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Merkel: eine Katastrophe für Deutschland

Um das vorweg zu nehmen: ich bin kein politischer Analyst, kein professioneller Beobachter der
deutschen Politikszene und erst recht kein Merkel-Spezialist. Ich verspüre lediglich ein etwas über
dem Durchschnitt liegendes Interesse für politische Zusammenhänge und bin – seit meinem Sozio-
logiestudium Ende der 1970er Jahre in Berlin – daran interessiert, grundlegende Strukturen in
der gesellschaftlichen Entwicklung zu entdecken und zu interpretieren.
Was die Ära Merkel angeht, wäre ich eigentlich von vorneherein ein ungeeigneter Beobachter,
habe ich doch die letzten 20 Jahre ausschließlich im Ausland verbracht. Der damit verbundene
Nachteil – so kamen Printmedien wie das ehemalige Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ anfangs
immer mit einer Woche Verspätung bei uns in Afrika an – wurde im Laufe der Zeit allerdings im-
mer geringer: durch E-Mail und Internet konnten wir uns später immer zeitnaher über das infor-
mieren, was bei uns zu Hause in der Bundesrepublik los war.
Zusätzlich bekam ich jedoch die internationale Wahrnehmung meines Geburtslandes aus der Per-
spektive einer Reihe von Ländern mit (u.a. Kenya, Äthiopien, Chile, Mexiko, China, Ecuador, Por-
tugal und viele andere), die – wie ich meine – meinen Horizont stark erweitert hat.
Benjamin Jargstorf, Wismar, 21.01.2022 (benjamin@factor-4.com)
Keine Heilige
Jetzt, wo Angela Merkel nach 16 Jahren als Kanzlerin abtritt, überschlagen sich die deutschen und
internationalen Medien mit Lobgesängen. Eine einsame Ausnahme ist ein Beitrag von Albrecht
von Lucke, bei dem die Würdigung der Merkel-Ara den Untertitel „Aus Krise wird Katastro-
phe“ erhält (von Lucke). Allerdings suggeriert dieser Titel durch das Präsens „ ... wird Katastro-
phe“ fast noch etwas Positives. Meines Erachtens ist diese Katastrophe schon voll da und hat in
praktisch allen Bereichen der deutschen Gesellschaft so tiefe Spuren hinterlassen, dass auch der
gerade vollzogene Regierungswechsel nicht in der Lage sein wird, uns da kurzfristig heraus zu
bringen.
Dass rechtsgerichtete bzw. im wahrsten Sinne des Wortes „bewahrende“ Politiker in Merkel eine
Art „Ikone für anständige Politik“ sehen, ist nicht weiter verwunderlich. Und dass Politiker aus der
„Mitte der Gesellschaft“, wie zum Beispiel Obama, Merkel fast als eine Heilige darstellen – „Your
beloved German people, and the entire wold, owe you a debt of gratitude for taking the high
ground for so many years“ (Maurice Frank) – kann man nachvollziehen. Immerhin haben es beide
geschafft, mit einer gähnenden Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ihre jeweiligen Legis-
laturperioden durchzustehen. Und viele politische Analysten bescheinigen beiden ja auch eine ge-
wisse Wesensverwandtschaft, wobei Torsten Krauel von DIE WELT sogar so weit ging, beide als
„Killer“ mit letztlich ähnlichen Instinkten zu bezeichnen. Weniger drastisch beschrieb der stell-
vertretende ZEIT-Chefredakteur Bernd Ulrich die Ähnlichkeit beider Politiker: Obama sei letztlich
nur eine besser gekleidete Merkel (George Packer).
Aber dass auch im fortschrittlichen und menschenfreundlichen Lager (früher gemeinhin als „das
linke“ bezeichnet) voller Achtung, ja Bewunderung der Merkeljahre gedacht wird, ist nach meiner
Auffassung so daneben, dass es mich dazu gebracht hat, diesen Aufsatz zu schreiben.
Katastrophe für Deutschland
Angela Merkels 4-malige Kanzlerschaft war nämlich eine Katastrophe für Deutschland. Würde
wenigstens jetzt, wo die Mainstream-Journalisten bei kritischer Berichterstattung über „Mut-
ti“ keine beruflichen Nachteile mehr befürchten müssen, ein halbwegs wirklichkeitsgerechtes Bild
der Merkel-Jahre gezeichnet – ich hätte Verständnis dafür, dass es vorher unterlassen wurde. Aber
die schönfärberische Darstellung ihrer Regierungszeit geht ungebrochen weiter und es werden
weiterhin Mythen über ihre angeblichen Verdienste für Deutschland in Erinnerung gebracht.
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Da ist als erstes der Atomausstieg nach der Fukushima-Katastrophe zu nennen. Als wenn der pro-
movierten Physikerin Dr. Merkel nach der multiplen Kernschmelze in Japan plötzlich über Nacht
aufgefallen wäre, dass Atomkraftwerke für uns als Bevölkerung eine Gefahr darstellen würden!
Nein, Angela Merkel hatte keine Angst vor einer Kernschmelze in Deutschland, sondern nur vor
einer Kernschmelze an der Wahlurne (Volker Pispers). Und die ist dann ja tatsächlich in Baden-
Württemberg eingetreten und hat einen Grünen als Ministerpräsidenten an die Macht gespült, der
dann selbst der Droge „Macht“ erlegen ist und nicht verhindert hat, unsinnige Milliarden im Pro-
jekt Stuttgart 21 zu versenken.
Merkel als Bollwerk gegen den sozial-ökologischen Umbau des Kapitalismus
Die wahre Frage muss natürlich lauten: Warum hat Angela Merkel ohne Not den über Jahre aus-
gehandelten Atomausstiegsbeschluss der Rot-Grünen Vorgängerregierung überhaupt aufgehoben,
monatelange, kostenintensive Neuverhandlungen mit der Atomlobby führen lassen und weitere
Zugeständnisse an die Atomkraftwerksbetreiber gemacht? Die waren doch eigentlich ganz froh,
die von Anfang an ungeliebte (weil über den Markt nicht versicherbare) Technologie mit unge-
klärter Endlagerproblematik losgeworden zu sein. Warum hat die Physikerin Angela also über-
haupt eine solche schon einvernehmlich beerdigte Technologie wieder aufleben lassen? Obwohl
damals schon bekannt war, dass die echten Gestehungskosten der Atomenergie mehr als doppelt
so hoch waren wie die der Windenergie?
