Entdecken Sie eBooks
Kategorien
Entdecken Sie Hörbücher
Kategorien
Entdecken Sie Zeitschriften
Kategorien
Entdecken Sie Dokumente
Kategorien
[642]
10 11 'O '1
/\ /\ /\ /\
./ \- / `\ / \ / \.
/ \ / `\ / \ / \
_ 100 101 110 111 '00 '01 '10 '11
/\ \ \ \ /\ /\ /\ /\
/' \ // \ // \ // `\ / \ /“ \ / \ / `\
zíiv övtıor äazi, zai flrálw äzsıfıfcov fäzsga μsrašıí. */.ai oiízwg
årzsıga zå övra äozıfi«
In diefen Sägen beftimmt Zeno als erfter den Be-
griff des unendlichen icharf. Er fagt in fragm.1: »nal
mgi 1:05 rrgoıiggovzog 6- aärôg lóyoç« (und von dem Vorangehenden
gilt diefelbe Rede) ›dμoíov dr) roíizo dnaš ze eineív zai dai läyaıv-
(Es ift das gleiche, dies einmal auszufpredaen und immer zu
lagen. -- D. h. »Das gleiche gilt alfo ein für allemal« [Diels].)
Hier ift alfo das ››immeı'- zur Charakteriftik des
unendlichen benugt und die Wiederkehr des
Gleichen. Man kann denselben Logos immer wieder an-
wenden in der gleichen Weite: das kennzeichnet das Hpeiron.
In fragm. 3 wird der Gegenfag diefes io definierten Hpeíron zu
dem ruhenden Sein fcharf herausgeftellt: Eine beftimmte Vielheit ift,
was fie ift, nicht mehr und nicht weniger; alfo fie iit begrenzt.
Hndererieits iit es immer (dei) möglich, zwifchen die vorhandenen
Dinge andere zu legen und wiederum (nzálw) zwiichen iene
andere. - Hlio auch hier die immerwährende Wiederholung. Vgl.
die ariftotelif chen Wendungen: dei åíllo zai ı'í}'.2.o (äregov mi
šzsgor), flålw mai rtálıv. --
flber als flrcheget gleíchíam aller derer, die über das unendliche
philofophiert haben, tritt uns in grauer Vorzeit endlich Hnaxi-
mander entgegen.
Folgende Fragmente find von ihm überliefert:
a) Diels, Voriokratikeri, fr. 9, S. 13, 4, 6-9: Lívašıμávdgog . . .
ågxåv åfgvf/.a zcüı/ övrıuv zö åírveıgov [fvgciirov zoíiro zoıívoμa zoμíøag zii;
ågxijg] äš dn» dä 1'; yšvsaı'-g äau zoíg 0130:, zei zfiv cpåogàv el; raíira
208 Oskar Becker. [648]
fyıfveodao '/.azà zô xgadıv. dıddvou. yàg aårà dıfmyv zai zı'0':,v åÃ2.ij?.0ıg
zi]-g ådtzıfag zazà zfiv zoíi xgóvov zášw. 1
»Z-'inaximander nannte den urfprung der Dinge das unbegrenzte,
indem er als erfter diefen Namen »urfprung<< [dçxıfi] gebrauchte.
Hnfang der Dinge ift das unendliche. Woraus aber ihre Geburt
ift, dahin geht aud-› ihr Streben, nach der Notwendigkeit. Denn fie
zahlen einander Strafe und Buße nach der Zeit Ordnung-=. (Diels.)
b) Diels, l. c. fr. 15, S. 14, 42: folgende Prädikate des äfreigov
werden -genannt: åäávazov und åvcólaàtgov. -- Vgl. dazu auch D io-
genes von Hpollonia (Diels,l.c.51 B,fr.7u. 8, S.339,16-18,
19-21): »zai aôzô μäv zoiito 'wi åidwv zai åäávazov aáiμa, zäh» dä
zà μäv yıfvezaı., zà dä åføoÃ.e:f:zeı.« -- »ållå zoíizo μoı dñlov dozeí eiıfaı,
du zai μäya :cui Eoxvgôv mai åıfdıóv za zai åötávazov zai rcoillá sidóg
äorw (Das >>aäró<< interpretiert Diels als =›urftoff<<, alfo wohl åggıfß
oder azoıgaíov nach fpäterer Terminologie.)
Wir fehen aus diefen Fragmenten: Schon beim erften Philo-
fophen, der fich mit dem unendlichen befaßte, ipielte die Zeit eine
entfdıeidende Rolle bei der Definition des åínssıgov.
flnaximander führt den Husdrudr åêggıi, -Hnfang-, ein. Das
ëneıgov ift ågxıi, weil für es felbft nicht ågxfi fein kann, weil es
felbft, als ohne -Grenze-, keinen Hnfang hat 1. Er fagt weiterhin:
-Die Dinge zahlen einander Strafe nad) der Zeit Ordnung.-
Der ewige Wechiel, der notwendig rhythmiich gedacht werden muß,
der ewige Wellenfchlag der Geburten und Tode, - das ift das
åineıgov als Prinzip (gågxøj). Die Stelle ift alfo nicht moralifch zu
verftehen, fondern fie ftellt einen Husdrucksverfuch des unendlichen
Weltgefchehens dar, - mit Worten, die der Lebensbedeutfamkeit
entnommen iind. Das flpeiron ift die urkraft (vgl. Di o g en es v o n
fipollonia), die das Werden nicht aufhören läßt2. - O
1) Vgl. Hri ftoteles, Phyf. Ill, 4 (203 b, 4-7): srhlóyr-ig dä :mi åggfiv
aöfô (sc. 'tö äntøgov) nfišadı. fnívtëç . . . ı'c':fraı›°foı ydzg ii ågxñ ñ äš ågzfiç' 'roü dä
åneípov oüx äarw ågxıj' ein yàg fir aöroü nšgaç.
2) Vgl. fr. 10 (Diels l. c. 13, 31-33, 34-35), das aus Theophraft
ilamml: ånecpøfivaro (flnaxímândet) dä tüv cpäogàıf yc'veo'¬imı. :mi noir) ngórëgov
1i;ı›y.s'vwı.v §5 åneígov afâıvoç åvuxıfxlovμëvwv ncívfwv aäzäiv. -- qmai dè
rô äx toü âıdíoıf yóvıμov -'ıtegμoü za). ıiıvxgoü Jmfà 'rigv yšıfww foñde T017
xódμov ånoxgzåiñvm . . .
