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202 Oskar Becker.

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iich ins Unbegrenzte erftrecken; genauer geiagt, fie kann e n dl o s


f o rt g e h e n , io daß íie ni e m al s bis zum Ende (vollftändig)
durchlaufen werden kann (åôıešímgroıf).
In dem Phänomen der Folge, des endloíen Fort-
ganges, des niemals Hufhörens u. dgl. ftedtt aber
in entícheidender Weite das Llrphänomen der Zeit.
Hier, an dieíer Stelle, wird die Rücklichtnahme auf die Zeitlichkeit
in der Mathematik unvermeidlich.
Diele grundlegende Einíicht ift íchon in den bewunderungs=
würdigen fibfchnitten der a ri it o t e l i I ch e n »Phyiik« über das
llnendlidoe (III, c. 4 - 8) und die Zeit (IV, c. 10 -14) enthalten. Weitere
wertvolle Huffchlüíie bietet auch der Kommentar des S i mp l i c i us
zu den genannten Kapiteln.
fin dieíer Stelle, wo rein hiítoriiche Intereffen fernliegen, kann
nur das Hllerwichtigfte kurz angedeutet werden.
Zunädıft: Wo kommt das ôíımgov vor? In erfter Linie bei der
Zeit und dann bei der Zahl. Dann allerdings auch bei der Zer-
legung der itetigen Raumgröße (μéyeäog) in Teile 1. Indeiien kann
von dem Kontinuumproblem hier abgeiehen werden, da es fchon in
§ 5b behandelt worden ift.
Fils das Gemeiniame und Hauptiächliche wird aber bezeichnet
ıö åv rf; voıfaaı in) fôfroleifreıv (203 b 24), das »nicht Darunterwegbleiben
in dem Vermeinen«, was Simplícius fo näher erläutert: .nfi za;
voifiaswg ifivoı. ıpavmafag rijg ifiμsıšgag öóvaμıg åei u :cui ngoøzıö-åvaı
zai åcpaıçsív Zaxfíovaa zai μøyôšırozs ı§-ırwμåvı; '/.ai if-fvolsírvovaa«
(p. 467, 6 - 8 Diels), d. h. »die Kraft unteres Vermeinens in uníerer
Phantaiie (unteres anichaulichen Vorítellens), die imm e r noch etwas
hinzufügen oder wegnehmen kann und niemals geringer wird
oder vertagt (wegbleibt).«
Hn entldaeidender Stelle itehen hier wiederum die zeitlichen
Kategorien »immer« (åeí) und »niemals-= (μeôärcore).

1) Die Betrachtungen über die ñnnlidıen Körper, das Werden in der


Natur und auch über den Raum können außer Betracht bleiben.
Huch Simplicius ift der Meinung, daß in erfter Linie Zahl und Zeit
das Llnendlicbe fordern, und dann aurh die Geometrie die unendliche Teil»
barkeit. (Vgl. in Hrift. phyi. comm. ed. Di els , p. 468, 27-469, 3.)
Beføndetâ Rennzeidinendı >›åı›eı9sínrı. ó`ê :mi 1§ ånf' à'7reı.Qov föiv ågtäμcñr
«üšnms åmgyrüs qww0μf'vn«: (Mit dem llnendlidven) wird aufgehoben auch
die Vermehrung der Zahlen ins Unbegrenzte, die doch io deutlich ñchtbar if:
(als ein io durchñchtiges Phänomen auftritt) und weiter: 1% 5:1' äfmtguv ngóod`o:.'
roü Xgóvov, rrcéry d`å ii toi' :mvrôç ıíıôıárqç 0.ı.'ı›avmQsí`rm. --
[643] Mathematifche Exiftenz. 203

