ISBN-10; 3-495-48163-X
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»Wie wäre eine Geschichte zu denken, der auch die Besiegten und
Verfolgten einen gewissen gültigen Sinn verleihen könnten?« Diese
Frage durchzieht wie ein Leitfaden die Vielfalt der Themen, die in
diesem Band behandelt werden, und es ist vor allem die in ihren
Dramen und tragischen Wendungen erfahrene Geschichte des
20. Jahrhunderts, die dabei zur Sprache kommt: der Nationalsozialis
mus, der stalinistische Terror, der poststalinistische Totalitarismus,
der Kalte Krieg und das Gleichgewicht des Schreckens, der israelisch
palästinensische Konflikt, der Antisemitismus. Weil Geschichte aber
nicht mu die erlebte, sondern immer auch die auf den Prüfstand ge
stellte Geschichte meint, thematisieren alle Texte mehr oder weniger
dieselbe Grundspannung menschlicher Erfahrung: einerseits das Ge
fühl, von den geschichtlichen Ereignissen »mitgerissen« zu werden
und in der eigenen Zeit »Unterzugehen«, andererseits rue Sehnsucht,
sich aus der Geschichte »herauszulösen« und ihrem Determinismus
zu entrinnen. Die philosophischen Aufsätze und Schriften aus den
Jahren 1929 bis 1992 stellen den Versuch dar, im unerbittlichen Lauf
der Ereignisse Spuren einer anderen Dimension der Geschichte zu
entdecken, und sie machen deutlich, dass Levinas nicht nur ein auf
merksamer Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts gewesen ist, sondern in
seinem Denken des Anderen immer auch ein Stück weit »un zeitge
mäß« geblieben ist.
Die
Unvorhersehbarl<eiten
der Geschichte
www.fg b.de
JSBN-13: 978-3-495-48163-9
ISBN-10: 3-495-48163-X
Inhalt
Vorwort
Prüfungen der Geschichte, Herausforderungen des Denkens
(von Pierre Hayat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
5
Friedliche Koexistenz
Gespräche
Pierre Hayat
Als das Projekt des vorliegenden Sammelbandes mit Texten von Em
manuel Levinas, die sich über einen Zeitraum von 63 Jahren erstre
cken - von 1929 bis 1992 -, konkrete Gestalt anzunehmen begann,
ste llte sich die Frage nach einem Titel. Levinas hatte sofort einen
Vorschlag parat: Les impnivus de l'histoire - Die Unvorhersehbar
keiten der Geschichte.
Die Ges chi chte ist in der Tat in diesem Buch allgegenwärtig.
Doch die Philosophie hat hier nicht die Absicht, wieder einmal Ein
blick in die Notwendigkeit der ges chi chtlichen Entwicklung zu be
kommen. »Die Geschichte«, das meint zugleich die erlebte und die
auf den Prüfstand gestellte Geschichte. Es ist die in ihren dramati
schen Ereignissen und tragischen Wendungen erfahrene Geschichte,
vo n der der Philos oph Zeugnis ablegt.1 Eine Geschichte, über die von
Seiten eines Man nes na chgeda ch t wird, der sich bewusst ist, in seiner
eigenen Zeit »eingetaucht« zu sein, der aber zugleich ein starkes Ver
langen nach »Herauslösung« verspürt .2
1 »Zwei Weltkriege, dazu lokale Kriege, der Nationalsozialismus, der Stalinismus, dazu
Judentum. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M.: Jüdischer
Verlag 1992, S. 165.
7
Vorwort
gen Denken von Emmanuel Levinas, einem Denken, das offen für das
Neue unserer Zeit, aber zugleich auch unzeitgemäß ist, aufmerksam
für die Tagesereignisse und doch geleitet von einem Anspruch, der
über die bloßen Fakten hinausgeht. Ob es sich nun um phänomeno
logische Studien oder um Gelegenheitsschriften handelt, Levinas
hört nie auf zu philosophieren.
..
Der erste Text dieses Bandes (S. 23-34) - Einige Betrachtungen zur
Philosophie des Hitlerism us, erschienen 1934 in der Zeitschrift Esprit
-lässt wie kein anderer ermessen, von welch großer Bedeutung die
Geschichte unseres Jahrhunderts im leben und Denken von levinas
gewesen ist.
levinas unterstreicht mit Nachdruck die Ungeheuerlichkeit des
Ereignisses der Machtergreifung Hitlers im Jahr zuvor. Er macht
deutlich, dass der Hitlerismus einen radikalen Bruch mit dem west
lichen Humaniismus markiert. Der Aufklärung der Vernunft stellt
der Hitlerismus die dunkle Botschaft der Rasse gegenüber; das Ideal
der Einheit freier Willen ersetzt er durch die Rechtfertigung der Ge
walt, die erobern wil\.3
Doch levinas fragt auch nach dem Zustand der westlichen Ge
sellschaft in den dreißiger Jahren, die »den lebendigen Kontakt zu
ihrem wahren Ideal der Freiheit« verliere (S. 31) und damit das Feld
frei mache für eine Kultur, die »das Sein einfach hinnimmt«.4 Und
schließlich ist er beunruhigt darüber, dass sich Europa in seinem Ii-
3 Zwischen 1935 und 1939 veröffentlicht Li1vinas in der Zeitschrift Paix et Oroit, die
von der Alliance israelite universelle herausgegeben wird, mehrere Aufsätze, in denen
er den Hitlerismus bereits als die •schwerste Prüfung - eine noch nie da gewesene
Prüfung-, die das Judentum je zu bestehen hatte«, kennzeichnet (Droil et Paix, 1935,
Nr. 8, S. 4). Er geht hier auch der Frage nach dem ,.Wesen des Antisemitismus« nach
und ana lysie rt den gewalttätigen Gegensatz zwischen Heidentum und Judentum (Paix
et Droit, 1938, Nr. 5, 5. 3-4). Diese Texte wurden zusammengestellt und herausgegeben
von Catherine Chalier und Miguel Ab ensour (L'Herne, Emmanuel Levinas, Nr. 60, Pa
ris: Her n e 1991, S. 139-153).
• E. Levinas, Ausweg aus dem Sein. Mit de n Anmerkungen von )acques Rolland. Ober
setzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Al exander Chucho
lowski. Französisch-deutsch, Hamburg: Meiner 2005, S . 65 (modifizierte Übersetzung) .
8
Vorwort
s Levinas wird 57 Jahre später auf diesen Text von 1934 zurückkommen: »Dem Aufsatz
liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Ursprung der blutigen Barbarei des National
sozialismus nicht in einer zufälligen Anomalie der menschlichen Urteilsfähigkeit und
auch nicht in einem bloßen ideologischen Missverständnis zu suchen ist« (S. 33 f.).
6 E. Li!vinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo. Herausgegeben
von Peter Engelmann, Graz/Wien: Böhlau 1986, S. 21.
1 Fran�is Poiril?, Emmanuel Levinas. Qui etes-vous?, Lyon: La Manufacture 1987,
S. 73.
a E. Levinas, La thiorie de l'intuition dans Ia phenornenologie de Husserl, Paris: Alcan
1930.
9 In seiner Einleitung zu La theorie de /'intuition dans Ia phenomenologie de Husserl
gibt Levinas eine Zusamm enfas sung über den Stand von Husserls Fors chungen im Jahre
1930 (ebd., S. 11-18).
9
Vorwort
10 Levinas zeigt in aller Klarheit, wie die husserlsche Phänomenologie das cartesianische
Projekt wieder aufgreift und zugleich aber auch die Meditationes de prima philosophia
erneuen und »bereichert«.
10
Vorwort
11 Die Theorie der Einfühlung wird später eines der Diskussionsfelder in der Auseinan
dersetzung mit der husserlschen Phänomenologie werden. Vgl. z. B. E. Levinas, Außer
sich. Meditationen über Religion und Philosophie. Herausgegeben und übersetzt von
Frank Miething, München: Hanser 1991, S. 32-35.
12 E. Levinas, Etlzik und Unendliches, a. a. 0., S. 26 f.
11
Vorwort
13 »Die Frage, die mich beschäftigt«, schreibt Heidegger an Wahl, •ist nicht die nach der
Exist enz des Menschen; es ist vielmehr die nach dem Sein a ls solchen.« Lettre a Jean
Wahl, Bulletin de Ia societe fran�aise de philosophie, Bd. 37 (1937), S. 193.
14 Jean Wahl, Esquisse pour une histoire de « l'existentia/isme » suivie de: Kafka et
12
Vorwort
19 »Ich kam durch Levinas zur Phänomenologie und ging nach Berlin, wo ich fast ein
Jahr blieb« Oean-Paul Sartre, Situations IV, Paris: Gallimard 1964, S. 192). Vgl. auch
Sirnone de Beauvoir, In den besten Jahren, Reinbek: Rowohlt 1994, S. 61.
20 Zu dieser Frage vgl. Salomon Malka, Lire Uvinas, Paris: Cerf 1984, S. 27-37.
13
Vorwort
14
Vorwort
n ci ht in Erfüllung geht, und bleibt damit eine K arik atur des Lebens.
Das Kunstwerk, d as nichts anderes als plastisches Bild, Idol und sei
nem Wesen nach Statue, Standbild, st, i kann die »Gegenwartsau f
gabe«, nämlich in die Vergangenheit zurückzugehen oder eine neue
Zukunft zu versprechen, nicht erfüllen. Weil d as Kunstwerk immer
parallel zur konkreten Dauer des Lebens verläuft, markiert es einen
Stillstand der Zeit , den Levinas als »Zwischen -Zeit« bezeichnet, als
endlose Dauer eines Augenblicks, der weder die Gegenw art über
nimmt noch die Vergangenheit in den Blick n m i mt und dessen Zu
kunft daher immer in der Schwebe bleibt. 23
Wie man sieht, wurden in Die Wirklichlceit und ihr Schatten
»die Ideen Sartres nur in den Blick genommen«24. Und eigentl ich
zielen die Fragen, die Levinas an den Herold des französischen Exis
tentialismus stellt, auch gar nich t in erster Lin ei auf die Kunst und
nicht einmal auf die von Sartre und seinen Freunden verfochtene
The se des Engagements. 25 Denn Levinas interessiert sich vor allem
23 Die Wirklichkeit und ihr Schatten, dieser einzigartige, aber relativ unbekannte Text
ist eine Studie, die von einer außerordentlichen philosophischen Kraft zeugt, nicht nur
was ihre Fragen bezüglich der Kunst und der Literatur betrifft, sondern auch im Hin
blick auf die dari.n aufgeworfene Problematik der Beziehung zwischen dem Philosophi
schen und dem Nicht-Philosophischen. ln Jenseits des Seins konunt Levinas in einer
Anmerkung auf sein eigentliches Projekt einer begriffljchen Darstellung dessen zurück,
was er das Ungleichzeitige und Unvergleichliche nennt: >>Die unvordenkliche Vergan
genheit ist dem Denken unerträglich. Von daher die Forderung des Anhaltens: an anke
stenai. Die Bewegung über das Sein hinaus wird zu Ontologie und zu Theologie. Von
daher auch die Idolatrie -des Schönen« (E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein
geschieht. übersetzt von Thomas Wiemer, Freiburg/München: Alber 1992, S. 329,
Anm. 21). Wenn sich das Denken weigert, das »Jenseits des Seins« zur Darstellung zu
bringen, dann kann die Kunst, sozusagen durch eine Erschleichung, den Platz der Ethik
einnehmen und den Eindruck vermitteln, als komme in ihr der Nicht-Ort und die Un
gleichzeitigkeit zum Ausdruck. Doch es gibt hier ein echtes Problem. Denn dieselben
Kategorien- die Zwischen-Zeit, die Herauslösung, das Unvergleichliche- dienen Levi
nas dazu, sowohl die Kunst als auch die Ethik zu denken. Man könnte daraus ableiten,
dass die Kunst eine Fälschung der Ethik ist. Man könnte aber auch annehmen, dass sich
in der ästhetischen Erfahrung aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der Ethik- auch wenn sie
trügerisch sein mag- bereits die Sprache von »Jenseits des Seins« herausbildet. Vgl.
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a. a. 0., S. 101 f. und 318, Arun. 10.
24 Les Temps modernes, 1948, Nr. 38, S. 769.
25 Der Gegensatz zwischen Levinas' »Abstandnehmen« (frz. eloignement) und Sartres
»Engagement« (frz. engagement) ist künstlich: •Jene, die auf das Engagement im Werk
Sartres pochen, vergessen, dass seine hauptsächliche Sorge darin besteht, innerhalb des
Engagements vom Engagement abzurücken. Sie mündet in einen Nihilismus in seinem
edelsten Ausdruck- Negation des höchsten Engagements, das für den Menschen seine
eigene Essenz ist« (E.Levinas, Schwierige Freiheit, a. a. 0., S. 164).
15
Vorwort
für S a.rtres P osition hinsichtlich des Judentums, der Politik und der
Geschichte. Zwei Te xte, die 1980 kurz na ch Sartres Toderschienen
sind- ein Artikel i m Matirt de Paris (S. 125-129) und ein Gespräch
mit Victor M alka (S. 131-134 )- legen ferner den Akzent auf Sartres
späte Entdeckung einer anderen Dimension der Geschichte, die un
terschieden werden muss von »einer rein politischen Geschichte . . . ,
die von den Siegern und Herrschern geschrieben wird« (S. 129).26
Die jüdische Geschichte, undvor allem sie, die nicht zu begreifen ist
aus »der Geschichte der Staaten, der Geschichte der Nationen inner
halb ihres Ter ritoriums, der Geschichte der Regierungen«, gibt Zeug
nis von der Wirkkraft dieser anderen Geschichte (S. 128 ).
Die »andere Geschichte« stellt vor allem aber eine Art Anspruch
an die Menschheitsgeschichte dalj weil sie darauf beharrt, »eine Ge
schichte zu denken, der auch die Besiegten und Verfolgten einen gül
tigen Sinn verleihen könnten «27. Sie zielt darauf ab, ü f r eine Sinn
dimension zu sensibilisieren, von der die rationale Arbeit eines
»Sinn-Machens« aus Handlungen, d. h. imhand ihrer Erfolge oder
Misserfolge, nichts weiß 28
Dieser B lick auf die Geschichte zeugt von dem Anliegen L evi
nas ,' die pers ön ilche Verantwortung nicht dem unerbittlichen Lauf
der Ereignisse unterzuordnen und nicht allein auf die politischen In
stitutionen z u vertrauen. Nicht dass Levinas das Gewicht der objek
tiven Geschichte außer Acht ließe oder die Notwendigkeit politischer
Institut oi nen verkennen würde, aber es geht ihm in erster Linie da
rum, zu zeigen, dass es nicht unsinnig ist, auch vom Politiker das
Äußern mora lischer Bedenken einzufordern. »Und wäre es aber dann
nicht auch vernünftig, dass sich ein Staatsmann, der sich Gedanken
über die Nat ur seiner Entscheidungen macht, nicht nur darüber be
fragt, ob sie mit dem Sinn der Universalgeschichte übereinstim men,
26 Jean-Paul Sartre, "l.'espoir mainrenant. Entretien avec Benny Levy », in: Le Nouvel
Observateur, 24. März 1980, S. 103-139.
27 E. Levinas, Antihwnanisme et education, in: ders., Difficile liberte. Essais sur le ju
dai'sme, Paris: Albin Michel1976, S. 361. (Der Band Difficile liberte ist in der deutschen
Ausgabe Schwierige F reiheit nur in Auszügen übersetzt; Anm. d. Üs.)
28 In diesen Aussagen zur Geschichte klingt Levinas' Ablehnung eines teleologischen
Geschichtsmodells nach, die insbesondere im Vorwort zu Totalität und Unendlichkeit
zum Ausdruck kommt: »Nicht auf das Jüngste Gericht kommt es an, sondern auf das
Gericht all der Augenblicke in der Zeit, in der man über die Lebenden urteilt« (E. Levi
nas. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übersetzt von Wolfgang
Nikolaus Krewani, Freiburg/München: Alber1987, S. 22).
16
Vorwort
Drei Gelegenheitstexte für die Zeitschrift Esptit aus den Jahren 1956
und 1960 machen konkret deutlich, wie eine solche an den Vorgaben
einer Ethik zu bemessende Befragung der politischen Geschichte aus
sehen könnte (S. 137-147).
Der erste Artikel analysiert die Beziehungen zwischen den »bei
den Blöcken«, die geprägt sind durch die Angst, hüben wie drüben,
vor der atomaren Bedrohung, die auf der Welt lastet (S. 137-140).
Die »beiden Großmächte« sind auf diese Weise zwar in einer »Art
von Solidarität« miteinander vereint, doch gründet diese »zweifellos
in der Physik und nicht in der Moral« (S. 140).
Levinas befragt hier ein politisches Spiel, dessen Regeln allein
durch den Gehorsam gegenüber »gesichtslosen Mächten« (S. 137)
bestimmt sind. Sicher, ein schlechter Friede ist besser als ein guter
Krieg: Doch wenn das »Gleichgewicht des Schreckens« die Herrschaft
übernimmt, dann verzichtet die Verantwortung auf einen wesentli
chen Teil ihrer Ansprüche und richtet sich ausschließlich an den
durch die Atomwaffen auferlegten Notwendigkeiten aus.
Levinas nimmt Chruschtschows Besuch in Frankreich im Jahre
1960 zum Anlass, dem post-stalinistischen Totalitarismus, der die
Freiheit auf die Zugehörigkeit zu der unpersönlichen Ordnung des
Staates reduziert, den Prozess zu machen, aber er übt auch heftige
Kritik an bestimmten Linksintellektuellen. »Die westlichen Denker
sind also alle reif genug dafür, die von Chruschtschow angesproche
nen Strukturen zu akzeptieren. Und niemand wird sie verdächtigen
können, sie würden sich dabei von einem moralischen Gefühlleiten
lassen. Sie begegnen dem Sozialismus nicht als dem Ausdruck einer
Revolte gegen das menschliche Leiden, sondern als der reinen Voll
endung der Idee des Allgemeinen« (S. 143). Hier wird deutlich, dass
Levinas Ethik und Sozialismus keineswegs in einen Gegensatz zuei
nander stellt. Was er in Frage stellt, ist vielmehr die Reduktion der
Politik auf die bloße Reproduktion der anonymen Strukturen des
Staates.29 Levinas wusste sehr wohl um das ethische Anliegen, das
dem Marxismus seinen Antrieb gab (S. 27 f., 178 f. ). Doch gerade weil
2 9 E. Levinas, Die Freiheit des Worts, in: ders.: Schwierige Freiheit, a.a.O., 5.155-158.
17
Vorwort
Die letzte Studie dieses Bandes ist ein Lob auf den Laizismus
(S. 151-167). In diesem Text von 1960, der mit vielen Vorurteilen
gegenüber dem eigenen Denken aufräumt, hebt Levinas hervor, dass
der Laizismus nicht durch die Gleichgültigkeit gegenüber einer an
genommenen übernatürlichen Bestimmung des Menschen bestimmt
ist. Und er lässt sich seiner Meinung nach auch nicht auf die Vertei
digung dieser oder jener gesellschaftlichen Institution reduzieren.
Levinas sieht im laizistischen Ideal vielmehr den Ausdruck der ge
sellschaftlichen Bestimmung des Menschen, und er stützt sich dabei
auf seine in den Nachkriegsj ahre n unternommenen Forschungen
über das, was er das gesellschaftliche Band nennt. Der Laizismus su
che in diesem gesellschaftlichen Band selbst, d. h. in der Solidarität
und der Brüdlerlichkeit unter den Menschen, den Ursprung jeden
Wertes und lehne es daher ab, sich mit einem Fundament zu begnü
gen, das jenseits oder über der Gesellschaft liegt.30 »Für die Anhänger
des Laizismus ist die Gesellschaft Ausdruck eines positiven und ur
sprünglichen Wertes« (S. 155).
Gleichwohl verteidigt Levinas den Laizismus auf eine unerwar
tete Weise, behauptet er doch, dass die Religion und das Ideal des
18
Vorwort
Laizismus zusammenfallen (S. 155). Denn für Levinas stellt die Reli
gion nicht in dem Maße eine Institution dar wie das moralische Ge
wissen selbst: »Das wahre Verhältnis zwischen Mensch und Gott be
ruht auf der Beziehung von Mensch zu Mensch, für die der Mensch
allein die volle Verantwortung trägt, so als ob es keinen Gott gäbe,
auf den man zählen könnte« (S. 157).31 Gerade weil der laizistische
Geist der Unbedingtheit der Moral Rechnung tragen möchte, kann er
es nicht akzeptieren, dass sich die Gesellschaft einem religiösen Par
tikularismus unterwirft (S. 158).
Last but not least. Am Ende des Bandes wurden zwei Gespräche ab
gedruckt, eines mit Bertrand Revillon für La Croix (S. 171-174), das
andere mit Roger-Pol Droit für Le Monde (S. 175-181).
31 Vgl. dazu E. Levinas, jenseits des Sein oder anders als Sein geschieht, a. a. 0., $. 336.
19
Über den Hitlerismus 1934
Einige Betrachtungen zur Philosophie des
Hitlerismus*
23
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
gen wird erst dann wirklich klar, wenn man zu den Quellen, den
Intuitionen, d. h. zu den ursprünglichen Entscheidungen zurückgeht,
aus denen sie entstanden sind. Und in diesem Sinne werden wir au ch
die folgenden Betrachtungen anstellen.
I.
24
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
gagement, auf das er sich aus freiem Willen eingelassen hat, wieder
zurückzuziehen. Zu jedem Zeitpunkt kann er sich wieder in den Zu
stand der Nacktheit zurückversetzen, wie er in den ersten Tagen der
Schöpfung herrschte. Ihn zurückzuerobern ist nicht leicht und kann
scheitern. Ob er zurückerobert wird, hängt nicht an der Entscheidung
eines launenhaften Willens, der sich in einer von Willkür geprägten
Welt befindet Aber schon die Kraftanstrengung die dafür erforder
. ,
lich ist, lässt die Größe der Hindernisse ermessen, die es dabei zu
überwinden gilt, und an ihr zeigt sich vor allem auch die Originalität
der verheißenen und in die Wirklichkeit umgesetzten neuen Ord
nung, die sich deshalb durchsetzt, wei l sie das natürliche Sein bis in
seine tiefsten Schichten hinab zerreißt .
25
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
26
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
stimmte Ri chtung lenken. Für ihn sind sie nichts weiter als logische
Mögli chkeiten, die sich einer Vernunft in ihrer heiteren Gelassenheit
darbieten, welche ihre Wahl trifft und dabei stets ihre Distanz wahrt.
II.
27
Einige Betrachwngen zur Philosophie des Hiderismus
111.
28
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
dem Leib einen Platz in der Natur zu, ohne ihm eine Sonderstellung
innerhalb des Universums beizumessen.
Doch der Leib ist keineswegs nur das ewig Fremde. Es gibt ein
Gefühl der Identität zwischen dem Leib und uns selbst, das unter
gewissen Umständen in gesteigerter Weise zur Geltung kommt, auch
wenn es nach klassischer Auslegung zu den Gefühlen niederen Rangs
gerechnet wird, die es zu überwinden gilt. Der Leib ist uns nicht nur
näher und vertrauter als der Rest der Welt, und er bestimmt auch
nicht nur unser psychologisches Leben, unsere Stimmungen und
Handlunge n. Jenseits all die ser alltäglichen Beobachtungen gibt es
aber auch das Gefühl der Identität. Werden wir uns nicht bereits in
dieser einzigartigen Wärme unseres Körpers offenbar, lange bevor
das Ich, das sich von ihm zu unterscheiden versucht, hervorbricht?
Halten nicht jene Bande, die, lange noch vor dem Erwachen des Geis
tes, aus dem Blut hervorgehen, hier nicht j eder Prüfung stand? Bei
einem gefährlichen sportlichen Unternehmen oder bei einer riskan
ten Übung, in denen - angesichts der tödlichen Gefahr - selbst noch
die kleinsten Bewegungen eine fast abstrakte Perfektion erreichen,
muss jeder Dualis mus zwischen dem Ich und dem Leib verschwin
den. Und empfind et nicht auch der Kranke in der Ausweglosigkeit
des physischen Schmerzes die unteilbare Einheit seines Seins, wenn
er sich in seinem Bett des Leidens wälzt, um eine Position zu finden,
die ihm Ruhe verschafft?