Dazu vgl. die Interpretation von K. Reinh ar dt, Parmenides und die
Gefchichte der griechifchen Philofophie. (Bonn 1916), S. 253 ff., 258.
Es fei auch auf Reinh ardts Bemerkungen über die grammatifche
Natur des Wort es ıàanrgov- (fubftantiviertes Neutrum eines Hdjektivums)
hingewiefen (1. c. 251 if.), die es als philofophifchen Terminus befonders
geeignet fein läßt.
[649] Mathematifche Exiftenz. . 209
1) Dazu die icharfe Erfaffung der -inneren« Bewegtheit -in der Seele-=:
säμa yàg xwıiøewg aíaäaıvóμeda xai. ggóvov' xai yàg äàv gj Gzótog, xa) μnäèv dad
zoü móμaroç náaxmμëv, xı'ı›:;6cç dä fig šv rf; ıpıçgfi åvfi. 5531); díμa düzff Tlfš 7/ê}'0Vê"VM
....1 39840;. - Pbyfik IV, 11 (219 a, 3-6).
210 Oskar Becker. [650]
ftändlichkeit gibt und daß ihr Sein gemeffen wird durch den Zahl-
charakter, in dem fie ift. So, wenn fie in der Zeit ift, durch die Zeit.)
Doch darf andererfeits diefes an fich wichtige Moment des
-Meffens« auch nicht überfchägt werden, als ob alle Zeit nach unab-
änderlich quantitativen Maßftäben gemeffen werden könnte. Die
Heraushebung der ordnungshaften Seite der Zahl ift entfcheidend:
das, was die Zeit zum Zahlcharakter macht, ift allein das Früher
und Später 1.
Darüber finden fich wenigftens bei Simpli cius Äußerungen
von einer auch heute noch unübertroffenen begritflidven und termi-
nologifchen Schärfe: 5
p. 713, 17- 19: díaze fvavrá;go3sv zoii xgóvor äifvoıa äyg/ívezaı
zråö dıalaμßáı/s03aL zô ztgózegov zai iíazegov zijg zcınjaawg' dcalaiμfiá-
rstaı. dä, özav dig åíllo zai fälle l2;(p33'§, zovzäo'-zw Star åQı3μ1;3§;.
(So daß überall das Erfafíen der Zeit dadurch gefchieht, daß
das Früher und Später der Bewegtheit auseinandergehalten wird;
es wird aber auseinandergehalten, wenn es wie ein anderes und
anderes genommen wird, das ift, wenn es gezählt wird.)
p. 714, 10-16: */.ai d μäv ågıdμciiv cigıäμôg oíäd” ágμóaeia zii?)
Zgóvcy dıgygøgμävog yág šarı zai od awfäggijg. 6 dä ågıäμoıiμevog dıiıfarai
zai avvsxfig sivaı, cåg zô dógv zö ävdszáfmyxir. 'zai zô ågıdμodicavov dä
dizzóv, zö μäv */.azdı zô fcoaóv, cåg Ãäyoμev duo ^/.ıwfiaeıg ij zgsíg, zô dä
af-.ard zfåv zášıv, cb; íláyoμev zazå zifiv fvgozägar zıfvøyacv ^/.ai ıfiazägaıf.
dsišac oda» fiodlezaı, der ågıßμóg äau mvijaecug 6 xgórog icai cfıg ågz3~
μo-ıfμsvog zai cög icazå z¬r}v zášcv ågcdμoäμerog. oífrog yåg i'dı0g.
(und die zählende Zahl paßt nicht zur Zeit; denn fie ift diskret
und nicht kontinuierlich. fiber die gezählte Zahl kann auch kon-
tinuierlich fein, wie der elf Ellen lange Speer. Fiber auch das
-Gezählte« hat zwei Bedeutungen: erftens meint es das Wieviel,
wie wenn man fagt: 2 Bewegungen oder 3, zweitens aber die Reihen-
folge, wie wenn man fagt: die frühere oder fpätere Bewegung.
fi. will nun zeigen, daß die Zeit ein Zahlcharakter der Bewegung
ift, und zwar als gezählte Zahl und als Ordnungszahl. Diefer Zahl-
charakter ift fpezififch) 2.
Damit ift alfo das Sein der Bewegtheit als folcher in enge Ver-
bindung gebracht mit dem Sein der Zahl.
faxrcxóg, draw Äšywμw ngôütov deıfregov ~rpı'¬roı›, focofiróç äarw (í:gı.19'μöç 6 ;_f9óı'o;
dcô xaräc td fıgóreçov xai f5arf(›o~v åıpogíšcrac.
(Die Zahl aber hat zweifache Bedeutung, einmal als die zählende oder
zählbare Zahl des Wieviel, wenn wir fagen eins, zwei, drei; dann als
Ordnungsz ahl, wenn wir fagen das erfte, zweite, dritte: eine folche
Zahl ift nun die Zeit. Deswegen wird ñe mit Bezug auf das Früher oder
Später abgegrenzt ldefiniertl).
1) Zu der ganzen Darlegung ift zu vergleichen die platoni fche fib-
ieitung der Zeit aus der Ewigkeit, bei der die Zahl ebenfalls eine entfcheí-
dende Rolle fpielt: Timäus 37 D: I
>›fízd› d'š2'uıfo&ı`. (sc. d dıyμcoügyoç) zwıgtóv In/rz aflüvoç noøñoaı, xai dra-
xaaμfüv fšμa oågccvàv note? μšvovzoç aitüvoç åv švi xrzt' åQz3μ.öı› íaüüav
ai'u5ı.›ı.ov sixóva, toürov 31» dig Xgóvov dmoμfíxaμeu«
Die Zeit ift alfo das »bewegte Bild der Ewigkeit« oder genauer »das
gemäß der Zahl laufende Ewigkeits-Hbbild, während die Ewigkeit im Ein-
haften verbleibt-.
Vgl. dazu Simplic i us, l.c. 703, 7-9; 717, 21- 718,12.