Die „schwäbische Hausfrau“, die nach landläufiger Meinung als kühle Rechnerin unser Land emo-
tionslos durch alle Krisen geführt hat, soll der Preisvorteil der erneuerbaren Energieerzeugung
nicht bekannt gewesen sein? Die Antwort ist so einfach wie banal: Angela Merkel hat getan, was
von ihr erwartet wurde, was von den Mächtigen im Lande gefordert wurde, zu denen sie ja jetzt
auch gehörte. Und sie hat auch aus innerster Überzeugung gehandelt, aus einer bei genauerem
Hinsehen in all ihren Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen zu Tage tretenden tiefen Über-
zeugung gegen eine Modernisierung unseres Wirtschaftssystems. Ohne Übertreibung lässt sich
sagen, Angela Merkel war und ist ein Bollwerk gegen den sozial-ökologischen Umbau des Kapita-
lismus (Stephan Hebel).
Das erklärt auch, warum sie unempfindlich war gegenüber möglichen Zuwendungen oder Partei-
spenden der Wirtschafts- und Finanzbosse: diese „Freundschaftsgaben“ waren gar nicht nötig,
weil Angela Merkels ureigenste Überzeugung teilweise konservativer und kapitalfreundlicher war
als die der Wirtschaftslenker und Mächtigen in unserem Staat. Die Ackermanns und Co. haben
sofort gecheckt, dass die neue Kanzlerin sie mit ihren politischen Überzeugungen schon lange
rechts überholt hatte: Warum sonst hat sie ohne Not den Atomausstiegsvertrag von Rot-Grün ge-
kündigt? Warum hat sie immer wieder den kapitalistischen Status-Quo verteidigt? Immer wieder
behauptet, dass es mit ihr keine Steuererhöhungen geben würde? Außer in dem einen Fall, wo sie
ihr Wahlversprechen gebrochen hat und die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 % erhöht hat. Und da-
durch das Leben für Millionen Geringverdiener über Nacht deutlich beschwerlicher machte.
Auch ihr Einsatz für die Umwelt hielt sich in Grenzen. Die „Klimakanzlerin“ war lediglich eine
Erfindung der Presse. In Wirklichkeit hat sie gebremst wo immer es ging, z.B. bei der Einführung
von EU-Abgasregeln für die Autoindustrie, die auf deutschen Wunsch vor ihrer Einführung heftig
verwässert wurden.
Erneuerbare Energien
Und nicht nur da, sondern auch bei den Erneuerbaren Energien. Auch hier hat Angela Merkels
Regierung total versagt. Die von der Vorgängerregierung übernommene arbeiterfeindliche Ge-
setzgebung (Hartz IV etc.) führte nicht nur dazu, dass der „kranke Mann“ in Europa auf dem We-
ge der Besserung war, auch bei der Installation von Wind- und Solaranlagen ging während ihrer
Kanzlerschaft bis 2017 die Post ab – als Ergebnis von Gesetzen der Rot-Grünen Regierung.
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So sehr, dass die Merkelregierung entschied, die Installation von Windenergie- und Solaranlagen
zu „deckeln“. Warum wurden zwei Wachstumsbranchen im wachstumsgläubigen Deutschland per
Gesetz runtergefahren – mit dem Ergebnis, dass dabei insgesamt 120.000 Arbeitsplätze verloren
gingen und die Technologieführerschaft bei der Produktion von Photovoltaikmodulen schneller an
China abgegeben werden musste, als man „Energieeinspeisegesetz“ sagen konnte?
Was heißt eigentlich „deckeln“? Die Verwendung des Begriffes „Deckelung“ ist ein typisches
Beispiel für Angela Merkels Politikstil, in diesem Fall für die Verwendung von Falschwörtern
(Mausfeld): Gedeckelt wird etwas, was unschön ist, was man nicht haben will; Kinder bekommen
„eins auf den Deckel“, wenn sie unartig sind. Hier bekommen durch die Verwendung des Begriffs
„Deckelung“ auf eine gesellschaftlich nicht nur wünschenswerte, sondern absolut notwendige Ak-
tion (Zubau von erneuerbaren Energieanlagen) Wind- und Solaranlagen einen schlechten Ruf, eine
schlechte Presse – sie werden anrüchig.
Im Jahre 2017 wurden noch Windkraftanlagen mit einer Leistung von 5.300 MW errichtet – seit
der Deckelung fielen die Installationszahlen auf 1.000 MW pro Jahr. Wir haben durch Merkels
Politik also einfach vier Jahre beim Zubau von Erneuerbaren Energien verloren, und die arme
Ampelregierung muss nun versuchen, eine komplett verlorene Legislaturperiode aufzuholen (mei-
ne Prognose: das kann nicht klappen). Natürlich wurde diese für uns so nachteilige Energiepolitik
mit dem Widerstand der betroffenen Bevölkerung („Verspargelung der Landschaft“, „Windkraft-
anlagen = Vogelschredderer“) begründet. In Wirklichkeit ist die Wirkungsrichtung tendenzmäßig
eher andersherum: Die Windkraftanlagengegner (oft rechtsgerichtete Klimaänderungsleugner) ha-
ben sich durch die staatliche Diskriminierung der Technologie nur weiter in ihrem Widerstand er-
muntert gefühlt ...
Bürgerwille nicht berücksichtigt
Auch das eine typische Charakteristik der katastrophalen Merkel-Politik: Wenn es ihr in den Kram,
d.h. in ihre grundlegenden politischen Überzeugungen passt, wird der Bürgerwille herangezogen,
wenn nicht, wird er einfach ignoriert. Anstatt durch geeignete Maßnahmen die Akzeptanz von
Wind- und Solaranlagen in der Bevölkerung zu fördern, wird gedeckelt. Diese Deckelung war –
und dazu braucht es keinen Doktortitel in politischer Wissenschaft – natürlich eine Forderung der
„klassischen“ auf Erdgas- und Kohleverbrennung ausgerichteten deutschen Energiewirtschaft.
