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Inhaltsverzeichnis
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1 Biografie
o 1.1 Familie
o 1.2 1942 bis 1945: Geburt und Kriegsjahre
o 1.3 1945 bis 1948: Berlin und Rückkehr nach Griffen
o 1.4 1948 bis 1954: Dorfleben und erste Schuljahre in
Griffen
o 1.5 1954 bis 1959: Internatszeit in Tanzenberg
o 1.6 1959 bis 1961: Schulabschluss in Klagenfurt
o 1.7 1961 bis 1965: Studium in Graz
o 1.8 1966: Jahr des Durchbruchs
o 1.9 1967 bis 1970: Düsseldorf, Paris, Kronberg
o 1.10 1971 bis 1978: Jahre in Paris
o 1.11 1979 bis 1987: Heimkehr nach Österreich
o 1.12 1988 bis heute
2 Peter Handke und Wim Wenders
3 Serbien-Kontroverse
4 Archiv
5 Auszeichnungen
6 Werke
7 Briefwechsel
8 Gespräche
9 Filmografie
o 9.1 Regie und Drehbuch
o 9.2 Drehbuch
10 Tonträger
11 Übersetzungen
12 Literatur
13 Dokumentarfilme
14 Weblinks
15 Einzelnachweise
Biografie [Bearbeiten]
Familie [Bearbeiten]
Seine Mutter war Maria Handke, geborene Sivec (1920-1971), eine Kärntner Slowenin. Sie hatte 1942
seinen bereits verheirateten leiblichen Vater, den deutschen Bankangestellten Erich Schönemann, der
als Soldat in Kärnten stationiert war, kennengelernt und war von ihm schwanger geworden. Noch vor
seiner Geburt heiratete seine Mutter dann den Straßenbahnschaffner und Wehrmachtssoldaten Adolf
Bruno Handke († 1988) - seinen späteren Stiefvater. Peter Handke erfuhr erst als Volljähriger kurz vor
seiner Matura von seinem leiblichen Vater.
Peter Handke wurde im Haus Altenmarkt Nummer 25 seines Großvaters Gregor Siutz am 6.
Dezember 1942 um 18:45 Uhr geboren. Zwei Tage später empfing er in der Stiftskirche Griffen die
katholische Taufe. Zunächst blieb die Familie vom Krieg weitgehend unberührt. 1944 entschloss sich
1
Maria Handke zu einer Reise nach Berlin zu den Eltern ihres Ehemannes, kehrte aber kurz vor
Kriegsende in das Haus des Großvaters zurück. Zu dieser Zeit waren die Auswirkungen des Krieges
auch in Griffen zu spüren: Einheimische Slowenen wurden in Konzentrationslager verschleppt, und
gelegentlich wurde die Gegend von Tito-Partisanen heimgesucht. Auch Bomben fielen, und die
Dorfbewohner nutzten Felsenhöhlen als Luftschutzbunker.
Die Familie bezog eine Wohnung in Pankow, das dem größtenteils zerstörten sowjetischen Sektor von
Berlin angehörte. Doch weder fand Adolf Handke eine dauerhafte Arbeit, noch machte die politische
Situation Hoffnungen auf Besserung. Kurz vor der am 24. Juni 1948 verhängten Berlin-Blockade
verließ die inzwischen vierköpfige Familie (Tochter Monika war am 7. August 1947 zur Welt
gekommen) im Morgengrauen die Stadt und fuhr mit der Bahn zurück in Richtung Griffen. Die
Grenzüberfahrt nach Österreich erfolgte mangels Pässen illegal in einem Lastwagen. Für Peter Handke
gehörte dieses Abenteuer zu den ersten intensiven Kindheitserlebnissen, an die er sich später erinnern
konnte. In einem Schulaufsatz von 1957 beschreibt er die Umstände der Rückkehr ausführlich.
In Griffen fand der sechsjährige Peter auch wegen seines berlinerischen Dialekts zunächst nur schwer
Anschluss an Spielkameraden. Bis heute spricht Peter Handke nur selten kärntnerischen Dialekt, meist
spricht er dialektfrei. Der Vater erhielt eine Zeit lang Arbeitslosenunterstützung, die er jedoch
zunehmend für Alkohol ausgab. Zwischen den Eltern kam es regelmäßig zu lautstarken Streitereien.
Schließlich fand der Vater Anstellung bei seinem Schwager Georg Siutz, doch in einer von der Kirche
und lokalen Grundbesitzern dominierten Gegend gehörten die Handkes auch weiterhin zur ärmeren
Bevölkerung. Handke selbst wird sich später einen „Kleinhäuslersohn“ nennen.
Doch neben den Problemen erfuhr das Kind auch ein idyllisch-provinzielles Dorfleben, das durch
wiederkehrende Arbeiten, Kirchenbesuche, Spaziergänge, Schlachtfeste und Kartenspiele geprägt war.
Viele dieser Eindrücke verarbeitete Handke später in seinen Büchern. So besteht beispielsweise sein
Erstlingsroman „Die Hornissen“ aus vielen bildreichen Schilderungen dieses Dorflebens.
Peter Handke wurde am 13. September 1948 eingeschult und besuchte die Volksschule Griffen bis
zum 14. September 1952. Nach der 4. Klasse wechselte er für zwei Jahre bis zum 10. Juli 1954 auf die
Griffener „Hauptschule für Knaben und Mädchen“. Seine schulischen Leistungen wurden fast
ausschließlich mit „gut“ und „sehr gut“ benotet. Den anschließenden Wechsel in das Priesterseminar
Marianum in Maria Saal mit dem angeschlossenen katholisch-humanistischen Gymnasium
Tanzenberg leitete der Zwölfjährige selbst ein, indem er sich vom Pfarrer im Stift die nötigen
Formulare besorgte. Das Marianum diente primär der Heranbildung von Priesternachwuchs, eine
Aufnahme erfolgte in der Regel nur auf Empfehlung eines Geistlichen. Doch am Gymnasium selbst
lehrten weltliche Schulprofessoren in humanistischer Tradition. Am 7. Juli 1954 bestand Peter die
Aufnahmeprüfung, wurde aber auf Anraten eines Schulprofessors in die zweite - statt in die
altersmäßig angemessene dritte - Klasse des Gymnasiums eingeschult, da er noch über keinerlei
Lateinkenntnisse verfügte.
Kurz nach Schulbeginn in Tanzenberg verfasste der Schüler Peter Handke einen sechzehnseitigen Text
mit dem Titel "Mein Leben. 2. Teil" - die Anfänge seiner Affinität zum Schreiben. Seine schulischen
Leistungen blieben auch im Gymnasium hervorragend, er schloss alle Klassen mit sehr guten
Ergebnissen ab. Zur sprachlichen Ausbildung gehörten die Fächer Latein, Griechisch, Englisch sowie
- jeweils nur ein Jahr - Italienisch und Slowenisch, zudem zwei Jahre Kurzschrift. Eine wichtige
Beziehung baute er zum Schulprofessor Dr. Reinhard Musar auf, der ab 1957 die Klasse übernahm
und in Deutsch und Englisch unterrichtete. Musar erkannte das Schreib-Talent des Jungen und
bestärkte ihn darin. Handke las ihm Texte vor und besprach sie mit ihm auf Spaziergängen. Später
2
nahm Musar Einfluss auf die Studienwahl Handkes: Er empfahl ihm, der Schriftsteller werden wollte,
ein Jurastudium, da dieses nur wenige Monate im Jahr intensives Faktenlernen erfordere und der Rest
der Zeit zum Schreiben frei bliebe. In der Tanzenberger Zeit veröffentlichte er erste literarische Texte
für die Internatszeitschrift Fackel.
Mitte des Schuljahres 1959, in der siebten Gymnasialklasse, war es wiederum Peter Handke selbst,
allerdings getrieben von den äußeren Umständen, der einen Schulwechsel herbeiführte. Die
katholische Internatsenge mit ihren morgendlichen Messen und vielen Verboten war dem Schüler
zunehmend unerträglich geworden. Als ihm eines Tages die Lektüre verbotener Bücher (von Graham
Greene) nachgewiesen wurde, zog er selbst die Konsequenz. Er kehrte zurück nach Griffen, wo die
Eltern in jahrelanger Mühe ein eigenes Haus auf dem Grundstück des Großvaters gebaut hatten, und
besuchte fortan das humanistische Gymnasium im 35 Kilometer entfernten Klagenfurt. Die Fahrt
dorthin legte er allmorgendlich mit dem Bus zurück. Noch 1959 nahm er an einem Klagenfurter
Schüler-Literaturwettbewerb teil und erhielt dort eine Auszeichnung, woraufhin zwei Texte von ihm
("Der Namenlose" am 13. Juni 1959 und "In der Zwischenzeit" am 14. November 1959) in der
Kärntner Volkszeitung veröffentlicht wurden. Von seinen nun intensiveren Schreibversuchen gibt auch
eine Aussage der Schwester Monika Zeugnis, die sich über seine schlechte Laune beschwerte, wenn es
mit dem Schreiben nicht voranging. 1961 erlangte er die Matura mit Auszeichnung, was nur zwei
weiteren Mitschülern von siebzehn gelang.
Noch 1961 begann Handke ein Studium der Rechtswissenschaften in Graz. Während der gesamten
Studienzeit bewohnte er ein kleines Zimmer im Stadtteil Graz-Waltendorf zur Untermiete. Seine
Studienpflichten absolvierte er wenn auch nicht mit Begeisterung, so doch regelmäßig und erfolgreich.
Prüfungen absolvierte er meist mit Auszeichnung. Die Finanzierung des Studiums erfolgte über ein
Stipendium, Geld von den Eltern sowie durch studienbegleitendes Arbeiten. Er gab Nachhilfe in
Griechisch und nahm eine Tätigkeit in einem Warenversandhaus an. Die Arbeit in einem von
Neonlicht erhellten Verpackraum schmerzte mit der Zeit seinen Augen, weshalb ihm ein Arzt eine
Brille mit dunklen Gläsern verschrieb. Die dunklen Brillengläser sollten später zu einem
Markenzeichen des jungen Schriftstellers bei seinen öffentlichen Auftritten werden.
Während der Studienzeit bildeten sich zahlreiche Vorlieben aus, die auch im künftigen Leben Handkes
von Bedeutung bleiben sollten. So besuchte er phasenweise fast täglich das Kino, an manchen Tagen
mehrfach. Am Betrachten von Filmen schätzte er, dass „jeder Vorgang im Kino deutlicher wird und
jeder eigene Zustand im Kino bewusster wird“ (in einem 1972 veröffentlichten Aufsatz über
Landkinos und Heimatfilme). Im Lauf seines Lebens wird er nicht nur Drehbücher schreiben und
selbst gelegentlich Regie führen, sondern auch als Berichterstatter von Filmfestspielen und als
Mitglied von Filmjurys agieren. Eine weitere Leidenschaft sollte das Hören von Rockmusik werden.
In Cafés, die er zunehmend häufig aufsuchte, um zu lernen oder auch zu schreiben, wurde er ein
eifriger Jukebox-Benutzer und begeisterte sich für die Beatles, die Rolling Stones und andere junge
Musiker der Zeit, auf deren Liedtexte sich in Handkes Büchern später immer wieder Anspielungen
finden werden.
Vor allem ab 1963 nahm Handkes literarische Aktivität deutlichere Gestalt an. Er lernte Alfred
Holzinger kennen, der die Literatur- und Hörspielabteilung von Radio Graz leitete. Dort wurden nun
nicht nur erste Kurztexte von Handke gelesen, sondern Handke schrieb auch Radio-Feuilletons zu
verschiedenen Themen: Ob Beatles, Fußball, James Bond, Zeichentrickfilme oder Schlagertexte -
Handke widmete sich unterschiedlichen Massenphänomenen und übte sich in einer neuen,
themenbezogenen Form des Schreibens. Auch zahlreiche Buchbesprechungen gehörten zum
Programm. Ein anderer wichtiger Förderer, den er 1963 kennenlernte, war Alfred Kolleritsch, der
Herausgeber der Literaturzeitschrift manuskripte, in welcher ab 1964 erste Handke-Texte
veröffentlicht wurden. Weitere Bekanntschaften, etwa zu dem Maler und Schriftsteller Peter Pongratz,
3
schloss der junge Autor auf dem Forum Stadtpark der Grazer Gruppe, dem er sich ab 1963 anschloss.
Am 21. Januar 1964 wurden dort zum ersten Mal Texte von Handke verlesen.
1964 begann Handke mit der Arbeit an seinem Erstlingsroman Die Hornissen. Im Juli und August
dieses Jahres hielt er sich mit einem alten Schulfreund auf der jugoslawischen Insel Krk auf und
verfasste dort große Teile einer ersten Romanversion, die er im Herbst 1964 an Radio Klagenfurt
sandte, aber im Januar 1965 nochmals überarbeitete. Nachdem der Luchterhand Verlag abgelehnt
hatte, nahm der Suhrkamp Verlag im Sommer 1965 das Manuskript zur Veröffentlichung an. Wenig
später brach Handke sein Studium vor der dritten Staatsprüfung ab, um sich ganz der Tätigkeit als
Schriftsteller zu widmen.
Noch vor der Auslieferung seines Erstlingsromans im Frühjahr 1966 machte Handke, der damals eine
Pilzkopf-Frisur im Stil der Beatles trug, durch einen spektakulären Auftritt auf einer Tagung der
Gruppe 47 in Princeton auf sich aufmerksam. Nach stundenlangen Lesungen zeigte er sich angewidert
von den Werken seiner etablierten Kollegen und hielt eine längere Schmährede, in der er die
„Beschreibungsimpotenz“ der Autoren beklagte und auch die Literaturkritik nicht verschonte, „die
ebenso läppisch ist wie diese läppische Literatur“. Mit dieser Rede hatte er zugleich einen Tabubruch
begangen, da es auf den Treffen der Gruppe 47 unüblich war, allgemeine Grundsatzdebatten über
literarische Themen anzuzetteln. Grundlage der Gespräche sollte immer der jeweilige Text bleiben,
nicht das Wesen von Literatur an sich. Eine erhaltene Tonbandaufnahme zeugt davon, dass Handke
Gelächter, Gemurmel und Zwischenrufe erntete, und obwohl er einige Kollegen, unter ihnen Günter
Grass - wie sich an deren späteren Kommentaren zeigen sollte - durchaus getroffen hatte, wurde seine
Kritik von anderen Teilnehmern vereinnahmt, umformuliert und - etwas abgeschwächt - wiederholt
und blieb im Großen und Ganzen unwidersprochen. Handke hatte das literarische Establishment ins
Mark getroffen, und für die Feuilletons war sein Auftritt zu einem Diskussionsthema geworden.
Im selben Jahr wurde Handkes Sprechstück Publikumsbeschimpfung in der Regie von Claus Peymann
uraufgeführt. Die Verbundenheit mit Peymann als Freund und Regisseur blieb bis heute erhalten. Die
Theaterkritik feierte das provokative, neuartige Stück - Handke war nun endgültig der Durchbruch als
Autor gelungen, und sein Ruf als Enfant terrible wurde weiter genährt. Auch die früher geschriebenen
Sprechstücke Weissagung (von 1964) und Selbstbezichtigung (von 1965) wurden 1966 unter der Regie
von Günther Büch, dem anderen großen Förderer Handkes, in Oberhausen uraufgeführt und durchweg
positiv von der Kritik aufgenommen. Der vierundzwanzigjährige Peter Handke war innerhalb von
Monaten zu einer Art Popstar der deutschen Literaturszene geworden.
Noch 1966 erhielt Handkes Lebensgefährtin und baldige Ehefrau, die Schauspielerin Libgart Schwarz,
ein Engagement an den Düsseldorfer Kammerspielen. Im August 1966 zog das junge Paar daher nach
Düsseldorf.
In Düsseldorf lebte Handke bis 1968. In dieser Zeit veröffentlichte er seinen Roman Der Hausierer
(1967) und das Sprechstück Kaspar (Uraufführung am 11. Mai 1968 in Frankfurt unter Claus
Peymann). 1967 las Handke Verstörung von Thomas Bernhard und reflektierte dieses Leseerlebnis in
dem Text Als ich ‚Verstörung‘ von Thomas Bernhard las. Zu dieser Zeit übte Bernhard eine große
Wirkung auf Peter Handke aus. Später entwickelte sich zwischen den beiden österreichischen
Schriftstellern eine gegenseitige Abneigung.
1968 zog das Ehepaar nach Berlin, und am 20. April 1969 wurde Tochter Amina geboren. Das Kind
bedeutete für Handke eine völlige Umstellung seines bisherigen Lebensstils. Er „sah sich zu Hause
gefangen und dachte auf den stundenlangen Kreisen, mit denen er nachts das weinende Kind durch die
Wohnung schob, nur noch phantasielos, dass das Leben nun für lange Zeit aus sei“ (Kindergeschichte,
1981). Später erzählte er, dass dieses Kind für ihn ein ganz wichtiges und liebevolles Erlebnis war. [1]
4
1969 war Peter Handke Gründungsmitglied des Frankfurter Verlags der Autoren. 1970 zog die Familie
nach Paris, doch obwohl Handke heute dort seinen Hauptwohnsitz gefunden hat, erwies sich die
Entscheidung zur damaligen Zeit als kurzlebig. An einem Waldrand bei Kronberg im Taunus wurde
ein Haus gekauft, in das man im Herbst 1970 übersiedelte. Doch zu diesem Zeitpunkt war die Ehe
bereits gescheitert. Auch wenn sich Vater und Mutter zunächst in der Betreuung des Kindes
abwechselten, dauerte es nur wenige Monate, bis die Mutter das Haus verließ und sich auf ihren
beruflichen Weg konzentrierte. Fortan kümmerte sich primär Vater Handke um das Kind, auch wenn
die Ehe mit Libgart erst 1994 in Wien geschieden wurde.
