social de la mujer“:
„Das Leben der Frau ist, in einem weitaus größeren Ausmaß als beim Mann, an das
Schicksal/die Bestimmung der Gameten282 gebunden. Die Natur verpflichtet den Mann
nicht, sich um seine Samen zu kümmern, nachdem er sie einmal abgegeben hat; was ihnen
später zustößt, hat überhaupt keinen Einfluss auf seinen Organismus. Überlegungen
moralischer Art, Forderungen vom Staat oder der gesellschaftlichen Moral etc. können ihn
dazu verpflichten, den Beginn einer Reihe von Phänomenen und Ereignissen ernst zu
nehmen; aber all das ist etwas Sekundäres, [...]; es ist eher ein soziologisches Phänomen.
Das Leben der Frau hingegen ist auch biologisch an die Bestimmung der Eizelle
gebunden, die sie produziert. Gemäß dem, was dem mikroskopischen Gameten zustößt, der
in ihrem Eierstock nistet, verläuft ihr Leben in die eine oder andere Richtung.“283
281 „¡Qué humanidad saldría de una generación de mujeres sanas, equilibradas, en plena posesión de
sus condiciones físicas y morales, bellas, buenas y fuertes, despojadas de temores y de supersticiones,
conquistadoras de la vida y no plazas conquistadas por la fatalidad social [...].“ Federica MONTSENY,
Las Conquistas sociales de la mujer, LRB, 55, 1.9.1925.
282 Gamet: Keimzelle, Geschlechtszelle
283 „La vida de la mujer se halla ligada, en un grado muchísimo mayor que la del hombre, al destino de
„Der libertäre Kommunismus proklamiert die freie Liebe ohne andere Regulation als
den Willen des Mannes und der Frau, garantiert damit den Kindern den Schutz der
Gemeinschaft und rettet diese von den menschlichen Verirrungen durch die Anwendung der
biologisch-eugenischen Prinzipien.“285
Die Institution der Ehe, die von Kirche und Staat lizenziert wurde, wurde ob
ihrer bürgerlichen Konventionalität kritisiert und als kontraproduktiv für die „wahre
Liebe“ angesehen. Schon Bakunin hatte 1866 in seiner Schrift „Prinzipien und
Organisation der Internationalen Revolutionären Gesellschaft“ seine soziale Utopie
einer „befreiten Gesellschaft“ entworfen. Darin sah er die Abschaffung der
bürgerlichen Ehe vor und forderte an ihrer Stelle die „freie Ehe“, die das
284M. LACERDA DE MOURA, ¿Tiene sexo la inteligencia?, EST, 95, Juli 1931.
285„El Comunismo Liberatrio proclama el amor libre sin más regulación que la voluntad del hombre y
de la mujer, garantizando a los hijos la salvaguardia de la colectividad y salvando a ésta de las
aberraciones humanas por la aplicación de los principios biológicos-eugénicos.“ CNT, El Congreso
Confederal de Zaragoza, 1936. Zit. nach: CLEMINSON, Anarquismo y homosexualidad, S. 150.
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„Frei müssen wir sein, um den zu lieben, der uns gefällt, indem wir endgültig mit
diesem unmoralischen und dummen Beischlafsvertrag brechen, der legalisierte Ehe genannt
wird!“287