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ISBN-13: 978-3-495-48163-9

ISBN-10; 3-495-48163-X

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»Wie wäre eine Geschichte zu denken, der auch die Besiegten und
Verfolgten einen gewissen gültigen Sinn verleihen könnten?« Diese
Frage durchzieht wie ein Leitfaden die Vielfalt der Themen, die in
diesem Band behandelt werden, und es ist vor allem die in ihren
Dramen und tragischen Wendungen erfahrene Geschichte des
20. Jahrhunderts, die dabei zur Sprache kommt: der Nationalsozialis­
mus, der stalinistische Terror, der poststalinistische Totalitarismus,
der Kalte Krieg und das Gleichgewicht des Schreckens, der israelisch­
palästinensische Konflikt, der Antisemitismus. Weil Geschichte aber
nicht mu die erlebte, sondern immer auch die auf den Prüfstand ge­
stellte Geschichte meint, thematisieren alle Texte mehr oder weniger
dieselbe Grundspannung menschlicher Erfahrung: einerseits das Ge­
fühl, von den geschichtlichen Ereignissen »mitgerissen« zu werden
und in der eigenen Zeit »Unterzugehen«, andererseits rue Sehnsucht,
sich aus der Geschichte »herauszulösen« und ihrem Determinismus
zu entrinnen. Die philosophischen Aufsätze und Schriften aus den
Jahren 1929 bis 1992 stellen den Versuch dar, im unerbittlichen Lauf
der Ereignisse Spuren einer anderen Dimension der Geschichte zu
entdecken, und sie machen deutlich, dass Levinas nicht nur ein auf­
merksamer Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts gewesen ist, sondern in
seinem Denken des Anderen immer auch ein Stück weit »un zeitge­
mäß« geblieben ist.

Emmanuel Levinas (1906-1995), zuletzt Professor für Philosophie


an der Sorbonne, zählt zu den bedeutendsten und einflussreichsten
Denkern der Gegenwart. Weitere Werke in Übersetzung bei Alber:
Vom Sein zum Seienden; Die Spur des Anderen; Totalität und Un­
endlichkeit; Wenn Gott ins Denken einfällt; Jenseits des Seins oder
anders als Sein geschieht.
Emmanuel Levinas

Die
Unvorhersehbarl<eiten
der Geschichte

Aus dem Französischen


von Alwin Letzkus

Verlag Karl Alber Freiburg/München


Veröffentlicht mit Un ters ü
t tzung des
französischen Ministeriums für Kultur - Cen tre National du Livre
und der Maiso n des sciences de l'homme, Paris

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)


Printedon acid-free paper

Deutsche Erstau sgabe

Alle Rechte vorbehalten - Printed in German y


©Verlag Kar ! Alber GmbH Freiburg I Münche n 2006
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Föhren
Druck u nd Bindung: fg b freibu rger graphische betriebe 2006
·

www.fg b.de
JSBN-13: 978-3-495-48163-9
ISBN-10: 3-495-48163-X
Inhalt

Vorwort
Prüfungen der Geschichte, Herausforderungen des Denkens
(von Pierre Hayat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Über den Hitlerismus 1934

I. Einige Be rt ach tungen zur Philosophie des Hit el ris mus 23 ·r

Husserl, Heidegger, Jean Wahl

JT. Üb er die »Ideen « von E. Husserl . 37 '


II I. Freiburg, Husserl und die Phänomenologie 79

IV. Ein Brief Jean Wahl be treffend 89

V. Ein Bei trag zu Jean Wahls Buch Kleine Geschichte des


Existentialismus . . . . . . . . . . . . . . 93

Sartre, der Existentialismus, die Geschichte

VI. Existen tialismus und Antisemitismus 101


V II. Die Wirklichkeit und ihr Schatt en 105 l
V I I. Eine uns v ertraute Sprache 125
IX. Sartre entdeck tdie heilige Ges chi chte
(Gesprä ch mi tVictor Malka) 131

5
Friedliche Koexistenz

X. über den Geist von Genf 137


XI. Prinzipien und Gesichter 141
XII. Die russisch-chinesische Debatte und die Dialektik 145

Laizismus und Moral

XIII. Der Lai zismus und das Denken Israels . . . . 151

Gespräche

XIV. Vom Nutzen der Schlaflosigkeit


(Gespräc h mit Bertrand Revil o
l n) 171
XV. Gesprä ch mit Roger-Pol Droit . . 175

Nachweis der französischen Origin altexte 182


Vorwort

Prüfungen der Geschichte


Herausforderungen des Denkens

Pierre Hayat

Als das Projekt des vorliegenden Sammelbandes mit Texten von Em­
manuel Levinas, die sich über einen Zeitraum von 63 Jahren erstre­
cken - von 1929 bis 1992 -, konkrete Gestalt anzunehmen begann,
ste llte sich die Frage nach einem Titel. Levinas hatte sofort einen
Vorschlag parat: Les impnivus de l'histoire - Die Unvorhersehbar­
keiten der Geschichte.
Die Ges chi chte ist in der Tat in diesem Buch allgegenwärtig.
Doch die Philosophie hat hier nicht die Absicht, wieder einmal Ein­
blick in die Notwendigkeit der ges chi chtlichen Entwicklung zu be­
kommen. »Die Geschichte«, das meint zugleich die erlebte und die
auf den Prüfstand gestellte Geschichte. Es ist die in ihren dramati­
schen Ereignissen und tragischen Wendungen erfahrene Geschichte,
vo n der der Philos oph Zeugnis ablegt.1 Eine Geschichte, über die von
Seiten eines Man nes na chgeda ch t wird, der sich bewusst ist, in seiner
eigenen Zeit »eingetaucht« zu sein, der aber zugleich ein starkes Ver­
langen nach »Herauslösung« verspürt .2

Einige der hier veröffentlichten Texte sind Gelegenheitsschriften, an­


dere dagegen sind »philosophische« Texte in einem strengen Sinne.
Aber gerade diese Verschiedenheit macht deutlich, dass es möglich
ist, auf vielerlei Weise einen Zugang zu gewinnen zu dem einzigarti-

1 »Zwei Weltkriege, dazu lokale Kriege, der Nationalsozialismus, der Stalinismus, dazu

die Entstalinisierung, Lager, Gaskammern, Atomwaffenarsenale, Terrorismus und Ar­


beitslosigkeit- recht v iel für eine einzige Generation, und hätte sie all dies auch nur als
Zuschauer erleben müssen« (E. Levinas, Eigennamen. Meditationen über Sprache und
Literatur. Textauswahl und Nachwort von felix Philipp lngold. Aus dem französischen
von Frank Miething, München/Wien: Hanser 1988, S. 7).
1 E. Levinas, Judentum und Gegenwart, in: ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das

Judentum. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M.: Jüdischer
Verlag 1992, S. 165.

7
Vorwort

gen Denken von Emmanuel Levinas, einem Denken, das offen für das
Neue unserer Zeit, aber zugleich auch unzeitgemäß ist, aufmerksam
für die Tagesereignisse und doch geleitet von einem Anspruch, der
über die bloßen Fakten hinausgeht. Ob es sich nun um phänomeno­
logische Studien oder um Gelegenheitsschriften handelt, Levinas
hört nie auf zu philosophieren.

..

Der erste Text dieses Bandes (S. 23-34) - Einige Betrachtungen zur
Philosophie des Hitlerism us, erschienen 1934 in der Zeitschrift Esprit
-lässt wie kein anderer ermessen, von welch großer Bedeutung die
Geschichte unseres Jahrhunderts im leben und Denken von levinas
gewesen ist.
levinas unterstreicht mit Nachdruck die Ungeheuerlichkeit des
Ereignisses der Machtergreifung Hitlers im Jahr zuvor. Er macht
deutlich, dass der Hitlerismus einen radikalen Bruch mit dem west­
lichen Humaniismus markiert. Der Aufklärung der Vernunft stellt
der Hitlerismus die dunkle Botschaft der Rasse gegenüber; das Ideal
der Einheit freier Willen ersetzt er durch die Rechtfertigung der Ge­
walt, die erobern wil\.3
Doch levinas fragt auch nach dem Zustand der westlichen Ge­
sellschaft in den dreißiger Jahren, die »den lebendigen Kontakt zu
ihrem wahren Ideal der Freiheit« verliere (S. 31) und damit das Feld
frei mache für eine Kultur, die »das Sein einfach hinnimmt«.4 Und
schließlich ist er beunruhigt darüber, dass sich Europa in seinem Ii-

3 Zwischen 1935 und 1939 veröffentlicht Li1vinas in der Zeitschrift Paix et Oroit, die
von der Alliance israelite universelle herausgegeben wird, mehrere Aufsätze, in denen
er den Hitlerismus bereits als die •schwerste Prüfung - eine noch nie da gewesene
Prüfung-, die das Judentum je zu bestehen hatte«, kennzeichnet (Droil et Paix, 1935,
Nr. 8, S. 4). Er geht hier auch der Frage nach dem ,.Wesen des Antisemitismus« nach
und ana lysie rt den gewalttätigen Gegensatz zwischen Heidentum und Judentum (Paix
et Droit, 1938, Nr. 5, 5. 3-4). Diese Texte wurden zusammengestellt und herausgegeben
von Catherine Chalier und Miguel Ab ensour (L'Herne, Emmanuel Levinas, Nr. 60, Pa­
ris: Her n e 1991, S. 139-153).
• E. Levinas, Ausweg aus dem Sein. Mit de n Anmerkungen von )acques Rolland. Ober­

setzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Al exander Chucho­
lowski. Französisch-deutsch, Hamburg: Meiner 2005, S . 65 (modifizierte Übersetzung) .

8
Vorwort

beral en und Universalistischen D enken als unfähig e rwies, sich vor


der über Deutschland hereinbrechenden Barbarei zu schüt ze ns

Im Jahre 1923 beginnt Levinas mit seinem Studium, und zwar in


Frankreich. An de r renommierten Universität in Straßburg entdeckt
er »rein z ufällig« das Werk Husserls. 6 Für ihn ist dies eine über­
raschende intellektuelle Begegnung, die er im Nachhinein als eine
Notwendigkeit empfindet: In der geistigen Atmosphäre der zwanzi­
ger Jahre »beginn t für mich da s ganze Abenteuer mit de r Phänome­
nologie und ein Weg, der mir- wie man heute sagt - >unausw eich­
lich < scheint«. 7
Der erste Tex t, den L evinas im Alter von 23 Jahren publiziert, ist
übrigens eine überaus präzise Studie Über die Ideen von E. Husserl
(S. 37-78). Der Artike l e rscheint 1929 in der Revue philosophique de
la France et de I'etranger, ein Jahr vor seiner Dissertation übe r Die
Theorie der Intuition in der Phänomenologie Husserls.s In dieser
Studie, die zu den ersten über Husserl in Frankrei ch zähl ,t stellt Levi­
nas das husserlsche Projekt einer Klärung »der Seinsthesis« dar, die
in der natürlichen Einstellung, in der wir leben, auf naive Weise vo­
rausgesetzt wird.9 Und in der Tat setzen wir voraus, dass die Dinge,
die uns gegeben s ind, auch existieren. Aber der Sinn ihrer Existenz
bleibt uns entzogen. Gewöhnlich sehen wir das, was sich gibt, und
machen uns keine Gedanken darüber, ob wir denn auch wissen, »wie
sich das Gegebene als Gegebenes gibt« {S. 48 ). Die Phänomenologie
erinnert uns daran, dass die Seinsthesis dunkel bleibt und diese Dun­
kelheit dem Skeptizismus Tür und Tor öffnet. Um den Skeptizismus

s Levinas wird 57 Jahre später auf diesen Text von 1934 zurückkommen: »Dem Aufsatz
liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Ursprung der blutigen Barbarei des National­
sozialismus nicht in einer zufälligen Anomalie der menschlichen Urteilsfähigkeit und
auch nicht in einem bloßen ideologischen Missverständnis zu suchen ist« (S. 33 f.).
6 E. Li!vinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo. Herausgegeben
von Peter Engelmann, Graz/Wien: Böhlau 1986, S. 21.
1 Fran�is Poiril?, Emmanuel Levinas. Qui etes-vous?, Lyon: La Manufacture 1987,

S. 73.
a E. Levinas, La thiorie de l'intuition dans Ia phenornenologie de Husserl, Paris: Alcan
1930.
9 In seiner Einleitung zu La theorie de /'intuition dans Ia phenomenologie de Husserl
gibt Levinas eine Zusamm enfas sung über den Stand von Husserls Fors chungen im Jahre
1930 (ebd., S. 11-18).

9
Vorwort

zu üb erwind en, v erbi et et es sich di e Phänom eno logi e, in d em stil ­l


schw eig end en Glaub en an di e Exi st enz d er W elt zu l eb en, und s et zt
dah er di eS einsth esi s in Klamm ern. Dies i st di eEpoche (S. 51). Ab er
es sch eint so, als ob sich das B ewusst s ein d er Epoche wid er s etzt e. Da s
B ewu sst s ein a l�ein kann sich s elbst wahrn ehm en. E s i st absolut eEvi­
d enz, d er eig entlich eAnfang d er Wis s enschaft.
Le vina s h ebt h ervo r, d as s »d iegroß eOri ginalität« Hu s s er sl da­
rin li egt, in d er Int entionalität di e Grund eig en schaft d es B ewusst­
s eins g es eh en zu hab en (S. 52). Da s B ewu s sts ein ist imm er B ewu s st­
s ein von etwa s , j ed er Wun sch ist Wunsch d es »G ewün scht en« ( ebd .).
Di e Phänom enologi e erlaubt es dah er, üb er di e tradition el le Frag e
nach d er Üb er ein stimmung von D enk en und G eg enstand hinaus­
zug eh en. D enn nach Hu s s erl »ist di e >B ezi ehung auf d en G eg en­
stand < nichts and er es al s das B ewusst s ein s elbst«, sodass a lso »diese
>Beziehung auf den Gegenstand< das ursprüngl iche Phänomen dar­
stellt, und nicht etwa ein Subjekt und ein Objekt, die zueinander
finden müssten« ( ebd. ). 1o
Ab er di e !Bed eutung. di es er Studi e, di e Levinas in s eh r jung en
Jahr en vorl egt, il egt nicht nur darin, das s er h ier ein eEinführung gibt
in di ebu s s er ls eh ePhänom enologi e, di ebi s dahin in Frankr eich noch
unb ekannt wa r. Levinas kann auch d eutlich mach en, worin s ein er
An sicht nach »da s b esond er s Int er es sant e« an Hu s s er l b est eh :t Di e
Th eori e d er I nt entionalität eröffn et ein »un endlich es Forschung s­
f eld«, sofern man zug est eht, dass di eB ewusst s einsakt ekompl ex und
au s ein er Vi elzahl mit einand er v erbund en er Int ention en zu sam­
m eng es etzt sind (S. 64). Di eTh eori ed er Int entionalität soll da s D en­
k en dazu erzi eh en, vom G eg en stand zur Int ention und von d er
Int ention zu all d em zurückzug eh en, was si e als Horizont d es G e­
s eh en en mit umfas st. Si e sol l d eut ilch mach en , dass d er B lick, d er
sich auf ein eS ach ericht et, s elb st schon von dies er Sa ch e eing enom­
m en i st.
Di e in di es er Studi e von 1929 vorg elegt eL ektür e Hu s s erl s is t
b er eits durch Le vinas' eig en eSichtweis eg eprägt, was sich auch darin
z eigt, da s s hi er mit Nachdruck au f di e int er-subj ektiv e W elt v er ­
w ies en wird, di e im W es en d er Wahrh eit s elbst vorausg es etzt ist
(S. 77). D er Auf satz end et mit d er Einfühlung, di e d en Akt b e-

10 Levinas zeigt in aller Klarheit, wie die husserlsche Phänomenologie das cartesianische
Projekt wieder aufgreift und zugleich aber auch die Meditationes de prima philosophia
erneuen und »bereichert«.

10
Vorwort

schreibt, dur ch de n wir das Bewusstseinsle ben des Anderen erkennen


(ebd. ).11
Diese Studie über die Ideen Husserls ist zu einer Zeit erschie­
nen, als Levinas in Freiburg war, um für zwei Semester (1928/ 29) die
Seminare Husserls zu besuchen. In einem Aufsatz von 1931 erinnert
er an Freiburg als die »Stadt der Phänomenologie« (S. 79), in der
unter den Studenten, d ei gerade die Philosophie Husserls zu ent­
decken be gannen , die Freude a n der Arbeit fast schon schwärmeri­
sche Züge annahm. Aber in Freibur g be ge gnete Levinas nicht nur
Husserl. Er en d t e ck te hier auch Heidegger. In diesem Aufsatz von
1931 mit dem Titel Freiburg, Husserl und die Phänomenologie
(S. 79-88 ) versucht Levinas die mit den Gefühlen (und vor allem
mit dem Gefühl der Angst ) verbundenen Intentionen freizulegen .

Für den jungen Levinas zeu gt die phänomenologische Analyse der


Angst, wie sie von Heide gger durch geführt wurde, von der Frucht­
barkeit eines Denkens, das sich Rechenschaft abzule gen vermag von
dieser »in höchste m Maße metaph ysischen Einstellung« (S. 83), in­
dem sie uns in der Welt die Spur des Nichts offenbart.12
Der Brief, den Le vinas 1937 an Jean Wahl schreibt (S. 89-91),
und der Komment ar zu einem Vortrag, den Wahl 1946 gehalten hat
(S. 93-97), bestäti gen noch einmal den Einfluss, den der Autor von
Sein und Zeit für eine gewisse Zeit auf Levinas ausgeübt hat. Levi­
nas unterstreicht den »Radikalismus, der in der Geschichte der Phi­
losophie ohnegleichen ist«, mit dem sich bei Heidegger die eigentli­
che Transzendenz nicht als ein Übergang von einem Seienden zu
einem anderen Se ienden, sondern als Übergang vom Seienden zum
Sein vollzieht (S. 90). Inde m Heidegger mit der Gewohnheit brich t,
das Wort Sein so z u verwenden, als ob es sich dabei um ein Substan­
tiv handelte, führt er in es zugleich die Beziehung, die Bewegung
und die Möglichkeit ein. Wenn Heidegger vom »ln-der-We tl -sein« ,
vom »Sein zum Tode« und vom »Mitsein« spricht, dann »liegen
diese Präpositione n in, zum und mit bereits in der Wurzel des Verbs
sein (so wie ex schon in der Wurzel von existieren lie gt)« (S. 95 ).
Levinas geht sogar so weit, Heidegger als den ei gentlichen Philo -

11 Die Theorie der Einfühlung wird später eines der Diskussionsfelder in der Auseinan­
dersetzung mit der husserlschen Phänomenologie werden. Vgl. z. B. E. Levinas, Außer
sich. Meditationen über Religion und Philosophie. Herausgegeben und übersetzt von
Frank Miething, München: Hanser 1991, S. 32-35.
12 E. Levinas, Etlzik und Unendliches, a. a. 0., S. 26 f.

11
Vorwort

sophen des Existentialismus zu betrachten, auch wenn diese r den


Begriff zu rückweist (S. 93).13 Denn Heidegge rers cheint die »bis da­
hin harmlose und unspe ktakuläre« Tatsache des E xistierens plötzlich
als »das Abenteuer selbst« (S. 95). Die Existenz ist Transzendenz, ein
Auszug in die Wel tund ein Entwurf über sich h inaus als Sein in der
Welt.
Aber was Heidegger be trifft , »können wir nicht die Tatsache
außer Acht lassen, dass in der Zeit des au fkommenden und seine
ersten Triumphe feiernden Nazismus dieser si ch mit Entschiedenheit
in die Gefolgschaft der Nazifüh rer ein reihte«14. Diese ungewöhnlich
klare Aussage von Jean Wahl im Jahre 1946 anlässlich eines Vor rt ags
über den Exis ten italismus im Club Maintenan t könn te auch von
Le vinas stammen. Jean Wahl geht es vor allem darum 1 nach den Kon­
sequenzen zu fragen, die von »einem moralischen Standp unkt her«
aus eine r solchen Philosophie zu ziehen sind, die eine in die Welt
geworfene Exi stenz zum Vorschein bringt.15 Dies wird auch die Frage
von Le vinas sein.16

Levinas konnte die E h t ik als »Erste Philosophie« be trachten, weil für


ihn, im Gegensa tz zu Heidegger, das Sein n icht den letzten Ho rizont
der Philosophie dar stellte. Bereits in einem Essa y von 1935, Ausweg
aus dem Sein, stell tLevinas »das tiefe Bedürfnis, das Sein zu verlas­
sen« in den Mittelpunkt seine rüberlegtmgen 17 Zwei Jahre vor Er­
scheinen von Sartres berühm tem Roman Der Ekel entwi ckelt er eine
subtile Phäno menologie des Ekels, de r besch rieben wi rd als »Un­
möglichkeit, das zu sein, was man ist, in dem man aber zugleich an
sich selbst gekettet ist, eingeschlossen in einem engen Kreis, de rer­
stickt«18

13 »Die Frage, die mich beschäftigt«, schreibt Heidegger an Wahl, •ist nicht die nach der
Exist enz des Menschen; es ist vielmehr die nach dem Sein a ls solchen.« Lettre a Jean
Wahl, Bulletin de Ia societe fran�aise de philosophie, Bd. 37 (1937), S. 193.
14 Jean Wahl, Esquisse pour une histoire de « l'existentia/isme » suivie de: Kafka et

Kiergegaard, Paris: L' Arche 1949, S. 49.


1s
Ebd., S. 44 und 53 f.
16 E.
Levinas, Die Zeit und der Andere. Übersetzt und mit ei nem Nachwort versehen
von Ludwig Wenz[er, Hamburg: Meiner 1989. Das Buch umfasst die vier Vorträge, die
Levinas 1946 an dem von Jean Wahl gegründeten College philosophique gehalten hat.
'7 E. Levinas, Ausweg aus dem Sein, a. a. 0., S. 63.
ts Ebd., S. 49 (modifzierte Übersetzung).
i

12
Vorwort

Der Ein fluss, den die phänomenolo gis ch en Arbeiten de sjungen


Levinas in den dre ißiger Jahren au fSar rt e ausgeübt haben, ist unbe­
stritten, au ch wenn dies no ch wenig bekannt ist 19 Es wäre übrigen s
nützlich, Sartres Existentialismus, für den die mens chli che Exi stenz
z m Freiheit verdammt i st, einmal mi t der Metaph ysik von L evinas
zu vergleichen, ü f r den die Existenz überhaupt erst zur Mens chli ch­
keit erwacht, wen n sie als Freiheit geda cht und in sie einge setz t ist.
Zwischen der phä nomenologischen Ontologie von Das Sein und das
Nichts und der levinass chen Phänomenologie, die in e ine Ethik um­
s chlägt, sind die Übereins itmmungen genau so bedeutsam wie die
Unters chiede. 20 Die vier Texte, die in dem vorliegenden Band ers chei­
nen, ma chen die Nähe und die Distanz zwis chen beiden Denkern klar
deutlich.
An erster Ste le der Artikel Existentialismus und Antisemitis­
mus, der 1947 in der Zeits chrift Paix et Droit, die von der Allian ce
israeli et universelle herausgegeben wurde, erschienen ist. Levinas
kommentiert hier einen Vortrag, den Sartre am 3. Juni 1947 über
die Juden frage gehalten hat, fast ein Jahr na ch Erscheinen seiner Be­
trachtungen zur ]udenfrage. Levina sbegrüßt darin »einen Versu ch,
den Men schen so zu denken, dass in se n i e Geistigkeit auch seine
ges chicht ilche, ökonomis che und gesellschaftliche Situation mi thi­
ne ingenommen i st , ohne sie darum auch s chon zu einem bloßen Ge­
genstand des Denkens zu ma chen« (S. 103). Der Universalismu s
einer Philosophie der Mens chenrech te verliere mit Sartres Exis­
tentia il smu s folgli ch seine Abstraktheit. Man kann si ch allerdings
fragen, ob Levinas das, was ihn selbs tbeunruhigt und was er bereits
in Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hit/erismus (S. 23-34)
dargelegt hatte, hie r ni cht auf den Existentiali smus von Sartre pro­
jiziert. Si cher i st jedenfall s, dass er im Jahre 1947 den Versu ch unter­
nimmt, mit Sartre und der »modernen Ph ilo sophie« in ein Ge p s rä ch
zu kommen.
Levinas su cht dieses Gespräch mit Sartre, wennglei ch auf einem
eher indirekten Wege, au h c in dem Au fsatz Die Wirklichkeit und ihr
Schatten, der 1948 n i Les Temps modernes erschienen ist (S. 105-
124). Dieser äußerst energische Tex tgegen die Kunst und die Litera-

19 »Ich kam durch Levinas zur Phänomenologie und ging nach Berlin, wo ich fast ein

Jahr blieb« Oean-Paul Sartre, Situations IV, Paris: Gallimard 1964, S. 192). Vgl. auch
Sirnone de Beauvoir, In den besten Jahren, Reinbek: Rowohlt 1994, S. 61.
20 Zu dieser Frage vgl. Salomon Malka, Lire Uvinas, Paris: Cerf 1984, S. 27-37.

13
Vorwort

tu r, verstörend! und bissig im Ton , ist ein Essa y, dessen philosophische


Tragweite wei t über die Grenzen einer bloßen Auseinander se tzung
mit Sartres Das Imaginäre hinausgeht. Trot zdem wurde ihm e in be­
merkenswertes Vorwort vorangestellt, das mit »Temps modernes«
unterzeichnet ist und in dem der Au o t r eine peinlich genaue Sorgfalt
darauf verwendet, die Distanz zu ma rkieren, die Sartre von Levinas
trennt .21
U�vinas definiert die Kunst al s »ihrem Wesen nach ungebun­
den « (S. 122) und s tellt s ci h damit gegen die allgemeine Tendenz,
sie im Sinne einer engagier ten Aktion zu denken. Doch weit davon
entfernt, das Kunstwerk in sein er Dimension des Unverbindlichen
aufzuwerten, sieht Le vinas in der Kunst vielmehr die Ersetzung einer
Welt , die es z u verbessern gilt , durch das ;mr V oll endung gebrachte
Abbild dieser Welt. Die Kunst verzichtet darauf, die Wirklichkeit zu
denken und a uf sie einzuwirken. >>Sprechen Sie nicht ! Grübeln Sie
nicht ! Bewundern Sie still und in aller Ruhe ! - So lauten die Rat­
schläge einer Weisheit , die sich mit dem Schönen zufrieden gibt«
(ebd . ) . Die Liebe zu dem , was ist- das ist der Beitrag der Kunst für
die Welt. Ihre vermeintliche Interesselosigkeit ist nur die Kehr seite
22
ihrer Unverantwortlichkeit.
t
Diese Inf ragestellung des guten ästhetischen Gewissens gründet
in einer Phän omenologie der Seinsform eines Kun stwerkes und der
ihr eigentümlichen Zeitlichkeit. »Ewig wird das aufge hende Lächeln
der Mona Lis a nicht zu einem wirklichen Läche n l au fblühen. Eine
ewig in der Schwebe bleibende Zukunft um spielt die erstarrte Posi­
tion der Statue wie eine Zukunft , die für immer Zukunft b el iben
wird« (S. 117). Die Kunst bringt eine Freiheit zum Ausdruck , die

2t Les Temps modernes, 1948, Nr. 38, S. 769f.


22 Nach Die Wirklichkeit und ihr Schatten wird Levinas teilweise eine Neubewertung
der Kunst vornehmen und sie im Lichte der Ethik betrachten. So schreibt er z. B. in
Humanismus des anderen Menschen: »Das bis zu Ende gedachte Werk fordert eine
radikale Großzügigkeit der B ewegung, die im S eiben auf das Andere hinfü hrt• (E. Levi­
nas, Humanismus des anderen Menschen. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen
von Ludwig Wenzlet Hamburg: Meiner 1989, S. 34). Und in einem Gespräch mit Fran­
soise Armengaud über das künstlerische Werk von Sosno spricht U�vinas sogar von
einer Kunst, die Verantwortung he rvorr uft (De l'obliteration. Entretien avec Fran�oise
Arrnengaud apropos de l'ceuvre de Sosno, Paris: Editions de Ia Difference 1990, S. 26)
und von dem Drang befreit, Herrschaft über die Dinge auszuüben (ebd., S. 28). Vgl dazu
auch Fran�oise Armengaud, ttlliqu e et esthlitique. De l'ombre al'obliteration, in: !.:Her­
ne, Ernmanuel Levinas, a.a.O., S. 499-507.

14
Vorwort

n ci ht in Erfüllung geht, und bleibt damit eine K arik atur des Lebens.
Das Kunstwerk, d as nichts anderes als plastisches Bild, Idol und sei­
nem Wesen nach Statue, Standbild, st, i kann die »Gegenwartsau f­
gabe«, nämlich in die Vergangenheit zurückzugehen oder eine neue
Zukunft zu versprechen, nicht erfüllen. Weil d as Kunstwerk immer
parallel zur konkreten Dauer des Lebens verläuft, markiert es einen
Stillstand der Zeit , den Levinas als »Zwischen -Zeit« bezeichnet, als
endlose Dauer eines Augenblicks, der weder die Gegenw art über­
nimmt noch die Vergangenheit in den Blick n m i mt und dessen Zu­
kunft daher immer in der Schwebe bleibt. 23
Wie man sieht, wurden in Die Wirklichlceit und ihr Schatten
»die Ideen Sartres nur in den Blick genommen«24. Und eigentl ich
zielen die Fragen, die Levinas an den Herold des französischen Exis­
tentialismus stellt, auch gar nich t in erster Lin ei auf die Kunst und
nicht einmal auf die von Sartre und seinen Freunden verfochtene
The se des Engagements. 25 Denn Levinas interessiert sich vor allem

23 Die Wirklichkeit und ihr Schatten, dieser einzigartige, aber relativ unbekannte Text
ist eine Studie, die von einer außerordentlichen philosophischen Kraft zeugt, nicht nur
was ihre Fragen bezüglich der Kunst und der Literatur betrifft, sondern auch im Hin­
blick auf die dari.n aufgeworfene Problematik der Beziehung zwischen dem Philosophi­
schen und dem Nicht-Philosophischen. ln Jenseits des Seins konunt Levinas in einer
Anmerkung auf sein eigentliches Projekt einer begriffljchen Darstellung dessen zurück,
was er das Ungleichzeitige und Unvergleichliche nennt: >>Die unvordenkliche Vergan­
genheit ist dem Denken unerträglich. Von daher die Forderung des Anhaltens: an anke
stenai. Die Bewegung über das Sein hinaus wird zu Ontologie und zu Theologie. Von
daher auch die Idolatrie -des Schönen« (E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein
geschieht. übersetzt von Thomas Wiemer, Freiburg/München: Alber 1992, S. 329,
Anm. 21). Wenn sich das Denken weigert, das »Jenseits des Seins« zur Darstellung zu
bringen, dann kann die Kunst, sozusagen durch eine Erschleichung, den Platz der Ethik
einnehmen und den Eindruck vermitteln, als komme in ihr der Nicht-Ort und die Un­
gleichzeitigkeit zum Ausdruck. Doch es gibt hier ein echtes Problem. Denn dieselben
Kategorien- die Zwischen-Zeit, die Herauslösung, das Unvergleichliche- dienen Levi­
nas dazu, sowohl die Kunst als auch die Ethik zu denken. Man könnte daraus ableiten,
dass die Kunst eine Fälschung der Ethik ist. Man könnte aber auch annehmen, dass sich
in der ästhetischen Erfahrung aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der Ethik- auch wenn sie
trügerisch sein mag- bereits die Sprache von »Jenseits des Seins« herausbildet. Vgl.
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a. a. 0., S. 101 f. und 318, Arun. 10.
24 Les Temps modernes, 1948, Nr. 38, S. 769.
25 Der Gegensatz zwischen Levinas' »Abstandnehmen« (frz. eloignement) und Sartres

»Engagement« (frz. engagement) ist künstlich: •Jene, die auf das Engagement im Werk
Sartres pochen, vergessen, dass seine hauptsächliche Sorge darin besteht, innerhalb des
Engagements vom Engagement abzurücken. Sie mündet in einen Nihilismus in seinem
edelsten Ausdruck- Negation des höchsten Engagements, das für den Menschen seine
eigene Essenz ist« (E.Levinas, Schwierige Freiheit, a. a. 0., S. 164).

15
Vorwort

für S a.rtres P osition hinsichtlich des Judentums, der Politik und der
Geschichte. Zwei Te xte, die 1980 kurz na ch Sartres Toderschienen
sind- ein Artikel i m Matirt de Paris (S. 125-129) und ein Gespräch
mit Victor M alka (S. 131-134 )- legen ferner den Akzent auf Sartres
späte Entdeckung einer anderen Dimension der Geschichte, die un­
terschieden werden muss von »einer rein politischen Geschichte . . . ,
die von den Siegern und Herrschern geschrieben wird« (S. 129).26
Die jüdische Geschichte, undvor allem sie, die nicht zu begreifen ist
aus »der Geschichte der Staaten, der Geschichte der Nationen inner­
halb ihres Ter ritoriums, der Geschichte der Regierungen«, gibt Zeug­
nis von der Wirkkraft dieser anderen Geschichte (S. 128 ).
Die »andere Geschichte« stellt vor allem aber eine Art Anspruch
an die Menschheitsgeschichte dalj weil sie darauf beharrt, »eine Ge­
schichte zu denken, der auch die Besiegten und Verfolgten einen gül­
tigen Sinn verleihen könnten «27. Sie zielt darauf ab, ü f r eine Sinn­
dimension zu sensibilisieren, von der die rationale Arbeit eines
»Sinn-Machens« aus Handlungen, d. h. imhand ihrer Erfolge oder
Misserfolge, nichts weiß 28
Dieser B lick auf die Geschichte zeugt von dem Anliegen L evi­
nas ,' die pers ön ilche Verantwortung nicht dem unerbittlichen Lauf
der Ereignisse unterzuordnen und nicht allein auf die politischen In­
stitutionen z u vertrauen. Nicht dass Levinas das Gewicht der objek­
tiven Geschichte außer Acht ließe oder die Notwendigkeit politischer
Institut oi nen verkennen würde, aber es geht ihm in erster Linie da­
rum, zu zeigen, dass es nicht unsinnig ist, auch vom Politiker das
Äußern mora lischer Bedenken einzufordern. »Und wäre es aber dann
nicht auch vernünftig, dass sich ein Staatsmann, der sich Gedanken
über die Nat ur seiner Entscheidungen macht, nicht nur darüber be­
fragt, ob sie mit dem Sinn der Universalgeschichte übereinstim men,

26 Jean-Paul Sartre, "l.'espoir mainrenant. Entretien avec Benny Levy », in: Le Nouvel
Observateur, 24. März 1980, S. 103-139.
27 E. Levinas, Antihwnanisme et education, in: ders., Difficile liberte. Essais sur le ju­

dai'sme, Paris: Albin Michel1976, S. 361. (Der Band Difficile liberte ist in der deutschen
Ausgabe Schwierige F reiheit nur in Auszügen übersetzt; Anm. d. Üs.)
28 In diesen Aussagen zur Geschichte klingt Levinas' Ablehnung eines teleologischen
Geschichtsmodells nach, die insbesondere im Vorwort zu Totalität und Unendlichkeit
zum Ausdruck kommt: »Nicht auf das Jüngste Gericht kommt es an, sondern auf das
Gericht all der Augenblicke in der Zeit, in der man über die Lebenden urteilt« (E. Levi­
nas. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übersetzt von Wolfgang
Nikolaus Krewani, Freiburg/München: Alber1987, S. 22).

16
Vorwort

sondern ob sie auch mit dieser anderen Geschichte im Einklang


stehen« (S. 129).

Drei Gelegenheitstexte für die Zeitschrift Esptit aus den Jahren 1956
und 1960 machen konkret deutlich, wie eine solche an den Vorgaben
einer Ethik zu bemessende Befragung der politischen Geschichte aus­
sehen könnte (S. 137-147).
Der erste Artikel analysiert die Beziehungen zwischen den »bei­
den Blöcken«, die geprägt sind durch die Angst, hüben wie drüben,
vor der atomaren Bedrohung, die auf der Welt lastet (S. 137-140).
Die »beiden Großmächte« sind auf diese Weise zwar in einer »Art
von Solidarität« miteinander vereint, doch gründet diese »zweifellos
in der Physik und nicht in der Moral« (S. 140).
Levinas befragt hier ein politisches Spiel, dessen Regeln allein
durch den Gehorsam gegenüber »gesichtslosen Mächten« (S. 137)
bestimmt sind. Sicher, ein schlechter Friede ist besser als ein guter
Krieg: Doch wenn das »Gleichgewicht des Schreckens« die Herrschaft
übernimmt, dann verzichtet die Verantwortung auf einen wesentli­
chen Teil ihrer Ansprüche und richtet sich ausschließlich an den
durch die Atomwaffen auferlegten Notwendigkeiten aus.
Levinas nimmt Chruschtschows Besuch in Frankreich im Jahre
1960 zum Anlass, dem post-stalinistischen Totalitarismus, der die
Freiheit auf die Zugehörigkeit zu der unpersönlichen Ordnung des
Staates reduziert, den Prozess zu machen, aber er übt auch heftige
Kritik an bestimmten Linksintellektuellen. »Die westlichen Denker
sind also alle reif genug dafür, die von Chruschtschow angesproche­
nen Strukturen zu akzeptieren. Und niemand wird sie verdächtigen
können, sie würden sich dabei von einem moralischen Gefühlleiten
lassen. Sie begegnen dem Sozialismus nicht als dem Ausdruck einer
Revolte gegen das menschliche Leiden, sondern als der reinen Voll­
endung der Idee des Allgemeinen« (S. 143). Hier wird deutlich, dass
Levinas Ethik und Sozialismus keineswegs in einen Gegensatz zuei­
nander stellt. Was er in Frage stellt, ist vielmehr die Reduktion der
Politik auf die bloße Reproduktion der anonymen Strukturen des
Staates.29 Levinas wusste sehr wohl um das ethische Anliegen, das
dem Marxismus seinen Antrieb gab (S. 27 f., 178 f. ). Doch gerade weil

2 9 E. Levinas, Die Freiheit des Worts, in: ders.: Schwierige Freiheit, a.a.O., 5.155-158.

17
Vorwort

er schon sehr früh wachsam wurde für die stalinistische Pervertie­


rung des Marxismus wie auch für die Grenzen der Entstalinisierung,
ist Levinas zu einem äußerst aufmerksamen, nie zur Ruhe kommen­
den Zeugen unseres Jahrhunderts geworden.
Und wenn sich Levinas dem Bruch zwischen China und der
Sowjetunion zuwendet, dann tut er dies mit der Absicht, einen ge­
wissen Gebrauch der geschichtlichen Dialektik in Frage zu stellen
(S. 145-147 ). Was die sowjetische Unterstützung junger nationalis­
tischer Staaten angeht, so stellt Levinas hier fest, dass es nach guter
dialektischer Logik »vernünftig [wäre], die Antikommunisten zu un­
terstützen, sofern sie ja nur eine Etappe auf dem Weg zum Sozialis­
mus darstellen, und Sympathie gegenüber denjerügen zu bekunden,
die die Kommunisten in ihren Gefängnissen foltern« (S. 147). Die
Dialektik stütze auf diese Weise die Gewissheit über einen Verlauf
der Geschichte, in dem sich das Böse ins Gute kehrt und jede Form
von persönlicher Überzeugung dem politischen Realismus weicht.

Die letzte Studie dieses Bandes ist ein Lob auf den Laizismus
(S. 151-167). In diesem Text von 1960, der mit vielen Vorurteilen
gegenüber dem eigenen Denken aufräumt, hebt Levinas hervor, dass
der Laizismus nicht durch die Gleichgültigkeit gegenüber einer an­
genommenen übernatürlichen Bestimmung des Menschen bestimmt
ist. Und er lässt sich seiner Meinung nach auch nicht auf die Vertei­
digung dieser oder jener gesellschaftlichen Institution reduzieren.
Levinas sieht im laizistischen Ideal vielmehr den Ausdruck der ge­
sellschaftlichen Bestimmung des Menschen, und er stützt sich dabei
auf seine in den Nachkriegsj ahre n unternommenen Forschungen
über das, was er das gesellschaftliche Band nennt. Der Laizismus su­
che in diesem gesellschaftlichen Band selbst, d. h. in der Solidarität
und der Brüdlerlichkeit unter den Menschen, den Ursprung jeden
Wertes und lehne es daher ab, sich mit einem Fundament zu begnü­
gen, das jenseits oder über der Gesellschaft liegt.30 »Für die Anhänger
des Laizismus ist die Gesellschaft Ausdruck eines positiven und ur­
sprünglichen Wertes« (S. 155).
Gleichwohl verteidigt Levinas den Laizismus auf eine unerwar­
tete Weise, behauptet er doch, dass die Religion und das Ideal des

30 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a. 0., S. 309-311 und 406-409.

18
Vorwort

Laizismus zusammenfallen (S. 155). Denn für Levinas stellt die Reli­
gion nicht in dem Maße eine Institution dar wie das moralische Ge­
wissen selbst: »Das wahre Verhältnis zwischen Mensch und Gott be­
ruht auf der Beziehung von Mensch zu Mensch, für die der Mensch
allein die volle Verantwortung trägt, so als ob es keinen Gott gäbe,
auf den man zählen könnte« (S. 157).31 Gerade weil der laizistische
Geist der Unbedingtheit der Moral Rechnung tragen möchte, kann er
es nicht akzeptieren, dass sich die Gesellschaft einem religiösen Par­
tikularismus unterwirft (S. 158).

Last but not least. Am Ende des Bandes wurden zwei Gespräche ab­
gedruckt, eines mit Bertrand Revillon für La Croix (S. 171-174), das
andere mit Roger-Pol Droit für Le Monde (S. 175-181).

31 Vgl. dazu E. Levinas, jenseits des Sein oder anders als Sein geschieht, a. a. 0., $. 336.

19
Über den Hitlerismus 1934
Einige Betrachtungen zur Philosophie des
Hitlerismus*

Hitlers Philosophie zielt auf Einfaches und Grundlegendes. Doch die


elementare Gewalt, mit der die in ihr gärenden primitiven Kräfte
plötzlich zum Ausbruch kommen, bringt mit einem Schlag auch ihre
ganze erbärmliche Phrasenhaftigkeit an den Tag. Sie bringen das
Heimweh zum Bewusstsein, das tief in der deutschen Seele schlum­
mert. Der Hitlerismus ist mehr als eine Seuche oder eine Verwirrt­
heit des Geistes; er ist das Erwachen elementarer Gefühle.
Und genau deshalb wird er als philosophisches Phänomen inte­
ressant - und schrecklich gefährlich. Denn in diesen elementaren
Gefühlen verbirgt sich tatsächlich eine Philosophie. In ihnen nämlich
drückt sich die Grundhaltung der Seele dem Ganzen der Wirklichkeit
wie dem eigenen Schicksal gegenüber aus. Sie legen die Richtung der
abenteuerlichen Reise, die die Seele in der Welt zu bestehen hat, fest
oder lassen sie zumindest erahnen .
. Die Philosophie des Hitlerisrnus geht darum auch über den
Kreis der Hitleranhänger hinaus. Sie stellt die Prinzipien der Zivili­
sation als solche in Frage. Der dabei auftretende Konflikt spielt sich
nicht nur zwischen Liberalismus und Hitlerisrnus ab, sondern er be­
droht das Christenturn selbst, trotz der Rücksichtnahmen und Kon­
kordate, die den christlichen Kirchen zu Beginn des Hitlerregimes
noch zugute kamen.
Doch es geni.igt nicht einfach, den christlichen Universalismus
dem rassistischen Partikularismus gegenüberzustellen, wie dies ge­
wisse Journalisten tun: Ein logischer Widerspruch vermag über ein
konkretes Ereignis kein Urteil zu fällen. Die Bedeutung eines logi­
schen Widerspruchs zwischen zwei gegensätzlichen Denkströmun-

• Dieser Aufsatz erscheint auch in einer mit Anmerkungen versehenen Übersetzung


aus dem Französischen von Frank Miething und Christoph von Wolzogen in: Apres
vous. Denkbuch fiir Emmanuel Levinas zum 100. Geburtstag. Herausgegeben von
Frank Miething und Christoph von Wolzogen, Frankfurt a. M.: Neue Kritik 2006.

23
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

gen wird erst dann wirklich klar, wenn man zu den Quellen, den
Intuitionen, d. h. zu den ursprünglichen Entscheidungen zurückgeht,
aus denen sie entstanden sind. Und in diesem Sinne werden wir au ch
die folgenden Betrachtungen anstellen.

I.

Der Geist der Freiheit, der innerhalb der europäischen Zivilisation


für eine bestimmte Auffassung von der Bestimmung des Menschen
steht, erschöpft sich nicht in den politischen Freiheiten. In ihr drückt
sich vielmehr ein Gefühl der Absolutheit menschlicher Freiheit ge­
genüber der Welt und den Handlungsmöglichkeiten in ihr aus. Aus­
gesetzt ins Universum, ist der Mensch ewig dazu bestimmt, mü sich
selbst neu anzufangen. Er hat, streng genommen, keine Ges chi chte.
Die Geschichte nämlich bedeutet die am tiefsten gehende Be­
grenzung, die Begrenztheit schlechthin. Die Zeit, als Bedingung der
menschlichen Existenz, ist vor allem die Bedingung des Irreparablen.
Die vollendete Tatsache, die mit der flüchtigen Gegenwart fortgeris­
sen wird, bleibt für immer dem Zugriff des Menschen entzogen, las­
tet aber auf seinem Schicksal. Hinter der Melancholie des ewigen
Flusses der Dinge, Heraklits trügerischer Gegenwart, liegt die Tragö­
die einer unauslöschlichen Vergangenheit in ihrer Unabsetzbarkeit,
die jede Initiative dazu verurteilt, nichts anderes als immer nur An­
knüpfung zu sein. Die wirldi che Freiheit, der wirkliche Anfang wür­
de dagegen eine wirkliche Gegenwart erfordern, die, immer auf dem
Scheitelpunkt einer Bestimmung, mit dieser Freiheit ewig aufs Neue
beginnen muss.
Aus dem Judentum kommt diese wunderbare Botschaft in die
Welt, dass siclh im Gewissensbiss dem s chmerzhaften Ausdruck
-

für die radikale Ohnmacht, das Irreparable wieder in Ordnung zu


bringen - die Reue ankündigt, welche zur Vergebung führt, die etwas
wieder gutmacht. Der Mensch findet also in der Gegenwart etwas
vor, womit er die Vergangenheit verändern, ja sogar auslöschen kann.
Die Zeit verliert damit ihre Unumkehrbarkeit. Wie ein verletztes
Tier bricht sie kraftlos zu Füßen des Menschen zusammen. Und be­
freit ihn.
Das quälende Gefühl der schlichten Ohnmacht des Menschen
angesichts der Zeit macht die ga�e Tragik der griechischen Moira
aus, die ganze Unerbittlichkeit des Gedankens der Sünde sowie die

24
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

ganze Größe des Christentums in seiner Revolte. Den Atriden, die


sich im Würgegriff einer Vergangenheit winden, die befremdlich
und brutal ist wie ein Fluch, stellt das Christentum ein mystisches
Drama entgegen. Das Kreuz macht frei; und durch die Eucharistie,
die über die Zeit triu mphiert, geschieht diese Befreiung jeden Tag
neu. Das im Christent um verheißene Heil liegt in dem Versprechen,
mit dem Endgültigen, das sich im Verrinnen der Augenb ilcke voll­
endet, wieder neu zu beginnen und den absoluten Widerspruch einer
von der Gegenwart abhängigen Vergangenheit, d. h. einer Vergan­
genheit, die immer fraglich b el ibt und immer neu in Frage gestellt
wird, zu überwinden.
Dies ist die Art und Weise, in der das Christentum die Freiheit
verkündet und wie sie sie in ihrer ganzen Fülle m öglich werden lässt.
Nicht nur die Wahl der Bestimmung ist frei, nein, selbst die einmal
getroffene Wahl wird hier nicht zu einer Fessel. Denn der Mensch
bewahrt sich die Möglichkeit- eine sicherlich übernatürliche, gleich­
wohl aber greifbare und konkrete Mög ilchkeit , sich aus diesem En­
-

gagement, auf das er sich aus freiem Willen eingelassen hat, wieder
zurückzuziehen. Zu jedem Zeitpunkt kann er sich wieder in den Zu­
stand der Nacktheit zurückversetzen, wie er in den ersten Tagen der
Schöpfung herrschte. Ihn zurückzuerobern ist nicht leicht und kann
scheitern. Ob er zurückerobert wird, hängt nicht an der Entscheidung
eines launenhaften Willens, der sich in einer von Willkür geprägten
Welt befindet Aber schon die Kraftanstrengung die dafür erforder­
. ,

lich ist, lässt die Größe der Hindernisse ermessen, die es dabei zu
überwinden gilt, und an ihr zeigt sich vor allem auch die Originalität
der verheißenen und in die Wirklichkeit umgesetzten neuen Ord­
nung, die sich deshalb durchsetzt, wei l sie das natürliche Sein bis in
seine tiefsten Schichten hinab zerreißt .

Diese unendliche Freiheit jeder Bindung gegenüber, durch die


letztlich auch keine Bindung endgültig ist, liegt dem christlichen Be­
griff der Seele zugrunde. Auch wenn die Freiheit die zuhöchst kon­
krete Realität bleibt und in ihr der letzte Grund des Individuums zum
Ausdruck kommt, so zeichnet sie sich doch zugleich durch die nüch­
terne Reinheit einer transzendenten Inspiration aus. Durch die
Schicksalsschläge der realen Weltgeschichte hindurch wird die Fähig­
keit zum Neuanfang für die See e l wie zu einer noumenalen Natur,
die geschützt ist gegen die Unbilden einer Welt, in der der konkrete
Mensch trotz allem zu Hause ist. Dies ist aber nur scheinbar ein
Paradox. Das Sich-Ablösen der Seele ist kein abstrakter Vorgang,

25
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

sondern ein konkretes und positives Vermögen des Sich-Lösens und


des Sich-Trennens. Die Würde, die allen Seelen in gleichem Maße
zukommt, unabhängig von der materiellen und sozialen Situation
der jeweiligen Personen, leitet sich nicht her aus einer Theorie, die
hinter den individuellen Unterschieden eine Analogie der »psycho­
logischen Konstitution« in Anschlag bringen würde. Sie ist vielmehr
dem Vermögen geschuldet, mit dem die Seele ausgestattet ist, um
sich von dem zu befreien, was gewesen ist, von allem, was sie gefes­
selt und in Anspruch genommen hat - damit sie ihre ursprüngliche
Reinheit wiederfinden kann.
Auch wenn der Liberalismus der vergangeneo Jahrhunderte den
dramatischen Aspekt dieser Befreiung gerne ausblendet, so ist er
doch selbst wesentlich davon betroffen, insofern er sich nämlich als
souveräne Freiheit der Vernunft begreift. Das gesamte philosophi­
sche und politische Denken der Neuzeit neigt dazu, den mensch­
lichen Geist auf einer Ebene zu situieren, die über der Wirklichkeit
liegt, und erzeugt dadurch eine Kluft zwischen dem Menschen und
der Welt. Weil dieses Denken die Anwendung der Kategorien der
natürlichen und sinnlichen Welt auf die Geistigkeit der Vernunft
ausschießt, legt es den äußersten Grund des Geistes außerhalb der
rauen und brutalen Welt und jenseits der unerbittlichen Geschichte
konkreter Existenz. Es setzt an die Stelle einer Welt, die durch den
gemeinen Menschenverstand verblendet ist, eine durch die idealisti­
sche Philosophie rekonstruierte Welt, die von Vernunft durchwaltet
und der Vernunft unterworfen ist. Die Befreiung durch Gnade wird
durch die Autonomie ersetzt, aber auch durch sie zieht sich das
jüdisch-christliche Leitmotiv [im Original deutsch; Anm. d. Üs.] der
Freiheit.
Die französischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Vorläufer
des demokratischen Gedankens und der Menschenrechtserklärung,
haben sich trotz ihres Materialismus zu dem Gefühl bekannt, dass
es eine Vernunft gibt, die alle physischen, psychischen und sozialen
Grundlagen aus ihrem Geltungsbereich zu verbannen vermag. Das
Licht der Vernunft genügt, um die Schatten des Irrationalen zu ver­
treiben. Was aber bleibt vom Materialismus übrig, wenn die Materie
vollständig von Vernunft durchdrungen ist?
In einer vom Geist des Liberalismus geprägten Welt lässt sich
der Mensch in der Wahl seiner Bestimmung nicht durch die Last der
Geschichte leiten. Er betrachtet seine Möglichkeiten nicht als unru­
lüge Kräfte, die in ihm brodeln und ihn von vornherein in eine be-

26
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

stimmte Ri chtung lenken. Für ihn sind sie nichts weiter als logische
Mögli chkeiten, die sich einer Vernunft in ihrer heiteren Gelassenheit
darbieten, welche ihre Wahl trifft und dabei stets ihre Distanz wahrt.

II.

