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Disziplin,
Doping und
Dystonie
Christian Höppner im Gespräch mit Marie-Luise Neunecker

Der Berufsmusiker kann mit einem Hochleistungssportler verglichen werden. Bei-


de müssen sich fit und ein hohes Leistungsniveau halten. Sie müssen nicht nur ihre
Kondition trainieren, sondern vor allem auch ihr Spiel. Jeden Tag über mehrere
Stunden hinweg. Nicht selten kommt es infolgedessen zu Beschwerden, die sich
immer häufiger auch bei Berufsmusikern finden. Marie-Luise Neunecker, Profes-
sorin für Horn an der Musikhochschule „Hanns Eisler“ Berlin, spricht über mögli-
che Gesundheitsrisiken, die der Musikerberuf mit sich bringt und ihr Engagement
für die Dystonieforschung in Deutschland.

Marie-Luise Neunecker, wie definieren währleisten. Es geht immerhin um die chermaßen zur Verfügung steht. Wird
Sie Kulturelle Vielfalt? Förderung unseres musikalischen Nach- aber weiterhin an der Grundförderung
Kulturelle Vielfalt zielt auf die gesamte wuchses. und an Fachpersonal gespart, so befürch-
Gesellschaft. Aus diesem Grund sollte te ich, dass das Interesse an der Musik
Kultur möglichst jedem gut zugänglich Haben Sie eine Erklärung, warum das schwindet und sie zu einem Elfenbein-
sein und zur Teilhabe einladen. Was dabei Fundament wegzubrechen droht? turm und Elite-Konstrukt verkommen
für alle, die musizieren, gilt, ist, dass die Das liegt unter anderem an den drasti- wird. Wie beispielsweise in den USA, wo
Musik den Einzelnen erfüllen und im Le- schen Kürzungen von staatlicher Seite es die breite, musikalisch ausgebildete
ben weiterbringen soll, egal aus welchem aus. Musik ist ein wesentlicher Bestand- Masse gar nicht gibt. Dort wird die Mu-
Teil der Gesellschaft er kommt, ob Profi- teil unserer Gesellschaft und jedes Kind sikausbildung als Privatsache betrachtet.
musiker oder Laie. Darüber hinaus bin hat das Recht, an Musik zu partizipieren. Meiner Ansicht nach hat der Staat die
ich der Meinung, dass man als Gesell- Was dabei jedoch oft vergessen wird, ist, Pflicht, das Fundament zu bewahren und
schaft darauf achten muss, dass das musi- dass die musikalische Ausbildung von für musikalische Ausbildungsmöglichkei-
kalische Fundament im eigenen Land Kindern und Jugendlichen auch eine ten im Kinder- und Jugendalter zu sor-
nicht vernachlässigt wird. Damit meine Geldfrage ist. Viele Familien können sich gen.
ich, dass es für uns zu jeder Zeit wichtig das nicht leisten. Deshalb wäre es wich-
sein sollte, eine solide musikalische tig, dass in eine permanente, flächen- Förderprojekte für Kinder und Jugend-
Grundsteinlegung in den Kindergärten, deckende musikalische Nachwuchsaus- liche sprießen wie Pilze aus dem Boden.
Schulen und Jugendmusikschulen zu ge- bildung investiert wird, die allen glei- „Kultur macht stark“, ein Programm des

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Marie-Luise Neunecker
Marie-Luise Neunecker schloss ihre Instru-
mentalausbildung im Fach Horn bei Erich
Penzel an der Hochschule für Musik und
Tanz Köln ab. Sie war unter anderem So-
lohornistin der Bamberger Symphoniker
und des Radio-Sinfonieorchesters Frank-
furt sowie u. a. Preisträgerin des ARD
Wettbewerbs und der „Concert Artists
Guild“ in New York. Nach 16 Jahren Pro-
fessur an der Hochschule für Musik und
Darstellende Kunst in Frankfurt wurde sie
2004 an die Hochschule für Musik „Hanns
Eisler“ berufen. 2013 erhielt sie den
Frankfurter Musikpreis.
© Janne Saksala