[653] Mathematifche Exiftenz. 213
1) Vgl. dazu außer der oben (S. 91, Finm. 2) zitierten Stelle aus der
»Kritik der Llrteilskraft« (1. fiufi. S. 86) den ganzen § 26, wo der
Sachverhalt ausführlich erläutert wird.
215 Oskar Becker. [656]
In der Tat: find fchon große endliche Zahlen nicht anders als
zeitlich aufzufaffen (in der Weile eines geregelten Durchlaufens an
der Hand eines beftimmten -figuralen Moments-), fo gilt dies von
unendlichen Zahlen erft recht (Husserl)1.
Damit ftimmt denn auch Kants eigene Huffaffung in dem Hb-
fchnitt über die Hntínomíen überein. 1
Das ›fchlechthín unbedingte-, die ganze (unendliche) -Summe
der Bedingungen« kann nur in der Form einer (unendlichen)
R ei h e von einander untergeordneten Bedingungen gegeben werden.
Obwohl z. B. der (unendliche) Raum an fich keine Richtung enthält,
mithin keinen unterfdaied von Progreffus und Regrefíus, weil er
ein -Hg g reg a t, aber keine Reihe ift« (›indem feine Teile insgefamt
zugleich ñnd-i), fo ift doch -die Synthefis der mannigfaltigen Teile
des Raumes, wodurch wir ihn apprehendieren, fukzeffiv, gel'chieht
alfo in der Zeit und enthält eine Reihe- (B 439).
Flhnlidı im Beweis der Thefis der I. fintinomie: »Nun können
wir die Größe eines Quanti, welches nicht innerhalb gewiffer Gren-
zen jeder Hnfchauung gegeben wird, auf keine andere Hrt, als nur
durdø die Synthefis der Teile und die Totalität eines folchen Quanti
nur durdı die vollendete Synthefis oder durch wiederholte Hinzu-
fegung der Einheit zu lid) felbft gedenken* (B 454, 456).
Dazu die Hnmerkung: »Der Begriff der Totalität ift in díefem
Falle nidıts anderes, als die Vorftellung der vollendeten Synthefis
feiner Teile, weil, da wir nicht von der Hnfdıauung des Ganzen
(als welche in díefem Falle unmöglich ift) den Begriff abziehen
können, wir diefen nur durch die Synthefis der Teile, bis zur Voll-
endung des unendlichen, wenigftens in der Idee faffen können«-.
und endlich die genaue explizite Beftimmung des unendlich-
keitsbegriffs in der Hnmerkung zur Thefis der 1. Fintinomie: Fehler-
haft ift der Begriff der ›Dogmatiker«: -unendlich ift eine Größe,
über die keine Größe möglich ift- (B 458). -Der wahre (tranfzen-
dentale) Begriff der unendlichkeit ift: daß die fukzeffive Synthefis
der Einheit in Durchmeffung eines Quantums niemals vollendet fein
kann- (B 460). (Vgl. Diifertation von 1770, sect. I, § 1, finm. 2.)
Man vgı. wieder Hriftoteles (Pbyfi1<.l11,6; zosb, aa -201a, 2);
›Svμßaı'veı dä roävavzíov sivaı. ärcaıgov, ij áıg i.e';›ovaı° 013 yåg od μøgdäı»
ššw, ci)./'L' od dei rc ä'§a› äazí, zoíiıo åíıvaıgóv äuuıfc. _
Das Ergebnis diefer fchnellen Durchmufterung der Meinungen
Kants über Zahl, Zeit, unendlichkeit ift die Feftftellung einer
1) Vgl. die Darftellung in § 5a I. (S. 90-94.)
[657] Mathematifche Exiftenz. 217
ift. Sehr bald wird die größer werdende Menge nur noch dem
durchlaufenden Blick faßbar; wozu diefer Blick einer Füh-
run g durdı ein beftímmtes ›figurales Moment- bedarf. (Man denke
etwa an ein Hingleiten längs einer auffallend lich heraushebenden
Linie, an der man -entlangzählt-.) Damit tritt die Zeit in ihr
Recht. Dieles Durchlaufen braudit Zeit, alfo auch das Zählen. und
zwar ift dies nicht nur eine Trivialität - infofern alles Bewußtlein
in der Zeit ift -, fondern es gehört zum Sinn des Zählens und
der Zahl felbft, daß die Zeit dazu benugt wird den phänomeno-
logilchen Zugang zur Zahl zu verfchaffen. Die (größere) Zahl ift
nicht anders -originär« faßbar als im zeitlichen Zählprozeß. Das
unendliche ift prinzipiell niemals anders »gegeben-= als im offenen
Horizont des -Immer-Weiter--Zählens. Das dai frálw zai n:áP.ıi››
beftimmt die ontologilche Struktur des åíføsıgov als zô šv zig? yıfı›sa.9aı
zô eivaı šjgov. Deshalb ift es di-váμec ör, aber nidıt wie das -poten-
tiale- Erz in bezug auf die =›aktuale« Bildfäule, - fondern dig ij ijμégrr
:wi 6 ci;/cóıf: wie ein unbegrenzt fich wiederholender zeitlicher
Rhythmus.
fiber - lo richtig dies alles ift - damit ift noch nidit alles ge-
fagt. Es find die neuen phänomenologifdven Möglichkeiten, die
lid) aus dem Cantorldıen transfiniten Progreflus und der
Brouwerlchen -freien Wahlfolge- ergeben können, noch
nicht herausgearbeitet. Die -freie Wahlfolge- und der transfinite
Progreß find Formen unendlicher »Folgen-, die bisher nodv nidvt
auf ihre Zeitlichkeit hin betradıtet wurden. Vielleicht find es Phä-
nomene, die fich nicht dem Prinzip der Wiederholung oder beller.
der ltändigen Wiederkehr des Gleidıen fügen.
Denn z. B. die freie Wahlfolge trägt doch in lid) kein Prinzip,
das fie durd› ftändig wiederholte flnwendung derlelben Regel ins
unbegrenzte zuftande brächte. Zwar -›wähle« id› immer wieder,
aber doch eben -frei-, d. h. immer etwas Neues, eine neue Zahl,
die in keinem fchon vorhandenen Geleg enthalten ift. Jede Wahl
ift eine fdıöpferifche =-Tathandlung-, nidit das vorausfehbare Ergeb-
nis einer mechanildıen Redmung 1.
