Jedes seiner Bücher markiert die Schwelle (umbral) einer sich erneuernden
Wahrnehmungsanstrengung: (severa-percepción) Peter Handke.
Alfred Kolleritsch betreute in den sechziger Jahren seine ersten literarischen Schritte.
Manfred Mixner gilt nicht minder als langjähriger Beobachter der Handkeschen
Seinssuche..
Alfred Kolleritsch
Durch Peter Handkes Werk zieht sich ein langer Weg, Kehren und Spiralen zwingen
(ihn und den Leser) das Schauen, den "Augenstoff" zu finden ("es kam mir schon länger
so vor, als gäbe es heutzutage keine Orte für eine Erzählung mehr") (Die Lehre der
Sainte Victoire). Von Anfang an war sein Weg einer hinaus aus dem Bewußtsein als
Innenwelt, hinaus zu dem, wovon es Bewußtsein ist.
Die anschauenden und gedanklich offenen Bewegungen des Hinausfindens sind die
Abfolge seiner Bücher, von denen jedes eine Schwelle einer sich erneuernden
Wahrnehmungsanstrengung ist: Die Wahrnehmung strengt sich an, im
Wahrgenommenen zu verschwinden, ist zugleich aber bei dem, was dem bloßen
Hinschauen (die blindeste Bahn hinaus: Abbilden) entgeht.
Die gesteigerte Form der Wahrnehmung ist ein Sich-Öffnen, ein Auslöschen aller
genormten, geprüften, eingerasteten Sichtbahnen, der emotionalen und der rationalen.
Es geht um die Evidenz davor, um kein mystisches Einrasten. Die Stunde der wahren
Empfindung ist die Stunde des Anschauens und des Angeschautwerdens. Sie vermittelt
nicht das nicht Nachvollziehbare, sie ist ein eröffnendes Sehen, vollzogen in der
Sprache, in der sich das Seiende zeigen kann, ohne im Bann einer Idee oder irgendeiner
Vorgabe zu stehen.
Handke zeigt mit seinem Schreiben an, will Schneisen schlagen, das Schwierigste
nennen, das letztlich Einfache, nicht als heile Welt, nicht als Ort der Dauer. Vielleicht
ist das Einfache dort, wo es gelungen ist, es zu äußern, wenn es in der Sprache in
Erscheinung tritt, als Nähe, in der die Dinge (nie ein Ganzes) seiender sind.
Es bedarf der Mühe, den sinnlichen Anteil der Nähe zur eigenen Erfahrung zu machen.
Als unabdingbare Schwelle, über die das Verstehen-Wollen der Poesie Handkes führen
muß. Wie es einem hilft, die Dinge besser zu verstehen, wenn ein erfahrenes "Auge"
(die Praxis im griechischen Sinn) das eigene Auge sehender macht, so kann man das
Sehen "der Phänomene" aus Handkes Sprache lernen. Mein Jahr in der Niemandsbucht,
wie voller Anschauung ist dieses Buch! Es zwingt den Leser hinein in die Bewegung, in
der das Unscheinbarste in die Helle der Sprachwelt gerät, mit welchem Leid und
welchem Trotz ist dieses Buch der Versuch, ein Stück Welt neu zu sehen und befreit
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von schon Gesagtem, neu zu sagen. Als Einübung in einen gemäßeren Weltbezug, der
im irrationalen Geschwafel ausdrucksloser Menschen zu bloßem Gerede verkommt.
Handkes Prosa, so nachvollziehbar sie für den oberflächlichen Leser erscheinen mag, ist
die aus vielem Zweifel am Schreiben hervorgegangene Poesie. In den meisten seiner
Bücher finden wir den Selbstzweifel, aus der Angst geboren, nicht in die Sache des
Erzählens zu gelangen, zu versagen, vor der Möglichkeit einer Welt, die sich wieder
öffnen könnte.
Jedes Buch Handkes erzählt Handkes Poetik, jedes ringt um eine Seite dieser Poetik. In
jedem ist die große gedankliche Anstrengung das Fundament des jeweiligen Weges.
Wer Handke näher kennt, mit ihm unterwegs war, in Städten, fremden Ländern, vor
allem im Gefahrenbereich der Heimat, der hat ein wenig Ahnung von der Art, wie er
sich Orte erschließt.
Da muß man sich anstrengen, das eigene Sehen von Redewendungen, Meinungen und
Vergleichen freizubekommen. Man leidet oft am Authentischen, das er ist, klar im
Urteil, neugierig auf neue Bücher, für viele ein Ermunterer, frei von den Idolen und
Intrigen des Marktes, wenn böse, dann aufrichtig, im besten Sinn des Wortes auch ein
"Erkenntnistrinker".