Wird man also sagen können, dass die Analyse des Schmerzes
einen Gegensatz zwischen dem Geist und diesem Schmerz zum Vor
schein bringt, eine Revolte oder Verweigerung, in ihm zu verbleiben,
und folglich den Versuch, ihn zu überwinden? Aber ist dieser Ver
such nicht von vornherein als hoffnungslos zu bezeichnen? Bleibt
der rebellierende Geist nicht unweigerlich in dem Schmerz gefan
gen? Und ist es nicht gerade diese Ausweglosigkeit, die den eigent
lichen Grund des Schmerzes ausmacht?
Neben der Deutung dieser Tatsachen, wie sie durch das traditio
nelle westliche Denken vorgenommen wurde - nämlich als nackte
und raue Tatsachen, die sie aber herunterzuspi elen weiß -, kann aber
auch das Gefühl ihrer irreduziblen Ursprünglichkeit zurückbleiben
und der Wunsch, diese in ihrer Reinheit zu erfassen. Im physisch en
Schmerz würde sich dann so etwas wie eine absolute Position ent
hüllen.
Der Leib ist nicht nur ein unglücklicher oder glücklicher Zufall,
der uns mit der unerbittlichen Welt der Materie in Beziehung setzt -
29
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
seine Zugehörigkeit zum Ich ist ein Wert an sich selbst. Es ist eine
Verbindung, der niemand entkommt und die durch keinerlei meta
phorische Redeweise mit der Anwesenheit eines äußeren Gegenstan
des verwechselt werden kann; denn diese Verbindung stellt eine Ein
heit dar, an deren tragischem Charakter der Endgültigkeit nichts
etwas ändern kann.
Auf dieses Gefühl der Identität zwischen dem Ich und dem Leib
- das natürlich nichts mit einem Materialismus im geläufigen Sinne
zu tun hat - können sich daher all jene eben nicht berufen, die auf
dem Grunde dieser Einheit eine Dualität ausfindig machen wollen,
die angeblich zwischen dem freien Geist und dem Leib, an den er
angekettet ist und von dem er sich loszukämpfen versucht, bestehen
soll. Sie glauben ja im Gegenteil, dass das Gefesseltsein an den Leib
gerade das eigentliche Wesen des Geistes ausmacht. Ihn von den kon
kreten A1.1sdrucksformen, in die er von nun an eingelassen ist, abzu
trennen, heißt aber nichts anderes als die Ursprünglichkeit des Ge
fühls selbst, von dem es auszugehen gilt, zu verraten.
Die Bedeutung, die diesem Gefühl für den Leib zuerkannt wird
- auch wenn sich das westliche Denken damit nie anfreunden wollte
- bildet die Grundlage für einen neuen Begriff vom Menschen. Das
Biologische und alles, was an Unvermeidlichem damit zusammen
hängt, wird dadurch zu mehr als nur einem Objekt des geistigen
Lebens; es wird dessen eigentliches Herzstück. Die mysteriösen
Stimmen des Blutes, der Ruf, der an das Erbe und die Vergangenheit
gemahnt und für die der Leib als rätselhaftes Sprachrohr dient, treten
nun nicht mehr in Gestalt von Rätseln auf, deren Lösung von einem
uneingeschränkt freien Ich abhängig ist. Denn auch das Ich kann bei
der Lösung dieser Rätsel nur wieder die Unbekannten ins Feld füh
ren, aus denen es ja selbst zusammengesetzt ist. Das Wesen des Men
schen liegt nicht mehr in der Freiheit, sondern in einer Art des Ge
fesseltseins. Wirklich selbst zu sein, heißt nicht, sich noch einmal
über die Kontingenz der Ereignisse, die auf immer mit der Freiheit
des Ich unvereinbar sein werden, zu erheben; es bedeutet im Gegen
teil, sich das ursprüngliche, unabweisbare und stets einzigartige Ge
fesseltsein an unseren Leib bewusst zu machen und es vor allem auch
zu akzeptieren .
Folglich macht sich jeder gesellschaftliche Entwurf, der über den
menschlichen Leib hinwegsehen und ihn nicht einbeziehen will, ver
dächtig, die menschliche Realität zu verleugnen oder zu verraten. Die
modernen, auf der Übereinkunft freier Willen basierenden Gesell-
30
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
31
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
dert, sich vor aliem daran erfreut, was ihr Bequemlichkeit verschafft
- einer solchen Art von Gesellschaft muss das germanische Ideal des
Menschen wie ein Versprechen der Aufrichtigkeit und Authentizität
erscheinen. Der Mensch findet sich nicht mehr einer Welt von Ideen
gegenüber, aus der er durch die souveräne Entscheidung seiner freien
Vernunft sich seine eigene Wahrheit wählen kann - er ist von jetzt an
unweigerlich an einige dieser Ideen gebunden, so wie er durch seine
Geburt mit all denen verbunden ist, die vom selben Blut abstammen.
Er kann mit der Idee nicht mehr nur spielen, geht es in ihr, die aus
seinem konkreten Sein hervorgegangen ist und also in seinem Fleisch
und Blut verwurzelt ist, doch um eine ernste Sache.
Gefesselt an seinen Leib erkennt der Mensch, dass er keine
Macht hat, sich selbst zu entkommen. Die Wahrheit liegt für ihn
nicht mehr in der Betrachtung eines ihm äußerlichen Schauspiels -
sie gleicht vielmehr einem Drama, in dem der Mensch selbst die
handelnde Figur ist. Es ist immer die Last der ganzen Existenz - die
auf Gegebenheiten beruht, auf die man nicht mehr zurückkommen
kann -, unter der der Mensch sein Ja oder Nein zu sagen hat.
Aber wozu zwingt uns diese Aufrichtigkeit? Jede rationale An
gleichung oder mystische Gemeinschaft geistbegabter Menschen, die
nicht auf einer Blutsgemeinschaft basiert, gilt als suspekt. Gleich
wohl kann auch der neue Wahrheitstypus nicht auf die formale Na
tur der Wahrheit verzichten und aufhören, universal zu sein. Die
Wahrheit mag noch so sehr meine Wahrheit im stärksten Sinne die
ses Possessivpronomens sein - sie muss dennoch die Erschaffung
einer neuen Welt im Auge haben. Zarathustra gibt sich nicht mit
seiner Verwandlung zufrieden, er steigt vielmehr vom Berg herab
und bringt eine Frohe Botschaft. Wie lässt sich die Universalität mit
dem Rassismus vereinbaren? Möglich ist dies nur dann - und auch
ganz entsprechend der Logik, aus der der Rassismus seine ursprüng
lichen Impulse erhält -, wenn die Idee der Universalität selbst grund
legend modifiziert wird. Sie muss ihren Platz der Idee der Expansion
überlassen, denn die Ausbreitung einer Macht weist eine völlig an
dere Struktur auf als die Verbreitung einer Idee.
Eine Idee, die sich verbreitet, löst sich von ihrem Ausgangs
punkt ab, und zwar ihrem Wesen nach. Sie wird zu einem Allgemein
gut, trotz des unverwechselbaren Akzents, der ihr durch denjenigen
verliehen wird, der sie hervorgebracht hat. Denn im Grunde genom
men ist sie anonym. Derjenige, der sie sich zu Eigen macht, wird in
gleicher Weise Herr über sie wie derjenige, der sie ins Spiel gebracht
32
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
hat. Die Verbreitung einer Idee bringt also eine Gemeinschaft von
»Herren« hervor- es ist ein Prozess der Gleichstellung. Seine eigene
Meinung ändern oder jemanden überzeugen heißt nichts anderes, als
eine Gemeinschaft Gleichgestellter zu schaffen. Die Universalität
einer Ordnung in der westlichen Gesellschaft spiegelt immer auch
diese Universalität der Wahrheit wider.
Die Macht hingegen zeichnet sich durch eine andere Art der
Ausbreitung aus. Wer sie ausübt, hält an ihr fest. Die Macht verliert
sich nicht unter denjenigen, die ihr unterworfen sind. Sie bleibt an
die Person oder die Gesellschaft gebunden, die sie ausübt; sie vergrö
ßert sie, indem sie ihnen den Rest unterwirft. Die universale Ord
nung stellt sich hier nicht als Folgeerscheinung einer ideologischen
Expansion ein - es ist diese Expansion selbst, die die Einheit einer
Welt von Herren und Sklaven hervorbringt. Nietzsches Wille zur
Macht, den das heutige Deutschland wiederentdeckt und glorifiziert,
ist nicht nur ein neues Ideal; es ist ein Ideal, das seine eigene Form der
Universalisierung gleich mitliefert: nämlich den Krieg und die Erobe
rung.
Doch hier stoßen wir auf Wahrheiten, die nur allzu bekannt
sind. Wir haben nur versucht, sie an ein Grundprinzip zurückzubin
den. Vielleicht ist es uns ja gelungen zu zeigen, dass der Rassismus
nicht nur in einem Gegensatz zu diesem oder jenem Gedanken
christlicher oder liberaler Kultur steht. Was auf dem Spiel steht, ist
nicht dieser oder jener Glaubenssatz der Demokratie, des Parlamen
tarismus, eines diktatorischen Regimes oder einer religiös eingefärb
ten Politik. Es geht um die Menschlichkeit des Menschen selbst.
Postscriptum*
33
Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus
34
Husserl, Heidegger, Jean Wahl
II
Der erste Band von Husserls Ideen (Ideen zu einer reinen Phänome
nologie und phänomenologischen Philosophie) - der einzige, der bis
lang erschienen ist - ist eine Einführung in die Phänomenologie, eine
neue Wissenschaft, die nach Ansicht ihres Autors philosophisch im
wahrsten Sinne des Wortes ist, weil sie die Grundlage aller Wissen
schaften darstellt, d. h. sowohl der Natur- und Geisteswissenschaften
als auch der Logik,. der Psychologie, der Erkenntnistheorie und sogar
der Metaphysik.
Auch wenn es unsere Absicht ist, die wesentlichen Gedanken
dieses Buches, das für die deutsche Philosophie von entscheidendem
Einfluss war und immer noch ist, wiederzugeben, so kann es uns
dennoch nicht darum gehen, sie hier in ihrem ganzen Reichtum aus
zuschöpfen. So sind wir einerseits gezwungen, das beiseite zu lassen,
was in ihm vielleicht am interessantesten wäre, nämlich die Vielzahl
konkreter - peinlich genau und sorgfältig durchgeführter phäno -
1 Oie Verweise in den Klammern beziehen sich auf die Paragraphen dieses Aufsatzes.
Oie Fußnoten verweisen dann auf die Werke Husserls.
37
Über die »Ideen« von E. Husserl
auch.3 Die Ideen verstehen sich als Einladung zu einer solchen Ar
beit.
• Husserl verwendet den Begriff eidetisch, der auf das griechische Wort eidos zurück
geht, und stellt ihn dem Begriff der »Idee« gegenüber, um Zweideutigkeiten zu vermei
den (vgl. Paragraph 22).
38
Über die »Ideen« von E. Husserl
Auch wenn die zufällige Struktur, ihrem Wesen nach, das Eigentliche
der individuellen Gegenstände und Naturtatsachen ausmacht, so ent
hüllt sich in ihr gleichwohl so etwas wie ein notwendiger und sich
durchhaltender »Stik Neben »empirischen Typen«, die von rein in
duktiver Allgemeinheit sind (wie Löwe, Stuhl, Stern), stoßen wir
auch auf wirkliche Wesenheiten (Eidos), die notwendigerweise zu
den individuellen Gegenständen gehören und - in jedem Bereich -
die eigentliche Bedingung der Möglichkeit dieser zufälligen Typen
darstellen. Die Farbe, die Materialität, die Wahrnehmung die Erin ,
nerung usw. sind Beispiele für solche Wesenheiten. Aber das Wesen
des individuellen Gegenstandes ist nicht selbst ein individueller Ge
genstand. Das Wesen oder die notwendige Struktur des Gegenstan
des is t als etwas Ideales, überzeitliches und Überräumliches gegeben.
Dennoch dad der Ausdruck ideale Wesenheit nicht im Sinne
einer Metaphysik - einer platonischen5 oder sonstigen - verstanden
werden, denn es steht dabei weder das Sein des individuellen Gegen
standes noch das Sein des idealen Gegenstandes und auch nicht das
Verhältnis zwische n diesen beiden zur Frage. Man muss sich hier
vielmehr die ursprüngliche Einstellung zu Eigen machen, die Husserl
in seinem · ersten phänomenologischen Werk (Logische Unter-
39
Über die »Ideen« von E. Husserl
40
Über die »Ideen« von E. Husserl
3. Wesenssch.au, Wesensanschauung
Oie Wesensschau ist eine der Entdeckungen in den Logischen Unter
suchungen.8 In der Anschauung eines individuellen Gegenstandes ist
es dieser Gegenstand selbst, der die Funktion eines Gegenstandes er
füllen kann; aber genauso gut können wir auch sein Wesen als Ge
genstand erfassen. In dem konkreten Rot dieses Stoffes, der vor mir
liegt- oder in einem vorgestellten Rot - gibt sich das Rot in der Folge
der Variationen, die wir eben beschrieben haben, in seinem Wesen
zur Anschauung. Das individuelle Rot, das ich wahrnehme oder mir
vorstelle, dient nur als Beispiel für meine Wahrnehmung des Wesens
von »Rot«, eines neuartigen Gegenstandes, der aus einem neuen Er
kenntnisakt hervorgeht, einem Akt der Ideation. Die Wahrheiten, die
diesen neuartigen Gegenstand betreffen - die eidetischen Wahrhei
ten - sind folglich unabhängig von der Faktizität des individuellen
Gegenstandes und folglich nichts anderes als induktive Wahrheiten.
Denn die Faktizität des Beispiels hat hier nicht die Funktion einer
Prämisse - ebenso wenig, wie das auf dem Tisch liegende Dreieck
die logische Voraussetzung für eine geometrische Beweisführung
darstellt.
Aber auch wenn das individuelle Beispiel als Grundlage für die
Ideation unabdingbar ist, die Wesenserkenntnis selbst bleibt dennoch
eine Anschauung. In ihr finden sich dieselben Eigenschaften, dje
auch die sinnliche Anschauung als Anschauung charakterisieren.
Oie Wesenserkenntnis ist »Erschauung« ihres Gegenstandes, der
nicht nur etwas bedeutet oder als solcher gemeint ist (vgl. §30), son
dern der selbst mit »klarer und deutlicher« Evidenz gegeben ist. Sie
kann sogar ihren Gegenstand in der privilegierten Art und Weise vor
sich haben, die für die Wahrnehmung charakteristisch ist und bei der
der Gegenstand nicht nur »klar und deutlich« gesehen wird, sondern
41
Über die »Ideen« von E. Husserl
42
Über die »Ideen« von E. Husserl
weisführung kann von daher nichts anderes sein als ein Verfahren,
eine Wahrheit auf ihren Ursprung in der Anschauung zurückzufüh
ren.
Unter diesem Gesichtspunkt kommt es gewissermaßen zu einer
Versöhnung zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus. Die
Quelle der Erkenntnis ist in der Tat die Erfahrung, aber Erfahrung
wird hier in einem weiten Sinne verstanden, nämlich als Anschau
ung, die neben den sinnlich gegebenen empirischen Tatsachen auch
Wesenheiten und Kategorien erfassen kann.
43
Über die »Ideen« von E. Husserl
9 Ideen, S. 22.
44
Über die »Ideen« von E. Husserl
•o Ebd., S. 27.
45
Über die »Ideen« von E. Husserl
rückgehen. Die Zahl der Kategorien wird deshalb auch unendlich viel
größer sein, als Kant geglaubt hatte. Es wird nämlich genauso viele
Gruppen von Kategorien geben, wie es Regionen gibt.
Das Feld synthetischer Erkenntnisse a priori erfährt im Zuge
dieser neuen Konzeption der apriorischen Erkenntnis, die nun mit
der Anschauung materialer und formaler Wesen gleichgesetzt wird,
eine extreme Ausweitung. Die ersten Schüler Husserls, in der Phase
der Logischen Untersuchungen, haben vor allem die Idee dieses »ma
terialen Apriori« - das selbstverständlich auf dem Gebiet reiner We
senheiten, nicht aber auf dem Gebiet allgemeiner Typen (vgl. § 2)
mögli ch ist - und die »Üntologien«, die sich aus ihr als Möglichkeit
ergeben, weiterverfolgt. Doch obwohl sie Husserls Auffassung von
der Phänomenologie - von einigen Vorbehalten abgesehen - gefolgt
sind, sind ihre in seinem Jahrbuch veröffentlichten Arbeiten doch
nur »regionale Ontologien« geblieben, die sich in ihren Unter
suchungen allein auf die verschiedenen Gegenstandsbereiche be
schränken. Die Phänomenologie, so wie Husserl sie versteht, ist aber
etwas anderes. Sie muss das absolut sichere Fundament aller Wissen
schaften sein. Die »Üntologien« brauchen hingegen, auch wenn sie
in ganz anderer Weise rational sind als die Tatsachenwissenschaften,
selbst ein Fundament, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
46
Über die »Ideen« von E. Husserl
der Anscha uung von der Er fah rung in einem weiten Sinne des Be
-
bringen und so die Sachen selbst zu befragen, dies allein ist der ein
zige Weg, um ohne Voraussetzungen zu beginnen und zu den Prin
zipien zu gela ngen .
47
Über die »Ideen« von E. Husserl
1> •Phänomenologie« meint nicht eine Wissenschaft, die sich aufgrund der Unzugäng
lichkeit der »Dinge an sich« auf die Untersuchung der Phänomene beschränkt. Phäno
men bedeutet hier das, was sich »zeigt«, was sich noch vor jeder Voraussetzung gibt, im
Gegensatz zu jeder vermeintlich übergeordneten Struktur. Man könnte also sagen, sie
sei eine »Wissenschaft von den unmittelbaren Gegebenheiten«. Unser Paragraph 10
zeigt, warum die Untersuchung der »unmittelbaren Gegebenheiten« nach Husserl die
Untersuchung des Bewusstseins erforderlich macht.
48
Über die »Ideen« von E. Husserl
49
Über die »Ideen« von E. Husserl
11. Vorbemerkungen
Wir haben bisher gezeigt, dass es gilt, den intuitiven Blick von den
Dingen und den Wissenschaften auf das Bewusstsein zurückzulen
ken, welches die Dinge denkt und die Wissenschaften hervorbringt.
Und wir haben auch gezeigt, worin das philosophische Ziel eines sol
chen Einstellungswandels liegt. Wenn wir jetzt aber versuchen wer
den zu besti mmen, in welchem Sinne das Bewusstsein für tms über
haupt zu einem Gegenstand werden kann, dürfen wir dabei nicht
vergessen, dass eines unserer ursprünglichen Anliegen darin bestand,
den Skeptizismus zu überwinden. Unter den verschiedenen Wegen
zur Phäno menologie müssen wir daher für unseren Zugang zu ihr
denjenigen wählen, der den Charakter des Unbedingten dieser neuen
Wissenschaft, d. h. ihren absoluten Widerstand gegen jede Form von
Skeptizismus, unablässig im Auge behält.
Die natürliche Einstellung, in der wir im Alltag leben und in der wir
uns auch bewegen, wenn wir Wissenschaft betreiben, weiß nichts
von der Frage nach dem Sinn der Erkenntnis und der Transzendenz.
In dieser Einstellung finden wir uns einer daseienden Welt gegen
über; zu der wir zusammen mit den anderen Menschen und mit der
ganzen belebten Natur gehören. Jeder unserer Akte, die diese Welt
zum Gegenstand haben, impliziert deren Dasein. Die Welt als dasei
ende ist die Genera/thesis, die die natürliche Einstellung charakteri
siert.
Doch diese Einstellung muss auf radikale Weise geändert wer
den. Auf der einen Seite muss der Sinn dieser Seinsthesis, die in der
natürlichen Einstellung auf naive Weise vorausgesetzt wird - der
Sinn des Seins -, aufgeklärt werden. Auf der anderen Seite müssen
wir den Skeptizismu s überwinden, der genau deshalb möglich ist,
weil der Sinn dieser Thesis im Dunkeln bleibt.
Aus diesen beiden Anliegen folgt eine neue Einstellung. Diese
hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem cartesianischen Zweifel, ist
aber nicht völlig mit ihm identisch. Wir leben nicht mehr unter der
Voraussetzung der Seinsthesis, die nicht absolut verlässlich ist, aber
wir weisen sie auch nicht zurück; wir gehen nicht einfach zur Anti-
so
Über die »Ideen« von E. Husserl
thesis über. Wir machen vielmehr diese Thesis selbst zum Gegen
stand unserer Untersuchung. Diese unter Verdacht gestellte Thesis
wird also »außer Aktion gesetzt«, »ausgeschaltet« und »eingeklam
mert« - sie verschwindet aber nicht vollständig: Ohne dass sie wei
terhin bestimmend für unser Leben wäre, können wir dennoch über
sie und ihre Eigenschaften sprechen. Husserl bezeichnet diese Ein
stellung als phänomenologische broxT,.
Die phänomenologische ertOXll wird auf alle Seinssetzungen in
nerhalb der natürlichen EinstelJung angewendet: Die wissenschaftli
chen, ästhetischen, moralischen Urteile usw. werden eingeklammert,
und wir verbieten es uns, aus ihnen heraus zu leben. Dennoch hören
wir nicht auf, sie auch weiterhin in Betracht zu ziehen: Ohne für oder
gegen ihren Wert Stellung zu beziehen, ohne aus ihnen heraus zu
leben, so wie wir es in der natürlichen Einstellung getan haben, be
trachten wir dieses Leben selbst in seiner Konkretheit, dieses Be
wusstsein, das all diese Aussagen trifft. Und wir betrachten selbst
diese Aussagen als solche, die vom Bewusstsein getroffen wurden,
und zwar genau in der Art und Weise, wie sie von dem Bewusstsein
getroffen wurden und wie sie in ihm gegenwärtig und gegeben sind.
Diese Aussagen sind dann, so betrachtet, nicht mehr das, was sie
einmal in der natürlichen Einstellung waren, sondern sie sind nun
»phänomenologisch reduziert«. Die phänomenologische btOXTJ wird
daher auch »phänomenologische Reduktion« genannt.
Die btoxl], die uns jede Seinsthesis über die Welt verbietet,
stellt uns also das urteilende Bewusstsein selbst als einen For
schungsgegenstand vor.
Aber sind wir darffit auch schon unserem zweiten Anliegen ge
recht geworden, nämlich in unseren Untersuchungen jeder Form von
Skeptizismus zu widerstehen? Ist nicht das Bewusstsein selbst ein
Teil der existierenden Welt? Muss also die btoxT] nicht auch jede
Aussage über das Bewusstsein »einklammern«? Und macht sie damit
aber nicht jede Phänomenologie, die ja eine über allen Zweifel erha
bene Wissenschaft sein soll, von vornherein unmöglich? Wir werden
auf den folgenden Seiten darauf eine Antwort geben.
51
Über die »Ideen« von E. Husserl
tet, sich der enox� entzieht, und zwar als ein Feld unbedingter Ge
wissheit.
Der Ausdruck Bewusstsein umfasst nach Husserl den ganzen
Bereich des »cogito« im cartesianischen Sinne des Wortes: ich denke,
ich verstehe, ich begreife, ich verneine, ich will, ich will nicht, ich
stelle mir vor; ich fühle usw. Das Eigentümliche der ganzen Bewusst
seinssphäre - des aktuellen (im Modus aufmerksamer Zuwendung)
und des potentiellen (des Bereichs, der die Gesamtheit der möglichen
Bewusstseinsakte umfasst und ohne den das aktuelle Bewusstsein
undenkbar wäre) - besteht darin, immer »Bewusstsein von etwas«
zu sein: Jede Wahrnehmung ist die Wahrnehmung eines »Wahr
genommenen<<, jeder Wunsch ist der Wunsch eines »Gewünschten«
usw. Husserl nennt diese Grundeigenschaft des Bewusstseins Inten
tionalität.