Auch in anderen Fällen wird der Mehrheitswille von uns Bundesbürgern konsequent ignoriert,
nicht nur beim absolut unsinnigen Wiederaufleben der Atomkraft (siehe oben), sondern z.B. auch
beim Tempolimit auf Autobahnen. Obwohl es doppelt so viele Menschen gibt, die „auf jeden
Fall“ für ein Tempo von 130 km/h sind (nämlich 42 %) als „auf jeden Fall“ dagegen (21 % - sta-
tista.com), hat sich Merkel 16 Jahre geweigert, ein Tempolimit überhaupt als politische Alternati-
ve zum Weiter-so im Autoland Deutschland zur Kenntnis zu nehmen. So kommt es, dass wir ne-
ben Myanmar, Nepal und Afghanistan die einzigen Länder ohne generelles Tempolimit auf Auto-
bahnen sind. Ich schäme mich.
Korruption, Betrug und Parteispenden
Noch katastrophaler ist Merkels Verhalten in der Betrugsaffäre von Volkswagen und anderen gro-
ßen Automobilkonzernen gewesen: Allein die Tatsache, dass dieser mit organisierter Kriminalität
geplante Kundenbetrug unseren Kontrollinstanzen (Kraftfahrzeugbundesamt etc.) über Jahre nicht
aufgefallen ist, hätte jede halbwegs integere Regierungschefin zu einer gründlichen Aufräumak-
tion im Autosektor veranlassen müssen. Allein die Blamage, dass die ferne Environmental Pro-
tection Agency in den USA die Sache ins Rollen gebracht hat, hätte jeden nicht-korrupten Po-
litiker in Deutschland zu einer gründlichen Aufarbeitung des Diesel-Skandals bringen müssen.
Angela Merkel hätte die Verantwortlichen, allen voran ihren Skandalminister Scheuer gleich zwei-
mal entlassen müssen (einmal allein wegen des Mautdebakels) ... Dass die Mehrheit der Bevöl-
kerung ein solches „Krisenmanagement“ von Angela Merkel klaglos akzeptiert hat, dass man also
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inzwischen von unseren Ministern gar keine Ehrlichkeit und Integrität mehr erwartet: auch das ist
ein Ergebnis von 16 Merkeljahren.
Teflon-Merkel
Das bringt uns zu einer entscheidenden Frage: Wie kommt es nur, dass trotz vier Legislaturperio-
den mit unzähligen Skandalen, die von Korruption (Maskenaffäre etc.), Unfähigkeit (Mautskandal
etc.) und einer immer weiter zunehmenden Einflussnahme von Wirtschaft und Finanzsektor auf
die deutsche Politik (Kohleausstieg etc.) gekennzeichnet ist, bei Angela Merkel nichts hängen
geblieben ist? Dass sie den Eindruck erweckte, als hätte sie mit den politischen Skandalen ihrer
Regierung, also letztlich mit der von ihr zu verantwortenden Politik nichts zu tun?
Das führt meines Erachtens zu einem grundlegenden Wesenszug von Angela Merkel, der mit ihrer
Sozialisation in der DDR zu tun hat und letztlich (so meine Arbeitshypothese) die Grundlage ihres
Erfolgs in der CDU und in der durch Westdeutsche dominierten Politik nach der Wiedervereini-
gung gewesen ist. Merkels Vater ist 1954 mit der eben geborenen Tochter Angela und seiner Frau
(gegen ihren Willen!) von Hamburg in die DDR gezogen, um einen hohen Posten in der Evange-
lisch-Lutherischen Kirchenverwaltung zu übernehmen. Um die Ungeheuerlichkeit dieses Umzugs
zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen: 1954, im Jahr nach der gewaltsamen Niederschla-
gung des Volksaufstandes vom Juni 1953, siedelten mehr als 200.000 DDR-Bürger in den Westen
über – aber Familie Kasner macht sich auf in die Gegenrichtung! Dorthin, in den Arbeiter- und
Bauernstaat, wo man mit Panzern gegen friedlich protestierende Arbeiter vorgeht! Wenn es den
Begriff damals schon gegeben hätte, man hätte Vater Merkel als Querdenker bezeichnen müssen.
Seine Motive Hamburg zu verlassen und in den Osten zu gehen, waren damals sicherlich zu glei-
chen Teilen ideologisch und karrieristisch bedingt.
Über ihre Zeit in der DDR hat Merkel wenig verlautbaren lassen. Das Wenige ist allerdings be-
zeichnend: Im Gespräch mit ihrer Photographin Herlinde Koelbl sagte sie 1991 sinngemäß, dass
sie sich in der DDR nie richtig zu Hause gefühlt hätte, aber eigentlich immer ein sonniges Gemüt
gehabt und sich nicht erlaubt hätte, verbittert zu werden. Es gab keinen Schatten über ihrer Kind-
heit. Und später, im Wahlkampf 2005 erklärte sie, dass sie beschlossen hätte, ihr Leben nicht in
Opposition mit dem System zu verbringen, aus Angst vor dem Schaden, den sie davon tragen
würde (George Packer).
Merkel in der DDR: privilegiert
Was sie nicht erwähnt: Familie Kasner gehört eindeutig zur oberen Elite in der DDR. Die Kasners
besaßen zwei Autos, einen Trabant und einen Wartburg. Und das in einem Land, wo die durch-
schnittliche Wartezeit auf einen Kleinwagen 7 Jahre betrug (maximal 17 Jahre). So materiell über-
durchschnittlich gut ausgestattet, gehörte Angela Merkel immer zu den besten Schülern ihres
Jahrgangs (in meiner Jugend nannte man das ‚Streber’), gewann 1969 sogar die nationale Rus-
sisch-Olympiade und nahm daraufhin an der Internationalen Olympiade in Moskau teil. Außerdem
engagierte sie sich in der Freien Deutschen Jugend, einem Umstand, den Merkels Kritiker ihrer
Studentenzeit für den erfolgreichen Abschluss ihres Physikstudiums verantwortlich machen (Ul-
rich Schoeneich in George Packer). Zur Erinnerung: praktisch alle anderen Pfarrerskinder in der
DDR durften nicht einmal studieren ...