Der Marxismus bestreitet diese Auffassung vom Menschen, und


zwar erstmals in der Geschichte der westlichen Trad tiion.
Der menschliche Geist erscheint ihm nicht mehr als reine Frei­
heit, wie eine Seele, die jenseits von allen Bindungen schwebt; er ist
nicht mehr die reine Vernunft, die zu einem Reich der Zwecke ge­
hört. Er selbst ist den materiellen Bedürfnissen ausgeliefert. Doch
mag er auch der Materie und der Gesellschaft, die beide nicht mehr
dem Zauberstab der Vernunft gehorchen, ausgesetzt sein, so hat sei­
ne konkrete und abhängige Existenz dennoch mehr Bedeutung und
Gewicht als die ohnmächtige Vernunft. Der Kampf, der der Einsicht
vorausliegt, zwingt ihr Entscheidungen auf, die sie selbst nicht ge­
troffen hat. »Das Sein bestimmt das Bewusstsein.« Die Wissenschaft,
die Moral und die Ästhetik sind nicht die Wissenschaft, die Moral
oder die Ästhetik an sich, sonde rn bringen vielmehr nur jeden Au­
genblick ne u den g rundsätzlichen Gegensatz zwischen der bürger­
lichen und der proletarischen Kultur zum Ausdruck.
Der Geist in der traditionellen Auffassung büßt seine Macht,
si ch au s den Fesseln der-konkreten Existenz befreien zu können, ein,
auf die er immer so stolz gewesen ist. Er hat es nun glei chsam mit
Bergen zu tun, die kein Glaube allein mehr versetzen kann. Die ab­
solute Freiheit, d. h. diejenige, die Wunder zu vollbringen vermag,
wird - übrigens zum ersten Mal - als Bestandteil des Geistes abge­
schafft. Der Marxismus tritt damit nicht nur in einen Gegensatz zum
Christentum, sondern zur idealistischen Freiheitskonzeption über­
haupt, für die »d as Sein nicht das Bewusstsein bestimmt«, sondern
umgekehrt das Bewusstsein oder die Vernunft das Sein bes timm t.
Der Marxismus nimmt damit also die Gegenposition zu dem
ein, was die europäische Kultur bislang vertreten hat, oder stellt zu­
mindest einen Bruch in dem harmonischen Kurvenverlauf ihrer bis­
herigen Entwicklung dar.

27
Einige Betrachwngen zur Philosophie des Hiderismus

111.

Dieser Bruch mit dem Liberalismus ist dennoch kein endgültiger.


Denn der Marxismus hat sehr wohl ein Bewusstsein davon, dass er
i n einem gewissen Sinne die Traditionen von 1789 fortsetzt, und die
marxistischen Revolutionäre scheinen ja auch maßgeblich von den
Jakobinern beeinflusst zu sein. Diese Anknüpfung ist aber alles an­
dere als radikal, vor allem wenn man bedenkt, dass die Grundintui­
tion des Marxismus ja genau darin liegt, dass der menschliche Geist
nur in der unhintergehbaren Verbindung mit einer konkreten Situa­
tion begriffen werden kann. Das individuelle, durch das Sein be­
stimmte Bewusstsein ist nicht in dem Maße ohnmächtig, als dass es
sich nicht - zumindest im Prinzip -doch noch die Fähigkeit bewahrt
hätte, sich aus denjenigen gesellschaftlichen Verstrickungen heraus­
zulösen, die ihm von nun an als wesensfremd erscheinen. Sich seiner
gesellschaftlichen Situation bewusst zu werden bedeutet ja gerade
für Marx selbst, sich von dem Fatalismus zu befreien, den diese mit
sich bringt.
Eine dem europäischen Begriff des Menschen wahrhaft ent­
gegenstehende Konzeption wäre also nur dann möglich, wenn die
Situation, in die er eingebunden ist, sich ihm nicht von außen her
auferlegen, sondern vielmehr den eigentlichen Grund seines Seins
ausmachen würde. Ein paradoxer Anspruch, der in der Erfahrung
unseres Leibes erfüllt zu sein scheint.
Was bedeutet es nach traditionellem Verständnis, einen Leib zu
haben? Es heißt nichts anderes, als ihn wie einen Gegenstand der
Außenwelt zu ertragen. Der Leib ist für Sokrates eine Last, wie die
Ketten, die den Philosophen im Gefängnis von Athen drücken; er
sperrt ihn ein, genau wie das Grab, das ihn erwartet. Der Leib ist das
Hindernis schlechthin. Er hemmt den freien Flug des Geistes, zwingt
ihn in seine irdischen Bedingungen zurück und ist gleichwohl etwas,
das überwunden werden muss, wie ein Hindernis eben.
Dieses Gefühl unüberwindbarer Fremdheit zwischen uns und
unserem Leib hat das Christentum und den modernen Liberalismus
gleichermaßen geprägt. Es hat sich durch alle Varianten der Ethik
durchgehalten, und dies trotz des Niedergangs des asketischen Ideals
seit der Renaissance. Wenn die Materialisten das Ich vollständig mit
dem Leib zu verschmelzen suchten, so geschah dies doch nur um den
Preis einerschlichten und einfachen Negation des Geistes. Sie wiesen

28
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

dem Leib einen Platz in der Natur zu, ohne ihm eine Sonderstellung
innerhalb des Universums beizumessen.
Doch der Leib ist keineswegs nur das ewig Fremde. Es gibt ein
Gefühl der Identität zwischen dem Leib und uns selbst, das unter
gewissen Umständen in gesteigerter Weise zur Geltung kommt, auch
wenn es nach klassischer Auslegung zu den Gefühlen niederen Rangs
gerechnet wird, die es zu überwinden gilt. Der Leib ist uns nicht nur
näher und vertrauter als der Rest der Welt, und er bestimmt auch
nicht nur unser psychologisches Leben, unsere Stimmungen und
Handlunge n. Jenseits all die ser alltäglichen Beobachtungen gibt es
aber auch das Gefühl der Identität. Werden wir uns nicht bereits in
dieser einzigartigen Wärme unseres Körpers offenbar, lange bevor
das Ich, das sich von ihm zu unterscheiden versucht, hervorbricht?
Halten nicht jene Bande, die, lange noch vor dem Erwachen des Geis­
tes, aus dem Blut hervorgehen, hier nicht j eder Prüfung stand? Bei
einem gefährlichen sportlichen Unternehmen oder bei einer riskan­
ten Übung, in denen - angesichts der tödlichen Gefahr - selbst noch
die kleinsten Bewegungen eine fast abstrakte Perfektion erreichen,
muss jeder Dualis mus zwischen dem Ich und dem Leib verschwin­
den. Und empfind et nicht auch der Kranke in der Ausweglosigkeit
des physischen Schmerzes die unteilbare Einheit seines Seins, wenn
er sich in seinem Bett des Leidens wälzt, um eine Position zu finden,
die ihm Ruhe verschafft?
Wird man also sagen können, dass die Analyse des Schmerzes
einen Gegensatz zwischen dem Geist und diesem Schmerz zum Vor­
schein bringt, eine Revolte oder Verweigerung, in ihm zu verbleiben,
und folglich den Versuch, ihn zu überwinden? Aber ist dieser Ver­
such nicht von vornherein als hoffnungslos zu bezeichnen? Bleibt
der rebellierende Geist nicht unweigerlich in dem Schmerz gefan­
gen? Und ist es nicht gerade diese Ausweglosigkeit, die den eigent­
lichen Grund des Schmerzes ausmacht?
Neben der Deutung dieser Tatsachen, wie sie durch das traditio­
nelle westliche Denken vorgenommen wurde - nämlich als nackte
und raue Tatsachen, die sie aber herunterzuspi elen weiß -, kann aber
auch das Gefühl ihrer irreduziblen Ursprünglichkeit zurückbleiben
und der Wunsch, diese in ihrer Reinheit zu erfassen. Im physisch en
Schmerz würde sich dann so etwas wie eine absolute Position ent­
hüllen.
Der Leib ist nicht nur ein unglücklicher oder glücklicher Zufall,
der uns mit der unerbittlichen Welt der Materie in Beziehung setzt -

29
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

seine Zugehörigkeit zum Ich ist ein Wert an sich selbst. Es ist eine
Verbindung, der niemand entkommt und die durch keinerlei meta­
phorische Redeweise mit der Anwesenheit eines äußeren Gegenstan­
des verwechselt werden kann; denn diese Verbindung stellt eine Ein­
heit dar, an deren tragischem Charakter der Endgültigkeit nichts
etwas ändern kann.
Auf dieses Gefühl der Identität zwischen dem Ich und dem Leib
- das natürlich nichts mit einem Materialismus im geläufigen Sinne
zu tun hat - können sich daher all jene eben nicht berufen, die auf
dem Grunde dieser Einheit eine Dualität ausfindig machen wollen,
die angeblich zwischen dem freien Geist und dem Leib, an den er
angekettet ist und von dem er sich loszukämpfen versucht, bestehen
soll. Sie glauben ja im Gegenteil, dass das Gefesseltsein an den Leib
gerade das eigentliche Wesen des Geistes ausmacht. Ihn von den kon­
kreten A1.1sdrucksformen, in die er von nun an eingelassen ist, abzu­
trennen, heißt aber nichts anderes als die Ursprünglichkeit des Ge­
fühls selbst, von dem es auszugehen gilt, zu verraten.
Die Bedeutung, die diesem Gefühl für den Leib zuerkannt wird
- auch wenn sich das westliche Denken damit nie anfreunden wollte
- bildet die Grundlage für einen neuen Begriff vom Menschen. Das
Biologische und alles, was an Unvermeidlichem damit zusammen­
hängt, wird dadurch zu mehr als nur einem Objekt des geistigen
Lebens; es wird dessen eigentliches Herzstück. Die mysteriösen
Stimmen des Blutes, der Ruf, der an das Erbe und die Vergangenheit
gemahnt und für die der Leib als rätselhaftes Sprachrohr dient, treten
nun nicht mehr in Gestalt von Rätseln auf, deren Lösung von einem
uneingeschränkt freien Ich abhängig ist. Denn auch das Ich kann bei
der Lösung dieser Rätsel nur wieder die Unbekannten ins Feld füh­
ren, aus denen es ja selbst zusammengesetzt ist. Das Wesen des Men­
schen liegt nicht mehr in der Freiheit, sondern in einer Art des Ge­
fesseltseins. Wirklich selbst zu sein, heißt nicht, sich noch einmal
über die Kontingenz der Ereignisse, die auf immer mit der Freiheit
des Ich unvereinbar sein werden, zu erheben; es bedeutet im Gegen­
teil, sich das ursprüngliche, unabweisbare und stets einzigartige Ge­
fesseltsein an unseren Leib bewusst zu machen und es vor allem auch
zu akzeptieren .
Folglich macht sich jeder gesellschaftliche Entwurf, der über den
menschlichen Leib hinwegsehen und ihn nicht einbeziehen will, ver­
dächtig, die menschliche Realität zu verleugnen oder zu verraten. Die
modernen, auf der Übereinkunft freier Willen basierenden Gesell-

30
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

schaftsformen erscheinen daher nicht nur als brüchig und haltlos,


sondern auch als heuchlerisch und verlogen. Die Angleichung der
Geister untereinander bringt den Sieg des Geistes über den Leib um
die Größe seines Triumphes. Sie gerät zu einem Werk von Falsch­
münzern. Denn eine solche konkrete Gestaltwerdung des Geistes
führt auf direktem Wege zu einer Gesellschaft, die sich auf Blutsban­
de beruft. Nun ja, wenn die Rasse nicht existiert, muss man sie eben
erfinden!
Mit diesem Ideal vom Menschen und der Gesellschaft geht zu­
gleich ein neues Ideal des Denkens und der Wahrheit einher.
Das, was die Struktur des Denkens und der Wahrheit in der
westlichen Welt charakterisiert, ist - wir haben es bereits hervor­
gehoben - die Distanz, die von Anfang an den Menschen und die
Welt der Ideen, aus der er sich seine Wahrheit wählt, voneinander
trennt. Frei und allein steht er dieser Welt gegenüber. Er ist sogar in
dem Maße frei, dass er es sich erlauben kann, diese Distanz gar nicht
zu überwinden und überhaupt eine Wahl zu treffen. Der Skeptizis­
mus stellt für das westliche Denken eine grundsätzliche Möglichkeit
dar. Selbst dann, wenn die Distanz überwunden und die Wahrheit
ergriffen wird, bewahrt der Mensch noch seine Freiheit. Er kann sich
neu ausrichten und noch einmal auf seine Wahl zurückkommen.
Aber auch in der erneuten Bekräftigung dieser Wahl schlummert
schon wieder die Möglichkeit ihrer künftigen Negation. Und dies ist
gerade die Freiheit, die die eigentliche Würde des Denkens ausmacht,
aber in ihr liegt eben auch die Gefahr. Denn in den Zwischenraum,
der Mensch und Idee voneinander trennt, schleichen sich Lüge und
Täuschung ein.
Das Denken wird zu einem Spiel. Der Mensch findet Gefallen an
seiner Freiheit und will sich auf keine Wahrheit mehr endgültig fest­
legen. Seine Fähigkeit zu zweifeln verwandelt sich in einen Mangel
an überzeugung. Sich nicht an eine Wahrheit zu binden, bedeutet
nun für ihn, sich als Person nicht mehr für die Schaffung geistiger
Werte einsetzen zu wollen. Aufrichtigkeit ist zu einem Ding der Un­
möglichkeit geworden und macht Schluss mit jeder Art von Helden­
haftigkeit. Die Zivilisation wird überschwemmt mit allem, was nicht
authentisch ist, mit Ersatzstoffen, die im Dienst der verschiedenen
Interessen und Moden stehen.
Einer Gesellschaft, die den lebendigen Kontakt zu ihrem wahren
Ideal der Freiheit verliert und nur noch deren Verfallsformen akzep­
tiert, die, anstatt zu erkennen, dass dieses Ideal Anstrengungen erfor-

31
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

dert, sich vor aliem daran erfreut, was ihr Bequemlichkeit verschafft
- einer solchen Art von Gesellschaft muss das germanische Ideal des
Menschen wie ein Versprechen der Aufrichtigkeit und Authentizität
erscheinen. Der Mensch findet sich nicht mehr einer Welt von Ideen
gegenüber, aus der er durch die souveräne Entscheidung seiner freien
Vernunft sich seine eigene Wahrheit wählen kann - er ist von jetzt an
unweigerlich an einige dieser Ideen gebunden, so wie er durch seine
Geburt mit all denen verbunden ist, die vom selben Blut abstammen.
Er kann mit der Idee nicht mehr nur spielen, geht es in ihr, die aus
seinem konkreten Sein hervorgegangen ist und also in seinem Fleisch
und Blut verwurzelt ist, doch um eine ernste Sache.
Gefesselt an seinen Leib erkennt der Mensch, dass er keine
Macht hat, sich selbst zu entkommen. Die Wahrheit liegt für ihn
nicht mehr in der Betrachtung eines ihm äußerlichen Schauspiels -
sie gleicht vielmehr einem Drama, in dem der Mensch selbst die
handelnde Figur ist. Es ist immer die Last der ganzen Existenz - die
auf Gegebenheiten beruht, auf die man nicht mehr zurückkommen
kann -, unter der der Mensch sein Ja oder Nein zu sagen hat.
Aber wozu zwingt uns diese Aufrichtigkeit? Jede rationale An­
gleichung oder mystische Gemeinschaft geistbegabter Menschen, die
nicht auf einer Blutsgemeinschaft basiert, gilt als suspekt. Gleich­
wohl kann auch der neue Wahrheitstypus nicht auf die formale Na­
tur der Wahrheit verzichten und aufhören, universal zu sein. Die
Wahrheit mag noch so sehr meine Wahrheit im stärksten Sinne die­
ses Possessivpronomens sein - sie muss dennoch die Erschaffung
einer neuen Welt im Auge haben. Zarathustra gibt sich nicht mit
seiner Verwandlung zufrieden, er steigt vielmehr vom Berg herab
und bringt eine Frohe Botschaft. Wie lässt sich die Universalität mit
dem Rassismus vereinbaren? Möglich ist dies nur dann - und auch
ganz entsprechend der Logik, aus der der Rassismus seine ursprüng­
lichen Impulse erhält -, wenn die Idee der Universalität selbst grund­
legend modifiziert wird. Sie muss ihren Platz der Idee der Expansion
überlassen, denn die Ausbreitung einer Macht weist eine völlig an­
dere Struktur auf als die Verbreitung einer Idee.
Eine Idee, die sich verbreitet, löst sich von ihrem Ausgangs­
punkt ab, und zwar ihrem Wesen nach. Sie wird zu einem Allgemein­
gut, trotz des unverwechselbaren Akzents, der ihr durch denjenigen
verliehen wird, der sie hervorgebracht hat. Denn im Grunde genom­
men ist sie anonym. Derjenige, der sie sich zu Eigen macht, wird in
gleicher Weise Herr über sie wie derjenige, der sie ins Spiel gebracht

32
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

hat. Die Verbreitung einer Idee bringt also eine Gemeinschaft von
»Herren« hervor- es ist ein Prozess der Gleichstellung. Seine eigene
Meinung ändern oder jemanden überzeugen heißt nichts anderes, als
eine Gemeinschaft Gleichgestellter zu schaffen. Die Universalität
einer Ordnung in der westlichen Gesellschaft spiegelt immer auch
diese Universalität der Wahrheit wider.
Die Macht hingegen zeichnet sich durch eine andere Art der
Ausbreitung aus. Wer sie ausübt, hält an ihr fest. Die Macht verliert
sich nicht unter denjenigen, die ihr unterworfen sind. Sie bleibt an
die Person oder die Gesellschaft gebunden, die sie ausübt; sie vergrö­
ßert sie, indem sie ihnen den Rest unterwirft. Die universale Ord­
nung stellt sich hier nicht als Folgeerscheinung einer ideologischen
Expansion ein - es ist diese Expansion selbst, die die Einheit einer
Welt von Herren und Sklaven hervorbringt. Nietzsches Wille zur
Macht, den das heutige Deutschland wiederentdeckt und glorifiziert,
ist nicht nur ein neues Ideal; es ist ein Ideal, das seine eigene Form der
Universalisierung gleich mitliefert: nämlich den Krieg und die Erobe­
rung.
Doch hier stoßen wir auf Wahrheiten, die nur allzu bekannt
sind. Wir haben nur versucht, sie an ein Grundprinzip zurückzubin­
den. Vielleicht ist es uns ja gelungen zu zeigen, dass der Rassismus
nicht nur in einem Gegensatz zu diesem oder jenem Gedanken
christlicher oder liberaler Kultur steht. Was auf dem Spiel steht, ist
nicht dieser oder jener Glaubenssatz der Demokratie, des Parlamen­
tarismus, eines diktatorischen Regimes oder einer religiös eingefärb­
ten Politik. Es geht um die Menschlichkeit des Menschen selbst.

Postscriptum*

Dieser Aufsatz ist 1934, kurz nach der Machtergreifung Hitlers, in


Esprit erschienen, der Zeitschrift des fortschrittlich-avantgardis­
tischen Katholizismus.
Dem Aufsatz liegt die überzeugtmg zugrunde, dass der Ur­
sprung der blutigen Barbarei des Nationalsozialismus nicht i n einer
zufälligen Anomalie der menschlichen Urteilsfähigkeit und auch

• Dieses Postscripturn schickte Lcvinas handschriftlich an den Herausgeber der Zeit­


schrift Critical Inquiry, in der die amerikanische Übersetzung 1990 (Vol. 17, Nr. 1 ,
S. 63-71) erschienen ist. (Anm.d. Os.)

33
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

nicht in einem bloßen ideologischen Missverständnis zu suchen ist.


Er will vielmehr die Überzeugung zum Ausdruckbringen, dass dieser
Ursprung aus einer grundsätzlichen Möglichkeit des eiementalen
Bösen herrührt, zu der die Logik führen kann und gegen die sich die
abendländische Philosophie nicht ausreichend geschützt hat: eine
Möglichkeit, die der Ontologie des Seins eingeschrieben ist, das sein
will - ein Sein, so die heideggersche Formulierung, »dem es in sei­
nem Sein um dieses Sein selbst geht«; eine Möglichkeit, die auch
noch das Subjekt bedroht, das in Korrelation steht zu einem Sein,
das es »zu sammeln« und »zu beherrschen« gilt, dieses berühmte
Subjekt des transzendentalen Idealismus, das sich als freies will und
für ein solches hält. Man muss sich fragen, ob der Liberalismus ge­
nügt, um zur eigentlichen Würde des menschlichen Subjekts zu ge­
langen. Erreicht das Subjekt den Status des Menschlichen (frz. con­
dition humaine) nicht erst dann, wenn es die Verantwortung für den
anderen Menschen übernimmt, in der Erwählung, die es auf diese
Stufe hebt: eine Erwählung, die von einem Gott - oder Gott -
kommt, der es anblickt im Gesicht des anderen Menschen, seines
Nächsten, dem ursprünglichen Ort der Offenbarung?

34
Husserl, Heidegger, Jean Wahl
II

Über die »Ideen« von E. Husserl

Der erste Band von Husserls Ideen (Ideen zu einer reinen Phänome­
nologie und phänomenologischen Philosophie) - der einzige, der bis­
lang erschienen ist - ist eine Einführung in die Phänomenologie, eine
neue Wissenschaft, die nach Ansicht ihres Autors philosophisch im
wahrsten Sinne des Wortes ist, weil sie die Grundlage aller Wissen­
schaften darstellt, d. h. sowohl der Natur- und Geisteswissenschaften
als auch der Logik,. der Psychologie, der Erkenntnistheorie und sogar
der Metaphysik.
Auch wenn es unsere Absicht ist, die wesentlichen Gedanken
dieses Buches, das für die deutsche Philosophie von entscheidendem
Einfluss war und immer noch ist, wiederzugeben, so kann es uns
dennoch nicht darum gehen, sie hier in ihrem ganzen Reichtum aus­
zuschöpfen. So sind wir einerseits gezwungen, das beiseite zu lassen,
was in ihm vielleicht am interessantesten wäre, nämlich die Vielzahl
konkreter - peinlich genau und sorgfältig durchgeführter phäno­ -

menologischer Analysen, die sich hier aber nicht einfach zusammen­


fassen lassen, weil man sie in ihrer ganzen Ausführlichkeit darlegen
müsste. Ferner begnügen wir uns damit, diej enigen Passagen nur zu
erwähnen, in denen eher spezielle Probleme behandelt werden, wie
etwa die Frage nach Gott, die Konstitution der inneren Zeit (vgl.
§ 24)1, das Verhältnis zwischen der apophantischen Logik und der
formalen Ontologie (vgl. § 26) sowie die Möglichkeit praktischer
und ästhetischer Wahrheiten (vgl. §27) und deren Verhältnis zum
theoretischen Bewusstsein. Letzteres wird sich nach umfangreichen
und schwierigen Analysen als die universale Form herausstellen, die
jeder Bewusstseinsakt annehmen kann. All diese Fragen, die Husserl
in ihrer ganzen Tiefe und Neuheit aufgeworfen und behandelt hat,
bilden jedoch nicht das eigentliche Zentrum der Ideen.

1 Oie Verweise in den Klammern beziehen sich auf die Paragraphen dieses Aufsatzes.
Oie Fußnoten verweisen dann auf die Werke Husserls.

37
Über die »Ideen« von E. Husserl

Im Übrigen halten wir uns aber an den vom Autor vorgege­


benen Gesamtplan und weichen nur dann von ihm ab, wenn es da­
rum geht, die Begriffe einzuführen, die in den früheren Werken
Husserls ausgearbeitet worden sind.2 Unser Beitrag ist in vier Ab­
schnitte unterteilt, die den vier Abschnitten des Buches entsprechen,
aber wir untergliedern diese auf eigene Weise. Um die Darstellung
nicht zusätzlich zu erschweren, verwenden wir die husserlsche Ter­
minologie - die in Frankreich noch ganz ungebräuchlich ist - nur
dann, wenn dies absolut notwendig ist, um Missverständnisse zu ver­
meiden. Aus dem gleichen Grunde werden wir auch nur sehr wenige
Zitate anführen.
Um den allgemeinen Charakter des Buches besser deutlich ma­
chen zu können, wollen wir von Anfang an unterstreichen, dass es
nicht auf ein »System der Philosophie« abzielt und auch keines sein
will. Jede Seite der Ideen versucht zu zeigen, dass die philosophischen
Probleme in einer neuen Weise dargestellt werden können, die sie
einer Lösung näher bringen; diese Lösung allerdings wird sich nur
in Form konkret geleisteter Arbeit, die Generationen in Anspruch
nehmen wird, einstellen, so wie in den exakten Wissenschaften ·

auch.3 Die Ideen verstehen sich als Einladung zu einer solchen Ar­
beit.

1. Gliederung des gesamten Buches


Das Buch ist in vier Abschnitte unterteilt:
I. Der Sinn und Wert von Wissenschaften, denen es um Wesens­
erkenntnisse geht (Wesenswissenschaften) und die in der Termino­
logie Husserls kurz »eidetische Wissenschaften«4 genannt werden.
Es geht dabei um Fragen allgerneiner Art, die die Phänomenologie
betreffen, insofern diese in erster Linie eine eidetische Wissenschaft

2 Weitere Werke von Husserl: a) Philosophie der Arithmetik, Halle: C. E. M. Pfeffer


1891 (ein Werk aus seiner vorphänomenologischen Phase); b) Logische Untersuchun­
gen, 1. Aufl. (2 Bde.), Halle: Max Niemeyer 1900-1901; 2. Aufl. (3 Bde.), Halle: Max
Niemeyer 1913/1921; c) Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos, 1911; d) Ed­
mund Husserls Vorlesungen zur Pl1änomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in: Jahr­
buch für Philosoplhie und phänomenologische Forschung, Bd. IX.
J Vgl. den Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft.

• Husserl verwendet den Begriff eidetisch, der auf das griechische Wort eidos zurück­

geht, und stellt ihn dem Begriff der »Idee« gegenüber, um Zweideutigkeiten zu vermei­
den (vgl. Paragraph 22).

38
Über die »Ideen« von E. Husserl

ist. Weil in diesem Abschnitt die Grundbegriffe erarbeitet werden,


die in der Folge zur Anwendung kommen, muss seine zusammenfas­
sende Darstellung etwas ausführlicher ausfallen.
IL Der Gegenstand sui generis der Phänomenologie.
IIL Ihre spezi fische Methode.
IV Die Herausstellung der zentralen Probleme der Phänomeno­
logie - Probleme der Vernunft und der Wirklichkeit -, die sich aus
der phänomenologischen Einstellung ergeben und in ihr auf ganz
neue Art und Weise z u einer Lösung finden .

Abschnitt 1: Wesen und Wesenserkenntnis

2. Der Wesensb egriff

Auch wenn die zufällige Struktur, ihrem Wesen nach, das Eigentliche
der individuellen Gegenstände und Naturtatsachen ausmacht, so ent­
hüllt sich in ihr gleichwohl so etwas wie ein notwendiger und sich
durchhaltender »Stik Neben »empirischen Typen«, die von rein in­
duktiver Allgemeinheit sind (wie Löwe, Stuhl, Stern), stoßen wir
auch auf wirkliche Wesenheiten (Eidos), die notwendigerweise zu
den individuellen Gegenständen gehören und - in jedem Bereich -
die eigentliche Bedingung der Möglichkeit dieser zufälligen Typen
darstellen. Die Farbe, die Materialität, die Wahrnehmung die Erin­ ,

nerung usw. sind Beispiele für solche Wesenheiten. Aber das Wesen
des individuellen Gegenstandes ist nicht selbst ein individueller Ge­
genstand. Das Wesen oder die notwendige Struktur des Gegenstan­
des is t als etwas Ideales, überzeitliches und Überräumliches gegeben.
Dennoch dad der Ausdruck ideale Wesenheit nicht im Sinne
einer Metaphysik - einer platonischen5 oder sonstigen - verstanden
werden, denn es steht dabei weder das Sein des individuellen Gegen­
standes noch das Sein des idealen Gegenstandes und auch nicht das
Verhältnis zwische n diesen beiden zur Frage. Man muss sich hier
vielmehr die ursprüngliche Einstellung zu Eigen machen, die Husserl
in seinem · ersten phänomenologischen Werk (Logische Unter-

5 E. Hussed, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso­


phie. Allgemeine Einführung in die Phänomenologie, 4. Au1L Tübingen: Max Niemey­
er 1980, S. 40. (Ideen)

39
Über die »Ideen« von E. Husserl

suchungen6} eingenommen hatte. Jeder Gedanke meint etwas, und


das, was er meint - ob es nun existiert oder nicht - ist sein Gegen­
stand. Aber dieser Gegenstand, der als Gegenstand gemeint ist, als
reine Bedeutung unseres Gedankens, kann bestimmte Merkmale
aufweisen: Wir können von seinen Eigenschaften reden, von seiner
Möglichkeit, aussagbar zu sein, von der Art und Weise, wie er sich als
»seiender«, »individueller« oder »idealer« gibt. Wenn hier allerdings
von Sein, Idealität oder Realität die Rede ist, so hat dies weder etwas
mit einer metaphysischen Einstellung noch mit einer Seinsbehaup­
tung zu tun.
Es ist diese Ordnung der Ideen, innerhalb derer wir von idealer
Wesenheit sprechen und die wir folgendermaßen charakterisieren:
Jedes Wesen eines Gegenstands hat »Seinen Bestand an wesentlichen
Prädikabilien, die ihm zukommen müssen, damit ihm andere, sekun­
däre, relative Bestimmungen zukommen können«7. So können wir
z. B. bei einem Ton die Höhe variieren, ohne dass er darum aufhören
würde, ein Ton zu sein. Und dennoch wäre es absurd, die Tonhöhe in
einem Maße zu verändern, dass dem Ton die »Höh�« überhaupt ab­
gesprochen werden müsste, denn ein so veränderter Ton wäre kein
Ton mehr. Die Höhe gehört also notwendigerweise zur Struktur des
Tones, zu seinem Wesen; und dies wird von allen anderen zufälligen
Prädikaten, die zum Ton gehören können, auch vorausgesetzt.
Die Ideen liefern uns keine konkreten phänomenologischen
Analysen der Methode, der es zu folgen gilt, um das »Wesen« der
Dinge ausfindig z u machen; und auch die Unterscheidung zwischen
den »Wesenheiten« und den »Typen, die von rein induktiver All­
gemeinheit« sind, mit der wir diesen Paragraphen eingeleitet haben,
lässt sich in ihnen nicht finden. Husserl wird in späteren Veröffent­
lichungen Klärendes dazu sagen. Wir wollen uns daher an dieser
Stelle nur mit einigen Bemerkungen begnügen. Um zum Wesen
eines Gegenstandes zu gelangen, gehen wir zunächst von einem in­
dividuellen (wahrgenommenen oder vorgestellten) Gegenstand aus.
Wir abstrahieren dann von seinem Sein, betrachten ihn als einen rein
vorgestellten Gegenstand und modifizieren in der Phantasie seine
verschiedenen Attribute. Aber es gibt etwas Invariables und Identi­
sches, das sich durch all die möglichen Modifikationen eines Attri­
buts hindurch hält und gewissermaßen die notwendige Grundlage

6 Vgl. besonders Logische Untersuchungen, 2. Auf!., Band li, 2. Untersuchung.


7 Ideen, S. 9.

40
Über die »Ideen« von E. Husserl

für die Variation selbst darstellt. Und dieses unveränderliche Merk­


mal erscheint als etwas Allgemeines, eben weil es ein identisches
»Moment « innerhalb einer im Prinzip unendlichen Reihe imaginärer
Variationen ist: Seine Ausweitung in »Möglich�eiten« ist unendlich.
Diese Invariablen in den Variationen zu ergreifen, das heißt, die We­
senheiten ·zu ergreifen. Und die Erkenntnis, die wir davon haben kön­
nen, ist eine Anschauung, wie der folgende Paragraph zeigen wird.

3. Wesenssch.au, Wesensanschauung
Oie Wesensschau ist eine der Entdeckungen in den Logischen Unter­
suchungen.8 In der Anschauung eines individuellen Gegenstandes ist
es dieser Gegenstand selbst, der die Funktion eines Gegenstandes er­
füllen kann; aber genauso gut können wir auch sein Wesen als Ge­
genstand erfassen. In dem konkreten Rot dieses Stoffes, der vor mir
liegt- oder in einem vorgestellten Rot - gibt sich das Rot in der Folge
der Variationen, die wir eben beschrieben haben, in seinem Wesen
zur Anschauung. Das individuelle Rot, das ich wahrnehme oder mir
vorstelle, dient nur als Beispiel für meine Wahrnehmung des Wesens
von »Rot«, eines neuartigen Gegenstandes, der aus einem neuen Er­
kenntnisakt hervorgeht, einem Akt der Ideation. Die Wahrheiten, die
diesen neuartigen Gegenstand betreffen - die eidetischen Wahrhei ­
ten - sind folglich unabhängig von der Faktizität des individuellen
Gegenstandes und folglich nichts anderes als induktive Wahrheiten.
Denn die Faktizität des Beispiels hat hier nicht die Funktion einer
Prämisse - ebenso wenig, wie das auf dem Tisch liegende Dreieck
die logische Voraussetzung für eine geometrische Beweisführung
darstellt.
Aber auch wenn das individuelle Beispiel als Grundlage für die
Ideation unabdingbar ist, die Wesenserkenntnis selbst bleibt dennoch
eine Anschauung. In ihr finden sich dieselben Eigenschaften, dje
auch die sinnliche Anschauung als Anschauung charakterisieren.
Oie Wesenserkenntnis ist »Erschauung« ihres Gegenstandes, der
nicht nur etwas bedeutet oder als solcher gemeint ist (vgl. §30), son­
dern der selbst mit »klarer und deutlicher« Evidenz gegeben ist. Sie
kann sogar ihren Gegenstand in der privilegierten Art und Weise vor
sich haben, die für die Wahrnehmung charakteristisch ist und bei der
der Gegenstand nicht nur »klar und deutlich« gesehen wird, sondern

a Vgl. vor allem Logische Untersuchungen, 2. Aurt., Bd. 111.

41
Über die »Ideen« von E. Husserl

gewissermaßen »selbst da« ist - »originär« gegeben ist, wie Husserl


sagt. Und trotzdem: Es liegt in der Natur des Wesens selbst, dass es
auf Beispiele angewiesen bleibt, um erfasst werden zu können. An­
zunehmen, dass sich die Wesenheiten einem göttlichen Verstand
auch »ohne Beispiele« darbieten würden, hieße anzunehmen, dass
für einen göttlichen Verstand ein Kreis auch quadratisch sein könnte.

4. Der Begriff der Wahrheit


Nicht nur die Wesenheiten sind der Anschauung zugänglich, son­
dern auch die kategorialen Formen, wie z. B. die synthetische Form
des Urteils, die Subjekt und Prädikat miteinander verbindet. Die in­
tellektuelle Anschauung, die diese kategorialen Formen erfasst, be­
darf zwar der sinnlichen Anschauung, auf die sie gegründet ist, und
zwar von Natur aus; aber sie bleibt dennoch eine Anschauung, so wie
auch die Wesensanschauung nicht aufhört, eine Anschauung Zll sein,
nur weil sie einen »Bedarf an Exempeln« hat, der in ihrer Natur liegt.
Die Ausweitung des Begriffs der Anschauung auf den Bereich
der Wesenheiten und kategorialen Formen erlaubte es Husserl, in der
Anschauung das wesentliche Moment wahrer Erkenntnis zu sehen.
Alles Erkennen besteht in der Anwesenheit eines Gegenstandes vor
dem Bewusstsein, und jede wahre Aussage über einen Gegenstand
kann nur von der Struktur des Gegenstandes selbst herrühren, die
in der Anschauung gesehen wird. Dies gilt sowohl für den individu­
ellen Gegenstand wie auch für das Wesen. Wir sagen zu Recht: »Jede
Farbe ist notwendigerweise ausgedehnt«, denn wir sehen dies im We­
sen der Farbe, und genauso rechtfertigt sich die Aussage »Der Baum
ist grün« durch die sinnliche Wahrnehmung, die dies feststellt.
Die Phänomenologie macht auf diese Weise deutlich, dass die
Wahrheit von ihrem Gegenstand abhängt. Aber wir wollen hier
gleich hervorheben, dass dies keinesfalls auf eine realistische Meta­
physik hinausläuft; die Abhängigkeit der Wahrheit von ihrem Ge­
genstand bedeutet nur; dass jeder Gedanke, und zwar wesenhaft und
also noch vor jeder Theorie über das Sein oder Nichtsein der Gegen­
stände, auf seinen Gegenstand gerichtet ist, der allein die Wahrheit
der Intentionen des Denkens begründen kann. Was eine Wahrheit als
Wahrheit auszeichnet, rührt nicht von einem irgendwie gearteten
Mechanismus des Denkens her; der ihm erlaubt, dieses oder jenes
Subjekt mit diesem oder jenem Prädikat zu verbinden, sondern von
der notwendigen Struktur seines Gegenstandes. Die deduktive Be-

42
Über die »Ideen« von E. Husserl

weisführung kann von daher nichts anderes sein als ein Verfahren,
eine Wahrheit auf ihren Ursprung in der Anschauung zurückzufüh­
ren.
Unter diesem Gesichtspunkt kommt es gewissermaßen zu einer
Versöhnung zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus. Die
Quelle der Erkenntnis ist in der Tat die Erfahrung, aber Erfahrung
wird hier in einem weiten Sinne verstanden, nämlich als Anschau­
ung, die neben den sinnlich gegebenen empirischen Tatsachen auch
Wesenheiten und Kategorien erfassen kann.

5. Die eidetischen Wahrheiten im Verhältnis zu den individuellen


Wahrheiten: die regionalen Ontologien
Wesenheiten können mehr oder weniger allgemein sein. Das Wesen
»materielles Ding« ist allgemeiner als das Wesen »Weißes Ding«.
Wesenheiten mit einem höheren Allgemeinheitsgrad werden unter
dem Begriff der Region zusammengefasst. Ferner ist auch das ge­
nauer spezifizierte Wesen, wie z. B. das Wesen »eines weißen Dings,
das einen ganz bestimmten Farbton aufweist«, immer noch etwas
Ideales und darf daher auch nicht mit einer empirischen Tatsache,
durch die es individualisiert ist, verwechselt werden.
Gleichwohl aber können die empirischen Tatsachen als individu­
elle Vereinzelungen oder Individualisierungen spezifizierter Wesen
betrachtet werden .. Und darum gelten die eidetischen Gesetze, wie
etwa die geometrischen Gesetze, auch für den realen Raum. Als In­
dividualisierungen von Wesenheiten werden die Tatsachen durch die
eidetischen Wahrheiten der entsprechenden Regionen bestimmt. Die
Tatsachenwissenschaften sind folglich von den Wesenswissenschaf­
ten abhängig. Es sind also diese Wesenswissenschaften, die innerhalb
der Tatsachenwissenschaften eine Rationalisierung bewirken. Die
moderne Physik verdankt ihre Entwicklung der Tatsache, dass das
Wesen »Raum«, das zur Region »materielles Ding« gehört, bereits
seit der Antike Gegenstand einer etablierten Wesenswissenschaft
wurde. Dennoch schöpft sie die Region »materielles Ding«, in die
auch die anderen konstitutiven Wesenheiten ihre jeweilige Eidetik
mit einbringen müssen, nicht gänzlich aus. Andererseits müssen
auch Regionen wie »Gesellschaft«, »Tierwelt«, »Kultur« usw. zum
Gegenstand der Wesenswissenschaften gemacht werden, was zur
Entwicklung der ihnen entsprechenden Tatsachenwissenschaften bei­
tragen und diesen auch eine wissenschaftliche Würde verleihen wür-

43
Über die »Ideen« von E. Husserl

de. Eine der Funktionen der Phänomenologie im husserlschen Sinne


sollte darin bestehen, zu derjenigen eidetischen Wissenschaft zu wer­
den, die eine Rationalisierung der empirischen Psychologie bewirken
könnte.
Husserl bezeichnet all diese regionalen Eidetiken, die zunächst
nicht mehr als desidera.ta sind, als regionale Ontologien. Diese On­
tologien zu begründen und entsprechend auszuarbeiten ist ein weites
Fors chungsfeld.

6. Die formale Ontologie


Die Tatsachenwissenschaften sind von den eidetischen Wissenschaf­
ten auch noch in einem anderen Sinne abhängig: Ihr Gegenstand -
unabhängig vom Gegenstandsbereich, dem er zugehört - gehorcht
den Gesetzen der eidetischen Wissenschaft, die die »Form des Gegen­
standes überhaupt« untersucht. Sie sind also von der Logik abhängig.
Alle Wissenschaften, egal, auf welchen Gegenstandsbereich sie
sich beziehen, sind der eidetischen Wissenschaft von der Region
»Form des Gegenstandes überhaupt« untergeo rdnet. Formen wie
»Ding«, »Relation«, »Ordnung«, »Eigenschaft«, »prädikative Syn­
these« usw. finden sich in den Gegenständen aller Regionen und un­
terliegen eidetischen Gesetzen. Die Untersuchung der eidetischen
Beziehungen dieser Formen fällt in den Bereich der formalen Onto­
logie.
Die formale Ontologie ist im Grunde nichts anderes als »die
reine Logik der vollen Extension bis zur mathesis universalis«9. Die
reine Logik wird auf diese Weise mit der mathesis universalis gleich­
gesetzt und als Wissenschaft der Formen verstanden. Dies ist eines
der Ergebnisse des ersten Bandes der Logischen Untersuchungen. Die
traditionelle Logik macht dieser Auffassung nach also nur einen mi­
nimalen Bestandteil der mathesis universalis aus: Sie ist bloß eine
Apophansis, denn sie untersucht nur die reinen Formen der Bedeu­
tungen, die in die Aussagen mit eingehen.
Die Gesamtheit der Wahrheiten der »formalen Ontologie« lässt
sich auf eine bestimmte Anzahl von Axiomen zurückführen. Die
konstitutiven Begriffe dieser Axiome werden von Husserl als ana­
lytische Kategorien bezeichnet.

9 Ideen, S. 22.

44
Über die »Ideen« von E. Husserl

7. Gattung und Form


Dennoch muss die Form, wie sie sich im Fortgang unserer Darstel­
lung manifestierte, sehr wohl von der ldee der Gattung unterschie­
den werden. Jede Region stellt eine durch Gattung und Art bestimm­
te hierarchische Struktur dar, die auf der einen Seite bei der
nächsthöheren Gattung, auf der anderen Seite bei der unmittelbar
vorausgehenden Differenz endet. Aber die »Form des Gegenstandes
überhaupt« ist nicht die höhere Gattung aller Regionen, sie ist Form.
Diese Form mit einem materialen Inhalt zu füllen erfordert ein Ver­
fahren, das sich grundsätzlich von dem der Spezifizierung einer Gat­
tung unterscheidet. Der Bezug der Form »S ist P« auf die physika­
lische Aussage »Alle Körper sind schwer« ist ein anderer als der
Bezug der Gattung »Farbe« auf die Art »Rot«. Dasselbe gilt auch für
die Mathematik: »(S)o ist z. B. der Obergang vom Raume zur >Eukli­
dischen Mannigfaltigkeit< keine Generalisierung, sondern eine >for­
male< Verallgemeinerung. « 1o
So bieten sich tms also drei Begriffe der Extension dar: a) die
eidetische Extension - von der Wesensgattung zu den spezifischen
Wesenheiten; b) die mathematische Extension - von der Form zu
den materialen Inhalten; c) die empirische Extension - vom Wesen,
der letzten Differenz, zu den Gegenständen, die es individualisieren.

8. Analytische und synthetische Erkenntnisse


Die regionalen Ontologien werden durch das materiale Wesen jeder
Region und nicht nur durch die »reine Form des Gegenstandes über­
haupt« bestimmt, die allen Gegenständen gemeinsam ist. Als Wis­
senschaften, die mit Hilfe der eidetischen Wesensschau voranschrei­
ten, sind die »regionalen Ontologien« apriorische Wissenschaften
und daher unabhängig von der empirischen Erfahrung. Sie stellen
folglich einen Erkenntnistyp dar, den man als synthetisch a priori
bezeichnen könnte, im Unterschied zur analytischen Erkenntnis, die,
kraft der Gesetze der formalen Ontologie, auf einem Schlussverfah­
ren vi formae basiert. Innerhalb dieser Ordnung der Ideen können
die synthetischen Kategorien, die sich den analytischen Kategorien
entgegenstellen lassen (vgl. § 6), nichts anderes sein als die Grund­
begriffe derjenigen Axiome, auf die die regionalen Ontologien zu-

•o Ebd., S. 27.

45
Über die »Ideen« von E. Husserl

rückgehen. Die Zahl der Kategorien wird deshalb auch unendlich viel
größer sein, als Kant geglaubt hatte. Es wird nämlich genauso viele
Gruppen von Kategorien geben, wie es Regionen gibt.
Das Feld synthetischer Erkenntnisse a priori erfährt im Zuge
dieser neuen Konzeption der apriorischen Erkenntnis, die nun mit
der Anschauung materialer und formaler Wesen gleichgesetzt wird,
eine extreme Ausweitung. Die ersten Schüler Husserls, in der Phase
der Logischen Untersuchungen, haben vor allem die Idee dieses »ma­
terialen Apriori« - das selbstverständlich auf dem Gebiet reiner We­
senheiten, nicht aber auf dem Gebiet allgemeiner Typen (vgl. § 2)
mögli ch ist - und die »Üntologien«, die sich aus ihr als Möglichkeit
ergeben, weiterverfolgt. Doch obwohl sie Husserls Auffassung von
der Phänomenologie - von einigen Vorbehalten abgesehen - gefolgt
sind, sind ihre in seinem Jahrbuch veröffentlichten Arbeiten doch
nur »regionale Ontologien« geblieben, die sich in ihren Unter­
suchungen allein auf die verschiedenen Gegenstandsbereiche be­
schränken. Die Phänomenologie, so wie Husserl sie versteht, ist aber
etwas anderes. Sie muss das absolut sichere Fundament aller Wissen­
schaften sein. Die »Üntologien« brauchen hingegen, auch wenn sie
in ganz anderer Weise rational sind als die Tatsachenwissenschaften,
selbst ein Fundament, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

9. Kritische Bemerkungen gegen den Naturalismus, der die


Wesenheiten leugnet
Die Punkte, die wir eben herausgestellt haben, gehen bereits selbst
auf Ergebnisse zurück, die aus der Anschauung resultieren. Der »Na­
turalismus«, der sie bestreitet und sich vor allem gegen die Objekti­
vität von Wesenheiten wendet, wurde in den Logischen Unter­
suchungen11 einer ausführlichen Kritik unterzogen. In den Ideen
werden die wesentlichen Argumente dieser Kiitik noch einmal wie­
derholt.
Der Naturalismus, dessen berechtigte Intention darin liegt, nur
auf die Erfahrung zu vertrauen, hat in erster Linie selbst dieses
positivistische Prinzip verraten, wenn er auf dogmatische Weise »Er­
fahrung« und »sinnliche Erfahrung« einander gleichsetzt. Eben die­
sem Dogmatismus widersetzt sich ein richtig verstandener Positivis­
mus, der noch vor jeder Theorie - und zurückgreifend auf das Prinzip

11 Bd. I und Bd. ll, Zweite Untersuchung.

46
Über die »Ideen« von E. Husserl

der Anscha uung von der Er fah rung in einem weiten Sinne des Be­
-

griffs ausgeht (vgl §4). Die Dinge zur unmittelbaren Anschauung zu


.

bringen und so die Sachen selbst zu befragen, dies allein ist der ein­
zige Weg, um ohne Voraussetzungen zu beginnen und zu den Prin­
zipien zu gela ngen .

Jeder Skeptizismu s ist absurd, weil er sich selbst widerlegt.12 Die


Wesenheiten und folglich auch die allgemeinen Wahrheiten zu leug­
nen, führt nun aber geradewegs in einen solchen Skeptizismus. Denn
die sinnliche Erfahr ung, die nach Auffassung des Naturalismus die
einzige Quelle der Wahrheit darstellt, wird niemals den allgemeinen
Charakter derjenigen Wahrheiten garantieren können, die sie selbst
aufstellt, da die Prinzipien sinnlicher Erfahrung, die Prinzipien der
Induktion selbst, nicht als absolut zuverlässig ausgewi esen werden
können.
Ferner täuscht sich der Naturalismus auch darin, dass er glaubt,
das Wesen lasse sich mit Hilfe einer psychologistischen Theorie auf­
hellen, die in ihm nur so etwas wie eine ind ividuelle ps ychologische
Tatsache sieht. Dies hieße aber letztlich nichts anderes als den Er­
kenntnisakt mit dem Erkenntnisgegenstand zu verwechseln.13 Der
Akt der Erkenntnis, wie z . B. der Akt des Zählens, ist zwar tatsächlich
etwas Psychologisches und Zeitliches, der Gegenstand der Erkennt­
nis, die Zahl, ist im Gegensatz dazu aber etwas Ideales und dem Akt
gegenüber Transzendentes. Und genau diese Unterscheidung lässt
uns auch verstehen, warum das Wesen, selbst wenn es ein Produkt
unserer Spontaneität ist, die sich auf die empirischen Gegebenheiten
richtet, nicht eine von uns hervorgebrachte Fiktion sein kann. Unsere
Spontaneität bringt nämLch den Akt hervor und nicht das Wesen,
das einer wahren oder falschen Erkenntnis zugänglich ist, wie z. B.
im geometrischen D enken.
Die eidetische Anschauung hat also genauso ihre Berechtigung
wie die individuelle Anschauung. In der eidetischen Anschauung (be­
zogen auf d ie Welt der Wesenheiten) ebenso wie in der individuellen
Anschauung (bezogen auf die Welt der Tatsachen) sind uns die Ge­
genstände in evidenter Weise gegeben . Die Anschauung ist die ei­
gentliche Rechtsquelle jeden Wahrheitsanspruchs, das »Prinzip aller
Prinzipien«14•

12 Logiselle UntersHchunge11, Bd. !.


13 Logische Untersuchungen, Bd. J.
" Ideen, S. 43.

47
Über die »Ideen« von E. Husserl

10. Der Übergang zur Phänomenologie im Sinne Husserls15

Die Wissenschaft folgt in Wirklichkeit genau dieser »intuitiven« Me­


thode, insofern sie sowohl von der eidetischen Anschauung (in der
Mathematik) wie auch von der individuellen Anschauung Gebrauch
macht. Der Wissenschaftler wird zum Naturalisten und folglich zum
Skeptiker erst dann, wenn er auf die eigene Verfahrensweise reflek­
tiert (vgl. § 9). Es ist nicht die Natur seiner Gegenstände, die er dabei
falsch interpretiert, sondern die Art und Weise, wie sie gegeben sind
und existieren. Um diese falschen Interpretationen und den Skepti­
zismus, der aus ihnen folgt, ein für alle Mal zu überwinden, müssen
folglich die Art und Weise, wie der Gegenstand sich dem Bewusstsein
gibt, und also der Sinn seiner Objektivität selbst zum Gegenstand
der auf Anschauung bezogenen Forschungen gemacht werden. Dazu
muss sich allerdings der intuitive Blick auf das Bewusstsein, dem sich
die Gegenstände geben, zurückwenden und sozusagen in die Quelle
selbst hineinblicken, um zu erkennen, was es heißt, »sich dem Be­
wusstsein geben«. Die Phänomenologie, so wie Husserl sie versteht,
wird genau dies unternehmen.
Die »regionalen Ontologien« sind in einer Weise auf ihre Ge­
genstände gerichtet, dass sie das Bewusstsein als solches nicht thema­
tisieren, und daher können sie dem Skeptizismus, der auf einem em­
piristischen Dogmatismus basiert, auch nicht mit ihren eigenen
Mitteln untrügliche Anschauungen entgegenhalten. Husserl charak­
terisiert darum auch die Einstellung der eidetischen Ontologie eben­
so wie die der Tatsachenwissenschaften als naiv und dogmatisch.
Nicht, dass sich diese Wissenschaften in ihren Aussagen täuschen
würden - es ist vielmehr der Sinn der Objektivität dieser Aussagen,
der ihnen entgeht; sie sehen zwar das, was sich gibt, aber sie sehen
nicht, wie sich das Gegebene als Gegebenes gibt.
Die neue Wissenschaft, die sich hier durchzusetzen beginnt,
wird das Bewusstsein, in dem die Gegenstände gegeben sind, zum
Thema haben, und sie allein wird den Sinn ihrer Objektivität und

1> •Phänomenologie« meint nicht eine Wissenschaft, die sich aufgrund der Unzugäng­

lichkeit der »Dinge an sich« auf die Untersuchung der Phänomene beschränkt. Phäno­
men bedeutet hier das, was sich »zeigt«, was sich noch vor jeder Voraussetzung gibt, im
Gegensatz zu jeder vermeintlich übergeordneten Struktur. Man könnte also sagen, sie
sei eine »Wissenschaft von den unmittelbaren Gegebenheiten«. Unser Paragraph 10
zeigt, warum die Untersuchung der »unmittelbaren Gegebenheiten« nach Husserl die
Untersuchung des Bewusstseins erforderlich macht.