In einer anderen Weile entgeht die Reihe der transfiniten Ord-
nungszahlen dem Sdıicklal, eine -fchledite unendlid›keit- in H e g els
1) Ebenlo ift es, wenn die Zahlen einer werdenden Folge nach-
einander durdı Redmung zuftandekommen, ohne daß vorher voraus-
zulehen ift, welche Zahlen kommen werden oder auch welche Eigenfchaften
die kommenden Zahlen haben werden. Man denke an gewilfe zahlen-
theoretilche Probleme, wie das der ›Zwillingsprimzahlen-= ufw. (l. S. 66-68).
[659] Mathematifche Exiftenz. 219
Blickt man nun auf diefe neue Hrt ins Unendliche zu gehen, die
bei der Wahlfolge und dem transfiniten Progreß auftritt, hin, io erhebt
iich nunmehr die ontologíídve Frage nach der Weite der Zeit-
lichkeit, die diefen ›l.Inendlichkeiten« als ipezififdven Phänomenen
eignet. Es handelt iich jegt nicht mehr um das ariftotelifche öínaıgov
åvváμeı å`v ofıg frjμšga */.ai Ö åyufm Die yšvsoıg, die jeßt in Frage
fteht, ift eine neue und andere. Der ågıåμôg ^/.mfioewg diefer
neuen ›Bewegtheit« ift nicht mehr die alte natürliche Zahl, die
ins Indefinite, aber nicht ins Transfinite läuft und auch nicht »frei
gewählt« wird. Zugleich hat man hier nicht mehr diejenige Zeit,
die »die Bewegtheit« auf ihr Sein hin mißtl. Denn gerade das
Meiien befteht ia in dem wiederholten Hnlegen ein und des-
íelben Maßítabes, der die Einheit darftellt. Es entfpricht da-
her der natürliduen Zahlenreihe, wie ia fchon Euklid die Zahl
als Vielheit von Einheiten definiert“.
Welches ift nun diefe Weiie der Zeitlidıkeit, die ihrem Sinne
nach keine meiiende (und im gewöhnlichen Sinn zählende) Funktion
ausüben kann? Sie ioll mit dem Terminus ıhiftorif che Zeit-
lichkeit« belegt werden; - aus Gründen, die ipäter zu er-
örtern find.
B. Die hiítoriiche und die naturhafte Zeit.
Diele Weiie der Zeitlidøkeit ift zuerft von Heidegger phäno-
menologifdı beicbrieben worden. Wir geben im folgendenzunächft
einen freilidv äußerit kurzen Hbriß der H eideg geríchen De-
ikription 3.
in feiner Weile ausdrückt. - Endlich fei auf das unten (S. 228) in extenso
angeführte Stück aus der Vorrede zur ~Phänomenologie des Geiftes«
(S. XXXVIII) hingewiefen, wo der Hegeliche Grundgedanke in feiner
fríi h en Faiiung beíonders lebendig ericheint.
1) Vgl. »ami š0'n ıfi ıtwrjøu 16 iv 193 xgóvqı ıivou. rà μergeíoärrı, iq) xgóvqı :cm
aüfiμf mi. fà eívm miıñc-=. (Hrift. Pbyf. IV, cap. 12, p.221 a 4--5.) - Vgl. o. S. 210.
2) Euklí d, Elemente VII, Def, 2. ågıßμôç dä rè šx μovrídwv auyxııíuevov
711-ñ90;. - Vgl. ferner die eigentümliche Kant-»Stelle (Kritik der reinen Ver-
nunft B. 300): »Den Begriff der Größe überhaupt kann niemand erklären.
als eben fo: daß fie die Beftimmung eines Dinges fei, dadurch, wievielmal
Eines in ihm gelegt ift, gedacht werden kann. Hlleín diefes Wíevielmai
gründet fich auf die iukzeiiive Wiederholung, mithin auf die Zeit und die
Syntheñs (des Gleichartigen) in derfelben.- -
Hllerdings ift zu bemerken, daß man bei einer infiniteñmalen Maßein-
heit ñdı mit der Gleichheit unmittelbar benachbarter »Einheitsftreckenı be«
gnügen kann. (S. u. S. 225 Hnm. 2.)
3) Hls Quelle liegt im weientlichen zugrunde ein vor der M a r b u r g e r
Theologenfdıaft am 25. ]uli 1924 von H e i de g g er gebaltener Vortrag mit
[661] Mathematifche Exiftenz. 221
dem Titel »Die Zeit-, (Nicht veröffentlicht. - Die jegt gedruckte Husführung
in »Sein und Zeit« konnte im Text noch nidvt berüdıfichtigt werden.) Die
Wiedergabe fdıließt iich möglichft eng an eine Nachfchrift des Vortrages
an, die mir zur Verfügung ftand. Vollftändige Treue der Wiedergabe war
natürlich nicht zu erreichen. Doch habe ich an den markanteften Stellen
(nidvt bei allen übernommenen Husdrücken) Hnführungszeichen gelegt.
222 Oskar Becker. [662]
er midi für toll halten würde: aber idw weiß auch, daß es fehr viel
toller ift, zu glauben, die heutige Kage fei durdı und durd›
und von Grund aus eine ganz andere, als jene vor dreihun-
dert ]ahren«1. (Vgl. Hriftot., Metaph. Z, c. 7, p. 1032a 24-25:
if- xaıå rô eidog_Äeyo_uåm; cpåaıg 1) óμoeıdıfig' aiín; d'åv Zíllgu' Zívågcofroç
yàg åívågwfvov yevvıš.) `
Die genaue Gleichheit ift empirifdı (wie alles ›Genaue«) zwar
niemals verwirklicht, aber fie ift (ideal) möglich: man kann lich
genau gleiche Wiederholungen d enk en, die Hbweidıungen find »zu-
fällig«. Ein Naturvorgang läßt fich in zeitlicher Hinficht direkt kenn-
zeichnen als ein zeitlicher Hblauf, was befagt, daß eine genaue
Wiederkehr wefenhaft möglidı ift. So legt z. B. eine Uhr idealiter
eine folche genaue Wiederkehr voraus, fie ift ein Hpparat, um einen
rein periodifchen Vorgang hervorzubringen 2. Denn nur fo
kann die zeitlidıe Maßeinheit von einer Stelle zur anderen über-
tragen werden.