Was Angela in ihrer Schul- und Studienzeit in der DDR lernte – sich opportunistisch an alles an-
zupassen, Autorität bedingungslos anzuerkennen und – wenn überhaupt – nur durch fachliche Lei-
stungen, doch auf keinen Fall durch eigene Überlegungen oder Vorschläge aufzufallen, hat ihr
nach 1989 eine einmalige politische Karriere ermöglicht. Natürlich hat dazu auch der absolut
jämmerliche Zustand der Kohl-Partei CDU beigetragen, die durch jahrelange ausschließliche Aus-
richtung auf einen Kreis korrupter Machtpolitiker (Kohls „jüdischen Vermächtnisse“, Walter Leis-
ler Kiep, Wolfgang Schäuble, Walter Wallmann, Leuna Affäre, und nicht zuletzt die „Bundes-
löschtage“ anlässlich der Machtübergabe an die Rot-Grüne Koalition) selbst schon durch und
durch verkommen war.
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Kohls Mädchen: unterschätzt


Die dritte Komponente für den steilen Aufstieg der Angela Merkel in der CDU war natürlich die
Tatsache, dass sie anfangs von allen unterschätzt worden ist, allen voran von Helmut Kohl. Was
würde Helmut Kohl wohl heute sagen, wenn er erführe, dass sein „Mädchen“ praktisch genauso
lange ununterbrochen im Amt war wie er? Erlebt hatte er ja noch, dass Angela Merkel innerhalb
von nur 6 Jahren nach Eintritt in die CDU 2005 Kanzlerin wurde, während Kohl allein 6 Jahre als
Kanzlerkandidat der CDU brauchte, bevor er 1982 durch ein Misstrauensvotum und den Verrat
der FDP an die Macht kam.
Während ihrer Sozialisation in der DDR lernte Angela Merkel etwas, was sie in ihrem ganzen po-
litischen Leben immer zu 100 % beachtet hat: man darf keine Fehler machen, wenn man überleben
will. Diese Einstellung führte zu ihrem ungewöhnlichen Politikstil, der Deutschland über die letz-
ten Jahrzehnte eine Art „bleierne Zeit“ beschert und letztlich für die politische Landschaft bei uns
bis auf den heutigen Tag nachwirkt. Joschka Fischer bezeichnete die Ära Merkel ja mal als „politi-
sches Biedermeier“, als eine Zeit ohne intellektuelle Debatten, aber mit der Aussicht auf einen si-
cheren Zusammenbruch. Der 2015 von ihm vorausgesagte baldige Zusammenbruch ist allerdings
nicht erfolgt, und man sieht: auch Fischer, darin typischer Macho wie seine Politiker-Kollegen von
der CDU, hat Kohls Mädchen unterschätzt (Joschka Fischer).
Um keine Fehler zu machen, musste man in der DDR genau schauen, was die Mächtigen von ei-
nem erwarteten (Lehrer, Kreisleitung, Universität, Parteibüro usw.) – nur so kam man durchs Le-
ben. Das hat sie in der Politik auch gemacht, und dabei das Aussitzen ihres Mentors Kohl zum
Nachteil des demokratischen Meinungsbildungsprozesses weiter optimiert.
Merkels Fehler
Allerdings hat Angela Merkel auch echte Fehler gemacht. Zum Beispiel im Jahre 2003, als sie ihre
Unterstützung für den Irak-Krieg bekundete und damit sogar in der CDU nur 20 % der Mitglieder
hinter sich brachte. Zur gleichen Zeit bekam Schröders Nein zum US-Angriff auf den Irak über
60 % Zustimmung in der Gesamtbevölkerung. Wenn man Angela Merkels Meinungsäußerungen
in der Zeit danach mit den öffentlichen Meinungsumfragen vergleicht, sieht man, dass es nach
2003 bei wichtigen Themen nie mehr eine spürbare Abweichung zur öffentlichen Meinung gab.
Sie hat aus dem Irak-Fehler gelernt. Was natürlich in der Praxis bedeutete, dass sie erst dann eine
halbwegs klare Meinung zu einem politischen Problem äußerte, wenn die Meinungsumfragen in
eine bestimmte (eindeutige) Richtung gingen.
Das hinderte sie allerdings nicht, ihre Meinung bei wichtigen gesellschaftlichen Fragen auch mal
eben um 180 Grad zu ändern. Dazu gehören z.B. ihre Haltung zur Wehrpflicht, die 2010 kippte.
Und das politische Berlin wunderte sich, warum die eben noch hochgelobte „Schule der Nation“,
der Wehrdienst plötzlich nicht mehr angesagt war. Was Angela Merkel und niemand in der Regie-
rung offen aussprach: Nur mit einer Berufsarmee lassen sich größere Auslandseinsätze durchfüh-
ren – deshalb wurde der Wehrdienst gestrichen, der zum Schluss sowieso nur noch 6 Monate dau-
erte. (Stephan Hebel)
Oder denken wir mal an den Mindestlohn, bei dem sie jahrelang betonte, er würde Arbeitskräfte
vernichten und komme mit ihr nicht in Frage. Ihre Kehrtwende kam 2015, der von der CDU und
den Arbeitgebern vorausgesagte Abbau von Arbeitsplätzen aber kam (natürlich) nicht: im Gegen-
teil, der Anteil an schlechtbezahlten Jobs hat weiter zugenommen. Solche Meinungsänderungen
sind eindeutige Zeichen von einer Prinzipienlosigkeit und einer mangelnden moralischen Grund-
einstellung, die typisch für Angela Merkel sind. Ihr selbst sind solche Kehrtwendungen offenbar
nicht weiter aufgefallen, so sehr hat sie alle ihre Entscheidungen dem Bestreben untergeordnet, um
jeden Preis an der Macht zu bleiben. Solche plötzlichen Meinungsänderungen brachten ihr bei Ka-
barettisten den Titel „Weltmeisterin im Zurückrudern“ ein (Volker Pispers) – aber richtig witzig
war es eigentlich nicht, weil sie jedes Mal ihre Entscheidung als „alternativlos“ darstellte.