48
Über die »Ideen« von E. Husserl

ihrer Erkenntnis bestimmen können. Auf diese Weise wird zunächst


vor allen Dingen der Skeptizismus überwunden. Aber mit der Lö­
sung der Probleme, die sich der Phänomenologie stellen, insofern
sie das Fundament der Wissenschaften und die Methode zur Aufhel­
lung ihres Sinns darstellt, ist zugleich auch schon die Lösung des
großen philosophischen Problems gegeben, nämlich der Frage nach
dem Sinn der Transzendenz, die die Gegenstände in Bezug auf das
Bewusstsein für sich behaupten.
Diese neue Forschungsrichtung ist philosophisch im wahrsten
Sinne des Wortes. Wir werden durch sie zu den eigentlichen Quellen
all dessen zurückgeführt, was überhaupt für das Bewusstsein existie­
ren kann; wir untersuchen die Art und Weise, wie die Dinge zur
Erscheinung kommen- wir erforschen dasjenige, was all die anderen
Wissenschaften voraussetzen, ohne es geklärt zu haben.
Aber das ist noch nicht alles: Sich zu fragen, was es bedeutet,
dass sich die Gegenstände dem Bewusstsein geben, was ihre Trans­
zendenz und ihre Objektivität für das Bewusstsein bedeuten, das
heißt zugleich nichts anderes, als sich Klarheit zu verschaffen darü­
ber, was das Sein der Dinge überhaupt bedeutet. Denn das Sein, über
das man vernünftigerweise sprechen kann, kann nur ein solches sein,
das sich dem Bewusstsein offenbart und das im Bewusstsein nicht
anders als in der Weise zu erfassen ist, wie es sich offenbart. Zu glau­
ben, dass die Dinge an sich in anderer Weise sind, als sie sich offen­
baren, heißt, das »an sich« der Dinge, die dem Be.."vusstsein gegeben
sind, falsch zu verstehen und sich vorzustellen, sie würden sich als
Bilder oder Zeichen einer anderen Welt manifestieren. Unser Erken­
nen richtet sich auf die gegebenen Dinge, und seine Absicht besteht
darin, sie als solche zu erfassen. Es sind die gegebenen Dinge, die wir
als seiend annehmen, und doch wird dieses Sein innerhalb der naiven
und wissenschaftlichen Einstellung nie zum Thema gemacht. Unser
einziges Problem kann also nur darin bestehen, den Sinn ihres Seins
aufzuhellen. Wir müssen dieses folglich genau als das nehmen, als
was es sich für das Bewusstsein gibt (vgl. § 26).

49
Über die »Ideen« von E. Husserl

Abschnitt II: Grundlegende phänomenologische Betrachtungen

11. Vorbemerkungen

Wir haben bisher gezeigt, dass es gilt, den intuitiven Blick von den
Dingen und den Wissenschaften auf das Bewusstsein zurückzulen­
ken, welches die Dinge denkt und die Wissenschaften hervorbringt.
Und wir haben auch gezeigt, worin das philosophische Ziel eines sol­
chen Einstellungswandels liegt. Wenn wir jetzt aber versuchen wer­
den zu besti mmen, in welchem Sinne das Bewusstsein für tms über­
haupt zu einem Gegenstand werden kann, dürfen wir dabei nicht
vergessen, dass eines unserer ursprünglichen Anliegen darin bestand,
den Skeptizismus zu überwinden. Unter den verschiedenen Wegen
zur Phäno menologie müssen wir daher für unseren Zugang zu ihr
denjenigen wählen, der den Charakter des Unbedingten dieser neuen
Wissenschaft, d. h. ihren absoluten Widerstand gegen jede Form von
Skeptizismus, unablässig im Auge behält.

12. Natürliche Einstellung und phänomenologische Einstellung

Die natürliche Einstellung, in der wir im Alltag leben und in der wir
uns auch bewegen, wenn wir Wissenschaft betreiben, weiß nichts
von der Frage nach dem Sinn der Erkenntnis und der Transzendenz.
In dieser Einstellung finden wir uns einer daseienden Welt gegen­
über; zu der wir zusammen mit den anderen Menschen und mit der
ganzen belebten Natur gehören. Jeder unserer Akte, die diese Welt
zum Gegenstand haben, impliziert deren Dasein. Die Welt als dasei­
ende ist die Genera/thesis, die die natürliche Einstellung charakteri­
siert.
Doch diese Einstellung muss auf radikale Weise geändert wer­
den. Auf der einen Seite muss der Sinn dieser Seinsthesis, die in der
natürlichen Einstellung auf naive Weise vorausgesetzt wird - der
Sinn des Seins -, aufgeklärt werden. Auf der anderen Seite müssen
wir den Skeptizismu s überwinden, der genau deshalb möglich ist,
weil der Sinn dieser Thesis im Dunkeln bleibt.
Aus diesen beiden Anliegen folgt eine neue Einstellung. Diese
hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem cartesianischen Zweifel, ist
aber nicht völlig mit ihm identisch. Wir leben nicht mehr unter der
Voraussetzung der Seinsthesis, die nicht absolut verlässlich ist, aber
wir weisen sie auch nicht zurück; wir gehen nicht einfach zur Anti-

so
Über die »Ideen« von E. Husserl

thesis über. Wir machen vielmehr diese Thesis selbst zum Gegen­
stand unserer Untersuchung. Diese unter Verdacht gestellte Thesis
wird also »außer Aktion gesetzt«, »ausgeschaltet« und »eingeklam­
mert« - sie verschwindet aber nicht vollständig: Ohne dass sie wei­
terhin bestimmend für unser Leben wäre, können wir dennoch über
sie und ihre Eigenschaften sprechen. Husserl bezeichnet diese Ein­
stellung als phänomenologische broxT,.
Die phänomenologische ertOXll wird auf alle Seinssetzungen in­
nerhalb der natürlichen EinstelJung angewendet: Die wissenschaftli­
chen, ästhetischen, moralischen Urteile usw. werden eingeklammert,
und wir verbieten es uns, aus ihnen heraus zu leben. Dennoch hören
wir nicht auf, sie auch weiterhin in Betracht zu ziehen: Ohne für oder
gegen ihren Wert Stellung zu beziehen, ohne aus ihnen heraus zu
leben, so wie wir es in der natürlichen Einstellung getan haben, be­
trachten wir dieses Leben selbst in seiner Konkretheit, dieses Be­
wusstsein, das all diese Aussagen trifft. Und wir betrachten selbst
diese Aussagen als solche, die vom Bewusstsein getroffen wurden,
und zwar genau in der Art und Weise, wie sie von dem Bewusstsein
getroffen wurden und wie sie in ihm gegenwärtig und gegeben sind.
Diese Aussagen sind dann, so betrachtet, nicht mehr das, was sie
einmal in der natürlichen Einstellung waren, sondern sie sind nun
»phänomenologisch reduziert«. Die phänomenologische btOXTJ wird
daher auch »phänomenologische Reduktion« genannt.
Die btoxl], die uns jede Seinsthesis über die Welt verbietet,
stellt uns also das urteilende Bewusstsein selbst als einen For­
schungsgegenstand vor.
Aber sind wir darffit auch schon unserem zweiten Anliegen ge­
recht geworden, nämlich in unseren Untersuchungen jeder Form von
Skeptizismus zu widerstehen? Ist nicht das Bewusstsein selbst ein
Teil der existierenden Welt? Muss also die btoxT] nicht auch jede
Aussage über das Bewusstsein »einklammern«? Und macht sie damit
aber nicht jede Phänomenologie, die ja eine über allen Zweifel erha­
bene Wissenschaft sein soll, von vornherein unmöglich? Wir werden
auf den folgenden Seiten darauf eine Antwort geben.

13. Das Wesen des Bewusstseins: die Intentionalität

Eine genauere Untersuchung der Natur des Bewusstseins wird uns


zeigen, dass dieses, von einem bestimmten Blickwinkel aus betrach-

51
Über die »Ideen« von E. Husserl

tet, sich der enox� entzieht, und zwar als ein Feld unbedingter Ge­
wissheit.
Der Ausdruck Bewusstsein umfasst nach Husserl den ganzen
Bereich des »cogito« im cartesianischen Sinne des Wortes: ich denke,
ich verstehe, ich begreife, ich verneine, ich will, ich will nicht, ich
stelle mir vor; ich fühle usw. Das Eigentümliche der ganzen Bewusst­
seinssphäre - des aktuellen (im Modus aufmerksamer Zuwendung)
und des potentiellen (des Bereichs, der die Gesamtheit der möglichen
Bewusstseinsakte umfasst und ohne den das aktuelle Bewusstsein
undenkbar wäre) - besteht darin, immer »Bewusstsein von etwas«
zu sein: Jede Wahrnehmung ist die Wahrnehmung eines »Wahr­
genommenen<<, jeder Wunsch ist der Wunsch eines »Gewünschten«
usw. Husserl nennt diese Grundeigenschaft des Bewusstseins Inten­
tionalität.
Aber die Intentionalität - und darauf gilt es Wert zu legen - ist
nicht die Verknüpfung zwischen zwei psychologischen Zuständen,
von denen der eine auf den Akt und der andere auf den Gegenstand
bezogen wäre, und auch nicht die Verknüpfung zwischen dem Be­
wusstsein auf der einen und dem realen Gegenstand auf der anderen
Seite. Die große Originalität Husserls besteht darin, gesehen zu ha­
ben, dass die »Beziehung auf den Gegenstand« nicht etwas ist, das
sich zwischen das Bewusstsein und den Gegenstand schiebt, sondern
dass diese »Beziehung auf den Gegenstand« nichts anderes als das
Bewusstsein selbst ist. Es ist die Beziehung auf den Gegenstand, die
das ursprüngliche Phänomen darstellt, und nicht ein Subjekt und ein
Objekt, die zueinander finden müssten.
Dieser Gedanke lässt - um es gleich zu sagen - bereits den
Grundfehler in der traditionellen Auffassung über die Problematik
der Erkenntnis erahnen. Denn die Tatsache, dass das Subjekt zu sei­
nem Objekt gelangt, kann kein Problem darstellen. Was aber tatsäch­
lich zum Thema der Erkenntnistheorie wird, ist die konkrete Unter­
suchung der verschiedenen Strukturen dieses ursprünglichen
Phänomens der »Beziehung auf den Gegenstand« bzw. der Intentio­
nalität. Und diese Untersuchung stellt in der Tat auch, wie wir später
noch sehen werden, das eigentliche Problem der Phänomenologie
dar.
Aber darum geht es im Augenblick noch gar nicht: Uns interes­
siert zunächst vor allem das Wesen des Bewusstseins, das, im Gegen­
satz zur Welt seiner Gegenstände, über jeden Zweifel erhaben ist.
Wie lässt sich das Bewusstsein von dem Gegenstand, auf den es sich

52
Über die »Ideen« von E.. Husserl

bezieht, unterscheiden? Und was den besonderen Fall der Welt be­
trifft, auf die es sich wie auf einen Gegenstand bezieht und in die es
zugleich mit allen anderen lebendigen Wesen eingebunden ist - ist
das Bewusstsein wirklich von ihr unterschieden?

14. Das Bewusstsein und die Welt der Wahrnehmung

Will man der Philosophie der primären und sekundären Qualitäten


Glauben schenken, so müsste man die sekundären Qualitäten (und
seit Berkeley auch die primären Qualitäten) mit dem Inhalt des Be­
wusstseins identifizieren, das eine Art Behälter darstellt, in der diese
Qualitäten, die gleichzeitig auch der Welt angehören, eingeschlossen
sind. - Eine genaue Analyse zeigt uns jedoch, dass die Qualität, ver­
glichen mit dem Bewusstsein, bereits auf einer anderen Ebene liegt:
Denn eine identische Qualität kann sich tatsächlich innerhalb eines
kontinuierlichen Stroms wechselnder Wahrnehmungen zeigen.
»Dieselbe Farbe«, sagt Husserl, »erscheint >in< kontinuierlichen
Mannigfaltigkeiten von Farbabschattungen.«16 Die Farbe Rot und
die Wahrnehmung von Rot sind zwei verschiedene DingeY Was
zum realen Inhalt des Bewusstseins gehört, sind diese »Abschattun­
gen« oder Empfindungen; sie wiederum werden durch die »Auffas­
sungen beseelt«, und diese Auffassungen sind es, die ihnen eine »dar­
stellende Funktion« verleihen. Diese Empfindungen aber sind
Momente des Lebens und nicht des Raumes; sie sind also keine Qua­
litäten des Gegenstandes, die nur noch nicht vergegenständlicht sind,
wie dies die Sensualisten glaubten. Die Qualität des Gegenstandes
gehört nicht zum Bewusstsein und ist auch nicht in dieses einge­
schlossen; sie ist, bezogen auf das Bewusstsein, bereits transzendent.
Die Natur des Bewusstseins stellt sich folglich ganz anders dar als die
Welt der Wahrnehmung - die Gesamtheit primärer und sekundärer
Qualitäten -, die es zum Gegenstand hat.

" Tdeen, S. 74.


17 Dieser scheinbare Widerspruch zwischen der Mannigfaltigkeit sinnlicher Momente ,

die den Gegenstand vor Augen führt, und der identischen Einheit des Gegenstandes
selbst impliziert also nicht notwendigerweise die These Bergsons, dass der identische
Gegenstand Sache eines irregeleiteten Bewusstseins sei; er lässt sich vielmehr durch
die Unterscheidung zwischen Bewusstseinsakt und Bewusstseinsgegenstand auflösen.

53
Über die »Ideen« von E. Husserl

15. Die immanente und die transzendente Wahrnehmung


Dennoch kann auch das Bewusstsein selbst Empfindungen und In­
-

tentionen Gegenstand der Wahrnehmung, der Erinnerung, der


-

Vorstellung usw. werden. Diese Akte sind folglich Akte der Reflexi­
on. Wenn aber in den Akten der Reflexion der Gegenstand vom Akt
selbst unterschieden werden muss, so ist die Transzendenz des Ge­
genstandes bezogen auf den reflexiven Akt von einer anderen Art als
die Transzendenz des räumlichen Gegenstandes bezogen auf seine
Wahrnehmung. Der Gegenstand der Reflexion (immanente Wahr­
nehmung) kann selbst dem Bewusstseinsstrom angehören, wohin­
gegen dies für den räumlichen Gegenstand wesensmäßig unmöglich
ist. Wir nennen ihn daher einen transzendenten Gegenstand, und die
Wahrnehmung, die ihn erfasst, eine transzendente Wahrne hmung.
Aus diesen eidetischen Gesetzen folgt eine Bemerkun g die äu­ ,

ßerst wichtig ist: Es ist widersinnig, anzunehmen, unsere transzen­


dente Wahrnehmung, eben weil sie transzendent ist, komme an das
Ding an sich nicht he ran, während eine vollkommene Erkenntnis es
mittels eines immanenten Aktes erfassen könnte. Dies ist deshalb
widersinnig, weil es voraussetzen würde, dass ein transzendentes
Ding auf eine immanente Weise gegeben sein könnte. Und noch ein
entscheidender Punkt, den wir bereits angesprochen haben (vgl .
§ 10): Die Welt der Dinge ist n icht in der Art eines Bildes oder Sym­
bols einer anderen Welt gegeben, sondern sie gibt sich immer in der
Art des »an sich«. Es ist sie selbst, so wie sie sich in der Wahrneh­
mung gibt, die Gegenstand unseres Bewusstseins isf.lS

18 Zwar wird oft der physikalische Gegenstand, anhand dessen die Welt der Qualitäten

erklärt wird, als der eigentliche Gegenstand unseres Bewusstseins betrachtet und die
Welt der Qualitäten als Bild oder Symbol dieses wahrhaft realen Gegenstandes, den
nur ein Gott unmittelbar erfassen könnte. Aber dies ist eine falsche Beschreibung unse­
res Bewusstseins, denn das Bewusstsein ist in Wirklichkeit auf die Welt der Qualitäten
ausgerichtet, und darum ist es auch diese, die bestimmt werden muss; diese Welt der
Qualitäten nimmt keineswegs nur die Funktion eines »Bildes« oder »Zeichens« des
Gegenstandes ein, der sie transzendieren wi irde. Der physikalische Gegenstand steUt
also nur, wenn auch wesensmäßig, eine übergeordnete Struktur da1; die in den sinn­
lichen Vorstellungen begründet liegt und die dazu dient, diese zu explizieren; er kann
folglich gar nicht anders als Zt\Sammen mit diesen sinnlichen Qualitäten gegeben sein,
und es wäre daher die reinste Mythologie, ihm ein unabhängiges Sein zu unterstellen. ­
Selbst eine göttliche Physik kann ihn n
i der sinnlichen Wahrnehmung nicht auf unmit­

telbare Weise erfassen, »sowenig göttliche Omnipotenz es machen kann, dass man el­
liptische Funktionen maltoder auf derGeige spielt« (Ideen, S. 102).

54
Über die »Ideen« von E. Husserl

16. Vergleich zwischen immanenter und transzendenter


Wahrnehmung
Es gehört zum Wesen des transzendenten Gegenstandes, dass er sich
in einer inadäquaten Weise gibt: Wir können in einem einzigen Be­
wusstseinsakt nicht alle Seiten eines Tisches zugleich erfassen; es
bedarf vielmehr einer »Kontinuität wechselnder Wahrnehmungen«,
einer Kontinuität, die dem Wesen nach unendlich ist. Der Gegen­
stand ist ferner prinzipiell »einseitig« gegeben: Er gibt sich nur in
bestimmten Erscheinungsweisen, ohne dass man sagen könnte - es
sei denn der bloßen Konvention entsprechend-, was er an sich selbst
ist. Der Ton einer Geige z. B. hängt je von dem Ort ab, an dem ich ihn
im Konzertsaal höre; dennoch können all seine »Erscheinungswei­
sen«, in denen er sich mir enthüllt, mit gleichem Recht als »der Ton
selbst, so wie er wirklich klingt« bezeichnet werden.
Im Gegensatz dazu gibt sich der immanente Gegenstand in einer
adäquaten Weise, d. h. als etwas, das nicht in einer kontinuierlichen
Reihe wechselnder Erscheinungsweisen, sondern als »Absolutes« ge­
geben ist.
Und ferner gibt sich der immanente Gegenstand so, als wäre er
bereits vor der Reflexion da gewesen, als hätte er ein Sein, das unab­
hängig von der Reflexion ist. Der Sinn des Seins des transzendenten
Gegenstandes hingegen besteht in der Tatsache, dass er Gegenstand
eines aktuellen ß.ewusstseins ist oder zu dessen unmittelbarsten
Möglichkeiten gehört. Und wenn wir außerdem von dem Sein trans­
zendenter Gegenstände sprechen, die weder Gegenstände des aktuel­
len Bewusstseins sind noch zu dessen unmittelbarsten Möglichkeiten
gehören, so tun wir dies deshalb, weil ihre Wahrnehmbarkeit als sol­
che in den aktuellen oder potentiellen Wahrnehmungen bereits mo­
tiviert liegt.

17. Absolutes Sein des Bewusstseins, ideales Sein der Welt

Aus den vorausgegangenen Analysen folgt:


1. Für den transzendenten Gegenstand (oder die Welt) erschöpft
sich der Sinn von Sein darin, dass er durch eine aktuelle, potentielle
oder motivierte Wahrnehmung erfahrbar ist. Das Sein des transzen­
denten Gegenstandes ist immer relativ zu einem Bewusstsein (vgl.
oben das Beispiel des »Tons«), sein »esse« ist immer ein »percipi«
(eine Aussage, die nicht im Sinne Berkeleys verstanden werden darf,

55
Über die »Ideen« von E. Husserl

weil das »esse« nicht im »percipi« eingeschlossen ist, sondern dieses


transzendiert) und setzt daher ein Bewusstsein voraus. Das Bewusst­
sein hingegen gibt sich als ein von der Reflexion, in der es wahr­
genommen wird, unabhängig Seiendes, d. h. als etwas, das aus sich
selbst ist: »nulla re indiget ad existendum«. Husserl greift damit auf
das cartesianische cogito zurück, das er als den notwendigen Aus­
gangspunkt jeder Philosophie betrachtet.
2. Das Sein des transzendenten Gegenstandes erschöpft sich
aber nicht nur in seinem Sein für ein Bewusstsein - es ist vielmehr
dieses Sein selbst, das sich als ein kontingentes darstellt. Da ja der
transzendente Gegenstand nie in einer adäquaten Weise gegeben ist,
sondern immer nur bezogen auf eine Reihe von »Erscheinungswei­
sen«, die erst nach und nach enthüllt werden, kann sich sein »Sein für
das Bewusstsein« selbst zu jedem Zeitpunkt noch als trügerisch er­
weisen: Die nachfolgenden Wahrnehmungen können im Prinzip die
vorausgegangenen Wahrnehmungen wieder in Frage stellen. Nur das
Bewusstsein allein ist in einer adäquaten und absoluten Weise gege­
ben, unabhängig von einer Kontinuität wechselnder Erscheinungs­
weisen.
Diese Ergebnisse sind äußerst wichtig für unsere anfängliche
Fragestellung (vgl. § 12). Auch wenn das Sein der Welt stets dem
Zweifel ausgesetzt bleibt so ist doch das Sein des Bewusstseins außer
jedem Zweifel. Das Bewusstsein stellt sich also wie ein Residuum
dar, das sich jeder phänomenologischen bwx� verweigert, und jede
Wahrheit hinsichtlich seiner ist absolut gewiss. Um jedes Missver­
ständnis zu vermeiden, bedarf es aber noch der folgenden Erläute­
rungen.

18. Psychologisches Bewusstsein und absolutes Bewusstsein

Unsere Analysen haben gezeigt, dass das Sein als Bewusstsein einen
ganz anderen Sinn hat als das Sein als Natur; nicht das Bewusstsein
ist von der Natur abhängig, wie der Naturalismus dies gerne hätte,
sondern vielmehr ist umgekehrt das Sein der Natur vom Sein des
Bewusstseins abhängig - ohne dass dieser Abhängigkeit dabei ir­
gendein mythologischer Sinn zukommen würde. Wenn dies aber so
ist, wie haben wir dann das Bewusstsein zu verstehen, das sich doch
sowohl in der belebten Natur wie auch im Menschen in einer Weise
manifestiert, als wäre es selbst ein Teil der Natur?
Die Antwort muss lauten, dass das Bewusstsein - als absolutes

56
Über die »Ideen« von E. Husserl

Sein - sich selbst in einem besonderen Wahrnehmungsakt als ein


solches wahrnehmen kann, das in Beziehung zur Natur steht. Als
Gegenstand dieser Wahrnehmung wird es dennoch - ohne dabei ir­
gendetwas von seinem Wesen einzubüßen - als ein modifiziertes und
an die Natur gebundenes wahrgenommen und partizipiert deshalb
auch an der Transzendenz dieser Natur. Das Bewusstsein, das sich in
der absoluten Evidenz des cogito zeigt, ist nicht dieses Bewusstsein,
wie es in der Natur erscheint, weil die ganze Natur ihrem Wesen
nach dem Zweifel ausgesetzt ist. Dieses Bewusstsein, das Teil der
Natut ist, ist Gegenstand einer Naturwissenschaft, nämlich der Psy­
chologie.
Das Bewusstsein, das die Phänomenologie untersucht, ist also
nicht dasselbe wie das der Psychologie. Es ist das absolute Bewusst­
sein odet das reine transzendentale Bewusstsein. Von daher erklärt
sich auch der Unterschied der beiden Einstellungen. Die Reflexion
auf das Bewusstsein, wie sie in der Phänomenologie vorgenommen
wird, ist keine bloß psychologische Reflexion, denn sie richtet sich
nicht auf die Natur, sondern auf das absolute Bewusstsein, das unab­
hängig ist von der Natur und dem alle Natur gegeben ist.
Die Unterscheidung zwischen dem psychologischen und dem
phänomenologischen Bewusstsein ist für Husserl grundlegend. Sie
erlaubt es, jeden Naturalismus hinter sich zu lassen, denn das Be­
wusstsein, das die Phänomenologie untersucht, ist nicht ein Teil der
Natur. Aber die Originalität dieser Auffassung besteht auch darin,
dass dieses Bewusstsein nicht bloß ein abstraktes Bewusstsein ist -
die Idee eines Bewusstseins-, das dem psychologischen Bewusstsein
gegenübergestellt wird, so wie es in den Wissenschaften üblich ist,
die ihre jeweiligen Bereiche mit Hilfe von Abstraktionen voneinan­
der abgrenzen, und dass es auch kein »absolutes Ich« im Sinne Fich­
tes ist; es ist vielmehr ein individuelles Bewusstsein, das jeder von
uns in sich selbst, i n seinem cogito wiederfindet und dem das psycho­
logische Bewusstsein selbst sein Sein verdankt. Nach Husserl bestand
der große Irrtum Descartes' darin, dass er von Anfang an in seinen
Meditationen19 - einem Werk, das nach Auffassung Husserls das
Zeitalter der modernen Philosophie einleitet und von der Phänome­
nologie nur zu seiner vollen Entfaltung gebracht wird - das »Ich«,

19 Sum igitur [ . .. ] res cogitans id est mens, sive animus, sive inte!lectus, sive ratio [...];
R . Descartes, Zweite Meditation.

57
Über die »Ideen« von E. Husserl

das in der inneren Ans chau un g mit Gewissheit gegeben ist, mit dem
»animus«, der ein Teil der Natur ist, identifiziert ha tte.

19. Die sukzessiven Reduktionen

Wenn wir nun das reine absolute Bewusstsein, den eigen tli chen Ge­
genstand der Phänomenologie, erforschen wollen, dann enthalten
wir uns dabei natürlich aller Aussagen, die die Natur zum Gegen­
stand haben (Natu rwissenschaften), und wir machen auch weder
von der Logik noch von der formalen Ontologie Gebrauch, denn un­
sere neue Wissenschaft wird, obgleich sie eine Wesenswissenschaft
ist, rein deskriptiv v erfah ren und daher auch keine Deduktionen
durchführen. Was die logisch en Axiome betrifft, auf denen jedes Ob­
jekt als Objekt beruht (z. B. dem Satz vom Widerspruch), so werden
uns diese bei jedem Gegenstand unserer Untersuchung in unmittel­
barer Anschau ung zugänglich sein. Ferner werden wir uns jeder Aus­
sage über Gott - als Prinzip der Finalität und Gegenstand religiöse r
Erfahrung- enthalten und auch die Frage nach dem »reinen Ich«, das
als notwendiges Moment zu jedem Bewusst sein s akt gehört, beiseite
lassen. Und schließlich werden wir auch die »regionalen Ontologien«
übergehen, da uns deren wirklicher Sinn vor der Unter suchung des
reinen Be·wusstseins - des eigentlichen Gegenstandes der Phänome­
nologie - gar nicht deutlich werden kann.

20. Phänomenologie - Erste Philosophie

Die Phänomenologie stellt sich nach all diesen Überlegungen als eine
Wissenschaft dar, die von jeder äußeren Prämisse una bhängig ist, als
eine auf absoluter Gewissheit gründende Wissenschaft, die die
Grundlage und die Basis der Kritik aller übrigen Wissenschaften lie­
fern wird. Die Wissenschaften, die der natürlichen Einstellung ver­
haftet und ausschließlich auf ihre eigenen Gegenstände gerichtet
sind, können sich niemals die kritische Frage nach dem Sinn des Be­
wusstseins oder nach der Struktur der Intentionalität stellen und
folglich auch nicht nach dem Sinn der Gegenständlichkeit ihres je­
weiligen Gegenstands bereichs. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit von
jeder anderen Wiss enschaft einerseits sowie durch den prinzip iellen
Charakter ihrer Problemstellungen andererseits ist es also die Phä­
nomenologie, i n der sich, so die Auffassung Husserls, das Ideal der
prima philosophia ganz und gar erfüllen wird.

58
Über die »Ideen« von E. Husserl

Abschnitt 111: Methode und Probleme der


reinen Phänomenologie

21. Die Phänomenologie -


Die Wissenschaft der inneren Anschauung

Das Verfahren der Phänomenologie beruht auf Anschauungen. Doch


die Anschauung kennt unterschiedliche Klarheitsstufen - ihr Gegen­
stand kann in seiner Gegebenheit entweder »fern« oder »nah« er­
scheinen. Um die Gegenstände, die uns im reinen Bewusstsein gege­
ben sind, in eindeutiger Begrifflichkeit zu erfassen, bringen \o\ri.r sie
mittels der Anschauung zu einer vollkommenen Klarheit, in der uns
der Gegenstand in »absoluter Nähe« gegeben ist.
Aber die Phänomenologie ist keine Wissenschaft der Tatsachen
des reinen Bewusstseins. Sie will deren Wesen erforschen. Die An­
schauung, der sie sich dabei bedient, ist daher auch keine individuelle,
sondern eine eidetische (vgl. §3): Sie geht aus von individuellen »Er­
lebnissen« und erfasst in ihnen, b eispielhaft sozusagen, deren Wesen.
Die Erlebnisse, die als Beispiele dienen, müssen nicht unbedingt in
einer (originären) wahrnehmungsmäßigen Intuition gegeben sein.
Die »phantasiemäßig« gegebenen Erlebnisse können genauso gut
wie die »wahrnehmungsmäßig« gegebenen Erlebnisse als Grundlage
der Ideation dienen. Dieser Aspekt ist von großer methodologischer
Bedeutung. Denn der Phänomenologe gewinnt damit eine größere
Freiheit und ist in seinen Untersuchungen nicht nur an die Wahr­
nehmung gebunden. Ferner zeigt sich darin noch einmal, dass die
eideti schen Wissenschaften nicht die individuelle Wahrnehmung
zur Voraussetzung haben. Husserl kann deshalb auch in paradoxer
Weis e sagen, »dass die >Fiktion< das Lebenselement der Phänomeno­
logie, wie aller eidetischen Wissenschaft, ausmacht«. 20

22. Die Möglichkeit einer deskriptiven Eidetik


Die Phänomenologie ist eine deskriptive eidetische Wissenschaft. In
den uns gegenwärtig bekannten eidetischen Disziplinen - Geometrie,
Logik- geht es dagegen nicht um Deskription. Diese Wissenschaften,
wie z. B. die Geometrie, legen sich auf einige elementare Wesenhei-

2o ldeen, S. 132.

59
Über die »Ideen« von E. Husserl

ten fest, die Eingang finden in ihre Grundaxiome, und aus diesen
Wesenheiten werden dann all jene abgeleitet, die demselben Gegen­
standshereich angehören. Diejenigen Bereiche, die sich, wie etwa der
Raum, von ihrer Definition her und aufgrund einer bestimmten,
endlichen Anzahl von Axiomen für eine ähnliche Bestimmung an­
bieten, werden von Husserl unter den Begriff der definiten oder ma­
thematischen Mannigfaltigkeit gefasst. Die Eigentümlichkeit einer
mathematischen Mannigfaltigkeit besteht nun darin, dass aus ihr
exakte Begriffe gebildet werden können. Die exakten Begriffe inner­
halb einer Wissenschaft hängen nicht nur von den Fähigkeiten des
Gelehrten auf dem Gebiet der Logik ab, sondern auch vom Wesen des
jeweiligen Forschungsgebietes selbst. Diese Begriffe sind in einer
»definiten Mannigfaltigkeit« möglich und werden durch das Verfah­
ren der ldealisation herausgebildet, die von dem Verfahren der Idea­
tion, von dem zu Beginn dieser Abhandlung die Rede war, unter­
schieden werden muss. Idealisieren besteht nicht einfach darin, das
Wesen einer indivi duellen Sache zu erfassen, wie es konkret in einer
Wahrnehmung gegeben ist, sondern heißt weit mehr: Es bedeutet,
den Grenz-Wert ihres Wesens zu erfassen - so wie man im konkreten
Raum die geometrischen Ideen erfasst. Ein in diesem Sinne heraus­
gearbeiteter Begriff ist eine »Idee im kantischen Sinne« und muss
daher unterschieden werden von dem Wesen, so wie wir es bislang
verstanden haben, nämlich als eine »Idee im platonischen Sinne«.
Die individuellen Dinge können sich zwar dieser Idee im kantischen
Sinne annähern, können sie jedoch niemals als solche realisieren.
Die eidetischen Wissenschaften, die der traditionellen Philoso­
phie bislang bekannt waren, hatten die »mathematische Mannigfal­
tigkeit« zum Gegenstand und hatten es mit exakten Begriffen zu tun,
die Ergebnis einer Idealisation waren. Dies ist auch der Grund, wa­
rum die traditionelle Philosophie die apriorische Wissenschaft mit
der deduktiven Wissenschaft gleichsetzte. Nun haben jedoch die
Analysen aus unserem ersten Abschnitt gezeigt, was es heißt, eine
apriori sche Wissenschaft zu sein, nämlich eine Wissenschaft, die un­
abhängig ist von jeder Faktizität und mittels eidetischer Intuition
voranschreitet. Die Deduktion ist von daher also kein notwendg i er
Bestandteil einer apriorischen Wissenschaft, und die »exakten Be­
griffe« sind nicht die einzigen wissenschaftlichen Begriffe.
Die große Entdeckung Busserls bestand darin, auf die Existenz
von inexakten »Begriffen« hingewiesen zu haben, zu denen man
nicht auf dem Wege der Idealisation gelangt, sondern auf dem der

60
Über die »Ideen« von E. Husserl

ldeation.21 Um zum Beispiel das Wesen eines »Erlebnisses« zu erfor­


schen, geht die Ideation vom individuellen »Erlebnis« aus und hebt
es, indem es dessen Individualität abstreift, in sein Wesen hinein, in
seiner ganzen Konkretheit und in seiner ganzen Vagheit, die ihm
eigentümlich ist. Die Phänomenologie kann nicht darin bestehen,
das Wesen dieses oder jenes Erlebnisses aus irgendeinem Axiom zu
deduzieren, sondern nur darin, die notwendige Struktur dieses We­
sens zu beschreiben. Und weil diese Beschreibung durch eine eideti­
sche Intuition geleitet ist, setzen wir, sobald wir eine Beschreibung
durchführen, auch schon eine Eidetik ins Werk.

23. Die Reflexion


Um sicherzugehen, dass die Phänomenologie tatsächlich keinen
Zweifel mehr zulässt, bedarf es einiger Bemerkungen über jenen
Akt, durch den das reine Bewusstsein untersucht wird: die Reflexion
(im Sinne von § 18).
Die »Erlebnisse« werden zwar vom »Ich« erlebt, können aber
nur durch die Reflexion zu dessen Objekt werden.
Durch den reflektierenden Blick jedoch erfährt das Bewusst­
seinsleben eine Modifikation: Unsere in der Reflexion erblickte Wut
weist nicht mehr dieselbe Lebhaftigkeit auf, die sie noch vor der Re­
flexion hatte. Und weil das Bewusstseinsleben einem kontinuierli­
chen Fluss in der Zeit gleicht, kann es in der Reflexion nur durch
Akte der Protention die vorblickende Erwartung kommender Mo­
-

mente innerhalb der Zeitdauer - sowie durch Akte der Retention -


die gewissermaßen jene Momente zurückhalten, die gerade verflos­
sen sind - erfasst werden. Sowohl die einen wie die anderen präsen­
tieren sich dem Bewusstsein jedoch als bereits modifizierte: in Ge­
stalt des »Vergangenen« und »Zukünftigen«.
Diese Modifikationen, die allein schon ein weites Forschungs-

21 Mit der Entdeckung eines inexakten Wesens, das im Gegensatz zum exakten Wesen
der mathematischen Wissenschaften steht, gelingt es uns, über die Alterna tive hinaus­
zugehen, vor die uns Bergson gestellt hat: Entweder muss das Bewusstsein, gleich dem
Raum, durch den Verstand in streng definierten Begriffen erfasst werden, oder es lässt
sich überhaupt nicht durch den Verstand erforschen. MitHusserl eröffnet sich nun eine
dritte Möglichkeit. Der menschliche Geist arbeitet nicht nur mit Hilfe geometrischer
Begriffe - es können in ihm auch Wesenheiten auftreten, die nicht einfach nur durch
Starrheit und Tod gekennzeichnet sind. Deresprit de finesse und der esprit de geomitrie
sind nicht die einzig möglichen: Die Erkenntnis kennt auch noch andere Wege.

61
Über die »Ideen« von E. Husserl

feld darstellen, verhindern aber nicht, dass sich das durch die Refle­
xion modifizierte Erlebnis tatsächlich auch als es selbst gib t; und des­
halb erfasst die Reflexion das Bewusstsein auch tatsächlich in seiner
nicht modifizierten Form, und zwar durch die Modifikationen hin­
durch.
Diese Möglichkeit, das Erlebnis so zu erfassen, wie es vor der
Reflexion und u nab hängi g von den zeitlichen Modifikationen in
Wirklichkeit war - eine Möglichkeit, die unabdingbar zu dem An­
spruch der Phänomenologie gehört, das Bewusstsein so in den Blick
zu bekommen, wie es wirklich existiert-, kann nicht bestritten wer­
den. Dies wäre in der Tat auch absurd, würde damit doch zugleich das
wieder vorausgesetzt, was man bestreitet. Die Reflexion zu bezwei­
feln bedeutet ja vorauszusetzen, dass uns zumindest dieser Zweifel
selbst noch durch die Refl exion gegeben ist. Und wenn wir ferner
sagen, dass die Erlebnisse durch die Reflexion modifiziert werden,
so muss man die nicht modifizierten Erlebnisse als bekannt voraus­
setzen, denn sonst könnte die Modifikation, und üb rigens auch die
Möglichkeit der Reflexion selbst, doch überhaupt gar nicht in Frage
gestellt werden.
Die Möglichkeit eines jeden Erlebnisses, so, wie es ist, der Re­
flexion zugän glich zu sein, stellt eine Wesensnotwendigkeit dar. Die
Reflexion bietet das einzige Mittel dafür; um zu Erkenntnissen über
das Bewusstsein zu gelangen, und es wäre absurd, die Modifikatio­
nen, die sie ihrem Gegenstand aufzwingt, und zwar wesensmäßig, als
Mangel einer vorgegebenen psychologischen Veranlagung zu be­
trach ten.

24. Die subjektiv-orientierte Seite der Phänomenologie

Die bisher entwickelten Darlegungen hatten das Ziel, die Phänome­


nologie als eine deskriptive eidetische Wissenschaft des reinen Be­
wusstseins auszuweisen, deren Methode in der Reflexion besteht.
Das reine Bewusstsein kann dennoch auf unterschiedliche Weise
betrachtet werden. Unser anfängliches Haup tanliegen bestand darin,
es als Beziehung zum Objekt, d. h. in seiner Eigenschaft als Inten­
tionalität zu untersuchen. Und dies ist auch das Thema der niemals
zu einem Abschluss kommenden Forschungen über die objektiv-ori­
entierte Seite der Phänomenologie, auf die sich das eigentliche Inte­
resse des ersten Bandes der Ideen konzentriert.
Gleichwohl aber präsentiert sich das Bewusstsein noch unter

62
Über die »Ideen« von E. Husserl

einem anderen Aspekt, insofern es immer auch zu einem »lch« ge­


hört, aus dem die Bewusstseinsakte sozusagen hervorgehen, insofern
es jeweils eine bestimmte Zeitdauer in Anspruch nimmt, insofern
sich in ihm Elemente wie etwa Empfindungen finden, also Elemente,
die in irgendeiner Weise materieller Art oder, wie Busserl sich aus­
drückt, »hyletisch« sind. Diese »hyletische Schicht« ist nicht allein
typisch für die Wahrnehmung, sondern sie findet sich in allen Berei­
chen des Bewusstseinslebens. All das ist Gegenstand ausgiebiger For­
schungen auf der subjektiv-orientierten Seite der Phänomenologie.
Die Beziehung des »lch« auf das Bewusstsein, das die Zeit ausfüllt,
vor allem das Problem des Ich als Person, die Konstitution der Zeit­
dauer, die sich von der kosmjschen Zeit unterscheidet und deren Mo­
mente sich in einer Beziehung der Intentionalität sui generis22 wech­
selseitig durchdri ngen - all diese Fragen und Forschungsaufgaben,
die bereits in den »Ideen« angezeigt werden, sind Gegenstand wei­
terer Werke Husserls geworden, die zwar bislang noch nicht ver­
öffentlicht sind, aber, da sie seinen Mitarbeitern und Schi.Uern in Ma­
nuskripten zugänglich waren, bereits allergrößten Einfluss ausgeübt
haben.23

25. Die objektiv-orientierte Seite der Phänomenologie

Unser vorrangiges Interesse richtet sich aber auf das Bewusstsein,


insofern es »Beziehung zu einem Objekt« oder Intentionalität ist.
Wir hatten bereits hervorgehoben (vgl. § 13), dass die Intentionalität
nicht als eine Brücke zwischen dem Bewusstsein und dem Objekt
verstanden werden darf, sondern dass es vielmehr diese Beziehung
zum Objekt selbst ist, die das ursprüngliche Phänomen darstellt.
Aber die Intention, die Beziehung des Bewusstseins zum Objekt, ist
kein leerer Blick auf das Objekt, der nur die Funktion hätte, es zur
Gegebenheit zu bringen, und dem sich dann nachträglich rein quali­
tative und subjektive Momente der Freude, des Wünschens, des Ur­
teilens usw. anfügen würden. Um zu erforschen, wie das Objekt dem

22 In diesen Thesen trifft sich Husserl oft mit Bergson, den er aber zu dem Zeitpunkt,

als dieser sein eigenes Denken entwickelte, nicht kanme. Vgl. das soeben erschienene
Werk Husserls: •Edmund Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeit­
bewusstseins«, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. IX,
I lalle 1928.
23 Vgl. M. Heidegger, Sei11 u11d Zeit, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologi­

sche Forschung, Bd. Vlll, Halle 1926, Anm. S. 38 und S. 47.

63
Über die »Ideen« von E. Husserl

Bewusstsein gegeben ist, genügt es folglich nicht, nur diesen »leeren


Blick«, diese intentio, die allem Bewusstsein gemeinsam ist, zu ana­
lysieren. Die Freude, der Wunsch, das Urteil usw. sind selbst auch
Intentionen: In jeder von ihnen ist das Objekt in unterschiedlicher
Weise gegeben, und auch der Bezug zum Objekt selbst ist unter­
schiedlich. Und wenn, wie Husserl glaubt, der reine Vorstellungsakt
dje notwendige Grundlage für Akte der Freude, des Wertens, des
Wollens usw. ist, dann heißt dies, dass diese Akte komplex und aus
einer Vielzahl müeinander verbundener Intentionen zusammenge­
setzt sind. Aber jede dieser Intentionen, und nicht nur der Vorstel­
lungsakt selbst, hat die Funktion, das Objekt zur Gegebenheit kom­
men zu lassen. Und dies ist genau der Grund dafür, warum das
Problem des Bewusstseins - die Untersuchung des Bezugs auf das
Objekt - auf ein unendliches Forschungsfeld verweist. Wenn wir
uns also nicht mit dem allgemeinen Hinweis auf den Sinn von Inten­
tionalität begnügen wollen, müssen wir für jede Art von Intention
den besonderen Modus, in dem das Bewusstsein über sein Objekt
verfügt, und - als Konsequenz daraus - den Sinn der Objektivität
des Objekts in jeder einzelnen von ihnen untersuchen. Darüber hi­
naus ist jede Kategorie von Objekten in einem bestimmten Typ von
Akten gegeben, in einer Komplexität von Intentionen, die eine not­
wendige Struktur aufweist; für jede Kategorie transzendenter Objek­
te stellt sich daher die Frage nach ihrer Konstitution für das reine
transzendentale Bewusstsein.
Diese die Konstitution betreffenden Fragen erfordern eine Un­
tersuchung dessen, wie die sinnlichen (hyletischen) Gegebenheiten
durch die Intentionen beeinflusst werden, wie sich diese Intentionen
miteinander verbinden und dem Bewusstsein ein Objekt - das eines
ist und identisch ist - vorstellen, wie die Bewusstseinsakte zu charak­
terisieren sind und wie sie sich miteinander verbinden, wenn das
durch sie konstituierte Objekt sich als ein daseiendes, als ein zu Recht
erkanntes gibt, und welches schließlich die Bewusstseinsakte sind,
die es als bloßen Schein hervorbringen . Die objektiv-orientierte Seite
der Phänomenologie wird es folglich mit Fragen der Konstitution zu
tun haben, also mit Fragen nach dem Sinn von »Zu Recht«, von
»Schein« und »Sein« für jeden Gegenstandsbereich und für jede sich
in der natürlichen Einstellung bewegende Wissenschaft. Sie wird also
das in Angriff nehmen, was sich am Beginn unserer Arbeit (vgl. § 10)
als Aufgabe der Philosophie dargestellt hat.
Aber diese Wissenschaft wird beides sein: eine Untersuchung

64
Über die »Ideen« von E. Husserl

und eine Kritik des notwendigen Wesens der unterschiedlichen


Strukturen des Bewusstseins, wird sie doch, wie eben gesagt, den
Sinn und die eidetischen Gesetze jeder Art von Bewusstsein (vgl.
den vorangegangenen Abschnitt) erforschen, die beide zugleich die
Normen für jedes auf Wahrheit zielende Bewusstsein darstellen.
Die Theorie und die Kritik des Bewusstseins im husserlschen
Sinne des Begriffs stehen, wie schon die ganze philosophische Tradi­
tion, vor der Frage: »Wie gelangt das Denken zu dem Objekt, das ihm
transzendent ist?« Aber das eigentliche Problem besteht für das Den­
ken nicht darin, dass es sich transzendiert - denn Denken und sich
transzendierendes Denken sind synonyme Begriffe-, sondern viel­
mehr in der Aufhellung der notwendigen Struktur jeden Denkaktes,
der sich transzendiert und zu seinem Objekt gelangt. Das Sein und
die Transzendenz des Objektes dürfen nicht in metaphysischer Weise
vorausgesetzt werden - wie in der traditionellen Herangehensweise
an das Problem-, sondern der Sinn dieses Seins und dieser Trans­
zendenz selbst muss nun, und zwar noch vor aller Metaphysik, zum
eigentlichen Gegenstand der Untersuchung werden.
Die Unendlichkeit der Probleme, die dabei aufgeworfen werden,
verlangt eine Reihe sehr konkreter Anstrengungen, eine Arbeit, die
Generationen in Anspruch nehmen wird.

26. Noema und Noesis

Alles, was wir über den intentionalen Charakter des Bewusstseins -


Bewusstsein verstanden als »die Beziehung zum Objekt<< - gesagt
haben, gibt eine Antwort auf die Frage, die sich der Leser zu Beginn
des zweiten Abschnitts möglicherweise gestellt hat: Wie will man die
Beziehung zum transzendenten Objekt und folglich den Sinn seiner
Objektivität überhaupt untersuchen, wenn das transzendente Objekt
doch aufgrund der phänomenologischen Reduktion ausgeschlossen
und nur das Bewusstsein allein als Residuum übrig bleibt? Wir ver­
stehen jetzt, dass diese Schwierigkeit überhaupt nur innerhalb der
traditionellen Auffa ssung über das Bewusstsein auftritt, in der dieses
als eine Art in sich ruhende Substanz begriffen wird. Die Originalität
Husserls lag darin, zu sehen, dass das ursprüngliche Phänomen, das
sich der unmittelbaren Reflexion auf das Bewusstsein darbietet, kein
»Ich denke« (ego cogito) ist, sondern ein »Ich denke ein Objekt« (ego
cogito cogitatum); g]eichwohl aber stellt sich das Objekt jeder cogita­
tio als eine ihr notwendige Wesenseigenschaft dar - ohne von vorn-

65
Über die »Ideen« von E. Husserl

herein in ihr eingeschlossen zu sein - und ist als solche notwendiger­


weise auch in der Reflexion auf das Bewusstsein gegeben - und zwar
im Modus des für das Bewusstsein Gegebenen.
Das Neue an dieser Sichtweise besteht darin, dass die Idee der
immanenten Intuition, deren zweifelsfreien Charakter Descartes
aufgedeckt hatte, um die Idee des intentionalen Charakters des Be­
wusstseins bereichert wird, d. h. um die »Beziehung auf das Objekt«
als dessen eigentliches Wesen; und auf diese Weise ist die »Bezie­
hung auf das Objekt«, die Intentionalität, in der ganzen Fülle ihrer
Modifikationen und Formen der immanenten Intuition zugänglich
geworden. Und genau das ist die Phänomenologie - die auf der inne­
ren Anschauung basierende Erforschung der Intentionalität.
Wenn wir es uns also als Phänomenologen verbieten, die Wahr­
nehmung z. B. eines Gartens wirklich zu erleben - indem wir ihn
etwa betreten - und über diesen Garten Aussagen zu machen, dann
deshalb, weil wir uns mu zu der Wahrnehmung des Gartens als sol­
cher in ihrem Bezug zu dem wahrgenommenen Garten äußern. Der
Garten, der im Übergang zur phänomenologischen Einstellung aus­
geschlossen worden war; taucht in dieser als »wahrgenommener«
wieder auf- allgemeiner gesagt, in seiner Eigenschaft als das, was er
für das Bewusstsein war (und das genau interessiert uns an ihm) -,
und seine besondere Art und Weise, ein Objekt zu sein, wird zum
Thema der Untersuchung. Das »Wahrgenommene als solches«, das
»Geurteilte als solches« usw. ist also untrennbar mit dem Bewusst­
seinsakt verbunden; Busserl bezeichnet es als Noema. Das Noema
steht dem Bewusstseinsakt als solchem, der Noesis, gegenüber.
Die Welt, die Gegenstände der natürlichen Wissenschaften und
der Ontologien, die durch die »Reduktion« ausgeschlossen wurden,
finden sich - »eingeklammert«, wie Busserl sich ausdrückt - in der
immanenten Sphäre des Bewusstseins wieder; wo sie als Noemata
erforscht werden. Bezogen auf das Bewusstsein des Gartens, finden
wird dort »den Garten« in Klammern wieder, als Noema. Dies aber
bedeutet: Die Erforschung des Bewusstseins erlaubt uns, die Seinsart
jeder Kategorie von Objekten im Bewusstsein zu begreifen und, als
Folge daraus, den Sinn des Seins der Dinge zu ergründen.24

24 Intentionalität ist ein scholastischer Begriff. Die Scholastiker wussten, dass ein
»mentales« Objekt notwendigerweise zum Bewusstsein gehört, auch wenn das wirk­
liche Objekt zerstört ist. - Aber eine solche Auffassung erlaubt es, eben weil sie das
mentale Objekt vom wirklichen Objekt trennt, gerade nicht, die Untersuchung der Be-

66
Über die »Ideen« von E. Husserl

Die Probleme der Konstitution verschiedener Gegenstands­


regionen für das reine Bewusstsein lassen sich folglich auf eine de­
skriptive eidetische Untersuchung der noetisch-noematischen Struk­
turen des Bewusstseins zurückführen.
Diese Struktur findet sich in allen Bewusstseinsakten: in der
Wahrnehmung, der Erinnerung, der Einbildung, im Wunsch, im
Willen usw. In allen ist die Noesis zusammen mit ihrem intentiona­
len Korrelat, dem Noema, gegeben: die Noesis des Wunsches mit
dem Noema »das Gewünschte als solches«, die Noesis des Wollens
mit dem Noema »das Gewollte als solches« usw. Eine Untersuchung
der Natur des Bewusstseins zeigt uns einen strengen Parallelismus
zwischen Noema und Noesis, und zwar in allen Bereichen des Be­
wusstseins. Dies erlaubt uns allerdings nicht, die Noemata für sich
zu untersuchen, um dann die ihnen entsprechende Noesis zu postu­
lieren - oder umgekehrt. Unsere Untersuchung muss auf der inneren
Anschauung basieren und darf nichts postuheren.

27. Das Urteil


Der begrenzte Umfang unseres Beitrags zwingt uns, die konkreten
noetisch-noematischen Analyseskizzen beiseite zu lassen, die am En­
de des dritten Abschnitts der Ideen dargelegt werden. Husserl unter­
sucht dort die grundlegende Struktur des Noemas und der Noesis, die
verschiedenen Modifikationen der Aufmerksamkeit, die Struktur
komplexer Bewusstseinsakte wie Wille und Urteil, die Art und Wei­
se, wie alle Objekte des Bewusstseins - ästhetische, moralische, ge­
wünschte, gewollte Objekte usw. - zugleich rein vorstellungsmäßig
gegeben und damit Auslöser für ein theoretisches Urteil sein kön­
nen.
Einige Bemerkungen zur noetisch-noematischen Struktur die­
ses Letzteren sind dennoch vonnöten, um den Begriff der Wahrheit,

ziehung des Bewusstseins zum wirklichen Obj ekt in eine Untersuchung der noetisch­
noematischen Strukturen zu überführen. Husserls Entdeckung bestand darin, dass es
gerade das so genannte wirkliche Objekt selbst ist, das sich in der Reflexion als mentales
Objekt gibt. Denn nichts rechtfertigt die Auffassung, die das mentale Objekt dem wirk­
lichen Objekt entgegensetzt. Wir sind in der natürlichen Einstellung auf das wirkliche
Objekt selbst gerichtet, und es gibt keine Dublette, anhand derer wir es erkennen könn­
ten.
Übrigens hätte diese Dublette, wenn sie denn existierte, wieder mit Hilfe einer anderen
Dublette erkannt werden müssen, und so weiter ad infinitum- was absurd ist.