In der Nacht vom 19. zum 20. November 1971 nahm sich Handkes Mutter, Maria Handke, nach
jahrelangen Depressionen das Leben. Dieses traumatische Erlebnis wurde später in der Erzählung
Wunschloses Unglück (1972), welche 1974 verfilmt wurde, verarbeitet. Kurz vor ihrem Tod besuchte
Peter Handke im Juli 1971 seine Mutter mit Ehefrau Libgart und Tochter Amina ein letztes Mal.
Diesem Besuch ging eine Reise durch die USA mit seiner Frau und dem Schriftsteller Alfred
Kolleritsch voraus. Im selben Jahr wie Wunschloses Unglück erschien Der kurze Brief zum langen
Abschied (1972), der Teile von Handkes USA-Reise beinhaltet. Im November 1973 zog er mit seiner
Tochter Amina nach Paris in die Porte d’Auteuil am Boulevard Montmorency, wechselte 1976 nach
Clamart, im Südwesten von Paris, und blieb dort bis 1978 wohnhaft. Anfang der 1970er folgten
Verleihungen des Schiller-Preises (1972) in Mannheim und 1973 des Georg-Büchner-Preises der
Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Ein Jahr später erschien das
Theaterstück Die Unvernünftigen sterben aus (1974), welches in Zürich uraufgeführt wurde. Etwa zur
gleichen Zeit verfilmte Peter Handkes langjähriger Freund und Weggefährte, der Regisseur Wim
Wenders, Falsche Bewegung (Premiere 1975).
Der Ritt über den Bodensee (erschienen 1971) wurde 1974 Handkes erfolgreichstes Stück in
Frankreich und trug dort viel zur großen Bekanntheit des Schriftstellers bei. Ein Jahr später erschien
Die Stunde der wahren Empfindung (1975) und Peter Handke begann mit den Journal-
Aufzeichnungen (Das Gewicht der Welt. Ein Journal, 1977), welche bis 1990 fortgeführt wurden.
1976 folgte ein Krankenhausaufenthalt des Schriftstellers, ausgelöst durch panikartige Angstanfälle
und Herzrhythmusstörungen. Im folgenden Jahr erschien die Verfilmung von Die linkshändige Frau
(erschienen 1976). Während dieser Zeit verlor Handke nicht den Bezug zu seiner Heimat Österreich
und war von 1973 bis 1977 Mitglied der Grazer Autorenversammlung. 1978 blieb seine Tochter
Amina das Schuljahr bei ihrer Mutter in Berlin. Handke trat währenddessen eine große Reise nach
Alaska (USA) an und kehrte über New York in seine Heimat zurück. Diese Heimkehr sorgte Ende
1978 für seine bisher größte und die Existenz bedrohende Krise seiner schriftstellerischen Laufbahn.
Handke korrespondierte mit Hermann Lenz, dem er seine Verzweiflung schilderte, die er mit dem
Schreiben von Langsame Heimkehr hatte.
Nach langem Aufenthalt in verschiedenen europäischen Städten kehrte Peter Handke im August 1979
nach Österreich zurück. In Salzburg bezog er am Mönchsberg eine Wohnung im Anbau des Hauses
seines Freundes Hans Widrich auf der Richterhöhe und blieb bis November 1987 dort wohnhaft. In
jener ungewöhnlich langen Zeit seiner Sesshaftigkeit unternahm er nur kurze „Ausflüge“ und kehrte
immer wieder nach Salzburg zurück. In diese Anfangszeit seiner Heimkehr fiel die Publikation der
Tetralogie Langsame Heimkehr. Der gleichnamige erste Teil erschien 1979 und bedeutete die
Überwindung und das Ende der Krise, welche ihn seit 1978 gefangen hielt. Peter Handke bekam in
diesem Jahr den Franz-Kafka-Preis als erster Preisträger verliehen. Die drei restlichen Teile von
Langsame Heimkehr wurden in Salzburg verfasst. Die Lehre der Sainte-Victoire erschien 1980, das
dramatische Stück Über die Dörfer (uraufgeführt 1982) und Kindergeschichte erschienen 1981, wobei
die Erzählung Kindergeschichte sehr stark autobiographisch geprägt ist und sich mit den Jahren in
Paris auseinandersetzt.
5
Peter Handke begann Anfang der 1980er bewusst, unbekannte fremdsprachige Autoren ins Deutsche
zu übersetzen, um einerseits keinem professionellen Übersetzer dessen Arbeit streitig zu machen,
andererseits jene Autoren zu einem höheren Bekanntheitsgrad zu verhelfen. Vor allem war es ihm
daran gelegen, slowenischer Literatur im deutschen Sprachraum Aufmerksamkeit und somit eine
Existenz zu verschaffen. Peter Handke übersetzt aus dem Englischen, Französischen, Slowenischen
und schließlich aus dem Altgriechischen (Prometheus, gefesselt, 1986).
Die Mordgeschichte Der Chinese des Schmerzes entstand 1982/83 auf dem Mönchsberg in Salzburg
und erschien im Jahr ihrer Fertigstellung. Im epischen Roman Die Wiederholung (1986) thematisiert
Handke die Kärntner Slowenen und deren Geschichte. Gleichzeitig wurde das Gedicht an die Dauer
veröffentlicht. 1987 beendete die Erzählung Nachmittag eines Schriftstellers Peter Handkes
Salzburger Jahre. Der Film Himmel über Berlin vom Regisseur Wim Wenders, bei dem Handke das
Drehbuch verfasste, feierte im selben Jahr Premiere. Dieses Werk wurde auf europäischer Ebene mit
vielen Auszeichnungen dekoriert. Nach achtjähriger Schaffensperiode und Sesshaftigkeit verließ der
Schriftsteller Salzburg nach dem Abitur seiner Tochter Amina und trat eine drei Jahre dauernde
Weltreise an.
Nach seiner Weltreise (1987-1990) lebt Peter Handke seit 1991 in Chaville bei Paris (Frankreich) und
zeitweise in Salzburg. Er hat eine inzwischen erwachsene Tochter, Amina Handke, die Malerei und
visuelle Mediengestaltung studiert hat. Mit der französischen Schauspielerin Sophie Semin hat
Handke eine zweite Tochter (Léocadie; geboren 1992). Von 2001 bis 2006 war die Schauspielerin
Katja Flint seine Lebensgefährtin.
Mit dem deutschen Regisseur Wim Wenders verbindet Handke eine seit 1966 anhaltende Freundschaft
und Arbeitsbeziehung, es ist die längste Freundschaft im Leben von Wenders. Er lernte Peter Handke
während seiner Studienzeit nach einer Aufführung von dessen Stück «Publikumsbeschimpfung» im
Theater von Oberhausen kennen. [2] Beide Künstler haben viele persönliche Gemeinsamkeiten und
ästhetische Verwandtschaften.[3] Vor allem eint sie eine Vorliebe für eine intensive, manchmal
existenzialistische Darstellung von Landschaften, denen sie ungleich viel mehr an Beachtung und
Bedeutung schenken als den Worten und Handlungen ihrer Akteure. [4] Zwischen 1969 und 1986
arbeiteten sie bei der Produktion von bislang drei Filmen zusammen, Wenders wiederum ließ sich
durch die Lektüre von Handkes Veröffentlichungen bei wichtigen Entscheidungen in seinem Leben
und Werk beeinflussen.[4]
Serbien-Kontroverse [Bearbeiten]
1996 kam es in den Medien nach der Veröffentlichung von Handkes Reisebericht Eine winterliche
Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien zu heftigen
Kontroversen, die bis heute andauern. Kritiker werfen ihm eine Verharmlosung der serbischen
Kriegsverbrechen vor,[5] während Handke für sich eine differenziertere Wortwahl und Darstellung der
Ereignisse als in der allgemeinen journalistischen Berichterstattung in Anspruch nimmt. 2004 besuchte
er Slobodan Milošević im Gefängnis in Den Haag. 2005 wurde er von den Verteidigern des
jugoslawischen Ex-Präsidenten, der vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag des
Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt war, als Zeuge eingeladen.
Handke lehnte dies ab und veröffentlichte wenig später einen Essay mit dem Titel Die Tablas von
Daimiel, der den Untertitel Ein Umwegzeugenbericht zum Prozess gegen Slobodan Milošević trägt.
Am 18. März 2006 trat Handke auf der Beerdigung von Slobodan Milošević als Redner auf, [6] was zu
einem Wiederaufleben der Kontroverse führte. Im Zusammenhang mit Handkes Grabrede wurde auch
sein Stück Spiel vom Fragen oder die Reise ins sonore Land vom Spielplan der Pariser Comédie
Française abgesetzt, was abermals sowohl befürwortende als auch kritische Stimmen hervorrief. Am
6
2. Juni 2006 verzichtete Peter Handke aufgrund der entbrannten politischen Diskussion auf den
erstmals mit 50.000 Euro dotierten Heinrich-Heine-Preis 2006 der Stadt Düsseldorf.
Von Schauspielern des Berliner Ensembles ging im Juni 2006 eine Initiative aus, der «Berliner
Heinrich-Heine-Preis»[7] genannt, die die Attacken des Düsseldorfer Stadtrates als „Angriff auf die
Freiheit der Kunst“ bezeichnete und für Handke das Preisgeld in gleicher Höhe sammeln wollte.
Mitglieder der Initiative waren u.a. Käthe Reichel, Rolf Becker, Dietrich Kittner, Arno Klönne,
Monika und Otto Köhler, Eckart Spoo, Ingrid und Gerhard Zwerenz, Claus Peymann. [8] Am 22. Juni
2006 bedankte sich Handke für die Bemühungen, lehnte jedoch seine Annahme ab und bat stattdessen
um eine Spende an serbische Dörfer im Kosovo.[9] Anlässlich der Uraufführung seines Stückes Spuren
der Verirrten am 21. Februar 2007 wurde ihm die vollständig gesammelte Preissumme und der Preis
übergeben, die Handke einer serbischen Enklave im Kosovo zukommen lassen will. [10] Die Wahl fiel
auf das hauptsächlich von Serben bewohnte Dorf Velika Hoča, an dessen Bürgermeister Dejan
Baljoševic das Preisgeld von Handke an Ostern 2007 übergeben wurde. [11] [12]
Im Januar 2008 äußerte Handke, dass er, wäre er Serbe, den serbischen Nationalisten und
stellvertretenden Vorsitzenden der SRS, Tomislav Nikolić wählen würde.[13] [14]. Am 22. Februar 2008
verfasste Handke einen kleinen Kommentar in der französischen Zeitung "Le Figaro", in dem er noch
einmal an die gemeinsame Geschichte Jugoslawiens in Bezug auf den Sieg über den
Nationalsozialismus hinwies und die westlichen Staaten als "Gaunerstaaten" bezeichnete. [15]
Archiv [Bearbeiten]
Peter Handke verkaufte am 6. Dezember 2007 Handschriften und Materialien aus den letzten zwei
Jahrzehnten als Nachlass zu Lebzeiten - auch Vorlass genannt - für den Preis von 500.000 Euro an das
Österreichische Literaturarchiv der Nationalbibliothek. Der Kauf wurde vom Bundesministerium für
Unterricht, Kunst und Kultur unterstützt.[16] Daneben stellte der Autor Anfang 2008 seine 66
Tagebücher aus der Zeit von 1966 bis 1990 dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für eine
unbekannte Summe zur Verfügung.[17]
Auszeichnungen [Bearbeiten]
1967 Gerhart-Hauptmann-Preis
1972 Literaturpreis des Landes Steiermark
1973 Schillerpreis der Stadt Mannheim
1973 Georg-Büchner-Preis (Preisgeld 1999 zurückgegeben)
1975 Filmband in Gold für Drehbuch Falsche Bewegung
1978 Bambi für Regie
1978 Prix Georges Sadoul
1979 Preis der Gilde deutscher Filmtheater
1979 Franz-Kafka-Preis
1983 Kulturpreis des Landes Kärnten
1983 Franz-Grillparzer-Preis
1985 Anton-Wildgans-Preis (abgelehnt)
1986 Literaturpreis der Stadt Salzburg
1987 Großer Österreichischer Staatspreis für Literatur
1988 Bremer Literaturpreis
1991 Franz-Grillparzer-Preis
1993 Ehrendoktorat der Katholischen Universität Eichstätt
1995 Schiller-Gedächtnispreis
2001 Blauer-Salon-Preis des Literaturhaus Frankfurt
2002 Ehrendoktorat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
2003 Ehrendoktorat der Paris-Lodron-Universität Salzburg
2004 Siegfried-Unseld-Preis
7
2006 Nominierung für den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf am 20. Mai 2006
– Ablehnung des Jury-Entscheids durch drei Stadtratsfraktionen (30. Mai 2006), Verzicht
Handkes am 2. Juni 2006. [18]
2007 Berliner Heinrich-Heine-Preis
Werke [Bearbeiten]
Die Jahre 1966 bis 1987 Die Jahre 1988 bis heute
Die Hornissen, Roman, 1966 Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum
Der Jasager und der Neinsager 1966 sonoren Land, 1989
uraufgeführt unter der Regie von Günther Versuch über die Müdigkeit, 1989
Büch, Theater Oberhausen Noch einmal für Thukydides, 1990
Weissagung und Selbstbezichtigung 1966 Versuch über die Jukebox, 1990
uraufgeführt unter der Regie von Günther Shakespeare: Das Wintermärchen, 1991,
Büch, Theater Oberhausen Übersetzung
Publikumsbeschimpfung und andere Abschied des Träumers vom Neunten
Sprechstücke, 1966, uraufgeführt unter der Land, 1991
Regie von Claus Peymann Versuch über den geglückten Tag. Ein
Begrüßung des Aufsichtsrates, 1967 Wintertagtraum, 1991
Der Hausierer, 1967 Die Stunde, da wir nichts voneinander
Kaspar, 1967, uraufgeführt am 11. Mai wußten. Ein Schauspiel, 1992,
1968 am Theater Oberhausen unter Regie Uraufführung unter der Regie von Claus
von Günther Büch Peymann, Wien, Burgtheater, 1992
Deutsche Gedichte, 1969 Die Theaterstücke, 1992
Die Innenwelt der Außenwelt der Drei Versuche. Versuch über die
Innenwelt, 1969 Müdigkeit. Versuch über die Jukebox.
Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiele, Versuch über den geglückten Tag, 1992
Aufsätze, 1969 Langsam im Schatten. Gesammelte
Das Mündel will Vormund sein, Regie: Verzettelungen 1980-1992, 1992
Claus Peymann, Theater am Turm, 1969 Die Kunst des Fragens, 1994
Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein
1970, verfilmt von Wim Wenders, ORF, Märchen aus den neuen Zeiten, 1994
WDR, 1972 Eine winterliche Reise zu den Flüssen
Geschichten aus dem Wienerwald von Donau, Save, Morawa und Drina oder
Ödön von Horvath, Nacherzählung, 1970 Gerechtigkeit für Serbien, 1996
Wind und Meer. Vier Hörspiele, 1970 Sommerlicher Nachtrag zu einer
Chronik der laufenden Ereignisse, 1971 winterlichen Reise, 1996
Der Ritt über den Bodensee, 1971 Zurüstungen für die Unsterblichkeit.
Der kurze Brief zum langen Abschied, Königsdrama, Regie: Claus Peymann,
1972 Wien, Burgtheater, 1997
Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, In einer dunklen Nacht ging ich aus
1972 meinem stillen Haus, 1997
Stücke 1, 1972 Am Felsfenster morgens. Und andere
Wunschloses Unglück, 1972 Ortszeiten 1982 - 1987, 1998
Die Unvernünftigen sterben aus, 1973, Ein Wortland. Eine Reise durch Kärnten,
Regie: Horst Zankl, Zürich: Theater am Slowenien, Friaul, Istrien und Dalmatien
Neumarkt, 1974 mit Liesl Ponger, 1998
Stücke 2, 1973 Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum
Als das Wünschen noch geholfen hat. Film vom Krieg, 1999, Uraufführung am
Gedichte, Aufsätze, Texte, Fotos, 1974 Wiener Burgtheater
Der Rand der Wörter. Erzählungen, Lucie im Wald mit den Dingsda. Mit 11
Gedichte, Stücke, 1975 Skizzen des Autors, 1999
Die Stunde der wahren Empfindung, 1975 Unter Tränen fragend. Nachträgliche
Falsche Bewegung, 1975 Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-
Die linkshändige Frau, 1976, verfilmt Durchquerungen im Krieg, März und April
1977 1999, 2000
8
Das Ende des Flanierens. Gedichte, 1977 Der Bildverlust oder Durch die Sierra de
Das Gewicht der Welt. Ein Journal, 1977 Gredos, 2002
Langsame Heimkehr, 1979 Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern,
Die Lehre der Sainte-Victoire, 1980 Bildern und Filmen 1992-2000, 2002
Über die Dörfer, 1981 Rund um das Große Tribunal, 2003
Kindergeschichte, 1981 Untertagblues. Ein Stationendrama, 2003
Die Geschichte des Bleistifts, 1982 Warum eine Küche? (frz./dt.), 2003
Der Chinese des Schmerzes, 1983 Sophokles: Ödipus auf Kolonos, 2003,
Phantasien der Wiederholung, 1983 Übersetzung
Die Wiederholung, 1986 Don Juan (erzählt von ihm selbst), 2004
Der Himmel über Berlin, mit Wim Die Tablas von Daimiel, 2005
Wenders, 1987 Gestern unterwegs. Aufzeichnungen
Die Abwesenheit. Ein Märchen, 1987, November 1987 bis Juli 1990, 2005
verfilmt in der Regie des Autors 1992 Spuren der Verirrten, 2006
Gedichte, 1987 Kali. Eine Vorwintergeschichte, 2007
Leben ohne Poesie. Gedichte, 2007
Nachmittag eines Schriftstellers, 1987 Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. Essays
1967-2007, 2007
Briefwechsel [Bearbeiten]
Peter Handke/Nicolas Born: Die Hand auf dem Brief. Briefwechsel 1974-1979, in:
Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Nr. 65, Oktober 2005, S. 3 - 34.