Noch klarer wird das an derienigen Stelle, wo die entfdveidende


kategoriale Charakteriiierung des Llnendlichen vorgenommen wird:
Das åífrsıgov íft dvváμsr Ö'1›, Hber man darf das dvráμu Ö'v nicht fo
auffaiien, wie beim Erz, das in der Möglichkeit iteht, eine Bildiäule
zu werden, io daß es eine Bildiäule fein wird, alio etwas, 3 åfw'-4
ársg;/eig, das wirklich fein wird. Sondern - da der Sinn des Seins
vielfach iit, iit das .dvváμeu beim åšrmçov zu nehmen: åionzag 1§ ıfiμéga
åøri xai ö åyoór, 'np åei åíllo aai öíllo yıfrsoåaı. (20621 21 -22), »Wie
der Tag und das olympiiche Spiel il't, durch das immer anders
und anders Werden«. Das Unbegrenzte darf alío nicht als ein
róôe ri, ein »dies da« gefaßt werden, wie ein Menich oder ein Haus,
iondern eben wie der Tag und das Spiel: oi; rö eivaı. 05;; ıâıg ofôaía
fig yšyover, till' Qs ei åv yaršaeı. ifi cp3oQ§ (206a31-32), »denen das
Sein nidat wie ein,Vorhanden-Sein" geworden iít, iondern immer
im Werden und Vergehenf.
Huch hier gibt Simplicius einige explizitere Formulierun-
gen: (S. 493, 6) 'vô yâg zoıoiizov åıfsgyeíq zö år zig) yiveøäaı. 'vô eivaı
5:101* Uıíveonıf åei ıgü ôvıfáμsı :mi dıå 'voiiro šfigeı. åei z-ı}v åv zq) yı':›so'3a.«,
rragáraow, fin oåôaμofb' 1:06 ôuváμeı årcoılıíezar åniolväåv yág åcrmf
Fiszsg åaziv :mai rršgag šfigaı. aaå. oåôåv öíneıgov.
(Denn dasio Beichaifene, in actu das Sein im Werden Habende
iit immer zufammen mit dem in der Möglichkeit Seienden und hat
deswegen immer die Erftreckung im Werden, weil es nirgends von
dem »in der Möglichkeit« abgelöit wird; denn das Hbgelöfte ift, was
es iit, und hat feine Grenze und ift nichts llnbegrenztes.)
S. 493, 19- 27: xai šbızev šıvi 'voii ån:aı'Qov raårôv sivaı. zô dvváμer
:mi rô åvsgyeíç. :§ yàq 'mü åfvsigov åršgyaıa dig årıeígov zô öiivaaåaı.
åsi 'rr nlšov, åntei ei' 'ug åvrelåxsıar šflrıfiøyfroíøg šføi 'voii åfvafçov ofov
ørámv urå 'mi eiôog, 05:0; oåöšv öíllo if rcšgag åfcıíyyrsí roñ åne:'goı~,
faåzôr öå eiøreív q›3ogáv. zoiiro dä åôıivmrov. mina yág åvıelšxsıa 0ı§Z__`eıı›
Örpsilsı zô ıfifroırafμeıfov. xai âiamsg 1? zofö zıvøgroü švzalšxsıa cpvlárrovooı
16 ôvráμsı zivøyaıg šv, oifrcog xai :ji rot? årcsígov. åianeg yâg 'cd šv rip
gßiveoåaı 'rô sivaı šxovra åfvolšaaıfıa zô yíveoåaı ånróllvoı. Mai 'rô sivar,
oiizwg 'mi zå år zıp ôóvaoäaı Fwg zórs šaıiv, šfwg fire åori frô ôüvaaåaı.
1) Es icbeint hier iehr nahezuliegen, oåum einfach mit ~›Subftanz- zu
überlegen, d. h. vdasjenige, was in der Zeit beharrt, alio ni cht wird oder
vergeht« Das ift irıdeiien nach dem ionftigen Wortgebrauch bei Hriftoteles
nidvt möglich (wie Heidegger zeigte): zur Not könnte man (mit Stenzel)
››Wefen~ fagen, doch ift dieier fiusdrud-ı im Deutidıen iehr vieldeutig. .
Dagegen kann das »Zur-Verfügung-Sein* (>>V°`~'|'>a“d°“"5°í") als em
>›Gegenwäçfig].ggifıSein« (finıwßfenbßif = :'ırz(›-ovøfrr) gedetlfet Wefdefl. (Vgl.
H ei d e g g e r, »Sein und Zeit«, Seite 25.) 41 _
204 Oskar Becker. [644]