Aber die Intentionalität - und darauf gilt es Wert zu legen - ist
nicht die Verknüpfung zwischen zwei psychologischen Zuständen,
von denen der eine auf den Akt und der andere auf den Gegenstand
bezogen wäre, und auch nicht die Verknüpfung zwischen dem Be
wusstsein auf der einen und dem realen Gegenstand auf der anderen
Seite. Die große Originalität Husserls besteht darin, gesehen zu ha
ben, dass die »Beziehung auf den Gegenstand« nicht etwas ist, das
sich zwischen das Bewusstsein und den Gegenstand schiebt, sondern
dass diese »Beziehung auf den Gegenstand« nichts anderes als das
Bewusstsein selbst ist. Es ist die Beziehung auf den Gegenstand, die
das ursprüngliche Phänomen darstellt, und nicht ein Subjekt und ein
Objekt, die zueinander finden müssten.
Dieser Gedanke lässt - um es gleich zu sagen - bereits den
Grundfehler in der traditionellen Auffassung über die Problematik
der Erkenntnis erahnen. Denn die Tatsache, dass das Subjekt zu sei
nem Objekt gelangt, kann kein Problem darstellen. Was aber tatsäch
lich zum Thema der Erkenntnistheorie wird, ist die konkrete Unter
suchung der verschiedenen Strukturen dieses ursprünglichen
Phänomens der »Beziehung auf den Gegenstand« bzw. der Intentio
nalität. Und diese Untersuchung stellt in der Tat auch, wie wir später
noch sehen werden, das eigentliche Problem der Phänomenologie
dar.
Aber darum geht es im Augenblick noch gar nicht: Uns interes
siert zunächst vor allem das Wesen des Bewusstseins, das, im Gegen
satz zur Welt seiner Gegenstände, über jeden Zweifel erhaben ist.
Wie lässt sich das Bewusstsein von dem Gegenstand, auf den es sich
52
Über die »Ideen« von E.. Husserl
bezieht, unterscheiden? Und was den besonderen Fall der Welt be
trifft, auf die es sich wie auf einen Gegenstand bezieht und in die es
zugleich mit allen anderen lebendigen Wesen eingebunden ist - ist
das Bewusstsein wirklich von ihr unterschieden?
die den Gegenstand vor Augen führt, und der identischen Einheit des Gegenstandes
selbst impliziert also nicht notwendigerweise die These Bergsons, dass der identische
Gegenstand Sache eines irregeleiteten Bewusstseins sei; er lässt sich vielmehr durch
die Unterscheidung zwischen Bewusstseinsakt und Bewusstseinsgegenstand auflösen.
53
Über die »Ideen« von E. Husserl
Vorstellung usw. werden. Diese Akte sind folglich Akte der Reflexi
on. Wenn aber in den Akten der Reflexion der Gegenstand vom Akt
selbst unterschieden werden muss, so ist die Transzendenz des Ge
genstandes bezogen auf den reflexiven Akt von einer anderen Art als
die Transzendenz des räumlichen Gegenstandes bezogen auf seine
Wahrnehmung. Der Gegenstand der Reflexion (immanente Wahr
nehmung) kann selbst dem Bewusstseinsstrom angehören, wohin
gegen dies für den räumlichen Gegenstand wesensmäßig unmöglich
ist. Wir nennen ihn daher einen transzendenten Gegenstand, und die
Wahrnehmung, die ihn erfasst, eine transzendente Wahrne hmung.
Aus diesen eidetischen Gesetzen folgt eine Bemerkun g die äu ,
18 Zwar wird oft der physikalische Gegenstand, anhand dessen die Welt der Qualitäten
erklärt wird, als der eigentliche Gegenstand unseres Bewusstseins betrachtet und die
Welt der Qualitäten als Bild oder Symbol dieses wahrhaft realen Gegenstandes, den
nur ein Gott unmittelbar erfassen könnte. Aber dies ist eine falsche Beschreibung unse
res Bewusstseins, denn das Bewusstsein ist in Wirklichkeit auf die Welt der Qualitäten
ausgerichtet, und darum ist es auch diese, die bestimmt werden muss; diese Welt der
Qualitäten nimmt keineswegs nur die Funktion eines »Bildes« oder »Zeichens« des
Gegenstandes ein, der sie transzendieren wi irde. Der physikalische Gegenstand steUt
also nur, wenn auch wesensmäßig, eine übergeordnete Struktur da1; die in den sinn
lichen Vorstellungen begründet liegt und die dazu dient, diese zu explizieren; er kann
folglich gar nicht anders als Zt\Sammen mit diesen sinnlichen Qualitäten gegeben sein,
und es wäre daher die reinste Mythologie, ihm ein unabhängiges Sein zu unterstellen.
Selbst eine göttliche Physik kann ihn n
i der sinnlichen Wahrnehmung nicht auf unmit
telbare Weise erfassen, »sowenig göttliche Omnipotenz es machen kann, dass man el
liptische Funktionen maltoder auf derGeige spielt« (Ideen, S. 102).
54
Über die »Ideen« von E. Husserl
55
Über die »Ideen« von E. Husserl
Unsere Analysen haben gezeigt, dass das Sein als Bewusstsein einen
ganz anderen Sinn hat als das Sein als Natur; nicht das Bewusstsein
ist von der Natur abhängig, wie der Naturalismus dies gerne hätte,
sondern vielmehr ist umgekehrt das Sein der Natur vom Sein des
Bewusstseins abhängig - ohne dass dieser Abhängigkeit dabei ir
gendein mythologischer Sinn zukommen würde. Wenn dies aber so
ist, wie haben wir dann das Bewusstsein zu verstehen, das sich doch
sowohl in der belebten Natur wie auch im Menschen in einer Weise
manifestiert, als wäre es selbst ein Teil der Natur?
Die Antwort muss lauten, dass das Bewusstsein - als absolutes
56
Über die »Ideen« von E. Husserl
19 Sum igitur [ . .. ] res cogitans id est mens, sive animus, sive inte!lectus, sive ratio [...];
R . Descartes, Zweite Meditation.
57
Über die »Ideen« von E. Husserl
das in der inneren Ans chau un g mit Gewissheit gegeben ist, mit dem
»animus«, der ein Teil der Natur ist, identifiziert ha tte.
Wenn wir nun das reine absolute Bewusstsein, den eigen tli chen Ge
genstand der Phänomenologie, erforschen wollen, dann enthalten
wir uns dabei natürlich aller Aussagen, die die Natur zum Gegen
stand haben (Natu rwissenschaften), und wir machen auch weder
von der Logik noch von der formalen Ontologie Gebrauch, denn un
sere neue Wissenschaft wird, obgleich sie eine Wesenswissenschaft
ist, rein deskriptiv v erfah ren und daher auch keine Deduktionen
durchführen. Was die logisch en Axiome betrifft, auf denen jedes Ob
jekt als Objekt beruht (z. B. dem Satz vom Widerspruch), so werden
uns diese bei jedem Gegenstand unserer Untersuchung in unmittel
barer Anschau ung zugänglich sein. Ferner werden wir uns jeder Aus
sage über Gott - als Prinzip der Finalität und Gegenstand religiöse r
Erfahrung- enthalten und auch die Frage nach dem »reinen Ich«, das
als notwendiges Moment zu jedem Bewusst sein s akt gehört, beiseite
lassen. Und schließlich werden wir auch die »regionalen Ontologien«
übergehen, da uns deren wirklicher Sinn vor der Unter suchung des
reinen Be·wusstseins - des eigentlichen Gegenstandes der Phänome
nologie - gar nicht deutlich werden kann.
Die Phänomenologie stellt sich nach all diesen Überlegungen als eine
Wissenschaft dar, die von jeder äußeren Prämisse una bhängig ist, als
eine auf absoluter Gewissheit gründende Wissenschaft, die die
Grundlage und die Basis der Kritik aller übrigen Wissenschaften lie
fern wird. Die Wissenschaften, die der natürlichen Einstellung ver
haftet und ausschließlich auf ihre eigenen Gegenstände gerichtet
sind, können sich niemals die kritische Frage nach dem Sinn des Be
wusstseins oder nach der Struktur der Intentionalität stellen und
folglich auch nicht nach dem Sinn der Gegenständlichkeit ihres je
weiligen Gegenstands bereichs. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit von
jeder anderen Wiss enschaft einerseits sowie durch den prinzip iellen
Charakter ihrer Problemstellungen andererseits ist es also die Phä
nomenologie, i n der sich, so die Auffassung Husserls, das Ideal der
prima philosophia ganz und gar erfüllen wird.
58
Über die »Ideen« von E. Husserl
2o ldeen, S. 132.
59
Über die »Ideen« von E. Husserl
ten fest, die Eingang finden in ihre Grundaxiome, und aus diesen
Wesenheiten werden dann all jene abgeleitet, die demselben Gegen
standshereich angehören. Diejenigen Bereiche, die sich, wie etwa der
Raum, von ihrer Definition her und aufgrund einer bestimmten,
endlichen Anzahl von Axiomen für eine ähnliche Bestimmung an
bieten, werden von Husserl unter den Begriff der definiten oder ma
thematischen Mannigfaltigkeit gefasst. Die Eigentümlichkeit einer
mathematischen Mannigfaltigkeit besteht nun darin, dass aus ihr
exakte Begriffe gebildet werden können. Die exakten Begriffe inner
halb einer Wissenschaft hängen nicht nur von den Fähigkeiten des
Gelehrten auf dem Gebiet der Logik ab, sondern auch vom Wesen des
jeweiligen Forschungsgebietes selbst. Diese Begriffe sind in einer
»definiten Mannigfaltigkeit« möglich und werden durch das Verfah
ren der ldealisation herausgebildet, die von dem Verfahren der Idea
tion, von dem zu Beginn dieser Abhandlung die Rede war, unter
schieden werden muss. Idealisieren besteht nicht einfach darin, das
Wesen einer indivi duellen Sache zu erfassen, wie es konkret in einer
Wahrnehmung gegeben ist, sondern heißt weit mehr: Es bedeutet,
den Grenz-Wert ihres Wesens zu erfassen - so wie man im konkreten
Raum die geometrischen Ideen erfasst. Ein in diesem Sinne heraus
gearbeiteter Begriff ist eine »Idee im kantischen Sinne« und muss
daher unterschieden werden von dem Wesen, so wie wir es bislang
verstanden haben, nämlich als eine »Idee im platonischen Sinne«.
Die individuellen Dinge können sich zwar dieser Idee im kantischen
Sinne annähern, können sie jedoch niemals als solche realisieren.
Die eidetischen Wissenschaften, die der traditionellen Philoso
phie bislang bekannt waren, hatten die »mathematische Mannigfal
tigkeit« zum Gegenstand und hatten es mit exakten Begriffen zu tun,
die Ergebnis einer Idealisation waren. Dies ist auch der Grund, wa
rum die traditionelle Philosophie die apriorische Wissenschaft mit
der deduktiven Wissenschaft gleichsetzte. Nun haben jedoch die
Analysen aus unserem ersten Abschnitt gezeigt, was es heißt, eine
apriori sche Wissenschaft zu sein, nämlich eine Wissenschaft, die un
abhängig ist von jeder Faktizität und mittels eidetischer Intuition
voranschreitet. Die Deduktion ist von daher also kein notwendg i er
Bestandteil einer apriorischen Wissenschaft, und die »exakten Be
griffe« sind nicht die einzigen wissenschaftlichen Begriffe.
Die große Entdeckung Busserls bestand darin, auf die Existenz
von inexakten »Begriffen« hingewiesen zu haben, zu denen man
nicht auf dem Wege der Idealisation gelangt, sondern auf dem der
60
Über die »Ideen« von E. Husserl
21 Mit der Entdeckung eines inexakten Wesens, das im Gegensatz zum exakten Wesen
der mathematischen Wissenschaften steht, gelingt es uns, über die Alterna tive hinaus
zugehen, vor die uns Bergson gestellt hat: Entweder muss das Bewusstsein, gleich dem
Raum, durch den Verstand in streng definierten Begriffen erfasst werden, oder es lässt
sich überhaupt nicht durch den Verstand erforschen. MitHusserl eröffnet sich nun eine
dritte Möglichkeit. Der menschliche Geist arbeitet nicht nur mit Hilfe geometrischer
Begriffe - es können in ihm auch Wesenheiten auftreten, die nicht einfach nur durch
Starrheit und Tod gekennzeichnet sind. Deresprit de finesse und der esprit de geomitrie
sind nicht die einzig möglichen: Die Erkenntnis kennt auch noch andere Wege.
61
Über die »Ideen« von E. Husserl
feld darstellen, verhindern aber nicht, dass sich das durch die Refle
xion modifizierte Erlebnis tatsächlich auch als es selbst gib t; und des
halb erfasst die Reflexion das Bewusstsein auch tatsächlich in seiner
nicht modifizierten Form, und zwar durch die Modifikationen hin
durch.
Diese Möglichkeit, das Erlebnis so zu erfassen, wie es vor der
Reflexion und u nab hängi g von den zeitlichen Modifikationen in
Wirklichkeit war - eine Möglichkeit, die unabdingbar zu dem An
spruch der Phänomenologie gehört, das Bewusstsein so in den Blick
zu bekommen, wie es wirklich existiert-, kann nicht bestritten wer
den. Dies wäre in der Tat auch absurd, würde damit doch zugleich das
wieder vorausgesetzt, was man bestreitet. Die Reflexion zu bezwei
feln bedeutet ja vorauszusetzen, dass uns zumindest dieser Zweifel
selbst noch durch die Refl exion gegeben ist. Und wenn wir ferner
sagen, dass die Erlebnisse durch die Reflexion modifiziert werden,
so muss man die nicht modifizierten Erlebnisse als bekannt voraus
setzen, denn sonst könnte die Modifikation, und üb rigens auch die
Möglichkeit der Reflexion selbst, doch überhaupt gar nicht in Frage
gestellt werden.
Die Möglichkeit eines jeden Erlebnisses, so, wie es ist, der Re
flexion zugän glich zu sein, stellt eine Wesensnotwendigkeit dar. Die
Reflexion bietet das einzige Mittel dafür; um zu Erkenntnissen über
das Bewusstsein zu gelangen, und es wäre absurd, die Modifikatio
nen, die sie ihrem Gegenstand aufzwingt, und zwar wesensmäßig, als
Mangel einer vorgegebenen psychologischen Veranlagung zu be
trach ten.
62
Über die »Ideen« von E. Husserl
22 In diesen Thesen trifft sich Husserl oft mit Bergson, den er aber zu dem Zeitpunkt,
als dieser sein eigenes Denken entwickelte, nicht kanme. Vgl. das soeben erschienene
Werk Husserls: •Edmund Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeit
bewusstseins«, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. IX,
I lalle 1928.
23 Vgl. M. Heidegger, Sei11 u11d Zeit, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologi
63
Über die »Ideen« von E. Husserl
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Über die »Ideen« von E. Husserl
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Über die »Ideen« von E. Husserl
24 Intentionalität ist ein scholastischer Begriff. Die Scholastiker wussten, dass ein
»mentales« Objekt notwendigerweise zum Bewusstsein gehört, auch wenn das wirk
liche Objekt zerstört ist. - Aber eine solche Auffassung erlaubt es, eben weil sie das
mentale Objekt vom wirklichen Objekt trennt, gerade nicht, die Untersuchung der Be-
66
Über die »Ideen« von E. Husserl
ziehung des Bewusstseins zum wirklichen Obj ekt in eine Untersuchung der noetisch
noematischen Strukturen zu überführen. Husserls Entdeckung bestand darin, dass es
gerade das so genannte wirkliche Objekt selbst ist, das sich in der Reflexion als mentales
Objekt gibt. Denn nichts rechtfertigt die Auffassung, die das mentale Objekt dem wirk
lichen Objekt entgegensetzt. Wir sind in der natürlichen Einstellung auf das wirkliche
Objekt selbst gerichtet, und es gibt keine Dublette, anhand derer wir es erkennen könn
ten.
Übrigens hätte diese Dublette, wenn sie denn existierte, wieder mit Hilfe einer anderen
Dublette erkannt werden müssen, und so weiter ad infinitum- was absurd ist.
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Über die »Ideen« von E. Husserl
Wir h aben soeben die Frage nach der Wahrheit berührt. Damit sind
wir aber bereits beim vierten Abschnitt angelangt. Die noetisch-no
ematischen Analyse n, deren Gegenstandsbereich wir zu Beginn des
Paragraphen 27 aufgezählt haben und deren Durchführung durch
Husserl nur einen ersten Entwurf für anstehende Arbeiten markiert,
werfen noch nicht die Frage nach der Wahrheit auf, sondern unter
suchen viel allgemeiner die Frage nach der Beziehung zum Objekt.
Nun heißt dabei sich auf das Objekt zu beziehen nicht schon, die
Wahrheit zu kennen, und »Objekt sein« heißt noch nicht sein. Nur
die wahre Erkenntnis allein hat das Sein zum Obj ekt. Wie also ge
langt das Bewusstsein in Wahrheit zum Sein - was bedeutet »sein<<?
Das genau ist die eigentliche Frage der Phänomenologie, der gegen
über alle anderen Fragen nur vorbereitenden Charakter haben.
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2s Ideen, S. 306.
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nen, so wie man die Gesetze der Geometrie oder Chemie kennt, denn
beim Bewusstsein haben wir es mit der Intentionalität zu tun und
nicht mit einer Art Substanz, die in sich selbst ruht. Was uns interes
siert, ist die Art und Weise, wie sich das Bewusstsein in jeder seiner
Vollzugsformen - die wir zu beschrieben haben - auf den Gegenstand
bezieht: Als was ist der Gegenstand in der Einstimmigkeit der Intui
tionen gemeint, als was ist er in dem Explodieren gegenwärtig usw. ?
Der Sinn von Sein - dieser Begriff, der für die naive Einstellung, die
ihn voraussetzt, so allgemein wie leer ist - wird innerhalb der Phä
nomenologie zum Hauptgegenstand der Untersuchung und muss
durch die Phänomenologie der Vernunft noch genauer entfaltet wer
den.
Die Probleme, die wir eben angesprochen haben, können unter
der Überschrift »Konstitution der Region materielles Ding für das
reine Bewusstsein « (vgl. § 25) zusammengefasst werden. Analoge
Probleme treten aber auch in anderen Regionen auf. Den Sinn von
Wahrheit und Sein für die Regionen wie etwa »Mensch«, »Tier«,
»Kultur«, »Gesellschaft« usw. zu ergründen, muss das Ziel einer Phä
nomenologie werden, die es sich zur Aufgabe macht, die Anschau
ungen zu klären, welche die entsprechenden Gegenstände als seiende
und wahre konstituieren.
Diese verschiedenen Regionen sind nicht unabhängig voneinan
der. So sind z. B. die Regionen »Tier«, »Mensch«, »Gemeinschaft« in
der Region »materielles Ding« »fundiert«. Und in dem Maße, wie sie
dies sind, greift auch die Phänomenologie der Region »materielles
Ding« ordnend in andere Regionen ein. Aber jede dieser Regionen,
z. B. die »Gemeinschaft«, stellt eine nicht weiter reduzierbare Origi
nalität des Seins - und des Erkanntseins - dar und erfordert daher
auch eine besondere Phänomenologie, in der ihre Konstitution für
das reine Bewusstsein herausgearbeitet wird.
76
Über die »Ideen<< von E. Husserl
16 Dieser Begriff stamml aus der empirischen Psychologie im Deutschland des aus
gehenden 19. Jahrhunderts und bezeichnet den Akt, durch den wir das Bewusstseins
leben des anderen erkennen.
77
Über die >>Ideen« von E. Husserl
78
111
79
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie
gemeine Volk zu bringen, käme fast schon einer Beleidigung des wis
senschaftlichen Gewissens ihres Erfinders Edmund Husserl gleich.
Die Phänomenologie will genau genommen die Weisheit aus den
flüchtigen Liebschaften, den ausgelassenen Spielereien und der kom
promittierenden Gesellschaft mondäner Unterhaltungskünstler und
Modeschwätzer heraushalten. Sie will zwischen der Weisheit und
Sokrates einen Bund »fürs Leben« schließen, und sie fordert daher
die entsprechende Ernsthaftigkeit, die für einen solchen Bund not
wendig ist. I
Doch die paar Worte, die wir an dieser Stelle zu den allgemeinen
Absichten der phänomenologischen Bewegung sagen, werden viel
leicht dennoch nicht zwangsläufig schon einen Absturz in die vulgäre
Halbwissenschaft bedeuten.
Phänomenologie bedeutet »die Wissenschaft von den Phänome
nen«. Alles, was sich unserem Blick gibt, zeigt und offenbart, ist Phä
nomen.
Folglich ist alles Phänomen und jede Wissenschaft Phänomeno
logie!
Keineswegs. Das, was sich dem Bewusstsein gibt, verdient den
Namen Phänomen nur dann, wenn es der Rolle und der Funktion
entsprechend, die es im Leben - im individuellen, faktischen Leben
- spielt und einnimmt, und dessen Gegenstand es ist, ergriffen wird.
Andernfalls ist es eine Abstraktion; die Bedeutung, der Stellenwert
und, wenn man so will, das Gewicht seiner Existenz blieben uns ent
zogen. Eine konstruierte philosophische Interpretation, die von au
ßen herangetragen wird, bedeutet Verrat an seinem Sinn. Die Kon s
truktion entstellt das Phänomen.
Um das Phänomen als Phänomen zu retten, muss es in seiner
höchsten, philosophischen Bedeutung erfasst werden, was nach Auf
fassung der Phänomenologie nur dann möglich ist, wenn es in das
Bewusstseinsleben selbst, d. h. in die unteilbare Individualität unse
rer konkreten Existenz zurückgestellt wird 2
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Freiburg, Husserl und die Phänomenologie
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Freiburg, Husserl und die Phänomenologie
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Freiburg, Husserl und die Phänomenologie
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Freiburg, Husserl und die Phänomenologie
kann nicht ged!acht werden (die alten Philosophen hatten Recht, dies
zu behaupten). Es muss also beängstigend sein.
Das Konkrete, von dem aus die Welt verstanden werden muss,
ist also die Intentionalität. Ein Bewusstsein, das sich aus Empfindun
gen zusammensetzt, die ohne Sinn sind, das auf nichts gerichtet und
in sich selbst verschlossen ist - wie etwa der »polypary of images«
von Taine oder sogar die Dauer Bergsens -, lässt uns die Welt nicht
verstehen, weil diese eben kein Inhalt des Bewusstseins ist. Die In
tentionalität dagegen eröffnet uns hier Möglichkeiten. Und die kon
krete Geometrie - durchaus nichts Lächerliches - ist eine der ersten
Formen, in der sie sich ins Werk setzt.
Der geometrische Raum ist in der Tat eine Abstraktion. Die kon
krete Situation aber, in der uns die räumliche Ausdehnung erfahrbar
wird, ist unsere Anwesenheit im Raum. Diese lässt sich nicht redu
zieren auf ein bloßes Innewohnen eines ausgedehnten Dings in
einem ausgedehnteren Ding, das es umgibt. Sie setzt sich vielmehr
aus einem ganzen Komplex von Intentionen zusammen, ja stellt
überhaupt den einzigen Typ von Intention dar, der in der Lage ist,
sich auf den Raum als Raum zu beziehen, so wie nur die Sehkraft
das Licht entdecken und nur die Angst das Nichts wahrnehmen kann.
Folglich brauchen wir also nur zu erklären, was es mit diesen Inten
tionen auf sich hat. Wir haben es mit einem Raum zu tun, der in
erster Linie eine Umgebung darstellt, die sich aus den Möglichkeiten,
uns zu bewegen, uns zu entfernen und zu nähern konstituiert, also
einem Raum, der nicht homogen ist, sondern aus einem Oben und
Unten, einem Rechts und Links besteht, einem Raum, der jeweils
bezogen ist auf die uns umgebenden Gegenstände, die die Möglich
keiten, uns zu bewegen und herumzugehen, beeinflussen. - Wird
man behaupten können, dass dieser konkrete Raum den geometri
schen Raum voraussetzt? Dies hieße aber zu glauben, dass der Ers
tere einer theoretischen, wenn auch undeutlichen Anschauung gege
ben wäre, und hieße die ganz andere Wurzel zu vergessen, die diesen
Raum mit unserem Leben verbindet, also die irreduzible Besonder
heit der »Anwesenheit im Raum«. Es wäre so, als würde man die
Berührung im Sinne einer unvollkommenen geistigen Schau verste
hen.