Peter Handke/Hermann Lenz: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel. Insel Verlag,
Frankfurt am Main 2006, 459 S., ISBN 978-3-458-17335-9
Peter Handke/Alfred Kolleritsch: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Jung und
Jung, Salzburg/Wien 2008, 294 S., ISBN 978-3-902497-38-3
Gespräche [Bearbeiten]
Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch mit Peter Handke, geführt von
Herbert Gramper. Zürich 1987
André Müller im Gespräch mit Peter Handke. Weitra 1993
Janko Ferk/Michael Maier: Die Geographie des Menschen. Wien 1993
Peter Handke/Peter Hamm: Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo.
Wallstein, Göttingen 2006, 184 S., ISBN 978-3-8353-0040-8
Peter Handke: ... und machte mich auf, meinen Namen zu suchen.... Peter Handke im Gespräch
mit Michael Kerbler. Klagenfurt 2007, 68 S., ISBN 978-3-85129-543-6
Filmografie [Bearbeiten]
Drehbuch [Bearbeiten]
Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, 1970, Regie: Wim Wenders, Produktion: WDR
Falsche Bewegung, 1975, Regie: Wim Wenders, Produktion: WDR
9
Der Himmel über Berlin, 1987, Drehbuch mit Wim Wenders, der auch Regie führte
Tonträger [Bearbeiten]
Übersetzungen [Bearbeiten]
Handke ist Übersetzer folgender Autoren: Adonis, Aischylos, Dimitri T. Analis, Bruno Bayen,
Emmanuel Bove, René Char, Jean Genet, Georges-Arthur Goldschmidt, Julien Green, Gustav Januš,
Florjan Lipuš, Patrick Modiano, Walker Percy, Francis Ponge, William Shakespeare, Sophokles
Literatur [Bearbeiten]
Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Peter Handke. edition text + kritik 24/24a (1969; 1971; 1976;
1978; 1989; 1999 jeweils mit fortgeschriebener, detaillierter Bibliographie)
Thomas Deichmann (Hrsg.): Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-518-39406-1
Wolfram Frietsch: Peter Handke – C. G. Jung: Selbstsuche - Selbstfindung - Selbstwerdung.
Der Individuationsprozess in der modernen Literatur am Beispiel von Peter Handkes Texten.
scientia nova, Gaggenau 2006, 2. Auflage, ISBN 978-3-935164-01-6
Gerhard Fuchs und Gerhard Melzer (Hrsg.): Peter Handke. In: Dossier Extra. Peter Handke.
Droschl, Graz 1993, ISBN 3-85420-337-3.
Adolf Haslinger: Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers, 1999, ISBN 3-518-38970-X
Hans Höller: Peter Handke. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2007. ISBN 978-3-499-50663-5
Carlo Avventi: Mit den Augen des richtigen Wortes. Wahrnehmung und Kommunikation im
Werk Wim Wenders und Peter Handkes. Gardez!-Verlag, Remscheid 2004, 255 S., ISBN 978-
3-89796-126-5, Dissertation [19]
Peter Jamin: Der Handke-Skandal - Wie die Debatte um den Heinrich-Heine-Preis die
Kulturgesellschaft entblößte. Gardez!-Verlag, Remscheid 2006, ISBN 3-89796-180-6
Louise L. Lambrichs: Le cas Handke: conversation à bâtons rompus. Inventaire/Invention,
2003, französisch
Rainer Nägele, Renate Voris: Peter Handke. Autorenbücher. In: Heinz Ludwig Arnold und
Ernst-Peter Wieckenburg (Hrsg.): Autorenbücher. 8, Beck, München 1978, ISBN 3-406-
07118-X.
10
Georg Pichler: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine Biografie. Wien, 2002,
ISBN 3-8000-3883-8
Carsten Rohde: Träumen und Gehen. Peter Handkes geopoetische Prosa seit Langsame
Heimkehr. Wehrhahn Verlag, Hannover 2006, ISBN 978-3-86525-045-2
Michael Scharang (Hrsg.): Über Peter Handke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1972.
Andreas Schirmer: Peter-Handke-Wörterbuch. Prolegomena. Mit 619 begonnenen Artikeln
auf einer CD-ROM. Praesens Verlag, Wien 2007, ISBN 978-3-7069-0441-4
Katja Thomas: Poetik des Zerstörten. Zum Zusammenspiel von Text und Wahrnehmung bei
Peter Handke und Juli Zeh. VDM Verlag Dr. Müller 2007, ISBN 3836427532
Rhea Thönges-Stringaris: Je länger aber das Ereignis sich entfernt ... - zu Joseph Beuys und
Peter Handke. FIU-Verlag, Wangen/Allgäu 2002 (Originalttext von Handke zu Beuys und
Interview mit Johannes Stüttgen zur Lage im Kosovo 1999) ISBN 978-3928780278
Dokumentarfilme [Bearbeiten]
Gero von Boehm begegnet Peter Handke. Gespräch, 2008, 45 Min., Produktion: Erstsendung:
26. Mai 2008, Inhaltsangabe
Volker Panzer trifft Peter Handke. Gespräch, 63 Min., Produktion: ZDF-Nachtstudio,
Erstsendung: 10. März 2008, online-Video
Weblinks [Bearbeiten]
Einzelnachweise [Bearbeiten]
11
mich. Ich frage. Eben deshalb bin ich heute hier zugegen.“
Grabrede, übersetzt von Johannes Willms
(„Le monde, le prétendu monde, sait tout sur Slobodan
Milošević. Le prétendu monde sait la vérité. C'est pour ça
que le prétendu monde est absent aujourd'hui, et pas
seulement aujourd'hui, et pas seulement ici [...]. Je ne sais
pas la vérité. Mais je regarde. J'entends. Je sens. Je me
rappelle. Je questionne. C'est pour ça que je suis présent
aujourd'hui.“)
7. ↑ Berliner Heinrich-Heine-Preis
8. ↑ Klaus Stein: „Nach Peter Handkes Verzicht auf den
Düsseldorfer Preis: Krähwinkels Magistrat wird wieder
frech“, Neue Rheinische Zeitung, 20. Juni 2006
9. ↑ „Handke lehnt Alternativpreis ab“, Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 22. Juni 2006
10. ↑ „Berliner Ensemble: Berliner Heine-Preis für Handke“,
dpa/Die Zeit, 22. Februar 2007
11. ↑ Eckart Spoo: „Bei den Serben im Kosovo – Teil III“, Neue
Rheinische Zeitung, 23. Mai 2007
12. ↑ Wolfgang Büscher: „Ich wollte Zeuge sein“, Die Zeit, 12.
April 2007
13. ↑ „Serbien: Peter Handke unterstützt Nationalisten“,
Süddeutsche Zeitung, 23. Januar 2008
14. ↑ Ulrich Weinzierl: „Kommentar. Peter Handke nervt
wieder“, Die Welt, 25. Januar 2008
15. ↑ Le Figaro in französisch
16. ↑ Paul Jandl: „Jahreszeiten des Schreibens - Das
Österreichische Literaturarchiv kauft Peter Handkes
Vorlass“, NZZ, 19. Dezember 2007
17. ↑ „Literaturarchiv: Marbacher Archiv erwirbt Handke-
Tagebücher“, Die Zeit, 6. Januar 2008; auch Der Spiegel, Nr.
2, 2008, S. 143
18. ↑ Thomas Steinfeld: „Handke und kein Preis. Die
Selbstinszenierung der üblen Nachrede“, Süddeutsche
Zeitung, 31. Mai 2006
19. ↑ Rezension von «Wahrnehmung und Kommunikation im
Werk Wim Wenders und Peter Handkes.»
Von „http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Handke“
Peter Handke
12
Büchner-Preises, der wichtigsten deutschen
Literaturauszeichnung...
Biografie
13
beschreibenden Literatur mit dem Anspruch des Realismus ab. In den
Jahren von 1969 bis 1970 lebte Handke in Paris. Danach kehrte er nach
Deutschland zurück.
Einen Rückblick auf Handkes Tätigkeiten enthält auch der Titel "In
einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus" (1997). Zu
seinen weiteren Werken zählen unter anderem
"Publikumsbeschimpfungen und andere Sprechstücke" (1966), "Der
Hausierer" (1967), "Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt"
(1969), "Chronik der laufenden Ereignisse" (1971), "Der Rand der
Wörter, Erzählungen, Gedichte, Stücke" (1975), und "Das Gewicht der
Welt. Ein Journal" aus dem Jahr 1977.
In den 1980er Jahren folgten Werke wie "Die Geschichte des Bleistifts"
(1982), "Nachmittag eines Schriftstellers" (1987), "Die Stunde da wir
nichts voneinander wussten" (1992), "Eine winterliche Reise zu den
14
Flüssen Donau, Save Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für
Serbien" (1996), "Lucie im Wald mit den Dingsda" (1999) oder "Unter
Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-
Durchquerungen im Krieg, März und April 1999" (2000).
Am 8. Juni 2006 erklärte er seinen Verzicht auf den mit 50.000 Euro
dotierten Literaturpreis. In der Begründung erklärte Handke, er wolle
weder seine Person noch sein Werk weiterhin den "Pöbeleien" von
Lokalpolitikern ausgesetzt sehen. Die von der Jury beschlossene und
vom Düsseldorfer Stadtrat wieder in Frage gestellte Auszeichnung
Handkes war wegen seines Eintretens für die serbische Politik und
seiner Teilnahme an der Beerdigung des früheren Machthabers
Slobodan Milosevic indes international heftig kritisiert worden.
15
Peter Handke in einem kuriosen Gespräch
Er ist umstritten - und zugleich als Schriftsteller hochgeachtet. Jetzt äußert sich Peter Handke erstmals seit vielen Jahre
in einem TV-Interview, das in der Nacht zum Montag ausgestrahlt wur
Von Claudia Tieschky
16
Peter Handke veröffentlichte jüngst "Die morawische Nacht", nun
äußert er sich erstmals seit langem im TV.
Archivfoto: AP
Ein TV-Besuch des österreichischen Schriftstellers Peter Handke ist immer ein Ereignis, seit er 2003 seinen Rück
Öffentlichkeit erklärt hat. Zuweilen nämlich sagt Handke genau wie Howard Carpendale "Na und" zum Auftrittsverzich
Jetzt kam er vom Pariser Vorort, in dem er lebt, zu "Nachtstudio"-Moderator Volker Panzer, der für das Treffen in die
Hauptstadt gereist war. Dass "einer der wichtigsten und umstrittensten Dichter der Gegenwart" Panzer 60 Minuten lan
Antwort steht, beweist, dass Fernsehen ein Kulturereignis sein kann", jubelt das ZDF in der Programmankündigung.
Handke, 65, kam nach eigenem Bekunden keineswegs deshalb, weil gerade sein neuer Roman "Die morawische N
Buchhandlungen liegt. Nein. Er sei gekommen, weil ihm langweilig sei, sprach der Dichter: "Warum soll ich nicht Leut
ich nicht kenne und mir anhören, was sie zu erzählen haben über meine Scheißbücher." Das ist der Sound, für den der L
lieben kann.
17
Das Spiel ist aus
Für Moderatoren ist der Autor der "Publikumsbeschimpfung" nicht so leicht zu verkraften, Handke gilt als sch
Interviewpartner und kann bei Fragen zu seiner Serbien-Sympathie bedrohlich wirken.
Als die ORF-Journalistin Katja Gasser ihn im Januar famos und hartnäckig befragte, half er sich mit dem S
Generalintendanz habe ihr wohl diese Fragen aufgetragen - ziemlich herablassende Ach-Kindchen-Rhetorik
Alphamänner. Gasser, 32, hob das Köpfchen und beschied, die Generalintendanz trage ihr bitteschön gar nichts auf.
Volker Panzer musste in Paris kein Köpfchen heben. Er legte sich dem Schriftsteller gleich von Anfang an zu Füßen
Flokatiteppich. Dabei kam Handke sogar in Plauderstimmung: Er sprach über das Reisen, das Schreiben, auch über d
Bloß der lächelnde Panzer korrigierte und unterbrach sich selbst fortwährend in diesem kuriosen Nachtgespräch beim k
Widerspruch des Gastes.
Der rügte ihn einmal streng: "Jetzt fragen Sie doch nicht wie die Spiegel-Leute!" Sogar ein angekündigter Archivfilm
1975 im Disput mit Franz Xaver Kroetz in der ZDF-Sendung Literatour) wurde umgehend gestrichen, weil der Dich
klagte, das wolle er nicht sehen. Immerhin gab Handke preis: "Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist Wohnen."
Das hätte man ja nicht gedacht. Als der ZDF-Mann die Serbien-Frage wagte, maulte Handke: "Wenn ich Ihnen 1000 Eu
hören Sie dann damit auf?" Panzer hörte sogar auf, ohne das Geld zu nehmen.
Sein Ehrgeiz im Alter sei es, "die Heiterkeit zu steigern", hatte Handke am Anfang des Gesprächs erklärt. Es zeigt s
Fernsehen kann da prima helfen.
Peter Handke: Der wilde Mann
Kurzbiographie
o 1942 in Griffen (Kärnten) geboren
o 1969 Erzählung "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter"
o 1971 Buch "Der kurze Brief zum langen Abschied"
o 1972 Erzählung "Wunschloses Unglück"
o 1976 Erzählung "Die linkshändige Frau"
o 1977 Journal "Das Gewicht der Welt"
o 1979 Buch "Langsame Heimkehr"
o 1990 Erzählung "Versuch über die Jukebox"
o 2003 Buch "Untertagblues"
o 2004 Buch "Don Juan"
18
Peter Handke in seiner eigenen Schreibe
HANDKE, Peter (1975): Die privaten Weltkriege der Patricia Highsmith,
in: Spiegel Nr3
Peter Handke im Gespräch
SCHREIBER, Hermann (1978): "Und plötzlich ist das Paar wieder denkbar".
Spiegel-Interview mit dem Schriftsteller Peter Handke über Gefahren und Chancen des
Alleinlebens,
in: Spiegel Nr.28 v. 10.07.
o Kommentar:
Im Rahmen der ersten deutschen Single-Serie interviewt Hermann
SCHREIBER den Schriftsteller:
"SPIEGEL: Das Alleinsein ist zentrales Thema in mehr als nur einem
Ihrer Bücher, Herr Handke. »Das Gewicht der Welt« handelt davon, und
auch "Die linkshändige Frau" hat entscheidend damit zu tun. Warum
beschäftigt den Schriftsteller Peter Handke das Alleinsein so intensiv?
HANDKE: Weil es evident geworden ist. Weil es die Mitte der Existenz
ausmacht."
Wie kommt es nach HANDKE zum Alleinleben?:
"Ich glaube, man kann sich nicht entschließen zum Alleinleben. Es muß
eine Art Katastrophe ereignen. Es muß etwas explodieren in der
vorausbestimmten Biographie. Es muß eine gewaltige Abweichung geben von
dem vorgeträumten Leben."
Nach HANDKE wird durch die Epoche des Alleinlebens das neue Paar
möglich:
"Ich habe einen ganz anderen Eindruck: daß durch den epochalen
Vorgang des Alleinlebens - das ist schon ein epochaler Vorgang, der sich da
aus vielen privaten Fällen zu einer gewissen öffentlichen Kraft zusammenballt
-, daß durch diesen oft gar nicht gewollten Vorgang des Alleinseins und dann
Alleinbleibens allmählich eine sanfte Kraft der Spiritualität entsteht, überall.
Und daß dadurch die Möglichkeit des Paares entsteht, Paare wieder möglich
erscheinen."
19
o Infos zu:
Thomas Steinfeld - Autor der Single-Generation
"Peter Handke erzählt nichts weniger als »die endgültige und die einzig
wahre Geschichte Don Juans«. Genauer gesagt: Er läßt Don Juan selbst
erzählen, sieben Tage lang in einem Maigarten nahe Port-Royal-des-
Champs, und nur ab und an findet sich ein Kommentar desjenigen, dem
die Abenteuer der vergangenen sieben Tage vorgetragen werden. Dieser
Zuhörer bezeugt, daß all die Don Juans im Fernsehen, in der Oper, im
Theater oder auch im »primären Leben« die falschen sind. »Don Juan ist
ein anderer. Ich sah ihn als einen, der treu war - die Treue in Person.« Das
heißt nun nicht, daß die Geschichten mit Frauen, Geschichten von
geglückten Begegnungen und geglückten Abschieden, ausgeblendet
bleiben, im Gegenteil: An jeder Station der Reise, die Don Juan zunächst
zu einer Hochzeit in den Kaukasus führt, dann nach Damaskus, am dritten
Tag in die nordafrikanische Enklave von Ceüta, weiter auf einen
Bootssteg in einem Fjord bei Bergen, zu einer Düne in Holland - überall
trifft er Frauen, mit denen er, energisch trauernd, in eine Zeit des großen
Innehaltens eintauchen kann, in eine Zeit, in der Augenblick und Ewigkeit
in eins fallen."