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Angela Merkels Entscheidungen: immer alternativlos


Großbritannien hatte auch eine Art Merkel an der Regierung: Margaret Thatcher. Von ihr sind
insbesondere zwei Begriffe geblieben, an die man sich erinnert: „There is no such thing as socie-
ty“ und „TINA – There is no alternative“. Das letzte Motto wird auch bei Angela Merkel in Erin-
nerung bleiben. Politische Entscheidungen als alternativlos zu bezeichnen, ist eine Katastrophe für
die Demokratie. Es suggeriert den Teilnehmern am politischen Willensbildungsprozeß, dass eine
(abweichende) Meinung nicht zählt. Es ist ein durch und durch neoliberales Charakteristikum, das
sich nahtlos einfügt in das Phänomen der von Noam Chomsky so genannten „Einengung des De-
battenraums“. In der politischen Praxis bedeutet diese Tendenz, dass in unserer neoliberalen De-
mokratie zwar immer noch jeder seine Meinung sagen darf, aber nur innerhalb eines gewissen
Rahmens (Rainer Mausfeld). Grundsätzliche Diskussionen über alternative gesellschaftliche Rich-
tungsentscheidungen werden nicht mehr geführt. Merkels Rede von der Alternativlosigkeit ihrer
Entscheidungen hat diese für die Demokratieentwicklung katastrophale Tendenz weiter verstärkt.
Es zeigt sich, dass damit unsere parlamentarische Wahldemokratie einen weiteren Schritt auf den
Weg zur Simulativen Demokratie gegangen ist (Ingolfur Blühdorn). Mein Eindruck ist, dass man
zu Beginn der Merkel-Zeit noch manchmal merkte, wenn einem Demokratie nur vorgespielt wur-
de, am Ende war die Simulation so perfekt, dass es nicht mehr auffiel.
„Europa spricht nunmehr deutsch“
Dieses Kauder-Zitat, mit dem der damalige CSU/CDU-Fraktionsvorsitzende 2011 geradezu tri-
umphierend das Ergebnis der Merkel-Politik in der EURO-Krise beschrieb, war in meinen Augen
ein absoluter Tiefpunkt in Angela Merkels Politkarriere. Natürlich war der maßgebliche Einfluß,
den die Kanzlerin auf den Umgang mit den überschuldeten Südländern der EU nahm, schon ka-
tastrophal genug für Deutschland und Europa. Aber den Rechtsaußen der CDU solche Sprüche
klopfen zu lassen, die in Europa starke negative Beachtung fanden und dem Ansehen Deutsch-
lands weltweit geschadet haben, hätte Angela Merkel nicht einfach tolerieren dürfen.
Aber sie tat nichts, kein Dementi, kein Rüffel: gar nichts - mit einem Wort: sie merkelte („mer-
keln“ war übrigens das Jugendwort des Jahres 2015 und bedeutet soviel wie „nichts-tun, keine
Reaktion zeigen“).
Merz wird Parteivorsitzender
Man stelle sich vor, nach einer 16-jährigen Kanzlerschaft würde der Parteivorsitzende der SPD
abtreten und eine Nachfolgerin würde gesucht. Und jemand, der vor 16 Jahren kaltgestellt wurde,
kommt dann plötzlich wie ein Phönix aus der Asche und wird mit über 60 % gewählt. In unserem
Analogie-Beispiel müsste dass dann entweder Rudolf Scharping oder Oskar Lafontaine sein (wä-
ren sie 10 Jahre jünger).
Abgesehen von den Schwierigkeiten, sich einen SPD-Vorsitzenden 16 Jahre ununterbrochen im
Amt vorzustellen (die wechseln ja praktisch im Jahresrhythmus) zeigt doch dieses Gedankenexpe-
riment eindrucksvoll die Wirkung von Angela Merkels Politik auf ihre Partei und damit letzten
Endes auf die Gesellschaft: sie hat in ihrer Zeit an der Macht Stillstand und Rückschritt verursacht
und sich als Entwicklungshemmnis für gesellschaftlichen Fortschritt gezeigt.
Medienbeeinflussung - Meinungsmache
Da in Deutschland keine bürgerliche Revolution gelungen ist, hatten wir praktisch einen monar-
chistischen Obrigkeitsstaat bis ins 20. Jahrhundert (Moshe Zuckermann). Das führte zu einer Un-
tertanen-Mentalität nicht nur im Bürgertum sondern auch bei Journalisten und Historikern, die
(praktisch bis heute) eine gewisse Tendenz entwickelten, Politik bzw. Geschichte als Ergebnis der
Entscheidungen herausragender Einzelpersonen oder Führungspersönlichkeiten anzusehen.
So wurden absolut unsinnige Aussagen unserer Politiker in der Regel so oft wiederholt, dass trotz
ihrer Widersinnigkeit in der Öffentlichkeit ein gewisser „Sinn“ hängen blieb. Denken wir an Kohls
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„blühende Landschaften“, Strucks „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“ oder Merkels


„Wir schaffen das“. Dabei wurden dann von den berichtenden Medien die entscheidenden Fragen
nicht gestellt und diskutiert: bei Kohl wäre das Thema gewesen, welche Bevölkerungsgruppe (so-
wohl im Osten als auch im Westen) denn am meisten für diese blühenden Landschaften bezahlen
muss; bei Struck hätte man fragen müssen, welcher Afghane uns denn angegriffen hat, und Merkel
hätte man auf ein klares Programm mit konkreten Maßnahmen festlegen müssen. Statt dessen
wurde alles, was Angela Merkel an politischen Entscheidungen zustande brachte, mit Ihrem abso-
lut idiotischen Adjektiv als „alternativlos“ dargestellt --- und irgendwann akzeptiert.
Zum x-ten Male: „Wir schaffen das“
Das Drama der flüchtenden Menschen soll angeblich Angela Merkels mitfühlendes Herz berührt
haben. In Wirklichkeit hat sie jedoch einfach ihren normalen Politikstil gefahren: Abwarten, nichts
aktiv unternehmen, auf die Meinungsumfragen hören. Irgendwie gelang es ihr, diese Untätigkeit
als Grenzöffnung für Notleidende darzustellen. Tatsache ist, dass die Grenze im Schengen-Raum
immer offen ist: um sie für Flüchtlinge zu schließen, hätte es eines aktiven (allerdings gegen EU-
Recht verstoßenden) Regierungshandelns bedurft. Und ihr dummer Spruch wäre ihr sicher zum
Verhängnis geworden, wenn das deutsche Flüchtlingsproblem nicht für viel Geld (6 Milliarden
EUR) an die Grenze der Türkei verschoben worden wäre (Mark Galliker).