Dennoch kommt diese Entdeckung - oder vielmehr diese Reha
bilitation - des konkreten Raumes nicht einer Verurteilung der Geo
metrie gleich, genauso wenig wie die phänomenologische Analyse
der Welt dazu führt, die Wissenschaft als solche gering zu schätzen.
84
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie
Nur muss man, um das Gewicht, den Geltungsbereich und den Sinn
wissenschaftlicher Wahrheit richtig einschätzen zu können, erken
nen, inwiefern die wissenschaftliche Tätigkeit über die konkrete Welt
unseres Lebens hinweggeht und in welcher Beziehung der wissen
schaftliche Gegenstand zum unmittelbaren Gegenstand steht. Wir
müssen - durch eine Analyse der Intentionalität - die Bedeutung
derjenigen Situation aufdecken, in der sich, ausgehend von der Un
mittelbarkeit des Raumes, der geometrische Raum offenbart. Das
heißt nun nicht, dass sich der Phänomeneloge für die Gefühle oder
Leidenschaften desjenigen interessiert, der sich mit Geometrie be
schäftigt, sondern vielmehr, dass er dem Ursprung der geometrischen
Einstellung überhaupt nachzuspüren hat, und zwar in der konkreten
Totalität menschlicher Existenz, die viel reichhaltiger ist als die reine
und nüchterne Betrachtung. So kommt das Verlangen nach dem
Konkreten, das wir bereits bei Berkeley gespürt haben, zu seiner Er
füllung. Wenn dieser glaubte, die Wissenschaft, wie Newton sie be
trieben hatte, zurückweisen zu müssen, dann deshalb, weil seine
Auffassung eines »verdinglichten« Bewusstseins und seine Unkennt
nis der Intentionahtät es ihm nicht erlaubten zu begreifen, wie eine
Welt sich auf das Bewusstsein beziehen und aus ihm ihren Sinn
schöpfen könnte, wenn sie nicht bereits in ihm wie in einer Schachtel
»eingeschlossen« wäre.
Die Intentionalitäten zu analysieren, die die verschiedenen Ge
genstände konstituieren, genau das heißt Phänomenologie zu betrei
ben. Diese Fragen nach der »Konstitution«, die man in Freiburg so
heftig diskutiert, werden zu einer Erneuerung der Philosophie füh
ren. Sie werden uns wieder die Augen dafür öffnen, die Phänomene
in ihrer konkreten Lebendigkeit und unverstellten Ursprünglichkeit
zu betrachten. Das Sein als Ganzes, so wie es aus unserem konkreten
Leben aufscheint, ist keineswegs nur eine Ansammlung von Tatsa
chen, die allein von den Naturwissenschaften begriffen werden
könnten. Neben dem Raum, der Zeit und der Kausalität behaupten
sich auch Begriffe wie z. B. das »Alltägliche«, das »Ästhetische«, das
»Heilige« usw. in ihrer Objektivität. Diese Bestimmungen geben sich
als zu den Gegenständen selbst gehörig, und die Phänomenelogen
betrachten sie daher auch nicht nur als »rein subjektive« Bestim
mungen unseres Bewusstseins der Dinge, sondern als konstitutive
Kategorien der Dinge selbst. Die Welt geht über die Grenzen der
Natur hinaus; sie nimmt all die Facetten und den ganzen Reichtum,
die sie durch unser konkretes Leben erhält, in sich auf: Es ist eine
85
Freiburg. Husserl und die Phänomenologie
Aber die Welt lässt sich nicht, ebenso wenig wie der Tempel, inner
halb von drei Tagen zerstören und wieder aufbauen. Die Parole in
Freiburg lautet daher: »Arbeiten ! « Dieses Wort erhält einen beson
deren Beigeschmack, wenn man es auf die Philosophie bezieht, und
vor allem wenn man unter Arbeit etwas ganz anderes als nur die
historische Erforschung aller Subtilitäten innerhalb des aristote
lischen und kantischen Denkens versteht. Die jungen Phänomenolo
gen, die Schüler Husserls, sind der Auffassung, dass sie für die Phi
losophie dieselbe Arbeit verrichten können wie die Forscher für die
Wissenschaften. Sie räumen das mit wissenschaftlichen Konstrukten
zugestellte Gelände frei, kneten den philosophischen Lehm und legen
nach und nach und mit großer Sorgfalt die Fundamente. So wollen
sie den Traum ihres Meisters Husserl verwirklichen, den Traum einer
Philosophie als Wissenschaft, an der Generationen von Arbeitern
mitwirken und alle ihren bescheidenen Beitrag zum großen Bauwerk
der Philosophie leisten sollen, einem Bauwerk, das die Philosophen
der Tradition noch über Nacht errichten wollten - gleich den Zwer
gen in den Märchen.
Aber was heißt hier »den philosophischen Lehm kneten«? Wir
verstehen jetzt, was das bedeutet. Jedes Wort, das verwendet wird,
jeder Begriff, der allgemein gebräuchlich ist, und jede Wahrheit, die
sich scheinbar von selbst versteht, muss zunächst die Feuerprobe
phänomenologischer Analyse bestehen - eine Analyse, die mu durch
eine mühselige Arbeit ausgeführt werden kann, durch Arbeiter, die
unermüdlich gebeugt über dem Geflecht des konkreten Bewusst
seinslebens sitzen, dem Wirrwarr an »Intentionalitäten«, aus dem
es sich zusammensetzt. Den Begriffen, die nur aufgrund von trüge
rischen, undurchsichtigen und nicht durch unmittelbare Anschauung
belegten Beweisführungen zu philosophischen Meriten gelangt sind,
ja dieser ganzen Art und Weise der Beweisführung selbst, die man in
Freiburg verächtlich als Konstruktion bezeichnet, setzen dje Phäno-
86
Freiburg, Husserl und die Phänomenologie
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Freiburg, Husserl und die Phänomenologie
Während sich die fähigsten Köpfe von der Lehre angezogen fühlten,
waren die Massen von deren Erfolg fasziniert.
Es war in den Jahren 1900/1901, als Husserl, der zu dieser Zeit
Privatdozent in Halle war, die Logischen Untersuchungen veröffent
lichte, in denen die neue Art des Philosophierens erstmals ihren Aus
druck fand. Ein gewaltiger Umbruch: Begeisterte Schüler strömten
nach Göttingen, wo der junge Meister bis zum Jahre 1916 lehrte.
Von Jahr zu Jahr eroberte dann die Phänomenologie immer neue
Fakultäten innerhalb Deutschlands, ja ihr Einfluss breitete sich sogar
über die Grenzen der Philosophie hinaus aus und griff auf die Ge
schichte, die Soziologie, die Psychologie, die Philosophie, die Rechts
wissenschaften über. Er ging selbst über die deutschen, ja sogar die
europäischen Grenzen hinaus. (Bereits 1911 spricht Victor Delbos in
der Revue de mitapltysique et de morale von Husserl.) 1916 ließ sich
Husserl in Freiburg nieder und lebt dort, nachdem er einen Ruf an die
Universität Berlin abgelehnt hat, noch heute.
Ich bin zu einem Zeitpunkt nach Freiburg gekommen, als der
Meister seine regulären Lehrverpflichtungen gerade aufgegeben hat
te, um sich ganz der Veröffentlichung seiner zahlreichen Manuskrip
te zu widmen. lch hatte das Glück, an einigen Vorträgen teilnehmen
zu können, die er gelegentlich vor einer stets dicht gedrängten Zu
hörerschar hielt. Nachfolger auf seinem Lehrstuhl wurde Martin
Heidegger, sein genialster Schüler, dessen Name jetzt wie ein Stern
am Himmel Deutschlands strahlt. Seine Lehre und seine Werke, die
von einer außergewöhnlichen intellektuellen Kraft zeugen, liefern
den besten Beweis für die Fruchtbarkeit der phänomenologischen
Methode. AJlein seine Anziehungskraft war höchst beeindruckend:
Um mir einen Sitzplatz in seiner Vorlesung zu sichern, die um fünf
Uhr nachmittags in einem der größten Hörsäle der Universität statt
fand, musste ich diesen bis spätestens zehn Uhr vormittags belegt
haben. Und im Seminaij zu dem nur privilegierte Teilnehmer zuge
lassen waren, fanden sich alle Nationen vertreten, überwiegend
durch Universitätsprofessoren: die USA und Argentinien, Japan und
England, Ungarn und Spanien, Italien und Russland, ja sogar Aust
ralien. Als ich diesen illustren Kreis von Zuhörern sah, verstand ich,
was jener deutsche Student meinte, den ich auf meinem Weg zurück
nach Freiburg im Schnellzug von Berlin nach Basel getroffen hatte.
Auf meine Frage, wohin er denn fahre, antwortete er mir, ohne mit
der Wimper zu zucken: »Ich gehe zum größten Philosophen der
Welt.«
88
IV
89
Ein Brief Jean Wahl betreffend
90
Ein Brief Jean Wahl betreffend
91
V
Ich würde gerne auf zwei Fragen zurückkommen, die Jean Wahl ge
stellt hat. Die erste betrifft die Definition von Existentialismus. Die
zweite bezieht sich auf seine Überlegungen, die er zum Begriff des
Todes angestellt hat: Warum soll das Nachdenken über den Tod auf
schlussreicher sein als das Nachdenken über das Leben? - Ein Ein
wand, den man von verschiedenen Seiten häufig zu hören bekommt
und den ich auch nicht zurückweisen will, um mich einfach Heideg
ger anzuschließen, sondern den ich gerne aufgreifen möchte, um
Heidegger näher zu erläutern.
Die Verbindung zwischen beiden Fragen, die ich hier kurz strei
fen will, ist anderswo zu suchen.
Sie [J. Wahl] haben aber noch eine dritte Frage gestellt: Wer ist
Existentialist? Und Sie haben überall Existentialisten ausfindig ma
chen können. Es gibt einen Existentialismus jenseits von Kierkegaard
und Pascal, bei Shakespeare und sogar bis hin zu Sokrates. Überall
und nirgendwo, denn jeder wehrt sich dagegen, ein Existentialist zu
sein. Das ist es, was Husserl die zweite Stufe in der Verbreitung einer
neuen Lehre genannt hat. Auf der ersten schreit man: »Das ist ja
absurd!« Auf der zweiten ist man empört: »Aber das wurde ja immer
schon so gedacht!« Dann gibt es eine dritte Stufe, auf der die Lehre in
ihrer tatsächlichen Originalität zur Kenntnis genommen wird. Zum
Glück endet diese Vervielfältigung einer neuen Lehre in die Vergan
genheit hinein mit ihrer eigenen Negation. Wir müssen daher viel
leicht anerkennen, dass es nur einen einzigen Existentialisten oder
Existenzphilosophen gibt - und dieser eine Existentialist ist nicht
Kierkegaard, Nietzsche oder Sokrates, ja er findet sich nicht einmal
unter den Nachfolgern Heideggers, trotz der vielen Talente, die es
unter ihnen gibt. Es ist Heidegger selbst, also derjenige, der diese
Bezeichnung von sich weist.
Warum? Weil das metaphysische Werk Heideggers das Licht in
die Dunkelheit der Vergangenheit gebracht hat, durch das wir den
93
Ein Beitrag zu Jean Wahls Buch
94
Ein Beitrag zu jean Wahls Buch
Ein Ereignis, das nicht dasjenige, was existiert, hervorbri ngt, und
nicht das Einwirken von etwas Existierendem auf ein anderes Objekt
meint. Das Ereignis ist die nackte Tatsache des Existierens, nichts
anderes. Die Tatsache des Existierens, die bis dahin als etwas Ein
faches, Harmloses und Unspektakuläres betrachtet wurde, als ein
Existieren, das gemäß dem aristotelischen Begriff des Aktes inmitten
all der Abenteuer, die ein Seiendes zu bestehen h atte , dennoch ruhig
und sich selbst gleich blieb, das allem Seienden gegenüber transzen
dent und doch nie das Ereignis selbst des Transzendierens war - diese
Tatsache des Existierens erscheint mit dem Existentia lis mus plötzlich
als das Abenteuer selbst, he rrscht über die Geschichte selbst, artiku
liert sich in jedem Augenblick n eu.
Wenn Heidegger vom ln-der- Welt-sein oder Sein zum Tode
oder Mitsein spricht, dann fügt er unserem j ahrtausendealt en Wis
sen um unsere Anwesenheit in der Welt, unsere Sterblichkeit und
u nsere Sozialität eben dies hinzu: dass diese Präpositionen in, zum
und mit b ere its in der Wurzel des Verbs sein liege n (so wie ex bereits
in der Wurzel von existier en liegt); dass wir, die wir S eiend e sind und
unter best immten Bedingungen existieren, diese Präpositionen nicht
in unserer Hand haben; dass sie nicht einmal mathematisch, im
strengen Sinne Husserls, in unserer Natur oder unserem Wesen als
Seiende enthalten sind; dass sie weder zufällige noch notwe ndg i e At
tribute unserer Substanz sind, sondern dass sich in ihnen das ange b
lich ruhige, einfache und sich selbst gleiche Ereignis des Seins selbst
zusp richt . Der Existentialismus, so kann man also sagen, besteht da
rin, dass er das Verb sein als ein transitives empfind et und denkt.
Wenn Sartre in seinen Romanen - ich habe Das Sein und das
Nichts noch nicht ge lesen - das Wort sein kursiv setzt, oder wenn er
das Wörtchen bin in »ich bin dieser Schmerz« oder »ich bin dieses
Nichts« hervorheb t, dann ist genau diese Transitivität des Verbs sein
gemeint, die damit herausgestellt werden soll.
Es gibt, kurz gesagt, in der existentialistischen Philosophie keine
Kopula mehr. Die Kop ula bringen nun das Ereignis des Seins selbst
zum Ausdruck.
Ich denke, dass ein gewisser Gebrauch des Verbs sein - was nicht
heißen soll, dass ich dem Sein eine ausschließlich verbale Bedeutung
zusprechen will -, der dieser Transitivität entspricht, für den Exis
tentialismus charakteristischer ist als die Beschwörung von Ekstasen,
Sorge und Tod, die als solche genauso gut niet zscheanisc h oder
christlich wie ex iste n ti ali stisch sein können .
95
Ein Beitrag zu Jean Wahls Buch
Aber würden nicht auch die Kategorien Potenz tmd Akt zur
Charakterisierung dieses neuen Begriffs der Existenz genügen? Be
vor die Existenz in einen Akt umschlägt, befindet sie sich da nicht in
einem Stadium, in dem sie nichts anderes ist als die Potenz dieses
Ereignisses des Umschlags?
Ich glaube nicht - und das bietet mir die Gelegenheit, auf die
zweite Frage von Jean Wahl zu antworten: Warum hat Heidegger
z. B. den Tod und nicht die Hoffnung gewählt, um die Existenz zu
charakterisieren?
Eine Potenz, die in einen Akt übergeht, ist das Geringste »im
Verhältnis zu« jener whigen Existenz, dje ganz im Besitz ihrer selbst
ist und sich außerhalb der Existenz und der Ereignisse situiert. Ihre
Existenz besteht daher auch in nichts anderem als in ihrer Verwirk
lichung, in dem ständigen Verlust dessen, was aus ihr eine einfache
Möglichkeit macht. Die Verwirklichung der Potenz ist das Ereignis
einer Neutralisierung.
Damit die Potenz auch wirklich das Sein konstituieren und das
Sein auch tatsächlich Ereignis werden kann, muss sich diese Potenz
anders definieren als durch den Bezug auf einen Akt; sie muss also
außerhalb der Finalität situiert werden. Das Ereignis der Existenz
muss etwas anderes sein als die Verwirklichung eines wie auch im
mer vorgegebenen Ziels. Heidegger sagt: Ein solches Ereignis ist der
Tod. Die Möglichkeit des Todes zu verwirklichen, das heißt nichts
anderes, als die Unmöglichkeit jeder Verwirklichung zu verwirk
lichen - im Möglichen als solchen sein und nicht in einem Mögli
chen, das »Abbild einer unbewegten Ewigkeit« ist! Man könnte auch
sagen, dass, um im Möglichen zu sein, Heidegger die Finalität durch
den Bezug auf ein Ende (im alltäglichen Sinne des Begriffs und nicht
im Sinne eines Ziels) ersetzt.
Heidegger will an einer Möglichkeit festhalten, die nicht die
Konsequenz oder der Vorläufer einer Verwirklichung ist, und daher
löst er den Begriff der Möglichkeit vom Begriff des Aktes ab. Nur so
kann die Möglichkeit immer eine Möglichkeit bleiben; in dem Mo
ment, wo sie als solche erschöpft ist, bedeutet dies dann auch den Tod.
Es ist also der Begriff des Todes, der es erlaubt, die Möglichkeit als
Möglichkeit zu denken und zu ergreifen: Als Ereignis der Existenz
gehört er mit in diese Grundeinsicht Heideggers. Ich weiß nicht, ob
Sie damit einverstanden sind.
Die Existenz vollzieht sich in der Weise, dass sich das Sein be
reits auf den Tod bezieht, und diese Weise, sich auf den Tod zu bezie-
96
Ein Beitrag zu Jean Wahls Buch
hen, ist für Heidegger die Möglichkeit par excellence. Während alle
anderen Möglichkeiten sich verwirklichen und zu Akten werden,
wird der Tod zur Nicht-Wirklichkeit, dem Nicht-Sein schlechthin.
Und genau dies ist gemeint, wenn Heidegger sagt, dass der Tod die
Möglichkeit der Unmöglichkeit ist.
97
Sartre, der Existentialismus,
die Geschichte
VI
101
Existent.ialismus und Antisemitismus
den Blick gerät. Für aH jene, die der Antisemitismus schon seit lan
gem begleitet, findet sich in dem Vortrag Sartres noch etwas anderes
als nur die Thesen und Schlussfolgerungen.
Das, was in dem von Sartre geführten Kampf am meisten auf
fällt, ist weniger der Sieg, den er davonträgt, als vielmehr die Waffen,
die er einsetzt. Diese sind völlig neuartig. Der Antisemitismus wird
mit existentialistischen Argumenten angegriffen. Und dies ist nicht
nur für diejenigen ein Ereignis, die im Cafe de Flore ein- und aus
gehen. Wenn man sich bewusst macht, dass der Existentialismus
mehr ist als nur eine Modeströmung innerhalb der Philosophie und
es ihm in seinem Wesen - in einem sehr weiten Sinne verstanden
um die ganz aUgemeine Struktur der modernen Welt und die Angst
in ihr geht, dann zeigt sich, dass Sartres Betrachtungen die Judenfra
ge aus den überholten Horizonten, in die sie häufig gestellt wird,
herauslösen und auf eine Stufe heben, die tatsächlich auch der wah
ren, schrecklichen und aufgewühlten Geschichte des 20. Jahrhun
derts entspricht. Nun ist Schluss mit dem Anachronismus.
Wie wurde bislang die Frage der Judenemanzipation angegan
gen? Sartre selbst hat es ganz richtig gesagt: Sie ging einher mit einer
analytischen Betrachtungsweise der Gesellschaft. Die menschliche
Person gilt als unabhängig von ihrem Milieu, ihrer Geburt, ihrer
Rehgion, ihren sozialen Bedingungen. Als geistiges Atom gehe sie
zwar verschiedene Verbindungen ein, bewahre aber ihre Würde als
Person, gleich der Würde aller anderen Personen und mit unver
äußerlichen und heiligen Rechten ausgestattet. Und im Namen die
ser Unabhängigkeit war dann auch jede antisemitische Voreinge
nommenheit zu verurteilen. Diese Auffassung rührt zwar aus der
jüdisch-christlichen Tradition hex; aber sie stellt noch das Denken
der Gegenwart dar - gefasst in die Begrifflichkeit des Rationalismus
des 17. und 18. Jahrhunderts.
Wenn der Mensch tatsächlich unbeeinflusst von den besonderen
Umständen seiner konkreten Situation bleiben sollte, so müssten alle
seine Bindungen zur Welt letztlich solche sein, die allein auf der Er
kenntnis beruhen. Ich bin mir all dessen, was mir widerfährt, be
wusst, und deshalb bin ich auch bereits außerhalb dessen, was mir
widerfährt. Es gibt für mich keine besondere Situation, weil jede Si
tuation von vornherein durch mein Denken erhellt ist und ich genau
dadurch schon außerhalb dieser Situation stehe. Das Irrationale, das
Rätselhafte, das Gesellschaftliche, das Geschichtliche, das Materielle
- dies alles sind streng genommen unbekannte Größen, die aber in
102
Existentialismus und Antisemitismus
Begriffe der Erkenntnis übersetzt und mit den Gewichten des Wis
sens abgewogen worden sind: unklare Gedanken, aber doch Gedan
ken.
Dem setzt nun die moderne Welt ein zutiefst anticartesianisches
und antispinozistisches Gefühl gegenüber. Das menschliche Denken
wird durch geschichtliche, gesellschaftliche und ökonomische Phäno
mene geformt. Wir sind in ihnen verwurzelt, aber unsere Wurzeln
sind nicht die Gedanken. In einem Bericht, den die UNESCO kürzlich
zur Vorbereitung eines Gutachtens für die UNO zu Fragen der Men
schenrechte an die Philosophen verschickte, wird nachdrücklich auf
eine Art Antinomie verwiesen, in welche die Vernunft gerät, wenn
sie versucht, die Menschenrechte genauer zu präzisieren: Die Freiheit
der Person lässt sich nicht ohne die ökonomische Befreiung begrei
fen, aber der Weg hin zu dieser ökonomischen Freiheit ist ohne eine
zeitweise- gleichwohl in ihrer Dauer unbestimmt bleibende - Unter
drückung der moralischen Person nicht möglich.
Die gesamte Philosophie Sartres ist nichts anderes als ein Ver
such, den Menschen so zu denken, dass in seine Geistigkeit auch
seine geschichtliche, ökonomische und gesellschaftliche Situation
mit hineingenommen ist, ohne sie darum auch schon zu einem blo
ßen Gegenstand des Denkens zu machen. Sie gesteht dem Geist ein
Engagement zu, das kein Wissen ist. Einsätze des Denkens, die keine
Gedanken sind- das ist der Existentialismus!
Weil aber der Existentialismus erstmals in der Geschichte das
intellektuelle Instrumentarium dafür liefert, dieses Engagement an
ders als in seiner bloßen Materialität zu begreifen, vermag er auch
dem Antisemitismus entgegenzutreten. Bislang war es so, dass dieje
nigen Denker, die die Unabhängigkeit des Menschen von seiner kon
kreten Situation geleugnet hatten, ihm auch die Menschenrechte
streitig machten und sich offen zum Antisemitismus bekannten. All
diese Historiker, die eine Art Zugehörigkeit propagieren, Leute \-vie
Maurras, Alphanse de Chateaubriant, Giono und La Varende, die
»Blut und Boden«-Dichter und Gewalt-Verherrliche r - all diese Epi
gonen Nietzsches hatten leichtes SpieL Eine gequälte und aus dem
Gleichgewicht gebrachte Welt verlieh ihnen ihre Autorität, selbst
dann noch, als sie sich von ihnen vorsichtig distanzierte oder auch
vor Blutvergießen nicht zurückschreckte, um sie zum Schweigen zu
bringen.