Pressestimmen
"Was Don Juan antreibt, ihn zum Suchenden macht, ist nicht die einzelne
Frau, es ist das weibliche Ideal an sich. Er findet es in den kurzen
Momenten völligen emotionalen Gleichklangs. Doch selten schafft die
körperliche Vereinigung Intimität. Oft ist es ein Blick oder das
Ineinandergreifen zweier Hände. Die Flüchtigkeit dieser Momente zwingt
Don Juan zur rastlosen Odyssee von Frau zu Frau, von Abschiedsparadies
zu Abschiedsparadies. Sie ist der Grund für seine Trauer, die sein
Schicksal »überpersönlich« und beispielhaft für die Unmöglichkeit
dauerhafter Liebe macht."
(Raoul Löbbert im Rheinischen Merkur vom 29.07.2004)
"Handke kam auf die wahrlich originelle Idee, seinen Don Juan Vater sein
zu lassen, Vater eines toten Kindes. Wo doch die Fortpflanzung in den
Don-Juan-Vorlagen akribisch ausgeklammert wurde!
(...).
Bedenkt man, dass die Figur des Don Juan den Libertin schlechthin
darstellte, den skrupellosen, keiner Moral verpflichteten mordbereiten
Verführer, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass Handke mit
dem Libertinismus und dem Jansenismus zwei geistesgeschichtliche
Sphären miteinander konfrontiert - und damit die Lust mit der Treue, die
Fruchtbarkeit mit der Enthaltsamkeit, den Exzess mit der Askese. Ist es
abwegig zu vermuten, dass Handke die beiden einander ursprünglich
widersprechenden Denk- und Fühlrichtungen miteinander versöhnen
will?"
20
(Ina Hartwig in der Frankfurter Rundschau vom 30.07.2004)
"Mag man (...) das Drama der Leidenschaften vermissen oder die
Dringlichkeit der Probleme «für unsere Zeit», so erweist es sich
gleichwohl als Lehrstück. Nämlich, nicht das Streben nach dem
Gegenständlichen definiert den Akt der Liebe, sondern die Kompetenz
des Abstands."
(Martin Meyer in der Neuen Zürcher Zeitung vom 03.08.2004)
"Handkes Don Juan hat (...) kaum etwas von dem, was die
Stoffgeschichte von ihm verlangt, wohl aber alles, was man von einem
Handkeschen Helden ohnehin erwartet. Er ist also ein Virtuose der
wahren Empfindung und ein Spezialist für erfüllte Augenblicke."
(Ernst Osterkamp in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom
07.08.2004)
"Don Juan ist (...) Gegenzauber und Gegengift gegen die Lebens- und
Erfahrungsleere der zivilisierten Welt, an deren Verwandlung und
Erlösung Handke mehr gelegen ist als an der Wohlgestalt epischer
Formen."
(Iris Radisch in der ZEIT vom 12.08.2004)
Rezensionen
o WEIDERMANN, Volker (2004): Wir wollen nicht mehr einsam sein.
Als ich mich fand in einem dunklen Walde, abgeirrt vom rechten Wege: Die
neuen Bücher von Peter Handke und Martin Walser,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 18.07.
Infos zu:
Volker Weidermann - Autor der Generation Golf
o LÖBBERT, Raoul (2004): Zauber des Ungefähren.
21
Meisterhaft. Peter Handke findet mit seinem neuesten Werk endlich wieder zu
alter Klasse zurück,
in: Rheinsicher Merkur Nr.31 v. 29.07.
o HARTWIG, Ina (2004): (Kein) Verführer von Gnaden.
Wer er ist, man wird es nicht erfahren: Peter Handkes "Don Juan (erzählt von
ihm selbst)" balanciert geschickt zwischen Lust und Diskretion,
in: Frankfurter Rundschau v. 30.07.
Infos zu:
Ina Hartwig - Autorin der Single-Generation
o MAGENAU, Jörg (2004): Wahre Empfindungen.
Innere Einkehr: Peter Handkes schillernder Roman "Don Juan (erzählt von ihm
selbst)",
in: TAZ v. 31.07.
o ORTHEIL, Hanns-Josef (2004): Don Juan trägt Trauer.
...denn Peter Handke möchte lieber reden als lieben. Er erzählt von sieben Tagen
mit sieben Frauen. In Tiflis und dem Kaukasus, in Damaskus, Nordafrika,
Norwegen und Holland. Und der Koch hört zu,
in: Welt v. 31.07.
Infos zu:
Hanns-Josef Ortheil - Autor der Single-Generation
o DOTZAUER, Georg (2004): Die Woche der klaren Empfindung.
Trauer als Kraft. Peter Handke erzählt von Don Juan und anderen Schemen,
in: Tagesspiegel v. 01.08.
Infos zu:
Georg Dotzauer - Autor der Single-Generation
o HAMMELEHLE, Sebastian (20049: Die wahre Hölle ist die Welt.
In Peter Handkes neuem Roman "Don Juan" triumphiert der Erzähler über den
Verführer,
in: Welt am Sonntag v. 01.08.
o MEYER, Martin (2004): Augenschein der Liebe.
Peter Handke erzählt aus dem Leben von Don Juan,
in: Neue Zürcher Zeitung v. 03.08.
o MÜLLER, Lothar (2004): Mach ihm lieber keine schöne Augen.
Ein Buch des Übermuts: Peter Handke hat den Don Juan der Oper entführt,
in: Süddeutsche Zeitung v. 06.08.
o OSTERKAMP, Ernst (2004): Held der erfüllten Zeit.
Weg von hier: Peter Handke verbringt sieben Nächte mit Don Juan,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 07.08.
o JÄHNER, Harald (2004): Der hohe Ton als brüske Kauzigkeit.
Seit vierzig Jahren liegt Peter Handke im Zwist mit der Gesellschaft. Der Graben
vergrößert sich,
in: Berliner Zeitung v. 09.08.
o Neu:
RADISCH, Iris (2004): Ein Blick, der glücklich macht.
Peter Handke schreibt über Don Juan und ist bewundernswert romantisch und
unzeitgemäß,
in: Die ZEIT Nr.34 v. 12.08.
Infos zu:
Iris Radisch - Autorin der Single-Generation
Untertagblues (2003).
Ein Stationendrama
Frankfurt a/M: Suhrkamp
22
Klappentext
"Bei einer Erinnerung ans frühe Jurastudium taucht das Café wieder auf,
in dem er eine Musik hörte, »bei der er zum ersten Mal im Leben, und
später nur noch in den Augenblicken der Liebe, das erfuhr, was in der
Fachsprache ‚Levitation' heißt, und das er selber mehr als ein
Vierteljahrhundert später wie nennen sollte: ‚Auffahrt'? ‚Entgrenzung'?
‚Weltwerdung'? Ohne zunächst wissen zu wollen, wer die Gruppe war,
deren Stimmen, getragen von den Gitarren, gleichermaßen einzeln,
durcheinander und endlich unisono erbrausten – er hatte in den
Jukeboxen bisher die Allein-Sänger bevorzugt – staunte er einfach. Als er
dann aber bei seinem selten gewordenen Radiohören einmal erfuhr, wie
der Chor der frechen Engelszungen hieß, die mit ihrem mir nichts, dir
nichts hinausgeschmetterten ‚I want to hold your hand', ‚Love me do',
‚Roll over Beethoven' alles Gewicht der Welt von ihm nahmen, wurden
das die ersten sozusagen ‚unernsten' Platten, die er sich kaufte (er kaufte
in der Folge fast nur noch solche). Und heute noch dachte er, das
Anfänger-Schallen der Beatles im Ohr, aus jener von Parkbäumen
23
umstandenen Wurlitzer: Wann würde je wieder solch eine Anmut in die
Welt treten?«
Hier sind E- und U-Kultur dasselbe, hier gibt es keine Grenzen mehr."
(Helmut Böttiger im Tagesspiegel vom 06.12.2002)
"Alle ein bisschen angegroovten Frauen der siebziger Jahre lesen »Die
linkshändige Frau«: Man ist links, feministisch und wenn überhaupt,
dann allein erziehend. Man findet sich in der linkshändigen Frau wieder."
(Helmut Böttiger im Tagesspiegel vom 06.12.2002)
Schlagworte:
Erzählung
Belletristik
Literatur
Kultur
Peter Handke erzählt in seinem neuen Buch »Die morawische Nacht« das große Zaubermärchen
seines Lebens
24
Peter Handke lässt in seinem neuen Buch einen »abgedankten Autor« zu Wort kommen
© AFP/Getty Images
Eine der wichtigsten Unterscheidungen in der Literatur ist die zwischen den Ein-Buch-Schreibern und
den Viel-Buch-Schreibern. Viel-Buch-Schreiber gibt es wie Sand am Meer. Das Viel-Buch-Schreiben
ist die übliche, allgemein verbreitete literarische Praxis. Die Ein-Buch-Schreiber, die ihr ganzes Leben
lang Buch für Buch an einem einzigen großen Lebensbuch schreiben, sind eher selten. Zu ihnen
gehören auffallend viele österreichische und französische Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Zu
ihnen gehört auch der in Frankreich lebende Österreicher Peter Handke.
Das neue, 560 Seiten lange Buch Die morawische Nacht von Peter Handke ist deswegen kein wirklich
neues Buch. Die lange Erzählung einer Bus-, Flug- und Fußreise durch Europa auf den Spuren seines
eigenen Lebens und Schreibens ist vielmehr, was leicht vorauszusehen war: eine Fortsetzung seines
Lebensbuches, zu dem bereits die vorangegangenen Kapitel Langsame Heimkehr, Die Wiederholung,
Versuch über die Jukebox, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem Haus, Mein Jahr in der
Niemandsbucht und Der Bildverlust gehören.
Ein Ende oder Ziel dieses Lebensbuches ist nicht abzusehen. Um »Fortschritte« im gebräuchlichen,
also abendländischen Sinn des Wortes scheint es dabei nicht zu gehen. Wenn es überhaupt ein Ziel
gibt, dann ist es allenfalls die Fortsetzung, das Weitererzählen selbst. Möglicherweise geht es dabei
auch ein wenig – es handelt sich bei den Ein-Buch-Autoren schließlich vorwiegend um solche des
katholischen Kulturraumes – um das Weitersprechen der Litanei.
Damit ist noch nicht viel gesagt, aber vielleicht doch das Entscheidende. Denn auch darin ähneln sich
alle genannten Bücher von Peter Handke: Ihre jeweilige (und von Buch zu Buch immer
halsbrecherischere) Erzählkonstruktion ist nur ein Vorwand für ein – von jedem schwer verdaulichen
realistischen Erzählstoff weitgehend befreites – Vor-sich-hin-Erzählen, Vor-sich-hin-Räsonieren und
Vor-sich-hin-Zaubern. Orte, Namen, Landschaften und Figuren – die gesamte irdische Dekoration
verblasst in Peter Handkes Büchern angesichts dieses Willens zum reinen, auch rein absichtslosen
Erzählen.
Meistgelesen
Der Preis dafür ist eine gewisse Unschärfe. Leser und Autor sind derartig mit den nahen Einzelheiten
der sogenannten »nebendraußen« liegenden Welt beschäftigt, dass ein umfassendes Bild sich nicht
einstellt. Der Karst, das spanische Hochplateau, die balkanische Enklave – die alten Stammgebiete der
Bücher Peter Handkes kommen auch in diesem neuen wieder nur in der Miniaturaufnahme
ausgesuchter und erlesener Winzigkeiten ins Bild. Ihre Topografie, ihr Zeitkolorit, ihre
Eigengeschichte verschwinden im alles sich anverwandelnden Erzählstrom.
»Eine Geographie der Träume« nennt Handke dieses Verfahren, das ihm nur einmal Unglück brachte,
als er seine viel bewunderte Geo-Poesie in der Winterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save,
Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien im Balkankriegsjahr 1996 in den Dienst serbischer
Geopolitik stellte. Mit der Morawischen Nacht will er sich von dieser verstörenden Parteinahme
verabschieden: »Schuldig gemacht, so noch immer seine Vorstellung, hatte er sich doch, indem er das
Nationaldichterspiel, und wenn auch halbherzig, mitspielte, bleibend schuldig. Und warum hatte er
mitgespielt? Vielleicht, weil er seinerzeit, für eine kleine Weile, in der Tat an etwas wie eine andere
Nation glaubte, überhaupt an grundandere Nationen, und meinte, die mitverkörpern zu können.«
25
Die neue Erzählung führt zurück in das während der Serbienreise vor zwölf Jahren gemeinsam mit den
Reisegefährten Zlatko und Zarko besuchte serbische Dorf Porodin (100 Kilometer von Belgrad, 16
von Velika Plana entfernt), in dem Zlatkos Eltern, »nah dem Mittserbenfluß Morawa«, einen
Weinbauernhof betrieben. Handke gefielen damals der »erztrübe wie klarschmeckende
Eigenbauwein« und die »himmelaufweidenden Schafe«.
Der »ehemalige Autor«, Erzähler und Gastgeber in der Morawischen Nacht, lebt seit dieser Zeit in
einem Hausboot auf der Morawa nahe Porodin, mitten in Serbien. Das Boot hat er – Ironie des
Verzweifelten – mit »der übergroßen Flagge eines längst versunkenen oder abgestunkenen Landes
ausstaffiert« und mit deren »ominösen Farben« bemalt. Hier residiert er mit einer ihm ergebenen und
angelegentlich verprügelten Gefährtin, die sich, als die Freunde zum »Nachtmahl« erscheinen, »außer
später für das stumme Abräumen«, in die Küche zurückzieht – »Überbleibsel der sonst fast
verschwundenen balkanischen Sitten« und Ausweis der vormodernen männerbündlerischen
Sehnsüchte ihres wie eh und je gegenwartsmüden Bewunderers. Wie so oft bei diesem Autor der
wahren Empfindung und der begriffsauflösenden Genauigkeit finden seine Frauengestalten auch in
diesem langen Buch aus den abgenutzten Rollenklischees als stumme Schönheit, Dienerin,
Quartiermacherin, unschuldige, hingebungsvolle Leserin und »schönes junges Ding« nicht heraus.
Das Wort Serbien, Großserbien oder serbisch sucht man in diesem Buch vergeblich. Nur einmal ist
von dem »Hirngespinst« eines »zusammenhängenden großen Landes auf dem Balkan«, dem nur noch
drei verlorene Nostalgiker nachhängen, die Rede. Das »versunkene Land« ist nunmehr Teil eines
umfassenden Kosmos des Ehemaligen und Verschwundenen geworden. Der »ehemalige Autor« teilt
sich diesen Status mit so ziemlich allem, was ihm auf seiner Reise begegnet, den stillgelegten
Gehöften in Spanien, den verschwundenen Weinbergen in Serbien, den überwucherten Obstgärten in
Kärnten, dem wie vom Boden verschluckten Fischerdorf auf der Adria-Insel, den verlorenen Bildern
(das war schon das große Thema des Romans Der Bildverlust) und den verlorenen Geräuschen (der
Geräuschverlust und die »Lärmkrankheit« spielen in diesem Buch eine besondere, auch besonders
anrührende Rolle). Einstig und ehemalig ist die halbe Welt, Opfer der Neuzeit und von deren
Verwüstungen.
In der Urschrift seiner Moderne- und Kapitalismuskritik, der Lehre der Sainte-Victoire aus dem Jahr
1980, zitiert Handke den Maler Paul Cézanne mit den prophetischen Worten: Man müsse sich beeilen,
wenn man noch etwas sehen wolle. Alles verschwinde. Schon in einigen hundert Jahren werde alles
verflacht sein.
Dahin ist man in diesem Buch schon lange vor der geweissagten Zeit gekommen: Die Welt ist flach
oder verflacht. Sie ist entzaubert. Sie ist – dieser Analyse widmet Handke im neuen Buch einen langen
Abschnitt im mittelmäßig parodierten Zeitungsglossenstil – überall »mittel-europäisch« geworden.
Immer wieder nennt der Erzähler sie einfach »leer«. Sie hat keine Tiefe, keine Schönheit und keine
»Balkanklarinetten« mehr. Auch keine Märchen. »Oder bestenfalls in Bruchstücken, Märchen, die
eine Sekunde dauern« – das jedenfalls legt Handke dem »Zaubermärchenschreiber« Ferdinand
Raimund, mit dem sein abgedankter Autor auf der Reise Zwiesprache hält, in den Mund.
Das alles wäre zum Verzweifeln. Wenn es nicht Peter Handke und sein großes vielbändiges
Lebenswerk der Wiedergutmachung gäbe. Seine wichtigsten persönlichen und beruflichen Stationen
der Wiedergutmachung werden in dieser nächtlichen Reiseerzählung auf dem Hausboot an der
Morawa noch einmal abgeschritten. Die nächtliche Erzählung wird immer wieder unterbrochen von
einem kecken »Zwischenfrager« und zeitweilig assistiert von den ehemaligen Reisegefährten, die alle
in dieser Nacht zum letzten Abendmahl »gerufen« wurden und am Ende (so hochkomplex und dreimal
um die Ecke gedacht geht es zu in märchenloser Zeit) auch die schriftliche Nacherzählung dieser
mündlichen Erzählung besorgt haben. Wer hierbei an die Jünger Jesu und das nachträgliche Verfassen
der Evangelien denkt, muss nicht ganz falsch liegen.
Bitte nicht noch einen Orakelsprecher, nicht noch ein schaukelndes Kamel!