Von der Seite des Gedächtnilfes aus erldieint diefe primitive,
naturhafte Zeitform als die bildhafte Wiederholung einer vergangenen
Situation und Situationskette (die wie ein Film wiederholt »ab-
rollen« kann)1 - im Gegenlag zur hiftorifchen Erinnerung , dem
expliziten Sich-Fineignen der eigenen Vergangenheit, die man zu-
vor fchon »ift-. - -
Dagegen individuiert die hiftorifc:he Zeit durchaus nicht in diefer
Weile der ›Vereinzelung« ganz gleid›er, nicht mehr fpezifizierbarer
Gegenftände. Sie individuiert nur fo, daß jedes Individuum jeweils
auf feinen eigenen Tod verwiefen wird, für den es fich nicht irgend-
wie vertreten laffen kann. »Im Zukünftigfein wird das Dafein es
felbft, wird fiditbar als die einzige Diesmaligkeit feines einzigen
Sdıickfals, in der gewilfen Möglídıkeit feines einzigen, einmaligen
Vorbei. Dies verhindert aber gerade, das Individuum als Husnahme-
exiftenz aufzufaffen, fdılägt gerade jedes Sidi-Herausnehmen mit
einem Schlage nieder, individuiert fo, daß es fie alle gleichmacht:
im Beifammenfein mit dem T o d e , wo keiner vor dem anderen aus-
gezeichnet ift, in einem Wie, in dem alles Was zerftäubt.-1 (Heid-
egger, Zeit-Vortrag.) - -
Es handelt fich nun darum, das Formale diefer hiftorifdien
Zeitlichkeit herauszuheben.
Gleidıen in der Kette der Zeugungen (qušmç óμoucifjc Hriftoteles) gilt
nur im infinitefımalen Bereich, der die gefamte zeitliche Erftreckung der
menfchlid›en Gefd›id›te enthält. im Großen ift der Prozeß nicht in t e g r a b el ,
d. h. Raffen und felbft Tierfpezies ändern lidı in den »biologifch großen-
Zeiträumen. [Man führt ››die Rückkehr zum Husgangspunkte« durd›, indem
man etwa ein fofiiles Skelett mit dem des entfprechenden heutigen Tieres
vergleid¬›t.] - - Doch ändert all dies an der Gegeniiberftellung von Natur-
zeit und hiftorilcher Zeit nichts; denn die hiftorilche Zeit hat audi »im
Infinitefimalen« grundfá§lid› keine Möglidikeit der Wiederkehr.
1) Neuere pfychologifche und ethnologii'che Forfchungen haben einerfeits
die »fubjektiven optifchen Hnldaauungsbilder« als primitive Gedäditnisleiftung
aufgewiefen (E. R. J aenfdı), wobei es auf die ››objektive<< Treue im Ver-
hältnis zum ››Reizvorgang<< nid›t fo fehr ankommt (diefe ift im primitiven
Seelenleben in mandaer Hinñcht geringer als beim ausgebildeten), fondern
nur auf die Gegebenheit des ››eidetifchen« Bildes (Jaenfch) als
eines gegenwärtigen.
Hndererfeits ift auf die ungeheure Gedächtnisleiftung der Primitiven
hinzuweifen (wörtliches Rezitieren langer Epen, Wiederkennen aller Einzel-
heiten eines langen unüberfidıtlichen Weges ufw.), die iich nur durdı ein
››Wiederabrollen- des Original-Vorganges verftehen läßt. (Lévy-Brühl,
H. Schweiljer u. a.).
[667] Mathematifche Exiftenz. 227
dem exquifit Faktil chen, dem »Zu-fälligen« (dem, was ihm als
Einmaligem gerade zu-fällt), díefem konkreten Vollzug, für den es
keine allgemeingültige, überzeitliche Norm gibt. Der Geift ift in
díefem Vollzug ganz auf lich felbft angewielen, auf lich felbft zurüdc-
geworfen, fidı felbft allein verantwortlidi, aus feiner eigenen Subftanz
lebend -: frei, aber einfam und im Dunkel, das er nie felbft er-
hellen kann. -
Die Struktur der hiftorifdien Zeit erweift fidı fo als eine dop-
pelte: ein gleichförmiges formales Schema, das feinem Zeitcharakter
nach eigentlich felbft natur-zeitlidı ift, und ein ganz unfchematildves
Sdıaffen, das zugleich ein immerwährendes Sterben ift.
.Die formale Struktur der hiltorifchen Zeit .erlcheint alfo mit
einer merkwürdigen Paradoxie behaftet. Sie ift, foweit fie eigentlich
f o r m al ift, unrein, enthält ein ihr fremdes, nicht-hiftorifdves Moment,
- foweit fie aber hiftorifch ift, ift fie formal ganz unfaßbar: der
konkrete Vollzug hat keine Gemeinfamkeit der Form.
Das weift darauf hin, daß der Begriff der Form felbft ein
nichthiftorifcher Begriff ift und daher dem Hiltorifchen legten Endes
nidıt adäquat. Woher kommt denn dann aber der formale flnteil
in der bifmiraıen zeicıidıılem
s Die Hntwort lautet: Es wurde in der vorangegangenen Erörte-
rung der urfprünglidı hiftorifche Zeitbegriff des Individuums
außer advt gelaflen zugunlten der Zeitlichkeit der hiltorifchen
Gruppe. Damit ging aber viel von der legten Zulpigung des
H ei d e g g erldıen Zeitbegriffs verloren; fo vor allem die Beziehung
auf den eigenen Tod, mit dem es wirklidv zu Ende ift. Die fter-
bende »Generation-= kennt ihren Nachfolger, ihre Beziehung zur
Jugend ift nicht eine rein negative, nidıt nur Haß, fondern aud›
Liebe. Der einzelne Menfch hat in díefem Sinn keinen Nadıfolgerl;
lichkeit kommt alfo durch fo etwas wie eine doppelte Negation zuftandel).