Bundesministeriums für Bildung und For- Ich habe mit sieben Jahren angefangen, und nicht, wie geplant, in den Schulmu-
schung, „Jedem Kind ein Instrument“ in Klavier zu spielen. Der Klavierlehrer kam sikdienst einzutreten.
Nordrhein-Westfalen, viele Orchester en- zu uns nach Hause. Im Grunde genom-
gagieren sich in sogenannten Education- men gab es keine anderen Möglichkeiten, Ich selbst unterrichte an der Universität
Bereichen. Reicht das nicht aus? außer natürlich dem Posaunenchor bei- der Künste Cello. Dabei begegne ich neu-
Es geht mir in erster Linie um die Nach- zutreten. Dorthin wollten mich meine erdings dem Phänomen, dass die Studen-
haltigkeit solcher Förderprogramme. Brüder aber zunächst nicht mitnehmen, ten von mir beispielsweise Strich- und
Wenn es sich dabei aber nur um kurzzei- weil ich das jüngste Kind und ein Mäd- Fingersätze wollen. Machen auch Sie die
tige Initiativen handelt, reicht es nicht chen war. Erfahrung, dass eine Art Dienstleistungs-
aus. Was passiert zum Beispiel nach Ab- Also habe ich mir mit 12 Jahren das mentalität seitens der Studierenden um
lauf der Förderzeit? Liegen die Instru- Trompetenspiel selbst beigebracht und sich greift?
mente dann irgendwann verbeult in der meinen Geschwistern einen Choral vor- Ich habe Ähnliches manchmal bei mei-
Ecke und keiner kümmert sich mehr da- geschmettert. Sie waren von meinem Vor- nen Studenten beobachtet. Ich könnte
rum? Eines kann daraus mit Sicherheit trag begeistert und so durfte ich schließ- mir vorstellen, dass diese Dienstleistungs-
gefolgert werden: Förderprojekte müssen lich doch mitspielen. Während meiner mentalität, wie Sie sie nennen, dem Zeit-
beständig sein, wachsen und fest in das Studienzeit hat sich das Horn in den Vor- geist geschuldet ist. Natürlich erscheint
Leben integriert werden. dergrund gedrängt und nach einer Mu- es den Studenten zunächst bequemer,
cke in der Stuttgarter Liederhalle fasste wenn man ihnen alles auf dem Silbertab-
Wann sind Sie zur Musik gekommen? ich den Entschluss, Hornistin zu werden lett präsentiert. Aber ein solches Verhalten

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Dienstleistungsmentalität an deutschen Musikhochschulen: Studenten Um der Nervosität entgegenzuwirken, greifen


erwarten zunehmend, dass Ihnen die Partitur mundgerecht serviert wird immer mehr Berufsmusiker zu Betablockern

© Oliver Hoffmann
© keithpix

kann auf Dauer keine Lösung sein. Man es würde sich herausstellen, dass das Ein- Besten, sondern manchmal die besten
muss die Neugier der Studierenden we- nehmen solcher Arzneistoffe in Musiker- drei als Aushilfen engagieren. In England
cken und sie zur selbstständigen Arbeit kreisen weit verbreitet ist. Dadurch heißt das ganz offiziell „On Trial“. Man
ermuntern. Genau das kann eine der Auf- kommt es aber zu einer absoluten Wett- spielt dann erst einmal eine Zeit und
gaben für uns Hochschullehrer sein. Ich bewerbsverzerrung: Wenn ein Musiker dann wird eine endgültige Entscheidung
beispielsweise verweigere mich, wenn mit einer gesunden Nervosität spielt, gefällt.
ein Student meint, er müsse mit mir im kann er von seiner Leistung ca. 80 Pro-
Unterricht üben. Ich zeige ihm in diesem zent abrufen. Aber derjenige, der nun zu Kann man sagen, dass die Betablocker
Fall gerne Strategien auf, wie er sich ein Betablockern greift, spielt plötzlich auf das Doping im Musikerbereich sind?
Stück Musik aneignen kann. Der Student 90 bis 100 Prozent und bekommt die Letztlich ist das schwer zu beurteilen,
muss das Üben und eigenständige Erar- Stelle. Das ist nicht der richtige Weg. Zu denn es gibt auch immer Ausnahmen.
beiten eines Werks lernen. Bei uns Hor- meiner Zeit waren alle nervös und derje- Stellen Sie sich zum Beispiel einen Musi-
nisten kommt noch erschwerend hinzu, nige, der ein bisschen weniger nervös ker mit Bluthochdruck vor. Wollen Sie
dass wir ständig eine Muskeldynamik wie war, der hat die Jury von sich überzeugt. ihm das Probespiel verweigern, weil er
ein Sportler halten müssen. Tun wir dies In manchen Ländern werden solche Betablocker nimmt? Das geht natürlich
nicht, rutschen wir schnell in elementare angsthemmenden Medikamente sogar nicht. Es gibt auch Ärzte, die sagen, es
Probleme ab. Deshalb muss man voller schon in Jugendmusikschulen verwendet. schone das Herz, Betablocker in einer
Motivation und Eigenständigkeit am In- Das Thema muss meines Erachtens konse- extrem belastenden Situation zu nehmen.
strument dranbleiben. quent angegangen werden: Es muss ent-
tabuisiert werden und es müssen Lö- Sie haben ja bei der Verleihung des
Haben Sie eigentlich Lampenfieber? sungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, Frankfurter Musikpreises verkündet, dass
Ja, ich habe bis heute Lampenfieber. Ich wie man als Musiker mit extremen Sie Ihr Preisgeld spenden wollen. Wohin
bin sogar der Meinung, dass man eine Stresssituationen und einem hohen Leis- geht das Geld und mit welcher Zielset-
gewisse Anspannung und Nervosität tungsdruck umgehen kann. zung?
braucht. Für mich ist es wie ein „Killer- Ich werde das Preisgeld einem Projekt
instinkt“, der mir hilft, meine Leistung Wie sehen die Chancen aus, dass sich der Deutschen Dystonie Gesellschaft un-
zu steigern und auf der Bühne über mich dahingehend etwas verändert? terstützend zur Verfügung stellen. Die
selbst hinauszuwachsen. Heutzutage ha- Zurzeit stehen die Chancen eher schlecht, Dystonie ist eine chronische, neurologi-
ben viele der Musiker beim Probespielen dass das Thema öffentlich diskutiert wird. sche Erkrankung, die bisher kaum geheilt
kein Lampenfieber mehr. Es ist schon fast Denn ein Orchester wird nach wie vor werden kann. Solche Fehlfunktionen fin-
Usus geworden, gegen die gesunde Ner- denjenigen Musiker auswählen, der im den sich in hohem Maße auch bei Musi-
vosität Betablocker einzunehmen. Das ist Probespiel am besten spielt. Allerdings kern. Nicht selten bedeutet die Erkran-
natürlich ein absolutes Problem und Ta- muss man der Fairness halber sagen, dass kung für den Betroffenen das Ende seiner
buthema zugleich! Man sollte einmal ei- einige Orchester bereits auf die Situation Karriere als Profimusiker. Man spricht in
ne anonyme Umfrage dazu machen und reagieren, indem sie nicht mehr nur den diesem Zusammenhang von der fokalen