Was man Angela Merkel und ihrer Regierung allerdings wirklich vorwerfen muß, ist die mangeln-
de Unterstützung der Menschen in Syrien im Jahr zuvor, die erst zu dem Massenexodus der Men-
schen geführt hat: in den Monaten vor dem Flüchtlingsstrom mußten nämlich die internationalen
Hilfsorganisationen ihre Nahrungsmittelhilfe für Syrien mangels ausreichender Finanzierung prak-
tisch komplett einstellen – die Appelle nach Finanzierung (auch an die Merkel-Regierung) verhall-
ten ungehört (SZ vom 14.10.2014). Wem das politische Denken im Konjunktiv gefällt, könnte also
etwas vereinfacht folgende Wirkungskette aufmachen: Hätte Angela Merkel im Oktober 2014 auf
die Hilferufe des Welternährungsprogramms gehört und sich für die Finanzierung der fehlenden
280 Millionen EUR eingesetzt, wäre die Masse der flüchtenden Menschen 2015 ausgeblieben, der
Zulauf der AfD wäre deutlich geringer ausgefallen, das autokratische Regime in der Türkei hätte
weniger Geld und Einfluss bekommen, und der EU wäre eine bis auf den heutigen Tag andauernde
Belastung erspart geblieben. --- Hätte, hätte, Fahrradkette ...
Die Physikerin Merkel
2020, auf dem Höhepunkt des ersten Corona-Jahres, ging eine von der Mainstream-Presse dankbar
rauf und runter verbreitete Meldung durch alle Medien: Der Rückgang der allgemeinen wirtschaft-
lichen Entwicklung in Deutschland hätte dafür gesorgt, dass wir die offiziellen Klimaziele hin-
sichtlich der CO2-Emmissionen erreicht haben, nämlich eine Reduktion von 40 % gegenüber 1990.
Was jeder Klimaforscher weiß und jeder Physiker wissen sollte: durch die für die besondere Situa-
tion des wiedervereinigten Deutschlands vollkommen unsinnige Festlegung des Referenzjahres für
die CO2-Bilanzen auf das Jahr 1990 gehen die durch den Zusammenbruch der DDR-Braunkohle-
Industrie bewirkten CO2-Einsparungen in die Statistik ein und werden damit auf bewusstes Regie-
rungshandeln zurückgeführt. Nimmt man allerdings diesen durch massive Stilllegung von energie-
intensiven DDR-Betrieben und Maschinen bedingten CO2-Rückgang aus der Statistik raus und
betrachtet nur die nach 1994 erreichte Reduktion, fehlen bei der CO2-Reduktion locker 15 bis
20 % an den vereinbarten Klimazielen. In Wirklichkeit hat die Energiepolitik der Merkel-Jahre
gerade nicht zu der eigentlich notwendigen Reduktion von Klimagasen geführt. Da änderte auch
die Hilfe von Frau Corona nichts.
Merkels Privatsache: North Stream II
Auch ein weiteres Beispiel für katastrophales Regieren darf in diesem Zusammenhang nicht uner-
wähnt bleiben: Angela Merkels Einstellung zu North Stream II. Gut, Goldkettchen-Gerd hat sei-
nerzeit die Planung dieser Pipeline initiiert, aber ohne Merkels Haltung zu diesem überflüssigen,
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umweltschädlichen Projekt wäre es nicht realisiert worden. O-Ton Merkel: „das ist ein rein pri-
vatwirtschaftliches Vorhaben“. Diese 9,4 Milliarden EUR Investition als rein privat zu bezeichnen,
ist für eine Berufspolitikerin schon ein an sich ungeheuerlicher Vorgang, der in der Geschichte der
Bundesrepublik seines Gleichen sucht. ∗ Um auf der Ebene der Physik zu bleiben: es wäre so, als
hätte Frau Merkel behauptet, die menschengemachte Klimaänderung sei – ähnlich wie die Erdan-
ziehung – in der Wissenschaft nicht unumstritten ...
Aber in Merkels offizieller Politik von der „Brückentechnologie Erdgas“ gibt es einen rein physi-
kalischen Widerspruch, den uns die Physikerin verschwiegen hat. Nein, nicht der Umstand, dass
zu Beginn ihrer Kanzlerschaft immer Atomenergie als die Brückentechnologie dargestellt worden
ist. Sondern es ist die Tatsache, dass Erdgas – als einziger von den zur Diskussion stehender Ener-
gieträgern – selbst ein extrem klimaschädliches Gas ist, weil es zum überwiegenden Teil aus
Methan besteht. Die Merkel-Regierung versucht also, uns einen Klimakiller als Brückentechnolo-
gie in die CO2-freie Zukunft zu verkaufen. Wenn man die Klimawirkung von Methan über 20 Jah-
re betrachtet, ist es etwa 80 mal so wärmewirksam wie Kohlendioxyd, es wirkt zwar nicht so lange
wie CO2, dafür aber kurzfristig um so heftiger (Angela Hennersdorf). Und russisches Erdgas hat
weltweit den höchsten Methangasanteil von 98 %, wogegen Erdgas aus Norddeutschland oder den
Niederlanden ‚nur’ einen Methananteil von etwa 85 % aufweist.
Außerdem – und hier wird der Kauf von russischem Erdgas in meinen Augen kriminell – ist die
Gasförder- und Verteilungsinfrastruktur von Gazprom in einem maroden Zustand. Rußland, mit
20 % Anteil an der Methan-Emission der weltgrößte Methansünder, gibt nach offiziellen Zahlen
beim Transport des Gases durch Leckagen 0,3 % an die Atmosphäre ab (Konstantin Romanow).
Bei 56,3 Milliarden m3 Erdgas, die Deutschland 2020 aus Rußland per Pipeline bekommen hat,
sind also 170 Millionen m3 unterwegs in die Umwelt gelangt. Berücksichtigt man den Faktor 80
bei der Klimawirksamkeit entspricht diese Menge dann 13,5 Milliarden m3 Kohlendioxid oder
26,5 Millionen t CO2. Soviel CO2 Äquivalent trägt also schon zur Klimaerwärmung bei, bevor das
russische Erdgas bei uns ankommt, d.h. die eigentlichen CO2 Emissionen bei der Verbrennung
müssen noch hinzugezählt werden. Zur Einordnung: in ganz Deutschland betrugen die Emissionen
2020 rund 700 Millionen t CO2-Äquivalent – die von Gazprom offiziell zugegebenen russischen
Methan-Lecks betragen also knapp 4 % des deutschen CO2-Ausstosses.