67
Über die »Ideen« von E. Husserl

so wie wir ihn im vierten Paragraphen dieses Beitrags dargestellt


hatten, noch weiter zu klären.
Das Urteil »Der Baum ist grün« als Noesis, als Akt des Bewusst­
seins, hat ein intentionales Korrelat - das Urteil als Noema. Aber das,
was sich in diesem Noema als Objekt des Urteilsaktes (Noesis) dar­
bietet, ist nicht ein S (ein Baum) und auch nicht ein P {das Grün) - die
beide auch in einfachen Wahrnehmungen gegeben sein könnten -,
sondern »das P-sein des S«, das Husserl den Sachverhalt nennt. Es
gilt dies zu unterstreichen, denn die Tatsache, dass der Urteilsakt
einen »Sachverhalt« - ein Ausdruck, der nicht mit den Objekten,
die sich in diesem »Sachverhalt« finden lassen, zusammenfällt -
zum Objekt hat, bedeutet, dass die eigentliche Funktion des Urteils­
aktes nicht in einer Art spontaner Verknüpfung von ursprünglich
nicht zusammengehörenden Gegebenheiten liegt (wie man dies für
gewöhnlich glaubt) , sondern der Urteilsakt vielmehr darin besteht,
die prädikative Synthese zu vermeinen, die zur objektiven Synthese
dieses Aktes gehört, d. h. zum Urteil als Sachverhalt.
Wenn dies aber so ist, dann liegt die Wahrheit nicht darin, mit
irgendwelchen Gesetzen der Verkn üpfung, die in ihrer Gesamtheit
die Vernunft definieren, übereinzustimmen, sondern vielmehr in
der Intuition des »Sachverhalts «, dessen kategoriale Elemente ge­
nauso intuitiv gegeben sein können wie die sinnlichen Elemente {vgl.
§ 4). Die Deduktion selbst ist nichts anderes als nur ein Weg, einen
Sachverhalt zur intuitiven Klarheit zurückzubringen (vgl. § 4).

28. Fragen nach Vernunft und Wirklichkeit

Wir h aben soeben die Frage nach der Wahrheit berührt. Damit sind
wir aber bereits beim vierten Abschnitt angelangt. Die noetisch-no­
ematischen Analyse n, deren Gegenstandsbereich wir zu Beginn des
Paragraphen 27 aufgezählt haben und deren Durchführung durch
Husserl nur einen ersten Entwurf für anstehende Arbeiten markiert,
werfen noch nicht die Frage nach der Wahrheit auf, sondern unter­
suchen viel allgemeiner die Frage nach der Beziehung zum Objekt.
Nun heißt dabei sich auf das Objekt zu beziehen nicht schon, die
Wahrheit zu kennen, und »Objekt sein« heißt noch nicht sein. Nur
die wahre Erkenntnis allein hat das Sein zum Obj ekt. Wie also ge­
langt das Bewusstsein in Wahrheit zum Sein - was bedeutet »sein<<?
Das genau ist die eigentliche Frage der Phänomenologie, der gegen­
über alle anderen Fragen nur vorbereitenden Charakter haben.

68
Über die »Ideen« von E. Husserl

Aber damit keine Missverständnisse entstehen: Wenn wir hier


die reine und einfache Beziehung zum Objekt von der Wahrheit oder
der »Beziehung zu einem existierenden Objekt« unterscheiden, dann
wollen wir damit nicht sagen, dass die Beziehung zu einem existie­
renden Objekt etwas sei, das die Intentionalität selbst transzendiert.
Wir wollen nicht zu der scholastischen Unterscheidung zwischen
einem immanenten Objekt und einem wirklichen Objekt zurückkeh­
ren und so tun, als sei das Bewusstsein - das ja die »Beziehung zum
Objekt« selbst ist - eine geschlossene Welt, die noch einmal eine
andere Intentionalität nötig hätte, um zum wirklichen Objekt zu ge­
langen. Die ganze Originalität der Phänomenologie besteht genau
darin, diese Unterscheidung überwunden zu haben. Die Tatsache,
dass die Beziehung zum Objekt eine Beziehung zum existierenden
Objekt ist, kann nur ein immanentes Merkmal der Intentionalität
selbst sein. Was aber bedeutet dann die Beziehung zum existierenden
Objekt? Genau dies herauszuarbeiten ist Aufgabe der phänomenolo­
gischen Analyse, wenn sie z. B. die Art und Weise untersucht, in der
das Objekt als ein in der Wahrnehmung existierendes gegeben ist.
Die Frage nach Vernunft und Wirklichkeit stellt sich also auf
neue Weise: Es geht nicht darum, sich zu fragen, wie das Bewusstsein
zum Sein gelangen kann, das ihm gegenüber transzendent ist - denn
eine Intentionalität, die auf dieses Sein trifft, wie z. 8. in der Wahr­
nehmung, ist das ursprüngliche Phänomen, das der Anschauung in
unbezweifelbarer Weise gegeben ist-, es geht einfach nur darum, zu
erklären, was das Bewusstsein denkt, wenn es ein wirkliches Objekt
denkt, und wie die lntentionalität, die auf das Sein trifft, zu charak­
terisieren ist. Wie lässt sich das Wahrsein beschreiben, was bedeutet
es? Was bedeutet es in Entsprechung dazu, dass das Objekt ist? Und
noch genauer: Was bedeuten Bewusstsein und Sein bezogen auf je­
den einzelnen Gegenstandsbereich? Dies sind die Fragen, die sich der
Phänomenologie der Vernunft stellen und die mit Hilfe der Anschau­
ung gelöst werden können.

Abschnitt IV: Die Vernunft und die Wirklichkeit

29. Der Anspruch des Bewusstseins, seinen Gegenstand zu


erreichen

Um eine Phänomenologie der Vernunft zu skizzieren und vor allem

69
Über die »Ideen« von E. Husserl

in groben Zügen diej enigen Probleme aufzuzeigen, die sich dabei


stellen und mit Hilfe der phänomenologischen Methode lösen lassen,
muss man sich zunächst fragen, worin genau dieser Anspruch be­
steht- und zwar noch bevor gezeigt werden soll, wie dieser Bewusst­
seinsakt zu charakterisieren ist, wenn sein Anspruch, vernünftig zu
sein, d. h. seinen Gegenstand auch tatsächlich zu erfassen, gerechtfer­
tigt ist.
Das »Noema des Bewusstseins« und der »Gegenstand des Be­
wusstseins« sind nicht ein und dasselbe. Verschiedene Bewusstseins­
akte haben verschiedene Noemata, können aber auf denselben Ge­
genstand gerichtet sein. Derselbe Gegenstand »Baum« kann in einer
Wahrnehmung, in einer Erinnerung, in einer Einbildung usw. gege­
ben sein. Wir müssen also in einem Noema zwischen verschiedenen
Schichten und einem Kern unterscheiden, der unterschiedlichen
Noemata gemeinsam sein kann. Die Ausdrücke, die zur Beschrei­
bung dieses Kerns verwendet werden, sind dabei der Sprache derje­
nigen Wissenschaften entlehnt, die auf der natürlichen Einstellung
basieren: »Gegenstand«, »Sachverhalt«, »Figur«, »hart«, »farbig«,
»gut«, »vollkommen« usw. Merkmalsbestimmungen wie »klar­
anschaulich gegeben«, »erinnerungsmäßig gegeben« usw. gilt es zu
vermeiden, obgleich sie ebenfalls zum Noema gehören und keines­
wegs nur Resultate der Reflexion sind. Sie kommen zmn Kern hinzu
und beschreiben gerade die Weise, wie er gegeben ist; zusammen mit
dem Kern bilden sie das, was Busserl das volle Noema nennt. Das
volle Noema in der Wahrnehmung eines Baumes ist also »der wahr­
genommene Baum mit all den Charakteren, die ihm als wahrgenom­
menem zugehören«; sein »Kern« ist der Baum selbst, der »Gegen­
stand schlechtihin«, den man auch in der Erinnerung desselben
Baumes wiederfinden kann.
Aber die Prädikate, die in ihrer Gesamtheit den noemarischen
Kern bilden, sind notwendigerweise Prädikate von etwas. Folglich
lässt sich im Noema ein noch tiefer liegendes Moment bestimmen,
eine Art X, das Träger der Prädikate ist und das Busserl später, um
jeden metaphysischen oder realistischen Doppelsinn, der mit dem
Ausdruck X verknüpft ist, zu vermeiden, den »Gegenstandspol der
Intention« genannt hat. Dieser »Pol« kann in einer exakten Beschrei­
bung des Phänomens nicht übergangen werden. Er ist untrennbar
mit dessen Prädikaten verbunden, und er bleibt identisch, auch wenn
die Prädikate wechseln. Dieser Pol ist gewissermaßen die Substanz
des Gegenstandes, und eine Beschreibung, die den Anspruch auf

70
Über die »Ideen« von E. Husserl

Exaktheit erhebt, wird nicht um ihn herumkommen. Wir sagen also,


dass sich die verschiedenen Bewusstseinsakte auf denselben Gegen­
stand beziehen, wenn all diese Akte einen gemeinsamen »Gegen­
standspol« besitzen. Jede einzelne Artikulation synthetischer Be­
wusstseinsakte hat den ihr entsprechenden Pol - aber auch die
Synthese des Gesamtaktes hat ihren Pol, z. B. im Urteil.
Der so beschriebene Gegenstand - als der von der Gesamtheit
seiner Prädikate umgebene Pol -kann in einem Bewusstsein, das ihn
als existierend setzt, zur Gegebenheit gebracht werden, in einem the­
tischen Bewusstsein, wie Husserl sich ausdrückt. Der Anspruch der
Erkenntnis auf Wahrheit kann nicht allein in dem Anspruch beste­
hen, ihren Gegenstand als seienden zu setzen, sondern nur in dem
Anspruch, auch ein Recht dazu zu haben. Wie ist der Bewusstseins­
akt zu charakterisieren, der diesen Anspruch rechtfertigt, und worin
besteht dieses Recht des Bewusstseins, seinen Gegenstand als einen
existierenden zu setzen - dies ist die Frage, vor der wir jetzt stehen.

30. Die originäre Intuition als Quelle aller Wahrheit

Wir sind nun an einem Punkt angelangt, wo es sich anbietet, einige


Resultate der Logischen Untersuchungen aufzugreifen. Husserl un­
terscheidet in diesem Buch zwei Arten von Bewusstseinsakten:
1. Die bedeutungsgebenden Bewusstseinsakte, die sich nicht un­
mittelbar auf ihre Gegenstände beziehen, sondern diese nur meinen,
sie bedeuten, sie in den Blick fassen, ohne sie zu sehen. Es sind dies
leere, unerfüllte Intentionen. So denken wir etwa in einem Gespräch
an die Gegenstände unserer Sätze - Dinge, Beziehungen, Ideen,
Sachverhalte -, sind aber dabei in einer Reihe von Intentionen so
auf sie gerichtet, dass wir sie dabei gewissermaßen gar nicht sehen.
2. Die intuitiven Bewusstseinsakte, in denen der Gegenstand
nicht nur in den Blick genommen, sondern mit klarer Evidenz gese­
hen wird (z. B. in cier Vorstellung). Der cartesianische Begriff der In­
tuition - eine klare und deutliche Erkenntnis - taucht hier wieder
auf. Der bevorzugte Fall einer Intuition ist die originäre Intuition
oder die Wahrnehmung (vgl. §3). Diese charakterisiert sich nicht
nur dadurch, dass sie ihren Gegenstand in unmittelbarer Weise, son­
dern dass sie ihn sogar »im Original«, als »selbstgegeben« und »Ieib­
haft gegeben« sieht. Und das ist auch der Grund - nebenbei be­
merkt -, warum sich in der phänomenologischen Einstellung die
Wahrnehmung als Intentionalität beschreiben lässt, die ihren Gegen-

71
Über die »Ideen« von E. Husserl

stand im Original besitzt; die »intuitive Gegenwart« des Bewusst­


seins vor den Dingen ist nicht rätselhafter als ihre »sinngebende Ge­
genwart« - eine Beziehung des reinen Vermeinens - in diesen Din­
gen.
Aber die rein sinngebende Intention kann denselben Gegen­
stand besitzen wie die intuitive Intention. In diesem Fall ist eine Er­
füllung der sinngebenden Intention durch die Intuition möglich. Das
Urteil, in dem die Tatsache, dass 2 x 2 = 4 ist, nur mittelbar in den
Blick und zur Bedeutung kommt, kann in ein Urteil übergehen, in
dem die Tatsache, dass 2 x 2 = 4 ist, mit Evidenz erfasst wird. Doch es
kann auch sinngebende Akte geben, die nie zur Erfüllung gelangen;
so ist z. B. der »viereckige Kreis« ein Gegenstand, den man meinen
kann - denn einen »viereckigen Kreis« denken heißt sehr wohl etwas
denken -, aber dieser Gegenstand kann niemals in unmittelbarer An­
schauung gegeben sein.
Um auf unsere Eingangsfrage zurückzukommen, können wir
nun also sagen: Das, was es rechtfertigt, von einem durch das Be­
wusstsein in sein Sein gesetzten Gegenstand zu reden, ist die intuiti­
ve Anschauung, die Wahrnehmung des Gegenstandes »als originär
gegebener«. Der Akt der Vernunft ist ein intuitiver Akt. Was die
Vernunft in ihrem Wesen charakterisiert, ist also nicht nur diese oder
jene Form, dieses oder jenes Gesetz des Denkens oder irgendeine lo­
gische Kategorie; es ist eine bestimmte Art, sich auf den Gegenstand
zu beziehen, in der dieser mit Evidenz gegeben ist und »als er selbst«
dem Bewusstsein gegenwärtig ist. Die Analysen aus unserem ersten
Abschnitt hatten bereits gezeigt, inwiefern sich der Begriff der Wahr­
nehmung auf den Bereich der Wesenheiten und kategorialen Formen
erstreckt, sodass wir nicht noch einmal darauf zurückkommen müs­
sen.
Allerdings ist mit diesen allgemeinen Hinweisen der Sinn der
Vernunft und der ihr korrelierenden Wirklichkeit noch nicht geklärt,
und ein weites Feld von Problemen tut sich hier vor uns auf. Für jede
Kategorie von Gegenständen stellt sich die Frage nach ihrer Wirklich­
keit. Und um zu sehen, was Wahrheit in jeder einzelnen dieser Re­
gionen bedeutet, muss man sich dem transzendentalen Bewusstsein
zuwenden und die noetisch-noematischen Strukturen derj enigen Ak­
te aufzeigen und beschreiben, die die Gegenstände der entsprechen­
den Regionen konstituieren. Wir werden auf die wesentlichen Pro­
blemhereiche zurückkommen, die sich aus der Phänomenologie der

72
Über die »Ideen« von E. Husserl

Vernunft ergeben. Einige Bemerkungen allgemeiner Art sind aber


schon an dieser Stelle nötig.

31. Adäquate und inadäquate Evidenz

Oie adäquate Evidenz, wie sie etwa in einer mathematischen Be­


weisführung auftritt, ist dadurch charakterisiert, dass in ihr der ver­
meinte Gegenstand vollständig mit dem gesehenen Gegenstand zur
Deckung kommt. Oie sinngebende Intention gelangt hier zu voll­
kommener Erfüllung. Oie Setzung des Gegenstandes als eines seien­
den ist in diesem Fall in einer besonderen Weise gerechtfertigt, die
jede gegenteilige Auffassung ausschließt. Oie inadäquate Intuition ­
die für einen transzendenten Gegenstand die einzig mögliche ist -
kann ihrer Natur nach die sinngebende Intention nicht vollständig
zur Erfüllung bringen, sodass der Gegenstand zwar als ganzer ver­
meint, aber nur einseitig wahrgenommen werden kann. Darum ist
die Setzung des Gegenstandes auch nie völlig gerechtfertigt - und
sein Sein nie gewiss.
Diese unsere Unterscheidung spiegelt die Differenz zwischen
der apodiktischen und der assertorischen Evidenz wider.

32. Mittelbare Evidenz

Neben der unmittelbaren Evidenz - ob adäquat oder inadäquat -


kann auch von einer mittelbaren Evidenz gesprochen werden, die
sich immer durch den Rückgang auf eine tmmittelbare oder originäre
Evidenz - die einzige Quelle der Wahrheit - rechtfertigen lässt. Dies
gilt etwa für die Evidenz der Erinnerung, die ihre ganze Kraft aus der
Wahrnehmung schöpft, die ihr zugrunde liegt, und zu der man wie­
der zurückgehen muss, will man ihre Wahrheit bestreiten oder be­
stätigen. Weitere Forschungen sind hier nötig, um die Struktur die­
ser Bestätigung oder ihres Gegenteils zu beschreiben, die Struktur
dieses Typs mittelbarer Evidenz usw.
Der Grund fiir die mittelbare Evidenz kann aber auch in der
Natur ihres Gegenstandes selbst liegen. In der Geometrie z . B. kann
die Tatsache, dass die Summe der Winkel eines Dreiecks zwei rechten
Winkeln entspricht, nicht einmal für einen göttlichen Verstand un­
mittelbar evident erscheinen. Zur unmittelbaren Evidenz zu gelan­
gen, bedeutet in diesem Falt den Weg zurück zur originären Evidenz
zu nehmen, auf dem jeder Schritt evident sein muss. Die noetisch-

73
Über die »Ideen« von E. Husserl

noematische Struktur eines solch mittelbaren Nachweises ist eines


der Forschungsfelder innerhalb der Phänomenologie der Vernunft.

33. Probleme der Phänomenologie der Vernunft - Überblick

Wir brechen nun unsere allgemeinen Ausführungen zur Phänome­


nologie der Vernunft ab und wenden uns ihren wesentlichen Pro­
blemfeldern zu, die wir in groben Zügen hier kurz skizzieren wollen.
Es soll darum gehen, die Konstitution verschiedener Gegen­
standskategorien des reinen Bewusstseins zu beschreiben, um zu se­
hen, in welcher Art und Weise diese Gegenstände existieren.
Dabei gilt es vor allem die apophantische Logik und die formale
Ontologie (vgl. § 6) genauer zu untersuchen. Während der Logiker in
naiver Einstellung die reinen Formen der Gegenstände (formale On­
tologie) oder Urteile (Apophantik) erfasst und apodiktische Axiome
über ihren Wert aufstellt, so besteht die Aufgabe des Phänomenolo­
gen darin, den Sinn dieses Werts, d. h. die noetisch-noematische
Struktur der intuitiven Bewusstseinsakte zu befragen, die uns dieses
oder jenes logische Axiom zur Gegebenheit bringt. Die Phänomeno­
logie zeigt uns das Wesen und die Wesensverhältnisse von Begriffen
wie Erkenntnis, Evidenz, Wahrheit, Sein (Gegenstand, Sachverhalt
usw.) auf.25 Sie ist es, die untersuchen wird, wie in jedem einzelnen
Fall die sinngebenden Intentionen - von ihrem Wesen her- in einem
intuitiven Inhalt zur Erfüllung kommen müssen und welche Arten
von Evidenz jeweils in Frage stehen. In dieser phänomenologischen
Herangehensweise an das Problem tut sich vor uns ein weites For­
schungsfeld auf.
Des Weiteren stellen sich diese vernunfttheoretischen Probleme
auch für die materialen Ontologien . Jede Region von Gegenständen
hat als solche ihre besondere, aber a priori vorbestimmte Weise, in
der sie sich dem intuitiven Bewusstsein gibt. Diese intuitiven Be­
wusstseinsakte, in denen sich die Wirklichkeit als eine daseiende kon­
stituiert, müssen erforscht werden, um den Sinn der Erkenntnis und
des Seins dieser Gegenstände aufzuklären.
Die Probleme phänomenologischer Konstitution lassen sich hier
etwa am Beispiel der Region »materielles Ding« deutlich machen.
Während sich die Bewusstseinsakte stets in einer adäquaten Weise
geben - das, was uns von Anfang an erlaubt hat, vom absoluten Sein

2s Ideen, S. 306.

74
Über die »Ideen« von E. Husserl

des reinen Bewusstseins zu sprechen (vgl. § 17) -, kann die Gegeben­


heit der Gegenstände der Region »materielles Ding« prinzipiell keine
adäquate sein. Diese Inadäquatheit der Anschauung gehört wesens­
mäßig zum materiellen Ding. Uns ist in der unmittelbaren Wahr­
nehmung nur eine Seite des Gegenstandes gegeben, der Rest des Ge­
genstandes hingegen wird nur mit in den Blick genommen. Wenn ein
anderer Abschnitt des Dings in das Wahrnehmungsfeld eintritt, fällt
der zuvor wahrgenommene Abschnitt wesensmäßig aus ihm heraus.
Auch dieser Fortgang kontinuierlicher Wahrnehmungen kann we­
sensgemäß niemals letztabgeschlossen sein. Das materielle Ding ist
also nur eine Synthese sui generis innerhalb einer kontinuierlichen
Reihe von Noemata. Auf diese Weise enthüllt uns die phänomenolo­
gische Analyse den allgemeinen Sinn des Seins des materiellen
Dings. Das materielle Ding kann wesensmäßig nicht den Charakter
eines absoluten Seins haben, denn das Sein jeder einzelnen Phase
hängt vom Sein des Ganzen ab, und das Ganze kann nie vollständig
gegeben sein. Jede Setzung des Gegenstandes als eines seienden ist
nur so lange gültig, wie der Fortgang der Wahrnehmungsreihe dem
nicht widerspricht. Ja, sein Sein kann überhaupt nichts anderes sein
als die Einstimmigkeit der Wahrnehmungsreihe, die das wahrneh­
mende Ich feststellt. Aber dies ist nur eine ganz allgemeine Charak­
terisierung des Seins des materiellen Dings, die durch unsere eben­
falls ganz allgemeine Analyse ermöglicht wird. Ein Feld unendlicher
Forschungen eröffnet sich hier, um konkret die Art und Weise zu
verfolgen, wie die Wahrn ehmung des Gegenstandes in einer kon­
tinuierlichen Reihe partieller Wahrnehmungen voranschreitet, d. h.
die verschiedenen Formen, in denen sich die Synthese dieser Wahr­
nehmungen vollzieht; wie die Seinssetzung durch die Einstimmig­
keit dieser Wahrnehmungen zunehmend gefestigt wird; oder wie im
Gegenteil eine neue Erfahrung die vorangegangene Erfahrung
durchkreuzt und den gesetzten Gegenstand »zum Explodieren
bringt« (Illusion); wie nach widersprüchlichen Wahrnehmungen die­
jenigen Wahrnehmungen, die zuvor eine Einstimmigkeit aufwiesen,
nun modifiziert werden; wie sich die Einheit der Erfahrung wieder
einstellt usw.
Das Besondere dieser Fragen, bei denen es nicht darum geht, die
»Faktizität« des Bewusstseins, sondern seine Wesensnatur heraus­
zustellen, liegt darin, um es noch einmal zu sagen, dass es sich bei
dem, was sie untersuchen, nicht nur um eine Region unter anderen
handelt. Es geht nicht darum, die Gesetze des Bewusstseins zu ken-

75
Über die »Ideen« von E. Husserl

nen, so wie man die Gesetze der Geometrie oder Chemie kennt, denn
beim Bewusstsein haben wir es mit der Intentionalität zu tun und
nicht mit einer Art Substanz, die in sich selbst ruht. Was uns interes­
siert, ist die Art und Weise, wie sich das Bewusstsein in jeder seiner
Vollzugsformen - die wir zu beschrieben haben - auf den Gegenstand
bezieht: Als was ist der Gegenstand in der Einstimmigkeit der Intui­
tionen gemeint, als was ist er in dem Explodieren gegenwärtig usw. ?
Der Sinn von Sein - dieser Begriff, der für die naive Einstellung, die
ihn voraussetzt, so allgemein wie leer ist - wird innerhalb der Phä­
nomenologie zum Hauptgegenstand der Untersuchung und muss
durch die Phänomenologie der Vernunft noch genauer entfaltet wer­
den.
Die Probleme, die wir eben angesprochen haben, können unter
der Überschrift »Konstitution der Region materielles Ding für das
reine Bewusstsein « (vgl. § 25) zusammengefasst werden. Analoge
Probleme treten aber auch in anderen Regionen auf. Den Sinn von
Wahrheit und Sein für die Regionen wie etwa »Mensch«, »Tier«,
»Kultur«, »Gesellschaft« usw. zu ergründen, muss das Ziel einer Phä­
nomenologie werden, die es sich zur Aufgabe macht, die Anschau­
ungen zu klären, welche die entsprechenden Gegenstände als seiende
und wahre konstituieren.
Diese verschiedenen Regionen sind nicht unabhängig voneinan­
der. So sind z. B. die Regionen »Tier«, »Mensch«, »Gemeinschaft« in
der Region »materielles Ding« »fundiert«. Und in dem Maße, wie sie
dies sind, greift auch die Phänomenologie der Region »materielles
Ding« ordnend in andere Regionen ein. Aber jede dieser Regionen,
z. B. die »Gemeinschaft«, stellt eine nicht weiter reduzierbare Origi­
nalität des Seins - und des Erkanntseins - dar und erfordert daher
auch eine besondere Phänomenologie, in der ihre Konstitution für
das reine Bewusstsein herausgearbeitet wird.

34. Die intersubjektive Reduktion

Das reine Bewusstsein, von dem in unseren Ausführungen die Rede


war, ist kein von der Vernunft ausgedachtes »allgemeines Bewusst­
sein«, sondern ein reales »Ego«, das ich bin. Daraus folgt zwingend,
dass die Realität, die sich für dieses Ego konstituiert und die - wie
unsere Analyse bereits gezeigt hat - aus der Einstimmigkeit der kon­
tinuierlichen Reihe von Bewusstseinsakten dieses Ego besteht, den
Sinn der Objektivität ihrer selbst nicht ausschöpfen kann. Denn Ob- '

76
Über die »Ideen<< von E. Husserl

jektivität setzt nicht nur die Einstimmigkeit der intuitiven Bewusst­


seinsakte eines einzigen Ego voraus, sondern die Einstimmigkeit von
Bewusstseinsakten einer Vielzahl von Egos. Es gehört zum Wesen
der objektiven Walhrheit, dass sie eine Wahrheit für jeden ist; diese
inter-subjektive Welt wird also idealiter im Wesen der Wahrheit
selbst vorausgesetzt.
Wenn also die Phänomenologie wirklich den Sinn von Wahrheit
und Sein erforschen und deren Inhalt vollständig erschöpfen will,
muss sie über die quasi-solipsistische Einstellung, innerhalb derer
wir die phänomenologische Reduktion, die auch als »egologische Re­
duktion« bezeichnet werden kann, ansetzen, hinausgehen. Diese Ein­
stellung kann nur der erste Schritt hi n zur Phänomenologie der Ver­
nu nft sein, ein Schritt, der gleichwohl unumgänglich ist und eine
Unzahl von Problemen aufwirft, die nicht übergangen werden dür­
fen. Aber alle Untersuchungen der egologischen Phänomenologie
müssen letzthch der »intersubjektiven Phänomenologie« unterge­
ordnet werden, weil nur sie allein den Sinn von Wahrheit und Wirk­
lichkeit vollständig auszuschöpfen vermag.
Dieser Gedanke, den wir in den ldeen nur auf einer halben Seite
kurz skizziert finden, wurde dann in der späteren Entwicklung von
Husserls Denken entscheidend. Eine Theorie der Einfühlung26, wie
sie im 1. Band der Ideen angekündigt und dann in den nicht ver­
öffenthchten Werken Husserls ausgearbeitet wurde, legt uns dar,
wie das individuelle Bewusstsein, das Ego, die Monade, die sich in
der Reflexion selbst erkennt, aus sich heraustritt, um dann - mit
absoluter Gewisshe it - um sich herum eine intersubjektive Welt
von Monaden zu entdecken - aber eine Welt, die für die reale Gesell­
schaft, die als Teil der Natur verstanden wird, das ist, was das trans­
zendentale Bewusstsein für das psychologische Bewusstsein ist. Und
eben für dieses »intersubjektive Bewusstsein« stellen sich die phäno­
menologischen Probleme der Vernunft: Wie lässt sich das Sein des
Gegenstandes in der Einstimmigkeit subjektiver Erfahrungen be­
haupten, die zu verschiedenen Egos gehören ? Wie kommt es, dass
das vermeinthche Sein eines Gegenstandes, auch wenn es in einer
Reihe subjektiver Bewusstseinsakte bestätigt wurde (z. B. in einer
Halluzination), im intersubjektiven Bewusstsein zum »Explodieren«

16 Dieser Begriff stamml aus der empirischen Psychologie im Deutschland des aus­
gehenden 19. Jahrhunderts und bezeichnet den Akt, durch den wir das Bewusstseins­
leben des anderen erkennen.

77
Über die >>Ideen« von E. Husserl

gelangt, usw. ? All diese Probleme der »Konstitution« müssen im


Hinblick auf die absolute Sphäre des intersubjektiven Bewusstseins
angesprochen werden, die jeder Welt und jeder Natur vorausliegt
und in der sich diese erst konstituieren. Nur eine Untersuchung der
Konstitution jeder Region von Gegenständen für das intersubjektive
Bewusstsein wird uns deren Sinn erhellen, in ihrer Erkennbarkeif
und in ihrem Sein.

78
111

Freiburg, Husserl und die Phänomenologie

»Wildromantisch« - der Schwarzwald, der sich gleichsam wie ein


Ring um Freiburg legt, sich fast unbemerkt bis ins Innere der Stadt
hineinschleicht, um sich dann im Zentrum selbst noch einmal mäch­
tig aufzubäumen. Eine wilde Romantik, aber doch schon gezähmt.
Selbst die abgelegensten Pfade sind noch gesäumt von Schrifttafeln
wie diesen: »Halt! Rechts eine herrliche Aussicht ins Tal« oder »Bitte
achten Sie auf den Sonnenuntergang! « So greift die Kultur, die zu
wahrhaft vollkommener Universalität gelangt ist, aus auf das, was
sie verleugnet, und lässt der Natur selbst all das zurückgeben, was
nur die Natur geben kann .
Die Stadt ist klein, gepflegt und hübs ch. Im Winter wird sie von
Skiläufern besucht, im Sommer zieht sie zahlreiche Touristen an, die
auf den schönsten Bergen der Welt kleine Wanderungen unterneh­
men und einen Blick hinunter auf das wie ein Spielzeug wirkende
Münster werfen, das »rosig ist wie eine Braut« und dessen filigraner,
offener Turm die hohe Kunst des großen Baumeisters Erwin von
Straßburg verrät. Doch es ist vor allem die Universität, die den Mit­
telpunkt dieser kleinen, schon so oft beschriebenen, besungenen und
photographierten Universitätsstadt bildet und ihren Rhythmus be­
stimmt Von überall her strömen die Studenten, angezogen von Fa­
.

kultäten, die mit all ihren verborgenen Schätzen der Wissenschaften


und Künste locken. Und Aristoteles und Homer, wie sie in feierlicher
Pose vor dem Haupteingang der Universität sitzen, scheinen die Ga­
ranten für die gute alte Tradition und die klassische Reinheit zu sein.
Freiburg ist nach wie vor eine Stadt der Medizin, der Chemie und
noch vieler anderer Wissenschaften. Aber vor allem und in erster
Linie ist es die Stadt der Phänomenologie.

Doch sogar in einer Stadt, in der das intellektuelle Gewerbe zu Hause


ist, stößt diese Spezialität auf eine gewisse Verwunderung; sie ist nur
wenig verbreitet. Denn die phänomenologische Lehre unters all-

79
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie

gemeine Volk zu bringen, käme fast schon einer Beleidigung des wis­
senschaftlichen Gewissens ihres Erfinders Edmund Husserl gleich.
Die Phänomenologie will genau genommen die Weisheit aus den
flüchtigen Liebschaften, den ausgelassenen Spielereien und der kom­
promittierenden Gesellschaft mondäner Unterhaltungskünstler und
Modeschwätzer heraushalten. Sie will zwischen der Weisheit und
Sokrates einen Bund »fürs Leben« schließen, und sie fordert daher
die entsprechende Ernsthaftigkeit, die für einen solchen Bund not­
wendig ist. I
Doch die paar Worte, die wir an dieser Stelle zu den allgemeinen
Absichten der phänomenologischen Bewegung sagen, werden viel­
leicht dennoch nicht zwangsläufig schon einen Absturz in die vulgäre
Halbwissenschaft bedeuten.
Phänomenologie bedeutet »die Wissenschaft von den Phänome­
nen«. Alles, was sich unserem Blick gibt, zeigt und offenbart, ist Phä­
nomen.
Folglich ist alles Phänomen und jede Wissenschaft Phänomeno­
logie!
Keineswegs. Das, was sich dem Bewusstsein gibt, verdient den
Namen Phänomen nur dann, wenn es der Rolle und der Funktion
entsprechend, die es im Leben - im individuellen, faktischen Leben
- spielt und einnimmt, und dessen Gegenstand es ist, ergriffen wird.
Andernfalls ist es eine Abstraktion; die Bedeutung, der Stellenwert
und, wenn man so will, das Gewicht seiner Existenz blieben uns ent­
zogen. Eine konstruierte philosophische Interpretation, die von au­
ßen herangetragen wird, bedeutet Verrat an seinem Sinn. Die Kon s­
truktion entstellt das Phänomen.
Um das Phänomen als Phänomen zu retten, muss es in seiner
höchsten, philosophischen Bedeutung erfasst werden, was nach Auf­
fassung der Phänomenologie nur dann möglich ist, wenn es in das
Bewusstseinsleben selbst, d. h. in die unteilbare Individualität unse­
rer konkreten Existenz zurückgestellt wird 2

t Vgl. dazu E. LEh-i.nas, La theorie de l'intuition dans la phenomenologie de Husserl


(Bibliotheque de philosophie contemporaine, Paris: Alcan 1930).
2 Es gilt festzustellen, dass Husserl die privilegierte Rolle des Individuellen und Kon­
kreten nicht ohne weiteres akzeptiert hat und dass es Heidegger waJ; der zeigen konnte­
aufbrillante Weis-e -, wie die Analyse »der faktischen menschlichen Existenz« uns in die
eigentlich philosophische Dimension hineinführt, was auch schon Anstoteies ahnte, als
er die Frage nach dem »Sein als solchem« stellte. Es gibt keinen Mystizismus des Kon­
kreten in Freiburg.

80
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie

Eine Umkehrung der wissenschaftlichen Einstellung. Newtons


Physik wendet sich vom Subjekt ab, um dem Objekt die höchste Ehre
zu erweisen; sie ordnet die Austreibung jedes so genannten subjekti­
ven Elements aus dem Objekt an; sie rottet z. B. im Raum jede sub­
jektive Häresie aus, das »Üben« und »Unten«, das »Rechts« und
»Links«, das »Fern« und »Nah«. Derart gereinigt gibt es für den ob­
jektiven Raum und die objektive Welt keine Grenzen ihrer Objekti­
vität mehr, sodass diese immer reiner wird; nur die Physik vermag
sich ihnen noch zu nähern, vorausgesetzt sie beherrscht die geheim­
nisvolle Sprache mathematisch präziser und gesicherter Wahrheiten.
Es fragt sich, ob wir diese Sprache tatsächlich auch verstehen.
Liegt diese Welt, die über die uns umgebende Welt hinausgeht, nicht
auch jenseits des spezifischen Verständnisses, das wir vom Individu­
ellen, vom Geschichtlichen und vom Menschlichen haben und in dem
das Wirkliche sich nicht nur als eine Verkettung von Aussagen dar­
stellt, sondern als eine Existenz, die einen Wert darstellt und ein
Gewicht hat?
Diese Frage ist erlaubt, denn große Denker haben sie sich im
Laufe der Philosophiegeschichte schon gestellt. Berkeley hat Newton
angegriffen. Die idealen Linien, die mathematischen Punkte und das
unendlich Kleine, all das ist für Berkeley Konvention, Fiktion, leeres
Gerede. Der Aufstieg der Wissenschaft in die Regionen des reinen
Objekts gleicht einem Sprung in das Nichts. Eine etwas barocke Geo­
metrie, aber immerhin eine Geometrie des Seins setzt sich an die
Stelle der Geometrie des Nichts. Der Punkt ist von nun an ein kleines
Festes, das ein bestimmtes Minimum an Größe aufweist, und die
Linie setzt sich aus einer endlichen Anzahl dieser Punkte zusammen.
Ist diese Zahl ungerade, dann kann diese Linie nicht in zwei gleiche
Teile geteilt werden. Es ist nicht mehr von kongruenten Dreiecken
die Rede, denn diese, legte man sie übereinander, würden wieder zu
einem einzigen Dreieck werden.
Der Sensualismus von Berkeley und Hume wurde oft mit dem
Beginn des experimentellen Positivismus gleichgesetzt. Die faszinie­
renden Passagen - faszinierend deshalb, weil sie selbst vor dem Un­
möglichen nicht zurückschrecken -, in denen diese Philosophen die
sinnlichen Elemente - »Ideen« und »Eindrücke« - unserer geometri­
schen Begriffe wiederherzustellen versuchen, wurden in erster Linie
als Beweis eines empirischen Ursprungs unseres Erkenntnisver­
mögens interpretiert. Man nahm dies allerdings lediglich als eine
Debatte über den apriorischen oder aposteriorischen Charakter der

81
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie

Geometrie zur Kenntnis. Aber ist der Sensualismus tatsächlich mit


dem Empirismus gleichzusetzen? Bringen die Geometrie Berkeleys
und die entsprechenden Ausführungen bei Hume, der sich - ganz
analog zu Berl<eley - einen Raum nur auf der Grundlage des Sinn­
lichen und also einer endlichen Teilbarkeit vorstellen konnte, nicht
auch noch einen anderen Aspekt zum Vorschein? Die Empfindung,
der dabei das eigentliche Interesse galt, besitzt nicht nur die Eigen­
schaften einer Tatsache; sie ist vor allem ein unmittelbarer und greif­
barer Bestandteil des Bewusstseins. Lag also infolgedessen der ei­
gentliche Anstoß, der metaphysische Wille des Sensualismus nicht
darin, das Unmittelbare, das Individuelle, das Menschliche als eine
Sphäre herauszustellen, innerhalb derer alles wahrhafte Verstehen
geschieht und durch die hindurch jedes Objekt ergriffen werden
muss, um überhaupt einen Sinn zu haben? Dass die traditionelle Ma­
thematik verworfen wurde, war dabei bloß Nebensache; Berkeley
und Hume waren auf der Suche nach den konkreten Bestandteilen
der so genannten abstrakten Gegenstände - das war es, worum es
eigentlich ging.
Dieses Gefühl einer grundsätzlichen Verständnislosigkeit ge­
genüber dem Abstralcten an sich betrachtet ist es aber auch, was die
Sensualisten in eine Nähe zu den Phänomenotogen bringt; ein Ge­
fühl, das sich auszubreiten beginnt in der modernen Wissenschaft,
die geplagt ist von Krisen und Paradoxien, die irritiert mit ansehen
muss, wie sich ihr der eigentliche Sinn ihrer Urteile - die doch ganz
zuverlässig sind - entzieht und die sich daher, wie schon der alte
Berkeley, häufig fragt, ob das, wovon sie spricht, tatsächlich etwas
anderes ist als Nichts, Konvention und Fiktion.
Die Philosophie von Berkeley und Hume tendierte immer schon
zum Empirismus hin, und zwar in seiner äußerst naiven Form. Hume
brachte Stuart Mill hervor, und Stuart Mill den Psychologismus. Und
eben gegen diesen Psychologismus rebellierte die Phänomenologie.
Das spezifisch Menschliche, auf das Hume und Berkeley in der
Empfindung zu stoßen glaubten - vor allem in der Empfindung, wie
sie sie sich vorstellten - bestand in nichts anderem als in einer groben
Anwendung von Kategorien der äußeren Dinge auf den Menschen.
Sie betrachteten die menschlichen Angelegenheiten wie Dinge. Auch
wenn sie damit Recht hatten, im Individuellen, Unmittelbaren und
Konkreten den eigentlichen Ort des Verstehens anzusiedeln, zu dem
auch die idealen Gegenstände der Mathematik wieder zurückgeführt
werden mussten, u m verstanden zu werden, so irrten sie doch darin,

82
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie

zu glauben, die Ding-Empfindung selbst sei dieses Individuelle, Un­


mittelbare und Konkrete.
Die wirkliche Natur des Menschlichen, das eigentliche Wesen
des Bewusstseins zu bestimmen - genau darin sahen die Phänome­
notogen ihre vorrangige Aufgabe. Ihre Antwort ist bekannt. Alles,
was zum Bewusstsein gehört, ist nicht, wie ein Ding, in sich selbst
verschlossen, sondern bezieht sich auf die Welt. Das zuhöchst Kon­
krete im Menschen ist seine Transzendenz in Bezug auf sich selbst,
oder, wie die Phänomenoiegen zu sagen pflegen: die Intentionalität.
Eine allem Anschein nach paradoxe These. Dass das theoretische
Bewusstsein auf ein Objekt ausgerichtet ist und dass vor allem dieses
Ausgerichtet-Sein mit der Existenz des Bewusstseins selbst zusam­
menfällt, dem wird man zur Not noch zustimmen können. Aber die
Gefühle - die Liebe, die Furcht und die Angst - sind doch von ihrem
innersten Wesen her auf nichts gerichtet. Als subjektive Gemüts­
zustände und affektive Stimmungen, wie sie von Psychologen be­
zeichnet werden, scheinen sie genau das Gegenteil der Intentionalität
zu sein. Das Gefühl ist keine Erkenntnis, das ist es, was dieser Ein­
wand sagen will. Aber auch die Phänomenelogen weisen diesen Ge­
danken als absurd zurück. Ihr Grundgedanke besteht im Gegenteil
darin, die Eigentümlichkeit dieser Beziehung zur Welt, wie sie sich
im Gefühl manifestiert, herauszustellen und als solche anzuerken­
nen. Sie sind der festen Überzeugung, dass es da eine wirkliche Be­
ziehung gibt, die Gefühle als solche folglich »auf etwas hinauswol­
len« und als solche unsere Transzendenz in Bezug auf uns selbst
sowie unsere Inhärenz in der Welt konstituieren. Und dementspre­
chend behaupten sie, dass die Welt selbst - die objektive Welt - nicht
nach dem Vorbild eines theoretischen Gegenstandes gestaltet ist,
sondern sich mittels Strukturen konstituiert, die viel reichhaltiger
sind und allein von diesen intentionalen Gefühlen erfasst werden
können. Die Angst z B., von der eine oberflächliche Analyse sagen
würde, sie sei ohne Gegenstand und nur der bloße Effekt organischer
Zustände, innerer Erregungen oder einer Ermüdung - die Angst er­
schien den Phänomenologen geradezu als eine privilegierte Intention
und als eine in höchstem Maße metaphysische Einstellung. Denn es
ist die Angst, die in der Welt die Spuren des Nichts enthüllt, die den
Augen einer philosophischen Betrachtung, die auf das Absolute zielt,
verborgen bleiben. Die philosophische Betrachtung ist nämlich blind
für das Nichts. Das Nichts ist nicht in der Welt als eine Entität. Es

83
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie

kann nicht ged!acht werden (die alten Philosophen hatten Recht, dies
zu behaupten). Es muss also beängstigend sein.
Das Konkrete, von dem aus die Welt verstanden werden muss,
ist also die Intentionalität. Ein Bewusstsein, das sich aus Empfindun­
gen zusammensetzt, die ohne Sinn sind, das auf nichts gerichtet und
in sich selbst verschlossen ist - wie etwa der »polypary of images«
von Taine oder sogar die Dauer Bergsens -, lässt uns die Welt nicht
verstehen, weil diese eben kein Inhalt des Bewusstseins ist. Die In­
tentionalität dagegen eröffnet uns hier Möglichkeiten. Und die kon­
krete Geometrie - durchaus nichts Lächerliches - ist eine der ersten
Formen, in der sie sich ins Werk setzt.
Der geometrische Raum ist in der Tat eine Abstraktion. Die kon­
krete Situation aber, in der uns die räumliche Ausdehnung erfahrbar
wird, ist unsere Anwesenheit im Raum. Diese lässt sich nicht redu­
zieren auf ein bloßes Innewohnen eines ausgedehnten Dings in
einem ausgedehnteren Ding, das es umgibt. Sie setzt sich vielmehr
aus einem ganzen Komplex von Intentionen zusammen, ja stellt
überhaupt den einzigen Typ von Intention dar, der in der Lage ist,
sich auf den Raum als Raum zu beziehen, so wie nur die Sehkraft
das Licht entdecken und nur die Angst das Nichts wahrnehmen kann.
Folglich brauchen wir also nur zu erklären, was es mit diesen Inten­
tionen auf sich hat. Wir haben es mit einem Raum zu tun, der in
erster Linie eine Umgebung darstellt, die sich aus den Möglichkeiten,
uns zu bewegen, uns zu entfernen und zu nähern konstituiert, also
einem Raum, der nicht homogen ist, sondern aus einem Oben und
Unten, einem Rechts und Links besteht, einem Raum, der jeweils
bezogen ist auf die uns umgebenden Gegenstände, die die Möglich­
keiten, uns zu bewegen und herumzugehen, beeinflussen. - Wird
man behaupten können, dass dieser konkrete Raum den geometri­
schen Raum voraussetzt? Dies hieße aber zu glauben, dass der Ers­
tere einer theoretischen, wenn auch undeutlichen Anschauung gege­
ben wäre, und hieße die ganz andere Wurzel zu vergessen, die diesen
Raum mit unserem Leben verbindet, also die irreduzible Besonder­
heit der »Anwesenheit im Raum«. Es wäre so, als würde man die
Berührung im Sinne einer unvollkommenen geistigen Schau verste­
hen.
Dennoch kommt diese Entdeckung - oder vielmehr diese Reha­
bilitation - des konkreten Raumes nicht einer Verurteilung der Geo­
metrie gleich, genauso wenig wie die phänomenologische Analyse
der Welt dazu führt, die Wissenschaft als solche gering zu schätzen.

84
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie

Nur muss man, um das Gewicht, den Geltungsbereich und den Sinn
wissenschaftlicher Wahrheit richtig einschätzen zu können, erken­
nen, inwiefern die wissenschaftliche Tätigkeit über die konkrete Welt
unseres Lebens hinweggeht und in welcher Beziehung der wissen­
schaftliche Gegenstand zum unmittelbaren Gegenstand steht. Wir
müssen - durch eine Analyse der Intentionalität - die Bedeutung
derjenigen Situation aufdecken, in der sich, ausgehend von der Un­
mittelbarkeit des Raumes, der geometrische Raum offenbart. Das
heißt nun nicht, dass sich der Phänomeneloge für die Gefühle oder
Leidenschaften desjenigen interessiert, der sich mit Geometrie be­
schäftigt, sondern vielmehr, dass er dem Ursprung der geometrischen
Einstellung überhaupt nachzuspüren hat, und zwar in der konkreten
Totalität menschlicher Existenz, die viel reichhaltiger ist als die reine
und nüchterne Betrachtung. So kommt das Verlangen nach dem
Konkreten, das wir bereits bei Berkeley gespürt haben, zu seiner Er­
füllung. Wenn dieser glaubte, die Wissenschaft, wie Newton sie be­
trieben hatte, zurückweisen zu müssen, dann deshalb, weil seine
Auffassung eines »verdinglichten« Bewusstseins und seine Unkennt­
nis der Intentionahtät es ihm nicht erlaubten zu begreifen, wie eine
Welt sich auf das Bewusstsein beziehen und aus ihm ihren Sinn
schöpfen könnte, wenn sie nicht bereits in ihm wie in einer Schachtel
»eingeschlossen« wäre.
Die Intentionalitäten zu analysieren, die die verschiedenen Ge­
genstände konstituieren, genau das heißt Phänomenologie zu betrei­
ben. Diese Fragen nach der »Konstitution«, die man in Freiburg so
heftig diskutiert, werden zu einer Erneuerung der Philosophie füh­
ren. Sie werden uns wieder die Augen dafür öffnen, die Phänomene
in ihrer konkreten Lebendigkeit und unverstellten Ursprünglichkeit
zu betrachten. Das Sein als Ganzes, so wie es aus unserem konkreten
Leben aufscheint, ist keineswegs nur eine Ansammlung von Tatsa­
chen, die allein von den Naturwissenschaften begriffen werden
könnten. Neben dem Raum, der Zeit und der Kausalität behaupten
sich auch Begriffe wie z. B. das »Alltägliche«, das »Ästhetische«, das
»Heilige« usw. in ihrer Objektivität. Diese Bestimmungen geben sich
als zu den Gegenständen selbst gehörig, und die Phänomenelogen
betrachten sie daher auch nicht nur als »rein subjektive« Bestim­
mungen unseres Bewusstseins der Dinge, sondern als konstitutive
Kategorien der Dinge selbst. Die Welt geht über die Grenzen der
Natur hinaus; sie nimmt all die Facetten und den ganzen Reichtum,
die sie durch unser konkretes Leben erhält, in sich auf: Es ist eine

85
Freiburg. Husserl und die Phänomenologie

Welt, die aus interessanten und langweiligen, nützlichen und unnüt­


zen, schönen und hässlichen, geliebten und verhassten, lächerlichen
und beängstigenden Dingen besteht. Die phänomenologische Me­
thode will eine Welt zerstören, die durch die naturalistischen Ten­
denzen unserer Zeit - die sicherlich ihr Recht, aber eben auch ihre
Grenzen haben - verfälscht und ihrer Fülle beraubt wurde, und sie
will die verlorene Welt unseres konkreten Lebens wieder herstellen
bzw. wieder in sie zurückfinden.