Id› mödıte glauben, daß mit diefer merkwürdigen Erlcheinung H egels
eigentümliche Lehre vom »Ende der Geldıichte« zulammenhängt. Die Ge-
ld›id›te muß zu Ende gehen: - denn die diefer zugrunde liegende Zeitlichkeit
(die, wie ich darzulegen verluchte, zuerlt von H e g el mittels feines Begriffes
des ~fIufhebens- [= Vernichten und dod› Bewahren] ihre, wenn aud›
unvollkommene, Explikation fand) ift endlich.
1) Das Verhältnis von Eltern und Kindern ift kein urfprünglich hifto-
rifches, fondern ein naturhaftes. Geiftige Schüler- oder Jüngerfchaft wäre
vielleidıt die einzige, aber fehr inadäquate Parallele. Denn der Schüler ift
nidıt frei. Hiltorifdi denkt dagegen Nieg lch es Zarathuftra, wenn er fagt:
»Nun heiße ich eudv, mich verlieren und eudı finden; und erft, wenn ihr
mid: Fille verleugnet habt, will idı Euch wiederkehrenm (fillo fprach
Zarathultra, I. Teil, Von der fdienkenden Tugend, 3.)
[673] Mathematilche Exiftenz. 233
Der ››flblernende« muß fich mit feiner Faktizität der des Lehrers
angleicben, er muß es »fo machen wie er« und legtlich alfo auch
felbft erfahren, in ähnlicher konkreter Lebensñtuation, im faktifchen
Umgang mit den Dingen. Zu diefer Selbfttätigkeit allein leitet ihn
der Lehrer an. - Der eigentlich oder ›bloß« Lernende aber foll dies
nidvt brauchen. Ihm wird das Wiffen gegeben, er braucht es nicht
felbft zu erwerben; er braucht nicht irgendwie Hand anlegen, er läßt
es iich vorführen, vorlegen.
Kann man aber auf díefem Wege überhaupt zu echtem
Wifien gelangen? lft diefes Lernen nicht ein bloßes uneinfichtiges
übernehmen von der Hutorität des Lehrers, alfo ein »Sich-Einlernen«,
das zu keiner eigenen Überzeugung führen kann?1
In der Tat liegt eine Schwierigkeit im Begriffe des eigenh-
líchen Lernens, das weder ›Hblernen« noch »Sich-Einlernen« fein
foll. Das. was in díefem ftrengen Sinn eigentlich erlernbar fein
foll, muß in fıdı felbft einen ganz belonderen Sinncharakter haben.
Es muß von der fpezififchen Verfchiedenheit der individuellen
Lebenserfahrung unabhängig fein und es muß andererfeits auch
trotzdem der eigenen Einficht zugänglich fein.
Dies ift nun in der Tat das Eigentümliche math ematifoher
Zufammenhänge, daß »ihr Gehalt offen zutage liegt« (Hri ftoteles:
'rföv ôå (SC. μaåegμarmíiıf) rô 'uf åørıv mia: åíó`1;Äov.)2 Sie haben alfo
einen eigentiimlichen Sachgehalt, der in iich finnvoll ift, ohne
Rückiicht auf den Erfahrungszufammenhang, in dem er auftritt.
Daher ift es in gewiflem Sinn wirklich richtig, das Eigentümlidıe
der mathematifchen Erkenntnis vom ›Objekt« her zu beftimmenfi
Huf der anderen Seite ift ein folcher erfahrungsunabhängiger
Sinngehalt etwas fehr Rätfelhaftes. Denn die Dinge der Umwelt
find dod› nur im Zufammenhang der Lebenserfahrung. Sie find
1) Es wird hier abgeiehen von der Erwerbung von Wifien aus autori-
tatlver Tradition, z. B. in religiöfen Fingelegenheiten, in der Sitte und im
Recht. Dies möchten wir nidıt als ›Lernen- bezeichnen.
2) Hn der fchon früher (S. 190, Hum. 2) zitierten Stelle Eth. Nic. V1, 9
(1142a 20). Der Kontraft dazu ift die Erkenntnis der wirklidıen Natur, deren
Urfprung in der Erfahrung liegt; davon können lich die jungen Menfchen nicht
felbft überzeugen, fondern lie reden bloß (ohne Einñcht) darüber. (mv J' ai
ågxai .EE šμns:9ı'o:ç' xai rå μåv 0:3 manıíovow of všoı, ållà lšyouaw, I, C, 19--20),
3) S n e ll erwähnt noch (l. c. S. 19 Hnm. 5) die in der Tat merkwürdige
Tatiache, daß die pailive Verwendung von gfrywíaxw außer bei den mathe-
matil'ch gerichteten ›Pythagoreern« fehr felten ift. (Bllerdings ift die Echt=
heit der P hilo l a o s -Fragmente von E. Fran k beftritten worden.) Das
Mathematiíche ››wird« in der Tat »eingefehemg von wem, ift belanglosl
[679] Mathematifche Exiftenz. 239
jedem Einzelnen feine eigene frühe Kindheit, bei jedem Volke feine
vorgefchichtliche Epoche, bei der Menfchheit überhaupt das »Früh=
menfd'›liche«, das primitive Seelenleben. Es ift nicht im groben Sinne
»vergangen«, es lebt noch in uns, obzwar verborgen: als das fogenannt
»Unbewußte« oder »Unterbewußte«, wie wir fagen wollen: als das
Subhiftorifche.
Platos Thefe von der åváμwgaıg ift alfo zu interpretieren als
die Behauptung des prähiftorífchen bzw. fubhiftorifchen
Urfprungs mathematifcher Erkenntnisl. Es ift gewiß
nicht nachweisbar, daß Plato dies mit voller Klarheit gewußt hat.
Schon deshalb nicht, weil ihm der explizite Begriff des Hiftori~
fchen fehlti, wie eigentlich der gefamten Hntike. fiber er hat in-
tuitiv die Spannung zwifchen Hiftorifchem und Nicht-hiftorifchem er-
kannt und die Hbfeitigkeit und Husgefondertheit des Mathemati-
fchen von allem übrigen Wiffen empfundenf und fie tieffinnig ge-
deutet als Zugehörigkeit zu jenem vorzeitlichen Bereich. Diefe
kühnen Hhnungen Platos können uns aber heute noch zum Leit-
faden dienen und den Frageanfatj nach dem Seinsfinn des Mathe»
matifchen wenigftens andeutungsweífe geben.