Überflüssig zu sagen, dass unabhängige Schätzungen bei den russischen Pipeline- und Förderver-
lusten auf deutlich höhere Werte kommen (bis zu 10 x soviel) – aber das spielt ja kaum noch eine
Rolle, wenn man weiß, dass das russische Erdgas bereits nach offizieller Zählung fast soviel Kli-
magase freisetzt wie der gesamte Handel/Gewerbe-Sektor in Deutschland, etwa halb soviel wie
die gesamte Landwirtschaft oder etwa ein Drittel des deutschen Haushaltssektors. Der Fachaus-
druck für diese Methan-Leckagen lautet übrigens „Methan-Schlupf“ – wundervoll euphemistisch.
Also: Der Methan-Schlupf bei den Gasprom-Lieferungen 2020 war genauso hoch wie der Anteil
des Handel- und Gewerbesektors an den jährlichen CO2-Emissionen Deutschlands: das allein ist
Grund genug, die „Privatsache“ Merkels gesetzlich zu verbieten.
Lieferkettengesetz
Würde man das gerade verabschiedete Lieferkettengesetz sinnvollerweise auch auf die Lieferung
von Erdgas aus Rußland anwenden, bräuchte man erst gar keine Betriebsgenehmigung für North
Stream II: der angerichtete Klimaschaden durch Förderung und Transport ist einfach zu hoch, als
dass dieses Produkt nach Deutschland geliefert werden darf. Anders betrachtet, wäre das Gas dar-
über hinaus auch noch viel zu teuer, nämlich dann, wenn man für den Methan-Ausstoß entspre-

∗) Der Satz ist kaum geschrieben, schon ist seines Gleichen gefunden: am 28.12.2021 hat der SPD-Kanzler Scholz
als Replik auf kritische Bemerkungen von Analena Baerbock zu North Stream II tatsächlich Angelas Bemerkung
von der „privaten Investition“, die kein Staatshandeln erfordere, eins-zu-eins wiederholt,. Man staunt und fragt
sich: Warum hat die CDU denn überhaupt so lange einen Nachfolger für Angela Merkel in ihrer eigenen Partei
gesucht?
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chend 80 mal so viel CO2-Steuer zahlen müßte (was ja im Sinne des Kampfes gegen die Klimaän-
derung nur gerecht wäre). Fazit: auch hier war Merkels Politik („das ist eine Investition der Pri-
vatwirtschaft“) eine Katastrophe für Deutschland.
Bilanz
Ein Ansatz, Bilanz von 16 Merkeljahren zu ziehen, läge darin, ihr politisches Handeln bzw. Nicht-
Handeln in Kosten für uns Steuerzahler umzurechnen. Beim Rückgängigmachen des Atomaus-
stiegs z.B. lässt sich klar bestimmen, was diese doppelte Kehrtwende gekostet hat. Auch die un-
sinnige Deckelung beim Ausbau der Erneuerbaren Energien ließe sich relativ einfach monetär be-
werten, wobei eine Extra-Rechnung für die absurde 10 H-Abstandsregelung für Windkraftanlagen
in Bayern Herrn Söder ausgestellt werden muss. Auch die mangelnde Unterstützung der Vereinten
Nationen im Fall von Syrien kann man in EUR ausdrücken, wobei man allerdings abschätzen
müsste, wie viel Menschen aus Syrien auch bei Beibehaltung der UN-Unterstützung geflohen wä-
ren (20%? 30%? der Jurist nennt das Sowiesokosten). Angela Merkels Nicht-Handeln im Diesel-
skandal oder in der Mautaffäre ist schon schwieriger in Geld auszudrücken, und ihre Nicht-Reak-
tion auf Macrons Vorstoß zur Weiterentwicklung der EU lässt sich vermutlich überhaupt nicht
sinnvoll monetär bewerten. Das klappt sicher besser bei der von Merkel aus vollster Überzeugung
forcierten Privatisierung im Krankenhausbereich, wo man den Schaden durch die allein im ersten
Corona-Jahr verlorenen Intensivbetten (4.500) eindeutig bestimmen kann. Vielleicht bringt ja das
Parlament den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages dazu, eine solche Bilanz zu ziehen. Ich
könnte mir vorstellen, dass da ein ganz schöner Milliarden-Schaden zusammenkäme ...
Versuch einer theoretischen Einordnung
Möglich ist auch, dass der Begriff „merkeln“ aus der Jugendsprache herausgelöst wird und Ein-
gang in die politischen Wissenschaften findet. Und dort dann den Politikstil bezeichnet, dessen
wesentliche Merkmale ich gerade beschrieben habe. Dazu gehören natürlich auch solche von
Angela Merkel sukzessive eingeführten Machtverschiebungen weg vom Bundestag und Bundesrat,
und hin zu ihrem Kanzleramt. Ihr Kanzerlamtsminister hatte am Ende ihrer Amtszeit deutlich
mehr Macht und Einfluss als am Anfang. Macht, die Merkel letztlich dem Parlament abgenommen
hatte.
Meine Überlegungen gehen noch eine Abstraktionsebene weiter: 1941 hat der Soziologe Ernst
Fraenkel seine Theorie vom Doppelstaat (Dual State) entwickelt und auf Deutschland im Fa-
schismus angewandt (Ernst Fraenkel). Die Grundidee ist ebenso einfach wie überzeugend: Fraen-
kels Theorie geht von einer Koexistenz eines die eigenen Gesetze achtenden „Normenstaates“ und
eines die gleichen Gesetze missachtenden „Maßnahmestaates“ aus und erklärt so die nationalsozi-
alistische Herrschaftsordnung. Inzwischen ist Fraenkels Analysemodell auch erfolgreich auf die
stalinistische Herrschaft und auf den nach 1953 nicht mehr offene Gewalt anwendenden Repressi-
onsapparat der DDR angewandt worden (Heidrun Budde). Wenn ich Fraenkels Theorie heranziehe,
bedeutet das natürlich keine Gleichsetzung der Situation in der Bundesrepublik mit Stalin oder
eine Relativierung der anderen Diktaturen: ich meine lediglich gewisse Tendenzen zu erkennen,
die auf eine Art von doppelter Staatlichkeit bzw. der Entwicklung eines zweiten Rechtssystems
neben dem Normenstaat deuten. Das fing natürlich schon mit Helmut Kohl an, der sich ja bekannt-
lich auf ein angebliches Ehrenwort berief und gesetzeswidrig Parteispenden geheim hielt.