Vielleicht hat er Glück gehabt, weil er von Anfang an viele Feinde hatte, Missionare der
Gegnerschaft. Ihm blieb es so erspart, falsche Brücken zu schlagen, sich Ideologien
anzuschließen. Er ist den anderen Weg gegangen, er ist unbeirrt bei dem anderen
Auftrag der Dichtung geblieben. Trotzdem ist dem Werk Handkes nichts
Missionarisches eigen, wenn es leuchtet, dann vom Mut, schreibend in die Welt
"vorzudringen".
Briefe Handkes an mich sollen das erläutern:
22.11.1960
Heute habe ich den grammatikalischen Gottesbeweis angetreten, habe ihn auch
bestanden (ich bin der, der ich bin), im übrigen versuche ich, eine Traumsyntax
herauszufinden, die Traumbildersprache geht einem ja schon auf die Nerven, so muß
man es mit der Grammatik versuchen.
20.2.1975:
Deine Bemerkung über die Schwierigkeit zu definieren, was genau ist, oder
Genauigkeit, macht mir zu schaffen. Mir bedeutet sie jedenfalls, daß die in einem Text
verwendete Sprache die zweite Natur, die menschliche, des besprochenen Gegenstandes
geworden ist, und daß diese Sprache keine Fluchtsprache sein darf, also eine
spezialisierte, sondern die gewohnheitsmäßige, in der natürlich auch die Fluchtsprachen
erscheinen, aber nicht als Fluchtautomatismen beim Schreiben, sondern als Kritik
derselben. Ich bin überzeugt, daß man alles, was bedrückt, auch in der üblichsten, allen
bekannten Sprache ausdrücken kann und daß das das Schwierigste ist, auch, weil man
den eingebürgerten Einschüchterungsmechanismus der Fluchtsprache (gesellschaftliche
Sprachspiele) weder verwenden noch devot "kritisch" zitieren kann. Meine ewige
Überzeugung, was das Schreiben und die Poesie betrifft. Extra linguam communem non
salus poetica (Š). Nimm nicht gar ernst, was ich gemeint habe. Die Sonne scheint in den
Garten, und ich möchte eigentlich lieber ins Kino gehen. Manchmal habe ich Lust,
wieder in Österreich zu sein.
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27.4.1975
(Das Wort "Geschichte" bezieht sich in diesem Brief durchgehend auf Die Stunde der
wahren Empfindung.)
(Š) wie ist es dazu gekommen, daß sogar du Wörter wie "subjektiv", "privat" zur Hand
nimmst, als stünden sie zu einer ernsthaften Verfügung. Der Begriff der Idee - das ist
"nur" von Walter Benjamin - ich getraue mich nicht so dazu denken - je abstrahierender
das Denken, desto fingierter erscheint es mir: deshalb will ich ja Poesie, wo es keine
Abstraktionsformen gibt. Am Schluß der Geschichte wird übrigens der Satz von den
Ideen umgekehrt: der dicke Schriftsteller sagt: "Ich habe die Idee in den Erscheinungen
geborgen und bin jetzt zufrieden." Sicher geht es nicht darum, sich in dem Helden der
Geschichte wiederzuerkennen - warum sollte man das auch? Und trotzdem wird man
von dessen äußersten Erfahrungen angegriffen werden müssen - und wenn es in den
verschiedenen Lebensinszenierungen, in denen jeder einzelne sich beschwichtigt, selten
so ausschließlich und so unbedingt (auch so zeitlich schnell) (was du subjektiv und
privat nennst) aufbrausen wird. Gerade keine verbindlichen Begründungen zur
Sozialisierbarkeit der Geschichte zu geben, vielmehr die reinen, unbegründbaren
Vorgänge als das Schweinische erscheinen zu lassen, war die Weglaßarbeit beim
Schreiben. Was meinst Du, wieviele Einzelheiten als Ekelbegründungen mir
vorformuliert durch den Kopf gingen. Daß die Geschichte so vereinzelt, so unbedingt,
so antisoziabel geblieben ist, darauf bin ich stolz. Begründungen sind doch écriture
automatique. Und es ist ja richtig so: in dieser Minute ist der angebissene Apfel ein Bild
der Schuld, in der nächsten eine Glückserinnerung. Es gibt in der Geschichte halt kein
System und keine Erlösung - auch wird ja keineswegs das "reine Schauen" als eine
solche propagiert - es ereignet sich halt und auch nicht als reines Schauen, sondern als
gieriges "Welt-Haben", geil, eine Zeitlang, auf Zeit. Man kann sich mit der Geschichte
sicher nicht identifizieren durchgehend - aber gerade all die bekannten, bewährten
Identifizierungsmechanismen sind doch das zu Zerstörende - und danach kann man sich
vielleicht gerade identifizieren mit der Geschichte, zerstört und harmonisiert. Eine
Identifizierung, so paradox und wahr, wie sie halt nur die Kunst (ohne Ironie) schaffen
kann. Und diese paradoxe Identifizierung gegen alle Identifizierungsschwindel der
Ideologien und Religionen brauchen wir halt. Das ist mein höchstpersönlicher
fanatischer Köhlerglaube. (Š)
Manfred Mixner
"Das Werk Peter Handkes als das Werk eines "österreichischen" Autors zu lesen oder
gar zu beschreiben, geht mir nicht leicht von der Hand. Nicht weil es an Patriotismus
mangelt und nicht weil aus der Distanziertheit des Ausgewanderten die Scheu vor der
kleinlichen Zuordnung wächst, nein, es ist der Zweifel, ob im Hinblick auf dieses
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literarische Werk das "Österreichische" eine Bedeutung hat, die über die Tatsache
hinausgeht, daß der Autor in diesem Land seine Kindheit, seine Jugend, seine
Studienzeit verbracht und später einige Jahre hier gelebt hat und daß diese
Wirklichkeitserfahrungen im Werk ihren notwendigen Niederschlag finden.