Aber die Welt lässt sich nicht, ebenso wenig wie der Tempel, inner­
halb von drei Tagen zerstören und wieder aufbauen. Die Parole in
Freiburg lautet daher: »Arbeiten ! « Dieses Wort erhält einen beson­
deren Beigeschmack, wenn man es auf die Philosophie bezieht, und
vor allem wenn man unter Arbeit etwas ganz anderes als nur die
historische Erforschung aller Subtilitäten innerhalb des aristote­
lischen und kantischen Denkens versteht. Die jungen Phänomenolo­
gen, die Schüler Husserls, sind der Auffassung, dass sie für die Phi­
losophie dieselbe Arbeit verrichten können wie die Forscher für die
Wissenschaften. Sie räumen das mit wissenschaftlichen Konstrukten
zugestellte Gelände frei, kneten den philosophischen Lehm und legen
nach und nach und mit großer Sorgfalt die Fundamente. So wollen
sie den Traum ihres Meisters Husserl verwirklichen, den Traum einer
Philosophie als Wissenschaft, an der Generationen von Arbeitern
mitwirken und alle ihren bescheidenen Beitrag zum großen Bauwerk
der Philosophie leisten sollen, einem Bauwerk, das die Philosophen
der Tradition noch über Nacht errichten wollten - gleich den Zwer­
gen in den Märchen.
Aber was heißt hier »den philosophischen Lehm kneten«? Wir
verstehen jetzt, was das bedeutet. Jedes Wort, das verwendet wird,
jeder Begriff, der allgemein gebräuchlich ist, und jede Wahrheit, die
sich scheinbar von selbst versteht, muss zunächst die Feuerprobe
phänomenologischer Analyse bestehen - eine Analyse, die mu durch
eine mühselige Arbeit ausgeführt werden kann, durch Arbeiter, die
unermüdlich gebeugt über dem Geflecht des konkreten Bewusst­
seinslebens sitzen, dem Wirrwarr an »Intentionalitäten«, aus dem
es sich zusammensetzt. Den Begriffen, die nur aufgrund von trüge­
rischen, undurchsichtigen und nicht durch unmittelbare Anschauung
belegten Beweisführungen zu philosophischen Meriten gelangt sind,
ja dieser ganzen Art und Weise der Beweisführung selbst, die man in
Freiburg verächtlich als Konstruktion bezeichnet, setzen dje Phäno-

86
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie

menologen ihre Schlachtrufe entgegen: »Nieder mit den Konstruk­


tionen!«, »Zu den Sachen selbst!« Und sollte es sich tatsächlich ein­
mal um legitime Begriffe handeln, so sind sie sorgsam darauf be­
dacht, dass diese nicht auf die Wirklichkeitsbereiche angewendet
werden, die sie gar nicht zum Ausdruck bringen können. Der Phäno­
menologe versucht all das auseinander zu halten, was überhaupt
einer Unterscheidung zugänglich ist, und ihm ist auch vor der hoff­
nungslosen Komplexität des so genannten banalen Phänomens nicht
bange, die sich immer dann zeigt, wenn es mit der Analyse in Berüh­
rung kommt. Husserl sagt an einer Stelle: »Die Philosophie ist eine
Wissenschaft des Selbstverständlichen.«

Diesem Arbeitsrausch aber verfällt man mit Freude und Begeiste­


rung. Für die jungen Deutschen, die ich in Freiburg kennen lernte,
ist diese neue Philosophie mehr als nur eine neue Theorie, sie ist ein
neues Lebensideal, eine neu aufgeschlagene Seite in der Geschichte,
ja fast eine neue Religion.
Die Welt, wie sie in ihrer ganzen Frische durch die Phänomeno­
logie neu entdeckt wurde, ist zu groß für die wissenschaftlichen Be­
griffe; sie sprengt die scholastische Philosophie des 19. Jahrhunderts.
Ihre plötzliche Entdeckung gibt den jungen Philosophen die Illusion,
eine neue Epoche der Renaissance zu erleben. »Die Geister erwachen.
Was für eine Freude zu leben!« Dieser Spruch Ulrich von Huttens
stand häufig am Ende meiner langen Diskussionen mit einem jungen
Phänomenotogen - einem richtigen Arbeiter, zudem einem der be­
gabtesten, aber auch schwärmerischsten. »Der Erfolg Spenglers«,
sagte er, »ist der Erfolg eines falschen Propheten. Der Beweis dafür
ist die Phänomenologie. Unsere Zeit steht im Zeichen der Phänome­
nologie: Phänomenologe sein heißt, alles in Frage zu stellen, ohne
deshalb dem Skeptizismus zu verfallen; heißt, an eine mögliche Ant­
wort zu glauben, ohne sie auch schon zur Hand zu haben. Nur die
schöpferischen Epochen, Epochen ausgeprägter Individualität und
eines persönlichen Stils, werden mit den Gaben eines Geistes be­
schenkt, der zu fragen versteht. Das vergangene Jahrhundert kannte
gar keine Fragen mehr; es war ein Jahrhundert ohne jede Neugier, ein
steriles Jahrhundert, das mu aus der Imitation und dem Eklektizis­
mus lebte. Das 20. Jahrhundert hat seinen eigenen Stil wiedergefun­
den: Der Modernismus in der Architektur und der Malerei - das ist
die Phänomenologie. Man spricht oft von barbarischen Jahrhunder­
ten; ich kenne nur eines: das 19. Jahrhundert !«

87
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie

Während sich die fähigsten Köpfe von der Lehre angezogen fühlten,
waren die Massen von deren Erfolg fasziniert.
Es war in den Jahren 1900/1901, als Husserl, der zu dieser Zeit
Privatdozent in Halle war, die Logischen Untersuchungen veröffent­
lichte, in denen die neue Art des Philosophierens erstmals ihren Aus­
druck fand. Ein gewaltiger Umbruch: Begeisterte Schüler strömten
nach Göttingen, wo der junge Meister bis zum Jahre 1916 lehrte.
Von Jahr zu Jahr eroberte dann die Phänomenologie immer neue
Fakultäten innerhalb Deutschlands, ja ihr Einfluss breitete sich sogar
über die Grenzen der Philosophie hinaus aus und griff auf die Ge­
schichte, die Soziologie, die Psychologie, die Philosophie, die Rechts­
wissenschaften über. Er ging selbst über die deutschen, ja sogar die
europäischen Grenzen hinaus. (Bereits 1911 spricht Victor Delbos in
der Revue de mitapltysique et de morale von Husserl.) 1916 ließ sich
Husserl in Freiburg nieder und lebt dort, nachdem er einen Ruf an die
Universität Berlin abgelehnt hat, noch heute.
Ich bin zu einem Zeitpunkt nach Freiburg gekommen, als der
Meister seine regulären Lehrverpflichtungen gerade aufgegeben hat­
te, um sich ganz der Veröffentlichung seiner zahlreichen Manuskrip­
te zu widmen. lch hatte das Glück, an einigen Vorträgen teilnehmen
zu können, die er gelegentlich vor einer stets dicht gedrängten Zu­
hörerschar hielt. Nachfolger auf seinem Lehrstuhl wurde Martin
Heidegger, sein genialster Schüler, dessen Name jetzt wie ein Stern
am Himmel Deutschlands strahlt. Seine Lehre und seine Werke, die
von einer außergewöhnlichen intellektuellen Kraft zeugen, liefern
den besten Beweis für die Fruchtbarkeit der phänomenologischen
Methode. AJlein seine Anziehungskraft war höchst beeindruckend:
Um mir einen Sitzplatz in seiner Vorlesung zu sichern, die um fünf
Uhr nachmittags in einem der größten Hörsäle der Universität statt­
fand, musste ich diesen bis spätestens zehn Uhr vormittags belegt
haben. Und im Seminaij zu dem nur privilegierte Teilnehmer zuge­
lassen waren, fanden sich alle Nationen vertreten, überwiegend
durch Universitätsprofessoren: die USA und Argentinien, Japan und
England, Ungarn und Spanien, Italien und Russland, ja sogar Aust­
ralien. Als ich diesen illustren Kreis von Zuhörern sah, verstand ich,
was jener deutsche Student meinte, den ich auf meinem Weg zurück
nach Freiburg im Schnellzug von Berlin nach Basel getroffen hatte.
Auf meine Frage, wohin er denn fahre, antwortete er mir, ohne mit
der Wimper zu zucken: »Ich gehe zum größten Philosophen der
Welt.«

88
IV

Ein Brief Jean Wahl betreffend

Nach Auffassung Jean Wahls enthält die Existenzphilosophie tat­


sächlich eine gewisse Anzahl von Begriffen, die theologischen Ur­
sprungs sind. Kierkegaard stellt sie als solche in aller Deutlichkeit
heraus; Heidegger und Jaspers geht es darum, sie zu säkularisieren.
Dennoch spielen diese Begriffe bei beiden Philosophen keineswegs
eine geringere RoHe, ja sie machen sogar den Reiz ihres Denkens
aus und bringen es in eine Verbindung mit dem Konkreten.
Man kann sich fragen, ob die Verbindung zwischen der Theo­
logie und der Existenzphilosophie nicht zum einen tiefer geht und
zum anderen - was Heidegger anbelangt - von geringerer Bedeutung
ist, als dies Wahl meinte.
Tiefer, sofern die Theologie dabei nicht auf den dogmatischen
Lehrgehalt irgendeiner positiven Religion eingegrenzt wird. Die Fra­
gen, auf die die Dogmatik ihre Antworten gibt, sind von ihr unab­
hängig; sie treten auf, seitdem es den modernen Menschen gibt. Exis­
tieren heißt für diesen von nun an, zu wissen, was Einsamkeit, Tod
und die Sehnsucht nach Erlösung bedeuten. Wenn die Seele keinen
Trost mehr in der Gegenwart Gottes findet, ist seine Abwesenheit für
sie real erfahrbar geworden. Das Reden über Gott verliert nichts an
religiöser Substanz, wenn es sich als ein »Reden über die Abwesen­
heit Gottes« oder sogar als ein Schweigen über Gott artikuliert. Das
Religiöse wird immer verdächtig bleiben. Was also die Existenzphi­
losophie mit der Theologie verbindet, ist in erster Linie ihr Gegen­
stand selbst, die Existenz, ein zumindest religiöses, wenn nicht gar
theologisches Faktum .
Die Gestalt aber, in der die Existenzphilosophie bei Heidegger
auftritt, bringt sie in die denkbar größte Distanz zur Theologie. Wie
groß der Einfluss der Theologie für Heideggers Denkweg auch gewe­
sen sein mag, so wird man mir doch ohne weiteres darin zustimmen,
dass für ihn einen Begriff zu säkularisieren nicht einfach bedeutete,
dessen religiösen Aspekt zu verschleiern. Die Säkularisierung wurde

89
Ein Brief Jean Wahl betreffend

bewusst als ein Verfahren eingesetzt, das tatsächlich auch zu einer


Überwindung des theologischen Standpunktes führen sollte. Folgllch
wird auch die Frage nach dem Verhältnis von Heideggers Philosophie
zur Theologie vom Sinn dieser Säkularisierung abhängig sein. Und
tatsächlich ist der Punkt, an dem Heidegger sie anzusetzen versucht,
der neuralgische Punkt seiner Philosophie.
In der theologischen Einstellung werden die Dinge und Lebewe­
sen in einer Weise betrachtet, die man in der heideggerschen Termi­
nologie als eine ontische bezeichnen würde. Man hat es mit dem zu
tun, was ist, mit »Seienden«, die ihre Bestimmung erfüllen. Sie sind
Gegenstand von Geschichten . Sie werden für sich betrachtet und sind
Teil eines Dramas, in das auch wir selbst vetwickelt sind. Die Theo­
logie ist ihrem Wesen nach Geschichte und Mythologie. Und dies ist
auch der Grund, weshalb in theologischen Angelegenheiten die
Wahrheit durch Autorität garantiert werden kann.
Das eigentliche Interesse der heideggerschen Philosophie be­
steht darin, auf dem Grunde des ontischen Abenteuers des Menschen
etwas aufzuzeigen, das mehr ist als nur eine Beziehung zwischen
»Seiendem«, nämlich das Verstehen von Sein, die Ontologie. Die
menschliche Existenz im Sinne einer Bestimmung interessiert Hei­
degger nur insofern, als sie diese Ontologie vollzieht. Heidegger
bricht also genau in dem Maße mit der Theologie, wie er das Onti­
sche und das Ontologische voneinander unterscheidet (und zwar mit
einem Radikalismus, der in der Geschichte der Philosophie ohneglei­
chen ist) und wie sich die fundamentale Transzendenz für ihn nicht
i Übergang von einem »Seienden« zu einem anderen »Seienden«,
m
sondern allein vom »Seienden« zum Sein selbst vollzieht.
Diese Unterscheidung vor Augen, muss man also sagen, dass
Kierkegaard nicht darum ein Theologe bleibt, weil er das Transzen­
dente mit Gott und nicht mit der Natur oder dem Teufel gleichge­
setzt hat, sondern weil er die Transzendenz selbst im Sinne des Kon­
takts mit einem »Seienden« verstanden hat. Wenn Heidegger auf
eine jenseitige Welt verzichtet, dann nicht, weil das jenseits uner­
kennbar oder »theologischer« als diese Welt wäre, sondern weil die
Unterscheidung selbst zwischen dem Jenseits und dieser Welt eine
ontische und der ontologischen Frage untergeordnete ist. Kann man
behaupten, dass Heidegger aus der Sünde einen »Fall in den Herr­
schaftsbereich der anonymen Masse« macht? Ist er nicht vielmehr
auf der Suche nach der ontologischen Bedingung dieses Falls, der in
der Tat ein ontischer ist und von dem die Erbsünde nur eine beson-

90
Ein Brief Jean Wahl betreffend

dere Möglichkeit darstellt (Sein und Zeit, S. 306, Anm.)? Heidegger


geht es immer darum, die ontologischen Bedingungen verschiedener
Situationen der tatsächlichen Existenz ausfindig zu machen und vom
ontischen und existenziellen zu einem ontologischen und existenzia­
len Verstehen zu gelangen. Darin jedenfalls sieht er das Eigentliche
seiner philosophischen Entdeckung. Kierkegaard habe es nicht ver­
standen, so Heidegger (Sein und Zeit, S. 235, Anm.), die Problematik
der Existenz als eine existenziale (im Gegensatz zu einer existenziel­
len) zu begreifen, weil ihm die eigentliche Perspektive der Ontologie
fremd geblieben sei

91
V

Ein Beitrag zu Jean Wahls Buch


Kleine Geschichte des Existentialismus

Ich würde gerne auf zwei Fragen zurückkommen, die Jean Wahl ge­
stellt hat. Die erste betrifft die Definition von Existentialismus. Die
zweite bezieht sich auf seine Überlegungen, die er zum Begriff des
Todes angestellt hat: Warum soll das Nachdenken über den Tod auf­
schlussreicher sein als das Nachdenken über das Leben? - Ein Ein­
wand, den man von verschiedenen Seiten häufig zu hören bekommt
und den ich auch nicht zurückweisen will, um mich einfach Heideg­
ger anzuschließen, sondern den ich gerne aufgreifen möchte, um
Heidegger näher zu erläutern.
Die Verbindung zwischen beiden Fragen, die ich hier kurz strei­
fen will, ist anderswo zu suchen.
Sie [J. Wahl] haben aber noch eine dritte Frage gestellt: Wer ist
Existentialist? Und Sie haben überall Existentialisten ausfindig ma­
chen können. Es gibt einen Existentialismus jenseits von Kierkegaard
und Pascal, bei Shakespeare und sogar bis hin zu Sokrates. Überall
und nirgendwo, denn jeder wehrt sich dagegen, ein Existentialist zu
sein. Das ist es, was Husserl die zweite Stufe in der Verbreitung einer
neuen Lehre genannt hat. Auf der ersten schreit man: »Das ist ja
absurd!« Auf der zweiten ist man empört: »Aber das wurde ja immer
schon so gedacht!« Dann gibt es eine dritte Stufe, auf der die Lehre in
ihrer tatsächlichen Originalität zur Kenntnis genommen wird. Zum
Glück endet diese Vervielfältigung einer neuen Lehre in die Vergan­
genheit hinein mit ihrer eigenen Negation. Wir müssen daher viel­
leicht anerkennen, dass es nur einen einzigen Existentialisten oder
Existenzphilosophen gibt - und dieser eine Existentialist ist nicht
Kierkegaard, Nietzsche oder Sokrates, ja er findet sich nicht einmal
unter den Nachfolgern Heideggers, trotz der vielen Talente, die es
unter ihnen gibt. Es ist Heidegger selbst, also derjenige, der diese
Bezeichnung von sich weist.
Warum? Weil das metaphysische Werk Heideggers das Licht in
die Dunkelheit der Vergangenheit gebracht hat, durch das wir den

93
Ein Beitrag zu Jean Wahls Buch

Existentialismus, der sich, wie es scheint, in ihr verborgen hatte, dort


überha�1pt erst entdecken können. Das gilt selbst noch für Kierke­
gaard. Es ist durchaus möglich, dass in jedem Satz Heideggers auch
Kierkegaard zu hören ist; aber erst durch Heidegger haben die Inhalte
der kierkegaardschen Lehre allererst ihren philosophischen Klang er­
halten, obwohl sie in Deutschland schon sehr gut bekannt waren, und
sogar in Frankreich, wo ihnen Henri Delacroix und Victor Basch be­
reits Anfang des Jahrhunderts verschiedene Sn1dien gewidmet hat­
ten. Ich will damit sagen, dass Kierkegaard vor der Zeit Heideggers
den Bereichen der Essayistik, Psychologie, Ästhetik, Theologie oder
Literatur zugerechnet wurde; erst nach Heidegger wurde er als Phi­
losoph rezipiert.
Worin bestand dieser Wandel, diese Leistung Heideggers?
Sie bestanden darin, die Gedanken, die man als pathetisch be­
zeichnen kann und die in der Tat mehr oder weniger überall quer
durch die Geschichte hindurch zu finden sind, an jene Referenzpunk­
te zurückzubinden, von denen- trotz des Misskredits, in den sie auf­
grund des offiziellen Status, den sie erlangt haben, geraten sind -
eine außergewöhnliche intellektuelle Kraft ausgeht und die die
Grundkategorien so bedeutender Philosophen wie Platon, Aristote­
les, Kant, Hege! usw. sind. Heidegger hat die pathetischen Gedanken
auf die Kategorien von Professoren zurückgeführt.
Um einen Zugang zu Heideggers Denken zu finden, genügt es
übrigens nicht, die systematische Kohärenz seiner Gedanken auf­
zuzeigen, die Art und Weise, wie die Begriffe, die mittlerweile schon
in den Straßen und Cafes die Runde machen - die Angst, der Tod, die
Verlassenheit, die Ekstasen der Zeit usw. -, miteinander verknüpft
sind. Wir müssen vielmehr auf die Kategorien zurückgehen - auf
das immer neue Licht, das von diesen intellektuellen Mythen aus­
geht - und uns fragen, worin die Grundkategorie des heideggerschen
Existentialismus besteht, die ihr ganz eigenes Licht auf all diese Be­
griffe wirft, mit denen die Existentialisten den Menschen beschrei­
ben, und durch die diese alten Begriffe in eine neue Philosophie ver­
wandelt werden.
Nun, ich denke, dass das Neue und philosophisch »Prickelnde«,
das von Heideggers Philosophie ausgeht, darin liegt, Sein und Seien­
des zu unterscheiden und die Relation, die Bewegung und die Wirk­
samkeit, die bislang im Seienden ihren Ort hatten, in das Sein selbst
zu verlegen. Existentialismus bedeutet, die Existenz - das Sein als
verbales Geschehen - als Ereignis wirklich zu spüren und zu denken.

94
Ein Beitrag zu jean Wahls Buch

Ein Ereignis, das nicht dasjenige, was existiert, hervorbri ngt, und
nicht das Einwirken von etwas Existierendem auf ein anderes Objekt
meint. Das Ereignis ist die nackte Tatsache des Existierens, nichts
anderes. Die Tatsache des Existierens, die bis dahin als etwas Ein­
faches, Harmloses und Unspektakuläres betrachtet wurde, als ein
Existieren, das gemäß dem aristotelischen Begriff des Aktes inmitten
all der Abenteuer, die ein Seiendes zu bestehen h atte , dennoch ruhig
und sich selbst gleich blieb, das allem Seienden gegenüber transzen­
dent und doch nie das Ereignis selbst des Transzendierens war - diese
Tatsache des Existierens erscheint mit dem Existentia lis mus plötzlich
als das Abenteuer selbst, he rrscht über die Geschichte selbst, artiku­
liert sich in jedem Augenblick n eu.
Wenn Heidegger vom ln-der- Welt-sein oder Sein zum Tode
oder Mitsein spricht, dann fügt er unserem j ahrtausendealt en Wis­
sen um unsere Anwesenheit in der Welt, unsere Sterblichkeit und
u nsere Sozialität eben dies hinzu: dass diese Präpositionen in, zum
und mit b ere its in der Wurzel des Verbs sein liege n (so wie ex bereits
in der Wurzel von existier en liegt); dass wir, die wir S eiend e sind und
unter best immten Bedingungen existieren, diese Präpositionen nicht
in unserer Hand haben; dass sie nicht einmal mathematisch, im
strengen Sinne Husserls, in unserer Natur oder unserem Wesen als
Seiende enthalten sind; dass sie weder zufällige noch notwe ndg i e At­
tribute unserer Substanz sind, sondern dass sich in ihnen das ange b­
lich ruhige, einfache und sich selbst gleiche Ereignis des Seins selbst
zusp richt . Der Existentialismus, so kann man also sagen, besteht da­
rin, dass er das Verb sein als ein transitives empfind et und denkt.
Wenn Sartre in seinen Romanen - ich habe Das Sein und das
Nichts noch nicht ge lesen - das Wort sein kursiv setzt, oder wenn er
das Wörtchen bin in »ich bin dieser Schmerz« oder »ich bin dieses
Nichts« hervorheb t, dann ist genau diese Transitivität des Verbs sein
gemeint, die damit herausgestellt werden soll.
Es gibt, kurz gesagt, in der existentialistischen Philosophie keine
Kopula mehr. Die Kop ula bringen nun das Ereignis des Seins selbst
zum Ausdruck.
Ich denke, dass ein gewisser Gebrauch des Verbs sein - was nicht
heißen soll, dass ich dem Sein eine ausschließlich verbale Bedeutung
zusprechen will -, der dieser Transitivität entspricht, für den Exis­
tentialismus charakteristischer ist als die Beschwörung von Ekstasen,
Sorge und Tod, die als solche genauso gut niet zscheanisc h oder
christlich wie ex iste n ti ali stisch sein können .

95
Ein Beitrag zu Jean Wahls Buch

Aber würden nicht auch die Kategorien Potenz tmd Akt zur
Charakterisierung dieses neuen Begriffs der Existenz genügen? Be­
vor die Existenz in einen Akt umschlägt, befindet sie sich da nicht in
einem Stadium, in dem sie nichts anderes ist als die Potenz dieses
Ereignisses des Umschlags?
Ich glaube nicht - und das bietet mir die Gelegenheit, auf die
zweite Frage von Jean Wahl zu antworten: Warum hat Heidegger
z. B. den Tod und nicht die Hoffnung gewählt, um die Existenz zu
charakterisieren?
Eine Potenz, die in einen Akt übergeht, ist das Geringste »im
Verhältnis zu« jener whigen Existenz, dje ganz im Besitz ihrer selbst
ist und sich außerhalb der Existenz und der Ereignisse situiert. Ihre
Existenz besteht daher auch in nichts anderem als in ihrer Verwirk­
lichung, in dem ständigen Verlust dessen, was aus ihr eine einfache
Möglichkeit macht. Die Verwirklichung der Potenz ist das Ereignis
einer Neutralisierung.
Damit die Potenz auch wirklich das Sein konstituieren und das
Sein auch tatsächlich Ereignis werden kann, muss sich diese Potenz
anders definieren als durch den Bezug auf einen Akt; sie muss also
außerhalb der Finalität situiert werden. Das Ereignis der Existenz
muss etwas anderes sein als die Verwirklichung eines wie auch im­
mer vorgegebenen Ziels. Heidegger sagt: Ein solches Ereignis ist der
Tod. Die Möglichkeit des Todes zu verwirklichen, das heißt nichts
anderes, als die Unmöglichkeit jeder Verwirklichung zu verwirk­
lichen - im Möglichen als solchen sein und nicht in einem Mögli­
chen, das »Abbild einer unbewegten Ewigkeit« ist! Man könnte auch
sagen, dass, um im Möglichen zu sein, Heidegger die Finalität durch
den Bezug auf ein Ende (im alltäglichen Sinne des Begriffs und nicht
im Sinne eines Ziels) ersetzt.
Heidegger will an einer Möglichkeit festhalten, die nicht die
Konsequenz oder der Vorläufer einer Verwirklichung ist, und daher
löst er den Begriff der Möglichkeit vom Begriff des Aktes ab. Nur so
kann die Möglichkeit immer eine Möglichkeit bleiben; in dem Mo­
ment, wo sie als solche erschöpft ist, bedeutet dies dann auch den Tod.
Es ist also der Begriff des Todes, der es erlaubt, die Möglichkeit als
Möglichkeit zu denken und zu ergreifen: Als Ereignis der Existenz
gehört er mit in diese Grundeinsicht Heideggers. Ich weiß nicht, ob
Sie damit einverstanden sind.
Die Existenz vollzieht sich in der Weise, dass sich das Sein be­
reits auf den Tod bezieht, und diese Weise, sich auf den Tod zu bezie-

96
Ein Beitrag zu Jean Wahls Buch

hen, ist für Heidegger die Möglichkeit par excellence. Während alle
anderen Möglichkeiten sich verwirklichen und zu Akten werden,
wird der Tod zur Nicht-Wirklichkeit, dem Nicht-Sein schlechthin.
Und genau dies ist gemeint, wenn Heidegger sagt, dass der Tod die
Möglichkeit der Unmöglichkeit ist.

97
Sartre, der Existentialismus,
die Geschichte
VI

Existentialismus und Antisemitismus

Jean-Paul Sartre hat in seinem Vortrag, den er am 3. Juni im Che­


miesaal der Universität unter der Schirmherrschaft der Alliance is­
raelite universelle gehalten hat, seine grundsätzlichen Gedanken zur
Judenfrage noch einmal aufgegriffen. In den Cahiers wurden dann
umfangreiche Auszüge daraus veröffentlicht. Durch Sartres neueste
Publikation, Betrachtungen zur ]udenfrage, und den Anklang, den
dieses Buch in der jüdischen Presse gefunden hatte, war das Publi­
kum sicherlich auf diesen Abend vorbereitet, aber die eigentliche At­
traktion war natürlich der Vortragende selbst. Seine Gegenwart hat
den gedruckten Seiten einen unverwechselbaren Akzent hinzuge­
fügt.
Es ist natürlich für einen Juden - mag er nun ein echter Jude sein
oder nicht - sehr erfreulich, von einem Mann mit den Fähigkeiten
und dem Format eines Sartre so wohltuende Wahrheiten zu verneh­
men und zugleich zu wissen, dass diese nicht als bloße Schmeichelei­
en gemeint waren. Man bleibt nicht unberührt davon, zu hören, wie
der Antisemitismus auf seine metaphysische Bedeutung zurück­
geführt wird und wie einem der tägliche Kampf plötzlich als ein
Kampf mit dem Bösen selbst vor Augen geführt wird. Wir haben
das alle schon seit langem geahnt, kannten aber nie die wirklichen
Gründe dafür, zumindest nicht in dieser Klarheit.
Natürlich weiß ich, dass die Auffassung Sartres, insofern sie das
jüdische Schicksal in erster Linie aus der Abhängigkeit vom Antise­
mitismus heraus bestimmt, enttäuschend sein kann. Etwas umständ­
licher, aber doch in aller Offenheit hatten das auch all jene schon
gesagt, die ihr Judentum nicht von den Antisemiten herleiten wollen,
auch wenn es schwer vorstellbar ist, dass das jüdische Bewusstsein
nichts zu tun haben sollte mit der tatsächlichen Situation des Juden­
tums und sein metaphysisches Wesen von seinem historischen Sein
unterschieden werden müsste. Aber ich will hier nicht weiter auf die
Philosophie des Judentums eingehen, die mit dieser Beobachtung in

101
Existent.ialismus und Antisemitismus

den Blick gerät. Für aH jene, die der Antisemitismus schon seit lan­
gem begleitet, findet sich in dem Vortrag Sartres noch etwas anderes
als nur die Thesen und Schlussfolgerungen.
Das, was in dem von Sartre geführten Kampf am meisten auf­
fällt, ist weniger der Sieg, den er davonträgt, als vielmehr die Waffen,
die er einsetzt. Diese sind völlig neuartig. Der Antisemitismus wird
mit existentialistischen Argumenten angegriffen. Und dies ist nicht
nur für diejenigen ein Ereignis, die im Cafe de Flore ein- und aus­
gehen. Wenn man sich bewusst macht, dass der Existentialismus
mehr ist als nur eine Modeströmung innerhalb der Philosophie und
es ihm in seinem Wesen - in einem sehr weiten Sinne verstanden ­
um die ganz aUgemeine Struktur der modernen Welt und die Angst

in ihr geht, dann zeigt sich, dass Sartres Betrachtungen die Judenfra­
ge aus den überholten Horizonten, in die sie häufig gestellt wird,
herauslösen und auf eine Stufe heben, die tatsächlich auch der wah­
ren, schrecklichen und aufgewühlten Geschichte des 20. Jahrhun­
derts entspricht. Nun ist Schluss mit dem Anachronismus.
Wie wurde bislang die Frage der Judenemanzipation angegan­
gen? Sartre selbst hat es ganz richtig gesagt: Sie ging einher mit einer
analytischen Betrachtungsweise der Gesellschaft. Die menschliche
Person gilt als unabhängig von ihrem Milieu, ihrer Geburt, ihrer
Rehgion, ihren sozialen Bedingungen. Als geistiges Atom gehe sie
zwar verschiedene Verbindungen ein, bewahre aber ihre Würde als
Person, gleich der Würde aller anderen Personen und mit unver­
äußerlichen und heiligen Rechten ausgestattet. Und im Namen die­
ser Unabhängigkeit war dann auch jede antisemitische Voreinge­
nommenheit zu verurteilen. Diese Auffassung rührt zwar aus der
jüdisch-christlichen Tradition hex; aber sie stellt noch das Denken
der Gegenwart dar - gefasst in die Begrifflichkeit des Rationalismus
des 17. und 18. Jahrhunderts.
Wenn der Mensch tatsächlich unbeeinflusst von den besonderen
Umständen seiner konkreten Situation bleiben sollte, so müssten alle
seine Bindungen zur Welt letztlich solche sein, die allein auf der Er­
kenntnis beruhen. Ich bin mir all dessen, was mir widerfährt, be­
wusst, und deshalb bin ich auch bereits außerhalb dessen, was mir
widerfährt. Es gibt für mich keine besondere Situation, weil jede Si­
tuation von vornherein durch mein Denken erhellt ist und ich genau
dadurch schon außerhalb dieser Situation stehe. Das Irrationale, das
Rätselhafte, das Gesellschaftliche, das Geschichtliche, das Materielle
- dies alles sind streng genommen unbekannte Größen, die aber in

102
Existentialismus und Antisemitismus

Begriffe der Erkenntnis übersetzt und mit den Gewichten des Wis­
sens abgewogen worden sind: unklare Gedanken, aber doch Gedan­
ken.
Dem setzt nun die moderne Welt ein zutiefst anticartesianisches
und antispinozistisches Gefühl gegenüber. Das menschliche Denken
wird durch geschichtliche, gesellschaftliche und ökonomische Phäno­
mene geformt. Wir sind in ihnen verwurzelt, aber unsere Wurzeln
sind nicht die Gedanken. In einem Bericht, den die UNESCO kürzlich
zur Vorbereitung eines Gutachtens für die UNO zu Fragen der Men­
schenrechte an die Philosophen verschickte, wird nachdrücklich auf
eine Art Antinomie verwiesen, in welche die Vernunft gerät, wenn
sie versucht, die Menschenrechte genauer zu präzisieren: Die Freiheit
der Person lässt sich nicht ohne die ökonomische Befreiung begrei­
fen, aber der Weg hin zu dieser ökonomischen Freiheit ist ohne eine
zeitweise- gleichwohl in ihrer Dauer unbestimmt bleibende - Unter­
drückung der moralischen Person nicht möglich.
Die gesamte Philosophie Sartres ist nichts anderes als ein Ver­
such, den Menschen so zu denken, dass in seine Geistigkeit auch
seine geschichtliche, ökonomische und gesellschaftliche Situation
mit hineingenommen ist, ohne sie darum auch schon zu einem blo­
ßen Gegenstand des Denkens zu machen. Sie gesteht dem Geist ein
Engagement zu, das kein Wissen ist. Einsätze des Denkens, die keine
Gedanken sind- das ist der Existentialismus!
Weil aber der Existentialismus erstmals in der Geschichte das
intellektuelle Instrumentarium dafür liefert, dieses Engagement an­
ders als in seiner bloßen Materialität zu begreifen, vermag er auch
dem Antisemitismus entgegenzutreten. Bislang war es so, dass dieje­
nigen Denker, die die Unabhängigkeit des Menschen von seiner kon­
kreten Situation geleugnet hatten, ihm auch die Menschenrechte
streitig machten und sich offen zum Antisemitismus bekannten. All
diese Historiker, die eine Art Zugehörigkeit propagieren, Leute \-vie
Maurras, Alphanse de Chateaubriant, Giono und La Varende, die
»Blut und Boden«-Dichter und Gewalt-Verherrliche r - all diese Epi­
gonen Nietzsches hatten leichtes SpieL Eine gequälte und aus dem
Gleichgewicht gebrachte Welt verlieh ihnen ihre Autorität, selbst
dann noch, als sie sich von ihnen vorsichtig distanzierte oder auch
vor Blutvergießen nicht zurückschreckte, um sie zum Schweigen zu
bringen.
Bis dahin suchten die Verfolgten Schutz bei Descartes oder Spi­
noza, doch vergeblich, denn auch sie wurden von einer Zivilisation

103
Existentialismus und Antisemitismus

überrollt, in der plötzlich ganz unerwartete Verbindungen zum Vor­


schein kamen. Man wagte es nicht, sich von ihren Wahrheiten abzu­
wenden, die als das eigentliche Wesen des Humanismus galten. Die
Existenz eines existentialistischen Humanismus, der jeden Dogma ­
tismus, und mag er noch so modern sein, beiseite lässt, d. h. eines
Humanismus, der die grundlegenden Erfahrungen der heutigen Welt
in sich vereint - das ist der eigentliche Beitrag Sanres für unsere
Sache, ür
f die Sache des Menschen.

104
VII

Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Kunst und Kritik

Es gilt im Allgemeinen als ein Dogma, dass die Funktion der Kunst
darin bestehe, etwas zum Ausdruck zu bringen, und dass der künst­
lerische Ausdruck auf einer Erkenntnis beruht. Der Künstler sagt
etwas: selbst der Maler, selbst der Musiker. Er sagt das Unaussprech­
liche. Das Werk erweitert die gewöhnliche Wahrnehmung und über­
schreitet sie. Was diese banalisiert und somit verfehlt, wird durch
jenes, da es einer metaphysischen Intuition gleichkommt, in seinem
irreduziblen Wesen erfasst. Wo die alltägliche Sprache ihr Scheitern
eingestehen muss, spricht das Gedicht oder das Gemälde. Im Werk,
das wirklicher ist als die Wirklichkeit, bezeugt sich also die Würde
der künstlerischen Phantasie, die sich zu einem absoluten Wissen
erhebt. Auch wenn der Realismus als ästhetischer Kanon in Verruf
geraten ist, so hat er doch keineswegs an Geltung verloren. Tatsäch­
lich schwört man ihm nur um eines höheren Realismus willen ab.
Surrealismus ist ein Superlativ.
Die Kritik selbst bekennt sich zu diesem Dogma. Mit dem gan­
zen Ernst einer Wissenschaft nimmt sie teil am Spiel des Künstlers
und stellt anhand der Kunstwerke Forschungen an über Psychologie,
Charaktereigenschaften, Milieus und Landschaften - als ob sich bei
einem ästhetischen Ereignis der durch den visionären Blick des
Künstlers erfasste Gegenstand durch das Mikroskop - oder Teleskop
- auch der Neugier des Forschers ausliefern würde. Dennoch scheint
die Kritik eine parasitäre Existenz an der Seite einer Kunst zu führen,
die als schwer verständlich gilt. Sie sucht den Untergrund der Wirk­
lichkeit, der dem begrifflichen Denken unzugänglich bleibt, nach
Beute ab. Oder sie setzt sich gleich selbst an die Stelle der Kunst.
Mallarme zu interpretieren, hieße dies nicht auch schon, ihn zu ver­
raten ? Ihn aber in einer Weise zu interpretieren, die ihm gerecht
würde, hieße das nicht, ihn als Dichter überflüssig zu machen? Das

105
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

klar zu sagen, was er nur dunkel sagt, würde also nur bedeuten, die
Dunkelheit seiner Art zu reden als eine Eitelkeit zu enthüllen.
Die Kritik als eine vom literarischen Leben unterschiedene
Funktion, die Kritik der Fachleute und Experten, wie sie sich als ei­
gene Rubrik in Zeitungen, in Zeitschriften oder in Form von Büchern
manifestiert, kann einem tatsächlich verdächtig oder überflüssig vor­
kommen. Aber sie hat ihren Ursprung in den Köpfen der Hörer, der
Betrachter und der Leser; es gibt die Kritik als eigene Verhaltens- und
Reaktionsweise des Publikums selbst. Das Publikum begnügt sich
nicht damit, sich nur dem ästhetischen Genuss hinzugeben, sondern
es hat auch ein unwiderstehliches Bedürfnis, selbst zu sprechen.
Wenn es auf Seiten des Publikums also noch etwas dazu zu sagen
gibt, der Künstler sich aber weigert, über sein Werk noch etwas an­
deres zu sagen, als das, was dieses Werk selbst - das man nicht ein­
fach schweigend betrachten kann - von sich aus sagt, dann liegt darin
auch schon die Rechtfertigung für den Kritiker. Ein Kritiker lässt sich
folglich als jemand definieren, der immer noch etwas zu sagen hat,
auch wenn schon alles gesagt ist; er kann über das Werk noch etwas
anderes sagen als dieses Werk selbst.
Man hat also das Recht, sich zu fragen, ob der Künstler wahrhaft
versteht und spricht. In einem Vorwort oder einem Manifest - sicher­
lich; aber er ist dann selbst schon ein Teil des Publikums. Wenn die
Kunst ursprünglich weder Sprache noch Erkenntnis wäre - wenn sie
sich dadurch also außerhalb des »In-der-Welt-seins« und seiner Be­
zogenheit auf die Wahrheit situieren würde -, dann wäre die Kritik
bereits rehabihtiert. Sie würde die Intervention des Verstandes mar­
kieren, die notwendig wäre, um die Kunst in ihrer Unmenschlichkeit
und Verkehrung in das menschliche Leben und den menschlichen
Geist zu integrieren .
Vielleicht kann ja die Tendenz, das Phänomen der Ästhetik an­
hand literarischer Werke zu erfassen - also da, wo das Material des
Künstlers aus Worten besteht- das zeitgenössische Dogma erklären,
dass die Kunst zur Erkenntnis führe. Nicht immer macht man sich
dabei die Transformation klar, welche das Wort durch die Literatur
erfährt. Die Kunst als Wort, die Kunst als Erkenntnis führt zur Frage
nach der engagierten Kunst, die sich mit der nach einer engagierten
Literatur vermischt. Unterschätzt wird dabei der Aspekt der Voll­
endung, das unauslöschliche Siegel der künstlerischen Produktion,
durch das ein Werk wesenhaft ungebunden bleibt; der höchste Au­
genblick, in dem der letzte Pinselstrich gezogen wird, in dem es kein

106
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Wort mehr hinzuzufügen noch aus dem Text zu streichen gilt und
durch den jedes Werk ein klassisches ist. Eine Form der Vollendung,
die sich von der schlichten Unterbrechung unterscheidet, die der
Sprache sowie den Werken der Natur und der Industrie ihre Grenzen
setzt. Es wäre ferner zu fragen, ob man nicht auch dem handwerklich
hergestellten Werk ein künstlerisches Element zusprechen müsste, ja
jedem menschlichen Werk, sei es im Bereich des Kommerzes oder der
Diplomatie, sofern es nicht nur mit seinem vorgegebenen Zweck in
Einklang steht, sondern Zeugnis ablegt für die Einheit mit einer wie
auch immer gearteten Bestimmung, die außerhalb des bloßen Laufs
der Dinge liegt und die es jenseits der Welt verortet, wie die für
immer vollendete Vergangenheit der Ruinen, wie die Fremdheit des
Exotischen, die nie zu begreifen ist. Der Künstler schließt sein Werk
ab, weil dieses sich weigert, noch mehr in sich aufzunehmen, weil es
gesättigt erscheint. Das Werk gelangt zur Vollendung trotz der ge­
sellschaftlichen oder materiellen Ursachen seiner Unterbrechung. Es
gibt sich nicht dafür her, einen Dialog zu eröffnen.
Diese Vollendung rechtfertigt aber nicht notwendigerweise die
akademische Ästhetik des l'art pour l'art. Ein Ausdruck, der schon
deshalb falsch ist, weil er die Kunst über die Realität stellt und keinen
Herrn über ihr anerkennt. Und ein Ausdruck, der zugleich auch un­
moralisch ist, weil er den Künstler von seinen Pflichten als Mensch
entbindet und ihm eine Würde verleiht, die nur eingebildet und äu­
ßerlich ist. Kein Werk wäre ein Kunstwerk, wenn es nicht durch diese
formale Struktur der Vollendung ausgezeichnet und dadurch nicht
zumindest auch u.ngebunden wäre. Nur muss man sich über den
Wert dieser Ungebundenheit verständigen und vor allem darüber,
was sie bedeutet. Heißt sich aus der Welt herauszulösen tatsächlich
immer auf ein jenseits zuzttgehen, in Richtung der Region plato­
nischer Ideen und des Ewigen, die die Welt beherrschen ? Kann man
nicht auch von einer Herauslösung in Richtung auf ein Diesseits
sprechen? Von einer Unterbrechung der Zeit in einer Bewegung, die
ins Diesseits der Zeit verläuft, in ihre »Zwischenräume« ?
Sich auf ein Jenseits hinzubewegen bedeutet, sich mit den Ideen
in Verbindung zu setzen, bedeutet also zu verstehen. Besteht die
Funktion der Kunst aber nicht gerade darin, nicht zu verstehen? Liegt
nicht gerade in der Dunkelheit ihr eigentliches Element, ihre Voll­
endung sui generis, die der Dialektik und dem Leben der Ideen ge­
genüber fremd ist ? - Wird man folglich also sagen können, dass der
Künstler eben die Dunkelheit des Wirklichen kennt und zum Aus-

107
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

druck bringt? Damit ist aber schon eine viel grundsätzlichere Frage
aufgeworfen, der sich auch die hier dargelegten Überlegungen zur
Kunst unterordnen müssen: Worin besteht die Nicht-Wahrheit des
Seins? Bestimmt sich diese immer nur in ihrem Bezug auf die Wahr­
heit, sozusagen wie ein ausstehender Rest, den es noch zu verstehen
gilt? Werden im Umgang mit dem Dunklen als einem völlig unab­
hängigen ontologischen Ereignis nicht Kategorien umschrieben, die
sich auf jene der Erkenntnis gar nicht reduzieren lassen? Dieses Er­
eignis in der Kunst möchten wir aufzeigen. Die Kunst erkennt nicht
einen bestimmten Typ von Wirklichkeit, sie hebt sich vielmehr
scharf von der Erkenntnis ab. Sie ist das Ereignis der Verdunkelung
selbst, ein Einbruch der Nacht, eine Ausbreitung der Schatten. Die
Kunst gehört nicht in die Ordnung der Offenbarung, um dies in der
Sprache der Theologie auszudrücken, die es erlaubt, eine - wenn
auch nur ungefähre - Grenze zu ziehen zwischen den Ideen und den
gewöhnlichen Begriffen. Und sie gehört übrigens auch nicht in die
Ordnung der Schöpfung, deren Bewegung genau in eine entgegen­
gesetzte Richtung verläuft.

Das Imaginäre, das Fühlbare, das Musikalische

Die elementarste Vergehensweise der Kunst besteht darin, den Ge­


genstand durch sein Bild zu ersetzen: Bild und eben nicht Begriff. Der
Begriff ist der erfasste Gegenstand als verstandener Gegenstand. Wir
treten bereits durch das bloße Handeln mit dem wirldichen Gegen­
stand in eine lebendige Beziehung ein, erfassen und begreifen ihn.
Das Bild hingegen neutralisiert diese reale Beziehung, diese ur­
sprüngliche Auffassung des Aktes. Die berühmte Interesselosigkeit
künstlerischer Anschauung- bei der übrigens die gewöhnliche Ana­
lyse der Ästhetik stehen bleibt - bedeutet in erster Linie eine Blind­
heit gegenüber den Begriffen.
Aber die Interesselosigkeit des Künstlers verdient diesen Namen
kaum, denn sie schließt genau die Freiheit aus, die in der Interesselo­
sigkeit als Begriff impliziert ist. Sie schließt streng genommen auch
die Unterwerfung aus, die Freiheit voraussetzt. Das Bild bringt nicht
wie die wissenschaftliche Erkenntnis und die Wahrheit einen Begriff
hervor - es verträgt sich auch nicht mit dem »Sein-lassen« Heideg­
gers, in dem sich die Umwandlung von Objektivität in ein Möglich­
sein vollzieht. Das Bild verweist nicht auf etwas, das in uns seinen

108
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Ursprung hat, sondern vielmehr auf etwas, das uns beherrscht: eine
tiefe Passivität. Man sagt, der inspirierte und von seiner Kunst be­
sessene Künstler lausche einer Muse. Das Bild ist musikalisch. Eine
Passivität, die unmittelbar in der Magie, im Gesang, der Musik und
der Dichtung sichtbar wird. Die außergewöhnliche Struktur der äs­
thetischen Existenz bringt diesen eigenartigen Ausdruck der Magie
ins Spiel, der es uns erlauben wird, den etwas abgenutzten Begriff der
Passivität zu präzisieren und zu konkretisieren.
Die Idee des Rhythmus, welche in der Kunstkritik so häufig be­
schworen wird, gibt, auch wenn sie nur vage bleibt und in ihrer sug­
gestiven Kraft für alles Mögliche tauglich Zl-1 sein scheint, einen Hin­
weis auf die Art und Weise, wie uns die Ordnung des Poetischen
selbst - und nicht etwa ein inneres Gesetz dieser Ordnung- affiziert.
Aus der Wirklichkeit lösen sich geschlossene Einheiten heraus, deren
Elemente wechselseitig aufeinander verweisen wie die Silben eines
Verses. Aber sie verweisen nur deshalb aufeinander, weil sie uns zu­
gleich in ihren Bann ziehen. Aber sie ziehen uns in ihren Bann, ohne
dass wir sie uns zu Eigen machen würden. Oder vielmehr, unsere
Zustimmung zu ihnen verkehrt sich in eine Partizipation. Ob sie in
uns oder wir in sie eintauchen, spielt keine Rolle. Der Rhythmus
stellt die einzigartige Situation dar, in der wir nicht von Bejahung,
Zustimmung, Initiative oder Freiheit sprechen können - weil das
Subjekt in ihm ergriffen und fortgetragen wird. Das Subjekt ist hier
Teil seiner eigenen Repräsentation. Und nicht einmal gegen seinen
Willen, da es im Rhythmus kein Selbst mehr gibt, sondern eher so
etwas wie einen Obergang vom Selbst in die Anonymität. Genau
darin liegen der Zauber und die Verlockung von Dichtung und Mu­
sik. Sie bringen einen Seinsmodus zum Ausdruck, auf den sich weder
die Form des Bewussten - weil das Ich hier auf sein Vorrecht des
Auf-sich-Nehmens und auf sein Können verzichtet - noch die Form
des Unbewussten - weil hier die ganze Situation und all ihre Erschei­
nungsweisen in einer dunklen Klarheit gegenwärtig sind - anwenden
lässt. Ein Wachtraum. In dieser Klarheit finden weder Gewohnheit
noch Reflex noch Instinkt einen Platz. Der besondere Automatismus
des Schritts oder des Tanzes zum Klang der Musik ist ein Seins­
modus, in dem nichts unbewusst geschieht, sondern in dem das Be­
wusstsein, in seiner Freiheit gelähmt, spielt und ganz in dieses Spiel
versunken ist.
Der Musik wirklich zuzuhören hindert einen gewissermaßen
daran, zu tanzen und sich zu bewegen. Die Bewegung und die Gestik

109
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

spielen hier keine große Rolle. Hinsichtlich des Bildes wäre es daher
angemessene� eher von einem Interesse als von Interesselosigkeit zu
sprechen. Das Bild ist interessant nicht unter dem Gesichtspunkt der
Nützlichkeit, sondern weil es »mitreißend« ist. Interessant also in
einem etymologischen Sinne: mitten unter den Dingen sein, die doch
eigentlich nur den Rang von Objekten haben sollten. Dieses »Mitten
unter den Dingen«, das von Heideggers »ln-der-Welt-sein« zu unter­
scheiden ist, liegt dem Pathos der imaginären Welt des Traumes zu­
grunde: Das Subjekt ist mitten unter den Dingen, und zwar nicht nur
aufgrund seiner Seinsdichte, die ein »Hier« und »Irgendwo« verlangt
und seine Freiheit bewahrt; es ist als Ding mitten unter den Dingen
und nimmt gleichsam teil an dem Schauspiel, das außerhalb von ihm
stattfindet; dieses Außen aber ist nicht das Außen eines Körpers,
denn der Schmerz des handelnden Ich wird j a gerade von dem zu­
schauenden Ich empfunden, und zwar nicht in einer Art Mitgefühl.
In Wahrheit also ein Außen des Innersten. Es ist erstaunlich, dass die
phänomenologische Analyse nie versucht hat, sich dieses grund­
legenden Paradoxes des Rhythmus und des Traumes, das einen Be­
reich außerhalb des Bewussten und des Unbewussten beschreibt, an- ,
zunehmen, wohingegen die Ethnographie die Bedeutung aufgezeigt
hat, die diese Phänomene in allen ekstatischen Riten spielen. Er­
staunlich ist auch, dass man bei den Metaphern »ideo-motorischer«
Phänomene und den Untersuchungen über die Verlängerung von
Empfindungen in Handlungen stehen geblieben ist. Wir haben nun
gerade diese Umkehrung des Könnens in Partizipation im Blick,
wenn wir hier die Begriffe des Rhythmus und des Musikalischen ver­
wenden.
Diese müssen folglich aus dem Bereich der Tonkünste, in dem
sie ausschließlich Beachtung finden, herausgelöst und auf eine all­
gemeine ästhetische Kategorie zurückgeführt werden. Zweifellos
hat der Rhythmus seinen bevorzugten Ort in der Musik, denn in
diesem Element des Musikers findet eine Entbegrifflichung der
Wirklichkeit statt, und zwar in Reingestalt. Der Ton ist diejenige
Qualität, die vom Gegenstand am weitesten abgelöst ist. Die Verbin­
dung mit der Substanz, aus der er hervorgeht, hinterlässt keine Spu­
ren in seiner Qualität. Sein Klang ist unpersönlich. Selbst seine
Klangfarbe, die ein Verweis darauf ist, dass er zu einem Gegenstand
gehört, geht in seiner Qualität unter und behält nichts aus dieser
Beziehungsstruktur zurück. Und selbst wenn wir aufmerksam zuhö­
ren, erfassen wir nicht ein »Etwas«, sondern bleiben ohne Begriff:

110
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Die Musikalität bezieht sich von Natur aus auf den Ton. Und tatsäch­
lich ist unter all den Klassen von Bildern, die die traditionelle Psycho­
logie unterscheidet, das Lautbild dasjenige, welches aufs Engste mit
dem realen Ton verknüpft ist. Die Musikalität eines jeden Bildes he­
rauszustellen heißt nichts anderes, als im Bild seine Ablösung vom
Gegenstand zu erkennen, seine Unabhängigkeit von der Kategorie
der Substanz, die die Analysen unserer Lehrbücher der reinen Emp­
findung, d. h. der noch nicht in Wahrnehmung verwandelten Emp­
findung zuschreiben - also der adjektivischen Empfindung- und die
für die empirische Psychologie ein Grenzfall bleibt, ein bloß hypo­
thetisch Gegebenes.
Es ist, als ob die Empfindung, diese von allen so sehr gepriesene
Empfindung, die vom Begriff noch völlig unberührt und der Innen­
schau gänzlich entzogen ist, durch das Bild ans Tageslicht kommen
könnte. Die Empfindung ist nicht das, was auf dem Grunde der Wahr­
nehmung liegt, sondern sie hat eine eigene Funktion: Macht, die vom
Bild ausgeht - eine Funktion des Rhythmus. Das ln-der-Welt-sein, '
wie man heute sagt, ist eine Existenz, die sich an Begriffen orientiert.
Die Sensibilität tritt ihr gegenüber als ein ontologisches Ereignis ei­
gener Art in Erscheinung, findet aber ihre höchste Ausprägung nur
mit Hilfe der Einbildungskraft.
Wenn Kunst bedeutet, das Bild an die Stelle des Seins zu setzen,
dann liegt das Grundelement der Ästhetik, entsprechend ihrer Ety­
mologie, in der Empfindung. Das Ganze unserer Welt in all ihren
Gegebenheiten - seien diese elementar da oder auf höchst geistige
Weise bearbeitet - kann uns musikalisch anrühren, zu einem Bild
werden. Daher ist auch die klassische Kunst, die dem Gegenstand
verhaftet ist, d. h. all die Gemälde und Skulpturen, die etwas ver­
gegenwärtigen, und all die Gedichte, die die Syntax und die Zeichen­
setzung noch anerkennen, nicht weniger am wahren Wesen der
Kunst ausgerichtet als die modernen Kunstwerke, die von sich be­
haupten, reine Musik, reine Malerei oder reine Poesie zu sein, und
so tun, als verscheuchten sie die Gegenstände aus der Welt der Töne,
Farben und Wörter, in die sie uns einführen wollen; sie wollen uns
glauben machen, sie brächen mit der Repräsentation. Der vorgestell­
te Gegenstand verwandelt sich aufgrund der bloßen Tatsache, dass er
zu einem Bild wird, in einen Nicht-Gegenstand; das Bild als solches
findet Eingang in ursprüngliche Kategorien, die wir hier herausstel­
len möchten. Die Entleiblichung der Realität durch das Bild ent­
spricht nicht einer bloßen Abwertung dem Grade nach. Sie rührt

111
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

her aus einem ontologischen Bereich, der sich nicht zwischen uns und
einer Wirklichkeit, die es zu erfassen gilt, erstreckt, sondern dort, wo
der Umgang mit der Wirklichkeit ein Rhythmus ist.