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Dystonie, das heißt, die Störung ist auf liegen bereits weitreichende Ergebnisse und effektive Arbeitsphasen in eine Ba-
eine bestimmte Muskelgruppe fokussiert. aus den USA vor. lance zu bringen. Ich selbst empfehle vier
Bei uns Bläsern betrifft das ganz speziell Stunden Übezeit am Tag: zwei morgens,
die Mundpartie, meist handelt es sich um Rührt das Krankheitsbild aus einer dau- zwei abends. Dazwischen sollten regene-
eine Fehlinnervation der Lippen und erhaften Überlastung bestimmter Muskel- rative Pausen gelegt werden. Das ist aller-
Kinnmuskulatur. Es kommt zu Verkramp- gruppen her? dings im Berufsalltag nicht immer zu
fungen und unter Umständen ist auch Durch Überlastung, aber auch durch fal- realisieren. Umso wichtiger ist die Kennt-
die Zunge betroffen und macht bei Repe- sches oder zu wenig Üben kann es zu ei- nis dieser Zusammenhänge, um gegen-
tition plötzlich etwas ganz anderes, als sie ner Fehlstellung bzw. Fehlhaltung kom- steuern zu können.
sollte. Ähnliches kann man auch bei Gei- men, die wiederum vom Gehirn adap-
gern beobachten, die ihre Finger nicht tiert wird und die gesunden Funktionen Und wie entspannen Sie sich, Frau
mehr koordinieren können. In jedem Fall zunächst zeitweise, später dauerhaft Neunecker?
geht die fokale Dystonie mit einem Kont- überlappt. Dies äußert sich in vielfältig Ich bin am liebsten in meinem Haus in
rollverlust einher. Ich finde es wichtig, auftretenden Verkrampfungen. Mein An- Schweden, spalte Holz, streiche Fenster,
dass über diese Krankheit ausreichend liegen ist, die Studenten und Musiker repariere kaputte Türen und tapeziere
aufgeklärt wird. Denn, erkennt man eine über Präventionsmaßnahmen zu infor- Wände. Wenn ich dort bin, tue ich vor
fokale Dystonie frühzeitig, kann man ihr mieren, um erste Anzeichen einer Dysto- allem bodenständige Dinge, bei denen
entgegenwirken. Ich stelle mir vor, dass nie erkennen zu können und Hilfestel- der Kopf frei ist, ganz ohne Stress und
man vielleicht in Zusammenarbeit mit lung bei einer beginnenden Dystonie zu völlig in Ruhe.
der Deutschen Orchestervereinigung entwickeln. Geplant sind auch Studien
langfristige Fortbildungsmaßnahmen an- über die normalen, gesunden Funktio-
bietet und die Musiker für das Thema der nen, um die Dysfunktionen besser erken-
fokalen Dystonie sensibilisiert. Ich bin nen zu können. Ich sage meinen Studen-
daran interessiert, besonders die For- ten deshalb immer wieder, dass sie bei
schungen in Bezug auf die Fehlhaltungen Überlastung einfach mal das Instrument
im Blechbläserbereich zu unterstützen, weglegen und sich entspannen sollen,
denn es gibt viele Hornisten, die von sonst könnte es durchaus zu solchen Er-
der Dystonie betroffen sind. Für andere krankungen kommen. Im Grunde ge-
Instrumentalistengruppen wie Pianisten nommen geht es darum, Entspannungs-

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Title: Disziplin, Doping und Dystonie

Author(s)/Editor(s): Christian Höppner

Source: Musikforum: Musikleben im Diskurs 11/4 (Oktober-Dezember 2013) 40–43

ISSN: 0935-2562

e-ISSN: 0000-0000

Publisher: Schott Music

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