»und es icheint beim unbegrenzten das »in der Möglichkeit«


dasielbe zu fein, wie das »in der Wirklichkeit« Denn das Wirtz«
lichiein des unbegrenzten als íolchen iit das »Immer noch etwas
mehr könnenfi, da, wenn jemand das vollendete Sein (ëvra2.á;geıa)
beim unbegrenzten íuchen wiirde, in etwas gleich wie einem Zuitand
oder einer Geitalt, io würde er nichts anderes iuchen, als die Grenze
des unbegrenzten oder, was dasielbe beiagt, feine Vernichtung. Das
aber ift unmöglich. Denn jedes Vollendetiein muß das Zugrunde=
liegende bewahren. und wie das vollendete Sein des Bewegten,
welches das »in der Möglichkeit« bewahrt, (die) Bewegtheit (ielbítfi
iit, fo auch das des unbegrenzten. Denn gleichwie das in dem
Werden das Sein Habende, wenn es das Werden verliert, damit
auch das Sein (ielbit) verliert, io iit (befteht) auch das in dem
››Können« (fein Sein Habende) io lange, als das ›Können« beiteht.«
Damit iit die Explikation aus den Kategorien Dynamis und Energie
(Entelechie) in aller Schärfe gegeben. (Man muß iich hier der be«
kannten ariftoteliichen Definition der Bewegtheit ielbit erinnern ±:
e§ rot? ôvváμeı. övrog švzelšxsıea, zoıoiizov, zı'm7aı'; åaztv. (201 a, 10 -12)
»das vollendete Sein des in der Möglichkeit Seienden als iolchen iii
Bewegtheit-F.)
Hriitoteles fah allo in dem Endloien, unbegrenzten etwas
weíentlicb Werdendes (Simplicius: zô åv zgfı yíveaåaı zô eivaı, š';(oı»),
etwas. das niemals als Ganzes präient (gegenwärtig: nagóv) iit, zur
Verfügung fteht (das deshalb nicht oåoía iít), endlich etwas, das nicht
Geitalt (siôog) fein kann, iondern iich analog wie die nad» Form
begierige Materie verhält (dig íilv; affuov) und deifen Seiniinn iomit
in einer eigentümlichen »Beraubtheih (Privation) befteht. (rô sinn
aôrcii aršgøgaíg åau),
1) Vgl. Hriftoteles, Phyñk III, c. 6 (p. 206b33--267a2).
2) Hieran [chließt iich dann noch eine legte begriffliche Beftimmung des
unbegrenzten von der Stotflichkeit aus: »rim fiir; rà äneıgov aruóv šfm- mi _ .
fö - › - Üvm 051017 Gfšenøíç tan « (207 b 35 - 208 a 1). »Wie der Stoff ift das um
begrenzte Grund (uriache), und fein ihm zugehöriges Sein ift Beraubung
(privatio)«. - Vgl. dazu die längere, hier nicht wiederzugebende Erläuterung
des Si mplicius p. 513, 3-514, 3. Wichtig an dieier Erläuterung ift der
breit vorgetragene Gedanke, daß das ämigrw Stoff ift. nicht als ónoxnfiufwn.
føndøtn 51:. øvμßs'ßn›z.sv aèfqí nfgô foü d`š§am9m fô efdo; Gršgrgøcç, iin; åøriv r;
åneıgfa (weil ihm zukommt an Stelle (?) des Hufnehmens des sido; die Be-
raubung, welche die unbegrenztheit ift). Das sido; ift die Grenze (nägaç),
fllfø das dem ffö`0§ Entgegenftehende (die oıqngaıç) auch das der Grenze Ent.-
gegenftebende, alfo das åíneøgov. (ıffmigzsı. tfi Gtsgrjası fó ıbrsrgov, åíansç iq) side.:
'I0 flfeflc: »es liegt der Beraubung das unbegrenzte zugrunde wie der Ge«
italt die Begrenzung«.) t
[645] Mathematiíche Exiftenz. 205