Angela Merkel hat diese Tendenz in meinen Augen von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt wei-
ter verstärkt und durch ihrer Verschleierungspolitik (z.B. die Verwendung von Falschwörtern) und
ihre Tolerierung von Unfähigkeit, Betrug und Korruption in Ihren Kabinetten geradezu systemati-
siert. Dazu zählt z.B. auch die Tatsache, dass sie es zugelassen hat, dass der Bundestag unter ihrer
Ägide von 614 Abgeordneten 2005 auf 736 Sitze im Jahr 2021 anwuchs, obwohl das Grundgesetz
nur 598 Mitglieder vorschreibt. Im englischen Original heißt der Fraenkelsche Begriff Maßnahme-
staat übrigens „prerogative state“ (= Vorrechtsstaat). Und meine These lässt sich in einem Satz
zusammenfassen: Unter 16 Jahren Angela Merkel hat sich der in Ansätzen schon vorhandene Vor-
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rechtsstaat – also das wie selbstverständliche Inanspruchnehmen von Sonderrechten durch die Re-
gierung und die ihm nahe stehenden Mächtigen in der Wirtschaft – quasi unmerklich weiterentwi-
ckelt und, so fürchte ich, letztlich fest etabliert. Und das ist die eigentliche Katastrophe, die auch
durch einen Regierungswechsel nicht einfach geändert werden kann.
Zu guter Letzt
Was erst jetzt – Ende Dezember 2021 – bekannt wird: Angela Merkel hat in den letzten 9 Tagen (!)
ihrer geschäftsführenden Regierung Rüstungsexporte für fast 5 Milliarden EUR genehmigt und
damit die Exporte des laufenden Jahres auf die Rekordhöhe von 9,4 Milliarden EUR gebracht
(Durchschnitt der letzten 10 Jahre ca. 6 Milliarden pro Jahr). Hier reicht ein einfaches „Pfui“ nicht
mehr aus. Ein solches Verhalten der CDU/SPD-Regierung ist schlicht widerwärtig und zeigt den
Zustand der Verkommenheit, in dem die deutsche Politik unter Merkel inzwischen angekommen
ist. Man sollte Frau Merkel und den an dieser Entscheidung beteiligten Ministern ihre Ernen-
nungsurkunden rechts und links um die Ohren schlagen und sie ohne Pension nach Hause schicken,
damit wäre unserer durch 16 Jahre Merkel schwer geschädigten Demokratie vielleicht geholfen.

Quellen (Auswahl)
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kamp.de/mediadelivery/asset/e68269ce9c414998a59aea0bc09bb27d/simulative-
demokratie_9783518126349_leseprobe.pdf?contentdisposition=inline
Budde, Heidrun, „Fraenkels ‚Doppelstaat’ und die Aufarbeitung des SED-Unrechts, Bundeszentrale für Politische Bildung,
https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/ 174168/ fraenkels-doppelstaat-und-die-aufarbeitung-des-sed-
unrechts
CICERO, „Der Nase nach zum Mindestlohn“, https://www.cicero.de/innenpolitik/der-nase-nach-zum-mindestlohn /46347
Fischer, Joschka, „Merkels politisches Biedermeier geht zu Ende“ in: DER STANDARD, 27.02.2015 https:// www. derstan-
dard.at/story/2000012275494/merkels-politisches-biedermeier-geht-zu-ende
Frank, Maurice, „Merkel was no Saint“, UNHERD.COM, https://unherd.com/2021/12/angela-merkel-is-no-saint/
Fraenkel, Ernst, „The Dual State, A Contribution to the Theory of Dictatorship“, Oxford University Press, 2017,
https://archive.org/details/in.ernet.dli.2015.13142
Galliker, Mark, siehe Klöckner, Marcus, „Merkel betreibt eine inhumane Politik und verpackt sie in humane Worte“ Interview von
Mark Galliker, 31.03.2018, NachDenkSeiten, https://www.nachdenkseiten.de/?p=43253
Hebel, Stephan, „Bald haben wir sie geschafft“ in: DER FREITAG Nr. 31/2021 https://digital.freitag.de/3121/bald-haben-wir-sie-
geschafft/
Hennersdorf, Angela, „Warum die Deutsche Umwelthilfe Nord Stream 2 stoppen will“, in: WirtschaftsWoche 05.März 2020,
https://www.wiwo.de/unternehmen/energie/russische-ostsee-pipeline-warum-die-deutsche-umwelt hilfe-nord-stream-2-stoppen-
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Mausfeld, Rainer, „Warum schweigen die Lämmer? Demokratie, Psychologie und Techniken des Meinungs- und Empörungsma-
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https://www.researchgate.net/publication/317580766_Warum_schweigen_die_Lammer_Demokratie_Psychologie_und_Techniken
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Packer, George, „The Quiet German. The astonishing rise of Angela Merkel, the most powerful woman in the world“, THE NEW
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Pispers, Volker, „Bis Neulich“, aktualisierte Version 2011
Süddeutsche Zeitung (SZ), „Flüchtlinge in Nahost müssen hungern“, 14. Oktober 2014, https://www.sued deut-
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Romanov, Dr. Konstantin, „Methane emissions management in Russia: Gazprom case study“, Der erste Satz des Gazprom-
Managers verdient Beachtung: „In contrast to the US and the European Union, Russia has laws that list methane not only as a
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https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/energy_climate_change_environment/events/presentations/speaker_intervention_-
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von Lucke, Albrecht – „Das Erbe der Merkel-Ära: Aus Krise wird Katastrophe“ in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
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Zuckermann, Moshe, „31. Pleisweiler Gespräch über Deutschlands Rolle in der Welt“, NachDenkSeiten,
https://www.nachdenkseiten.de/?p=55184

Alle Webseiten aufgerufen zwischen 21.12.21 und 20.01.2022

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