Bis dahin suchten die Verfolgten Schutz bei Descartes oder Spi
noza, doch vergeblich, denn auch sie wurden von einer Zivilisation
103
Existentialismus und Antisemitismus
104
VII
Es gilt im Allgemeinen als ein Dogma, dass die Funktion der Kunst
darin bestehe, etwas zum Ausdruck zu bringen, und dass der künst
lerische Ausdruck auf einer Erkenntnis beruht. Der Künstler sagt
etwas: selbst der Maler, selbst der Musiker. Er sagt das Unaussprech
liche. Das Werk erweitert die gewöhnliche Wahrnehmung und über
schreitet sie. Was diese banalisiert und somit verfehlt, wird durch
jenes, da es einer metaphysischen Intuition gleichkommt, in seinem
irreduziblen Wesen erfasst. Wo die alltägliche Sprache ihr Scheitern
eingestehen muss, spricht das Gedicht oder das Gemälde. Im Werk,
das wirklicher ist als die Wirklichkeit, bezeugt sich also die Würde
der künstlerischen Phantasie, die sich zu einem absoluten Wissen
erhebt. Auch wenn der Realismus als ästhetischer Kanon in Verruf
geraten ist, so hat er doch keineswegs an Geltung verloren. Tatsäch
lich schwört man ihm nur um eines höheren Realismus willen ab.
Surrealismus ist ein Superlativ.
Die Kritik selbst bekennt sich zu diesem Dogma. Mit dem gan
zen Ernst einer Wissenschaft nimmt sie teil am Spiel des Künstlers
und stellt anhand der Kunstwerke Forschungen an über Psychologie,
Charaktereigenschaften, Milieus und Landschaften - als ob sich bei
einem ästhetischen Ereignis der durch den visionären Blick des
Künstlers erfasste Gegenstand durch das Mikroskop - oder Teleskop
- auch der Neugier des Forschers ausliefern würde. Dennoch scheint
die Kritik eine parasitäre Existenz an der Seite einer Kunst zu führen,
die als schwer verständlich gilt. Sie sucht den Untergrund der Wirk
lichkeit, der dem begrifflichen Denken unzugänglich bleibt, nach
Beute ab. Oder sie setzt sich gleich selbst an die Stelle der Kunst.
Mallarme zu interpretieren, hieße dies nicht auch schon, ihn zu ver
raten ? Ihn aber in einer Weise zu interpretieren, die ihm gerecht
würde, hieße das nicht, ihn als Dichter überflüssig zu machen? Das
105
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
klar zu sagen, was er nur dunkel sagt, würde also nur bedeuten, die
Dunkelheit seiner Art zu reden als eine Eitelkeit zu enthüllen.
Die Kritik als eine vom literarischen Leben unterschiedene
Funktion, die Kritik der Fachleute und Experten, wie sie sich als ei
gene Rubrik in Zeitungen, in Zeitschriften oder in Form von Büchern
manifestiert, kann einem tatsächlich verdächtig oder überflüssig vor
kommen. Aber sie hat ihren Ursprung in den Köpfen der Hörer, der
Betrachter und der Leser; es gibt die Kritik als eigene Verhaltens- und
Reaktionsweise des Publikums selbst. Das Publikum begnügt sich
nicht damit, sich nur dem ästhetischen Genuss hinzugeben, sondern
es hat auch ein unwiderstehliches Bedürfnis, selbst zu sprechen.
Wenn es auf Seiten des Publikums also noch etwas dazu zu sagen
gibt, der Künstler sich aber weigert, über sein Werk noch etwas an
deres zu sagen, als das, was dieses Werk selbst - das man nicht ein
fach schweigend betrachten kann - von sich aus sagt, dann liegt darin
auch schon die Rechtfertigung für den Kritiker. Ein Kritiker lässt sich
folglich als jemand definieren, der immer noch etwas zu sagen hat,
auch wenn schon alles gesagt ist; er kann über das Werk noch etwas
anderes sagen als dieses Werk selbst.
Man hat also das Recht, sich zu fragen, ob der Künstler wahrhaft
versteht und spricht. In einem Vorwort oder einem Manifest - sicher
lich; aber er ist dann selbst schon ein Teil des Publikums. Wenn die
Kunst ursprünglich weder Sprache noch Erkenntnis wäre - wenn sie
sich dadurch also außerhalb des »In-der-Welt-seins« und seiner Be
zogenheit auf die Wahrheit situieren würde -, dann wäre die Kritik
bereits rehabihtiert. Sie würde die Intervention des Verstandes mar
kieren, die notwendig wäre, um die Kunst in ihrer Unmenschlichkeit
und Verkehrung in das menschliche Leben und den menschlichen
Geist zu integrieren .
Vielleicht kann ja die Tendenz, das Phänomen der Ästhetik an
hand literarischer Werke zu erfassen - also da, wo das Material des
Künstlers aus Worten besteht- das zeitgenössische Dogma erklären,
dass die Kunst zur Erkenntnis führe. Nicht immer macht man sich
dabei die Transformation klar, welche das Wort durch die Literatur
erfährt. Die Kunst als Wort, die Kunst als Erkenntnis führt zur Frage
nach der engagierten Kunst, die sich mit der nach einer engagierten
Literatur vermischt. Unterschätzt wird dabei der Aspekt der Voll
endung, das unauslöschliche Siegel der künstlerischen Produktion,
durch das ein Werk wesenhaft ungebunden bleibt; der höchste Au
genblick, in dem der letzte Pinselstrich gezogen wird, in dem es kein
106
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
Wort mehr hinzuzufügen noch aus dem Text zu streichen gilt und
durch den jedes Werk ein klassisches ist. Eine Form der Vollendung,
die sich von der schlichten Unterbrechung unterscheidet, die der
Sprache sowie den Werken der Natur und der Industrie ihre Grenzen
setzt. Es wäre ferner zu fragen, ob man nicht auch dem handwerklich
hergestellten Werk ein künstlerisches Element zusprechen müsste, ja
jedem menschlichen Werk, sei es im Bereich des Kommerzes oder der
Diplomatie, sofern es nicht nur mit seinem vorgegebenen Zweck in
Einklang steht, sondern Zeugnis ablegt für die Einheit mit einer wie
auch immer gearteten Bestimmung, die außerhalb des bloßen Laufs
der Dinge liegt und die es jenseits der Welt verortet, wie die für
immer vollendete Vergangenheit der Ruinen, wie die Fremdheit des
Exotischen, die nie zu begreifen ist. Der Künstler schließt sein Werk
ab, weil dieses sich weigert, noch mehr in sich aufzunehmen, weil es
gesättigt erscheint. Das Werk gelangt zur Vollendung trotz der ge
sellschaftlichen oder materiellen Ursachen seiner Unterbrechung. Es
gibt sich nicht dafür her, einen Dialog zu eröffnen.
Diese Vollendung rechtfertigt aber nicht notwendigerweise die
akademische Ästhetik des l'art pour l'art. Ein Ausdruck, der schon
deshalb falsch ist, weil er die Kunst über die Realität stellt und keinen
Herrn über ihr anerkennt. Und ein Ausdruck, der zugleich auch un
moralisch ist, weil er den Künstler von seinen Pflichten als Mensch
entbindet und ihm eine Würde verleiht, die nur eingebildet und äu
ßerlich ist. Kein Werk wäre ein Kunstwerk, wenn es nicht durch diese
formale Struktur der Vollendung ausgezeichnet und dadurch nicht
zumindest auch u.ngebunden wäre. Nur muss man sich über den
Wert dieser Ungebundenheit verständigen und vor allem darüber,
was sie bedeutet. Heißt sich aus der Welt herauszulösen tatsächlich
immer auf ein jenseits zuzttgehen, in Richtung der Region plato
nischer Ideen und des Ewigen, die die Welt beherrschen ? Kann man
nicht auch von einer Herauslösung in Richtung auf ein Diesseits
sprechen? Von einer Unterbrechung der Zeit in einer Bewegung, die
ins Diesseits der Zeit verläuft, in ihre »Zwischenräume« ?
Sich auf ein Jenseits hinzubewegen bedeutet, sich mit den Ideen
in Verbindung zu setzen, bedeutet also zu verstehen. Besteht die
Funktion der Kunst aber nicht gerade darin, nicht zu verstehen? Liegt
nicht gerade in der Dunkelheit ihr eigentliches Element, ihre Voll
endung sui generis, die der Dialektik und dem Leben der Ideen ge
genüber fremd ist ? - Wird man folglich also sagen können, dass der
Künstler eben die Dunkelheit des Wirklichen kennt und zum Aus-
107
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
druck bringt? Damit ist aber schon eine viel grundsätzlichere Frage
aufgeworfen, der sich auch die hier dargelegten Überlegungen zur
Kunst unterordnen müssen: Worin besteht die Nicht-Wahrheit des
Seins? Bestimmt sich diese immer nur in ihrem Bezug auf die Wahr
heit, sozusagen wie ein ausstehender Rest, den es noch zu verstehen
gilt? Werden im Umgang mit dem Dunklen als einem völlig unab
hängigen ontologischen Ereignis nicht Kategorien umschrieben, die
sich auf jene der Erkenntnis gar nicht reduzieren lassen? Dieses Er
eignis in der Kunst möchten wir aufzeigen. Die Kunst erkennt nicht
einen bestimmten Typ von Wirklichkeit, sie hebt sich vielmehr
scharf von der Erkenntnis ab. Sie ist das Ereignis der Verdunkelung
selbst, ein Einbruch der Nacht, eine Ausbreitung der Schatten. Die
Kunst gehört nicht in die Ordnung der Offenbarung, um dies in der
Sprache der Theologie auszudrücken, die es erlaubt, eine - wenn
auch nur ungefähre - Grenze zu ziehen zwischen den Ideen und den
gewöhnlichen Begriffen. Und sie gehört übrigens auch nicht in die
Ordnung der Schöpfung, deren Bewegung genau in eine entgegen
gesetzte Richtung verläuft.
108
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
Ursprung hat, sondern vielmehr auf etwas, das uns beherrscht: eine
tiefe Passivität. Man sagt, der inspirierte und von seiner Kunst be
sessene Künstler lausche einer Muse. Das Bild ist musikalisch. Eine
Passivität, die unmittelbar in der Magie, im Gesang, der Musik und
der Dichtung sichtbar wird. Die außergewöhnliche Struktur der äs
thetischen Existenz bringt diesen eigenartigen Ausdruck der Magie
ins Spiel, der es uns erlauben wird, den etwas abgenutzten Begriff der
Passivität zu präzisieren und zu konkretisieren.
Die Idee des Rhythmus, welche in der Kunstkritik so häufig be
schworen wird, gibt, auch wenn sie nur vage bleibt und in ihrer sug
gestiven Kraft für alles Mögliche tauglich Zl-1 sein scheint, einen Hin
weis auf die Art und Weise, wie uns die Ordnung des Poetischen
selbst - und nicht etwa ein inneres Gesetz dieser Ordnung- affiziert.
Aus der Wirklichkeit lösen sich geschlossene Einheiten heraus, deren
Elemente wechselseitig aufeinander verweisen wie die Silben eines
Verses. Aber sie verweisen nur deshalb aufeinander, weil sie uns zu
gleich in ihren Bann ziehen. Aber sie ziehen uns in ihren Bann, ohne
dass wir sie uns zu Eigen machen würden. Oder vielmehr, unsere
Zustimmung zu ihnen verkehrt sich in eine Partizipation. Ob sie in
uns oder wir in sie eintauchen, spielt keine Rolle. Der Rhythmus
stellt die einzigartige Situation dar, in der wir nicht von Bejahung,
Zustimmung, Initiative oder Freiheit sprechen können - weil das
Subjekt in ihm ergriffen und fortgetragen wird. Das Subjekt ist hier
Teil seiner eigenen Repräsentation. Und nicht einmal gegen seinen
Willen, da es im Rhythmus kein Selbst mehr gibt, sondern eher so
etwas wie einen Obergang vom Selbst in die Anonymität. Genau
darin liegen der Zauber und die Verlockung von Dichtung und Mu
sik. Sie bringen einen Seinsmodus zum Ausdruck, auf den sich weder
die Form des Bewussten - weil das Ich hier auf sein Vorrecht des
Auf-sich-Nehmens und auf sein Können verzichtet - noch die Form
des Unbewussten - weil hier die ganze Situation und all ihre Erschei
nungsweisen in einer dunklen Klarheit gegenwärtig sind - anwenden
lässt. Ein Wachtraum. In dieser Klarheit finden weder Gewohnheit
noch Reflex noch Instinkt einen Platz. Der besondere Automatismus
des Schritts oder des Tanzes zum Klang der Musik ist ein Seins
modus, in dem nichts unbewusst geschieht, sondern in dem das Be
wusstsein, in seiner Freiheit gelähmt, spielt und ganz in dieses Spiel
versunken ist.
Der Musik wirklich zuzuhören hindert einen gewissermaßen
daran, zu tanzen und sich zu bewegen. Die Bewegung und die Gestik
109
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
spielen hier keine große Rolle. Hinsichtlich des Bildes wäre es daher
angemessene� eher von einem Interesse als von Interesselosigkeit zu
sprechen. Das Bild ist interessant nicht unter dem Gesichtspunkt der
Nützlichkeit, sondern weil es »mitreißend« ist. Interessant also in
einem etymologischen Sinne: mitten unter den Dingen sein, die doch
eigentlich nur den Rang von Objekten haben sollten. Dieses »Mitten
unter den Dingen«, das von Heideggers »ln-der-Welt-sein« zu unter
scheiden ist, liegt dem Pathos der imaginären Welt des Traumes zu
grunde: Das Subjekt ist mitten unter den Dingen, und zwar nicht nur
aufgrund seiner Seinsdichte, die ein »Hier« und »Irgendwo« verlangt
und seine Freiheit bewahrt; es ist als Ding mitten unter den Dingen
und nimmt gleichsam teil an dem Schauspiel, das außerhalb von ihm
stattfindet; dieses Außen aber ist nicht das Außen eines Körpers,
denn der Schmerz des handelnden Ich wird j a gerade von dem zu
schauenden Ich empfunden, und zwar nicht in einer Art Mitgefühl.
In Wahrheit also ein Außen des Innersten. Es ist erstaunlich, dass die
phänomenologische Analyse nie versucht hat, sich dieses grund
legenden Paradoxes des Rhythmus und des Traumes, das einen Be
reich außerhalb des Bewussten und des Unbewussten beschreibt, an- ,
zunehmen, wohingegen die Ethnographie die Bedeutung aufgezeigt
hat, die diese Phänomene in allen ekstatischen Riten spielen. Er
staunlich ist auch, dass man bei den Metaphern »ideo-motorischer«
Phänomene und den Untersuchungen über die Verlängerung von
Empfindungen in Handlungen stehen geblieben ist. Wir haben nun
gerade diese Umkehrung des Könnens in Partizipation im Blick,
wenn wir hier die Begriffe des Rhythmus und des Musikalischen ver
wenden.
Diese müssen folglich aus dem Bereich der Tonkünste, in dem
sie ausschließlich Beachtung finden, herausgelöst und auf eine all
gemeine ästhetische Kategorie zurückgeführt werden. Zweifellos
hat der Rhythmus seinen bevorzugten Ort in der Musik, denn in
diesem Element des Musikers findet eine Entbegrifflichung der
Wirklichkeit statt, und zwar in Reingestalt. Der Ton ist diejenige
Qualität, die vom Gegenstand am weitesten abgelöst ist. Die Verbin
dung mit der Substanz, aus der er hervorgeht, hinterlässt keine Spu
ren in seiner Qualität. Sein Klang ist unpersönlich. Selbst seine
Klangfarbe, die ein Verweis darauf ist, dass er zu einem Gegenstand
gehört, geht in seiner Qualität unter und behält nichts aus dieser
Beziehungsstruktur zurück. Und selbst wenn wir aufmerksam zuhö
ren, erfassen wir nicht ein »Etwas«, sondern bleiben ohne Begriff:
110
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
Die Musikalität bezieht sich von Natur aus auf den Ton. Und tatsäch
lich ist unter all den Klassen von Bildern, die die traditionelle Psycho
logie unterscheidet, das Lautbild dasjenige, welches aufs Engste mit
dem realen Ton verknüpft ist. Die Musikalität eines jeden Bildes he
rauszustellen heißt nichts anderes, als im Bild seine Ablösung vom
Gegenstand zu erkennen, seine Unabhängigkeit von der Kategorie
der Substanz, die die Analysen unserer Lehrbücher der reinen Emp
findung, d. h. der noch nicht in Wahrnehmung verwandelten Emp
findung zuschreiben - also der adjektivischen Empfindung- und die
für die empirische Psychologie ein Grenzfall bleibt, ein bloß hypo
thetisch Gegebenes.
Es ist, als ob die Empfindung, diese von allen so sehr gepriesene
Empfindung, die vom Begriff noch völlig unberührt und der Innen
schau gänzlich entzogen ist, durch das Bild ans Tageslicht kommen
könnte. Die Empfindung ist nicht das, was auf dem Grunde der Wahr
nehmung liegt, sondern sie hat eine eigene Funktion: Macht, die vom
Bild ausgeht - eine Funktion des Rhythmus. Das ln-der-Welt-sein, '
wie man heute sagt, ist eine Existenz, die sich an Begriffen orientiert.
Die Sensibilität tritt ihr gegenüber als ein ontologisches Ereignis ei
gener Art in Erscheinung, findet aber ihre höchste Ausprägung nur
mit Hilfe der Einbildungskraft.
Wenn Kunst bedeutet, das Bild an die Stelle des Seins zu setzen,
dann liegt das Grundelement der Ästhetik, entsprechend ihrer Ety
mologie, in der Empfindung. Das Ganze unserer Welt in all ihren
Gegebenheiten - seien diese elementar da oder auf höchst geistige
Weise bearbeitet - kann uns musikalisch anrühren, zu einem Bild
werden. Daher ist auch die klassische Kunst, die dem Gegenstand
verhaftet ist, d. h. all die Gemälde und Skulpturen, die etwas ver
gegenwärtigen, und all die Gedichte, die die Syntax und die Zeichen
setzung noch anerkennen, nicht weniger am wahren Wesen der
Kunst ausgerichtet als die modernen Kunstwerke, die von sich be
haupten, reine Musik, reine Malerei oder reine Poesie zu sein, und
so tun, als verscheuchten sie die Gegenstände aus der Welt der Töne,
Farben und Wörter, in die sie uns einführen wollen; sie wollen uns
glauben machen, sie brächen mit der Repräsentation. Der vorgestell
te Gegenstand verwandelt sich aufgrund der bloßen Tatsache, dass er
zu einem Bild wird, in einen Nicht-Gegenstand; das Bild als solches
findet Eingang in ursprüngliche Kategorien, die wir hier herausstel
len möchten. Die Entleiblichung der Realität durch das Bild ent
spricht nicht einer bloßen Abwertung dem Grade nach. Sie rührt
111
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
her aus einem ontologischen Bereich, der sich nicht zwischen uns und
einer Wirklichkeit, die es zu erfassen gilt, erstreckt, sondern dort, wo
der Umgang mit der Wirklichkeit ein Rhythmus ist.
112
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
sie ist; dennoch kann sie die Gegenstände, die sie festhält, nicht ver
gessen machen, schlucken oder völlig verdecken, und auch nicht die
Art und Weise, wie sie sie festhält, ihre Gesten, ihre Gliedmaßen,
ihren Blick, ihre Gedanken, ihre Haut, die unter der Identität ihrer
Substanz entweichen und die diese, wie ein löchriger Sack, auch nicht
zurückhalten kann. Und so kommt es, dass dem Gesicht dieser Person
neben dem Sein, mit dem sie zusammenfällt, zugleich auch die eige
ne Karikatur, das eigene pittoreske Abbild eingeschrieben ist. Das
Pittoreske hat immer auch etwas von einer Karikatur. Oder nehmen
wir ein alltägliches uns ganz vertrautes Ding, das schon eins gewor
,
den ist mit der Hand, die sich an es gewöhnt hat-, dennoch aber
bleiben seine Eigenschaften, seine Farbe, seine Form und seine Lage
zugleich gewissermaßen hinter seinem Sein zurück, wie die »ausran
gierten Kleider« einer Seele, die sich bereits aus diesem Ding zurück
gezogen hat, wie in einem »Stillleben«. Und dennoch ist das alles die
Person, das Ding. Es gibt also in dieser Person, in diesem Ding eine
Dualität - eine Dualität, die in seinem Sein liegt. Es ist das, was es ist,
und zugleich sich selbst gegenüber fremd, und zwischen diesen bei
den Momenten gibt es eine B eziehung. Wir können also sagen, dass
das Ding zugleich es selbst und sein Bild ist. Und dass diese Bezie
hung zwischen dem Ding und seinem Bild die Ähnlichkeit ist.
Die Situation gleicht derjenigen in einer Fabel. Das Spezifische
einer Fabel liegt nämlich gerade darin, dass die Menschen, die in
Gestalt von Tieren dargestellt werden, nicht nur durch diese Tiere,
sondern vielmehr wie diese Tiere wahrgenommen werden; denn die
Tiere bringen den Gedanken zum Stehen und füllen ihn aus. Darin
liegt die ganze Macht der Allegorie, ihre ganze Originalität. Die Al
legorie ist nicht nur ein bloßes Hilfsmittel des Denkens oder eine Art
und Weise, den abstrakten Begriff für kindliche Gemüter konkret
und verständlich zu machen; sie ist kein Symbol für etwas Mangel
haftes. Sie steht vielmehr für einen mehrdeutigen Umgang mit der
Wirklichkeit, in welchem sich diese nicht auf sich selbst, sondern auf
ihren eigenen Widerschein, ihren eigenen Schatten bezieht. Die Al
legorie repräsentiert folglich das, was im Gegenstand selbst diesen
zugleich verdoppelt. Das Bild, so kann man sagen, ist die Allegorie
des Seins.
Das Sein ist dl.as, was es ist, das, was sich in seiner Wahrheit
offenbart, und zugleich ist es sich ähnlich, ist es sein eigenes Bild.
Das Original gibt sich in ihm, als ob es in einer Distanz zu sich selbst
wäre, als ob es sich zurückziehen würde, als ob etwas im Sein im
113
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
Verzug zum Sein wäre. Das Bewusstsein der Abwesenheit des Ge
genstandes, das für das Bild charakteristisch ist, kommt nicht einer
bloßen Neutralisierung der Thesis gleich, wie Husserl meint, son
dern vielmehr einer Veränderung des Seins selbst des Gegenstandes,
eine Veränderung von der Art, dass dessen Wesensformen plötzlich
wie eine lächerliche Staffage wirken, die es ablegt, indem es sich zu
rückzieht. Ein Bild betrachten heißt ein Gemälde betrachten. Man
muss das Bild ausgehend von der Phänomenologie des Gemäldes ver
stehen, und nicht umgekehrt.
Das Gemälde hat, in der E rscheinung des repräsentierten Ge
genstandes eine eigene Dichte: Es selbst ist Gegenstand des Blicks.
,
114
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
keit mit dem Original vom Zeichen oder Symbol unterscheidet: Die
Neutralisierung jeder Position im Bild ist ja gerade diese Ähnlichkeit.
Die Transdeszendenz, von der Jean Wahl spricht - losgelöst von
der ethischen Bedeutung, die er ihr verleiht, tmd in einem streng
ontologischen Sinne genommen -, vermag dieses Phänomen der He
rabsetzung ttnd Erosion des Absoluten, das uns im Bild und in der
Ähnlichkeit deutlich geworden ist, näher zu charakterisieren.
115
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
Die Zwischenzeit
Zu behaupten, das Bild sei nur ein Schatten des Seins, wäre selbst nur
eine Metapher, würde man nicht zeigen, wo dieses Diesseits, von dem
wir sprechen, anzusiedeln ist. Hier von Trägheit oder Tod zu spre
chen, würde uns kaum weiterbringen, denn man müsste zunächst
etwas über die ontologische Bedeutung der Materialität selbst sagen.
Wir haben das Bild als Karikatur, Allegorie und pittoreskes Ab
bild betrachtet, das dem Gesicht der Wirklichkeit selbst eingezeichnet
ist. Giraudoux' ganzes Werk bringt dieses ständi ge ins-Bild-setzen
der Wirklichkeit mit einer Folgerichtigkeit zur Vollendung, die, trotz
des Ruhms, der i hm zuteil wurde, nie richtig wertgeschätzt wurde.