Die enticheidenden Beiipiele des unbegrenzten, d. h. die kon-


kreten Phänomene, wo es uns entgegentritt, find Zahl und Zeit.
Dazu iít allerdings auch noch die Zerlegung der Größe in Teile zu
nehmen, allein das gehört als analoges Phänomen zur Zahl (oıiväsoıg
parallel der dıaı'gsacg). -
In dieíem Sinne hatte fchon der fpäte Plato etwa die Verdop-
pelung und die Halbierung parallel betrachtet. Ganze Zahlen wie
Brüche entftanden durch das genetifche Vermögen der åógıarog dı.-ág
(der unbegrenzten Zweiheit). Stenzel hat (in feinem fchon zi-
tierten Buch) íehr wahrícheinlich gemacht, daß die díäretifdien Zahlen-
erzeugung fowohl die ganzen natürlichen Zahlen wie die (dyadifchen)
Brüche nach demfelben Prinzip hervorbringt 1.
Die Belegitellen Stenzels find vor allem aus filexander
ñphrodisienfis zu Metaphyf. H, und weiterhin, was in unierem
Zuiammenhang wichtig ift, aus Simplicius zu den über das
åíarsıçov handelnden Stellen der Phyfik (III, 4; 203 a15: Hláıwv dä
dóo zå åínecga, zö μšya zai zô μczgóv), Dazu fagt Simplicius, unter
Berufung auf den Philebos-Kommentar des Porphyrios z. B.
:zıjr dä åógwıov dıíada zai åv zoíg lvoıgzoíg ndsig åínsıgov sivcu
åíleya (sc. Plato)<< (p. 453, 26). und in dem von Simplicius
wiedergegebenen Bericht des Porphyr über die platon. Vorträge
über das Gute heißt es: »adrög dê zô μå'lÄ0v 'zai zô fizzov . . . zñg dfrsigou
ıpdoawg aivac zıfåeıaı. 311021' yåg är zaíira åvij zczzå zfiv årınfzaøıv '/Lai
f____ _ _4` __ _ _ ,

1) Nimmt man an Stelle des dekadifchen Zahlfyftems, wie es Stenzel


(1. c. S.31) benugt, das dyadifd›e (das von Wallis und Leibniz,
von dem legten auch für philofophifche Zwecke, eingeführt wurde), io erhält
man für die Entwiddung der ganzen Zahlen und der fyftematifchen Dual-
(nicht Dezimal-) Brüche folgende beiden, wie man fieht, ganz analogen
Schemata :
Dyad. ganze Zahlen Dual- Brüche
1

10 11 'O '1
/\ /\ /\ /\
./ \- / `\ / \ / \.
/ \ / `\ / \ / \
_ 100 101 110 111 '00 '01 '10 '11
/\ \ \ \ /\ /\ /\ /\
/' \ // \ // \ // `\ / \ /“ \ / \ / `\

Erft io gewinnt das S tenz elfche diäretifche Schema feine ganze


Überzeugungskraft. (Vgl. dazu jegt auch W eyl, Handbuch d. Philof. llfi,
S. 43 11.50.) In gewiiiem Sinne ift alfo Plato der eigentliche Entdecker
des dyadiichen Zahlenfyftems.
206 Oskar Becker. [646]