Ähnlichkeit und Bild

Die Phänomenologie des Bildes beharrt auf seiner Transparenz: Die


Intention desjenigen, der das Bild betrachte, gehe auf direktem Wege
durch das Bild hindurch, wie durch ein Fenster, gehe in die Welt hi­
nein, die es repräsentiert, ziele aber auf einen Gegenstand. Nichts ist
hier übrigens rätselhafter als dieser Ausdruck »die Welt, die es reprä­
sentiert« - denn die Repräsentation drückt genau die Funktion des
Bildes aus, die es noch zu bestimmen gilt.
Eine Theorie der Transparenz, die entwickelt wurde als Reaktion
auf die Lehre von dem geistigen Bild - dem inneren Bild-, das die
Wahrnehmung eines Gegenstandes in uns zurücklasse. Unser Blick
geht in der Vorstellung also immer nach außen, aber die Vorstellung
modifiziert und neutralisiert zugleich auch diesen Blick: Die reale
Welt erscheint in ihr gewissermaßen in Klammern oder in Anfüh­
rungszeichen gesetzt. Die Aufgabe besteht nun darin, den Sinn dieser
Schreibweise genauer zu präzisieren. Die vorgestellte Welt würde
sich also als eine unwirkliche präsentieren - aber lässt sich über diese
Unwirklichkeit nicht noch mehr sagen?
Wodurch unterscheidet sich das Bild vom Symbol oder vom Zei­
chen oder vom Wort? Eben durch die Art und Weise, wie es sich auf
seinen Gegenstand bezieht: durch die Ähnlichkeit. Dies allerdings
setzt einen Stillstand des Gedankens über dem Bild selbst voraus
und folglich eine gewisse Eintrübung des Bildes. Das Zeichen hin­
gegen ist reine Transparenz und zählt eigentlich gar nicht. Muss
man also dann doch auf das Bild als unabhängige Realität zurück­
kommen, welches dem Original ähnelt? Nein, aber nur unter der
Bedingung, dass die Ähnlichkeit nicht als das Resultat eines Ver­
gleichs zwischen dem Bild und dem Original, sondern als die Bewe­
gung selbst verstanden wird, die das Bild hervorbringt. Die Wirklich­
keit wäre also nicht nur das, was sie ist, oder das, was sich in der
Wahrheit manifestiert, sondern immer auch ihr Doppel, ihr Schat­
ten, ihr Bild.
Das Sein ist nicht nur es selbst, es ist immer dabei, sich selbst zu
entweichen. Nehmen wir zum Beispiel eine Person, die das ist, was

112
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

sie ist; dennoch kann sie die Gegenstände, die sie festhält, nicht ver­
gessen machen, schlucken oder völlig verdecken, und auch nicht die
Art und Weise, wie sie sie festhält, ihre Gesten, ihre Gliedmaßen,
ihren Blick, ihre Gedanken, ihre Haut, die unter der Identität ihrer
Substanz entweichen und die diese, wie ein löchriger Sack, auch nicht
zurückhalten kann. Und so kommt es, dass dem Gesicht dieser Person
neben dem Sein, mit dem sie zusammenfällt, zugleich auch die eige­
ne Karikatur, das eigene pittoreske Abbild eingeschrieben ist. Das
Pittoreske hat immer auch etwas von einer Karikatur. Oder nehmen
wir ein alltägliches uns ganz vertrautes Ding, das schon eins gewor­
,

den ist mit der Hand, die sich an es gewöhnt hat-, dennoch aber
bleiben seine Eigenschaften, seine Farbe, seine Form und seine Lage
zugleich gewissermaßen hinter seinem Sein zurück, wie die »ausran­
gierten Kleider« einer Seele, die sich bereits aus diesem Ding zurück­
gezogen hat, wie in einem »Stillleben«. Und dennoch ist das alles die
Person, das Ding. Es gibt also in dieser Person, in diesem Ding eine
Dualität - eine Dualität, die in seinem Sein liegt. Es ist das, was es ist,
und zugleich sich selbst gegenüber fremd, und zwischen diesen bei­
den Momenten gibt es eine B eziehung. Wir können also sagen, dass
das Ding zugleich es selbst und sein Bild ist. Und dass diese Bezie­
hung zwischen dem Ding und seinem Bild die Ähnlichkeit ist.
Die Situation gleicht derjenigen in einer Fabel. Das Spezifische
einer Fabel liegt nämlich gerade darin, dass die Menschen, die in
Gestalt von Tieren dargestellt werden, nicht nur durch diese Tiere,
sondern vielmehr wie diese Tiere wahrgenommen werden; denn die
Tiere bringen den Gedanken zum Stehen und füllen ihn aus. Darin
liegt die ganze Macht der Allegorie, ihre ganze Originalität. Die Al­
legorie ist nicht nur ein bloßes Hilfsmittel des Denkens oder eine Art
und Weise, den abstrakten Begriff für kindliche Gemüter konkret
und verständlich zu machen; sie ist kein Symbol für etwas Mangel­
haftes. Sie steht vielmehr für einen mehrdeutigen Umgang mit der
Wirklichkeit, in welchem sich diese nicht auf sich selbst, sondern auf
ihren eigenen Widerschein, ihren eigenen Schatten bezieht. Die Al­
legorie repräsentiert folglich das, was im Gegenstand selbst diesen
zugleich verdoppelt. Das Bild, so kann man sagen, ist die Allegorie
des Seins.
Das Sein ist dl.as, was es ist, das, was sich in seiner Wahrheit
offenbart, und zugleich ist es sich ähnlich, ist es sein eigenes Bild.
Das Original gibt sich in ihm, als ob es in einer Distanz zu sich selbst
wäre, als ob es sich zurückziehen würde, als ob etwas im Sein im

113
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Verzug zum Sein wäre. Das Bewusstsein der Abwesenheit des Ge­
genstandes, das für das Bild charakteristisch ist, kommt nicht einer
bloßen Neutralisierung der Thesis gleich, wie Husserl meint, son­
dern vielmehr einer Veränderung des Seins selbst des Gegenstandes,
eine Veränderung von der Art, dass dessen Wesensformen plötzlich
wie eine lächerliche Staffage wirken, die es ablegt, indem es sich zu­
rückzieht. Ein Bild betrachten heißt ein Gemälde betrachten. Man
muss das Bild ausgehend von der Phänomenologie des Gemäldes ver­
stehen, und nicht umgekehrt.
Das Gemälde hat, in der E rscheinung des repräsentierten Ge­
genstandes eine eigene Dichte: Es selbst ist Gegenstand des Blicks.
,

Das Bewusstsein der Repräsentation besteht darin, zu wissen, dass


der Gegenstand nicht da ist. Die wahrgenommenen Elemente sind
nicht der Gegenstand, sondern sie sin d eher seine »ausrangierten
Kleider«, Farbflecken, Marmor- oder Bronzestücke. Diese Elemente
dienen nicht als Symbole und zwingen in der Abwesenheit des Ge­
genstandes auch nicht seine Gegenwart herbei, sondern sie beharren
vielmehr umgekehrt durch ihre Gegenwart auf der Abwesenheit des
Gegenstandes. Sie nehmen vollständig seinen Platz ein, um seinen
Rückzug deutlich zu machen, so als ob der repräsentierte Gegenstand
vergehen und erlöschen, sich in seinen eigenen Widerschein auflösen
würde. Das Gemälde führt uns also nicht jenseits der gegebenen
Wirklichkeit sondern gewissermaßen diesseits von ihr. Es ist ein
,

Symbol im entgegengesetzten Sinne. Es steht dem Dichter oder dem


Maler, der das »Geheimnis« und die »Fremdheit« der Welt, in der er
jeden Tag lebt, aufgedeckt hat, frei zu glauben, er habe die Realität
überwunden. Doch das Geheimnis das Seins liegt nicht in seinem
My thos Der Künstler bewegt sich in einem Universum, das der Welt
.

der Schöpfung vorausliegt - wir werden später zeigen, in welchem


Sinne-, in einem Universum, das der Künstler durch sein Denken
und seine täglichen Handlungen bereits hinter sich gelassen hat.
Der Gedanke des Schattens oder des Widerscheins - eines we­
senhaften Doppels der Wirklichkeit in ihrem Bild, einer »diesseiti­
gen« Mehrdeutigkeit-, zu dem wir Zuflucht genommen haben, er­
streckt sich bis auf das Licht selbst, bis auf das Denken, bis auf das
innere Leben. Dem Gesicht der ganzen Wirklichkeit ist nicht nur ihre
Offenbarung und hre i Wahrheit, sondern darüber hinaus auch ihre
eigene Allegorie eingezeichnet. Die Kunst, eben weil sie Bilder be­
nutzt, spiegelt diese Allegorie nicht nur wider, sondern sie bringt sie
zur Vollendung Durch sie verschafft sich die Allegorie Eingang in die
.

114
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Welt, so wie durch Erkenntnis die Wahrheit zu ihrer Erfüllung ge­


langt. Darin zeigen sich zwei Seinsmöglichkeiten unserer Gegen­
wart. Neben der Gleichzeitigkeit von Idee und Seele - d. h. des Seins
und seiner Enthüllung-, wie sie im Phaidon gelehrt wird, gibt es
auch eine Gleichzeitigkeit des Seins und seines Widerscheins. Das
Absolute offenbart sich der Vernunft und setzt sich zugleich einer
Art Erosion aus, die außerhalb jeder Kausalität liegt. Die Nicht­
Wahrheit ist kein dunkler Bodensatz des Seins, sondern vielmehr
seine sinnliche Qualität selbst, durch die es in der Welt Ähnlichkeit
und Bild gibt. Durch die Ähnlichkeit ist die platonische Welt des
Werdens eine minderwertige Welt, eine Welt des bloßen Scheins.
Das Werden findet dann, seit dem Parmenides, auch in der Welt der
Ideen seinen Platz, und zwar in der Dialektik von Sein und Nichts.
Die Teilhabe, sofern sie in ihrer Eigenschaft als Nachahmung Schat­
ten hervorbringt, kollidiert mit der Teilhabe der Ideen untereinander,
die sich dem menschlichen Geist zu erkennen gibt. Die Diskussion
darüber, ob nun die Kunst oder die Natur an erster Stelle stehe - ist
es die Kunst, die die Natur imitiert, oder imitiert die natürliche
Schönheit die Kunst? - verkennt die Gleichzeitigkeit von Wahrheit
und Bild.
Der Begriff des Schattens erlaubt es also, in der allgemeinen
Ökonomie des Seins den Begriff der Ähnlichkeit gerrauer zu ver­
orten. Die Ähnlichkeit ist nicht die Partizipation des Seins an einer
Idee - was übrigens schon das antike Argument des »dritten Men­
schen« klar gezeigt hat-, sie ist die eigentliche Struktur des Sinn­
lichen als solchen. Das Sinnliche - das ist das Sein, insofern es sich
ähnlich ist, insofern es, außerhalb seines triumphalen Werks, zu sein,
einen Schatten wirft und dieses dunkle, nicht greifbare Wesen zum
Vorschein bringt, dieses gespenstische Wesen, das in keinster Weise
mit dem Wesen zu identifizieren ist, wie es sich in der Wahrheit
offenbart. Es gibt nicht zuerst das Bild - eine neutralisierte Schau
des Gegenstandes -, das sich, später dann aufgrund seiner Ähnlich­
,

keit mit dem Original vom Zeichen oder Symbol unterscheidet: Die
Neutralisierung jeder Position im Bild ist ja gerade diese Ähnlichkeit.
Die Transdeszendenz, von der Jean Wahl spricht - losgelöst von
der ethischen Bedeutung, die er ihr verleiht, tmd in einem streng
ontologischen Sinne genommen -, vermag dieses Phänomen der He­
rabsetzung ttnd Erosion des Absoluten, das uns im Bild und in der
Ähnlichkeit deutlich geworden ist, näher zu charakterisieren.

115
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Die Zwischenzeit

Zu behaupten, das Bild sei nur ein Schatten des Seins, wäre selbst nur
eine Metapher, würde man nicht zeigen, wo dieses Diesseits, von dem
wir sprechen, anzusiedeln ist. Hier von Trägheit oder Tod zu spre­
chen, würde uns kaum weiterbringen, denn man müsste zunächst
etwas über die ontologische Bedeutung der Materialität selbst sagen.
Wir haben das Bild als Karikatur, Allegorie und pittoreskes Ab­
bild betrachtet, das dem Gesicht der Wirklichkeit selbst eingezeichnet
ist. Giraudoux' ganzes Werk bringt dieses ständi ge ins-Bild-setzen
der Wirklichkeit mit einer Folgerichtigkeit zur Vollendung, die, trotz
des Ruhms, der i hm zuteil wurde, nie richtig wertgeschätzt wurde.
Bislang schien unsere Auffassung vom Bild darauf zu gründen, dass
es einen Riss gibt im Sein, d. h. zwischen ihm und seinem Wesen, der
dort eigentlich nicht hingehört, es entstellt und verfälscht. Und ge­
nau dies erlaubte uns, dem Phänomen, das uns hier beschäftigt, etwas
näher zu kommen. Die so genannte klassis che Kunst - die Kunst der
Antike und ihrer Nachahmer, die Kunst der idealen Formen - kor­
rigiert die Karikatur des Seins: die platte Nase oder die Geste, der es
an Geschmeidigkeit fehlt. Die Schönheit- das ist das Sein, das seine

eigene Karikatur verbirgt, seinen Schatten verdeckt oder in sich hi­


neinnimtm . Aber nimmt es ihn ganz in sich hinein? Es geht nicht um
die Frage, ob die vollkommenen Formen der griechischen Kunst nicht
noch vollkommener sein könnten, und auch nicht darum, ob sie in
jeder Hinsicht vollkommen erscheinen. Dass selbst das vollkom­
menste Bild immer auch eine Karikatur bleibt, zeigt sich in der Be­
schränktheit seines idolischen Charakters. Das Bild als Idol führt uns
zur ontologischen Bedeutung seiner Unwirklichkeit. Denn nun ist es
das Seinsgeschehen selbst, das Existieren des Seins selbst, das sich
durch den Schein eines Existierens verdoppelt.
Zu sagen, dass das Bild ein Idol ist, heißt zu behaupten, dass am
Ende jedes Bild eine Plastik ist und jedes Kunstwerk letztlich eine
Statue, ein Standbild - ein Stillstand der Zeit oder besser noch ein
Verzug der Zeit auf sich selbst. Aber es muss gezeigt werden, inwie­
fern die Zeit stillsteht oder in Verzug gerät und in welchem Sinne das
Existieren der Statue nur der Schein eines Existierens des Seins ist.
Ein Augenblick, der dauert, ohne eine Zukunft zu haben - dieses
Paradox wird in der Statue Wirklichkeit. Der Augenblick ist nicht
wirklich seine Dauer Er gibt sich hier nicht als der verschwindend
.

kleine Teil der Dauer- als ein Aufblitzen -, sondern er hat, auf seine

116
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Art, eine quasi ewige Dauer. Wir denken dabei nicht nur an die Dauer
des Werks selbst als Gegenstand, an die Haltbarkeit von Schriften in
Bibliotheken oder von Statuen in Museen. Im Inneren des Lebens
oder vielmehr des Todes einer Statue dauert der Augenblick unend­
lich: Ewig verharrt Laokoon im Würgegriff der Schlangen, ewig lä­
chelt die Mona Lisa. Ewig wird die Zukunft, die sich in den gespann­
ten Muskeln Laokoons ankündigt, nicht Gegenwart werden. Ewig
wird das aufgehende Lächeln der Mona Lisa nicht zu einem wirk­
lichen Lächeln aufblühen. Eine ewig in der Schwebe bleibende Zu­
kunft umspielt die erstarrte Position der Statue wie eine Zukunft, die
für immer Zukunft bleiben wird. Die unmittelbar bevorstehende Zu­
kunft dauert vor einem Augenblick, der um das gebracht ist, was die
Gegenwart in ihrem Wesen bestimmt, nämlich ihre Flüchtigkeit. Er
wird niemals seine Gegenwartsaufgabe erfüllt haben, so als ob sich
die Wirklichkeit aus ihrer eigenen Wirklichkeit zurückziehen würde
und als ob sie sie machtlos zurückließe. Eine Situation, in der die
Gegenwart nichts übernehmen kann, nichts auf sich nehmen kann ­
und deshalb ein unpersönlicher und anonymer Augenblick.
Die Unerbittlichkeit des unbeweglichen Augenblicks der Statue
resultiert aus seiner Nicht-Indifferenz gegenüber der Dauer. Er geht
nicht aus der Ewigkeit hervor. Es ist aber auch nicht so, als ob der
Künstler ihn nicht hätte zum Leben erwecken können. Nur über­
schreitet das Leben des Kunstwerks eben nicht die Grenzen des Au­
genblicks. Das Werk gelingt nicht - ist einfach schlecht -, wenn es
nicht dieses Verlangen nach Leben hat, das schon Pygmalion umge­
trieben hatte. Aber es ist eben nur ein Verlangen. Der Künstler hat
der Statue ein Leben ohne Leben gegeben, ein lächerliches Leben, das
nicht Herr seiner selbst ist, eine Karikatur des Lebens. Eine Gegen­
wart, die nicht mit sich selbst zur Deckung kommt und an allen Ecken
aus den Fugen läuft, die nicht die Fäden der Marionette in der Hand
hält, die sie selbst ist. Man mag hier durchaus an das Marionetten­
hafte in den Figuren der Tragödien an der Comedie-Fran�aisc denken
und lachen. Jedes Bild ist schon eine Karikatur. - Aber diese Karika­
tur schlägt ins Tragische um. Derselbe Mensch ist zweifellos ein ko­
mischer und tragischer Dichter zugleich; eine Ambiguität, die die
besondere Magie von Dichtem wie Gogol, Dickens, Tschechow oder
von Moliere, von Cervantes und vor allem von Shakespeare aus­
macht.
Diese Gegenwart, die keinen Einfluss auf die Zukunft zu neh­
men vermag, ist das eigentliche Schicksal, ein Schicksal, das nicht

117
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

mehr dem Willen der heidnischen Götter unterliegt und stärker ist
als die mit der Vernunft erklärbare Notwendigkeit der Naturgesetze.
Das Schicksal läuft nicht auf die universale Notwendigkeit hinaus.
Notwendigkeit in einem freien Wesen, Umkehrung der Freiheit in
Notwendigkeit, ihre Gleichzeitigkeit, eine Freiheit, die sich als Ge­
fangene entdeckt . . . nein, das Schicksal findet im Leben keinen Platz.
Der Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit im menschlichen
Handeln erscheint in der Reflexion: Wenn die Handlung in die Ver­
gangenheit versinkt, entdeckt der Mensch die Motive, die zu ihr ge­
führt haben. Doch eine Antinomie ist keine Tragödie. Im Augenblick
der Statue, ihrer ewig ausgesetzten Zukunft, kann das Tragische - die
Gleichzeitigkeit von Freiheit und Notwendigkeit - sich vollenden:
Die Macht der Freiheit erstarrt in Ohnmacht. Und auch hier drängt
sich die Nähe von Kunst und Traum auf: Der Augenblick der Statue
ist der Alptraum. Nicht dass der Künstler Seiendes repräsentieren
würde, das vorn Schicksal niedergedrückt ist; im Gegenteil, das Sei­
ende tritt gerade deshalb in sein Schicksal ein, weil es repräsentiert
wird. Es schließt sich in sein Schicksal ein; aber das Kunstwerk ist
genau das, ein Ereignis der Seinsverdunkelung, das mit seiner Offen­
barung, seiner Wahrheit einhergeht. Nicht dass das Kunstwerk einen
Stillstand der Zeit reproduzieren würde, nein, die Kunst bedeutet
innerhalb der allgemeinen Ökonomie des Seins vielmehr ein Verfal­
len ins Diesseits der Zeit, in das Schicksal. Der Roman ist nicht, wie
Pouillon glaubt, der Stoff, der die Zeit wieder aufleben lässt. Er hat
vielmehr seine eigene Zeit; er bietet der Zeit eine einzigartige Form,
sich selbst zu zeitigen.
Daher versteht man auch, dass die Zeit, die offenbar in den
Künsten, die nicht zur plastischen Kunst gehören - der Musik, der
Literatur, dem Theater und dem Film -, Eingang in das Bild findet, ·

dessen Starrheit nicht auflösen kann. Dass die Figuren eines Buches
zur unendlichen Wiederholung derselben Handlungen und der im­
mer gleichen Gedanken verurteilt sind, hängt nicht bloß an der zufäl­
ligen Tatsache der Erzählung, die diesen Figuren äußerlich ist. Von
ihnen kann vielmehr gerade deshalb erzählt werden, weil ihr Sein
sich ähnelt, sich verdoppelt und sich nicht mehr bewegt. Eine Starr­
heit, die gleichwohl ganz anders ist als die des Begriffs, der das Leben
a n seinen Haken nimmt, die Wirklichkeit unserem Vermögen zur
Wahrheit anbietet, eine Dialektik eröffnet. Das Sein hingegen, das
sich in der Erzählung widerspiegelt, nimmt eine Starrheit an, die
nicht dialektisch ist; es hält die Dialektik und die Zeit an.

118
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Die Figuren des Romans sind nichts anderes als eingesperrte


Wesen, Gefangene. Ihre Geschichte ist niemals zu Ende, sie dauert
immer noch, kommt aber nicht von der Stelle. Der Roman schließt
die Menschen in ein Schicksal ein, trotz ihrer Freiheit. Das Leben
zieht nur dann die Aufmerksamkeit des Romanciers auf sich, wenn
es ihm so erscheint, als ob es bereits einem Buch entsprungen wäre.
Eine Art von Abgeschlossenheit taucht in ihm auf- wie oder woher
auch immer -, so als ob eine ganze Kette von Ereignissen zum Stehen
gekommen wäre und sich in eine geordnete Reihe gefügt hätte. Sie
werden zwischen zwei genau bestimmten Momenten beschrieben, in
einem Zeitraum, den die Existenz wie einen Tunnel durchquert hatte.
Die erzählten Ereignisse stellen eine Situation dar - und ähneln da­
mit einem plastischen Ideal. Der Mythos ist genau das: die Plastizität
einer Geschichte. Was man die Wahl des Künstlers nennt, ist nichts
anderes als die natürliche Auswahl der Ereignisse und Merkmale, die
sich in einen Rhythmus fügen, die Zeit in ein Bild transformieren.
Dass das literarische Kunstwerk auf eine Art Plastik hinausläuft,
dies hat Proust auf einer ganz wunderbaren Seite von Die Gefangen e
vermerkt. Es spricht dort von Dostojewski, hält allerdings nicht an
seinen religiösen Ideen, seiner Metaphysik oder seiner Psychologie
fest, sondern er greift vielmehr einige Profile junger Mädchen auf,
einige Bilder: das Haus des Verbrechens mit seiner Treppe und sei­
nem dvornik aus Schuld und Sühne, die Gestalt der Gruschenka aus
Die Brüder Karamasow. Man könnte meinen, das eigentliche Ziel des
psychologischen Romans liege letztlich in diesem plastischen Ele­
ment der Wirklichkeit.
Im Roman ist viel von Atmosphäre die Rede. Die Kritik selbst
macht sich diese meteorologische Sprache gern zu Eigen. Das eigent­
liche Verfahren des Romanciers, so glaubt man, liege in der Innen­
schau, und man meint, dass die Dinge und die Natur nur dann Ein­
gang finden könnten in ein Buch, wenn sie in eine Atmosphäre
eingehüllt sind, die ganz mit menschlichen Stimmungen aufgeladen
ist. Wir dagegen glauben, dass es eine äußerliche Sichtweise ist- eine
ganz von außen kommende, so wie wir sie oben beim Rhythmus
beschrieben haben, in dem das Subjekt selbst außerhalb seiner selbst
ist -, die die wahre Sichtweise des Romanciers darstellt. Die Atmo­
sphäre - das ist nichts anderes als die Eintrübung des Bildes selbst.
Denken wir an die Poesie von Dickens - der sicherlich an erster Stelle
Psychologe war - die Atmosphäre dieser staubigen Internate, das
,

fahle Licht der Londoner Amtsstuben mit ihren Schreibern, die Lä-

119
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

den der Antiquare und Krämer, ja selbst die Gestalten eines Nickleby
und eines Scrooge erscheinen nur in einer Außenansicht, die zur Me­
thode geworden ist. Und es gibt hier keine andere. Selbst der Roman­
cier in seiner Funktion als Psychologe betrachtet sein eigenes Innen­
leben von außen, nicht unbedingt mit den Augen eines anderen, aber
doch so, als sei man von einem Rhythmus getrieben oder als befände
man sich in einem Traum. Die große Wirkung des zeitgenössischen
Romans, die Faszination, die von ihm als Kunst ausgeht, rührt viel­
leicht gerade von der Art her, wie er das Innen von außen betrachtet,
eine An, die aber nichts mit der behavioristischen Methode zu tun
hat.
Seit Bergson sind wir gewohnt, die Kontinuität der Zeit als das
eigentliche Wesen der Dauer zu betrachten. Die cartesianische Lehre
von der Diskontinuität der Dauer wird höchstens noch als Illusion ·

über eine Zeit verstanden, die anhand der Spu.t; die sie im Raum hin­
terlässt, begriffen wird, was zu falschen Fragestellungen bei denjeni­
gen führt, die nicht in der Lage sind, die Dauer als solche zu denken.
Eine Metapher wie die vom Schnitt in die Dauer - eine übrigens
äußerst räumliche Metapher -, eine photographische Metapher über
die Momentaufnahme einer Bewegung, wird heute als Selbstver­
ständlichkeit akzeptiert.
Wir haben uns im Gegensatz dazu für das Paradox selbst inte­
ressiert, dass der Augenblick zum Stillstand kommen kann. Die Tat­
sache, dass die Menschheit für sich eine Kunst hervorbringen konnte,
offenbart in der Zeit die Ungewissheit über das eigene Fortbestehen
und, so wie der Tod bereits den Lebensdrang als ständiger Schatten
begleitet, die Erstarrung des Augenbicksl inmitten der Dauer - die
Strafe der Niobe -, die Unsicherheit des Seins, welches das Schicksal
vorausahnt, die fixe Idee, von der die künstlerische Welt, die heid­
nische Welt besessen ist. Zenon, grausamer Zenon . . . Dieser Pfeil . . .
Damit verlassen wir nun die spezifische Problematik der Kunst.
Diese Ahnung des Schicksals im Tod aber bleibt bestehen, und auch
das Heidentum. Sicher, es genügt, sich selbst eine Dauer zu verlei­
hen, die so beschaffen ist, dass sie dem Tod die Macht nimmt, sie zu
unterbrechen. Er ist dann überwunden. Ihn innerhalb der Zeit zu
verorten, heißt bereits, ihn zu überwinden und sich auf der anderen
Seite des Abgrunds zu befinden, ihn hinter sich zu haben. Der Tod als
Nichts (frz. la mort-neant) ist der Tod des Anderen, der Tod für den
Überlebenden. Die Zeit des »Sterbens« selbst kann sich kein anderes
Ufer in Aussicht stellen. Was diesen Augenblick so einmalig und un-

120
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

erbinlieh macht, ist die Tatsache, dass er nicht vorbeigehen kann. Im


»Sterben« ist zwar ein Zukunftshorizont gegeben, aber die Zukunft
als Versprechen einer neuen Gegenwart wird verweigert - man be­
findet sich in einem Zwischenraum (frz. intervalle), die nicht auf­
hören wird, Zwischenraum zu sein. Ein leerer Zwischenraum, in
dem sich die Figuren gewisser Erzählungen Edgar Allan Poes aufhal­
ten müssen, wenn sie die herannahende Bedrohung zwar spüren, sie
sich ihr aber durch keine noch so heldenhafte Tat entziehen können;
dieses Herannahen als solches wird niemals aufhören. Angst, die
sich, in anderen Erzählungen, in eine furcht verlängert, lebendig be­
graben zu werden: Als ob der Tod als Tod niemals ganz angekommen
wäre, als ob parallel zur Dauer der Lebenden die ewige Dauer des
Zwischenraums verliefe - die Zwischenzeit (frz. entretemps).
Die Kunst bringt genau diese Dauer innerhalb des Zwischen­
raums zur Vollendung, innerhalb dieses Bereichs, den das Sein zwar
zu durchqueren vermag, in dem sein Schatten aber stehen bleibt. Die
ewige Dauer des Zwischenraums, in dem die Statue verharrt, unter­
scheidet sich radikal von der Ewigkeit des Begriffs - sie ist die Zwi­
schenzeit, die nie an ein Ende kommt, noch immer dauert - etwas
Unmenschliches und Monströses.
Trägheit und Materie legen keine Rechenschaft über den eigen­
tümlichen Tod des Schattens ab. Die träge Materie bezieht sich be­
reits auf eine Substanz, an der ihre Eigenschaften haften. In der Sta­
tue weiß die Materie um den Tod des Idols. Das Bilderverbot ist
wahrhaftig das höchste Gebot des Monotheismus, einer Lehre, die '
das Schicksal - diese rückwärts gewandte Schöpfung und Offen- -
barung - überwindet.

Für eine philosoph ische Kunstkritik

Die Kunst gibt also ihre Beute für einen Schatten frei.
Doch indem sie den Tod eines jeden Augenblicks in das Sein
einführt, bringt sie seine ewige Dauer in der Zwischenzeit zur Voll­
endung :. seine Einzigartigkeit, seinen Wert. Ein zweideutiger Wert:
einzigartig, weil es über ihn kein Hinauskommen gibt, weil er, unfä­
hig, ein Ende zu finden, nicht zum Besseren führen kann. Er hat nicht
die Qualität eines lebendigen Augenblicks, dem im Werden die Ret­
ttmg in Aussicht steht, in dem er enden und sich überschreiten kann.
Der Wert dieses Augenblicks geht folglich aus seinem Unglück her-

121
Die Wirklichkeit 'Und ihr Schatten

vor. Dieser traurige Wert ist zweifellos das Schöne moderner Kunst,
im Gegensatz zu der strahlenden Schönheit klassischer Kunst.
Auf der anderen Seite und weil sie ihrem Wesen nach ungebun­
den ist, eröffnet die Kunst einen Fluchtweg - aus einer Welt, in der es
Initiative und Verantwortung gibt.
Und damit sind wir auch schon bei der ganz alltäglichen und
banalen Erfahrung des ästhetischen Genusses. In ihr liegt einer der
Gründe, die den Wert der Kunst zum Vorschein bringen. Kunst
bringt die Dunkelheit des Fatums in dje Welt, aber vor allem die
Unverantwortlichkeit, die einen umschmeichelt wie die Anmut und
die Leichtigkeit. Sie befreit. Wenn man einen Roman schreibt oder
genießt und ein Gemälde malt oder Gefallen an ihm findet - dann
geht es da nicht mehr um ein Begreifen, dann soll man auf die An­
strengung der Wissenschaft, der Philosophie und des Handeins ver­
zichten. Sprechen Sie nicht! Grübeln Sie nicht! Bewundern Sie still
und in aller Ruhe ! - S o lauten die Ratschläge einer Weisheit, die sich
mit dem Schönen zufrieden gibt. Wo immer sie in Erscheinung tritt,
wird die Magie als des Teufels betrachtet, innerhalb der Dichtung
aber stößt sie auf eine Toleranz, die unbegreiflich ist. Man rächt sich
an der Schlechtigkeit, indem man eine Karikatur von ihr anfertigt,
die sie zwar ihrer Wirklichkeit beraubt, sie aber nicht zerstört; man
beschwört die bösen Mächte, indem man die Welt mit Idolen über­
schwemmt, die zwar einen Mund haben, aber nicht mehr sprechen.
Als ob das Lächerliche etwas aus der Welt schaffen würde, als ob
durch Lieder alles wirklich zu einem Ende kommen würde. Es ist
beruhigend, wenn man Erleichterung verspürt, wenn man sich, jen­
seits der Aufforderung, zu begreifen und zu handeln, dem Rhythmus
einer Wirklichkeit hingibt, die sich nur danach drängt, Eingang in ein
Buch oder ein Gemälde zu finden. Der Mythos tritt an die Stelle des
Geheimnisses. Die Welt, die vollendet werden will, wird durch die
eigentliche Vollendung ihres Schattens ersetzt. Und damit meinen
wir rucht dje Interesselosigkeit der reinen Betrachtung, sondern die
Verantwortungslosigkeit. Es ist der Dichter selbst, der sich aus der
Stadt verbannt. So betrachtet ist also der Wert des Schönen relativ.
Es gibt etwas am künstlerischen Genuss, das schäbig, egoistisch und
auch feige ist. Es gibt Zeiten, in denen man sich dafür schämen kann,
gleich als würde man inmitten der grassierenden Pest ein großes Ge­
lage veranstalten.
Die Kunst ist also nicht aus sich selbst schon eine engagierte.
Und dies ist auch der Grund, warum sie nicht den höchsten Wert

122
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

einer Zivilisation darstellen kann und weshalb es folglich auch nicht


verboten sein kann, sich eine Phase vorzustellen, in der sie sich wie­
der auf das zurückgeführt findenwird, was sie tatsächlich ist, nämlich
eine Quelle der Freude - dies zu bestreiten wäre lächerlich -, die
ihren Platz - aber eben nur einen unter anderen - innerhalb des
menschlichen Strebens nach Glück hat. Ist es anmaßend, die Hyper­
trophie der Kunst iin unserer Zeit anzuprangern, in der sie von fast
allen mit dem geistigen Leben selbst gleichgesetzt wird?
Aber dies alles gilt für die Kunst, die abgehoben bleibt von einer
Kritik, welche das unmenschliche Werk des Künstlers in die mensch­
liche Welt zu integrieren versucht. Die Kritik entreißt ihn schon da­
durch seiner Unverantwortlichkeit, dass sie seine Technik zum The­
ma macht. Sie behandelt den Künstler wie jemanden, der arbeitet.
Allein indem sie die Einflüsse untersucht, denen er ausgesetzt ist,
bindet sie diesen abgehobenen und stolzen Menschen an die reale
Geschichte zurück. Eine Kritik, die allerdings bei den Präliminarien
stehen geblieben ist. Sie zielt noch nicht auf das künstlerische Ereig­
nis als solches: auf die Verdunkelung des Seins durch das Bild, auf
seinen Stillstand in der Zwischenzeit. Für die Philosophie liegt die
eigentliche Bedeutung des Bildes darin, dass es zwischen zwei Zeiten
und also in einer Mehrdeutigkeit angesiedelt ist. Der Philosoph ent­
deckt jenseits des verzauberten Felsens, an dem es haftet, auch all
seine Möglichkeiten, die sich um es herumschlängeln. Und er greift
sie auf in der Interpretation. Das aber heißt, dass das Kunstwerk wie
ein Mythos behandelt werden kann und muss: Diese unbewegliche
Statue muss in Bewegung und zum Sprechen gebracht werden. Ein
Unterfangen, das nicht einfach mit der Wiederherstellung des Origi­
nals anhand der Kopie gleichzusetzen ist. Die philosophische Aus­
legung hat den Abstand, der den Mythos vom realen Sein trennt, zu
vermessen, und sie muss sich über das schöpferische Ereignis als sol­
'
ches klar werden - ein Ereignis, das der Erkenntnis, die vom Sein zum
Sein hüpft und dabei die Zwischenräume der Zwischenzeit über­
springt, entzogen bleibt. Der Mythos erweist sich daher als Nicht­
Wahrheit und als Ursprung der philosophischen Wahrheit zugleich,
jedenfalls dann, wenn es stimmt, dass die philosophische Wahrheit
eine eigene Dimension des Erkenntnisvermögens umfasst und sich
also nicht mit Gesetzen und Ursachen zufrieden gibt, die das Seiende
untereinander verbinden, sondern nach dem Seinsgeschehen als sol­
chem fragt.
Die Kritik wählt aus und grenzt ein, indem sie interpretiert.

123
Die Wirklichkeit und ihr Schatten

Aber wenn sie sich, aufgrund ihrer Wahl, diesseits einer Welt auf­
hält, die in der Kunst starr geworden ist, so wird sie diese Welt doch
wieder in die intelligible Welt einbringen, in der sie selbst zu Hause
ist und welche die wahre Heimat des Geistes ist. Mag ein Schrift­
steUer noch so geistreich sein, er befindet sich in einer Welt, die ver­
zaubert ist durch ihre Bilder. Er spricht, als ob er sich in einer Schat­
tenwelt bewegte - in Rätseln, in Andeutungen, in Anspielungen,
mehrdeutig -, als ob es ihm an Kraft fehlte, die Realitäten aufzude­
cken, als ob e r nicht bis zu ihnen vordringen könnte, ohne zu tau­
meln, als ob er, kraftlos und unbeholfen, sich stets zu viel zugemutet
hätte, als ob er die Hälfte des Wassers, das er uns bringt, verschüttet
hätte. Mag e r noch so klug und noch so scharfsinnig sein, er macht
sich doch zum Narren. Die Kritik als Interpretation dagegen spricht
im Vollbesitz ihrer Kräfte, geradeheraus, durch den Begriff, der ge­
wissermaßen der Muskel des Geistes ist.
Die moderne Literatur, die übrigens bis auf Shakespeare, auf den
Moliere des Don ]uan, auf Goethe und Dostojewski zurückgeht - und
die wegen ihres Intellektualismus in Verruf geraten ist - zeugt zwei­
fellos von einem immer klareren Bewusstsein dieses tiefen Ungenü­
gens der künstlerischen Idolatrie. Dieser Intellektualismus ist aber
genau der Grund dafür, weshalb der Künstler sich weigert, nur
Künstler zu sein: nicht weil er eine These oder eine Sache verteidigen
will, sondern weil er sich selbst seine eigenen Mythen erklären muss.
Vielleicht haben ja die Zweifel, die der vermeintliche Tod Gottes seit
der Renaissance in den Seelen der Menschen ausgelöst hat, in den
Augen des Künstlers auch die Realität der Modelle, die I)Unmehr
haltlos geworden sind, fragwürdig werden lassen und ihm die Last
aufgebürdet, sie im eigenen Schaffen wiederzufinden, und haben
ihn insofern auch an seine Mission als Schöpfer und Offenbarer glau­
ben lassen. Die Aufgabe der Kritik bleibt grundlegend, auch wenn
Gott nicht tot, sondern nur im Exil wäre. Doch können wir an dieser
Stelle die »Logik« einer solchen philosophischen Auslegung der
Kunst nicht mehr erörtern. Dies würde eine Ausweitung der Per­
spektive - die hier bewusst eingeschränkt blieb - dieser Unter­
suchung erforderlich machen. Es ginge in der Tat darum, die Perspek­
tive der Beziehung zum Anderen ins Spiel zu bringen, ohne die das
Sein in seiner Wirklichkeit, d. h. in seiner Zeit, gar nicht ausgesagt
werden kann.

124
VIII

Eine uns vertraute Sprache

Von Sartre stammt der Gedanke, dass die Freiheit des Menschen in
allem, was sich ihm an Zwängen auferlegt, zurückgewonnen werden
kann, und das war wie eine Botschaft der Hoffnung für eine ganze
Generation, die unter Schicksalsschlägen herangewachsen war, die
alle Erwartungen unseres Jahrhunderts übertrafen, und für die der
Humanismus der schönen Worte - wie sehr er auch die Menschen­
rechte glorifizierte - jegliche Oberzeugungskraft verloren hatte. Eine
neue Philosophie, das heißt vor allem, dass diejenigen wieder zu
Wort kommen können, deren Stimmen im allgemeinen Wortgeklin­
gel großer Projekte untergegangen waren. Dass diese Freiheit sich nie
in eine Beschwörung erloschener heidnischer Mythen verkehrte, die
mit dem Ideal eines persönlichen Heils verbunden waren, sondern
dass Sartre sie vom ersten Augenblick an als eine Sorge »um die
Anderen«, als eine Quelle der Verantwortung, die es jenem gegen­
über zu übernehmen gilt, der uns ganz offensichtlich »nichts an­
geht«, angesprochen hat, dies war mit Sicherheit ein Aspekt, der im
Bewusstsein der Juden eine ganz besondere Aufmerksamkeit auslös­
te. Angst um eine Freiheit, die sich sofort den Anderen zuwendet,
und die nicht wie bei Heidegger, dem Philosophen vor dem Genozid,
Angst um meinen Tod ist, Angst um das, was »mein Eigenstes« ist in
der Sorge des Menschen, der ich bin, um mein Sein selbst. Für uns,
die Oberlebenden der Vernichtungslager, für uns, die wir der Univer­
salgeschichte entronnen sind, für viele unter uns klang diese neue
Sprache mit einem Mal vertraut oder ganz nahe. Sie hatte einen
maßgeblichen Anteil daran, dass wir wieder den Mut fanden, zu den
alten Lehren - Lehren, die seit langem unterbrochen und allmählich
in Vergessenheit geraten waren - rund um die biblischen Schriften
und die Traktate des Talmuds zurückzukehren und, statt ihnen nur
bloße Vorschriften für die feierlichen Handlungen zu entnehmen,
darin von neuem den Ruf in eine Sendung zu den Menschen wahr-

125
Eine uns vertraute Sprache

zunehmen, dem Ruf zu folgen und sich - in unterschiedlicher Form,


im Westen oder in Israel - auf schwierige Wege zu begeben.
In Sartres philosophischer Lehre geht es im Wesentlichen um
eine Wahrheit - eine Wahrheit, die der jüdischen Auffassung vom
Menschen nahe steht-, nämlich um das Handeln des Menschen,
das immer möglich ist und auch durch die Sünde nicht erstickt wer­
den kann, um sein Handeln auf der Erde, seine Hoffnungen hier in
dieser Welt, um ein unauflösliches Band zwischen allen über die Ge­
schichte hinausgehenden Zielen, in ihrer Beziehung zum anderen
Menschen, dem zu seinem Recht verholfen werden muss, aber in
einer Weise, als ob es keinen Gott gäbe, der dies an unserer Stelle
tun könnte.
Die unabweisbare und zugleich uneinlösbare Forderung besteht
darin, eine Geschichte fortzusetzen, die nicht wie die anderen ist -
das ist, innerhalb des Judentums, die eigentliche Maßgabe der Bezie­
hung zu Gott oder dessen, was man vielleicht genauer die Ergriffen­
heit durch Gott nennen sollte, die auch nicht durch eine paradoxe
Frömmigkeit Ungläubiger, von Juden, die ergriffen sind davon, dass
sie dem Judentum angehören, geleugnet werden kann.
Eine grundlegende Lehre über die Freiheit, die mit Emphase he­
rausgestellt wird in einem Werk, das es damit nicht bewenden lässt,
sondern das von der bürgerlichen Moral so manchen Ballast und ei­
nigen Staub abgeschüttelt hat, vielleicht um das Wesentliche in ihr
freizulegen. Eine Lehre, die weiter reicht als die physische Präsenz
Sartres auf den Wegen der Freiheit in den Straßen von Paris, oft aber
spürbar ist in seiner unverwechselbaren Signatur, die hinausgeht
über die Silhouette dieses neuen Typs von Mensch, der engagiert
und immer zur Stelle ist und der, als ob seine Schritte in keiner Si­
tuation und durch kein Gepäck schwer werden könnten, immer un­
terwegs ist, so wie, ach, auch wir Juden ständig unterwegs sind, trotz
unserer Anhänglichkeiten und unserer Wandermüdigkeit, sodass
man sich ein Altern und, selbst jetzt, eine Sterblichkeit Sartres gar
nicht vorstellen kann. Sartre ist für uns in erster Linie all das, unab­
hängig davon, was er selbst über uns gedacht und gesagt haben mag.
Ein immenses Werk, in dem wir gewiss nur eine bescheidene
Rolle spielen. Es scheint zumindest so, als zeige sich ihm das Juden­
tum vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse: als Opfer des
Antisemitismus, der zur Gründung des Staates Israel führte. Ereig­
nisse, deren menschliche Unergründlichkeit einem Blick verborgen
bleiben kann, der durch eine vorgefasste philosophische Anthropolo-

126
Eine uns vertraute Sprache

gie geleitet ist, auch wenn sich diese als völlig undogmatisch erweist.
Ereignisse, die durch das Leid, das sich in ihnen manifestiert, Sartres
Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Die Betrachtungen zur judenfrage, die unmittelbar nach der Be­
freiung erschienen sind, reduzieren den Antisemitismus auf ein Ge­
fühl des Ressentiments und der Rachsucht der Mittelmäßigen und
Bornierten, die in der Gehässigkeit, Verleumdung und Verfolgung
eine Gelegenheit finden, Rache zu nehmen für ihr eigenes erbärmli­
ches Los und sich damit eine künstliche und oberflächliche Überle­
genheit zu verschaffen. Man sollte auch heute oder vor allem heute
die Bedeutung dieser Analyse nicht unterschätzen, ebenso wenig wie
die Entmystifizierung eines Verbrechens, das sich mit Lehrmeinun­
gen schmückt, die sich als wissenschaftlich fundiert ausgeben und
Ausdruck eines Kulturphänomens sein wollen. Aber Sartre geht in
seinem Buch sogar soweit, anhand des Antisemitismus die bleibende
Differenz des Jüdischen selbst zu erklären. Der Jude hätte nämlich
allererst unter dem Blick des Antisemiten bzw. durch diesen Blick
sein starrsinniges Wesen erhalten. Sartre fragt in den Betrachtungen
zur judenfrage noch nicht, ob dieses Fortbestehen des Jüdischen nicht
auch einen eigenen und ewigen Grund hat, ob sich also in ihm nicht
ein Protest gegen eine gewisse Ordnung der Dinge ausdrückt und
folglich ein unnachgiebiger Kern bezeugt, ganz im Sinne der sprich­
wörtlichen »Halsstarrigkeit«. Und, wie immer es auch um dieses
Fortbestehen einer gewissen etablierten jüdischen Gemeinschaft -
das seit Hitler immer auch als virtuell bedrohtes empfunden wird -
bestellt sein mag, Sartre fragt sich noch nicht, ob dieser hartnäckige,
aber nackte Widerstand, der Blut und Tränen kostet, nicht die
menschlichste Möglichkeit der condition humaine selbst darstellt,
eine Bedingung, die eine Nicht-Bedingung ist, auf welche die Forde­
rungen - die in Wahrheit unbedingt sind - des Einen gegenüber dem
Vielen zurückgehen.
Bei allem auch öffentlich geäußerten Verständnis für den paläs­
tinensischen Nationalismus und für das Leid, das mit ihm verbunden
ist - und an dessen Sache zu erinnern er gerade auch die Verleihung
der Ehrendoktorwürde durch die Universität von Jerusalem in Paris
zum Anlass nahm - hat Sartre immer und ohne Wenn und Aber arn
Existenzrecht des Staates Israel festgehalten.
Ein Mann, der die Annahme des Nobelpreises verweigert hat,
wohl weil er sich das uneingeschränkte Recht auf Meinungsäuße­
rung bewahren wollte, konnte davon ausgehen, dass eine ehrenvolle

127
Eine uns vertraute Sprache

Auszeichnung aus Jerusalem seine Unabhängigkeit nicht beeinträch­


tigte. Er hoffte auf Verhandlungen zwischen Israel und den Palästi­
nensern und bahnte Begegnungen an zwischen den Intellektuellen
auf beiden Seiten, zumindest zwischen denjenigen, die willens wa­
ren, seinem Aufruf zu folgen. Aber in seiner Sympathie für die An­
liegen des Judentums, trotz der antisemitischen Attacken der Linken
in seinem Umfeld, zeigte sich vermutlich schon ein anderer Stand­
punkt als der, den er noch in den Betrachtungen zur judenfrage ver­
treten hatte. Was immer er auch geschrieben oder geäußert hat, man
wird bei ihm nie den geringsten Zweifel an der Legitimität des jüdi­
schen Staates finden. Und sicher wird man bei ihm auch nie etwas
finden, was dem Argument distinguierter Spiritualisten ähnelt, die
Israel das Heilige Land deshalb verweigern, weil sie um die Reinheit
seiner übernatürlichen Berufung fürchten, die eben als solche nur in
der Diaspora gewahrt bleibe, ein Argument, wenn man so will, das
zweifellos die Tatsache vernachlässigt, dass die Heiligkeit des Landes
nichts anderes bedeutet, zumindest für diejenigen, die dies auch über
die Jahrhunderte hinweg nie vergessen hatten, als ein politisches Pro­
jekt ohnegleichen, das erst an seinem Anfang steht, äußerst schwie­
rig und umstritten und heftigen Anfeindungen ausgesetzt ist.
Was diesen Punkt angeht, sind die Interviews mit Sartre, die nur
wenige Wochen vor seinem Tod im Nouvel Observateur veröffent­
licht wurden, von größter Bedeutung. In ihnen findet sich mit Sicher­
heit ein Echo dessen wieder, was er am Ende seines Lebens dachte.
Wir haben keinen Grund, diese Aufzeichnungen in ihrer Korrektheit
in Zweifel zu ziehen. Enthalten sie ein letztes Zeugnis der Sym­
pathie, die dem Judentum gegenüber bekundet wird, oder sind sie
Zeichen eines Weges, der seit den Betrachtungen zur judenfrage in
mehr als dreißig Jahren zurückgelegt wurde? Wir lesen darin in ers­
ter Linie etwas anderes: Ein großer Philosoph überdenkt hier noch
einmal seine Einstellung zu Hege!. Doch wenn ein Philosoph sich
daran macht, Hege! gegenüber eine eigene Position zu beziehen,
dann ist dies etwa so, wie wenn ein Weber seinen Webstuhl einrich­
tet, bevor er mit seiner Arbeit beginnt.
Neue spekulative Standortbestimmungen: In früheren Jahren
bedeutete Geschichte für Sartre, in Übereinstimmung mit Hegel,
ausschließlich die Geschichte der Staaten, die Geschichte der Natio­
nen innerhalb ihres Territoriums, die Geschichte der Regierungen.
Und innerhalb einer so verstandenen Geschichte erhielten dann auch
die Völker ihren Sinn. Für Sartre schien daher die Geschichte des

128
Eine uns vertraute Sprache

jüdischen Volkes eine künstliche, irrationale Idee zu sein. Dann aber


öffnet ihm die Lektüre des voluminösen Werkes History of Israel des
Harvard-Professors Baron die Augen für die geschichtliche Bestän­
digkeit eines verstreuten Volkes, das vereint ist trotz der trennenden
Distanzen, vereint um das Buch und im monotheistischen Festhalten
an dem einen Gott, einem Festha!ten, aus dem eine Ethik von Men­
schen herrühren würde, von denen der eine für den anderen lebt.
Wenn es eine jüdische Geschichte gibt, dann ist das, was Hege! sagt,
nicht wahr. Es gibt aber eine jüdische Geschichte.
Es müsste also in der Menschheitsgeschichte noch eine andere
Dimension von Sinn geben als den einer Universalgeschichte. Es
müsste also auch eine andere Geschichte geben. Ein solcher Gedanke
wird nicht etwa durch die Betrachtung des Mose und der Propheten,
sondern vielmehr durch die Lektüre eines amerikanischen Histori­
kers nahe gelegt.
Er drängt sich uns nicht von der Metaphysik, sondern von der
Soziologie her auf_ und nicht jeder muss diese andere Geschichte
gleich heilige Geschichte nennen. Doch egal, wie wir sie auch nen­
nen, wäre sie nicht in jedem Fall eine wesentliche Dimension des
Sinnhaften? Und wäre es aber dann nicht auch vernünftig, dass sich
ein Staatsmann, der sich Gedanken über die Natur seiner Entschei­
dungen macht, nicht nur darüber befragt, ob sie mit dem Sinn der
Universalgeschichte übereinstimmen, sondern ob sie auch mit dieser
anderen Geschichte im Einklang stehen?
Dass die Geschichte des jüdischen Volkes, zu der die Hoffnung
auf einen jüdischen Staat hier auf Erden immer wesensmäßig mit
dazugehörte, in Sartres Denken einen Zweifel an der gewaltigen
und erhabenen Architektur der hegelschen Logik aufkommen lassen
konnte, bedeutet dies nicht zugleich auch, dass der Staat, um den es
dabei geht, nicht nur in einer rein politischen Geschichte aufgehen
darf, also derjenigen, die von den Siegern und Herrschern geschrie­
ben wird? Und heißt dies nicht auch, dass ein solches Projekt, das so
gar nichts mit einem nationalistischen Partikularismus zu tun hat,
nicht eine der Möglichkeiten der schwierigen Menschlichkeit des
Menschen darstellen könnte?

129
IX

Sartre entdeckt die heilige Geschichte


(Gespräch mit Victor Malka)

Fühlen Sie sich, als Philosoph, ]ean-Paul Sartre nahe oder eher
nicht?

Ich fühle mich Sartre nah, weil wir zur selben Generation gehören.
Und was ich mit Sartre noch gemeinsam habe, ist, dass wir zur selben
Zeit dieselben Bücher gelesen haben. Sie wissen, dass mein Buch
über die Phänomenologie Husserls 1930 erschienen ist und dass Sar­
tre es gelesen hat, wie ich aus den Memoiren von Sirnone de Beau­
voir erfahren habe. Sartre schrieb in einem Artikel: »Ich bin durch
Levinas zu Husserl gekommen.« Er war ein Leser Heideggers; ich
war es auch. Sartre hat aus diesen Lektüren all die außergewöhnli­
chen Perspektiven seiner großen Bücher gewonnen. Mein Weg ist ein
etwas anderer, aber ich habe immer das Gefühl gehabt, zu der Gene­
ration Sartres zu gehören.
Unmittelbar nach der Befreiung was Sartres Präsenz in der Pres­
se und der kulturellen Landschaft Frankreichs gewaltig.
Ich erinnere mich, dass es mich sehr beeindruckt hat, als er den
Nobelpreis ablehnte. Er schien mir damals der Mann zu sein, der
noch ein Recht auf das Wort hatte in einer Welt, in der jedes Wort
verfälscht war. Dies fiel in eine Zeit, in der Nasser seine äußerst
scharfen Reden gegen Israel hielt. Also habe ich ihm geschrieben.
Ich weiß aber nicht, ob mein Brief irgendeinen Effekt hatte.

Seine »Betrachtungen zur ]udenfrage« sind 1946 erschienen.


Wie haben Sie damals auf dieses Buch und die These, die er
darin entwickelt hatte, reagiert?

Ich war damals gerade aus der Gefangenschaft zurückgekommen,


und dieses Buch hatte mich, was seine These über das Judentum be­
trifft, nicht überzeugt. Das Judentum hat nicht nur eine Existenz, die
auf die Antisemiten bezogen ist. Ich war schon seit langem der An-

131
Sartre entdeckt die heilige Geschichte

sieht, dass der Jude auch in vielerlei anderen Hinsichten Jude ist.
Auch wenn man in diesem Buch nicht viel über das Judentum er­
fährt, so war es dennoch äußerst wichtig, denn es traf, was den Anti­
semitismus angeht genau den richtigen Punkt, und zwar zu einer
,

Zeit, in der ein solches Urteil absolut notwendig war.

Später gab Sartre in der Tat zu, dass es sich hier um ein Buch
gegen den Antisemitismus gehandelt habe, in dem er »eine
Passion und eine Weltanschauung« sah.

Er stellte ihn, diesen Antisemitismus, sogar als ein völlig schwach­


sinniges Verhalten dar. Er bezeichnete ihn als »Snobismus der Ar­
men«, als Rachsucht derjenigen, die in allem mittelmäßig und dann
froh sind, wenn sie jemanden finden, den sie verfolgen können und
der sich nicht verteidigen kann.