26
Alle bekannten Ärgernisse und Freuden des Handkeschen Erzählens der letzten Jahrzehnte begegnen
einem in diesem Buch wieder. Das sorgsam inszenierte Stottern, das Verzögern, Fragen, Nachstoßen,
die höhere Umstandskrämerei, das selbstironische Dazwischenfahren, die hochfahrenden Ansprachen
wie auf dem Literatur-Parteitagsgelände, die stets rechtzeitig ins Possierlich-Abstruse oder
Fantastische abbiegen. Aber auch die Strohfeuer der immer noch anheimelnderen Formulierung, der
noch runderen Sprachrundung, des noch archaischeren Sprachbildes, die überall im kalkuliert
durchgestylten Text wie kleine Kunst-Sprachwärme-Öfchen flackern und Wärme, Geborgenheit und
Idylle simulieren, wo es erklärtermaßen nichts mehr zu simulieren gibt. Manche Sprachprovokationen
zielen umstandslos ins gutbürgerlich Gediegene, andere ins Ding-Sprachliche und feierlich Naive.
Sympathisch an diesem gezierten Erzählen ist durchweg seine Vielstimmigkeit, Uneinheitlichkeit und
Verspieltheit. Das Störrische steht unverbunden neben dem Kitsch, das Parodistische neben dem
Pathetischen, die mutwillige Übertreibung neben dem schönen Leichtsinn, das Peinliche neben dem
Bezaubernden. Nichts ist mehr ganz und spricht mit einer Stimme – deutlicher, auch kunstvoller kann
man diese Verlustanzeige nicht aufgeben.
Die Reise führt per Bus quer durch Serbien zu einem (natürlich verschwundenen) serbischen Friedhof,
dann auf die kroatische Insel Cordura (im wahren Leben Krk), wo der Autor seinen ersten Roman (Die
Hornissen) verfasst hat. Hier erinnert er sich der alten Zeit, trifft eine ehemalige Geliebte wieder, die
inzwischen zur Bettlerin geworden ist. Im spanischen Numancia nimmt er an einem Kongress über die
erkrankten und irre gewordenen Geräusche teil (»der Schrei eines Eichelhähers ahmt, scheint es, das
Zerreißen einer Alufolie nach«), trifft einen alten Steppenwandergefährten und erinnert sich daran,
dort ein zweites Buch geschrieben zu haben.
In Deutschland (»ein friedlicheres Land als dieses sollte er nicht durchwandert haben«) besucht er das
Grab seines kaum gekannten Vaters und lässt sich dort von einem in ein altes Weib verzauberten
Schmetterling als »verdammter Vaterloser« beschimpfen. In Österreich, wo er sich über die »ganz
ungewohnte Souveränität« freut, die womöglich auf ein neues »drittes Europa« vorausdeutet, freut er
sich an der Beschaulichkeit des Kleingärtnerwesens in den Donauauen. Wunderbar sind seine
Miniaturen des Vorortlebens: die »Mausefallen auf der Verandabrüstung«, das »Riesenthermometer
an der Hauswand, mit fehlender Quecksilbersäule«, der »verwitterte, zerbrochene Pinsel im Staub, mit
starrverklebten Borsten«, der »Hackklotz ohne Hacke, zerfranst und zerschlissen wie nur ein
Hackklotz«, aus denen sich die Anwesenheit der Bewohner als »Umriß in der grauen Ostwindluft«
erahnen lässt. Hier trifft der ehemalige Autor seine ehemaligen Romanfiguren und nimmt an einem
»Weltmaultrommeltreffen« in einem ehemaligen »Gasthaus der Namenlosen« teil.
Das alles ist so karnevalesk und traumwandlerisch, dass man sich doch schon wieder in einem
dauerhaften und nicht bloß in einem Sekunden-Märchen zu befinden scheint. Doch anders als im
echten Märchen, mit seinen grausamen und unbezwingbaren Geboten, ist im Handke-Märchen alles
möglich und wie in der Computeranimation vollständig widerstands- und folgenlos. Am Ziel der
Reise, dem Kindheitsdorf, hat das blumenkinderhafte Delirieren seinen Höhepunkt. Asiaten,
Mongolen und »Muldenheilige« campieren im Bombentrichter des »ehemaligen« Obstgartens, tote
Ahnen und ein »ehemaliger« Lehrbeauftragter für Weltliteratur spuken über die »Alte Straße« zum
Dorf. Im Keller des Mutterhauses hat sich eine Krypta aufgetan, in der sich die Fernfahrer, die
Einheimischen und die muslimischen Zugezogenen zum Gebet versammeln.
Das klingt so furchtbar, wie es ist: Das Wunderbare und das Wunder, die alten Waffen der Literatur
gegen den Materialismus und den kurzsichtigen Vernunftglauben, büßen durch einen derartig
übermäßigen Gebrauch ihre Kraft ein. Peter Handke mag in seinem schönen Bemühen, die entzauberte
Welt wieder zu verzaubern, immer mehr und immer erstaunlichere Märcheneffekte aufeinandertürmen
– durch die bloße Steigerung und endlose Addition dieser Effekte stellen sich die erwünschte
Himmelfahrt und die auch in diesem Buch vielfach beschworene »Entrückung« nicht ein. Eher
Langeweile und ein gewisser Märchenüberdruss. Bitte jetzt nicht noch eine herumspukende
Großmutter, nicht noch einen herbeiflatternden Orakelsprecher, nicht noch ein vorbeischaukelndes
Kamel!
27
Vor lauter Budenzauber übersieht man dann leicht das Herzstück dieser Erzählung: die Rede der toten
Mutter im Traum. Sie spricht ihren verlorenen Sohn los von jeder Schuld, nicht zuletzt von der an
ihrem Tod (Handkes Mutter hat im Jahr 1971 Selbstmord begangen), und bittet um Erbarmen, »genug
der Selbstmarter und des Marterns der anderen«. Befreit von der Last der toten Mutter, befreit von der
Last des Nationaldichtertums und der Liebe (für die er sich allerdings noch nie besonders interessiert
hat), befreit von allem, kehrt der abgedankte Autor nach Hause zurück, wo er nichts und niemanden
mehr vorfindet. Der Autor ist, was er schon immer war: mit sich allein.
Eine lange Reise zu sich selbst liegt hinter ihm. Wir haben allen Grund anzunehmen, dass es ihm
danach gut geht. Auf den letzten Seiten sehen wir ihn friedlich, von herbeieilendem Himmelsgeflügel
umflattert. Sicherlich schreibt er schon wieder. Immer weiter an diesem endlosen Buch seiner selbst,
das jetzt nur vorübergehend von der Bildfläche verschwindet.
Der Schriftsteller Peter Handke, die öffentliche Meinung und der Krieg in Jugoslawien
Während viele deutschsprachige Künstler während des Kosovo-Kriegs die Deckung suchten, hat der
österreichische Schriftsteller Peter Handke von Beginn an die NATO-Aktionen scharf als Verbrechen
verurteilt. "Moral ist ein neues Wort für Willkür", entgegnet er schließlich am 15. Mai in einem
Interview mit der Süddeutschen Zeitung all denjenigen, die wie die Schriftsteller Günter Grass, Stefan
Heym, Hans Magnus Enzensberger, die Kabarettistin Ellen Tiedtke oder der Sänger der bekannten
Kölner Rockgruppe BAP Wolfgang Niedekken die Bombardierung des Kosovo aus Gründen der
Moral unterstützten, schwiegen oder für ein Eingreifen der UNO eintraten.
"Mit Bildern und Worten kann man am meisten schwindeln und am meisten verdienen", hält er an
anderer Stelle den offiziellen Medienberichten über die "Massenabschlachtungen" der Serben vor:
"Niemand weiß, was im Kosovo passiert, denn niemand kann hinein... Die Flüchtlinge sagen doch alle
das gleiche. Muß das deshalb glaubhaft sein?" (1) Handke drehte den Spieß der offiziellen
Rechtfertigungen für die Bombenangriffe um, indem er erklärte, die NATO hätte kein neuesAuschwitz
verhindert, sondern ein neues Auschwitz geschaffen. "Damals waren es Gashähne und
Genickschußkammern; heute sind es Computer-Killer aus 5000 Meter Höhe." (2)
Handke trat bereits zwei Tage nach den ersten Bomben mit einem Offenen Brief an die Öffentlichkeit,
in dem von "grüne(n) Schlächter(n)" die Rede ist (3) und fordert schließlich "den deutschen
Tötungsminister" (Scharping), der ihm noch vor Monaten zum Geburtstag gratuliert hatte, auf, "er
möge mir meine Bücher zurückschicken". (4) Handke greift den Soziologen und Philosophen Jürgen
Habermas für dessen moralische Unterstützung des Krieges an, unternimmt mehrere kurze Reisen
nach Serbien und gibt den 1973 an ihn verliehenen Büchnerpreis, die höchste Auszeichnung für
deutschsprachige Schriftsteller zurück.
Die Medien überschütten ihn mit Schmähungen. Nicht nur deutschsprachige Schriftstellerkollegen
wenden sich von ihm ab. "Es gibt Intellektuelle, die sich nach seinen Äußerungen über den
Jugoslawienkrieg geschworen haben, nie wieder ein Buch von ihm in die Hand zu nehmen", meldet
Susan Sonntag aus New York, während der französische Philosoph Alain Finkielkraut in Handke ein
"ideologisches Monster" sieht, aus dem das "germanische schlechte Gewissen" spreche und die
"Überzeugung, ein unangreifbares Genie zu sein".
Einen Höhepunkt erreicht die Kampagne, als sich Mitte Mai die Schauspielerin Marie Colbin mit
einem Offenen Brief zu Wort meldet, in dem sie private, scheinbar auch handgreifliche
Auseinandersetzungen in ihrem früheren Zusammenleben mit Handke hervorkramt, um ihn als
gewaltverherrlichenden, machthungrigen Menschen und "eitlen Schreiber,... der sich sonnt in der
Rolle des ‚einsamen Rufers‘" der Öffentlichkeit zu repräsentieren, und ihr Fazit zu ziehen: "Du bist
ein Ideologe des modernen Balkanfaschismus." (5)
28
Die Berliner Zeitung unterstreicht die Abgehobenheit und Weltfremdheit Handkes, kritisiert das
literarische Werk des international anerkannten Autors als "narzißtisch versponnen", als Versuch, an
einem "poetischen Paralleluniversum" zu arbeiten, "das er in den vergangenen Jahren zunehmend zur
Trutzburg gegen die wirkliche Welt ausgebaut hat". (6) Der Schweizer Schriftsteller Laederach
bezeichnet Handkes jüngste Äußerungen zum Kosovo-Krieg als Fall "fortschreitender geistiger
Umnebelung", während das Deutsch-Schweizer PEN-Zentrum, in ihm einen "verblendeten
Elfenbeinbewohner" sieht, aus dessen "proserbischen Entgleisungen", wie laut BZ ihr Generalsekretär
in Zürich hinzufügt, ein "besonders unerträglicher Zynismus" spreche. (7)
Nichts aus Handkes öffentlichen Äußerungen läßt indes darauf schließen, daß er ein Anhänger des
serbischen Nationalisten Milosewic und seiner Politik ist. Wer seine Veröffentlichungen der letzten
Jahre verfolgt hat, kann sich davon überzeugen. In dem neuen, von Claus Peymann im Juni am Wiener
Burgtheater uraufgeführten Handke-Stück über den Jugoslawienkrieg Die Fahrt im Einbaum oder Das
Stück zum Film vom Krieg ist ebenfalls keine Spur von Serbenverherrlichung zu entdecken.
Handke hatte zunächst gegenüber dem österreichischen Magazin News erklärt, Milosewic sei "der
gewählte Präsident des Landes" und habe "das Territorium seines Landes zu verteidigen". "Jeder an
seiner Stelle in den letzten zehn Jahren hätte genauso handeln müssen wie er. Ihm blieb keine Wahl."
(8) In dem bereits oben zitierten Interview der SZ sagt er eindeutig: "Ich bin mit dem serbischen Volk,
nicht mit Milosewic. Wer nicht prononciert antiserbisch ist, der hat als ‚Pro-Serbe‘ verschmäht zu
werden. Wer bei ‚Milosewic‘ nicht unverzüglich hinzufügt: ‚Schlächter‘, ‚Hitler des Balkan‘,
‚Gottseibeiuns‘, der ergreift Partei für ‚Milosewic‘...", und fügte in diesem Zusammenhang
polemisierend hinzu: "Pro-Serbe ist für mich heute ein Ehrentitel."
Schon vor einigen Jahren trat Handke öffentlich gegen die einseitige Verteufelung der Serben im
Bosnien-Krieg auf und reiste im Herbst 1995 "in das Land der allgemein so genannten Aggressoren",
weil, wie er erklärte, die vielen Berichte und Artikel bei ihm den Drang auslösten "hinter den Spiegel"
zu blicken, denn: "Was weiß der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt... ?" (9)
Als die SZ seinen Reisebericht Gerechtigkeit für Serbien im Januar 1996 veröffentlichte, wurde er von
den Medien heftig attackiert und ihm eine "proserbische" Haltung vorgeworfen.
Doch im Gegenteil. Dem aufmerksamen Leser dieses Textes konnte nicht entgehen, daß Handke
selbst, in Auseinandersetzung mit dem jungen französischen Schriftsteller Patrick Besson, seine
Bedenken äußerte, auf die pauschale Aburteilung aller Serben durch die Medien mit dem
entgegengesetzten Extrem, einer ebenso pauschalen "Serbenverteidigung" zu reagieren, denn: "... es
könnte die Gefahr solcher Gegenläufigkeiten sein, daß in ihnen sich etwas äußere, was vergleichbar
wäre mit den Glorifizierungen einst des Sowjetsystems durch manche Westreisende der dreißiger
Jahre." (10)
Ein Grund für die haltlosen Anschuldigungen gegen Handke liegt auf der Hand. Das Eingreifen der
NATO mit den Verbrechen der Nazis zu vergleichen, stellt eine Provokation und vernichtende Kritik
gegenüber der antifaschistischen 68er Nachkriegsgeneration dar, die seit Jahrzehnten in unzähligen
moralischen Appellen betont hatte, von deutschem Boden dürfe nie wieder ein Krieg ausgehen. Nun,
wo sie selbst zum Krieg aufgerufen haben, braucht es schon einen zweiten Hitler zu ihrer
Rechtfertigung.
Wichtiger scheint aber folgende Überlegung zu sein: Wird Handke als "Pro-Serbe" abgestempelt, weil
er im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung in Europa, insbesondere in Deutschland, die unter dem
Deckmantel von Selbstbestimmungsrecht und Demokratie betriebene Kleinstaaterei auf dem Balkan
als unsinnig ablehnt, oder sogar als "absolut kindisch", wie eine burgenländische Online-Zeitung
entrüstet Handkes Auffassung zu den "Befreiungsversuche(n) der Kosovo-Albaner" zitiert? (11)
Denn - wurde nicht schon zu Titos Zeiten die Politik vor allem in Belgrad gemacht?
29
Offenbar sieht Handke in der Aufsplitterung des Balkan keine positive Entwicklung. 1991 spricht er
sich in seinem Buch Abschied des Träumers vom neunten Land gegen die Lostrennung Sloweniens
von Jugoslawien aus.
In Handkes Reisebeschreibung Gerechtigkeit für Serbien, auf die seine Kritiker immer wieder
zurückkommen, ist Trauer über das Auseinanderbrechen Jugoslawiens spürbar, und Handke äußert in
der SZ sein Bedauern darüber, daß, was er selbst als "Reformkommunismus" bezeichnet, in
Jugoslawien "tragisch gescheitert" sei. (12) Sein Reisebericht endet mit einer Textstelle aus dem
Abschiedsbrief eines ehemaligen Tito-Partisanen, der 1992 aus Verzweiflung Selbstmord beging. "Der
Verrat, der Zerfall und das Chaos unseres Landes, die schwere Situation, in die unser Volk geworfen
ist, der Krieg... in Bosnien-Herzegowina, das Ausrotten des serbischen Volkes und meine eigene
Krankheit haben mein weiteres Leben sinnlos gemacht..." (13) Über seine Frau, bei der Handke zu
Gast ist, schreibt dieser: "Und sie würde bis an ihr Lebensende eine durchdrungene - nicht serbische,
sondern jugoslawische Kommunistin sein;... - auch heute noch galt ihr das als die einzige, die einzig
vernünftige Möglichkeit für die südslawischen Völker: vor dem deutschen Einfall 1941 habe es, in
dem Königreich, einige wenige gegeben, welchen fast alles gehörte und neben ihnen nichts als
himmelschreiende Armut, und jetzt, in diesem serbischen Sonderstaat - dessen Machthaber, wie in den
anderen Neustaaten, ‚Verräter‘ - wiederhole sich das mit den paar allesraffenden Kriegsgewinnlern
und dem frierenden Habenichtsvolk." (14)
Gerechtigkeit für Serbien richtet sich, wie Handke uns am Schluß mitteilt, nicht nur an den
deutschsprachigen Leser, sondern sei "genauso dem und jenem in Slowenien, Kroatien, Serbien
zugedacht..." (15) Handke will die Völker des ehemaligen Jugoslawien daran erinnern, daß sie eine
gemeinsame Vergangenheit haben. Er begibt sich dazu nicht an die aktuellen Kriegsschauplätze. Er
ruft unspektakuläre, unscheinbare, alltägliche Begebenheiten der Gemeinsamkeit, über die man früher
nicht nachgedacht hat wieder ins Bewußtsein, wenn er beispielsweise in Erinnerung ruft, wie die
Schwimmer früher im Sommer zwischen bosnischem und serbischem Ufer hin und her schwammen,
daß man muslimische Freunde hatte, daß Kosmetik aus Slowenien in Serbien beliebt war, auch das
Obst aus Bosnien, welches über die Drina geschifft wurde, daß die Busse von Bajina Basta einmal
nach Tuzla und Srebrenica fuhren und es nichts besonderes war, im Gegensatz zu heute, in Slowenien
ein Auto aus Skopje/Mazedonien parken zu sehen.