åívaacv føgofóvza, 013;; Yararaı ioådê fregaívsı zö μaråxov aıircöv, ållå


ngósıaıv eig zô zfjg drıecgíag åógwrov. . .. (453, 31 -36). . . . zô
μåv šfri zô šlmzov rvgoíóv, zô dê šnzi rô μaífior, åzsñevflfizwg
(454, 3). ıfi di; zoıaów; ådıáleırczog zoμ'ı} døgloí uva qoıíaıv
åneíqoıf za~ıa¬›csxÄeıaμšv1;v šv za? mixer . . . šv zoıíroıg dê zai 1) åógıcrrog
dvâg dqäraı . . . [zañra ô Hoqcptigıog siftsv aıirfi oxadôv zfj lššsμ]
(454, 5-6, s, 11.)
Man vgl. den darauf zitierten Bericht des Hlexander, wo
es heißt: »zazå yàg šfvízaaw zai åíıfeoıv :zgoíóvza zaiiza od; `i'o'z'azaı,
dll' åazi zô 'rñg åsfvsıgıfag dógmzov ngoxwgsí (455, 1-2). . . . z'1`p› dê
dváda zoii åfreígov qróoıv šíeysv . . . (455, 9- 10).
Das Merkwürdige an diefen Berichten ift, daß fie zeigen, daß
wefentliche Beftimmungen des ariftotelifchen unendlicbkeitsbegriffes
bereits der »unbegrenzten Zweiheit« zukommen, wie das åzelevzıjm;
(unvollendbar, endlos) fvgofšvaı, ngoxwgaív sig zô 'mfiç ånrscgíag ådgıdrov,
das àdıálsmzov ufw.
Man kann daraus ichließen, daß iich-bereits beim fpäten Platon
der Übergang von der Zahl als Geftalt zur Zahl als Reihen-
glied ausbildet, im engen Zufammenhang mit dem Begriff des
åíneıgov als eines Werdenden. Die unbegrenzte Zweiheit ift bei ihm
die zahlenerzeugende Potenz (dvórroıog).
fiber auch P l a t o n ift nidıt der erfte. Wir müffen noch wefent-
lich weiter zurüdıgehen, um den eigentlichen urfprung des p o t e n-
tiellen unendlich zu finden.
Zunächft ftoßen wir auf Hrchytas. Díefer zeigt bereits an
dem Beifpiel des Raumes (nach des Eudemos' Berid›t)1 das wefent-
liche Moment des >›immer< auf (dei edv ßadıeízaı zôv adzôv zgómw
åni zô dei. laμßavóμevov rvégag zr}..). - Wefentlich früher ift noch
das bekannte Fragment des Hnaxagoras († nach 432): (fr. 3
Diels) ›oi5rs yåg zoii aμmgoíı' šazr zô ya ëláxcarov, dll' šlaaøov åeí.
zô yàg šôv oôz šbu zô μr) oda eivaı. (denn es ift unmöglich, daß das
Seiende zu fein a ufhöre), ållå zai rofög iısyálov åeıf åou μeíšov.

1) Diels, Fragmente der Vorfokratiker 35, Fi 24: -'Aggürflc .. . 0v5'w›;


fågaira 'rôv lóyov' 'Ev fcå ådyáıwp ofor iq? dınlaveí oıfigrwçå 3/evóμsvoç, nórsgcw åxréí-
vacμı.. dv ffir xsíga ii rip» ëríßdov eig rô Zšw ij- ob';' xai fö μèv oåv μig šxrëfvsw
åéronov. al dè šxrsf-ıfw, flror etäμcc ij zónog ró åxtôç š'amı.. (d`ıoı'0'eı dè oirdèv cíı;
μudqaóμeda.) åei ofiv ßcrdraírocı. rôv aürôv rgóftov šni tô dei lfrμßavó-
1“ avoıf ftš 9 oz 51 :tui fuåfôv å wfñdêı, xa) ef dai ärêgov fšørrct. ftp' 3 ø§ ëaífldoç,
dñılcw dn ani à'rr.=sn_pov.ı
[647] Mathematifche Exiftenz. 207