C. Die Hbftraktion (cicpmbecm) als das Kennzeichen des Mathematifchen.
(Hriftoteles.)
Es kreuzt fich allerdings fchon in der Hntike noch ein ganz
anderer Gedankengang mit dem platonifchen, der ebenfalls unfere
äernftefte Beachtung verdient. Er rührt von firi ftoteles her und
wurde teilweife fchon früher (§ 6a) betrachtet- Es handelt fich um
die Kennzeichnung des Mathematifchen als des flbftrakten, als das
was »ôıf åmatgáaeóg åaw›<< 1. Diefe Kennzeichnung ftempelt das Mathe-
matifche zu einem Moment am Sein, es nimmt ihm das felb~
ftändige Sein, drückt es unter das volle Sein herab. Genauer ger
fagt: das Mathematifche exiftiert eigentlich nur als Korrelat einer
beftimmten »aphairetiichem Weife der Betrachtung. Diefe betrachtet
gewiffe an und für fich nicht »getrennte-= Seiten des finnlich ver»
nehmbaren Dinges als getrennte (rei μaäøyiıarıxå oå aexwgıaμéva 015,;
zexıagıajıáva ı»osí)2. Damit betrachtet aber der Mathematiker die
Eigentümlichkeiten des Naturdinges nicht als folche, in ihrem eigent-
lichen Wefen, fondern »als nicht-folche«, alfo uneigentlich. Es ift
zum genauen fachlichen Verftändnis erforderlich, auf die Texte im
einzelnen einzugehen. ö cpramôg frsgi å'rrav3` 50a 'mii zoıovôi crcåμarog
:car: rig 'rouriírøyg íiløyg šfg;/a xai fıotfhg' 30a åå μif; zotcrišra, åílflog (naß
fragt) z:ı›c'i'n› μâv rexvirøyg, ååv 1153537, ofov 're'-mwv ij fafvgôg), zföv Öå μøj
xwgıoroüv μäv, dä μıj zoıoórov odıμarog rcáåøy 'xai åš åcpaıgå-
aswg, Ö μaqμarızóg, ñ åê xaxwgwμäva ö rrgcörog q›ıló0oç›og. (de anim.
I, 1; 403b, 11-16.) (»Der Naturforfcher betrachtet alles, was zu
einem folchen Körper hier gehört und die Leiltungen und Zuftände
eines folcben Stoffes. Was aber »nicht als lolches« 1 angefehen wird,
das unterfucht ein anderer llo, wenn fıchs trifft, der Mann der Praxis,
wie der Zimmermann oder der ñrztl, das aber, was nicht (an fich)
abgetrennt ift, betradıtet - aber infofern es nicht Zuftändlídıkeit eines
foldıen Körpers ift und fofern es aus der flbltraktion ftammt - der
Mathematiker; fofern es aber (an fich) Hbgetrenntes ift, der erfte
Philofoph«.) Befremdend ift auf den erften Blick vielleicht der Ver-
gleich des Mathematikers mit dem rsgvirqç, dem Handwerker und
Hrzt. fiber diefer Vergleich führt gerade die Hbhängigkeit des
Mathematifchen von der Weife der Intention, in der es erfaßt wird,
deutlich vor Hugen. Der Zimmermann nimmt den Stamm, der an
fich felbft die Leiche eines pflanzlídıen Organismus ift, als Bau-
material, der Hrzt den Saft einer Pflanze oder ein Salz etwa als
Hrzenei oder als Gift. Beide haben die Dinge unter einem be-
ftimmten Hfpekt. fihnlich der Mathematiker, der etwa die fteinerne
Säule a ls Zylinder nimmt. den Ball als Kugel, die Kante des Steines
oder den Lidvtftrahl als Gerade 2. Hllerdings ift diefe Weife des
Habens von Gegenftänden immer noch wefenhaft auf fie bezogen
und »trifft« nidıt einfach »auf fie zu« (avμßaíver, wovon :card
avμßsßøyzóg) 3.
Das geht am klarften daraus hervor, daß die mathematifchen
Wiffenfchaften eine ganz beftimmte Beziehung zu den Wirklichkeits-
1) Der Text ift hier leider unñcher: 403b 12 haben die meiften Hand-
fchriften öaa dä μà gj mmüm Cod E hat åfv; das hieße: »Was aber nicht fo
befchaífen ift« bzw. ››war«. Simplicius zitiert aber die Stelle mit (dies
übernimmt Biehl-Hpelt nach dem Vorgang von Boníl3); danach haben
wir überlegt, denn nur lo erhält die Stelle die volle Schärfe des Husdrudcs.
Gerade die eigentümliche Wendung »μñ 1] 'r0mı7w<< »nichtlals lolches« ginge
fonft verloren zugunlten eines gänzlich trivialen Sages.
2) Vgl. Phyfik II, 2 (der ganze erfte Teil des Kapitels ift in Betracht zu
ziehen bis 194 a 12). - 194 a 9ff.: åll' ij μiv yrwμngía mgi 9/9“.“μñ§ çivaixñc Q
oxonsí, till' oı`›;(`fi (pvcnxıj, vj crônrıxñ μaäıjμarøxigv μåv ygaμμıjv, dll' 05:1 gj
μaßıgμnrıxij åill' (pvcnxıj.
3) Die Weile, wie firi ft oteles die Dinge der »Umwelt« ñeht, ift der
der herıneneutifchen Phänomenologie (Heidegger) in gewiflem Sinne
entgegengefegt. Ihre Bedeutfamkeit ift xmà avμfisfiıjxóç, fofern ñe nicht mit
ngašrc und nur-wir zufammenhängt. S. Metaph. E 2; 1026 b,' 2-10.
[635] Mathematilche Exiftenz. 245
wiffenlchaften haben; »fo daß die eine »unter« der anderen ift, indem
es Sache der beobachtenden Dilziplin ift, das »daß« (die bloße Tat-
fache), der mathematifchen, das »warum-= zu erkennen.« [u§›or° sinn;
Üáregoıf ıfircô Üáreçov (78b 36). rô μåıf fÃı'ı. zcüıf afaåtjrıxciiv elôåıfaz.
rö dä Öıóu 'zäh' μaäıyμarmciir (79-a, 2 - 3)]1.