Der Leser erhält einen Eindruck davon, mit welcher Selbstverständlichkeit die verschiedenen
Sprachen und Dialekte auf dem Balkan nebeneinander existierten, sich unbewußt im Alltag
durchdringend - bis heute. Als Sladko, Handkes serbischer Reisebegleiter aus Deutschland, die Eltern
in seinem Dorf besucht, "verstand ich trotz angestrengten Zuhörens rein gar nichts mehr - war das
überhaupt noch Serbisch? Nein, die Familie war unwillkürlich übergegangen in das Rumänische, die
Unterhaltungs- oder Vertraulichkeitssprache der meisten Dorfbewohner; als eine solche Sprachinsel
war Porodin auch bekannt. Aber ob sie dann überhaupt sich als Serben fühlten? ‚Natürlich - was denn
sonst?‘" (16)
"Warum solch ein Tausendfachabschlachten?" fragt Handke. "Wer also war der Aggressor ? War
derjenige, der einen Krieg provozierte, derselbe, wie der, der ihn anfing? Und was hieß ‚anfangen‘?"
(17)
Er kann, im Gegensatz zu den offiziellen Medienberichten Westeuropas und der USA, eine "serbische
Paranoia" nicht entdecken und gibt zu verstehen, daß nicht dort, auf dem Territorium, wo "drei
Völkerschaften... kunterbunt, nicht bloß in der meinetwegen multikulturellen Hauptstadt, sondern von
Dorf zu Dorf, und in den Dörfern selber von Haus zu Hütte, neben- und durcheinanderlebten",
"Legendensandkörner... vergrößert wurden zu Anstoßsteinen" des Krieges, sondern in "unseren
Dunkel-kammern".(18)
"Wie verhält sich das wirklich mit jenem Gewalttraum von ‚Großserbien‘?" fragt er.
30
"Hat sich... am Ende nicht eher ein ‚Groß-Kroatien‘ als etwas ungleich Wirklicheres oder
Wirksameres oder Massiveres, Ent- und Beschlosseneres erwiesen, als die legendengespeisten, sich
nie und nirgends zu einer einheitlichen Machtidee und -politik ballenden serbischen Traumkörnchen?"
(19)
Er schreibt in bissigem Ton über die neue staatliche Unabhängigkeit Sloweniens: "Jetzt... traf ich das
bewährte Hotel ‚Zlatorog‘... hinten am Talschluß vollends ausgerichtet auf die Deutschsprachigkeit,
und am Eingang waren die gerahmten Photos vom einstigen Besuch Titos entfernt worden - nicht
gerade schade darum - und ersetzt durch entsprechende Willy Brandts... Und im staatlichen Fernsehen
- sonst fast nur deutsche und österreichische Kanäle - wird dann wieder und wieder eine ausländische
Handels- oder Wirtschaftsdelegation von strikt einheimischer Folklore angesungen, mit Hinzutritt
schließlich des slowenischen Staatspräsidenten, eines einstmals doch tüchtigen und stolzen
Funktionärs?, der jetzt aber in der Haltung eines Kellners, fast Lakaien, den Ausländern sein Land
andient, so, als wollte es tüpfchengenau jener Aussage eines deutschen Unternehmers und
Auftraggebers entsprechen, die Slowenen seien nicht dies und das, vielmehr ‚ein fleißiges und
arbeitswilliges Alpenvolk‘." Die erste Frage eines Kunden, die Handke im neuen Supermarkt
vernimmt, lautet: "Ist Bild schon da?" (20)
Auf seiner Reise im April diesen Jahres geißelt Handke "die fette deutsche, höfisch-verlogene
französische und Raum... verdrängende amerikanische" Sprache der Verhandlungen, die er durch das
Fernsehen im Hotel verfolgt, und die Angriffslogik der NATO, "wonach auch ein Maisfeld und ein
Hühnerstall bombardiert werden können, weil Mais, Hühnerfleisch und Eier als Proviant für die
feindliche Soldateska dienen..." "Selber schuld? Der Schuldige, die Schuldigen, das sind doch die
Leute hier im Land... Was sagt das Land? - Das Land sagt gar nichts, es liegt nur noch stummer, weit
stummer, und so sagt es zwar nichts, aber - was nachhaltiger ist - es bedeutet; Nein, nicht selber
schuld." (21)
Im vergangenen Jahr hielt die österreichische Kulturjournalistin Sigrid Löffler einen Vortrag am
Goethe-Institut in Montevideo unter der Überschrift: Peter Handke und die Kontroverse um seine
Streitschrift ‚Gerechtigkeit für Serbien‘. Sie stellt sich hinter Handke und führt die Ursache für die
anhaltenden, gehässigen Angriffe der Presse auf eine grundsätzliche Frage zurück, die durch Handke
provoziert worden sei: "Wer wird dem Krieg in Jugoslawien wirklich gerecht?"
"Der Sturm der Entrüstung, der sich nach der Veröffentlichung von Gerechtigkeit für Serbien in den
Medien erhob,... ist nur zu begreifen, wenn man sich vor Augen hält, welche tollkühne Provokation
der Dichter hier unternimmt, durch nichts legitimiert als durch die schiere Eigenmächtigkeit des
Künstlers. Der Dichter will nicht nur die herrschende Medienpraxis kritisieren und grundsätzlich in
Frage stellen. Er will vielmehr seine poetische Erfahrung, seinen Dichterblick, dem Bild
entgegensetzen, das die Medien weltweit von den Serben entworfen haben. Er will gegen die
Übermacht der Medienmeinung über diesen Krieg sein dichterisches Sprechen in Stellung bringen.
Gegen die gesamte Weltpresse tritt ein einzelner an: Der Dichter an und für sich. Und der erdreistet
sich zudem, die Frage, welche Seite Schuld trage an den jugoslawischen Sezessionskriegen, neu zu
stellen." (22)
Handke bescheinigt dem Gros der Kriegsberichterstattern, daß sie "ihren Schreiberberuf mit dem eines
Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechseln und... auf ihre Weise genauso arge
Kriegshunde sind wie jene im Kampfgebiet." Ihre Reden seien "von einer im voraus gespannten
Schnüffelleine" diktiert, statt Ausforschung der Ursachen zähle nur "der nackte, geile, marktbestimmte
Fakten- und Scheinfakten-Verkauf". (23)
Die Wahrheit über den Krieg verläuft für Handke nicht gradlinig und eindimensional, wie die Medien
glauben machen wollen. "Das Problem - nur meines? - ist verwickelter, verwickelt mit mehreren
Realitätsgeraden oder -stufen, und ich ziele, indem ich es klären will, auf etwas durchaus ganz
Wirkliches, worin alle die durcheinanderwirbelnden Realitätsweisen etwas wie einen Zusammenhang
ahnen ließen." (24)
31
Die beiden Filmregisseure aus Handkes Theaterstück Fahrt im Einbaum müssen das ebenfalls
erfahren. Letztlich geben sie ihr gemeinsames Filmprojekt über den Jugoslawienkrieg auf. Zu
verwirrend und befremdlich stellt sich ihnen das Geschehen vor Ort dar, als daß sie in der Lage wären,
daraus eine nach bewährtem Muster einfachgestrickte, publikumswirksame Story zu produzieren, wo
alles "schön der Reihe nach" abläuft, wie sie das eigentlich vorhatten.
Einst besetzten Studenten in Berlin, bevor sie später Schriftsteller, Rechtsanwälte und Politiker
wurden, aus Protest gegen eine "totale Manipulierung" die Zentrale des Medienkonzerns Axel
Springer, des Herausgebers des Boulevardblattes Bild. Das war 1968. Heute üben sie in der Regel
Nachsicht mit sich, betrachten zwar noch mit etwas Nostalgie, aber zunehmender Verständnislosigkeit
ihren damaligen Kampf gegen die "Macht der Medien".
Handke gehört offensichtlich nicht dazu, geht seinen eigenen Weg, kritisch und unbeeindruckt von der
vorherrschenden Meinung. Dem hohen Anspruch sich als "Reisender in Sachen Wahrheit" zu
verstehen, wie ein Redakteur der Berliner Zeitung herablassend bemerkte, und dafür seine ganze
internationale Autorität als Künstler in die Waagschale zu werfen, gebührt Hochachtung.
Daß er zur Zeit dabei das Bild eines isolierten Einzelkämpfers abgibt, unterstreicht die rasante
Rechtsentwicklung des intellektuellen und politischen Milieus, aus dem Handke selbst stammt und das
in vergangenen Zeiten einmal kritische Geister hervorbrachte, wie Habermas, Heym oder Grass. Der
Vorwurf an Handke, er werfe sich eitel und geltungssüchtig in die Rolle des "einsamen Rufers", ist nur
deshalb überhaupt möglich, weil der Schriftsteller tatsächlich auf einsamem Posten steht.
Anmerkungen:
32
Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen
In der eher kläglich verlaufenden Debatte um die diesjährige
Verleihung des Heinrich-Heine-Preises äußert sich der umstrittene
Autor nun selber: Hier die Stellungnahme von Peter Handke zu den
Vorwürfen gegen seine proserbischen Positionen.
Ich muss ernsthaft sein und ruhig antworten auf die Vorwürfe, die mir seit
vielen Jahren und jetzt wieder, nach der Zusprechung (und der angedrohten
Nicht-Vergabe) des Heinrich-Heine-Preises entgegengehalten werden. Ich
muss es für die Leser tun, für die redlichen Leser — übrigens eine
Tautologie, denn ein unredlicher oder voreingenommener Leser ist nie ein
Leser.
33
Bleiben wir bei den Tatsachen eines von einem unredlichen oder wenigstens
unwissenden Europa angezettelten oder wenigstens koproduzierten
Bürgerkriegs, die auf allen Seiten schrecklich sind.
Hören wir auf, Slobodan Milosevic mit Hitler zu mehr zum Thema
vergleichen.
Handke und kein Preis
Hören wir auf, in ihm und seiner Frau Mira Die Selbstinszenierung
Markovic Macbeth und seine Lady zu sehen oder der üblen Nachrede
Parallelen zwischen dem Paar und dem Diktator
Ceausescu und seiner Frau Elena zu ziehen. Und
verwenden wir nie mehr für die während des mehr
Sezessionskriegs in Jugoslawien eingerichteten
Lager das Wort „Konzentrationslager“.
Wahr ist: Es gab zwischen 1992 und 1995 auf dem
Gebiet der jugoslawischen Republiken, vor allem in Bosnien,
Gefangenenlager, und es wurde in ihnen gehungert, gefoltert und gemordet.
Aber hören wir auf, diese Lager in unseren Köpfen mechanisch mit den
Bosno-Serben zu verbinden: Es gab auch kroatische und muslimische Lager,
und die dort und dort begangenen Verbrechen werden im Tribunal von Den
Haag geahndet.
34
Wahr ist: Ich war im Juni 1996 zum ersten Mal (und
danach noch um die zehn Mal) in Srebrenica und in
den ebenfalls zerstörten serbischen Dörfern ringsum,
und habe danach ein kleines Buch geschrieben
(„Sommerlicher Nachtrag zu einer Winterlichen
Reise“). Wahr ist, dass ich in diesem Nachtrag auch
von den blühenden Bäumen erzähle, von den
Erdbeeren auf den Hügeln um Srebrenica, aber
natürlich (entschuldige, Leser, dass ich mich erkläre,
aber die Beschreibung dieser Natur wird mir immer
wieder vorgeworfen), um die furchtbare Zerstörung in
und um Srebrenica und die Todesstille noch spürbarer
zu machen. "Bleiben wir bei
den Tatsachen
Und der Kern des Nachtrags: die endlosen Schreie eines von einem
eines serbischen Mannes aus Srebrenica, der, unredlichen oder
zwischen den Ruinen, am Sommerabend wenigstens
(Schwalben!) zu seinem Haus (?) zurückkehrt (?) und unwissenden
auf dem Weg gegen sein eigenes Volk anbrüllt, sein Europa
Volk verflucht und verflucht, und am Ende ist fast angezettelten oder
nichts mehr zu verstehen vor lauter Wut und Schmerz. wenigstens
koproduzierten
Bürgerkriegs, die
Hören wir auch – endlich – den Überlebenden der auf allen Seiten
muslimischen Massaker zu, in den vielen serbischen schrecklich sind."
Dörfern um das – muslimische – Srebrenica, jener in Foto: AP
den drei Jahren vor dem Fall Srebrenicas wiederholt
begangenen und von dem Stadtkommandanten befehligten Massaker, die im
Juli 1995 – schreckliche Rache und ewige Schande für die verantwortlichen
Bosno-Serben – zu dem großen Gemetzel führten, „dem größten in Europa
seit dem Zweiten Weltkrieg“.
Ja, hören wir, nachdem wir „die Mütter von Srebrenica“ gehört haben, auch
die Mütter, oder auch nur eine Mutter des nahe gelegenen serbischen Dorfes
Kravica, wenn sie von dem an der orthodoxen Weihnacht 1992/1993 von
den muslimischen Streitkräften Srebrenicas begangenen Massaker erzählt,
dem auch Frauen und Kinder zum Opfer fielen (und nur für ein solches
Verbrechen trifft das Wort „Genozid“ zu).
Vielleicht irre ich mich in den juristischen Termini: aber die schreckliche
Antwort, die abscheuliche Rache der serbischen Streitkräfte (nicht nur für
die Morde in Kravica, sondern auch für die während dreieinhalb Jahren in
circa dreißig Dörfern um das muslimische Srebrenica begangenen
Verbrechen) ist, da sie sich ausschließlich gegen Soldaten und/oder
muslimische Männer richtete, als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu
bezeichnen: Nuance, die, Ausnahme unter den sonst so wichtigen
„Nuancen“!, fast nicht zählt angesichts von Tausenden und Abertausenden
bosno-serbischen Verbrechen, ja und ja, gegen die Menschlichkeit.
35
Und davon abgesehen – und das ist es, was die Leser in ihren Herzen endlich
verstehen müssen – sind die Zahlen der jungen und weniger jungen Toten in
den bosnischen Kriegen auf allen Seiten, bei den Muslimen, den Kroaten,
den Serben, fast auf gleicher Höhe – warum nicht auch einmal den Friedhof
von Visegrad besuchen, den riesigen Friedhof von Vlasenica?
Und vor allem, ich wiederhole es voller Trauer: Ich wollte nie sagen, und
habe an keiner Stelle gesagt, das Massaker von Kravica sei „der einzige
Genozid“ in Bosnien gewesen, sondern ein Verbrechen, auf das dieses Wort
zutrifft – es gab andere bosno-serbische, muslimische, kroatische Massaker,
die mit diesem Terminus bezeichnet werden können.
Von den deutschen Medien später darauf angesprochen, konnte ich nicht
glauben, eine derartige Dummheit tatsächlich ausgesprochen zu haben —
zumal diese Dummheit überhaupt nicht zu meinem Gefühl im Moment des
auf Französisch vor der Kamera abgegebenen Statements passte. Ungläubig
hörte ich das Tonband an — und, indeed, ich hatte auf lächerliche Weise die
Worte verwechselt. Aber Achtung! Ich habe mich sofort schriftlich korrigiert
— und die deutschen Medien haben meine Korrektur veröffentlicht — die
Frankfurter Allgemeine Zeitung Wort für Wort — ohne jeden Kommentar
— die schriftliche Richtigstellung meiner Verwechslung wurde damals
akzeptiert. Warum jetzt nicht mehr?
36
warum, fragte ich, bedurfte es da noch eines Gerichtes, um ihn schuldig zu
sprechen?
Verbreitern wir die Öffnung. Auf dass die Bresche nie wieder von
schlimmen oder vergifteten Worten verstopft werde. Hinaus böse Geister.
Verlasst endlich die Sprache. Lernen wir die Kunst des Fragens, reisen wir
ins sonore Land, im Namen Jugoslawiens, im Namen eines anderen Europas.
Es lebe Europa. Es lebe Jugoslawien. Zivela Jugoslavija.
Der Text ist eine vom Autor bearbeitete, veränderte und ergänzte Fassung
zweier Artikel, die in der französischen Tageszeitung Libération erschienen
sind und von Anne Weber aus dem Französischen übersetzt wurden.
Wieder einmal ist der österreichische Dichter Peter Handke massiv angegriffen worden. Anlass
war seine Grabesrede bei der Beerdigung des vor dem Kriegsverbrechertribunal angeklagten
früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic in Pozarevac am 18. März 2006. Die
Rede führte zu großem Unverständnis in der westeuropäischen Öffentlichkeit – zusammen mit
einer Reihe von Falschzitierungen und missglückten Interpretationsversuchen, die Handke auch
durch mehrfache Einlassungsversuche auf seine Kritiker zunächst nur schwerlich gerade zu
rücken vermochte.
In Frankreich gipfelte die Aufregung in der Absetzung des zuvor von der Fachwelt als literarisch
wertvoll erachteten Handke-Stücks Das Spiel vom Fragen oder Die Reise ins sonore Land an der
Comédie Française durch Direktor Marcel Bozonnet. Er begründete seinen Beschluss, der von
Handke-Kritikern begrüßt, aber ebenso von Kulturschaffenden (darunter auch solche, die
Handkes Ansichten zu den Balkankriegen nicht teilen) als Zensurversuch gegeißelt wurde, mit
der Lektüre eines Artikels im Nouvel Observateur. Dabei drehte es sich um einen der
unrühmlichsten Texte, die seit 1996 zu Peter Handke erschienen waren. Er war durchsetzt von
Fehlern und verfasst wohl einzig mit dem Ehrgeiz, Handke durch den Schmutz zu ziehen.
Claqueure dieses journalistischen Machwerks, die an anderer Stelle gegen den Schriftsteller und
über Pozarevac als „Kleinstadt ohne Seele“ schwadronierten (ohne jemals dort gewesen zu sein),
37
nahmen die Absetzung des Theaterstücks aus dem Spielplan 2007 mit Schadenfreude zur
Kenntnis.