Seine Überlegungen waren damals - und das war vielleicht sein


Irrtum - folgende: Wenn die Juden im Besitz einer Weisheit
sind, dann haben sie keine Geschichte.

Ganz genau. Seine letzten Äußerungen im »Nouvel Observateur«,


die sehr wichtig sind, machen deutlich, dass in ihm ein kompletter
Wandel stattgefunden hat. Sartre entdeckt die jüdische Geschichte.
Er sagt, er habe bis zu dem Zeitpunkt, als er Barons Geschichte des
jüdischen Volkes gelesen habe, eine Auffassung von Geschichte ver­
treten, wie sie Hegel vorgegeben hatte, eine Geschichte der Nationen
mit einem Territorium und einem Staat. Die Idee der Geschichte
eines Volkes ohne diese Wesensmerkmale erschien ihm seltsam und
irrational. Folglich war er damals auch der Meinung, dass das jüdi­
sche Volk keine eigene Identität habe, sondern einzig aus dem beste­
he, was die anderen aus ihm gemacht hätten. Dann aber machte Sar­
tre die Entdeckung einer anderen Dimension in der Geschichte, als ob
es eine, wie ich es nennen würde, »heilige Geschichte« gäbe, die in
eine andere Richtung geht, aber mit der Geschichte koexistiert und
von einem Volk getragen wird.
Es gibt in diesem Text im »Nouvel Observateur« einen entschei­
denden Satz: »Wenn die jüdische Geschichte existiert, dann hat He­
gel Unrecht.« Nun existiert aber die jüdische Geschichte tatsächlich.

132
Sartre entdeckt die heilige Geschichte

Dieser Begriff der »heiligen Geschichte«, ist er für Sie wichtig?

Kürzlich erst dachte ich daran, nach der Reise von Präsident Giscard
d'Estaing an den Persischen Golf und den Erklärungen, die er dabei
abgegeben hat. Ich habe es bedauert, dass der Präsident es versäumte,
in der »heiligen Geschichte« die Rolle zu spielen, die er hätte spielen
können. Dies ist eine Dimension, die er gar nicht kennt. Es ist das
Gegenteil von dem, was mit Kyros geschehen ist.

Waren Sie nicht überrascht darübe1� dass Sartre in diesem Text


erklärt, »am metaphysischen Charakter des jüdischen interes­
siert zu sein«?

Er ist zumindest jemand, der nicht daran glaubte, dass die Metaphy­
sik schon gänzlich an ihr Ende gekommen sei.
Es gibt aber auch noch präzisere Aussagen von ihm. Er spricht
von einem Volk, dessen ganzes Leben in der Beziehung zu einem
unendlichen Gott besteht, einer ganz besonderen Beziehung. Er sagt,
dass die jüdische Geschichte aus diesem Monotheismus herrührt. Ich
glaube nicht, dass er deswegen seine generellen philosophischen Po­
sitionen aufgibt, aher es zeigt sich hier doch eine Aufmerksamkeit für
die Originalität dieses jüdischen Phänomens und auch für die Not­
wendigkeit, eine Sprache zu finden, die aller Wahrscheinlichkeit nach
dafür gemacht ist, diese Wirklichkeit zu erfassen - was auch immer
die Bedeutung sein mag, die man letztlich den verwendeten Begrif­
fen gibt.
Ferner wird diese Beziehung zu dem unendlichen Gott aus­
drückiJch als eine ethische Beziehung herausgestellt. Und die Ethik
wird als eine Existenzweise des Menschen definiert, in der der eine
für den anderen lebt. Für die anderen existieren bedeutet nicht, den
anderen zu erscheinen, sondern den anderen ausgesetzt zu sein. Dies
ist eine Position, die dem sehr nahe kommt, was auch ich über die
Ethik und die generelle Rolle dieser Kategorie des »Für-den-Ande­
ren« innerhalb der Setzung des Ich oder vielmehr der Absetzung
des »Ich« denke.
Unter den zahlreichen Artikeln, die Sartre gewidmet wurden,
gab es einen, der darauf hinwies, dass Sartre vielleicht nicht ganz
einverstanden gewesen wäre mit den posthumen Würdigungen, die
ihm von allen Seiten zuteil wurden. Er mochte es, von einer Minder­
heit anerkannt zu sein und von den Schwachen gebraucht zu werden,

133
Sartre entdeckt die heilige Geschichte

von denen, die außer-gewöhnlich sind, außerhalb der Ordnung ste­


hen. Dennoch denke ich, dass er trotzdem eine Hommage von Seiten
der Juden nicht zurückgewiesen hätte, denn es gibt nichts, was zer­
brechlicher wäre als das Judentum, trotz der verschiedenen Arten
von Macht, die man ihm zuweilen zuschreibt.
Schließlich möchte ich noch sagen, dass ich außerordentlich be­
eindruckt war von Sartres Anerkennung des Staates Israel (was seine
Sympathie mit den Palästinensern keineswegs schmälerte), zu der er
sich offen und mit einer Nachdrücklichkeit bekannte, die selbst den
Bruch mit einigen seiner Freunde auf der extremen Linken nicht
scheute. Dasselbe gilt auch für meinen Freund Maurice Blanchot,
der sich von jenen trennte, die seit 1968 seine Weggefährten waren,
und zwar einzig Israels wegen.
Ich bin mir sicher, dass Jean-Paul Sartre das Schicksal Israels
sehr aufmerksam verfolgt hat.

134
Friedliche Koexistenz
X

Über den Geist von Genf

Der Geist von Genf, ist er trügerischer Schein oder Wirklichkeit?


Wie der Optimismus im Juli, so macht es sich auch der Pessimismus
im November zu einfach. Denn in der Welt geschieht etwas so voll­
kommen Neues, dass sich das Gute und das Böse nicht mehr mit
Formeln bestimmen lässt, die bis vor kurzem noch ihre Gültigkeit
besaßen. Der Kampf zwischen den Menschen hat seinen Sinn ver­
loren, aber der Streit ist noch nicht zu Ende. Und das verursacht un­
ter den Kontrahenten neben der Angst noch zusätzliches Unbehagen.
Wie soll man folglich durch eine eingehende Analyse der Be­
wusstseinslage der Großmächte noch hinter das Geheimnis dessen
kommen, was geschieht? Liegt das Geheimnis überhaupt noch dort?
Durch die entfesselte Atomenergie wurde der Lauf des Wirklichen
dem menschlichen Willen aus der Hand genommen. Dies nennt man,
sehr treffend, Stillstand der Geschichte. Auch das Lächeln, das man
seit einigen Monaten über die Kontinente hinweg austauscht - dem
aber die Taten sehr häufig widersprechen - ist weder aufrichtig noch
heuchlerisch. Der Dritte im Bunde, der bei den Verhandlungen und
Kriegen immer anwesend ist, lässt eine Atmosphäre entstehen, der
weder die Kriegsherren noch die Diplomaten bislang ihre Gesichts­
züge angepasst haben. Dieser Dritte ist nicht der dritte Mensch. Es ist
kein Mensch, sondern es sind gesichtslose Mächte. Eine merkwürdi­
ge Rückkehr der Naturkräfte, die unübersehbar sind, gegen die man
sich jedoch nicht verbünden kann.
Seitdem die ersten technischen Errungenschaften das Leben ge­
gen die Naturkatastrophen schützten und die Sterblichen mit Hilfe
der Wissenschaft und ohne nennenswerten Widerstand ihre Herr­
schaft über die Elemente ausdehnten, hat sich die Situation verkehrt
- die Menschen kämpfen nur noch gegeneinander. Der Beginn des
Humanismus liegt in diesen Kriegen, die die Kräfte der Natur ver­
gessen ließen.
Seit Jahrtausenden ringen wir um das Menschliche. Und immer

137
Über den Geist von Genf

noch kommt das Unmenschliche - an dem während dieser ganzen


Zeit wahrlich kein Mangel herrschte - vom Menschen. Die Bezie­
hungen zwischen Menschen, die gesellschaftliche Ordnung, und die
Kräfte, die diese Ordnung lenken, gehen über die Kräfte der Natur
hinaus, sowohl was ihre Macht, ihre Wirksamkeit als auch was ihr
Sein betrifft. Die Elemente strömen gefiltert durch die Gesellschaft
und den Staat auf uns ein und gewinnen erst durch sie eine Bedeu­
tung. Die Felsen und die Bäume erscheinen nicht mehr unverstellt
am Horizont; sie kommen bereits aus einer überlieferten Landschaft

auf uns zu; sie verkörpern einen Stil und bringen ihre eigene Litera­
tur hervor. Unsere Schulbücher sagen uns, in welcher Weise uns
selbst die schlichtesten Erfahrungen affizieren, nämlich bereits ein­
gebettet in ihrer sozialen Form, als Material für oder Fragmente von
Kulturgegenständen, schimmstenfalls
l als Trümmer menschlicher
Welten, die immer wieder an die Ufer der Geschichte zurückgewor­
fen werden. Seit Hege! wissen selbst die naivsten Gemüter, dass es in
unseren Breiten nichts Natürliches mehr gibt. Alles, was uns glück­
lich macht, und alles, was uns vernichtet, rührt von uns selbst, den
Menschen, her, von deren Gut- oder Böswilligkeit, die Katastrophen
auslöst, und sei es dadurch, dass man es versäumt, sie vorauszusehen.
Die Gewissheit, dass alles Unglück, das uns ereilt, von unseren
Nächsten kommt, dass es für alles eine Verantwortung gibt, das
Recht, anzuklagen oder zu verurteilen, vielleicht ist es ja gerade das,
was wir Zivilisation nennen. Eine Welt, die einen Sinn hat. Elend,
Krieg, Grubenunglücke, ja selbst Krankheiten lassen uns die Mög­
lichkeit, den Machthabern Nachlässigkeit vorzuwerfen, die herr­
schenden Klassen der Gier zu bezichtigen oder Fehlentwicklungen
einer vom Egoismus getriebenen Wissenschaft anzuprangern. Alle
Ereignisse auf der Erde und am Himmel werden von Kriegen und
Revolutionen flankiert.
Es stirbt der Gott des Blitzes und der Gott der Gnade. Mensch­
liches Verschulden, wohin man auch schaut. Kein Ort mehr, an dem
Gott noch verehrt wird, weil überall der Mensch ist. Und gleichwohl
bricht ein anderes Gefühl des Göttlichen sich Bahn: das der Verant­
wortung. Das Bewusstsein, dass alles von den Menschen abhängt, hat
nicht nur Verleumdung und Bosheit zur Folge. Der Politik den Vor­
tritt gegenüber der Physik zu lassen ist eine Einladung, an einer bes­
seren Welt mitzuarbeiten, an eine veränderbare und menschliche
Welt zu glauben.
Nun meldet sich plötzlich die Natur in ihrer Bedrohlichkeit zu-

138
Über den Geist von Genf

rück, und zwar auf dem Wege über die Physik selbst, die sie ein für
allemal aus der Welt vertrieben hatte. Und es ist nicht das erste Mal,
dass sie sich attf diese Weise zeigt. Immer schon gab es Momente, in
der sie mit ganzer Wucht in die zivili sierte Welt hereingebrochen ist:
ein Komet, der sich näherte, ein Vulkan, der Feuer spuckte, die Erde,
die bebte. Auf diese Weise bot sie - ungebändigt - den gesellschaftli­
chen Institutionen, die zu Prinzipien erhoben wurden, und der Ge­
schichte, die in den Rang einer Kosmogonie erhöht wurde, eine De­
monstration ihrer Macht. Hinter allem gab es also noch etwas, mit
dem zu rechnen war. Ohne dass jemand einen ausdrücklichen Befehl
gegeben hätte - niemand war schuld-, machte sich plötzlich die Na­
tur, die das Außen selbst ist, ganz sie selbst und unvorhersehbar, über
unsere Spottlust lustig und warf uns weit in eine Zeit zurück, da wir
noch in Höhlen lebten und ängstlich dem Heulen der Stürme und
wilden Tiere lauschten. Ein S chicksalsschauer ging plötzlich durch
unsere ach so menschlichen Kämpfe zwischen Religionen, Klassen
und Nationen. Aber die gesellschaftliche Wirklichkeit, die für einen
kurzen Moment einen Riss bekommen hatte, schloss sich gleich wie­
der, so wie die nach einem Beben aufgesprungene Erde. Die Ret­
tungsmaßnahmen führten den Vorfall schnell wieder auf das Maß
der menschlichen Konflikte zurück; die Verantwortung kehrte zu­
rück an ihren Platz. Doch für einige Augenblicke - Augenblicke, in
denen eine demütigende Brüderlichkeit die Menschen mit den Tieren
verband, die schreien und die die Katastrophe wenige Momente zu­
vor vorausahnen - hat es keine Politik gegeben.
Die Fortschritte der Atomwissenschaft lassen diese Momente
ewig dauern. Diesmal allerdings brechen diese unmenschlichen Kräf­
te nicht plötzlich über uns herein; sie kommen nicht vom Himmel
und auch nicht aus den Tiefen der Erde. Sie kommen von den Men­
schen. Sie sind zu groß für die Hände, die nach ihnen greifen, und
lassen sich auch von den Staatsmännern nicht beherrschen, die sie
gerne ins Spiel bringen würden, in der Hoffnung, sie kontrollieren
zu können. Seit 1914 haben die Kriege jedes menschliche Maß ver­
loren, aber zum ersten Mal seit der vorgeschichtlichen Zeit liegt nun
über der Welt eine Bedrohung, die nicht politisch ist.
Zum ersten Mal ist es so, dass die gesellschaftlichen Probleme
und die Kämpfe zwischen Menschen keinen letzten Sinn des Wirk­
lichen enthüllen. Bei diesem Ende der Welt würde das Jüngste Ge­
richt fehlen . Die Elemente überfluten die Staaten, die sie bislang
noch in Zaum gehalten haben. Die Vernunft zeigt sich nicht in der

139
Über den Geist von Genf

Weisheit der Politik, sondern in Wahrheiten, die nicht unter einer


gesch khtliche n Bedingung stehen und die die kosmischen Gefahren
ankündigen Die Politik wird durch eine Kosmo Politik ersetzt, die
. -

eine Physik ist .


Wird eine Wissenschaft, die sich über die Aufteilung des Him­
mels Gedanken macht, tatsächlich die Kontrahenten miteinander
versöhnen, noch bevor diese es verstanden haben, die Welt in gerech­
ter Weise untereinander aufzuteilen? Diese W�i sheit die in der
,

Angst ihren Ursprung hat, wäre sie also die Offenbarung des neuen
Logos ? Der Geist von Genf hätte, wenn er keine Täus chung ist, des­
sen Triumph unweigerlich zum Ausdruck bringen müssen. Und den­
noch, so einfach können die Entscheidungen doch nich t sein. Darin
liegt das wirklich Neue einer Situation, in der Weisheit und Moral in
einem Gegensatz zueinander stehen. Die Kämpfe von einst erschei­
nen uns nunmehr wie Streitereien unter Kindern. Aber über diese
Art von Solidarität, die zweifellos in der Physik und nicht in der
Moral gründet, freuen si ch schon die Starken und die Bösen. Sie flie­
hen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs vor der Verantwortung.
Die Klarheit, mit der sie geboten ist, wird wie Opium verwendet.
Doch die Menschen finden sich nicht freudigen Herzens damit ab,
dass am Ende der Zeiten die Vorgeschichte wiederkehrt. In diesem
Anachronismus liegt genau genommen der neue Geist in seiner ei­
gentlichen Doppeldeutigkeit. Gespalten zwischen der Sorge, zu über­
leben, und der Sorge, im Leben einen Sinn zu f inden, lächeln die
Staatsmänner einander zu - ohne einander zu belügen, aber doch im
gegenseitigen Misstrauen. Dieses breite, aufgesetzte und stereotype
Lächeln ist gequält Der Mensch weiß noch nicht, ob es besser ist, sich
.

gegen die Säulen des Tempels der Ungerechten zu stemmen, auf die
Gefahr hin, »zusammen mit den Philistern zu sterben«, oder ob man
lieber an die Unschuldigen denken sollte, die unter seinen Trümmern
begraben würden.

140
XI

Prinzipien und Gesichter

Die Zeitungen, selbst die renommiertesten, sind, was Empörung und


Verachtung betrifft, schnell bei der Hand. Chruschtschows Fernseh­
ansprache am Vorabend seiner Abreise wurde als zu langatmig, lang­
weilig und taktlos bezeichnet, als eine reine Propagandarede voller
Gemeinplätze. Die Obereinstimmung in diesem Punkt war derart
einhellig, dass man sich fragen konnte, ob nicht alle wie verhext ge­
wesen sind von einer gewissen Frosine, die, vor gar nicht langer Zeit,
Harpagon davon überzeugen konnte, dass man »völlig verrückt sein
muss«, um »die jungen Leute sympathisch zu finden«.
Denn tatsächlich rührt diese lange und taktlose Propagandarede
von einem Denken heli das auch die bei uns vorherrschenden Lehr­
meinungen mit der Vernunft selbst identifizieren. Es mögen zwar
Gemeinplätze gewesen sein, aber nicht deshalb, weil diese Rede den
üblichen Kanon kommunistischer Lehrschriften heruntergebetet hat.
Diese Rede entsprach vielmehr ganz der impliziten oder expliziten
Metaphysik, in der das politische Denken des Abendlandes wurzelt.
Dass die Quellen des sowjetischen Katechismus im Westen entsprin­
gen, ist eine der Grillen von Herrn Chruschtschow, über die man sich
noch am wenigsten wundern muss. Sie hat nicht nur mit dem Ur­
sprung der Klassiker der Revolution und des Sozialismus, sondern
auch mit den Kategorien des westlichen Denkens selbst zu tun. Ge­
wisse Ideen Chruschtschows denken nur diejenigen Prämissen zu
Ende, auf denen auch unsere Syllogismen beruhen, ohne dass wir
aus ihnen freilich rue entsprechenden Folgerungen ziehen. Und nun
erscheint uns der Westen in seinem jetzigen Zustand plötzlich so, als
würde er es ständig vor sich herschieben, die Konsequenzen zu zie­
hen, die in seinen eigenen Prinzipien liegen.
Chruschtschow hat seine Art von Demokratie, in der es keine
politischen Parteien gibt, damit gerechtfertigt, dass in der UdSSR
die Klassen verschwunden seien. Denn stehen die Klassen nicht für
die partikularen Interessen, deren Widersprüche zu einer Vielzahl

141
Prinzipien und Gesichter

von Parteien führen ? Zu einem Staat ohne Konflikte gehört eine Ein­
heitspartei, eine Partei der Vernunft. Für Chruschtschow können die
sowjetischen Bürger gar nicht unterjocht gewesen sein, weil sie Din­
ge zustande gebracht haben, vor denen die ganze Welt nur staunen
konnte. Sie sind frei, objektiv frei, weil sie - vielleicht auch gegen
ihren Willen (aber was macht das schon!) - von der Vernunft geleitet
werden.
Dies sind Themen, die das westliche Denken in seiner Gesamt­
heit beherrscben. Es ist gewohnt - lange schon vor Hege! -, im Staat
die Inkarnation des Geistes selbst zu sehen. Der Staat, in dem es
keine Gegensätze und folglich auch keine Parteien gibt, bringt dje
Menschlichkeit des Menschen zur Vollendung. Er ist die verwirklich­
te Vernunft, ja selbst in seinem Werden stellt er die Vernunft dar, die
sich Schritt für Schritt offenbart. Das Individuum findet im Staat
seine höchste Befriedigung. Was es sonst noch beunruhigt und um­
treibt, ist Ausdruck der Illusion, der Ideologie, des subjektiven Ge­
fühls. Ach, schauen Sie sich doch das herablassende Lächeln gewisser
Meisterdenker an, die sich allein für das Allgemeine begeistern kön­
nen und alle Fragen nach dem Subjektiven immer nur mit einem
»Das hat doch keinerlei Bedeutung« abtun. Die Schreie des Gewis­
sens? Nichts als Symptome einer Hysterie. Für sie wie für
Chruschtschow sind Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - einmal als
Herzensangelegenheiten betrachtet - nur Begriffe, die aus einer abs­
trakten Moral herstammen. Uns wurde immer beigebracht, dass die
Freiheit mit der Entindividualisierung des Individuums zusammen­
falle, mit dem Willen des Allgemeinen, und dass dies für den Men­
schen bedeute, in dem kohärenten Diskurs dieses Allgemeinen zu
verschwinden, wie ein Maler, der sich ganz leibhaftig in seine Lein­
wand hineinbegeben würde, um dort ein stummes Leben zwischen
den gemalten Formen zu führen. Nach Auffassung der Spiritualisten
unter uns scheinen die ökonomischen Umbrüche der Welt und der
Aufbau einer internationalen industriellen Gesellschaft aus sich
selbst eine Menschheit hervorzubringen, die ganz im Einklang mit
dem Allgemeinen lebt. Warum sich also dann vor einer Einheitspar­
tei fürchten? Jene des Faschismus beruhte auf der Absurdität eines
besonderen Prinzips rassischer und nationaler überlegenheit. Die
einzige Partei in der UdSSR ist eine Arbeiterpartei. Die Idee des Ar­
beiters ist aUgemein genug, um alle Menschen zu umfassen, nicht
nur in dem Sinne, dass in der Gattung logischerweise die einzelnen
Individuen mit inbegriffen sind, sondern auch als eine Idee, die Ord-

142
Prinzipien und Gesichter

nung in die Strukn1ren des individuellen Zusammenlebens bringt,


also als Staat. Die westlichen Denker sind also alle reif genug dafür,
die von Chruschtschow angesprochenen Strukturen zu akzeptieren.
Und niemand wird sie verdächtigen können, sie würden sich dabei
von einem moralischen Gefühl leiten lassen. Sie begegnen dem So­
zialismus nicht als dem Ausdruck einer Revolte gegen das mensch­
liche Leiden, sondern als der reinen Vollendung der Idee des All­
gemeinen.
Die nuancierte und langsame Vorgehensweise, durch die der
Westen die Kühnheit seines Denkens abschwächt und so seine libe­
rale Tradition bewahrt, bremst aber in nichts die tatsächliche Dyna­
mik seiner Philosophie, die ihn genau zu dem Punkt führt, an dem
Chruschtschows Rede ansetzen kann und eine Epoche des europäi­
schen Denkens zu ihrer Vollendung kommt.
Ist e s die Krönung dieses Denkens oder seine Pervertierung ins
Absurde? Jene, die das sichere Gefühl haben, dass bei diesem Ergeb­
nis noch etwas fehlt, sich aber trotzdem nicht damit abfinden kön­
nen, nun nach einer tausendjährigen Suche nach dem Allgemeinen
den Besonderheitern der Tradition, der Landschaft, der »Familie«, des
»Vaterlandes«, der »Zunft« den Vorzug zu geben, müssten ihr eige­
nes Denken auf den Prüfstand stellen. Gibt es nicht auch ein All­
gemeines, das ein anderes ist als das des Staates, und eine Freiheit,
die eine andere ist als eine objektive? Dies sind schwierige Überle­
gungen, die weiter führen müssen, als man glaubt. Weit über Marx
und Hege! hinaus. Sie zwingen uns vielleicht sogar dazu, die letzten
Fundamente der abendländischen Metaphysik in Frage zu stellen.
Aber vielleicht kündigt dieses Ende einer Epoche ja auch schon
den Sinn einer solchen Revision an? Und trotzdem würde man sie
gerne unter das Zeichen von Chruschtschows Reise stellen. In einem
System, in dem allein die Prinzipien einer unpersönlichen Vernunft
zählen, macht diese Reise deutlich, dass es, gegen jedes System, auf
den eigenen guten Willen und die ethische Gesinnung ankommt, auf
eine Koexistenz ohne Systeme. Diese Reise belegt, wie wichtig jen­
seits allgemeiner Strukturen die Beziehung zwischen Besonderem
und Besonderem ist, die Beziehung zwischen Mensch und Mensch,
und sie zeigt ferne� dass es notwendig ist, hinter dem anonymen
Prinzip immer auch das Gesicht des anderen Menschen zu sehen.

143
XII

Die russisch-chinesische Debatte und


die Dialektik

Ist das »Ende der Welt« auch ein Thema, das im Streit zwischen
Russland und China eine Rolle spielt ? Man wird bei einer so ernsten
Frage über vage Vermutungen nicht hinauskommen, so als hätten
wir es mit einem noch wenig beleuchteten Detail in der Geschichte
der Azteken zu tun. Eine apokalyptische Politik! Aber gerade darauf
läuft die Geschichte hinaus, und damit hat sie sich, im doppelten
Sinne des Wortes, herumzuschlagen. Man kann nicht mehr ernsthaft
glauben, die Menschheit hätte sich nur zufällig in das marxistische
Abenteuer verirrt. Nichtkommunist zu bleiben bedeutet, sich in dem
gegenseitigen Kräftemessen dennoch die Freiheit des eigenen Urteils
zu bewahren. Auf einer solchen Freiheit zu bestehen hieße aber nach
der Auffassung gewisser Leute, vorn Kornm unismus nichts zu ver­
stehen, ein Bewusstsein zu postulieren, das allem Streit entzogen ist,
und sich folglich in einem Idealismus zu gefallen, der es sich bequem
gemacht hat in der Untätigkeit bürgerlichen Müßiggangs und dessen
einzigartiger Sicherheit. Dabei vergisst man aber, dass sich der freie
Gedanke nur durch einen äußerst schwierigen und gewagten Einsatz
aus dem Handeln herauslösen kann und dass er zu den revolutionärs­
ten Taten überhaupt gehört, zu denen, die äußerst aufrührerisch
sind; dass er, wie der Rationalismus selbst, immer wieder erneuert
werden muss; dass er nicht der individuellen Beliebigkeit ausgesetzt
werden, aber auch nicht aus einem Hochmut herrühren darf, ist er
doch, wenn auch auf seine Art, an eine Tradition gebunden.
Wie also soll man aufgrund der nur spärlichen Informationen in
der Presse frei über die russisch-chinesische Verstimmung denken?
Ein Auseinanderbrechen der monolithischen Blöcke im Osten (von
dem erwartet wird, dass es die Spannung auf diesem polarisierten
Terrain verringern werde) ist nicht die zwangsläufige Folge dieses
Risses. Doch vor allem die Schadenfreude, die man darüber empfin­
den mag, zeugt nicht gerade von einem unabhängigen Denken und
ist eines solchen letztlich auch nicht würdig. Es ist vielmehr die

145
Die russisch-chinesische Debatte und die Dialektik

Schwäche der schulmäßigen Dialektik, die als untrennbar mit dem


Glauben an eine menschhchere Gesellschaft verbunden gilt, die uns
nachdenklich stimmen muss. Aber auch hier liegt das Entscheidende
nicht darin, dass ein Widerspruch gerade zu einem Zeitpunkt er­
scheint, wo alle Gegensätze bereits überwunden sein sollten.
Es ist die Art des Widerspruchs, die hier von Bedeutung ist: Die
einen halten den ultimativen Krieg, der die Hälfte der Menschheit
auslöschen muss, für notwendig und unvermeidlich; die anderen
wollen ihn um jeden Preis vermeiden, trotz der Gewissheit, ihn zu
gewinnen. Keine Anwendung äußerster Gewaltmittel gegen den
Westen! Wäre also die zu opfernde Menschheit, die Menschheit des
Westens, für die Russen eine Notwendigkeit ? Wäre die ausschließ­
liche Gemeinschaft mit der asiatischen Welt, die mit der europäi­
schen Geschichte nichts zu tun hat, zu welcher Letzteren Russland
aber seit fast tausend Jahren gehört, auch wenn es dies aus strategi­
schen und tal<tischen Gründen nicht wahrhaben will, nicht beunru­
higend, selbst in einer klassenlosen Gesellschaft? Die homogene Ge­
sellschaft, die von sich behauptet, konkret zu sein - das heißt, die
gemäß gut hegelscher Lehre die Geschichte, die sie hinter sich lässt,
in sich aufhebt-, hätte sie tatsächlich die ausreichende Fähigkeit zu
einer solchen Aufhebung? Wenn Russland dem Westen den Rücken
kehrt, hätte es dann nicht zu befürchten, in einer asiatischen Kultur
unterzugehen, die ja ihrerseits auch hinter dem scheinbar Konkreten
der dialektischen Vollendung fortbestehen würde? Die gelbe Gefahr!
Sie liegt nicht in der Rasse, sondern im Geistigen begründet. Es geht
dabei keineswegs um eine Minderwertigkeit, sondern vielmehr um
eine radikale Fremdheit, die fremd ist aufgrund der ganzen Dichte
ihrer Vergangenheit, durch die nicht die Spur eines vertrauten
sprachhchen Lauts sickert, einer Vergangenheit auf dem Mond oder
dem Mars. Im Pazifismus der Russen drückt sich, vielleicht, die Zer­
rissenheit der Menschen aus, die gespalten sind zwischen der Ver­
lockung einer dialektischen Synthese, die als eine konkrete verspro­
chen ist, sich nun aber, unerwartet, als eine ideologische herausstellt,
und dem bleibenden Reiz eines griechisch-jüdisch-christlichen Wes­
tens und seiner Geschichte, den es zwar zu beherrschen, aber nicht zu
vernichten gilt. Ein unwiderstehlicher Reiz, der trotz des Scheiterns
der Gipfelkonferenz im Mai 1960 - und auch möglicher weiterer
Misserfolge - weiter bestehen bleibt. Deshalb auch die Furcht: die
Furcht, ein Evangelium ohne Altes Testament anzunehmen. Sollte
der Marsch in Richtung auf eine universale Gesellschaft folglich auf

146
Die russisch-chinesische Debatte und die Dialektik

Wegen verlaufen, auf denen die verschiedenen Gruppen von Men­


schen ihre eigene Geschichte nicht einfach hinter sich lassen müss­
ten? Es würden hier Partikularitäten bestehen bleiben, die sich auch
dialektisch nicht aufheben lassen.
Dass die Wahrung dieser Partikularitäten nicht schlicht und ein­
fach in eine Begeisterung für die Nationalismen vergangener Zeiten
zurückführt, zeigt uns ein anderer Aspekt der chinesisch-russischen
Debatte: die Behauptungen, die angeblich auf Seiten der Chinesen im
Umlauf sind. Sie hätten gegen das Interesse der Sowjets protestiert,
das diese unterschiedslos den jungen Staaten entgegenbringen, selbst
wenn diese sich allein auf eine nationalistische Begeisterung gründe­
ten. Und dennoch hätte die dialektische Tragweite dieses Interesses
den Kommunisten ins Auge springen müssen: Nichts hat seine Be­
deutung sofort, sondern gewinnt sie erst durch die Entwicklung. Es
wäre von daher also vernünftig, die Antikommunisten zu unterstüt­
zen, sofern sie eine Etappe auf dem Weg zum Sozialismus darstellen,
und Sympathie gegenüber denjenigen zu bekunden, die die Kom­
munisten in ihren Gefängnissen foltern. Es wäre vernünftig, die so­
zialistischen Parolen und anti-imperialistischen Slogans ernst zu
nehmen, mit denen sich die aufgestachelten und gierigen Nationalis­
ten schmücken. Seit langem schon betrachten wir selbst im Westen
die Selbstverständlichkeiten des moralischen Gewissens, das empört
ist angesichts dieser Widersprüche, als bloße Abstraktionen: Schwarz
hat aufgehört schwarz zu sein unter dem Vorwand, dass es sowieso
einmal weiß werden wird. Man muss also ein wenig Chinese werden,
um das Kind wieder beim Namen nennen und in dem nationalisti­
schen Anti-Kapitalismus den Schatten des Nationalsozialismus wie­
dererkennen zu können.

147
Laizismus und Moral
XIII

Der Laizismus und das Denken Israels

Kann das Judentum, die älteste unter den religiösen Gemeinschaften


und Lehren, einen Begriff wie den des Laizismus überhaupt gekannt
oder auch nur geahnt haben? Hat dieser Begriff, der aus einer politi­
schen Erfahrung und rationalen Auseinandersetzung mit dieser Er­
fahrung - beides in je eigener Weise charakteristisch für den Geist
des Abendlandes - hervorgegangen ist, auch jüdische Wurzeln oder
eine Entsprechung innerhalb des Denkens Israels?
Flavius Josephus hat das politische Ideal des Judentums mit dem
Begriff der Theokratie1 charakterisiert und scheint es damit in einen
Gegensatz zu jeder laizistischen Lehre vom Staat zu stellen. Es lässt
sich wohl kaum bestreiten, dass die Idee Gottes für das Denken der
Juden maßgebend ist und dass sie auch ihr privates und öffentliches
Leben beherrscht. Aber die Frage ist doch, in welcher Form diese Idee
zum Ausdruck gebracht wird und welche Gestalt diese Herrschaft
angenommen hat. Auch wenn der Ausdruck Theokratie angemessen
erscheint, so ist damit nicht - weder bei den jüdischen Denkern noch
innerhalb der Institutionen des antiken jüdischen Staates - eine poli­
tische Regierungsform gemeint, in der die Führung in den Händen
von Priestern hegt; die Herrschaft Gottes besteht im Judentum darin,
dass er die Menschen eher unter das Gebot der Ethik als das der Sa­
kramente stellt, sodass die soziologische Kategorie der Religion ei­
gentlich gar nicht mit dem Phänomen des Judentums zu vereinbaren
ist. Denn durch sie würde genau das verloren gehen, worin das ei ­
gentlich Originäre des Judentums besteht und wodurch es sich, zu­
mindest in einem gewissen Maße, in einen Gegensatz zum Mythos,
zum Mysterium, zum Numinosen, zum Dogmatischen und zum Ir­
rationalen stellt. Sie würde paradoxerweise gerade das zum Ver­
schwinden bringen, was die laizistische Seite des Judentums aus­
macht.

l Contra Apionem, 2,16.

151
Der Laizismus und das Denken Israels

Das Paradox wird dann entschärft, wenn man sich die Frage nach den
Quellen stellt: Worin genau drückt sich das jüdische Denken aus?
Eine Frage, die in den Bereich der Präliminarien gehört, in diesem
Fall aber von grundsätzlicher Bedeutung ist. Sie erlaubt es, den ei­
gentlichen Begriff des Judentums auf eine objektive Weise zu bestim­
men, einen Begriff, der in Europa sehr wohl vertraut ist, über den
aber auch sehr viel Unwissenheit besteht und viele Missverständnis­
se im Umlauf sind.
Das Christentum führt zweifellos eine bestimmte Seite des Ju­
dentums fort, doch erschöpft sich das Judentum nicht einfach im Jü­
disch-Christlichen. Es setzt vielmehr eine ursprüngliche Tradition
fort, im Namen deren es sich der christlichen Botschaft verweigert
hat, und zwar ganz bewusst (und nicht aus Blindheit oder purer Ver­
stocktheit). Das Judentum manifestiert sich im Alten Testament, aber
auch in der rabbinischen Literatur; die den Talmud mit einschließt,
den Philosophen, den Exegeten sowie den »Entscheidungsträgern«
des Mittelalters und der Neuzeit. Trotz der Einheit, in der sich das
Judentum präsentiert - eine Religion ohne Sekten -, lässt es sich in
keinerlei Dogmatik zusammenfassen. Die religiösen Praktiken unter­
liegen zwar einer Regelung, die in ihrer inneren Geschlossenheit
ausformuliert vorliegt, sie stellen letztlich aber nur die Konsequenz
aus einem unendlich reichen theoretischen Werk dar. In ihm prallen
die unterschiedlichsten Positionen aufeinander, deren Gegensätzlich­
keit aber keineswegs durch die Tatsache aufgehoben wird, dass unter
allen Juden hinsichtlich der Vorschriften für das jüdische Leben Ei­
nigkeit besteht - egal ob sie dann auch beachtet werden oder nicht.
Die Verbindung mit diesem Denken in Form einer lebendigen Aus­
einandersetzung- das Studium - stellt für den praktizierenden Juden
eine wesentliche Aufgabe für die Praxis dar. Und hier berühren wir
auch schon einen der charakteristischen Aspekte des Judentums: sei­
ne Lehre, die Tora (die in einem engen Sinne den Pentateuch und im
weitesten Sinne die ganze Bibel und das rabbinische Denken, das aus
ihr hervorgegangen ist, bezeichnet), ist nichts anderes als Fragen und
Diskussionen. Sie existiert nicht in Gestalt eines mystischen Wortes,
sondern sie lebt durch die Forschungen der Gelehrten, der Rabbiner,
die immer wieder und zu allen Zeiten auf sie zurückgreifen. Sie ver­
langt geradezu nach Meinungsvielfalt und Auseinandersetzung. Die
Originalität des Einzelnen setzt die Wahrheit der Lehre nicht aufs
Spiel, sondern verhilft ihr vielmehr ans Licht. Das Studium ist kein
bloßes Wiederkäuen der Tora; in ihm offenbart sich die Tora.

152
Der Laizismus und das Denken Israels

Der Lichtquell dieses geistigen Lebens, der die Wege des jüdi­
schen Denkens durch die Geschichte hindurch erleuchtet, ist der Tal­
mud. Er ist seit dem 6. Jh. n. Chr. maßgebend für das jüdische Den­
ken. Das Judentum empfängt sogar die Lehre der Bibel selbst über
den Talmud, der seiner Auffassu ng nach die authentische Auslegun g
ihres Textes bleibt. Diese ist es, die den Geist vom Buchs taben löst,
und zwar häufig mit einer extremen Kühnheit und trotz der offen­
sichtlichen Treue zum Wort.
Aber es ist nicht der Glaube allein, der dem Vertrauen in die
talmudische Exegese zugrunde liegt. Historisch betrachtet waren es
die Pharisäer, die den biblischen Kanon, der den Christen und Juden
gemeinsam ist, den Juden überliefert haben - und übrigens auch den
Christen. Sie waren die Lehrer des Talmud.2 Der biblische Text geht
zurück auf ein fernes Zeitalter; seine Dunkelheit wird durch die
Übersetzungen verschleiert; die Unterweisungen der Talmudgelehr­
ten, ihre Kommentare zu den Gesetzestexten und historischen Er­
zählungen der Bibel sind Marksteine, die immer wieder neu die Kon­
tinuität der Tradition garantieren.
Diese Tradition wird Ende des 2. Jahrhunderts schriftlich fixiert
und als Mischna bezeichnet. Die Mischna selbst wiederum wird
durch die mündliche Lehre neuer Generationen von Rabbinern aus­
gelegt. Diese mündliche Lehre erhält gegen Ende des 5. Jahrhu nderts
ihre schriftliche Form - die Gemara. Beide zusammen, die Mischna
und die Gemara, bilden den Talmud. Es gibt zwei Talmudim, deren
schriftliche Fassungen ungefähr aus der gleichen Zeit stammen: Der
Jerusalemer Talmud ist in Palästina entstanden, der Babylonische
Talmud entwickelte sich innerhalb der Rabbinerschulen Babyloniens.
Die talmudische Tradition mündet in den Kodex praktischer Re­
geln, der die Grundlage jüdischen Lebens darstellt. Dieser Kodex geht
zurück auf den Anfang des 16. Jahrhunderts. Es ist der berühmte
Schulchan Aruch - oder »Gedeckter Tisch«. Er steht am Ende eines
Weges durch die ganze Literatur der maßgeblichen Entscheidungs­
träger - Autoritäten, die angesichts der aus dem Talmud sich erge­
benden theoretischen Streitigkeiten Entscheidungen über die kon­
kreten Verhaltensweisen fällten. Maimonides nahm unter ihnen
den höchsten Rang ein, denn er war es, der das jüdische Denken des

2 Der Beginn des modemen Judentums fällt vielleicht mit dem Versuch zusammen, die
Bibel ausgehend von der Philologie oder vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem
Land Palästina zu lesen, also unter Verzicht auf die talmudischen Bezüge.

153
Der Laizismus und das Denken Israels

Talmuds im Lichte griechischen Denkens erstrahlen ließ; seine Auto­


rität war kaum geringer als die der jüdischen Quellen selbst. 3
Im Verlauf dieser ganzen Entwicklung bedeutet Rabbi niemals
Priester. Die Auslegung der Tora gehört nicht zu den priesterlichen
Funktionen; im Judentum sind die Kleriker keine Geistlichen. Der
jüdische Klerikalismus hat einen laizistischen Charakter.
Man muss das jüdische Denken im Talmud suchen und in den
Werken, die in ihn eingeflossen sind oder in ihm ihre Quelle haben.
Ansonsten verirrt man sich in den Einzelwerken und Texten zweit­
rangiger Bedeutung, in denen sich seit 150 Jahren eine zum Erliegen
gekommene Tradition verliert, trotz der Begabung der Autoren, die
häufig nicht weniger groß ist als ihre Unverantwortlichkeit und ihre
Neigung zur Improvisation. Aus dieser Vielfalt des Denkens, das sich
über einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden erstreckt, wollen
wir einige Konstanten herausstellen, anhand deren die Ursprünge
des Laizismus im Judentum untersucht werden sollen. Es soll dabei
nicht um konkrete Institutionen aus heutiger Zeit gehen, an denen
sich dies belegen ließe, sondern um die Geisteshaltung, die diese
überhaupt möglich gemacht haben. Sie zeigt sich in dem Vorrang
des Moralischen gegenüber dem Priesterlichen sowie in der relativen
Autonomie des Politischen.

3 Man unterscheidet: a) Die antiken Entscheidungsträger aus dem 7. bis 10. Jahrhun­
dert; b) die ersten Entscheidungsträger aus dem 10. bis 15. Jahrhundert und c) die letz­
ten Entscheidungsträger aus dem 15. bis 18. Jahrhundert. Herausa r gende Namen, die
für die Entwicklung dieses Denkens stehen, sind für die erste Periode die »Gaonim« der
babylonischen Talmudakademien: Sa.adia, Gaon von Sura (882-942), Hai, Gaon von
Pumbedita (940-1038) und Chananel von Kai rouan aus der ersten Hälfte des 11. Jahr­
hunderts. In der zweiten Periode trat zunächst Alfasi (1013-1103) auf, dessen Abhand­
lung Hilchot Harif einen entscheidenden Einfluss auf die ganze spätere Entwicklung
nahm. Er ebnet auch den Weg ür f das bahnbrechende Werk von Maimonides (1135-
1204), das den Talmud in seiner Gesamtheit aufgreift und ihn aus einer griechischen
Sichtweise neu beleuchtet - ein Werk, das die Angriffe, denen es ausgesetzt ist, über­
windet und sich schließlich durchsetzen wird. Mit Maimonides wird der philosophische
Gehalt des jüdischen Denkens zum Bewusstsein gebracht. Dieses Werk wird einen gro­
ßen Einfluss ausüben auf Ascher ben )echiel (gest. 1327), wie auch auf seinen Sohn,
)aakob ben Ascher (ges t. 1343), Rosch genannt, der eine Systematisienmg des Gesetzes
vornimmt unter dem Titel Arbaa Tu ri m. Josef Karo (1488-1575), Autor des Bet ]osef,
eines Kommentars zu Arbaa Turim, verfasste aus diesem sein berühmtes Werk Schul­
chan Aruch, das wiederum von Moses Isserles (1520-1572) mit einem Kommentar ver­
sehen wird, den Hagahot Harama.

154
Der Laizismus und das Denken Israels

I . Der Vorrang der Moral vor dem Priesterlichen

1. Religion und menschliche Universalität

Die weltlichen Institutionen, die die Grundformen des öffentlichen


Lebens aus allen metaphysischen Bezügen herauslösen, sind nur
dann zu rechtfertigen, wenn der Zusammenschluss der Menschen
zu einer Gesellschaft, d. h. wenn der Friede die eigentliche Antwort
auf die metaphysische Berufung des Menschen darstellt. Ohne das
wäre der Laizismus nichts anderes als die Suche nach einem beschau­
lichen und bequemen Leben, eine Gleichgültigkeit der Wahrheit und
den anderen gegenüber, ein reiner Skeptizismus. Die weltlichen In­
stitutionen sind überhaupt nur möglich aufgrund der Tatsache, dass
der Friede unter den Menschen einen Wert an sich darstellt. Für die
Anhänger des Laizismus ist die Gesellschaft Ausdruck eines positiven
und ursprünglichen Wertes und nicht nur die formale oder negative
Bedingung für andere Werte, die durchaus auch positiv sein mögen.
Dieses Bemühen um Frieden kann nun aber in Widerspruch zu einer
Religion geraten, sofern diese untrennbar mit Dogmen verbunden
ist. Dogmen nämlich gehen auf Offenbarung und nicht auf Beweise
zurück, sie kollidieren mit Denkformen und Verhaltensweisen, die
die Menschen untereinander verbinden, und führen zu Streitigkeiten
und Konflikten. Wenn sich aber der Partikularismus einer Religion in
den Dienst des Friedens stellt, und zwar in einem Maße, dass deren
Anhänger die Abwesenheit dieses Friedens als Abwesenheit ihres
Gottes empfinden, und wenn die subjektive Berufung, die den gläu­
bigen Menschen von seinen Nächsten oder seinen Fernsten unter­
scheidet, diesen nicht rücksichtslos oder gewalttätig, sondern viel­
mehr offener und aufgeschlossener werden lässt dann fallen die
Religion und das Ideal des Laizismus zusammen.
Im Judentum kann ein solcher Konflikt gar nicht erst auftreten,
denn in ihm ist die Beziehung zu Gott außerhalb der Beziehung zu
den Menschen undenkbar. Das Heilige vereinnahmt hier den Gläu­
bigen nicht und hebt ihn nicht auf; es liefert sich nicht der wunder­
tätigen Kraft liturgischer Handlungen von Seiten der Menschen aus.
Es offenbart sich nur dort, wo der Mensch den Menschen als Anderen
anerkennt und sich ihm als solchem öffnet. Die Autoren vergangener
Zeiten haben das Judentum wegen seines Widerstandes gegen diese
Idolatrie des Heiligen der Gottlosigkeit und des Atheismus bezich­
tigt. Die Rituale dienen dem Judentum als Methode und Disziplin für

155
Der Laizismus und das Denken Israels

seine Ethik. Sie haben keine sakramentale Bedeutung.4 Kein Bekeh­


rungseifer versucht sie jemandem aufzuzwingen. Die ethische Bezie­
hung, die ohne Gerechtigkeit unmöglich ist, ist nicht nur eine Vor­
bereitung auf das religiöse Leben und sie leitet sich auch nicht bloß
aus diesem ab, sondern sie ist bereits dieses Leben selbst. Die Gottes­
erkenntnis besteht nach Jeremia 22,16 darin, »dem Schwachen und
Armen zum Recht zu verhelfen«. Der Messias definiert sich in erster
Linie dadurch, dass er ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit
errichtet- das heißt, dass er die Gesellschaft heiligt. Keine Hoffnung
auf ein persönliches Seelenheil - wie immer man sich dieses auch
ausmalen mag - ist möglich oder denkbar außerhalb der gesellschaft­
lichen Vollendung, deren Fortschritte in jüdischen Ohren wie die
Schritte des Messias selbst klingen. Von Gott zu sagen, dass er ein
Gott der Armen und ein Gott der Gerechtigkeit ist, ist keine Aussage
über seine Eigenschaften, sondern über sein Wesen. Daher auch der
Gedanke, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen, die unab­
hängig von jeder religiösen Glaubensgemeinschaft im engen Sinne
sind, in gewisser Weise den höchsten liturgischen Al<t darstellen, der
unabhängig ist von allen Äußerungen ritueller Frömmigkeit. Die
Propheten ziehen zweifellos in diesem Sinne die Gerechtigkeit den
Opferhandlungen im Tempel vor. Nie spricht der Prophet von der
menschlichen Tragik, die der Tod mit sich bringt; er kümmert sich
nicht um die Unsterblichkeit der Seele. Das Unglück des Menschen
liegt in dem Elend, das die Gesellschaft zerstört und zerreißt. Tragi­
scher als der Tod ist der Mord. »Warum gibt Euer Gott den Armen
nicht zu essen, wo er doch der Gott der Armen ist?«, fragt im Traktat

• Gewiss gibt es in der jüdischen Tradition zahlreiche Interpretationen der Bedeutung


des Ritus. Diejenige von Maimonides neigt dazu, die rituellen Bräuche in der Ethik zu
begründen. Maimonides erklärt den Opferkult, aus dem sich im Judentum ein großer
Teil der rituellen Handlungen herausgebildet hat, als eine Haltung, mittels deren all das,
was für die Sitten und Gebräuche einer Epoche bestimmend ist, also das, was letztlich die
Volksreligion ausmacht, auf Gott hin ausgerichtet wird. jede Epoche fällt auf ihre Weise
in die eigenen Sitten und Gebräuche zurück, jede Epoche hat ihre eigene Volksreligion
und braucht daher eine Richtlinie und einen Rims. Der menschliche Hang zum magi­
schen Rims kann nur mit dem Ritus selbst bekämpft werden. Schon ein alter rabbi­
nischer Text bringt diese Ansicht des Maimonides zum Ausdruck: »Rabbi Pinchas sagte
im Auftrag des Rabbi Levi: Da die Israeliten in Ägy pten eifrig Götzendienst betrieben
haben und Stieren, die Dämonen waren, opferten, sagte der Ewige zu ihnen, sie sollten
ihm Opfer darbringen in der Stiftshütte, und zwar zu jeder Zeit, und ablassen vom
Götzendienst und heilig sein.«

156
Der Laizismus und das Denken Israels

Baba-Bathra5 ein Römer den Rabbi Akiba. - »Damit wir der Gehenna
entgehen können«, antwortet der jüdische Gelehrte. Es ist die Auf­
gabe des Menschen, den Menschen zu retten: Die göttliche Art und
Weise, das Elend zu beseitigen, besteht gerade darin, Gott hier nicht
ins Spiel zu bringen. Das wahre Verhältnis zwischen Mensch und
Gott beruht auf der Beziehung von Mensch zu Mensch, für die der
Mensch allein die volle Verantwortung trägt, so als ob es keinen Gott
gäbe, auf den man zählen könnte. Dies ist die Geisteshaltung, die den
Laizismus bedingt, auch in seiner modernen Form. Sie ist nicht Aus­
druck eines Kompromisses, sondern der natürliche Boden, auf dem
die größten Werke des Geistes gedeihen.

2. Der jüdische Partikularismus im Blick auf die Universalität

Dennoch scheint es, als sei der jüdische Partikularismus die Bedin­
gung für die universale Gesellschaft, nach der wir suchen. Wenn die
Menschen in der Lage sein sollen, aufeinander zuzugehen, ohne da­
bei aneinander zu geraten, und sich gegenseitig in ihrer mensch­
lichen Würde, die sie einander gleich macht, anerkennen sollen, muss
es jemanden geben, der sich für diese Gleichheit in einem Maße ver­
antwortlich fühlt, dass e r auf sie verzichtet, in einem Maße also, dass
er »unendlich mehr« und »immer mehr« von sich selbst verlangt als
von den anderen. Dies genau ist die Definition der Auserwählten.
Eine Haltung, die letztlich mit dem moralischen Gewissen selbst zu­
sammenfällt: Dieses ist, bezogen auf andere, immer das Ungleiche,
denn niemand kann an seine Stelle treten. Es ist unendlich verpflich­
tet. Das »Ich«, so sagt Vladimir Jankelevitch, der sich gewiss nicht als
Talmudist versteht, ist das Einzige, das keine Rechte hat. Das Eigent­
liche des Judentums besteht darin, den individuellen oder nationalen
Egozentrismus oder Egoismus in eine Berufung des moralischen Ge­
wissens zu verwandeln.. Und dies ist die Art und Weise, in der auch
das Judentum selbst die eigentliche Rolle Israels sieht, die Würde, die
ihm als auserwähltem Volk zukommt und die so oft falsch verstanden
wurde. Gemäß einem Apolog des Talmuds kann die Rettung der
Menschheit nur dort geschehen, wo eine auserwählte Gemeinschaft
selbst zur Kultstätte geworden ist. 6 Das Judentum hat nicht den Stolz
auf die nationale Überlegenheit in die Welt gebracht (was für die

5 P. lOa.
6 Traktat Sukka, 55b.

157
Der Laizismus und das Denken Israels

Griechen galt, die sich über die Barbaren erheben wollten), sondern
die Idee einer Universalität, die aus einer Erhabenheit herrührt,
einer Universalität der Ausstrahlung.7 Seine eigentliche Funktion,
seine religiöse Erwählung, schien dem Judentum in der Verantwor­
tung zu liegen, die ihm als einem Volk von Auserwählten zukommt,
in seiner Aufgabe als Arbeiter der ersten und nicht der elften Stun­
de.8 Ein Privileg, das zum Fürchten ist: »Nur euch habe ich erwählt
aus allen Stämmen der Erde; darum ziehe ich euch zur Rechenschaft
für all eure Vergehen.«9 Im jüdischen Denken gründet sich die Uni­
versalität auf den Verantwortlichkeifen einer auserwählten Gruppe
in ihrer Partikularität. Die Universalität ist das Omega der Morali­
tät und nicht das Alpha.
Doch der jüdische Partikularismus steht nicht im Widerspruch
zu einer universalen Gesellschaft; er bedingt sie vielmehr. Israel um­
fasst nicht die ganze Welt. Auch wenn das Judentum den Frieden
zwischen den Menschen zum höchsten religiösen Wert und letzten
Ziel erklärt und diesen Frieden sicherlich auch untrennbar mit den
Verantwortlichkeifen Israels verbindet, so verlangt es dennoch zu
keinem Zeitpunkt, dass die gesamte Menschheit zum Judentum über­
treten soll. Das Judentums sieht seine Mission nicht in der Bekeh­
rung. Denn die Toleranz, die es auszeichnet, ist keine Resignation
und kein Kompromiss, sondern sie ist bereits eine Gemeinschaft.