Bislang schien unsere Auffassung vom Bild darauf zu gründen, dass
es einen Riss gibt im Sein, d. h. zwischen ihm und seinem Wesen, der
dort eigentlich nicht hingehört, es entstellt und verfälscht. Und ge
nau dies erlaubte uns, dem Phänomen, das uns hier beschäftigt, etwas
näher zu kommen. Die so genannte klassis che Kunst - die Kunst der
Antike und ihrer Nachahmer, die Kunst der idealen Formen - kor
rigiert die Karikatur des Seins: die platte Nase oder die Geste, der es
an Geschmeidigkeit fehlt. Die Schönheit- das ist das Sein, das seine
kleine Teil der Dauer- als ein Aufblitzen -, sondern er hat, auf seine
116
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
Art, eine quasi ewige Dauer. Wir denken dabei nicht nur an die Dauer
des Werks selbst als Gegenstand, an die Haltbarkeit von Schriften in
Bibliotheken oder von Statuen in Museen. Im Inneren des Lebens
oder vielmehr des Todes einer Statue dauert der Augenblick unend
lich: Ewig verharrt Laokoon im Würgegriff der Schlangen, ewig lä
chelt die Mona Lisa. Ewig wird die Zukunft, die sich in den gespann
ten Muskeln Laokoons ankündigt, nicht Gegenwart werden. Ewig
wird das aufgehende Lächeln der Mona Lisa nicht zu einem wirk
lichen Lächeln aufblühen. Eine ewig in der Schwebe bleibende Zu
kunft umspielt die erstarrte Position der Statue wie eine Zukunft, die
für immer Zukunft bleiben wird. Die unmittelbar bevorstehende Zu
kunft dauert vor einem Augenblick, der um das gebracht ist, was die
Gegenwart in ihrem Wesen bestimmt, nämlich ihre Flüchtigkeit. Er
wird niemals seine Gegenwartsaufgabe erfüllt haben, so als ob sich
die Wirklichkeit aus ihrer eigenen Wirklichkeit zurückziehen würde
und als ob sie sie machtlos zurückließe. Eine Situation, in der die
Gegenwart nichts übernehmen kann, nichts auf sich nehmen kann
und deshalb ein unpersönlicher und anonymer Augenblick.
Die Unerbittlichkeit des unbeweglichen Augenblicks der Statue
resultiert aus seiner Nicht-Indifferenz gegenüber der Dauer. Er geht
nicht aus der Ewigkeit hervor. Es ist aber auch nicht so, als ob der
Künstler ihn nicht hätte zum Leben erwecken können. Nur über
schreitet das Leben des Kunstwerks eben nicht die Grenzen des Au
genblicks. Das Werk gelingt nicht - ist einfach schlecht -, wenn es
nicht dieses Verlangen nach Leben hat, das schon Pygmalion umge
trieben hatte. Aber es ist eben nur ein Verlangen. Der Künstler hat
der Statue ein Leben ohne Leben gegeben, ein lächerliches Leben, das
nicht Herr seiner selbst ist, eine Karikatur des Lebens. Eine Gegen
wart, die nicht mit sich selbst zur Deckung kommt und an allen Ecken
aus den Fugen läuft, die nicht die Fäden der Marionette in der Hand
hält, die sie selbst ist. Man mag hier durchaus an das Marionetten
hafte in den Figuren der Tragödien an der Comedie-Fran�aisc denken
und lachen. Jedes Bild ist schon eine Karikatur. - Aber diese Karika
tur schlägt ins Tragische um. Derselbe Mensch ist zweifellos ein ko
mischer und tragischer Dichter zugleich; eine Ambiguität, die die
besondere Magie von Dichtem wie Gogol, Dickens, Tschechow oder
von Moliere, von Cervantes und vor allem von Shakespeare aus
macht.
Diese Gegenwart, die keinen Einfluss auf die Zukunft zu neh
men vermag, ist das eigentliche Schicksal, ein Schicksal, das nicht
117
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
mehr dem Willen der heidnischen Götter unterliegt und stärker ist
als die mit der Vernunft erklärbare Notwendigkeit der Naturgesetze.
Das Schicksal läuft nicht auf die universale Notwendigkeit hinaus.
Notwendigkeit in einem freien Wesen, Umkehrung der Freiheit in
Notwendigkeit, ihre Gleichzeitigkeit, eine Freiheit, die sich als Ge
fangene entdeckt . . . nein, das Schicksal findet im Leben keinen Platz.
Der Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit im menschlichen
Handeln erscheint in der Reflexion: Wenn die Handlung in die Ver
gangenheit versinkt, entdeckt der Mensch die Motive, die zu ihr ge
führt haben. Doch eine Antinomie ist keine Tragödie. Im Augenblick
der Statue, ihrer ewig ausgesetzten Zukunft, kann das Tragische - die
Gleichzeitigkeit von Freiheit und Notwendigkeit - sich vollenden:
Die Macht der Freiheit erstarrt in Ohnmacht. Und auch hier drängt
sich die Nähe von Kunst und Traum auf: Der Augenblick der Statue
ist der Alptraum. Nicht dass der Künstler Seiendes repräsentieren
würde, das vorn Schicksal niedergedrückt ist; im Gegenteil, das Sei
ende tritt gerade deshalb in sein Schicksal ein, weil es repräsentiert
wird. Es schließt sich in sein Schicksal ein; aber das Kunstwerk ist
genau das, ein Ereignis der Seinsverdunkelung, das mit seiner Offen
barung, seiner Wahrheit einhergeht. Nicht dass das Kunstwerk einen
Stillstand der Zeit reproduzieren würde, nein, die Kunst bedeutet
innerhalb der allgemeinen Ökonomie des Seins vielmehr ein Verfal
len ins Diesseits der Zeit, in das Schicksal. Der Roman ist nicht, wie
Pouillon glaubt, der Stoff, der die Zeit wieder aufleben lässt. Er hat
vielmehr seine eigene Zeit; er bietet der Zeit eine einzigartige Form,
sich selbst zu zeitigen.
Daher versteht man auch, dass die Zeit, die offenbar in den
Künsten, die nicht zur plastischen Kunst gehören - der Musik, der
Literatur, dem Theater und dem Film -, Eingang in das Bild findet, ·
dessen Starrheit nicht auflösen kann. Dass die Figuren eines Buches
zur unendlichen Wiederholung derselben Handlungen und der im
mer gleichen Gedanken verurteilt sind, hängt nicht bloß an der zufäl
ligen Tatsache der Erzählung, die diesen Figuren äußerlich ist. Von
ihnen kann vielmehr gerade deshalb erzählt werden, weil ihr Sein
sich ähnelt, sich verdoppelt und sich nicht mehr bewegt. Eine Starr
heit, die gleichwohl ganz anders ist als die des Begriffs, der das Leben
a n seinen Haken nimmt, die Wirklichkeit unserem Vermögen zur
Wahrheit anbietet, eine Dialektik eröffnet. Das Sein hingegen, das
sich in der Erzählung widerspiegelt, nimmt eine Starrheit an, die
nicht dialektisch ist; es hält die Dialektik und die Zeit an.
118
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
fahle Licht der Londoner Amtsstuben mit ihren Schreibern, die Lä-
119
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
den der Antiquare und Krämer, ja selbst die Gestalten eines Nickleby
und eines Scrooge erscheinen nur in einer Außenansicht, die zur Me
thode geworden ist. Und es gibt hier keine andere. Selbst der Roman
cier in seiner Funktion als Psychologe betrachtet sein eigenes Innen
leben von außen, nicht unbedingt mit den Augen eines anderen, aber
doch so, als sei man von einem Rhythmus getrieben oder als befände
man sich in einem Traum. Die große Wirkung des zeitgenössischen
Romans, die Faszination, die von ihm als Kunst ausgeht, rührt viel
leicht gerade von der Art her, wie er das Innen von außen betrachtet,
eine An, die aber nichts mit der behavioristischen Methode zu tun
hat.
Seit Bergson sind wir gewohnt, die Kontinuität der Zeit als das
eigentliche Wesen der Dauer zu betrachten. Die cartesianische Lehre
von der Diskontinuität der Dauer wird höchstens noch als Illusion ·
über eine Zeit verstanden, die anhand der Spu.t; die sie im Raum hin
terlässt, begriffen wird, was zu falschen Fragestellungen bei denjeni
gen führt, die nicht in der Lage sind, die Dauer als solche zu denken.
Eine Metapher wie die vom Schnitt in die Dauer - eine übrigens
äußerst räumliche Metapher -, eine photographische Metapher über
die Momentaufnahme einer Bewegung, wird heute als Selbstver
ständlichkeit akzeptiert.
Wir haben uns im Gegensatz dazu für das Paradox selbst inte
ressiert, dass der Augenblick zum Stillstand kommen kann. Die Tat
sache, dass die Menschheit für sich eine Kunst hervorbringen konnte,
offenbart in der Zeit die Ungewissheit über das eigene Fortbestehen
und, so wie der Tod bereits den Lebensdrang als ständiger Schatten
begleitet, die Erstarrung des Augenbicksl inmitten der Dauer - die
Strafe der Niobe -, die Unsicherheit des Seins, welches das Schicksal
vorausahnt, die fixe Idee, von der die künstlerische Welt, die heid
nische Welt besessen ist. Zenon, grausamer Zenon . . . Dieser Pfeil . . .
Damit verlassen wir nun die spezifische Problematik der Kunst.
Diese Ahnung des Schicksals im Tod aber bleibt bestehen, und auch
das Heidentum. Sicher, es genügt, sich selbst eine Dauer zu verlei
hen, die so beschaffen ist, dass sie dem Tod die Macht nimmt, sie zu
unterbrechen. Er ist dann überwunden. Ihn innerhalb der Zeit zu
verorten, heißt bereits, ihn zu überwinden und sich auf der anderen
Seite des Abgrunds zu befinden, ihn hinter sich zu haben. Der Tod als
Nichts (frz. la mort-neant) ist der Tod des Anderen, der Tod für den
Überlebenden. Die Zeit des »Sterbens« selbst kann sich kein anderes
Ufer in Aussicht stellen. Was diesen Augenblick so einmalig und un-
120
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
Die Kunst gibt also ihre Beute für einen Schatten frei.
Doch indem sie den Tod eines jeden Augenblicks in das Sein
einführt, bringt sie seine ewige Dauer in der Zwischenzeit zur Voll
endung :. seine Einzigartigkeit, seinen Wert. Ein zweideutiger Wert:
einzigartig, weil es über ihn kein Hinauskommen gibt, weil er, unfä
hig, ein Ende zu finden, nicht zum Besseren führen kann. Er hat nicht
die Qualität eines lebendigen Augenblicks, dem im Werden die Ret
ttmg in Aussicht steht, in dem er enden und sich überschreiten kann.
Der Wert dieses Augenblicks geht folglich aus seinem Unglück her-
121
Die Wirklichkeit 'Und ihr Schatten
vor. Dieser traurige Wert ist zweifellos das Schöne moderner Kunst,
im Gegensatz zu der strahlenden Schönheit klassischer Kunst.
Auf der anderen Seite und weil sie ihrem Wesen nach ungebun
den ist, eröffnet die Kunst einen Fluchtweg - aus einer Welt, in der es
Initiative und Verantwortung gibt.
Und damit sind wir auch schon bei der ganz alltäglichen und
banalen Erfahrung des ästhetischen Genusses. In ihr liegt einer der
Gründe, die den Wert der Kunst zum Vorschein bringen. Kunst
bringt die Dunkelheit des Fatums in dje Welt, aber vor allem die
Unverantwortlichkeit, die einen umschmeichelt wie die Anmut und
die Leichtigkeit. Sie befreit. Wenn man einen Roman schreibt oder
genießt und ein Gemälde malt oder Gefallen an ihm findet - dann
geht es da nicht mehr um ein Begreifen, dann soll man auf die An
strengung der Wissenschaft, der Philosophie und des Handeins ver
zichten. Sprechen Sie nicht! Grübeln Sie nicht! Bewundern Sie still
und in aller Ruhe ! - S o lauten die Ratschläge einer Weisheit, die sich
mit dem Schönen zufrieden gibt. Wo immer sie in Erscheinung tritt,
wird die Magie als des Teufels betrachtet, innerhalb der Dichtung
aber stößt sie auf eine Toleranz, die unbegreiflich ist. Man rächt sich
an der Schlechtigkeit, indem man eine Karikatur von ihr anfertigt,
die sie zwar ihrer Wirklichkeit beraubt, sie aber nicht zerstört; man
beschwört die bösen Mächte, indem man die Welt mit Idolen über
schwemmt, die zwar einen Mund haben, aber nicht mehr sprechen.
Als ob das Lächerliche etwas aus der Welt schaffen würde, als ob
durch Lieder alles wirklich zu einem Ende kommen würde. Es ist
beruhigend, wenn man Erleichterung verspürt, wenn man sich, jen
seits der Aufforderung, zu begreifen und zu handeln, dem Rhythmus
einer Wirklichkeit hingibt, die sich nur danach drängt, Eingang in ein
Buch oder ein Gemälde zu finden. Der Mythos tritt an die Stelle des
Geheimnisses. Die Welt, die vollendet werden will, wird durch die
eigentliche Vollendung ihres Schattens ersetzt. Und damit meinen
wir rucht dje Interesselosigkeit der reinen Betrachtung, sondern die
Verantwortungslosigkeit. Es ist der Dichter selbst, der sich aus der
Stadt verbannt. So betrachtet ist also der Wert des Schönen relativ.
Es gibt etwas am künstlerischen Genuss, das schäbig, egoistisch und
auch feige ist. Es gibt Zeiten, in denen man sich dafür schämen kann,
gleich als würde man inmitten der grassierenden Pest ein großes Ge
lage veranstalten.
Die Kunst ist also nicht aus sich selbst schon eine engagierte.
Und dies ist auch der Grund, warum sie nicht den höchsten Wert
122
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
123
Die Wirklichkeit und ihr Schatten
Aber wenn sie sich, aufgrund ihrer Wahl, diesseits einer Welt auf
hält, die in der Kunst starr geworden ist, so wird sie diese Welt doch
wieder in die intelligible Welt einbringen, in der sie selbst zu Hause
ist und welche die wahre Heimat des Geistes ist. Mag ein Schrift
steUer noch so geistreich sein, er befindet sich in einer Welt, die ver
zaubert ist durch ihre Bilder. Er spricht, als ob er sich in einer Schat
tenwelt bewegte - in Rätseln, in Andeutungen, in Anspielungen,
mehrdeutig -, als ob es ihm an Kraft fehlte, die Realitäten aufzude
cken, als ob e r nicht bis zu ihnen vordringen könnte, ohne zu tau
meln, als ob er, kraftlos und unbeholfen, sich stets zu viel zugemutet
hätte, als ob er die Hälfte des Wassers, das er uns bringt, verschüttet
hätte. Mag e r noch so klug und noch so scharfsinnig sein, er macht
sich doch zum Narren. Die Kritik als Interpretation dagegen spricht
im Vollbesitz ihrer Kräfte, geradeheraus, durch den Begriff, der ge
wissermaßen der Muskel des Geistes ist.
Die moderne Literatur, die übrigens bis auf Shakespeare, auf den
Moliere des Don ]uan, auf Goethe und Dostojewski zurückgeht - und
die wegen ihres Intellektualismus in Verruf geraten ist - zeugt zwei
fellos von einem immer klareren Bewusstsein dieses tiefen Ungenü
gens der künstlerischen Idolatrie. Dieser Intellektualismus ist aber
genau der Grund dafür, weshalb der Künstler sich weigert, nur
Künstler zu sein: nicht weil er eine These oder eine Sache verteidigen
will, sondern weil er sich selbst seine eigenen Mythen erklären muss.
Vielleicht haben ja die Zweifel, die der vermeintliche Tod Gottes seit
der Renaissance in den Seelen der Menschen ausgelöst hat, in den
Augen des Künstlers auch die Realität der Modelle, die I)Unmehr
haltlos geworden sind, fragwürdig werden lassen und ihm die Last
aufgebürdet, sie im eigenen Schaffen wiederzufinden, und haben
ihn insofern auch an seine Mission als Schöpfer und Offenbarer glau
ben lassen. Die Aufgabe der Kritik bleibt grundlegend, auch wenn
Gott nicht tot, sondern nur im Exil wäre. Doch können wir an dieser
Stelle die »Logik« einer solchen philosophischen Auslegung der
Kunst nicht mehr erörtern. Dies würde eine Ausweitung der Per
spektive - die hier bewusst eingeschränkt blieb - dieser Unter
suchung erforderlich machen. Es ginge in der Tat darum, die Perspek
tive der Beziehung zum Anderen ins Spiel zu bringen, ohne die das
Sein in seiner Wirklichkeit, d. h. in seiner Zeit, gar nicht ausgesagt
werden kann.
124
VIII
Von Sartre stammt der Gedanke, dass die Freiheit des Menschen in
allem, was sich ihm an Zwängen auferlegt, zurückgewonnen werden
kann, und das war wie eine Botschaft der Hoffnung für eine ganze
Generation, die unter Schicksalsschlägen herangewachsen war, die
alle Erwartungen unseres Jahrhunderts übertrafen, und für die der
Humanismus der schönen Worte - wie sehr er auch die Menschen
rechte glorifizierte - jegliche Oberzeugungskraft verloren hatte. Eine
neue Philosophie, das heißt vor allem, dass diejenigen wieder zu
Wort kommen können, deren Stimmen im allgemeinen Wortgeklin
gel großer Projekte untergegangen waren. Dass diese Freiheit sich nie
in eine Beschwörung erloschener heidnischer Mythen verkehrte, die
mit dem Ideal eines persönlichen Heils verbunden waren, sondern
dass Sartre sie vom ersten Augenblick an als eine Sorge »um die
Anderen«, als eine Quelle der Verantwortung, die es jenem gegen
über zu übernehmen gilt, der uns ganz offensichtlich »nichts an
geht«, angesprochen hat, dies war mit Sicherheit ein Aspekt, der im
Bewusstsein der Juden eine ganz besondere Aufmerksamkeit auslös
te. Angst um eine Freiheit, die sich sofort den Anderen zuwendet,
und die nicht wie bei Heidegger, dem Philosophen vor dem Genozid,
Angst um meinen Tod ist, Angst um das, was »mein Eigenstes« ist in
der Sorge des Menschen, der ich bin, um mein Sein selbst. Für uns,
die Oberlebenden der Vernichtungslager, für uns, die wir der Univer
salgeschichte entronnen sind, für viele unter uns klang diese neue
Sprache mit einem Mal vertraut oder ganz nahe. Sie hatte einen
maßgeblichen Anteil daran, dass wir wieder den Mut fanden, zu den
alten Lehren - Lehren, die seit langem unterbrochen und allmählich
in Vergessenheit geraten waren - rund um die biblischen Schriften
und die Traktate des Talmuds zurückzukehren und, statt ihnen nur
bloße Vorschriften für die feierlichen Handlungen zu entnehmen,
darin von neuem den Ruf in eine Sendung zu den Menschen wahr-
125
Eine uns vertraute Sprache
126
Eine uns vertraute Sprache
gie geleitet ist, auch wenn sich diese als völlig undogmatisch erweist.
Ereignisse, die durch das Leid, das sich in ihnen manifestiert, Sartres
Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Die Betrachtungen zur judenfrage, die unmittelbar nach der Be
freiung erschienen sind, reduzieren den Antisemitismus auf ein Ge
fühl des Ressentiments und der Rachsucht der Mittelmäßigen und
Bornierten, die in der Gehässigkeit, Verleumdung und Verfolgung
eine Gelegenheit finden, Rache zu nehmen für ihr eigenes erbärmli
ches Los und sich damit eine künstliche und oberflächliche Überle
genheit zu verschaffen. Man sollte auch heute oder vor allem heute
die Bedeutung dieser Analyse nicht unterschätzen, ebenso wenig wie
die Entmystifizierung eines Verbrechens, das sich mit Lehrmeinun
gen schmückt, die sich als wissenschaftlich fundiert ausgeben und
Ausdruck eines Kulturphänomens sein wollen. Aber Sartre geht in
seinem Buch sogar soweit, anhand des Antisemitismus die bleibende
Differenz des Jüdischen selbst zu erklären. Der Jude hätte nämlich
allererst unter dem Blick des Antisemiten bzw. durch diesen Blick
sein starrsinniges Wesen erhalten. Sartre fragt in den Betrachtungen
zur judenfrage noch nicht, ob dieses Fortbestehen des Jüdischen nicht
auch einen eigenen und ewigen Grund hat, ob sich also in ihm nicht
ein Protest gegen eine gewisse Ordnung der Dinge ausdrückt und
folglich ein unnachgiebiger Kern bezeugt, ganz im Sinne der sprich
wörtlichen »Halsstarrigkeit«. Und, wie immer es auch um dieses
Fortbestehen einer gewissen etablierten jüdischen Gemeinschaft -
das seit Hitler immer auch als virtuell bedrohtes empfunden wird -
bestellt sein mag, Sartre fragt sich noch nicht, ob dieser hartnäckige,
aber nackte Widerstand, der Blut und Tränen kostet, nicht die
menschlichste Möglichkeit der condition humaine selbst darstellt,
eine Bedingung, die eine Nicht-Bedingung ist, auf welche die Forde
rungen - die in Wahrheit unbedingt sind - des Einen gegenüber dem
Vielen zurückgehen.
Bei allem auch öffentlich geäußerten Verständnis für den paläs
tinensischen Nationalismus und für das Leid, das mit ihm verbunden
ist - und an dessen Sache zu erinnern er gerade auch die Verleihung
der Ehrendoktorwürde durch die Universität von Jerusalem in Paris
zum Anlass nahm - hat Sartre immer und ohne Wenn und Aber arn
Existenzrecht des Staates Israel festgehalten.
Ein Mann, der die Annahme des Nobelpreises verweigert hat,
wohl weil er sich das uneingeschränkte Recht auf Meinungsäuße
rung bewahren wollte, konnte davon ausgehen, dass eine ehrenvolle
127
Eine uns vertraute Sprache
128
Eine uns vertraute Sprache
129
IX
Fühlen Sie sich, als Philosoph, ]ean-Paul Sartre nahe oder eher
nicht?
Ich fühle mich Sartre nah, weil wir zur selben Generation gehören.
Und was ich mit Sartre noch gemeinsam habe, ist, dass wir zur selben
Zeit dieselben Bücher gelesen haben. Sie wissen, dass mein Buch
über die Phänomenologie Husserls 1930 erschienen ist und dass Sar
tre es gelesen hat, wie ich aus den Memoiren von Sirnone de Beau
voir erfahren habe. Sartre schrieb in einem Artikel: »Ich bin durch
Levinas zu Husserl gekommen.« Er war ein Leser Heideggers; ich
war es auch. Sartre hat aus diesen Lektüren all die außergewöhnli
chen Perspektiven seiner großen Bücher gewonnen. Mein Weg ist ein
etwas anderer, aber ich habe immer das Gefühl gehabt, zu der Gene
ration Sartres zu gehören.
Unmittelbar nach der Befreiung was Sartres Präsenz in der Pres
se und der kulturellen Landschaft Frankreichs gewaltig.
Ich erinnere mich, dass es mich sehr beeindruckt hat, als er den
Nobelpreis ablehnte. Er schien mir damals der Mann zu sein, der
noch ein Recht auf das Wort hatte in einer Welt, in der jedes Wort
verfälscht war. Dies fiel in eine Zeit, in der Nasser seine äußerst
scharfen Reden gegen Israel hielt. Also habe ich ihm geschrieben.
Ich weiß aber nicht, ob mein Brief irgendeinen Effekt hatte.
131
Sartre entdeckt die heilige Geschichte
sieht, dass der Jude auch in vielerlei anderen Hinsichten Jude ist.
Auch wenn man in diesem Buch nicht viel über das Judentum er
fährt, so war es dennoch äußerst wichtig, denn es traf, was den Anti
semitismus angeht genau den richtigen Punkt, und zwar zu einer
,
Später gab Sartre in der Tat zu, dass es sich hier um ein Buch
gegen den Antisemitismus gehandelt habe, in dem er »eine
Passion und eine Weltanschauung« sah.
132
Sartre entdeckt die heilige Geschichte
Kürzlich erst dachte ich daran, nach der Reise von Präsident Giscard
d'Estaing an den Persischen Golf und den Erklärungen, die er dabei
abgegeben hat. Ich habe es bedauert, dass der Präsident es versäumte,
in der »heiligen Geschichte« die Rolle zu spielen, die er hätte spielen
können. Dies ist eine Dimension, die er gar nicht kennt. Es ist das
Gegenteil von dem, was mit Kyros geschehen ist.