Persönliche Anfeindungen gegen Handke wurden schon mit der Herausgabe seines ersten
öffentlich umstrittenen „Jugoslawientextes“ Gerechtigkeit für Serbien im Frühjahr 1996 zur
Norm. Doch Handke stellte sich damals wie auch jetzt seinen Lesern und bat um sorgfältige
Lektüre seiner Texte, Richtigstellungen der Fakten – und das Blatt begann sich zu wenden.
Handke erhielt, zunächst in Frankreich, später auch in Deutschland und in anderen europäischen
Ländern, Zuspruch von Journalisten und anderen Dichtern, die das moralisch aufgeblasene Getue
von Bozonnet nicht unkritisiert stehen lassen wollten. Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede
Jelinek bezeichnete die Comédie Française unter Bozonnet als „Zensurbehörde“; der Intendant
des Berliner Ensembles, Claus Peymann, mahnte, Handke nicht zu verbieten. Auf Initiative der
Schriftstellerin Anne Weber schlossen sich zahlreiche Autoren und Filmemacher dem Protest an,
darunter Robert Menasse, Paul Nizon, Emir Kusturica und der Direktor des Wiener Burgtheaters,
Klaus Bachler, der die Entscheidung seines Pariser Kollegen „absurd und aberwitzig“ nannte.
So schien auf einmal eine differenzierte Diskussion um Handkes Werke und seine Beweggründe,
in den vergangenen Jahren für die Serben „Partei“ ergriffen zu haben, in greifbare Nähe zu
rücken – zumindest in Frankreich. Dass es hierzulande im Frühjahr 2006 noch nicht so weit war,
zeigte sich wenig später, als sich Peter Handke Ende April erneut auf den Weg nach Serbien
machte – dieses Mal ins Kosovo, das er zuletzt 1996 (sein Grenzgebiet während des Nato-
Krieges zuletzt 1999) besucht hatte. Er reiste in einem Reisebus von Belgrad aus an, in
Begleitung serbischer Kosovoflüchtlinge, einiger Dichter, Künstler und Journalisten und seinen
serbischen Freunden Zlatko Bocokic und Zarko Radakovic, die seit 1996 regelmäßig mit Handke
den Balkan bereisen. Seine Bestürzung ob der Zustände vor Ort, die Handke gegenüber den
mitgereisten Journalisten zurückhaltend äußerte, erreichte über Belgrad Redaktionen in
Westeuropa. Dort fühlten sich sogleich wieder auf Eindimensionalität gepolte „Fernfuchtler“
bemüßigt, über den „wilden Mann“ aus Österreich zu spotten.
Handkes Betroffenheit wurde belächelt. Der Wahrheitsgehalt von Reiseerlebnissen, die nicht von
Handke, sondern von Mitreisenden berichtet wurden – ein Autounfall, Pöbeleien, Bedrohungen,
Steinwürfe auf den Bus (am Ende mit Militär-Eskorte) – wurde in Zweifel gezogen. Handke „sei
angeblich“ dies oder jenes widerfahren, war gleich in doppelten Konjunktiven zu lesen. Selbst
seine Haltung, formuliert gegenüber den Journalisten vor Ort, er wolle, er müsse schweigen, weil
er kein „Recht habe“, über sein Entsetzen zu reden, fand höhnische Kommentare – vor allem
wieder von jenen, die keinen blassen Schimmer von den Zuständen auf dem Balkan haben.
Mit dem am 23. Mai 2006 publik gemachten Entschluss, Peter Handke dieses Jahr mit dem
Heinrich-Heine-Literaturpreis der Stadt Düsseldorf auszuzeichnen, endete die öffentliche
Auseinandersetzung um des Dichters Werk und Denken schließlich auf einem derart niedrigen
Niveau, das einem die Worte zur treffenden Beschreibung fehlen. Dass die Entscheidung der
Jury in Düsseldorf, in der u. a. die Literaturkritikerin Sigrid Löffler saß, auf Kritik stoßen würde,
war abzusehen. Aber was sich nun auf politischer und mitunter auch feuilletonistischer Ebene
abspielte, sucht seinesgleichen in der jüngeren Geschichte Deutschlands.
Nachdem die ersten Kritiker der Düsseldorfer Entscheidung in Stellung gegangen waren, brach
sogleich ein Mitglied der Jury das ungeschriebene Gesetz der Einstimmigkeit bei derlei
Entscheidungen im Kulturbetrieb: Christoph Stölzl distanzierte sich wenige Stunden, nachdem er
seinen Namen handschriftlich unter die Entscheidung für Handke gesetzt hatte, von seinem
Votum. Dies allein wäre schon Skandal genug gewesen. Bodenlos wurde die
Auseinandersetzung kurz darauf durch die populistische Einmischung der Politik. Handke, der
wegen seiner Grabesrede in Pozarevac bereits harter Kritik ausgesetzt war, kam einer Reihe von
visions- und ziellosen Politikern offenbar nur recht, um sich auf Kosten der Kulturfreiheit durch
persönliche Denunziationen gegen Handke in Szene zu setzen. Moralisch aufgepumpt und
sogleich so vorgespielt „gutmenschlerisch“ eindimensional wie, in anderem Kontext, die
Beschriebenen in Herbert Marcuses Hauptwerk, wurde fortan an vielen Orten für das Erbe von
Heinrich Heine, die Menschenrechte, den Weltfrieden, die Widersacher des „Schlächters vom
Balkan“ oder sonstige „höhere Ziele“ gegen Handke die Stimme erhoben. Der Fraktionschef der
38
Grünen, Fritz Kuhn, skandalisierte die Düsseldorfer Entscheidung als „Verhöhnung der Opfer“,
sein Parteikollege Daniel Cohn-Bendit sprach von „hellem Wahnsinn“. Als Ultima Ratio, eine
Person des öffentlichen Lebens in Deutschland zu desavouieren, wurde Handke schließlich als
potenzieller Faschist präsentiert: Jürgen Rüttgers (CDU) sprach während der Trauerfeier für den
verstorbenen Präsidenten des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, am 29. Mai 2006 in Düsseldorf
mit explizitem Bezug auf die Heine-Preis-Verleihung die Warnung aus: „Wehret den
Anfängen!“
Die Niveaulosigkeit wurde damit grenzenlos. Dass Handke von offizieller politischer Seite unter
Faschismusverdacht gestellt wurde, ist symptomatisch für erschreckende geistige Zustände in
Teilen unserer Meinungselite. Allein der Versuch, diesem Vorwurf zu widersprechen, wäre
absurd – so unglaublich empörend und sprachlos machend ist er.
Bemerkenswert ist allerdings, dass für derlei Populistenstimmen auch dieses Mal wieder
Stichwortgeber existierten. Die Faschismus-Unterstellungen gegen Handke waren erstmals 1999
im Zusammenhang mit einem Interview aufgetaucht, während dessen der Befragte versehentlich
eine haltlose Analogie zwischen Serben und Juden formulierte. Nachdem aber Handke seine
missratenen Äußerungen sofort berichtigt hatte, fand dieser sprachliche „Verhaspler“ zunächst
keine weitere Beachtung – wohl auch deshalb, weil es selbst den härtesten Handke-Kritikern zu
niveaulos erschien, den engagierten Dichter in die Nähe des deutschen Nationalsozialismus zu
rücken.
Angesichts der jüngsten Ereignisse wurde diese längst mit Gras überwachsene Geschichte von
Gegnern der Handke’schen Perspektiven aus der Schublade gezogen – ohne Hinweis auf
Handkes Richtigstellung und offenbar von der Sehnsucht getrieben, nun endlich zum finalen
Dolchstoß gegen ihn ausholen zu können. Der französische Philosoph Bernard-Henry Lévy
äußerte sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 21. Mai 2006 zur Absetzung
des Handke-Stückes an der Comédie Française mit Hinweisen auf die „ekelhafte Chronik“ des
Dichters, dass für jenen das Leid der Serben größer sei „als jenes der Juden in der Nazizeit“, und
nannte Handke einen „Beweihräucherer des serbischen Faschismus“. Sechs Tage später erschien
ein Artikel von Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit denselben
Verunglimpfungen, flankiert von einer Rechtfertigung der Absetzung des Handke-Stückes in
Paris und einer indirekten Empfehlung aus dem Hause der einflussreichsten deutschen
Feuilleton-Redaktion, die „verstörende“ Düsseldorfer Entscheidung zur Verleihung des
diesjährigen Heine-Preises an Handke zu revidieren.
So nahm die Geschichte ihren Lauf, und die Fraktionen im Düsseldorfer Stadtrat entschieden
Stunden später (gegen das Votum von Oberbürgermeister Joachim Erwin), die Juryentscheidung
und die Preisverleihung an Handke am 13. Dezember 2006 kippen zu wollen. Handke zog
Konsequenzen und wies den Literaturpreis zurück.
Durch die politische Intervention, die ihn begleitenden Entgleisungen und Peinlichkeiten (wie
etwa, dass einige politische Mandatsträger bei der Rechtfertigung ihrer Haltung stolz
verkündeten, Handke nicht einmal gelesen zu haben), geschah das, was die aufgeblähten
Kritiker, die sich zuvor als Anwälte Heinrich Heines ausgegeben hatten, nun der Düsseldorfer
Jury in die Schuhe zu schieben versuchten: Der Heine-Preis und mit ihm sämtliche
Literaturpreise (zumindest die mit Beteiligung der öffentlichen Hand) sind mit dieser
skandalösen Einmischung bis auf Weiteres entwertet. Vorerst stehen derlei Auszeichnungen
unter dem Generalverdacht, politischer Willkür ausgeliefert zu sein und (statt als Ehrerbietung
für einen Künstler verliehen) für politische Zwecke instrumentalisiert und zur Demontage eines
umstrittenen Kulturschaffenden missbraucht werden zu können.
Eine solche Beschneidung der Autonomie und Unabhängigkeit des Literaturbetriebes hat es in
der jüngeren Geschichte Deutschlands zuvor nur in der ehemaligen DDR gegeben. So rief die
Düsseldorfer Anmaßung wie auch die Ankündigung, in Paris ein Handke-Stück vom Spielplan
zu streichen, zahlreiche Kritiker auf den Plan: Sigrid Löffler und der Pariser Literaturprofessor
39
Jean-Pierre Lefèbre erklärten ihren sofortigen Austritt aus der Jury des Heine-Preises; Wilfried
F. Schoeller, Generalsekretär des deutschen P.E.N., monierte bestürzt das „Niveau und den
Verlauf der öffentlichen Diskussion“ um Handke, der „auf dem demokratischen Recht einer
abweichenden Meinung“ bestehe. Schoeller forderte eine „genaue“ Diskussion „über die
gesammelten Serbien-Texte Handkes und ihre Befremdlichkeiten“.
Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die in den letzten Jahren mit am konsequentesten die
von Handke und anderen als einseitig kritisierte Haltung zu den Balkankriegen an den Tag gelegt
und den Dichter daraufhin (wie zuletzt Hubert Spiegel) wiederholt ohne Niveau angegriffen
hatte, wirkte erschrocken: Feuilleton-Chef Frank Schirrmacher verteidigte am 2. Juni 2006 die
Unabhängigkeit der Juryentscheidung, auf die sein eigener Redakteur nur wenige Tage zuvor
(mit der Suggestion, Handke sei „nazi-verdächtig“) verbal eingedroschen hatte.
Schirrmachers Anliegen war offenbar nicht allein die Verteidigung der künstlerischen Freiheit
samt der der Literaturkritik. Es ging ihm wohl auch darum, den Imageschaden an seinem
Feuilleton in Grenzen zu halten. Die Düsseldorfer „Demontage“ Handkes mache nämlich „den
Literaturkritiker zum Büttel der Politik, weil sein Einwand gegen Handke nun durch
Einmischung der Politik wirkt wie der denunziatorische Ruf nach der Polizei“, stellte er fest.
Gewiss (hoffentlich) hatten Handkes Hetz-Kritiker (oder die Kritiker von Journalisten, die, wie
bei Novo, zum Teil eine abweichende Meinung zu den Balkankonflikten vertreten) niemals den
„Ruf nach der Polizei“ oder anderen Ordnungsdiensten im Sinn. Angesichts der jüngsten
Entgleisungen in Zusammenhang mit dem Heine-Preis und zahlreichen vorangegangenen
eindimensionalen Meinungsartikeln zu den Themen Jugoslawien und/oder Peter Handke, kann
man sich allerdings des Eindrucks schwerlich erwehren, dass es eine gewisse Verbindung der in
Düsseldorf ans Tageslicht geförderten und von Schirrmacher benannten Ebenen gibt – ohne hier
auch nur ansatzweise das „altlinke“ Stereotyp wiederholen zu wollen, dass die deutschen
Leitmedien die tragischen Entwicklungen auf dem Balkan mit ihrer Schreibe aus der Ferne
dirigiert haben sollen. Und klar ist hierbei auch, dass das zentrale Problem im Zusammenhang
mit der Heine-Preis-Verleihung nicht bei den Medien liegt, die das demokratische Recht und
geradezu die freiheitliche Pflicht haben, eigene und noch so kontroverse Ideen zur Diskussion zu
stellen (bekanntlich ist auch Novo hierbei nicht gerade zurückhaltend) – problematisch ist aber
die aggressiv verteidigte Eindimensionalität hierbei, und zusehends skandalös agiert die Politik,
die sich unreflektiert aus den populären Versatzstücken aufgeheizter Meinungsstreits bedient, um
populistische Pluspunkte einzuheimsen.
Auf jeden Fall hat die Polarisierung gegen Peter Handke jüngst ein Ausmaß erreicht, bei dem
wertvolle Einrichtungen einer aufgeklärten Gesellschaft, wie die eines autonomen
Kulturbetriebes, in unmittelbare Bedrängnis geraten sind. Und es ist anzuerkennen, dass dies in
Frankreich und Deutschland einen Aufschrei provozierte. Hierdurch kann möglicherweise jetzt,
zehn Jahre nach Handkes erstem Plädoyer für „Gerechtigkeit für Serbien“, ein Dialog entstehen.
Elfriede Jelinek hat hierzu am 30. Mai 2006 auf ihrer Internetseite notiert:
„So kann ich mit Handke nur das Mindeste erwarten, was zu erwarten ist, nämlich möglichst
alles zu lesen, was er in den letzten Jahren zum Balkankonflikt und seinen blutigen Kriegen,
Nachbar gegen Nachbarn, geschrieben hat. Lesen und dann reden, aber nicht hetzen. Sonst wagt
man sich zu weit vor, und dann haben sogar die Hunde, die treuen, einen verlassen (ihr
klagendes Gebell hört man allerdings noch lang), und die guten Geister verlassen einen auch
irgendwann, und dann wird es nur noch geistlos.“
Es bleibt abzuwarten (und zu hoffen), ob (dass) sich die von Jelinek beschriebene Geistlosigkeit
abwenden lässt. Für das literarische Werk von Peter Handke wäre dies nur zu wünschenswert.
Doch es scheint, dass für einen an wirkliche Textlektüre gebundenen Kritikerdialog nicht allein
die Verteidigung eines unabhängigen Literaturbetriebes genügt. Endet die Diskussion auf dieser
zweifellos bedeutenden Ebene, kann beim gegenwärtigen Stand wohl bestenfalls das Bild
40
entstehen, dass man einem „politisch fehlgeleiteten“ Dichter zugesteht, seine „absonderlichen“
Thesen literarisch zu artikulieren. Einige Handke-Kritiker scheinen es nun wieder einmal auf
eine solche „Aussöhnung“ abgesehen zu haben (so wie auch in den vergangenen Jahren immer
dann, wenn Handke einen Text vorlegte, der nicht auf dem Balkan spielte) – frei nach dem
Motto: Der große Dichter liegt zwar daneben mit allem, was er zu Jugoslawien je gesagt hat,
aber ein begnadeter Schreiber ist er, also soll er doch weiter fabulieren.
Angesichts der feuilletonistischen und politischen Handke-Verunglimpfungen der letzten Jahre
könnte man geneigt sein, eine solche Haltung fast schon als Fortschritt zu bewerten. Aber dass
Handke auf einer solchen Ebene die Hand zur Versöhnung ausstrecken könnte, ist zweifelhaft
und wohl vor allem ein Wunsch jener, die gerne das ihnen selbst längst überdrüssig und
übermächtig gewordene „Jugo-Thema“ klärungslos zu den Akten legen würden.
Die jüngsten Verlautbarungen von Peter Handke, der das Gespräch und die Klärung sucht, um
von seinen Lesern verstanden zu werden, deuten darauf hin, dass es ihm selbst nicht nur (oder
ihm gar am wenigsten?) um die Wertschätzung seiner ihm eigenen Art geht, aus der Anordnung
von Wörtern Sätze und Geschichten entstehen zu lassen. Vielmehr möchte Handke auch als
politisch engagierter Literat verstanden werden, um seine Leserschaft endlich daran teilhaben
lassen zu können, was er (mit Fug und Recht) als eine große Ungerechtigkeit der Zeitgeschichte
empfindet: die Einseitigkeit des Handelns und der Sprache, mit der Politik und Medien in den
vergangenen Jahrzehnten die Ereignisse auf dem Balkan begleitet und mitgestaltet haben.
In diesem Sinne ist das vom Dichter gerade jetzt wieder geforderte „Reden über Jugoslawien“ zu
verstehen. Handke plädiert – wie in seinen früheren, von ihm als „Friedenstexte“ bezeichneten
Reisenberichten – für die Öffnung der Diskussion, für die Einlassung auf eine differenziertere
politische Sicht und Sprache, eine kritische Aufarbeitung der vergangenen Bomben- und
Sprachengewitter.