Andererseits: Wer die Literatur, die in einer bestimmten Region in einem bestimmten
Zeitraum entsteht, zur Gänze zur Kenntnis nimmt, bekommt eine Ahnung von all den
kollektiven Bewußtseinsbewegungen eben dieses Landstrichs in eben dieser Epoche.
Und es ist denkbar, daß die Arbeit auch nur eines einzelnen Dichters eine Art
Rückverwandlung subjektiver Denkbewegungen in objektive "Inbilder" unserer
"ganzen" wirklichen Wirklichkeit ist. Der Vorsokratiker Parmenides von Elea stellte
sich solche "Inbilder" noch als Ausdruck von ganzheitlicher Welt-Erfahrung vor. Nur in
diesem Sinne wäre im folgenden von einem Dichter aus Österreich die Rede.
Das Werk des Schriftstellers Peter Handke ist zu verstehen als phänomeno-poetische
Analyse von Bewußtseinsbewegungen und -erfahrungen, von Empfindungs-
Möglichkeiten, den ästhetischen Ortungen des Ichs, von dessen Siegen und
Niederlagen, von Wiederholungen, plötzlicher Abwesenheit, von den alten Maßen, dem
"Es war einmalŠ", der immer neuen Hoffnung, der Mauerschau und der Sehnsucht nach
dem Ganzen.
Ganz deutlich spricht er das immer wieder aus: "Jede Bewegung als ein Durch-die-Zeit-
Gehen sich bewußt machen: Das macht die Epik möglich.", notierte er in der Geschichte
des Bleistifts.
Und schon in seinem ersten Roman, Die Hornissen, mündet das kompliziert aufgebaute
Wechselspiel von Stillhalten, Innehalten und dem Hinaustreten, Aufbrechen, Losgehen
und Abreisen, dieser ständige Austausch von Innen und Außen am Ende des Buches in
eine programmatische Vision. Der Bruder des Ich-Erzählers beobachtet seinen Bruder,
der über ein verharschtes Schneefeld geht, und er weiß, daß der Bruder nicht einbrechen
wird, denn der hat "die Ordnung der Bewegungen gefunden, die ihn herausführt" aus
der Gefahrenzone.
Die psychologischen Wurzeln einer solchen Programmatik mögen vielfältig sein - die
Überwindung von Erstarrung in Angst und Schrecken: "Eine Stunde bewegungslos vor
Angst", die "Wahrnehmungsgier" oder die Angst oder die Scheu oder der Ekel vor der
Erstarrung, Verfestigung, Bindung - entscheidend für das Verständnis des Werks
Handkes sind nur psychologische Deutungen nicht.
Die stetige Aktualisierung des Zusammenhangs von Bewegung und Aisthesis in der
Prosa Handkes steht in den Traditionen einer Sprachphilosophie, die den
nominalistischen Pragmatismus nicht auf sich beruhen lassen will. Der Schriftsteller
und Philosoph Fritz Mauthner zum Beispiel postulierte: "Jede wirkliche
Sprachäußerung ist eine Bewegung. Wenn ein Mensch deutlich und distinkt ein Wort
denkt (Š), so ist damit (Š) ein Bewegungsgefühl verbunden. (Š) Wo die Sprache
wirklich ist, da besteht sie aus Bewegungszeichen."
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Bewegung ist ein wesentlicher Aspekt des Utopischen, dessen eine Bedingung das
Hinaustreten aus dem Vertrauten ist. Und bedeutet Utopie wörtlich übersetzt "noch
unbesetztes Land" oder "noch niemandes Land" - "Niemandsbucht"?
Dem stetig Mitlesenden erschließen sich Handkes Bücher als Kontinuum, als ein Prozeß
der poetischen Erkenntnis und der Fortschreibung einer immer neuen Erfahrung. Es ist
eine Schule der Wahrnehmung, die der Leser durchläuft, den immer genauer werdenden
Schreibbewegungen in immer unbekanntere Winkel der Bewußtseinswirklichkeit
folgend, die Sinne schärfend und das Gedächtnis der Phantasie.
"Die Sonne scheint in den Garten, und ich möchte eigentlich lieber ins Kino gehen.
Manchmal habe ich Lust, wieder in Österreich zu sein."