Er ist zumindest jemand, der nicht daran glaubte, dass die Metaphy
sik schon gänzlich an ihr Ende gekommen sei.
Es gibt aber auch noch präzisere Aussagen von ihm. Er spricht
von einem Volk, dessen ganzes Leben in der Beziehung zu einem
unendlichen Gott besteht, einer ganz besonderen Beziehung. Er sagt,
dass die jüdische Geschichte aus diesem Monotheismus herrührt. Ich
glaube nicht, dass er deswegen seine generellen philosophischen Po
sitionen aufgibt, aher es zeigt sich hier doch eine Aufmerksamkeit für
die Originalität dieses jüdischen Phänomens und auch für die Not
wendigkeit, eine Sprache zu finden, die aller Wahrscheinlichkeit nach
dafür gemacht ist, diese Wirklichkeit zu erfassen - was auch immer
die Bedeutung sein mag, die man letztlich den verwendeten Begrif
fen gibt.
Ferner wird diese Beziehung zu dem unendlichen Gott aus
drückiJch als eine ethische Beziehung herausgestellt. Und die Ethik
wird als eine Existenzweise des Menschen definiert, in der der eine
für den anderen lebt. Für die anderen existieren bedeutet nicht, den
anderen zu erscheinen, sondern den anderen ausgesetzt zu sein. Dies
ist eine Position, die dem sehr nahe kommt, was auch ich über die
Ethik und die generelle Rolle dieser Kategorie des »Für-den-Ande
ren« innerhalb der Setzung des Ich oder vielmehr der Absetzung
des »Ich« denke.
Unter den zahlreichen Artikeln, die Sartre gewidmet wurden,
gab es einen, der darauf hinwies, dass Sartre vielleicht nicht ganz
einverstanden gewesen wäre mit den posthumen Würdigungen, die
ihm von allen Seiten zuteil wurden. Er mochte es, von einer Minder
heit anerkannt zu sein und von den Schwachen gebraucht zu werden,
133
Sartre entdeckt die heilige Geschichte
134
Friedliche Koexistenz
X
137
Über den Geist von Genf
auf uns zu; sie verkörpern einen Stil und bringen ihre eigene Litera
tur hervor. Unsere Schulbücher sagen uns, in welcher Weise uns
selbst die schlichtesten Erfahrungen affizieren, nämlich bereits ein
gebettet in ihrer sozialen Form, als Material für oder Fragmente von
Kulturgegenständen, schimmstenfalls
l als Trümmer menschlicher
Welten, die immer wieder an die Ufer der Geschichte zurückgewor
fen werden. Seit Hege! wissen selbst die naivsten Gemüter, dass es in
unseren Breiten nichts Natürliches mehr gibt. Alles, was uns glück
lich macht, und alles, was uns vernichtet, rührt von uns selbst, den
Menschen, her, von deren Gut- oder Böswilligkeit, die Katastrophen
auslöst, und sei es dadurch, dass man es versäumt, sie vorauszusehen.
Die Gewissheit, dass alles Unglück, das uns ereilt, von unseren
Nächsten kommt, dass es für alles eine Verantwortung gibt, das
Recht, anzuklagen oder zu verurteilen, vielleicht ist es ja gerade das,
was wir Zivilisation nennen. Eine Welt, die einen Sinn hat. Elend,
Krieg, Grubenunglücke, ja selbst Krankheiten lassen uns die Mög
lichkeit, den Machthabern Nachlässigkeit vorzuwerfen, die herr
schenden Klassen der Gier zu bezichtigen oder Fehlentwicklungen
einer vom Egoismus getriebenen Wissenschaft anzuprangern. Alle
Ereignisse auf der Erde und am Himmel werden von Kriegen und
Revolutionen flankiert.
Es stirbt der Gott des Blitzes und der Gott der Gnade. Mensch
liches Verschulden, wohin man auch schaut. Kein Ort mehr, an dem
Gott noch verehrt wird, weil überall der Mensch ist. Und gleichwohl
bricht ein anderes Gefühl des Göttlichen sich Bahn: das der Verant
wortung. Das Bewusstsein, dass alles von den Menschen abhängt, hat
nicht nur Verleumdung und Bosheit zur Folge. Der Politik den Vor
tritt gegenüber der Physik zu lassen ist eine Einladung, an einer bes
seren Welt mitzuarbeiten, an eine veränderbare und menschliche
Welt zu glauben.
Nun meldet sich plötzlich die Natur in ihrer Bedrohlichkeit zu-
138
Über den Geist von Genf
rück, und zwar auf dem Wege über die Physik selbst, die sie ein für
allemal aus der Welt vertrieben hatte. Und es ist nicht das erste Mal,
dass sie sich attf diese Weise zeigt. Immer schon gab es Momente, in
der sie mit ganzer Wucht in die zivili sierte Welt hereingebrochen ist:
ein Komet, der sich näherte, ein Vulkan, der Feuer spuckte, die Erde,
die bebte. Auf diese Weise bot sie - ungebändigt - den gesellschaftli
chen Institutionen, die zu Prinzipien erhoben wurden, und der Ge
schichte, die in den Rang einer Kosmogonie erhöht wurde, eine De
monstration ihrer Macht. Hinter allem gab es also noch etwas, mit
dem zu rechnen war. Ohne dass jemand einen ausdrücklichen Befehl
gegeben hätte - niemand war schuld-, machte sich plötzlich die Na
tur, die das Außen selbst ist, ganz sie selbst und unvorhersehbar, über
unsere Spottlust lustig und warf uns weit in eine Zeit zurück, da wir
noch in Höhlen lebten und ängstlich dem Heulen der Stürme und
wilden Tiere lauschten. Ein S chicksalsschauer ging plötzlich durch
unsere ach so menschlichen Kämpfe zwischen Religionen, Klassen
und Nationen. Aber die gesellschaftliche Wirklichkeit, die für einen
kurzen Moment einen Riss bekommen hatte, schloss sich gleich wie
der, so wie die nach einem Beben aufgesprungene Erde. Die Ret
tungsmaßnahmen führten den Vorfall schnell wieder auf das Maß
der menschlichen Konflikte zurück; die Verantwortung kehrte zu
rück an ihren Platz. Doch für einige Augenblicke - Augenblicke, in
denen eine demütigende Brüderlichkeit die Menschen mit den Tieren
verband, die schreien und die die Katastrophe wenige Momente zu
vor vorausahnen - hat es keine Politik gegeben.
Die Fortschritte der Atomwissenschaft lassen diese Momente
ewig dauern. Diesmal allerdings brechen diese unmenschlichen Kräf
te nicht plötzlich über uns herein; sie kommen nicht vom Himmel
und auch nicht aus den Tiefen der Erde. Sie kommen von den Men
schen. Sie sind zu groß für die Hände, die nach ihnen greifen, und
lassen sich auch von den Staatsmännern nicht beherrschen, die sie
gerne ins Spiel bringen würden, in der Hoffnung, sie kontrollieren
zu können. Seit 1914 haben die Kriege jedes menschliche Maß ver
loren, aber zum ersten Mal seit der vorgeschichtlichen Zeit liegt nun
über der Welt eine Bedrohung, die nicht politisch ist.
Zum ersten Mal ist es so, dass die gesellschaftlichen Probleme
und die Kämpfe zwischen Menschen keinen letzten Sinn des Wirk
lichen enthüllen. Bei diesem Ende der Welt würde das Jüngste Ge
richt fehlen . Die Elemente überfluten die Staaten, die sie bislang
noch in Zaum gehalten haben. Die Vernunft zeigt sich nicht in der
139
Über den Geist von Genf
Angst ihren Ursprung hat, wäre sie also die Offenbarung des neuen
Logos ? Der Geist von Genf hätte, wenn er keine Täus chung ist, des
sen Triumph unweigerlich zum Ausdruck bringen müssen. Und den
noch, so einfach können die Entscheidungen doch nich t sein. Darin
liegt das wirklich Neue einer Situation, in der Weisheit und Moral in
einem Gegensatz zueinander stehen. Die Kämpfe von einst erschei
nen uns nunmehr wie Streitereien unter Kindern. Aber über diese
Art von Solidarität, die zweifellos in der Physik und nicht in der
Moral gründet, freuen si ch schon die Starken und die Bösen. Sie flie
hen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs vor der Verantwortung.
Die Klarheit, mit der sie geboten ist, wird wie Opium verwendet.
Doch die Menschen finden sich nicht freudigen Herzens damit ab,
dass am Ende der Zeiten die Vorgeschichte wiederkehrt. In diesem
Anachronismus liegt genau genommen der neue Geist in seiner ei
gentlichen Doppeldeutigkeit. Gespalten zwischen der Sorge, zu über
leben, und der Sorge, im Leben einen Sinn zu f inden, lächeln die
Staatsmänner einander zu - ohne einander zu belügen, aber doch im
gegenseitigen Misstrauen. Dieses breite, aufgesetzte und stereotype
Lächeln ist gequält Der Mensch weiß noch nicht, ob es besser ist, sich
.
gegen die Säulen des Tempels der Ungerechten zu stemmen, auf die
Gefahr hin, »zusammen mit den Philistern zu sterben«, oder ob man
lieber an die Unschuldigen denken sollte, die unter seinen Trümmern
begraben würden.
140
XI
141
Prinzipien und Gesichter
von Parteien führen ? Zu einem Staat ohne Konflikte gehört eine Ein
heitspartei, eine Partei der Vernunft. Für Chruschtschow können die
sowjetischen Bürger gar nicht unterjocht gewesen sein, weil sie Din
ge zustande gebracht haben, vor denen die ganze Welt nur staunen
konnte. Sie sind frei, objektiv frei, weil sie - vielleicht auch gegen
ihren Willen (aber was macht das schon!) - von der Vernunft geleitet
werden.
Dies sind Themen, die das westliche Denken in seiner Gesamt
heit beherrscben. Es ist gewohnt - lange schon vor Hege! -, im Staat
die Inkarnation des Geistes selbst zu sehen. Der Staat, in dem es
keine Gegensätze und folglich auch keine Parteien gibt, bringt dje
Menschlichkeit des Menschen zur Vollendung. Er ist die verwirklich
te Vernunft, ja selbst in seinem Werden stellt er die Vernunft dar, die
sich Schritt für Schritt offenbart. Das Individuum findet im Staat
seine höchste Befriedigung. Was es sonst noch beunruhigt und um
treibt, ist Ausdruck der Illusion, der Ideologie, des subjektiven Ge
fühls. Ach, schauen Sie sich doch das herablassende Lächeln gewisser
Meisterdenker an, die sich allein für das Allgemeine begeistern kön
nen und alle Fragen nach dem Subjektiven immer nur mit einem
»Das hat doch keinerlei Bedeutung« abtun. Die Schreie des Gewis
sens? Nichts als Symptome einer Hysterie. Für sie wie für
Chruschtschow sind Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - einmal als
Herzensangelegenheiten betrachtet - nur Begriffe, die aus einer abs
trakten Moral herstammen. Uns wurde immer beigebracht, dass die
Freiheit mit der Entindividualisierung des Individuums zusammen
falle, mit dem Willen des Allgemeinen, und dass dies für den Men
schen bedeute, in dem kohärenten Diskurs dieses Allgemeinen zu
verschwinden, wie ein Maler, der sich ganz leibhaftig in seine Lein
wand hineinbegeben würde, um dort ein stummes Leben zwischen
den gemalten Formen zu führen. Nach Auffassung der Spiritualisten
unter uns scheinen die ökonomischen Umbrüche der Welt und der
Aufbau einer internationalen industriellen Gesellschaft aus sich
selbst eine Menschheit hervorzubringen, die ganz im Einklang mit
dem Allgemeinen lebt. Warum sich also dann vor einer Einheitspar
tei fürchten? Jene des Faschismus beruhte auf der Absurdität eines
besonderen Prinzips rassischer und nationaler überlegenheit. Die
einzige Partei in der UdSSR ist eine Arbeiterpartei. Die Idee des Ar
beiters ist aUgemein genug, um alle Menschen zu umfassen, nicht
nur in dem Sinne, dass in der Gattung logischerweise die einzelnen
Individuen mit inbegriffen sind, sondern auch als eine Idee, die Ord-
142
Prinzipien und Gesichter
143
XII
Ist das »Ende der Welt« auch ein Thema, das im Streit zwischen
Russland und China eine Rolle spielt ? Man wird bei einer so ernsten
Frage über vage Vermutungen nicht hinauskommen, so als hätten
wir es mit einem noch wenig beleuchteten Detail in der Geschichte
der Azteken zu tun. Eine apokalyptische Politik! Aber gerade darauf
läuft die Geschichte hinaus, und damit hat sie sich, im doppelten
Sinne des Wortes, herumzuschlagen. Man kann nicht mehr ernsthaft
glauben, die Menschheit hätte sich nur zufällig in das marxistische
Abenteuer verirrt. Nichtkommunist zu bleiben bedeutet, sich in dem
gegenseitigen Kräftemessen dennoch die Freiheit des eigenen Urteils
zu bewahren. Auf einer solchen Freiheit zu bestehen hieße aber nach
der Auffassung gewisser Leute, vorn Kornm unismus nichts zu ver
stehen, ein Bewusstsein zu postulieren, das allem Streit entzogen ist,
und sich folglich in einem Idealismus zu gefallen, der es sich bequem
gemacht hat in der Untätigkeit bürgerlichen Müßiggangs und dessen
einzigartiger Sicherheit. Dabei vergisst man aber, dass sich der freie
Gedanke nur durch einen äußerst schwierigen und gewagten Einsatz
aus dem Handeln herauslösen kann und dass er zu den revolutionärs
ten Taten überhaupt gehört, zu denen, die äußerst aufrührerisch
sind; dass er, wie der Rationalismus selbst, immer wieder erneuert
werden muss; dass er nicht der individuellen Beliebigkeit ausgesetzt
werden, aber auch nicht aus einem Hochmut herrühren darf, ist er
doch, wenn auch auf seine Art, an eine Tradition gebunden.
Wie also soll man aufgrund der nur spärlichen Informationen in
der Presse frei über die russisch-chinesische Verstimmung denken?
Ein Auseinanderbrechen der monolithischen Blöcke im Osten (von
dem erwartet wird, dass es die Spannung auf diesem polarisierten
Terrain verringern werde) ist nicht die zwangsläufige Folge dieses
Risses. Doch vor allem die Schadenfreude, die man darüber empfin
den mag, zeugt nicht gerade von einem unabhängigen Denken und
ist eines solchen letztlich auch nicht würdig. Es ist vielmehr die
145
Die russisch-chinesische Debatte und die Dialektik
146
Die russisch-chinesische Debatte und die Dialektik
147
Laizismus und Moral
XIII
151
Der Laizismus und das Denken Israels
Das Paradox wird dann entschärft, wenn man sich die Frage nach den
Quellen stellt: Worin genau drückt sich das jüdische Denken aus?
Eine Frage, die in den Bereich der Präliminarien gehört, in diesem
Fall aber von grundsätzlicher Bedeutung ist. Sie erlaubt es, den ei
gentlichen Begriff des Judentums auf eine objektive Weise zu bestim
men, einen Begriff, der in Europa sehr wohl vertraut ist, über den
aber auch sehr viel Unwissenheit besteht und viele Missverständnis
se im Umlauf sind.
Das Christentum führt zweifellos eine bestimmte Seite des Ju
dentums fort, doch erschöpft sich das Judentum nicht einfach im Jü
disch-Christlichen. Es setzt vielmehr eine ursprüngliche Tradition
fort, im Namen deren es sich der christlichen Botschaft verweigert
hat, und zwar ganz bewusst (und nicht aus Blindheit oder purer Ver
stocktheit). Das Judentum manifestiert sich im Alten Testament, aber
auch in der rabbinischen Literatur; die den Talmud mit einschließt,
den Philosophen, den Exegeten sowie den »Entscheidungsträgern«
des Mittelalters und der Neuzeit. Trotz der Einheit, in der sich das
Judentum präsentiert - eine Religion ohne Sekten -, lässt es sich in
keinerlei Dogmatik zusammenfassen. Die religiösen Praktiken unter
liegen zwar einer Regelung, die in ihrer inneren Geschlossenheit
ausformuliert vorliegt, sie stellen letztlich aber nur die Konsequenz
aus einem unendlich reichen theoretischen Werk dar. In ihm prallen
die unterschiedlichsten Positionen aufeinander, deren Gegensätzlich
keit aber keineswegs durch die Tatsache aufgehoben wird, dass unter
allen Juden hinsichtlich der Vorschriften für das jüdische Leben Ei
nigkeit besteht - egal ob sie dann auch beachtet werden oder nicht.
Die Verbindung mit diesem Denken in Form einer lebendigen Aus
einandersetzung- das Studium - stellt für den praktizierenden Juden
eine wesentliche Aufgabe für die Praxis dar. Und hier berühren wir
auch schon einen der charakteristischen Aspekte des Judentums: sei
ne Lehre, die Tora (die in einem engen Sinne den Pentateuch und im
weitesten Sinne die ganze Bibel und das rabbinische Denken, das aus
ihr hervorgegangen ist, bezeichnet), ist nichts anderes als Fragen und
Diskussionen. Sie existiert nicht in Gestalt eines mystischen Wortes,
sondern sie lebt durch die Forschungen der Gelehrten, der Rabbiner,
die immer wieder und zu allen Zeiten auf sie zurückgreifen. Sie ver
langt geradezu nach Meinungsvielfalt und Auseinandersetzung. Die
Originalität des Einzelnen setzt die Wahrheit der Lehre nicht aufs
Spiel, sondern verhilft ihr vielmehr ans Licht. Das Studium ist kein
bloßes Wiederkäuen der Tora; in ihm offenbart sich die Tora.
152
Der Laizismus und das Denken Israels
Der Lichtquell dieses geistigen Lebens, der die Wege des jüdi
schen Denkens durch die Geschichte hindurch erleuchtet, ist der Tal
mud. Er ist seit dem 6. Jh. n. Chr. maßgebend für das jüdische Den
ken. Das Judentum empfängt sogar die Lehre der Bibel selbst über
den Talmud, der seiner Auffassu ng nach die authentische Auslegun g
ihres Textes bleibt. Diese ist es, die den Geist vom Buchs taben löst,
und zwar häufig mit einer extremen Kühnheit und trotz der offen
sichtlichen Treue zum Wort.
Aber es ist nicht der Glaube allein, der dem Vertrauen in die
talmudische Exegese zugrunde liegt. Historisch betrachtet waren es
die Pharisäer, die den biblischen Kanon, der den Christen und Juden
gemeinsam ist, den Juden überliefert haben - und übrigens auch den
Christen. Sie waren die Lehrer des Talmud.2 Der biblische Text geht
zurück auf ein fernes Zeitalter; seine Dunkelheit wird durch die
Übersetzungen verschleiert; die Unterweisungen der Talmudgelehr
ten, ihre Kommentare zu den Gesetzestexten und historischen Er
zählungen der Bibel sind Marksteine, die immer wieder neu die Kon
tinuität der Tradition garantieren.
Diese Tradition wird Ende des 2. Jahrhunderts schriftlich fixiert
und als Mischna bezeichnet. Die Mischna selbst wiederum wird
durch die mündliche Lehre neuer Generationen von Rabbinern aus
gelegt. Diese mündliche Lehre erhält gegen Ende des 5. Jahrhu nderts
ihre schriftliche Form - die Gemara. Beide zusammen, die Mischna
und die Gemara, bilden den Talmud. Es gibt zwei Talmudim, deren
schriftliche Fassungen ungefähr aus der gleichen Zeit stammen: Der
Jerusalemer Talmud ist in Palästina entstanden, der Babylonische
Talmud entwickelte sich innerhalb der Rabbinerschulen Babyloniens.
Die talmudische Tradition mündet in den Kodex praktischer Re
geln, der die Grundlage jüdischen Lebens darstellt. Dieser Kodex geht
zurück auf den Anfang des 16. Jahrhunderts. Es ist der berühmte
Schulchan Aruch - oder »Gedeckter Tisch«. Er steht am Ende eines
Weges durch die ganze Literatur der maßgeblichen Entscheidungs
träger - Autoritäten, die angesichts der aus dem Talmud sich erge
benden theoretischen Streitigkeiten Entscheidungen über die kon
kreten Verhaltensweisen fällten. Maimonides nahm unter ihnen
den höchsten Rang ein, denn er war es, der das jüdische Denken des
2 Der Beginn des modemen Judentums fällt vielleicht mit dem Versuch zusammen, die
Bibel ausgehend von der Philologie oder vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem
Land Palästina zu lesen, also unter Verzicht auf die talmudischen Bezüge.
153
Der Laizismus und das Denken Israels
3 Man unterscheidet: a) Die antiken Entscheidungsträger aus dem 7. bis 10. Jahrhun
dert; b) die ersten Entscheidungsträger aus dem 10. bis 15. Jahrhundert und c) die letz
ten Entscheidungsträger aus dem 15. bis 18. Jahrhundert. Herausa r gende Namen, die
für die Entwicklung dieses Denkens stehen, sind für die erste Periode die »Gaonim« der
babylonischen Talmudakademien: Sa.adia, Gaon von Sura (882-942), Hai, Gaon von
Pumbedita (940-1038) und Chananel von Kai rouan aus der ersten Hälfte des 11. Jahr
hunderts. In der zweiten Periode trat zunächst Alfasi (1013-1103) auf, dessen Abhand
lung Hilchot Harif einen entscheidenden Einfluss auf die ganze spätere Entwicklung
nahm. Er ebnet auch den Weg ür f das bahnbrechende Werk von Maimonides (1135-
1204), das den Talmud in seiner Gesamtheit aufgreift und ihn aus einer griechischen
Sichtweise neu beleuchtet - ein Werk, das die Angriffe, denen es ausgesetzt ist, über
windet und sich schließlich durchsetzen wird. Mit Maimonides wird der philosophische
Gehalt des jüdischen Denkens zum Bewusstsein gebracht. Dieses Werk wird einen gro
ßen Einfluss ausüben auf Ascher ben )echiel (gest. 1327), wie auch auf seinen Sohn,
)aakob ben Ascher (ges t. 1343), Rosch genannt, der eine Systematisienmg des Gesetzes
vornimmt unter dem Titel Arbaa Tu ri m. Josef Karo (1488-1575), Autor des Bet ]osef,
eines Kommentars zu Arbaa Turim, verfasste aus diesem sein berühmtes Werk Schul
chan Aruch, das wiederum von Moses Isserles (1520-1572) mit einem Kommentar ver
sehen wird, den Hagahot Harama.
154
Der Laizismus und das Denken Israels
155
Der Laizismus und das Denken Israels
156
Der Laizismus und das Denken Israels
Baba-Bathra5 ein Römer den Rabbi Akiba. - »Damit wir der Gehenna
entgehen können«, antwortet der jüdische Gelehrte. Es ist die Auf
gabe des Menschen, den Menschen zu retten: Die göttliche Art und
Weise, das Elend zu beseitigen, besteht gerade darin, Gott hier nicht
ins Spiel zu bringen. Das wahre Verhältnis zwischen Mensch und
Gott beruht auf der Beziehung von Mensch zu Mensch, für die der
Mensch allein die volle Verantwortung trägt, so als ob es keinen Gott
gäbe, auf den man zählen könnte. Dies ist die Geisteshaltung, die den
Laizismus bedingt, auch in seiner modernen Form. Sie ist nicht Aus
druck eines Kompromisses, sondern der natürliche Boden, auf dem
die größten Werke des Geistes gedeihen.
Dennoch scheint es, als sei der jüdische Partikularismus die Bedin
gung für die universale Gesellschaft, nach der wir suchen. Wenn die
Menschen in der Lage sein sollen, aufeinander zuzugehen, ohne da
bei aneinander zu geraten, und sich gegenseitig in ihrer mensch
lichen Würde, die sie einander gleich macht, anerkennen sollen, muss
es jemanden geben, der sich für diese Gleichheit in einem Maße ver
antwortlich fühlt, dass e r auf sie verzichtet, in einem Maße also, dass
er »unendlich mehr« und »immer mehr« von sich selbst verlangt als
von den anderen. Dies genau ist die Definition der Auserwählten.