Handke stellte seit Anfang der 90er-Jahre immer wieder die eintönige Eindimensionalität des
hiesigen Balkanbildes infrage. Auch hierfür gebühren ihm Respekt und Anerkennung. Für
Handke nur mit dem Hinweis auf die „Literaturfreiheit“ einzutreten und ihm neue Eintrittskarten
für die deutschen Kritikerklubs zu bieten, würde seinem Wirken also bei Weitem nicht gerecht.
Handkes rebellischer Habitus, sein subjektives Engagement für ein Aufeinanderzugehen, für die
Mehrdimensionalität bei der Wahrnehrung kleinster wie großer Ereignisse (von serbischen
Nudeln bis zu den Bomben auf Belgrad) in Verbindung mit dem Bereisen der vom Krieg
betroffenen Regionen und seiner scheinbar endlosen Lektüre von Artikeln und Büchern zum
Thema (daraus hervorgehend auch fundiertes faktisches, wirkliches Wissen über das, was ihn
bewegt) – all das zeichnet Peter Handke als Schriftsteller aus.
Dass es in den letzten Jahren immer wieder neue Versuche gab, Handke „mund-, schreibe- und
reisetot“ zu machen, ihn zu denunzieren, wie auch jetzt wieder, ist darauf zurückzuführen, dass
er mit seiner grundlegenden Kritik an der Eindimensionalität Recht hat, dass aber weder Politik
noch große Teile des akademischen oder Medienbetriebes bereit sind, sich dieser Kritik in einem
ruhigen Diskurs zu stellen. Deshalb wurden und werden Handkes Bemühungen (wie auch die
anderer Kommentatoren), einen anderen Blick auf die Balkankriege zuzulassen, oft kurzerhand
platt gemacht. Immer noch darf es anscheinend keinen Millimeter Abweichung geben, wenn es
darum geht, über die vielleicht größte „Konspirationstheorie“ der letzten Jahrzehnte zu sprechen.
Sie lautet in Kurzform: Die Serben waren für die Balkankriege allein verantwortlich, sie planten
und agierten wie die deutschen Nazis – kaltblütig, zielstrebig und völkermörderisch –, und nur
durch die glorreiche Intervention deutscher und anderer Truppen (die noch viel zu zögerlich
vorgingen), wurden Europa und die Welt vor einem neuen Faschismus mit Milosevic in der
hitlerschen Führerfigur gerettet.
Handke war der erste und einzige einflussreiche deutschsprachige Intellektuelle, der diese im
Laufe der Zeit zur Konspiration mutierte Sicht infrage stellte und eigene, andere Perspektiven
offerierte – literarisch, menschlich und fern der ausgetreten Pfade. Doch bis heute ist es nicht
gelungen, die Protagonisten dieser einzigartig reduktionistischen Deutung der Balkankonflikte
zu veranlassen, ihre Schützengräben aufzugeben. Offenbar gibt es Bedenken, dass das neue
41
„Weltordnungsbild“, das nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung maßgeblich über den
Balkankonflikt vermittelt wurde – eine Entwicklung, durch die sich westliche Länder, darunter
Deutschland, neue moralische Autorität in der Innen- wie der Weltpolitik (gewiss nicht völlig zu
Unrecht) zusprechen konnten –, einer kritischen Betrachtung nicht lange Stand halten könnte,
dass stattdessen an einigen Ecken ein enormes Ausmaß an Büttelei, an Unausgewogenheit und
Manipulation des öffentlichen Meinungsbildes zum Vorschein käme.
Die Pawlowschen Reflexe gegen Handke (auch gegen Novo, wenn immer es eine abweichende
Perspektive einnahm) sind in diesem Sinne weniger Ausdruck von Selbstsicherheit, Begriffe wie
Wahrheit oder Gerechtigkeit wirklich zu Recht gepachtet zu haben. Selbstsicherheit geht in der
Regel nicht mit Wutschnauberei, sondern mit Souveränität einher – das fehlt seit jeher beim
Umgang mit Handkes Reisen und seinen „Serbientexten“.
Bezeichnend hierfür ist die anhaltende Verweigerung einer meinungsbildenden Mehrheit, eine
ausgewogene Sicht der Balkankriege zuzulassen, typisch dafür ebenso, dass über die wirklichen
Lebenssituationen in den von den Kriegen betroffenen Regionen kaum mehr authentisch
berichtet wird. Bosnien steht zehn Jahre nach dem Friedensvertrag von Dayton immer noch vor
dem Zerfall – dies aufzuarbeiten wäre eine wichtige Aufgabe. Über das Kosovo, in dem die Nato
1999 einen Völkermord zu stoppen vorgab, erfahren wir derzeit nur, dass es
„Statusverhandlungen“ gibt – was einem wie eine sonderbare Fiktion vorkommen muss, wenn
man die Region bereist hat. Nur noch etwa einhunderttausend Serben leben heute im Kosovo –
mehr als das Doppelte sind geflohen. Und man muss für sie keinerlei Sympathien hegen, um
zumindest irritiert zu sein, wenn man ihren Alltag kennen lernt – wie Peter Handke vor wenigen
Wochen.
Die verbliebenen Kosovo-Serben (seit jeher Zivilisten, wohlgemerkt, keine Freischärler, keine
politisch Verantwortlichen früherer Ungerechtigkeiten) leben heute überwiegend im nördlichen
Teil von Mitrovica und dem angrenzenden Landstreifen, der die Region mit dem Rest Serbiens
verbindet. Außerhalb gibt es als Wohnorte für sie nur noch einen Teil der Kleinstadt Orahovac
sowie kleinere Dörfer und Weiler, darunter Velika Hoca, und das Kloster Decani. Alle anderen
serbischen Familien haben das Kosovo aus perspektivloser Furcht um ihre Zukunft verlassen –
die letzte Ausreisewelle gab es nach Übergriffen, denen viele zum Opfer fielen, im Frühjahr
2004. Die trotzdem Verbliebenen sind heute in ein „System“ gepfercht, das entgegengesetzter zu
den vor sieben Jahren verlautbarten Begründungen der Nato-Intervention nicht sein könnte
(Menschenrechte, Demokratisierung usw.). Tausende Nato-Soldaten beschützen die serbischen
Siedlungen mit großem logistischen Aufwand rund um die Uhr, sie ziehen nachts doppelte
Stacheldrahtbarrieren um sie herum, begleiten die Bewohner mit Panzerfahrzeugen als Eskorte
zweimal pro Woche auf Busfahrten, um im nördlichen Teil Mitrovicas das einkaufen zu können,
was die Subsistenzwirtschaft nicht hergibt.
Ist es angesichts einer solchen Lage verwerflich, wenn ein Dichter (wieder) die Mühe auf sich
nimmt, eine Region zu bereisen, um Lebenswelten wahrzunehmen, die in der hiesigen
Berichterstattung nicht vorkommen? Statt seine eigene „Entrüstung“ zu politisieren, regte Peter
Handke während seiner Kosovo-Reise im April an, dass in absehbarer Zeit auch internationale
Kollegen ins Kosovo reisen mögen, um sich ein eigenes Bild zu machen – eine Bitte, auf die
bislang nicht eingegangen, die von den einflussreichen Meinungsbildnern offenbar nicht einmal
zur Kenntnis genommen. Ist es vermessen, hieraus und aus dem Gebelle anlässlich der Kosovo-
Reise Handkes (wieder einmal) den Schluss zu ziehen, dass ein verengter Blickwinkel die Sicht
auf den Balkan dominiert?
Oder wie ist es zu bewerten, dass inmitten des neu entfachten Handke-Streits in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung am 29. Mai 2006 an prominenter Stelle ein Artikel erschienen ist, der so
wirkte, als sei er auf Vorrat geschrieben, um ihn, jedes Mal neu formuliert, wenn Vorwürfe der
medialen Eindimensionalität erhoben werden, zur Selbstvergewisserung der eigenen Positionen
(und der der Zeitungsleser) zum Besten zu geben. „Ein wohlfeiles Ammenmärchen. Deutschland
trifft keine Schuld am Zerfall Jugoslawiens“, lautete die Überschrift, und im Text wurde
angesichts der Abspaltung Montenegros im vorauseilenden Gehorsam klargestellt, es sei „durch
sorgfältig recherchierte Bücher und wissenschaftliche Arbeiten längst widerlegt“, dass
42
Deutschland durch die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens im Dezember 1991 den Zerfall
Jugoslawiens eingeleitet habe. Eine Widerlegung setzt jedoch zumindest eine fundierte
Auseinandersetzung mit stichhaltigen Thesen voraus, die es aber, liest man den Artikel weiter,
eigentlich nie gegeben haben kann. Als einzige Buchquelle wird eine (zweifelsohne lesenswerte)
51-seitige Broschüre, herausgegeben 1998 von einem Politikwissenschaftler der Universität
Washington, genannt und damit implizit alle anderen Publikationen, die, früher oder später, zu
durchaus kritischeren Schlussfolgerungen kamen, als schlampig recherchiert und
unwissenschaftlich abgetan – und als Teil eines Komplotts, das im „großserbischen“ Belgrad
ausgeheckt und von akademischen, publizistischen oder literarischen „Mittätern“ in die Welt
getragen wurde.
Auch hier gilt: Man musste und muss nicht Kriegspartei für die „serbische Sache“ ergriffen
haben (Novo hat dies nie getan), man braucht auch gar nicht „anti-deutsche“ Reflexe zu
zelebrieren (auch das ist Novo fremd), und schon gar nicht muss man an „wohlfeile
Ammenmärchen“ glauben, um sinnvolle Fragen und Thesen zu den Ursachen der blutigen
Eskalation der Balkankriege zur Diskussion zu stellen (so wie es auch Novo getan hat).
Eine letzte Detailfrage: Wie ist es zu bewerten, dass in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am
3. Mai 2005 ein Artikel des früheren Balkankorrespondenten Matthias Rüb erschien, dem es
(längst als Amerikakorrespondent tätig) damit anscheinend auch darum ging, die Integrität der
vor den Balkankriegen geschätzten deutschen Journalistin und Mediendozentin Mira Beham
infrage zu stellen (man könnte auch sagen, sie wie eine Agentin einer serbischen Verschwörung
aussehen zu lassen) – vor allem wegen eines Interviews, dass Beham im Zusammenhang mit
einem umstrittenen Massaker im Dorf Racak im Kosovo geführt hatte. Diese von Serben verübte
Bluttat an Albanern wurde im Frühjahr 1999 häufig zitiert, um den sich anbahnenden Nato-Krieg
gegen Serbien und Montenegro zu legitimieren – obwohl von unabhängiger Stelle schon
frühzeitig fundierte Zweifel am Wahrheitsgehalt der offiziellen Version geäußert wurden: dass
möglicherweise nämlich nicht albanische Zivilisten kaltblütig hingerichtet, sondern albanische
UCK-Kämpfer in Gefechten mit serbischen Milizen ums Leben gekommen und anschließend für
die Medien aufgereiht worden waren. Selbst beim Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, bei der
Beweisführung gegen Milosevic, blieben Zweifel zu Racak bestehen.
Doch warum dann im Mai 2005 dieser für den Zeitungsleser überraschende Artikel ohne
erkennbaren aktuellen Kontext? Könnte es damit zu tun haben, dass Mira Beham, die, mit
serbischen Wurzeln, vor einigen Jahren wieder nach Belgrad übergesiedelt war, sich um einen
diplomatischen Posten in der Botschaft Serbiens und Montenegros in Berlin beworben hatte, um
fortan den Kulturaustausch zwischen Deutschland und Restjugoslawien zu fördern, und dass dies
vom Auswärtigen Amt in Berlin einer Bewilligung bedurfte, die für Anfang Mai 2005 auf der
Tagesordnung stand? Fakt ist, dass am Tag nach der Publikation dieses Artikels das deutsche
Auswärtige Amt dem serbischen Außenministerium mitteilte, dass Beham aus formellen
Gründen, die zuvor in ähnlichen Fällen nicht durchgängig geltend gemacht worden waren
(Beham ist deutsche Staatsbürgerin), kein diplomatisches Visum bekommen könne. Was war
geschehen? War dies eine Form der „Büttelei“, die Schirrmacher nun im Zusammenhang mit
dem Heine-Preis kritisierte, oder war dies alles ein Zufall? Jedenfalls gab es im Anschluss – vor
der Öffentlichkeit verborgen – Streit um den monierten Artikel. Als Folge ist er heute nicht mehr
verfügbar, weil es – laut Auskunft des Recherchedienstes des F.A.Z.-Archivs – ein juristisches
Nachspiel gab, dass vom von Beham zu Racak Interviewten (einem deutschen Journalisten)
angestrengt worden war.
Die genannten Beispiele – die Reaktionen auf die Kosovo-Reise Handkes, der
„Ammenmärchen“-Beitrag über die Schuld am Zerfall Jugoslawiens und die Angriffe gegen
Beham – mögen dem einen oder anderen Leser klein oder unbedeutend erscheinen. Doch es gibt
viele weitere solcher kleinen Geschichten (und auch große Ungereimtheiten), weshalb es
eigentlich schon eine Frage der puren Redlichkeit (und journalistischen Professionalität) sein
sollte, sie endlich zuzulassen und sich den aufgeworfenen Fragen zu stellen.
Darum geht es wohl auch Peter Handke. Vielleicht ist sein literarischer Ansatz derzeit fürwahr
noch der am besten geeignete Weg, um aus den Schützengräben herauszufinden.
43
Thomas Deichmann ist Chefredakteur von Novo, freier Journalist und Buchautor. In den 90er-Jahren
publizierte er überwiegend zu den Balkankriegen und fand mit investigativen medienkritischen
Reportagen weltweit Beachtung. Seit 1996 bereiste er die Krisenregion wiederholt mit Peter Handke.
Deichmann ist u. a. Herausgeber des 1999 bei Suhrkamp erschienenen Buches Noch einmal für
Jugoslawien: Peter Handke.
Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerungen an
Slowenien (1991)
Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für
Serbien (1996)
Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996)
Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999)
Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im
Krieg März und April 1999 (2000)
Rund um das große Tribunal (2003)
44
Die Hauptfigur, sie wird meistens als "ehemaliger Autor" bezeichnet, lädt ein paar Freunde auf sein
Hausboot am Ufer der Morawa ein. Der Gastgeber ist von einer langen Rundreise durch Europa
zurückgekommen und hat vor, während der ganzen Nacht davon zu erzählen. Man merkt recht schnell,
dass es sich hier nicht um eine "realistische" Erzählung handelt. Hier schreibt Handke, in verspielter,
selbstironischer und manchmal auch inniger Form, über sich selbst. Sogar seine immer
wiederkehrenden jähzornigen Ausbrüche erscheinen milde in die Literatur überführt.
Als der "ehemalige Autor" aus seiner Enklave am Ufer der Morawa aufbricht, assoziiert der Leser
unwillkürlich einen von Serben bewohnten und von internationalen Schutztruppen kontrollierten Teil
des Kosovo: die Busfahrt durch feindliches Gelände, die Steine, die von Kindern geworfen werden
und die Glasscheiben des Busses mit lauter kleinen Splitternetzen durchziehen - das Wort "Kosovo"
fällt aber nicht, es gibt keine direkte politische Wiedererkennbarkeit.
Viel suggestiver und nachhaltiger ist die blasse, blauweißrote Schrift auf dem blassen Gelb des
Busses, die aus einer vergessenen Vergangenheit herüberragt und dadurch per se eine literarische
Fiktion darstellt, viel mehr als der konkret vergangene Vielvölkerstaat Jugoslawien. Und die
Vorstellung der "Enklave" entspricht auch auffällig genau den ästhetischen Vorlieben des Autors Peter
Handke, seiner Rede von "Zwischenräumen", die nicht von außen zu definieren sind und sich einer
allzu eindeutigen Funktionszuweisung entziehen.
Von "Jugoslawien" ist nirgends die Rede, das magische Beschwörungswort heißt "Balkan". Und was
das Magische daran ausmacht, wird auf der ersten Station der Rundreise deutlich: eine dalmatische
Insel, die der Autor als Sechzehnjähriger während seiner ersten Reise aufsuchte und auf der er seinen
ersten Roman und seine erste Geliebte fand. Der "ehemalige Autor" hat, wie in dieser Szene, viele
Berührungspunkte mit der Biographie des Schriftstellers Peter Handke.
Numancia in der spanischen Steppe, die nächste Station, spielt vor allem im "Versuch über die
Jukebox" von 1991 eine zentrale Rolle. Der Autor begegnet im Folgenden auch Figuren und früheren
Alter Egos Peter Handkes: Filip Kobal aus der "Wiederholung" und Gregor Keuschnig aus der
"Stunde der wahren Empfindung". Es sind abgründige Witze, die sich der Autor wie bei einem
Kinderspiel leistet. Und manchmal, wie bei einem trotzigen kleinen Jungen, stampft er auch wütend
mit dem Fuß auf.
"Die morawische Nacht" ist ein vorläufiges Resümee des Autors Handke, das man nicht zu ernst und
nicht zu leicht nehmen sollte. Er umkreist von neuem seinen poetischen Raum. Dazu gehören
Verstiegenheiten, kunstvoll arrangierte Verrücktheiten und trotzige Verweigerung, aber es ist ein
Spiel, bei dem, obwohl man auf alles gefasst zu sein scheint, wieder wie nebenbei ungeahnte
Entdeckungen zu machen sind, Hummelflügel beispielsweise, Maultrommelspieler und die wilde
Trauer von Samarkand.
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Peter Handke: Die morawische Nacht
Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
560 Seiten. 28 Euro.
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