3. Der messianische Gedanke als Grundlage der Gesellschaft

Aber wenn die Ethik, die die Religion begründet, dieser Religion zu­
gleich die Möglichkeit eröffnet, eine Gesellschaft hervorzubringen,
der sich der religiöse Partikularismus unterordnet - also im Grunde
genommen schon eine laizistische Gesellschaft -, dann muss man auf
dem unbedingten Charakter dieser Ethik bestehen. Was das grie­
chische Denken hierzu beiträgt, ist die Weisheit, die auf die Polis
bezogen ist. Das Novum des jüdischen Beitrags besteht hingegen da­
rin, die planetarischen Dimensionen der humanen Gesellschaft he­
rauszustellen, die Idee einer möglichen Übereinstimmung zwischen
den Menschen, die nicht durch den Krieg, sondern durch die Brüder-

7 Vgl. den Kommentar des Raschi in Lech-Lecha. Die durch Abraham und Snrn in Ha­
ron gewonnenen Seelen sind Seelen, die für die Wahrheit gewonnen wurden.
8 Traktat Aboda Zara, 3a.

' Amos3,2.

158
Der Laizismus und das Denken Israels

lichkeit erzielt wird, durch die Vaterschaft Noahs, Abrahams und


letztlich diejenige Gottes. Ein wesentlicher Beitrag. Nicht, weil die
Idee einer humanen Gesellschaft noch vornehmer ist als die Idee
einer griechischen Polis, sondern weil nur die Idee der Humanität
die Gerechtigkeit- selbst die nationale Gerechtigkeit- in ihrer Unbe­
dingtheit, d. h. in ihrer Unwiderruflichkeit, hervorbringen kann. Der
Gedanke der Humanität hebt die Bedrohung des Krieges, der über
jeder bloß nationalen Gerechtigkeit liegt, auf. Der Krieg macht aus
jeder Moral ein Provisorium: Immer wenn die Gesellschaft einer Na­
tion in Gefahr gerät, beginnt das Kriegsgeschrei, und es wird auf alle
möglichen Notwendigkeiten verwiesen, nur nicht auf die mora­
lischen. Die Welt der Antike ist durch die Idee bestimmt, dass der
Krieg eine Schicksalsfügung sei, und diese Idee hindert sie daran,
ihre Moral von der Politik zu befreien. Indem der jüdische Mono­
theismus eine Menschheit entdeckt, die auf Brüderlichkeit beruht
und nicht nur aus gleichen Individuen besteht (die aus den Steinen
entstanden sind, die Deukalion hinter sich geworfen hat), entdeckt
sie zugleich eine ewige Moral, die unabhängig ist von der Politik -
und nur diese ist in der Lage, die zwischenmenschliche Beziehung als
eine absolute zu setzen . Der Laizismus impliziert nichts Geringeres:
eine messianische Politik, die die Grundlage darstellt für eine bedin­
gungslose Ethik.

4. Die Begriffe Fremde1� »Noachide« und »Gerechter unter den


Heiden«
Die Idee einer Gesellschaft, die die Religion im Namen der Religion
selbst in Klammern setzt, konkretisiert sich in der Idee des Fremden ­
des ger. Mehr als vierzig Mal erinnert uns der Pentateuch an den
Respekt, den wir dem Fremden schulden. Es gilt dasselbe Gesetz für
den Fremden wie für den Einheimischen; der Grund dafür liegt so­
wohl in der menschlichen Brüderlichkeit als auch in der mensch­
lichen Not, der alle gleichermaßen ausgesetzt sind (»denn du bist
selbst Fremder in Ägypten gewesen«). Das Recht einer Person liegt
außerhalb ihrer Zugehörigkeit zur Religion des Staates begründet.
Der jüdische Monotheismus verkündet das natürliche Recht.
Der Gedanke des Fremden, der unabhängig von jeder religiösen
Bindung ein Teil der Gesellschaft ist, hat seine Wurzel in dem talmu­
dischen Begriff des Noachiden: ein Nachkomme Noahs und Glied der
Menschengemeinscl1aft. Der Fremde wird als Noachide in die Gesell-

159
Der Laizismus und das Denken Israels

schaft aufgenommen. Aber die laizistische Gesellschaft begründet


sich nicht aus einer naturalistischen Auffassung der menschlichen
Natur, und sie beruht auch nicht auf der bloßen Allgemeinheit eines
Begriffs. Sie ist vielmehr in einer positiven Weise bedingt. Der Noa­
chide ist der moralische Mensch, unabhängig von seinem religiösen
Glauben. Der Talmud unterscheidet zwischen dem Fremden, der sich
zum Judentum bekennt (ger tsedek) und der ganz in der religiösen
Gemeinschaft aufgeht und sich in nichts mehr von den anderen Ju­
den unterscheidet, ja sich sogar auf die Väter berufen kann lO (Ras­
sismus ist dem Judentum also wahrhaftig fremd) - und dem Frem­
den, der, ohne zur israelitischen Kultgemeinschaft zu gehören, die
moralischen Gesetze des Noachiden achtet (ger toschav). Dies allein
genügt, dass e r in den Genuss aller bürgerlichen Rechte kommt und
auch die Fürsorgepflichten auf ihn ausgeweitet werden.11
Noachide ist derjenige, der die folgenden sieben Gesetze be­
achtet, von denen sechs negativ sind: Verbot von: 1) ldolatrie;
2) Blasphemie; 3) Mord; 4) Ausschweifung; 5) Fleisch, das von einem
noch lebenden Tier entnommen ist; 6) unrechtmäßiger und gewalt­
samer Anneignung von fremdem Hab und Gut. Das positive Gesetz
besteht darin, die Autorität eines Gerichtes anzuerkennen. Der Noa­
chide definiert sich also über die Moral. Idolatrie bedeutete für den
Talmud immer etwas Unmoralisches.12 Die Menschlichkeit des Men­
schen beginnt mit der Moral. Von einem Noachiden wird nicht ver­
langt, an den Gott der Juden zu glauben: selbst einen Sklaven kann
man nicht dazu zwingen. Jemand, der sich zum Judentum bekehrt,
fordert nicht von seinen Kindern, es ihm gleich zu tun; diese bleiben
bis zu ihrer Volljährigkeit Noachiden.13 Der Talmud räumt auch
einem neutralen religiösen Status seinen Platz ein, einem Menschen,
der keinem Bekenntnis folgt, aber deswegen nicht spirituell verküm­
mert und gesellschaftlich geächtet ist. Wer sich einer Moral ver­
pflichtet weiß, der gewinnt mit vollem Recht auch Zugang zur Ge­
sellschaft. Es geht dabei nicht wie im Christentum darum, den

10 Maimonides, Antworten, 369; Midrasch Tanchuma im Abschnirr Le<:h-Lccha.


11 Der TraktatBaba Metsia, S. 111, sagt, dass das Prinzip der » sozialen Gesetze«, wie es
in der Verpflichtung, dem Arbeiter seinen Lohn nicht vorzuenthalten, zum Ausdruck
kommt, auch auf den ger toschav angewendet werden muss.
12 Die Menschen wussten sehr wohl, so der Traktat Sanhedrin, 63b, um die Unvernünf­

tigkeit der Idolarrie, und dennoch frönten sie ihr, weil sie die Rechtfertigung für die
verschiedensten öffentlichen At1sschweifungen lieferte.
IJ Traktat Ketubot, lla.

160
Der Laizismus und das Denken Israels

Ungläubigen gegenüber Barmherzigkeit walten zu lassen, sondern es


handelt sich hier vielmehr um eine Eingliederung, wie sie durch das
Gesetz vorgesehen is t, einen Akt, den die Gerechtigkeit gebietet.
»Ein Nicht-Jude, der sein Leben im Sinne der Tora führt - d. h. der
die sieben Gebote des Noachiden befolgt- gleicht einem Hohenpries ­

ter.« 14
Im Begriff des Noachiden liegt die Begründung des Naturrechts.
Er ist der Vorläufer für die Menschenrechte und für die Gewissens­
freiheit. Seine inhaltliche Bedeutung reicht bis zu dem Begriff des
»Gerechten und Frommen unter den Heiden « »Es gibt Gerechte un­
.

ter den Götzendienern, die teilhaben werden an der künftigen


Welt.« 15 Die außerhalb jeder Religion liegenden gesellschaftlichen
Bande reichen also so weit und so tief wie die der religiösen Gemein­
schaft. Es geht hier aber nicht um ein bloßes Mindestmaß. Der j üdi­
sche Monotheismus legt in Gott selbst die Sehnsucht nach einer uni­
versalen Gesellschaft hinein. Und darin liegt vielleicht auch seine
eigentliche Geistigkeit, durch die er sich von den nationalen Göttern
unterscheidet. Das »Gott liebt die Fremden« aus dem Buch Deutero­
nomium1 6 ist keine Erzählung über Gott, sondern eine Definition
Gottes.
Doch die Idee einer menschlichen Gesellschaft umfasst letzten
Endes die gesamte Menschheit. Der vom Talmud17 und den Entschei­
dungsträgern eingeführte Ausdruck »Wege des Friedens« führt zu
Verpflichtungen selbst demjenigen gegenüber, der Götzendienst be­
treibt. Maimonides greift diese etwas nüchterne Wendung aus dem
Talmud - die aber sehr wohl zum Stil seines Denkens passt, das auf
jede Weitschweifigkeit verzichtet - wieder auf: »Man muss den Ar­
men unter den Götzendienern zu essen geben und ihre Kranken be­
suchen - all das aufgrund der Wege des Friedens.«1s Er bindet19 die
»Wege des Friedens« an die Verse des Psalmisten zurück: »Der Ewige
ist gut zu allen und seine Barmherzigkeit erstreckt sich auf all seine
Werke.« »All seine Wege sind Freundlichkeit, all seine Pfade Friede.«
Der Traktat Gittin20 fasst den Sinn dieser Verse mit noch größerer

" Traktat Sanhedrin, 59; Aboda Zara 3a.


15 Tosefta Sanhedrin, 18; vgl. auch Traktat Sanhedrin, 105.
1' Dtn 10,18 f.
11 Vgl. Traktat Giuin, 59a.
1 8 Traktat Gittin, 6la.
19 Maimonides, Hilchot Me/ach im 1.0,12.
10 Traktat Gittin, 59b.

161
Der Laizismus und das Denken Israels

Nachdrücklichkeit zusammen: »Die ganze Tora ist auf die Wege des
Friedens ausgerichtet«; und im Traktat Abot21 steht: »Die Welt be­
ruht auf drei Prinzipien: Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden.« Die
nicht-jüdischen Theoretiker des Naturrechts, die Vordenker der mo­
dernen Gesellschaft, wussten übrigens sehr genau, wie sich der Ge­
danke des Fremden in dem des Noachiden und dem des »Gerechten
unter den Heiden« weiterentwickelt hat, und sie wussten auch um
die Bedeutung dieser Denkströmung für die Herausbildung der Idee
des Naturrechts. John Seiden (1584-1654), der große englische Ge­
lehrte aus dem 17. Jahrhundert und einer der Theoretiker des Natur­
rechts, sieht die Grundlagen desselben im jüdischen Gesetz, so vor
allem in seinem De jure naturali et gentium juxta disciplinam
Ebraeorum. Und Hugo Grotius, der Vater der Völkerrechtslehre, lobt
ausdrücklich die Institution der Noachiden.

II. Relative Autonomie des Politischen

1. Der Begriff der laizistischen Kultur

Bislang haben wir von einer Gesellschaft gesprochen, in der Men­


schen verschiedener Glaubensrichtungen zu einer Einheit finden
können. Erlaubt das jüdische Denken aber in einer Gesellschaft, die
religiös homogen ist, Institutionen in einem streng laizistischen Sin­
ne? Man muss sich klar darüber sein, dass die religiöse Gesetzgebung
des Judentums und ihre Institutionen in einer göttlichen Weisung
gründen, sich zugleich aber auch in der Vernunft begründet wissen,
oder sich zumindest ausgestattet wissen mit einer moralischen Rich­
tigkeit, die für alle sichtbar ist: »Welche große Nation besäße Gesetze
und Rechtsvorschriften, die so gerecht sind wie alles in dieser Wei­
sung, die ich euch heute vorlege?«, ist im Buch Deuteronomium zu
lesen. Die Ausführungen des Talmud lassen sich in ihrer Interpreta­
tion der Bibel durch Axiome des natürlichen moralischen Gewissens
leiten, weshalb, vom jüdischen Standpunkt aus betrachtet, die Bin­
dung an die Moral der Tora auch auf jeden dogmatischen Glauben
verzichten kann. Ebenso bewundern die Weisen des Talmud, so
streng sie auch den Götzendienst verurteilen mögen, die griechische
Weisheit. Die griechische Sprache ist außer der hebräischen die ein-

21 Traktat Abot 1,18.

162
Der Laizismus und das Denken Israels

zige Sprache, die würdig ist, der Schrift als Ausdruck zu dienen. 22 Der
Talmud führt die Zusammengehörigkeit von Judentum und Ver­
nunft nicht auf Phiion zurück. Sie findet ihren Ausdruck vor allem
in folgender Wendung, die häufig wiederkehrt und die man einmal
im Einzelnen kommentieren müsste: >>Was das angeht, so habe ich es
bei Antonin gelernt, aber es findet sich auch durch einen Vers der
Bibel bestätigt.«23 Auch wenn es anachronistisch wäre, das talmu­
dische Denken über die Bedeutung der laizistischen Schule zu befra­
gen, so lässt sich dennoch nicht bestreiten, dass ihm die Idee einer
laizistischen Kultur durchaus bekannt ist.
Man kann also sagen, dass der Talmud zwischen den Pflichten
des Menschen seinem Nächsten gegenüber und den Pflichten Gott
gegenüber unterscheidet. Gott kann das Vergehen am Anderen nicht
ungeschehen machen. Jus und fas sind radikal voneinander getrennt.

2. Laizismus und Politik


Der Talmud anerkennt, dass es Situationen gibt, die sich nicht durch
messianische Prinzipien, die in der Zukunft liegen, lenken lassen,
eben weil der Krieg eine gegenwärtige Realität bleibt. Es gilt dies
mit aller Klarheit und Schärfe herauszustellen: Eine Situation, in
der die vom Staat garantierte Freiheit auch den Feinden der Freiheit
die Freiheit zugesteht, kann nicht unter dem Vorwand als eine Ne­
bensächlichkeit betrachtet werden, dass am Ende die Freiheit ja doch
triumphieren wird. Der Glaube an den endgültigen Sieg des Guten
kann den Menschen nicht von den alltäglichen Sorgen und der Not­
wendigkeit zu handeln entbinden. Die Gesellschaft, die auf eine Zu­
kunft in Gerechtigkeit hinarbeitet, kann von der Gegenwart überrollt
werden. Diese Gefahr erfordert gemäß einer talmudischen Formulie­
rung Ri chtlinien zur gegenwärtigen Stunde. Auf diese Weise begeg­
net das absolute Gesetz dem Begriff der Geschichte. Die Geschichte
verlangt nach politischer Gesetzgebung. Die Originalität des Juden­
tums besteht darin, die politische Macht an die Seite der Macht der
absoluten Moral zu stellen, ohne gleichwohl (gegen das Christen­
tum) die Macht der Moral auf die übernatürliche Bestimmung des
Menschen einzuschränken und ohne (gegen Hege!) sie der politi-

22 Traktat Megilla, 9a.


23 z. B. Traktat Sanhedrin, 91b.

163
Der Laizismus und das Denken Israels

sehen Macht unterzuordnen, welche die allein konkrete sei. Dennoch


bewahrt sich diese politische Macht eine gewisse Unabhängigkeit. Sie
ist laizistisch. Der Fürst wird zum Prinzip des Gesetzes. Der Jerusale­
mer Talmud24 übernimmt das griechische Prinzip »pro basileos ho
nomos agraphos«. Oder wie in einem anderen, besser bekannten Text
geschrieben steht, der in den verschiedenen Auslegungen gewöhn­
lich abgeschwächt, von Maimonides aber mit allem Nachdruck he­
rausgestellt wird: »Das Gesetz des Staates ist das Gesetz.«25 Daraus
folgt eine Lehre, die die Forderungen des Absoluten außer Kraft
setzt. Maimonides stellt dafür die entsprechende Theorie bereit (im
Hilchot Melachim und im Hilchot Sanhedrin seines Mischna Tora).
Er unterstellt zwar die Zweckbestimmung des Staates ganz der
Moralität und ihrer Verwirklichung, macht aber den Staat weitest­
gehend unabhängig sowohl vom kultischen als auch vom mora­
lischen Gesetz. Das Kriegsrecht und das Strafrecht, die das Eigent­
liche des Begriffs des Politischen ausmachen, sind abhängig vom
Willen des Fürsten. Dieser ist autorisiert - ohne dass er dafür den
Sanhedrin, der die absolute Moral treuhändefisch verwaltet, konsul­
tieren muss, Armeen aufzustellen,26 Güter zu konfiszieren und zu
mobilisieren, Steuern aufzuerlegen, Beamte und Offiziere zu ernen­
nen27 und Entscheidungen über internationale Beziehungen zu tref­
fen. Um eine Zunahme der Verbrechen zu verhindern, greift der
Fürst in der Strafgesetzgebung zu Maßnahmen, die das absolute Ge­
setz verbietet. Maimonides weitet die Zuständigkeitsbereiche dieser
laizistischen Instanz aus, indem er ihr auch das Zivilrecht unterstellt.
Der Aspekt der »Notwendigkeiten der gegenwärtigen Stunde« be­
trifft also alle Bereiche des Lebens.
Diese Lehre des Maimonides steht, ungeachtet der griechischen
Einflüsse, die in ihr auszumachen sind, im Einklang mit den Grund­
lagen des talmudischen Denkens, die die jeweiligen Umstände des
Handeins - die immer relativ sind - anerkennen. »Alles soll entspre­
chend dem Jahr, dem Ort und dem Zeitalter geschehen.«28 Die abso­
lute Gerechtigkeit und der Friede sind innerhalb der Geschichte mit­
einander unvereinbar, weil die une ingeschränkte Gerechtigkeit in ihr

2< Traktat Rosch Haschana, 1,3.


2s Traktat Gittin, ].0.
26 Hilchot Melachim, 5,2.

v Ebd., 4,1; 4,3; 4,5.


28Traktat Taanit, 14.

164
Der Laizismus und das Denken Israels

den Frieden ausschließt und weil der Friede in ihr nur auf Kosten der
Gerechtigkeit zu haben ist.29
Die politische und die königliche Macht ist getrennt von jenen
Instanzen zu betrachten, die für den Ritus stehen. Die Kommentato­
ren sind der einhelligen Auffassung, dass der Vers »Ihr werdet ein
Königreich von Priestern sein« nicht in einem theokratischen Sinne
zu interpretieren ist. Raschi besteht darauf, kohen (Priester) mit
Würdenträger zu übersetzen; und Nachmanides behauptet30, dass
die politische Macht der Priester in einem Gegensatz zum (mosai­
schen) Gesetz steht. Ein Text aus dem Jerusalemer Talmud31 macht
deutlich, dass Priester keine gesalbten Könige sein können.32
Entsprechend unterscheidet sich die königliche Macht auch von
der absoluten Moral. Der Sanhedrin - in dem die absolute Moral zum
Ausdruck kommt - setzt den König ein. Er kontrolliert ihn. Aber er
lässt ihn regieren. Der Philosophenkönig ist eine absolute Setzung.
Innerhalb der Geschichte aber ist der König vom Philosophen zu un­
terscheiden.
Und doch bleibt es eine Tatsache, dass über diesem laizistischen
politischen Gesetz, das durch die Geschichte bestimmt ist - also
durch eine Ordnung, die die Möglichkeit zu Verbrechen und Krieg
in sich trägt-, das Gesetz der Tora steht, das Gesetz des Absoluten,
das auch dann, wenn die politische Autorität etabliert ist, nicht ver­
schwindet, um dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Dieses Ge­
setz allein bestimmt die politischen Herrscher, setzt sie in ihr Amt ein
und kontrolliert ihre politische Macht.33 Wenn sich das Gesetz des
Absoluten zurückzieht, dann im Namen des Absoluten. »Es mag ein
Buchstabe der Tara verloren gehen, wenn nur die Tora als Ganze
nicht vergessen wird.«34
Das Verhältnis zwischen dem politischen Gesetz und dem ewi­
gen Gesetz - (wobei Ersteres dem Letzteren untergeordnet und zu­
gleich unabhängig von ihm ist) - ist charakteristisch für ein Denken,
das beide Enden der Kette zusammenhält. Aber es ist der Talmud in
seiner Gesamtheit !betrachtet und die Verpflichtung, ihn zu studie­
·ren, was die eigentliche Verbindung ausmacht. Der Messias - der-

n Traktat Sanhedrin, 6b.


!0 Vgl. seinen Kommentar wr Genesis, 49.
31 Traktat Sehekafirn 16a.
3l Vgl. zur Unvereinbarkeit von Priesterrum und Königtum: Traktat Kidduscl1in, 66.
'" Traktat Schabbat, 15.
" Traktat Temura, 14.

165
Der Laizismus und das Denken Israels

jenige, der die gerechte Gesellschaft heraufführen wird - ist ein


Nachkomme Davids. Was aber interessiert den Messias, der durch
seine Gerechtigkeit gerechtfertigt ist, ein Stammbaum! Für David
hingegen - für die politische Herrschaft ni der Geschichte - sind sol­
che genealogischen Verbindungen von äußerster Wichtigkeit. Die
Epoche des Messias muss eines Tages aus dieser zeitlichen Ordnung
hervorgehen. Diese politische Welt muss daher für diese ideale Welt
Pate stehen. Der talmudische Apolog gibt diesbezüglich einen er­
staunlich eindeutigen Wink. Während des Tages führt König David
Krieg und geht seinen Regierungsgeschäften nach; des Nachts aber,
wenn sich die Menschen zur Ruhe legen, widmet er sich dem Ge­
setz. 35 Ein Doppelleben, um die Einheit des Lebens wieder herzustel­
len. Das tagespolitische Geschäft nimmt seinen Anfang in einer ewi­
gen Mitternacht. Es geht zurück auf den nächtlichen Kontakt mit
dem Absoluten.

3. Die gerneinsame Quelle des Religiösen und des Politischen


Die Ordnung, die dieses politische Leben bestimmt, dessen laizisti­
sche Ausdrucksformen wir eben aufgezeigt haben, ist gleichwohl kei­
ne priesterliche. Das Gesetz, der Gesetzeslehrer, der Sanhedrin ste­
hen in der Hierarchie vor und über der Autorität der Priester und des
Kultes, ganz so wie das Königtum selbst. Der große Sanhedrin geht
nicht aus dem Priesterstand hervor, ja er kann sogar über die Priester
zu Gericht sitzen. 36 In dem Begriff des Propheten, der sowohl von der
politischen als auch von der religiösen Macht unabhängig ist und
gegen Kirchenfürsten und Könige wettert, zeigt sich schon sehr früh
eine Religion, die weder klerikal noch politisch ist. Moses, der den
Ursprung aller politischen Macht verkörpert und in seinem »Gewand
aus weißem Leinen«37 weit entfernt von allem bischöflichen Prunk­
gehabe ist, erhebt seinen Bruder in den Priesterstand und setzt ihn in
sein priesterliches Amt ein. Er ist Gesetzeslehrer, treuhänderischer
Verwalter und Lehrmeister der moralischen Wahrheit oder Prophet.
Das Gesetz wurde von den Israeliten auf dem Sinai aus freiem Willen
angenommen, und aus freiem Willen wurde es von den Heiden, de­
nen es angeboten wurde - denn es ist tmiversell - zurückgewiesen.38

Js Traktat Berachot, 3b.


36 Traktat Middot, 5,4.
37 Traktat Taanit, llb.
lS Midrasch Schemot Raba, 17.

166
Der Laizismus und das Denken Israels

Die Offenbarung setzt eine moralische Menschheit voraus, die aller


Offenbarung vorausliegt. Der Begriff der Tora bleibt daher ein ur­
sprünglicher Begriff, außerhalb der traditionellen Unterscheidung
von weltlicher und religiöser Macht. Er kann deren Quelle und deren
Fundament sein. Der Gedanke, dass die menschliche Gesellschaft auf
Beziehungen beruht, die unabhängig sind von der Religion im kirch­
lichen und klerikalen Sinne, ist von der jüdischen Religion selbst auf­
gebracht worden.

167
Gespräche
XIV

Vom Nutzen der Schlaflosigkeit


(Gespräch mit Bertrand Revillon)

Emmanuel Levinas, stellen wir uns vor, ein junger Mensch, ein
Schüler aus der Abschlussklasse des Gymnasiums, fragt Sie
nach Ihrer Definition der Philosophie. Was würden Sie ihm
antworten?

Ich würde ihm sagen, dass die Philosophie dem Menschen erlaubt,
sich in dem zu prüfen, was er sagt, und in dem, was er sich selbst sagt,
wenn er denkt. Sich also nicht mehr länger vom Rhythmus der Wör­
ter und dem Allgemeinen, auf das sie verweisen, einlullen und be­
rauschen lassen, sondern sich zu öffnen für die Einzigartigkeit des
Einmaligen in dieser Wirklichkeit, d. h. die Einzigartigkeit des Ande­
ren. Und das heißt letztlich für die Liebe. Also wirklich sprechen,
nicht eine Art Singsang von sich geben, wach werden, nüchtern wer­
den, nicht nur ständig Redensarten im Mund führen. Schon der Phi­
losoph Alain hat uns vor all denjenigen gewarnt, die uns in einer
angeblich so aufgeklärten Zivilisation »Sand in die Augen streuen«.
Philosophie als Schlaflosigkeit, als ein erneutes Erwachen inmitten
der Gewissheiten, die schon das Wachsein zum Ausdruck bringen,
in Wirklichkeit aber noch oder immer Träume sind.

Ist es wichtig, an Schlaflosigkeit zu leiden?

Das Aufwachen ist etwas, so meine ich, das dem Menschen eigen­
tümlich ist. Dann die Suche des Wachgewordenen nach einer erneu­
ten, tieferen, philosophischen Ernüchterung. Und es ist genau ge­
nommen die Begegnung mit dem anderen Menschen, die uns zum
Aufwachen ermahnt, aber auch die Texte, die aus den Dialogen zwi­
schen Sokrates und seinen Gesprächspartnern hervorgegangen sind.

171
Vom Nutzen der Schlaflosigkeit

Ist es der Andere, der aus uns einen Philosophen macht?

Gewissermaßen. Die Begegnung mit dem Anderen ist die bedeutende


Erfahrung oder das bedeutende Ereignis schlechthin. Die Begegnung
mit dem Anderen lässt sich nicht auf den Erwerb eines zusätzlichen
Wissens reduzieren. Ich kann den Anderen niemals vollständig erfas­
sen, gewiss, doch die Verantwortung ihm gegenüber, in der die Spra­
che und auch die Gemeinschaft mit ihm ihren Ursprung nimmt,
übersteigt selbst das Wissen, auch wenn unsere griechischen Lehrer
diesbezüglich vorsichtig geblieben sind.

Wir leben in einer Gesellschaft voller Bilder, Geräusche und


spektakulärer Events, in der nur noch wenig Raum für Rückzug
und Nachdenken bleibt. Wenn sich diese Entwicklung noch
weiter beschleunigen sollte, würde unsere Gesellschaft dann an
Menschlichkeit verlieren?

Absolut. Ich sehne mich ganz und gar nicht nach dem Ursprüng­
lichen und Einfachen zurück Was immer sich an menschlichen Mög­
lichkeiten zeigt, muss zur Sprache gebracht werden. Die Gefahr; sich
im bloßen Gerede zu verüeren, besteht in der Tat, aber die Sprache,
die ein Anruf des Anderen ist, stellt auch die eigentliche Modalität
des »Sich-selbst-Misstrauens« dar, das die Besonderheit der Philoso­
phie ausmacht. Doch ich will die Bilder gar nicht verurteilen. Was ich
feststelle, ist, dass es einen großen Anteil an Zerstreuung im Bereich
des Audiovisuellen gibt, eine Art Traumwelt, die uns wieder in den
Schlaf versinken lässt, von dem wir gerade gesprochen haben, und
uns dort gefangen hält.

Ihr Werk ist durch und durch von einem moralischen Anliegen
geprägt. Man ist erstaunt darüber, dass nach einer Phase der
»Befreiung«, in der die Ethik eher auf Ablehnung gestoßen ist,
nun die Wissenschaften und vor allem die Entdeckungen der
Biologie die Menschen dazu bringen, sich wieder ethischen
Fragen zuzuwenden. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Die Moral hatte in der Tat einen schlechten Ruf. Man verwechselt sie
gerne mit Moralismus. Das Eigentliche der Ethik geht oft in diesem
Moralismus, der auf eine Summe von Pflichten reduziert wird, ver­
loren.

172
Vom Nutzen der Schlaflosigkeit

Was ist Ethik?

Es ist die Anerkennung der »Heiligkeit«. Ich will dies näher erklären:
Der eigentliche Grundzug des Seins liegt darin, dass jedes einzelne
Seiende um sein Sein selbst besorgt ist. Die Pflanzen, die Tiere, ja die
Lebewesen in ihrer Gesamtheit klammern sich an ihre Existenz. Für
jedes einzelne zählt allein der Kampf ums Überleben. Und auch die
Materie in ihrer unerbittlichen Härte: Ist sie nicht ein ständiges Sich­
verschließen und Aufeinanderprallen ? Und dann plötzlich im Be­
reich der menschlichen Natur das mögliche Aufscheinen einer onto­
logischen Absurdität: Die Sorge für den Anderen siegt über die Sorge
um sich selbst. Genau das ist es, was ich »Heiligkeit« nenne. Unsere
Menschlichkeit besteht darin, dass wir diesen Vorrang des Anderen
anerkennen können. Sie verstehen jetzt meine Ausführungen zu Be­
ginn unseres Gesprächs besser und warum ich mich so sehr für die
Sprache interessiere: Sie wendet sich immer dem Anderen zu, so als
ob man gar nicht denken könnte, ohne sich bereits um den Anderen
zu sorgen. Das Denken bewegt sich von nun an in einem Sagen. Auf
dem tiefsten Grund des Denkens meldet sich das »Für-den-Anderen«
zu Wort, anders gesagt, die Güte, die Liebe zum Anderen, die geisti­
ger ist als die Wissenschaft.

Lässt sich diese Aufmerksamkeit für den Anderen lehren?

Meiner Ansicht nach erwacht sie vor dem »Gesicht« des Anderen.

Der Andere, von dem Sie sprechen, ist damit auch der ganz
Andere, Gott, gemeint?

Eben in diesem Vorrang des anderen Menschen mir gegenüber, der


auch meiner Bewunderung für die Schöpfung, auch meinen Fragen
nach der ersten Ursache des Universums noch vorausliegt, fällt Gott
in mein Denken ein. Wenn ich vom Anderen spreche, verwende ich
den Ausdruck »Gesicht«. Das »Gesicht« ist das, was hinter der Fassa­
de und hinter der Haltung, die jeder zu bewahren sucht, liegt: Es ist
die Sterblichkeit des Nächsten. Um das »Gesicht« des Anderen zu
sehen und zu erkennen, muss man schon hinter seine Maske schau­
en. In der Nacktheit des »Gesichts« zeigt sich die Ohnmacht eines
einzigartigen Seienden, das dem Tod ausgesetzt ist; gleichzeitig aber
kommt in ihm ein Imperativ zum Ausdruck, der mich dazu verpflich-

173
Vom Nutzen der Schlaflosigkeit

tet, es nicht allein zu lassen. Diese Verpflichtung ist Gottes erstes


Wort. Für mich beginnt die Theologie im Gesicht meines Mitmen­
schen. Die Göttlichkeit Gottes ereignet sich im Bereich des Mensch­
lichen. Das »Gesicht<< ist der Ort der Deszendenz Gottes. Gott erken­
nen heißt sein Gebot »Du sollst nicht töten« hören, wobei dieses
Gebot nicht nur ein Verbot des Mordes ist, sondern zugleich ein Ruf
zu einer unablässigen Verantwortung dem Anderen gegenüber -
dem einzigartigen Seienden -, so als ob ich zu dieser Verantwortung
auserwählt wäre, die mii� auch mir selbst, die Möglichkeit gibt, mich
als einzigartig zu erkennen, als ein Seiendes, das unersetzbar ist und
»Ich« sagen kann. Ich werde mir bewusst, dass ich bei jedem einzel­
nen Schritt, den ich als Mensch unternehme - und bei dem der An­
dere niemals abwesend ist -, bereits die Verantwortung für die Exis­
tenz dieses Anderen in seiner Einzigartigkeit trage.

Wie sehen Sie als jüdischer Philosoph den Barbie-Prozess?

Das gehört für mich in die Kategorie des Grauenhaften: ein Grauen,
das nicht wieder gutzumachen ist, nie vergessen werden kann. Je­
denfalls durch keinerlei Strafe, das ist sicher. Eine Grenze der Ver­
antwortung? In dieser Gewissheit werden viele unserer Gedanken
über die Eschatologie, die jüdische wie die nichtjüdische, erschüttert
- ich sage nicht: nichtig. Doch dieser Prozess, der noch schrecklicher
ist als jede Sanktion, dürfte sich nicht so abspielen, wie er sich ab­
spielt. Man müsste zu dieser Verurteilung kommen, ohne dass dabei
das Grauen in seinen apokalyptischen Dimensionen durch die juris­
tischen Formalismen und Kunstgriffe, die unvermeidlich sind, bana­
lisiert würde.

Ist auch dieser Mensch noch ein »Anderer« für Sie?

Wenn jemand ihm vergeben kann, in seiner Seele und in seinem


Gewissen, möge er dies tun. Ich kann es nicht.

174
XV

Gespräch mit Rager-Pol Droit

Sie haben einmal gesagt: »Europa, das ist die Bibel und die
Griechen.« Mit dieser Formulierung ließe sich in einem
gewissen Sinne ihr intellektueller Werdegang insgesamt cha­
rakterisieren, in dem die aus dem griechischen Erbe hervor­
gegangene Philosophie der jüdisch-christlichen Tradition ge­
genübergestellt wird. Könnten Sie zunächst beschreiben, für
was genau in dieser Formulierung »die Bibel« steht?

Es handelt sich hier selbstverständlich nur um eine Art und Weise,


auf große Linien hinzuweisen, und nicht darum, eine präzise Bestim­
mung eines komplexen geschichtlichen Zusammenspiels zu geben.
Die Bibel - oder wenn Sie so wollen, die jüdisch-christliche Quelle
unserer Kultur- zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr eine ursprüng­
liche Bindung an die Verantwortung »für den Anderen« zur Geltung
gebracht wird, sodass auf eine scheinbar paradoxe Weise die Sorge
für den Anderen der Sorge um sich selbst vorausgehen kann und sich
dadurch die Heiligkeit als irreduzible Möglichkeit sowohl des
Menschlichen als auch Gottes erweist, nämlich im Sinne des Geru­
fenseins durch den Menschen. Ein ursprünglich ethisches Ereignis,
das zugleich Erste Theologie wäre. Die Ethik ist folglich nicht mehr
bloß ein aus Regeln bestehender Moralismus, der den tugendhaften
Menschen hervorbringt. Sie ist vielmehr das ursprüngliche Erwa­
chen eines »Ich«, das für den Anderen verantwortlich ist, der Auf­
stieg meiner Person in die Einmaligkeit des »Ich«, das zur Verant­
wortung für den Anderen gerufen und erwählt ist. Das menschliche
»Ich« ist nicht eine in sich geschlossene Einheit, so wie die Einmalig­
keit eines Atoms; es ist vielmehr eine Offenheit, und zwar eine Of­
fenheit der Verantwortung, die den wahren Anfang des Mensch­
lichen und der Geistigkeit bezeichnet. Im Anruf, der mich vom
Gesicht des anderen Menschen her trifft, erfasse ich auf unmittelbare
\.

175
Gespräch mit Roger-Pol Droit

Weise die Liebe in ihrer ganzen Gunst: die Geistigkeit, die wahre
Menschlichkeit als eine gelebte.

Die Einstellung, die Sie beschreiben, verweist auf die Heiligkeit.


Das Wenigste, was man dazu sagen kann, ist doch, dass so gut
wie alle Menschen davon weit entfernt sind . . .

Die Heiligkeit ist dennoch die höchste Vollkommenheit, und ich sage
nicht, dass alle Menschen Heilige sind! Aber es genügt schon, dass es
von Zeit zu Zeit Heilige gegeben hat, und vor allem, dass die Heilig­
keit stets Bewunderung hervorruft, selbst bei denen, die von ihr am
weitesten entfernt zu sein scheinen. Diese Heiligkeit, die dem Ande­
ren den Vortritt lässt, wird möglich durch die Menschlichkeit. Und es
gibt etwas Göttliches in diesem Aufscheinen eines Menschen, der in
der Lage ist, zuerst an den Anderen und dann erst an sich selbst zu
denken. Durch die Menschlichkeit wird also die Heiligkeit das Sein
der Natur verwandeln, indem es diese Offenheit schafft, von der ich
eben gesprochen habe. Dies ist, in aller Kürze gesagt, das, was in der
Formulierung, von der wir ausgegangen sind, der Ausdruck »die Bi­
bel« bedeuten kann.

Und die Griechen? Auch Solerates behauptet ja, dass es besser


sei, das Opfer zu sein und nicht der Henker, oder, an anderer
Stelle, dass niemand willentlich Böses tue. Worin also unter­
scheiden sich die Griechen?

Es ist richtig, dass die Griechen in gewisser Hinsicht durchaus in der


Lage gewesen sind, »biblisch« zu sein, wenn ich dies einmal so sagen
darf. Den Beispielen, die Sie angeführt haben, müsste man auch den
Gedanken Platons hinzufügen, der das Gute jenseits des Seins situ­
iert, was ganz und gar außergewöhnlich ist. Man sollte also innerhalb
unseres europäischen Erbes die jüdisch-christlichen Wurzeln und die
griechischen Wurzeln einander gar nicht in radikaler Weise ent­
gegensetzen.
Es gibt dennoch einen besonderen Bereich, in dem sich die Grie­
chen vor allem hervorgetan haben, indem sie nämlich ihr Denken auf
die Frage nach der Harmonie und der Ordnung des Seins konzen­
trierten. Es ist der Bereich des Staates, der Rechtsprechung und der
Politik. Die Gerechtigkeit ist von der Güte zu unterscheiden, denn sie
lässt eine Form der Gleichheit und des Maßes ins Spiel kommen, eine

176
Gespräch mit 1\oger-Pol Droit

Reihe sozialer Regeln, die es den Vorstellungen des Staates entspre­


chend zu verankern gilt, und also die Politik Die Beziehung zwischen
mir und dem Anderen muss in diesem Fall ihren Platz an einen Drit­
ten abtreten, an einen souveränen Richter, der zwischen Gleichen zu
entscheiden hat.

Könnten Sie dies an einem Beispiel verdeutlichen?

Angenommen, wir hätten über jemanden zu richten und zu einem


Urteil zu kommen. Solange die Urteilsfindung andauert, befindet
man sich noch in der Situation eines Von-Angesicht-zu-Angesicht
zwischen dem Ich und dem Anderen. Und hier zählt allein der Blick
in das Gesicht. Aber sobald das Urteil verkündet ist und sobald es
öffentlich gemacht ist, muss es auch diskutiert, in Frage gestellt, ge­
billigt oder angefochten werden können. Die öffentliche Meinung,
die Bürger und heute vor allem die Presse können einschreiten und
zum Beispiel sagen, dass dieses Urteil revidiert werden müsse.
Das ist, so scheint mir, das eigentliche Fundament der Demokra­
tie. Man kann über Entscheidungen diskutieren und sie gegebenen­
falls wieder zurücknehmen. Es gibt keine menschliche Verfügung,
die sich nicht auch revidieren ließe; der Akt der Güte muss sich also
einer öffentlichen Kontrolle unterziehen lassen. Auch wenn es in den
Texten der Bibel einige Beispiele für eine solche Einstellung gibt, so
liegt, was diesen Punkt betrifft, darin doch der eigentliche Beitrag der
Griechen zur europäischen Kultur.

Was würden Sie demjenigen antworten, der Ihnen sagt, dass er


die Heiligkeit nicht respektiert, dass er diesen Anruf des
Anderen nicht vernimmt oder dass ihm der Andere ganz
einfach gleichgültig ist?

Ich glaube nicht, dass dies wirklich möglich ist. Denn es handelt sich
dabei um unsere ursprüngliche Erfahrung schlechthin, um eine Er­
fahrung, die uns konstituiert und gleichsam den tiefsten Grund un­
serer Existenz ausmacht. Im übrigen, man mag so gleichgültig tun,
wie man will, an einem Gesicht kann man nicht vorbeigehen, ohne
zu grüßen oder zumindest sich zu fragen: »Was will es wohl von
mir?« Nicht nur unser ganz persönliches Leben gründet in dieser
Erfahrung, sondern auch unsere ganze Zivilisation.

177
Gespräch mit Roger-Pol Droit

Dennoch, neigt eine Welt, in der das Geld regiert und die
Geschäftemacherei um sich greift, nicht dazu, dieses Verhältnis
zum Anderen, das Sie für ursprünglich halten, zu modifizieren
oder gar völlig vergessen zu machen?

Ich glaube nicht, dass dem so ist. Natürlich gibt es Seiten am Kapita­
lismus und an .der übertriebenen Art und Weise, wie die Leute dem
Geld nachlaufen, die erschreckend sind und die auch die Tendenz
haben können, den ganzen Rest zu überdecken oder zu ersticken,
aber man darf dennoch nicht dem Irrtum verfallen, zu meinen, auf
dem Geld laste ein Fluch und es müsse daher zu etwas grundsätzlich
Unheilvollem erklärt werden.
Ich bin überzeugt davon, dass das Geld auch eine ethische Be­
deutung hat und auch einen Beitrag zu mehr Menschlichkeit in der
Welt leisten kann. Man darf nicht vergessen, dass es sich bei dem,
was wir verkaufen oder kaufen, nicht nur um bloße Dinge handelt,
sondern dass es ja immer auch Produkte sind, die durch die Bezie­
hungen der Menschen untereinander und durch ihre Arbeit geschaf­
fen wurden. Der freie Handel, die Neuverteilung und die Form der
Gleichheit und des Verkehrs zwischen den Menschen wird durch
Geld erst möglich, und dadurch trägt es in meinen Augen eher zum
Frieden und zu gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen bei.
Der Tauschhandel ist im Gegensatz dazu eine der Quellen für Strei­
tigkeiten und Krieg. Und Geld macht Schluss mit dem Tauschhandel.

Muss man daraus schließen, dass der Untergang der sozialisti­


schen Staaten und die Rückkehr der Ostblockländer zur
Marktwirtschaft Ihrer Meinung nach einen Beitrag leisten
können für eine menschlichere Welt und für den Frieden?

Die Frage lässt sich meiner Ansicht nach so nicht stellen. Denkt man
an den Stalinismus, den bürokratischen Terror und all die Verbre­
chen, die mit dlem Kommunismus verbunden sind, so wird niemand
den Untergang seiner Herrschaft bedauern. Und natürlich kann man
Stalin nicht nachtrauern, der im Namen der humanitären Verspre­
chen von Marx abscheuliche Grausamkeiten angeordnet und im Na­
men einer zukünftigen Gerechtigkeit zahllose Ungerechtigkeiten be­
gangen hat.
Doch trotz dieser Schreckensherrschaft war da stets auch eine
Hoffnung. Man konnte sich immer sagen, dass all diese Verbrechen

178
Gespräch mit Roger-Pol Droit

vielleicht doch nicht vergeblich sein würden. Man konnte sich noch
vorstellen, dass nach einer dunklen und schwierigen Phase, die es
durchzustehen galt, wieder bessere Zeiten kommen würden. Denn
auch wenn der sowjetische Staat zum schrecklichsten unter allen ge­
worden ist, so blieb mit ihm doch stets das Versprechen und die Hoff­
nung einer Befreiung verbunden.
Das Verschwinden dieses Horizontes scheint mir ein zutiefst
beunruhigendes Ereignis zu sein, denn es bringt unsere Vision über
die Zeit zum Einsturz. Seit der Bibel haben wir uns an den Gedanken
gewöhnt, dass die Zeit auf irgendetwas hinausläuft, dass die Ge­
schichte der Menschheit auf einen Horizont zugeht, und sei es auf
Umwegen oder durch Schicksalsschläge hindurch. Europas Vision der
Zeit und der Geschichte gründete in dieser Überzeugung und dieser
Erwartung: In der Zeit lag ein Versprechen. Das sowjetische Regime
war Erbe dieser Auffassung, trotz seiner Ablehnung von Transzen­
denz und Religion. Seit der Revolution von 1917 hatte man das Ge­
ühl,
f dass es etwas gab, das sich unablässig ankündigte oder vorberei­
tete, trotz aller Hindernisse und Irrtümer.
Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems - ein Er­
eignis, das zweifellos viele positive Aspekte hat - sind nun auch sehr
grundlegende Denkkategorien des europäischen Bewusstseins in Ver­
wirrung geraten. Unser Verhältnis zur Zeit ist in eine Krise geraten.
Mir scheint es tatsächlich unabdingbar zu sein, dass wir, wir aus dem
Westen, uns eine Perspektive auf die Zeit zu Eigen machen, die wie­
der ein Versprechen bereithält. Ich weiß nicht, inwieweit wir ohne
eine solche Perspektive zurechtkommen können. Und das scheint
mir auch das eigentlich Beunruhigende an der gegenwärtigen Situa­
tion zu sein.

Glauben Sie nicht, dass sich aus dieser Erfahrung auch ein
anderer Horizont eröffnen könnte?

Im Moment sehe ich da keinen anderen. Es sei denn, man betrachtet


die liberale Gesellschaft, wie wir sie kennen, als eine Form der Erfül­
lung aller Versprechen. Man könnte ja tatsächlich sagen, dass in den
westlichen Demokratien die nahe Zukunft gesichert ist, dass in ihnen
Friede herrscht und wirkliches Elend kaum noch existiert. Ferner
sieht man auch, wie sich hier ein Leben entwickelt, in dem Wohl­
stand, Sicherheit, Freizeit und auch Kultur, Musik und Kunst eine
Selbstverständlichkeit geworden sind. Es zeigt sich hier ein Ideal der

179
Gespräch mit Roger-Pol Droit

Menschlichkeit, das man nicht gering schätzen sollte. Nachdem, was


man schon alles an Regimen und Lebensformen gesehen hat, könnte
man dies sogar als eine gewisse Form menschlicher Vollkommenheit
betrachten. Man könnte sich also vorstellen, dass die Weiterführung
und Entwicklung dieser freiheitlichen Gesellschaft zum eigentlichen
Prinzip geschichtlichen Handeins werden könnte. Das ist eine Mög­
lichkeit. Aber es ist nicht mehr dieselbe Art von Hoffnung wie frü­
her . . .

Befürchten Sie nicht, dass die liberalen Demokratien durch das


Wiederaufleben tödlicher »Hoffnungen«, die mit der Rückl<ehr
des Nationalsozialismus, der Fremdenfeindlichkeit und des
Antisemitismus verbunden sind, untergraben werden könnten?

Ich glaube an die Kraft des freiheitlichen Gedankens in Europa. Aber


gleichzeitig habe ich auch zu viele Erinnerungen, um auf diese Frage
eine sichere Antwort geben zu können.

In Ihren Erinnerungen spielt Heidegger, Ihr philosophischer


Lehrer, eine ganz besondere Rolle. Ihr eigenes Werk hat sich ja
vor allem aus einem kritischen Verhältnis zu seinem Denken
herausgebildet. Wie sehen Sie heute Ihr Verhältnis zu Heideg­
ger?

Meine Erinnerungen an das Studium bei Heidegger sind stets mit


einer starken Gefühlsregung verbunden. Was auch immer die Vor­
behalte sein mögen, die man gegen ihn als Mensch und gegen sein
politisches Engagement auf Seiten der Nazis anführen kann, so ist er
doch unbestreitbar ein Genie und der Autor eines philosophisches
Werkes von äußerster Tiefe, das man nicht mit ein paar wenigen
Sätzen abtun kann .

Darf ich Sie trotzdem fragen, worin die Verbindung- wenn es


denn eine gibt- zwischen seinem Denken und seinem
politischen Engagement liegt?

Für Heidegger liegt das innerste Bestreben des Seins darin, zu sein.
Es geht dem Sein in seinem Bestreben zu sein nur um das Sein, in
erster Linie und um jeden Preis. Diese Entschlossenheit führt
schließlich zum Kampf zwischen den Individuen, den Nationen und

180
Gespräch mit Roger-Pol Droit

Klassen, und es gilt in ihm hart und unbeugsam wie Stahl zu sein. Es
gibt bei Heidegger den Traum von einem Adel des Blutes und des
Schwertes. Nun, der Humanismus ist etwas ganz anderes. Er ist eher
eine Antwort auf den Anderen, die bereit ist, ihm den Vorrang zu
lassen, die dem Anderen nachgibt, anstatt ihn zu bekämpfen. Das
Fehlen der Sorge um den Anderen bei Heidegger und sein persönli­
ches politisches Abenteuer haben etwas miteinander zu tun. Und
trotz meiner ganzen Bewunderung für die Größe seines Denkens
habe ich diesen Doppelaspekt, der in allem, was er gesagt und ge­
schrieben hat, zum Ausdruck kommt, nie teilen können.

Haben Sie ihm das einmal gesagt?

Ich werde Ihnen darauf nur mit einer kurzen persönlichen Erinne­
rung antworten, die zugleich eine historische Szene darstellt. Im
Sommer 1929 habe ich an dem berühmten Treffen in Davos teil­
genommen, dessen Höhepunkt das philosophische Streitgespräch
zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger bildete. Wie Sie wis­
sen, hat diese historische Auseinandersetzung dazu geführt, dass da­
nach in Deutschland die durch Kant und das Erbe der Aufklärung
beeinflusste Denkströmung, die im Wesentlichen durch Cassirer ver­
treten wurde, verschwunden ist. An einem der Abende während die­
ses Treffens führten wir einen kleinen Sketch auf, bei dem auch Cas­
sirer und Heidegger anwesend waren, deren Kontroverse wir
nachspielten. Ich schlüpfte in die Rolle Cassirers, dessen Position
von Heidegger ständig angegriffen wurde. Und um diese so gar nicht
kampflustige und schon ein wenig verzweifelte Haltung Cassirers
zum Ausdruck zu bringen, wiederholte ich immer nur in einem fort:
»Ich bin Pazifist . . . «

181
Nachweis der französischen Originaltexte

I. Quelques reflexions sur Ia philosophie de l'hitlerisme,


in: Esprit, Nr. 26 (November 1934), S. 199-208.
II. Sur les »Ideen« de M. E. Husserl,
in: Revue philosophique de la France et de 1' etranger, Nr. 3-4
(März/April 1929), S. 230-265.
lll. Fribourg, Husserl et Ia phenomenologie,
in: Revue d'Allemagne et des pays de Iangue allemande, 5. Jg.,
Nr. 43 (15. Mai 1931), S. 403-414.
IV Lettre a propos de ]ean Wahl (correspondance a la suite de
1'expose de Jean Wahl « Subjectivite et Transcendance » devant
la Societe fran�aise de philosophie le 4 decembre 1937),
in: Bulletin de la Socü�te fran.,:aise de philosophie, Bd. 37
(1937), S. 194-195.
V Intervention,
in: Jean Wahl, Petite Histoire de « l'existentialisme », suivie de:
Kafka et Kierkegaard, Commentaires, Paris: editions Club
Maintenant 1947, S. 81-89.
VI. Existentialisme et antisemitisme,
in: Les Cahiers de l'Alliance israelite universelle, Nr. 14-15
(Juni/Juli 1947), S. 2-3.
VII. La realite et son ombre,
in: Les Temps modernes, 4. Jg., Nr. 38 (November 1948),
S. 771-789.
VIII. Un Iangage pour nous familier,
in: Le Matin, 1980 (eine Sartre gewidmete Sondernummer).
IX. Quand Sartre decouvre l'histoire sainte,
in: Journal des communautes, Nr. 620 (Mai 1980), S. 16-17.
X. Sur ['esprit de Geneve,
in: Esprit, Nr. 1 (1956), S. 96-98.
XI. Principes et visages,
in: Esprit, Nr. 5 (1960), S. 863-865.

182
Nachweis der französischen Originaltexte

XII. Le debat russo-chinois et Ia dialectique,


in: Esprit, Nr. 10 (1960), S. 1622-1624.
XIII. La lai"cite et Ia pensee d'Israel,
in: Audibert, La la"icite, Paris: PUF 1960, $. 45-58.
XIV. De l'utilite des insomnies, (Gespräch mit Bertrand Revillon),
in: La Croix - L'Evenement, 10. Juni 1987, $. 18.
XV. Entretien avec Roger-Pol Droit,
in: Le Monde, 2. Juni 1992, S. 2.

183

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