Jene angewandten Wiffenfchaften verhalten fich lo, daß fie, ob-
wohl fie ihrem Seinslinn nach anders find, doch die (mathematifchen)
Formen gebrauchen. Die Mathematik handelt nämlich von den
Formen, und fie ift nicht »gemäß einem zugrunde liegenden Sub-
ltrat«. »Denn wenn auch die Geometrie irgendwie ein lolches
haben lollte, lo ift fie doch als folche nicht von ihm abhängig...
(šifu dä miöm, 30a grsgóv rt Öfvra' 'rfiıf oåofar, 'ašxgigrcrt 'mfg sifôaøıv. rd:
yåg μaäifμara rcegi 61'617 šarír. oå yåg naß' 15-n:o›csıμái›ov rıvóg. al 3,-'cêg
zai zaåt' fšfıozsıμšvoiu zwôg rå ysçuμergızcz' åorw, ci?.?.' mix ya zašt'
šrcozeıμšvoıi [79a, 6-10].) _
Diele Stelle zeigt nun zugleich noch eine andere Gedankenwen=-
dung, die die fibftraktionstheorie des Mathematifchen etwas mildert.
Sie befagt nämlich, daß die sifdøy, auf die fich das Mathematilche be=
zieht, doch nicht fchledıthin ein Moment am wirklidıen Körper lind,
fondern dem Seinslinn nach anders als der Körper. Die »rein
mathematifchen« Dilziplinen (wie wir heute lagen) hängen nicht
ab von dem materiellen Subftrat, an dem fie im Leben als konkretes
Wiffen erworben werden. Das dies fo gemeint ift, geht aus einer
anderen Stelle der erften flnalytik (I, 41) hervor. Es wird dort
gelagt, die Gültigkeit der formal-logilchen Säge fei nicht abhängig
von der å'›«..9emg (expositio) der termini, die in dem Schlulfe illuftrativ
figurieren. Denn wir brauchen nicht zum Beweife, daß diefe als
Illuftration dienenden Verhältniffe wirklich fo lind, fondern es ift lo
»wie der Geometer zwar fagt, diefe Linie fei gerade und einen Fuß
lang und ohne Breite, während fie es doch nicht (genau) ift, aber
diefen Umftand nicht fo benugt, daß er daraus argumentiert« (lon-
dern eben nur als Erläuterung) 2. Und weiterhin heißt es ein an-
dermal noch deutlicher: »Der Geometer macht keine fallchen Vor«
auslegungen, wie man ihn befchuldigt hat, wenn er von einer fuß-
langen Geraden fpridvt, wo doch die von ihm gezeichnete Linie weder
gerade noch genau ein Fuß lang ift. Denn er zieht keinen Schluß
Sinnendingen und den Ideen, und zwar zwifchen (jııerazšé) diefen. Sie
unterfcheiden fich von den finnlichen Dingen (wie ldıon früher er-
wähnt) dadurch, daß fie ewig und unveränderlich find; von den
Ideen dadurch, daß fie in mehreren Exemplaren exiftieren, während
jede Idee nur einmal da fein kann. (ôıagnšgovra 'uhr μêv aloåiyzcñv rd?
å'i'ciıa naß åxiwjra sivaı., 'rcñv ö”sf,öc'ör uff râ μâv woll] åírra öμoícr slvaz.
rö Ö' eideg aårô är šficaorov μóıfov. Hriftot.Metaph.H, 6, 987 b,16~18.)
Sie find alfo damit auf dem Wege zum iívrwg, iív, díefem ver-
wandter als die Sinnendinge: vgl. Timäus 52 H: frgirov (neben eideg
und aloåøyróv) dê ati yévog Ö`v 'cô rñg xoôgag åeıf, ıpåogåv 0-5 føgoode-
xóμevov, fšögav dä nagšxov ô'aa šfigsı. yávsmv :wåaw . . . (Die dritte Hrt
des Seienden ift das Seiende des Raumes, ewig, der Vernichtung
nicht unterworfen, allem Werdenden Plat_3 gewährend.) - Wefentlich
ift, daß diefes mittlere Seinsgebiet dem Werden und Vergehen ent-
rückt ift. Es kommt ihm, wie wir heute fagen werden, ein anderer
Zeitcharakter zu als der Welt des Werdensi.
Nun bleibt aber zum mindeften der fpätere Plato keineswegs
bei diefer »ontologifchen Hypoftafierung« eines dritten Seinsreidıes
ftehen, fondern gerade diefes Mittlere (μáaa) ift, wie die grund-
legende Erörterung im Philebos (160ff.) zeigt 3, das methodifche
Mittel, den Sinn des Mathematifchen, nämlich feine Fähigkeit zur
››Beherrfchung« des åënrsıgov zur Geltung zu bringen. Das große
Problem des Einen und Vielen, der Grenze und des Grenzenlolen
(ärrsıgov) kann nur gelölt werden dadurch, daß man die gefamte
Zahl der Vielheit überfieht, die zwifchen dem Unbegrenzten und dem
Einen liegt. (ngiv öív 'ng 'vöv åQı3μôv aıiroíı' frávra zaríög; 'ıôv μsrašfı
rot? årızeígov re mi roö švóg.) Der Unterlchied zwifchen der Dialektik
und Eriftik befteht gerade darin, daß jener »die Mittelglieder ent-
gehen« (rà dä μéaa aıiroig Isc. den Eriltikern] šzgoróyeı), weil fie un-
mittelbar nach dem Einen das Unbegrenzte fegen (μarà dä rô tiv
1) l. c. S. 12-23.
2) Der Husdruck oroqaíov für Element ltammt von Plato (Simplicius,
in Hriltot. phys. p. 7, 10-14 ed. Diels), der Gedanke der Gleichleígung von
Buchftabe und Element ift weitgehend vorbereitet in der fitomiftik (vgl.
D i e ls, Elementum, Berlin1899), der ältefte Husdruck für -Elementıı åggøj (»l.Ir-
fprung-=)›ftammt von Hnaximander, Empedokles fagt ëíšwμcc (»Wurzel-).
3) Das erfte Vorkommen des Wortes ift mir unbekannt. (araqmórqç als
ehrende Bezeichnung E u k li d s erlcheint fchon bei fi r chi m ed e s.) P r o c l u s,
[639] Mathematifche Exiftenz. 249