Eine Haltung, die letztlich mit dem moralischen Gewissen selbst zu
sammenfällt: Dieses ist, bezogen auf andere, immer das Ungleiche,
denn niemand kann an seine Stelle treten. Es ist unendlich verpflich
tet. Das »Ich«, so sagt Vladimir Jankelevitch, der sich gewiss nicht als
Talmudist versteht, ist das Einzige, das keine Rechte hat. Das Eigent
liche des Judentums besteht darin, den individuellen oder nationalen
Egozentrismus oder Egoismus in eine Berufung des moralischen Ge
wissens zu verwandeln.. Und dies ist die Art und Weise, in der auch
das Judentum selbst die eigentliche Rolle Israels sieht, die Würde, die
ihm als auserwähltem Volk zukommt und die so oft falsch verstanden
wurde. Gemäß einem Apolog des Talmuds kann die Rettung der
Menschheit nur dort geschehen, wo eine auserwählte Gemeinschaft
selbst zur Kultstätte geworden ist. 6 Das Judentum hat nicht den Stolz
auf die nationale Überlegenheit in die Welt gebracht (was für die
5 P. lOa.
6 Traktat Sukka, 55b.
157
Der Laizismus und das Denken Israels
Griechen galt, die sich über die Barbaren erheben wollten), sondern
die Idee einer Universalität, die aus einer Erhabenheit herrührt,
einer Universalität der Ausstrahlung.7 Seine eigentliche Funktion,
seine religiöse Erwählung, schien dem Judentum in der Verantwor
tung zu liegen, die ihm als einem Volk von Auserwählten zukommt,
in seiner Aufgabe als Arbeiter der ersten und nicht der elften Stun
de.8 Ein Privileg, das zum Fürchten ist: »Nur euch habe ich erwählt
aus allen Stämmen der Erde; darum ziehe ich euch zur Rechenschaft
für all eure Vergehen.«9 Im jüdischen Denken gründet sich die Uni
versalität auf den Verantwortlichkeifen einer auserwählten Gruppe
in ihrer Partikularität. Die Universalität ist das Omega der Morali
tät und nicht das Alpha.
Doch der jüdische Partikularismus steht nicht im Widerspruch
zu einer universalen Gesellschaft; er bedingt sie vielmehr. Israel um
fasst nicht die ganze Welt. Auch wenn das Judentum den Frieden
zwischen den Menschen zum höchsten religiösen Wert und letzten
Ziel erklärt und diesen Frieden sicherlich auch untrennbar mit den
Verantwortlichkeifen Israels verbindet, so verlangt es dennoch zu
keinem Zeitpunkt, dass die gesamte Menschheit zum Judentum über
treten soll. Das Judentums sieht seine Mission nicht in der Bekeh
rung. Denn die Toleranz, die es auszeichnet, ist keine Resignation
und kein Kompromiss, sondern sie ist bereits eine Gemeinschaft.
Aber wenn die Ethik, die die Religion begründet, dieser Religion zu
gleich die Möglichkeit eröffnet, eine Gesellschaft hervorzubringen,
der sich der religiöse Partikularismus unterordnet - also im Grunde
genommen schon eine laizistische Gesellschaft -, dann muss man auf
dem unbedingten Charakter dieser Ethik bestehen. Was das grie
chische Denken hierzu beiträgt, ist die Weisheit, die auf die Polis
bezogen ist. Das Novum des jüdischen Beitrags besteht hingegen da
rin, die planetarischen Dimensionen der humanen Gesellschaft he
rauszustellen, die Idee einer möglichen Übereinstimmung zwischen
den Menschen, die nicht durch den Krieg, sondern durch die Brüder-
7 Vgl. den Kommentar des Raschi in Lech-Lecha. Die durch Abraham und Snrn in Ha
ron gewonnenen Seelen sind Seelen, die für die Wahrheit gewonnen wurden.
8 Traktat Aboda Zara, 3a.
' Amos3,2.
158
Der Laizismus und das Denken Israels
159
Der Laizismus und das Denken Israels
tigkeit der Idolarrie, und dennoch frönten sie ihr, weil sie die Rechtfertigung für die
verschiedensten öffentlichen At1sschweifungen lieferte.
IJ Traktat Ketubot, lla.
160
Der Laizismus und das Denken Israels
ter.« 14
Im Begriff des Noachiden liegt die Begründung des Naturrechts.
Er ist der Vorläufer für die Menschenrechte und für die Gewissens
freiheit. Seine inhaltliche Bedeutung reicht bis zu dem Begriff des
»Gerechten und Frommen unter den Heiden « »Es gibt Gerechte un
.
161
Der Laizismus und das Denken Israels
Nachdrücklichkeit zusammen: »Die ganze Tora ist auf die Wege des
Friedens ausgerichtet«; und im Traktat Abot21 steht: »Die Welt be
ruht auf drei Prinzipien: Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden.« Die
nicht-jüdischen Theoretiker des Naturrechts, die Vordenker der mo
dernen Gesellschaft, wussten übrigens sehr genau, wie sich der Ge
danke des Fremden in dem des Noachiden und dem des »Gerechten
unter den Heiden« weiterentwickelt hat, und sie wussten auch um
die Bedeutung dieser Denkströmung für die Herausbildung der Idee
des Naturrechts. John Seiden (1584-1654), der große englische Ge
lehrte aus dem 17. Jahrhundert und einer der Theoretiker des Natur
rechts, sieht die Grundlagen desselben im jüdischen Gesetz, so vor
allem in seinem De jure naturali et gentium juxta disciplinam
Ebraeorum. Und Hugo Grotius, der Vater der Völkerrechtslehre, lobt
ausdrücklich die Institution der Noachiden.
162
Der Laizismus und das Denken Israels
zige Sprache, die würdig ist, der Schrift als Ausdruck zu dienen. 22 Der
Talmud führt die Zusammengehörigkeit von Judentum und Ver
nunft nicht auf Phiion zurück. Sie findet ihren Ausdruck vor allem
in folgender Wendung, die häufig wiederkehrt und die man einmal
im Einzelnen kommentieren müsste: >>Was das angeht, so habe ich es
bei Antonin gelernt, aber es findet sich auch durch einen Vers der
Bibel bestätigt.«23 Auch wenn es anachronistisch wäre, das talmu
dische Denken über die Bedeutung der laizistischen Schule zu befra
gen, so lässt sich dennoch nicht bestreiten, dass ihm die Idee einer
laizistischen Kultur durchaus bekannt ist.
Man kann also sagen, dass der Talmud zwischen den Pflichten
des Menschen seinem Nächsten gegenüber und den Pflichten Gott
gegenüber unterscheidet. Gott kann das Vergehen am Anderen nicht
ungeschehen machen. Jus und fas sind radikal voneinander getrennt.
163
Der Laizismus und das Denken Israels
164
Der Laizismus und das Denken Israels
den Frieden ausschließt und weil der Friede in ihr nur auf Kosten der
Gerechtigkeit zu haben ist.29
Die politische und die königliche Macht ist getrennt von jenen
Instanzen zu betrachten, die für den Ritus stehen. Die Kommentato
ren sind der einhelligen Auffassung, dass der Vers »Ihr werdet ein
Königreich von Priestern sein« nicht in einem theokratischen Sinne
zu interpretieren ist. Raschi besteht darauf, kohen (Priester) mit
Würdenträger zu übersetzen; und Nachmanides behauptet30, dass
die politische Macht der Priester in einem Gegensatz zum (mosai
schen) Gesetz steht. Ein Text aus dem Jerusalemer Talmud31 macht
deutlich, dass Priester keine gesalbten Könige sein können.32
Entsprechend unterscheidet sich die königliche Macht auch von
der absoluten Moral. Der Sanhedrin - in dem die absolute Moral zum
Ausdruck kommt - setzt den König ein. Er kontrolliert ihn. Aber er
lässt ihn regieren. Der Philosophenkönig ist eine absolute Setzung.
Innerhalb der Geschichte aber ist der König vom Philosophen zu un
terscheiden.
Und doch bleibt es eine Tatsache, dass über diesem laizistischen
politischen Gesetz, das durch die Geschichte bestimmt ist - also
durch eine Ordnung, die die Möglichkeit zu Verbrechen und Krieg
in sich trägt-, das Gesetz der Tora steht, das Gesetz des Absoluten,
das auch dann, wenn die politische Autorität etabliert ist, nicht ver
schwindet, um dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Dieses Ge
setz allein bestimmt die politischen Herrscher, setzt sie in ihr Amt ein
und kontrolliert ihre politische Macht.33 Wenn sich das Gesetz des
Absoluten zurückzieht, dann im Namen des Absoluten. »Es mag ein
Buchstabe der Tara verloren gehen, wenn nur die Tora als Ganze
nicht vergessen wird.«34
Das Verhältnis zwischen dem politischen Gesetz und dem ewi
gen Gesetz - (wobei Ersteres dem Letzteren untergeordnet und zu
gleich unabhängig von ihm ist) - ist charakteristisch für ein Denken,
das beide Enden der Kette zusammenhält. Aber es ist der Talmud in
seiner Gesamtheit !betrachtet und die Verpflichtung, ihn zu studie
·ren, was die eigentliche Verbindung ausmacht. Der Messias - der-
165
Der Laizismus und das Denken Israels
166
Der Laizismus und das Denken Israels
167
Gespräche
XIV
Emmanuel Levinas, stellen wir uns vor, ein junger Mensch, ein
Schüler aus der Abschlussklasse des Gymnasiums, fragt Sie
nach Ihrer Definition der Philosophie. Was würden Sie ihm
antworten?
Ich würde ihm sagen, dass die Philosophie dem Menschen erlaubt,
sich in dem zu prüfen, was er sagt, und in dem, was er sich selbst sagt,
wenn er denkt. Sich also nicht mehr länger vom Rhythmus der Wör
ter und dem Allgemeinen, auf das sie verweisen, einlullen und be
rauschen lassen, sondern sich zu öffnen für die Einzigartigkeit des
Einmaligen in dieser Wirklichkeit, d. h. die Einzigartigkeit des Ande
ren. Und das heißt letztlich für die Liebe. Also wirklich sprechen,
nicht eine Art Singsang von sich geben, wach werden, nüchtern wer
den, nicht nur ständig Redensarten im Mund führen. Schon der Phi
losoph Alain hat uns vor all denjenigen gewarnt, die uns in einer
angeblich so aufgeklärten Zivilisation »Sand in die Augen streuen«.
Philosophie als Schlaflosigkeit, als ein erneutes Erwachen inmitten
der Gewissheiten, die schon das Wachsein zum Ausdruck bringen,
in Wirklichkeit aber noch oder immer Träume sind.
Das Aufwachen ist etwas, so meine ich, das dem Menschen eigen
tümlich ist. Dann die Suche des Wachgewordenen nach einer erneu
ten, tieferen, philosophischen Ernüchterung. Und es ist genau ge
nommen die Begegnung mit dem anderen Menschen, die uns zum
Aufwachen ermahnt, aber auch die Texte, die aus den Dialogen zwi
schen Sokrates und seinen Gesprächspartnern hervorgegangen sind.
171
Vom Nutzen der Schlaflosigkeit
Absolut. Ich sehne mich ganz und gar nicht nach dem Ursprüng
lichen und Einfachen zurück Was immer sich an menschlichen Mög
lichkeiten zeigt, muss zur Sprache gebracht werden. Die Gefahr; sich
im bloßen Gerede zu verüeren, besteht in der Tat, aber die Sprache,
die ein Anruf des Anderen ist, stellt auch die eigentliche Modalität
des »Sich-selbst-Misstrauens« dar, das die Besonderheit der Philoso
phie ausmacht. Doch ich will die Bilder gar nicht verurteilen. Was ich
feststelle, ist, dass es einen großen Anteil an Zerstreuung im Bereich
des Audiovisuellen gibt, eine Art Traumwelt, die uns wieder in den
Schlaf versinken lässt, von dem wir gerade gesprochen haben, und
uns dort gefangen hält.
Ihr Werk ist durch und durch von einem moralischen Anliegen
geprägt. Man ist erstaunt darüber, dass nach einer Phase der
»Befreiung«, in der die Ethik eher auf Ablehnung gestoßen ist,
nun die Wissenschaften und vor allem die Entdeckungen der
Biologie die Menschen dazu bringen, sich wieder ethischen
Fragen zuzuwenden. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Die Moral hatte in der Tat einen schlechten Ruf. Man verwechselt sie
gerne mit Moralismus. Das Eigentliche der Ethik geht oft in diesem
Moralismus, der auf eine Summe von Pflichten reduziert wird, ver
loren.
172
Vom Nutzen der Schlaflosigkeit
Es ist die Anerkennung der »Heiligkeit«. Ich will dies näher erklären:
Der eigentliche Grundzug des Seins liegt darin, dass jedes einzelne
Seiende um sein Sein selbst besorgt ist. Die Pflanzen, die Tiere, ja die
Lebewesen in ihrer Gesamtheit klammern sich an ihre Existenz. Für
jedes einzelne zählt allein der Kampf ums Überleben. Und auch die
Materie in ihrer unerbittlichen Härte: Ist sie nicht ein ständiges Sich
verschließen und Aufeinanderprallen ? Und dann plötzlich im Be
reich der menschlichen Natur das mögliche Aufscheinen einer onto
logischen Absurdität: Die Sorge für den Anderen siegt über die Sorge
um sich selbst. Genau das ist es, was ich »Heiligkeit« nenne. Unsere
Menschlichkeit besteht darin, dass wir diesen Vorrang des Anderen
anerkennen können. Sie verstehen jetzt meine Ausführungen zu Be
ginn unseres Gesprächs besser und warum ich mich so sehr für die
Sprache interessiere: Sie wendet sich immer dem Anderen zu, so als
ob man gar nicht denken könnte, ohne sich bereits um den Anderen
zu sorgen. Das Denken bewegt sich von nun an in einem Sagen. Auf
dem tiefsten Grund des Denkens meldet sich das »Für-den-Anderen«
zu Wort, anders gesagt, die Güte, die Liebe zum Anderen, die geisti
ger ist als die Wissenschaft.
Meiner Ansicht nach erwacht sie vor dem »Gesicht« des Anderen.
Der Andere, von dem Sie sprechen, ist damit auch der ganz
Andere, Gott, gemeint?
173
Vom Nutzen der Schlaflosigkeit
Das gehört für mich in die Kategorie des Grauenhaften: ein Grauen,
das nicht wieder gutzumachen ist, nie vergessen werden kann. Je
denfalls durch keinerlei Strafe, das ist sicher. Eine Grenze der Ver
antwortung? In dieser Gewissheit werden viele unserer Gedanken
über die Eschatologie, die jüdische wie die nichtjüdische, erschüttert
- ich sage nicht: nichtig. Doch dieser Prozess, der noch schrecklicher
ist als jede Sanktion, dürfte sich nicht so abspielen, wie er sich ab
spielt. Man müsste zu dieser Verurteilung kommen, ohne dass dabei
das Grauen in seinen apokalyptischen Dimensionen durch die juris
tischen Formalismen und Kunstgriffe, die unvermeidlich sind, bana
lisiert würde.
174
XV
Sie haben einmal gesagt: »Europa, das ist die Bibel und die
Griechen.« Mit dieser Formulierung ließe sich in einem
gewissen Sinne ihr intellektueller Werdegang insgesamt cha
rakterisieren, in dem die aus dem griechischen Erbe hervor
gegangene Philosophie der jüdisch-christlichen Tradition ge
genübergestellt wird. Könnten Sie zunächst beschreiben, für
was genau in dieser Formulierung »die Bibel« steht?
175
Gespräch mit Roger-Pol Droit
Weise die Liebe in ihrer ganzen Gunst: die Geistigkeit, die wahre
Menschlichkeit als eine gelebte.
Die Heiligkeit ist dennoch die höchste Vollkommenheit, und ich sage
nicht, dass alle Menschen Heilige sind! Aber es genügt schon, dass es
von Zeit zu Zeit Heilige gegeben hat, und vor allem, dass die Heilig
keit stets Bewunderung hervorruft, selbst bei denen, die von ihr am
weitesten entfernt zu sein scheinen. Diese Heiligkeit, die dem Ande
ren den Vortritt lässt, wird möglich durch die Menschlichkeit. Und es
gibt etwas Göttliches in diesem Aufscheinen eines Menschen, der in
der Lage ist, zuerst an den Anderen und dann erst an sich selbst zu
denken. Durch die Menschlichkeit wird also die Heiligkeit das Sein
der Natur verwandeln, indem es diese Offenheit schafft, von der ich
eben gesprochen habe. Dies ist, in aller Kürze gesagt, das, was in der
Formulierung, von der wir ausgegangen sind, der Ausdruck »die Bi
bel« bedeuten kann.
176
Gespräch mit 1\oger-Pol Droit
Ich glaube nicht, dass dies wirklich möglich ist. Denn es handelt sich
dabei um unsere ursprüngliche Erfahrung schlechthin, um eine Er
fahrung, die uns konstituiert und gleichsam den tiefsten Grund un
serer Existenz ausmacht. Im übrigen, man mag so gleichgültig tun,
wie man will, an einem Gesicht kann man nicht vorbeigehen, ohne
zu grüßen oder zumindest sich zu fragen: »Was will es wohl von
mir?« Nicht nur unser ganz persönliches Leben gründet in dieser
Erfahrung, sondern auch unsere ganze Zivilisation.
177
Gespräch mit Roger-Pol Droit
Dennoch, neigt eine Welt, in der das Geld regiert und die
Geschäftemacherei um sich greift, nicht dazu, dieses Verhältnis
zum Anderen, das Sie für ursprünglich halten, zu modifizieren
oder gar völlig vergessen zu machen?
Ich glaube nicht, dass dem so ist. Natürlich gibt es Seiten am Kapita
lismus und an .der übertriebenen Art und Weise, wie die Leute dem
Geld nachlaufen, die erschreckend sind und die auch die Tendenz
haben können, den ganzen Rest zu überdecken oder zu ersticken,
aber man darf dennoch nicht dem Irrtum verfallen, zu meinen, auf
dem Geld laste ein Fluch und es müsse daher zu etwas grundsätzlich
Unheilvollem erklärt werden.
Ich bin überzeugt davon, dass das Geld auch eine ethische Be
deutung hat und auch einen Beitrag zu mehr Menschlichkeit in der
Welt leisten kann. Man darf nicht vergessen, dass es sich bei dem,
was wir verkaufen oder kaufen, nicht nur um bloße Dinge handelt,
sondern dass es ja immer auch Produkte sind, die durch die Bezie
hungen der Menschen untereinander und durch ihre Arbeit geschaf
fen wurden. Der freie Handel, die Neuverteilung und die Form der
Gleichheit und des Verkehrs zwischen den Menschen wird durch
Geld erst möglich, und dadurch trägt es in meinen Augen eher zum
Frieden und zu gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen bei.
Der Tauschhandel ist im Gegensatz dazu eine der Quellen für Strei
tigkeiten und Krieg. Und Geld macht Schluss mit dem Tauschhandel.
Die Frage lässt sich meiner Ansicht nach so nicht stellen. Denkt man
an den Stalinismus, den bürokratischen Terror und all die Verbre
chen, die mit dlem Kommunismus verbunden sind, so wird niemand
den Untergang seiner Herrschaft bedauern. Und natürlich kann man
Stalin nicht nachtrauern, der im Namen der humanitären Verspre
chen von Marx abscheuliche Grausamkeiten angeordnet und im Na
men einer zukünftigen Gerechtigkeit zahllose Ungerechtigkeiten be
gangen hat.
Doch trotz dieser Schreckensherrschaft war da stets auch eine
Hoffnung. Man konnte sich immer sagen, dass all diese Verbrechen
178
Gespräch mit Roger-Pol Droit
vielleicht doch nicht vergeblich sein würden. Man konnte sich noch
vorstellen, dass nach einer dunklen und schwierigen Phase, die es
durchzustehen galt, wieder bessere Zeiten kommen würden. Denn
auch wenn der sowjetische Staat zum schrecklichsten unter allen ge
worden ist, so blieb mit ihm doch stets das Versprechen und die Hoff
nung einer Befreiung verbunden.
Das Verschwinden dieses Horizontes scheint mir ein zutiefst
beunruhigendes Ereignis zu sein, denn es bringt unsere Vision über
die Zeit zum Einsturz. Seit der Bibel haben wir uns an den Gedanken
gewöhnt, dass die Zeit auf irgendetwas hinausläuft, dass die Ge
schichte der Menschheit auf einen Horizont zugeht, und sei es auf
Umwegen oder durch Schicksalsschläge hindurch. Europas Vision der
Zeit und der Geschichte gründete in dieser Überzeugung und dieser
Erwartung: In der Zeit lag ein Versprechen. Das sowjetische Regime
war Erbe dieser Auffassung, trotz seiner Ablehnung von Transzen
denz und Religion. Seit der Revolution von 1917 hatte man das Ge
ühl,
f dass es etwas gab, das sich unablässig ankündigte oder vorberei
tete, trotz aller Hindernisse und Irrtümer.
Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems - ein Er
eignis, das zweifellos viele positive Aspekte hat - sind nun auch sehr
grundlegende Denkkategorien des europäischen Bewusstseins in Ver
wirrung geraten. Unser Verhältnis zur Zeit ist in eine Krise geraten.
Mir scheint es tatsächlich unabdingbar zu sein, dass wir, wir aus dem
Westen, uns eine Perspektive auf die Zeit zu Eigen machen, die wie
der ein Versprechen bereithält. Ich weiß nicht, inwieweit wir ohne
eine solche Perspektive zurechtkommen können. Und das scheint
mir auch das eigentlich Beunruhigende an der gegenwärtigen Situa
tion zu sein.
Glauben Sie nicht, dass sich aus dieser Erfahrung auch ein
anderer Horizont eröffnen könnte?
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Gespräch mit Roger-Pol Droit
Für Heidegger liegt das innerste Bestreben des Seins darin, zu sein.
Es geht dem Sein in seinem Bestreben zu sein nur um das Sein, in
erster Linie und um jeden Preis. Diese Entschlossenheit führt
schließlich zum Kampf zwischen den Individuen, den Nationen und
180
Gespräch mit Roger-Pol Droit
Klassen, und es gilt in ihm hart und unbeugsam wie Stahl zu sein. Es
gibt bei Heidegger den Traum von einem Adel des Blutes und des
Schwertes. Nun, der Humanismus ist etwas ganz anderes. Er ist eher
eine Antwort auf den Anderen, die bereit ist, ihm den Vorrang zu
lassen, die dem Anderen nachgibt, anstatt ihn zu bekämpfen. Das
Fehlen der Sorge um den Anderen bei Heidegger und sein persönli
ches politisches Abenteuer haben etwas miteinander zu tun. Und
trotz meiner ganzen Bewunderung für die Größe seines Denkens
habe ich diesen Doppelaspekt, der in allem, was er gesagt und ge
schrieben hat, zum Ausdruck kommt, nie teilen können.
Ich werde Ihnen darauf nur mit einer kurzen persönlichen Erinne
rung antworten, die zugleich eine historische Szene darstellt. Im
Sommer 1929 habe ich an dem berühmten Treffen in Davos teil
genommen, dessen Höhepunkt das philosophische Streitgespräch
zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger bildete. Wie Sie wis
sen, hat diese historische Auseinandersetzung dazu geführt, dass da
nach in Deutschland die durch Kant und das Erbe der Aufklärung
beeinflusste Denkströmung, die im Wesentlichen durch Cassirer ver
treten wurde, verschwunden ist. An einem der Abende während die
ses Treffens führten wir einen kleinen Sketch auf, bei dem auch Cas
sirer und Heidegger anwesend waren, deren Kontroverse wir
nachspielten. Ich schlüpfte in die Rolle Cassirers, dessen Position
von Heidegger ständig angegriffen wurde. Und um diese so gar nicht
kampflustige und schon ein wenig verzweifelte Haltung Cassirers
zum Ausdruck zu bringen, wiederholte ich immer nur in einem fort:
»Ich bin Pazifist . . . «
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Nachweis der französischen Originaltexte
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