Wohl noch etwas vor finaxagoras (etwa um 460) muß man


endlich das nachftehende Fragment des Z e n o n vo n E le a anlegen
(fr. 1 Diels). Es ftammt aus einem Beweis für das Dafein der
unendlichen Größe.
»ei dä šbzıv, dvd;/my ê"/.aazov μäyeåóg fu äxsw . zai fcegi roii
rcgofóggovzog 6 aäzôç lóyog. zai yâg šzeíro fššeı μéysâog zai. rvgoäšsı.
aåzoü zı. öμoıov dw) zoiizo óéøraš ze sirraív zai dei läyeıv' oädäıf
yåg aöroti zoıoözov äayazov äinaı oiíze fåzegov flgôg-åçegov oäv. šbraı..
oíizwg si noålá äozıv, åvdy'/ny aıird: μmgà ze eivaı zai μe;/dla' μmgà
μäv cíiare tn) äksw μäysâog, μsyála dä ciiazs öífrsıga e`ivcrc.<<
fr. 3: »si frollá äazw, .åváyzn zoøaiira afıfaı daa äøıi msi oiíze
;z?.e:'ova aäzcöv oiízs äláızora ai dä zomxüzá äorıv daa äorí, røezvegaa-
. .. „
μeva av any.
ei. fzolld äazw, åírøeıga zå övrcr ädzív' __
Q0 09 /åg fäzsga μazašä
{""Iı
'D

zíiv övtıor äazi, zai flrálw äzsıfıfcov fäzsga μsrašıí. */.ai oiízwg
årzsıga zå övra äozıfi«
In diefen Sägen beftimmt Zeno als erfter den Be-
griff des unendlichen icharf. Er fagt in fragm.1: »nal
mgi 1:05 rrgoıiggovzog 6- aärôg lóyoç« (und von dem Vorangehenden
gilt diefelbe Rede) ›dμoíov dr) roíizo dnaš ze eineív zai dai läyaıv-
(Es ift das gleiche, dies einmal auszufpredaen und immer zu
lagen. -- D. h. »Das gleiche gilt alfo ein für allemal« [Diels].)
Hier ift alfo das ››immeı'- zur Charakteriftik des
unendlichen benugt und die Wiederkehr des
Gleichen. Man kann denselben Logos immer wieder an-
wenden in der gleichen Weite: das kennzeichnet das Hpeiron.
In fragm. 3 wird der Gegenfag diefes io definierten Hpeíron zu
dem ruhenden Sein fcharf herausgeftellt: Eine beftimmte Vielheit ift,
was fie ift, nicht mehr und nicht weniger; alfo fie iit begrenzt.
Hndererieits iit es immer (dei) möglich, zwifchen die vorhandenen
Dinge andere zu legen und wiederum (nzálw) zwiichen iene
andere. - Hlio auch hier die immerwährende Wiederholung. Vgl.
die ariftotelif chen Wendungen: dei åíllo zai ı'í}'.2.o (äregov mi
šzsgor), flålw mai rtálıv. --
flber als flrcheget gleíchíam aller derer, die über das unendliche
philofophiert haben, tritt uns in grauer Vorzeit endlich Hnaxi-
mander entgegen.
Folgende Fragmente find von ihm überliefert:
a) Diels, Voriokratikeri, fr. 9, S. 13, 4, 6-9: Lívašıμávdgog . . .
ågxåv åfgvf/.a zcüı/ övrıuv zö åírveıgov [fvgciirov zoíiro zoıívoμa zoμíøag zii;
ågxijg] äš dn» dä 1'; yšvsaı'-g äau zoíg 0130:, zei zfiv cpåogàv el; raíira
208 Oskar Becker. [648]

fyıfveodao '/.azà zô xgadıv. dıddvou. yàg aårà dıfmyv zai zı'0':,v åÃ2.ij?.0ıg
zi]-g ådtzıfag zazà zfiv zoíi xgóvov zášw. 1
»Z-'inaximander nannte den urfprung der Dinge das unbegrenzte,
indem er als erfter diefen Namen »urfprung<< [dçxıfi] gebrauchte.
Hnfang der Dinge ift das unendliche. Woraus aber ihre Geburt
ift, dahin geht aud-› ihr Streben, nach der Notwendigkeit. Denn fie
zahlen einander Strafe und Buße nach der Zeit Ordnung-=. (Diels.)
b) Diels, l. c. fr. 15, S. 14, 42: folgende Prädikate des äfreigov
werden -genannt: åäávazov und åvcólaàtgov. -- Vgl. dazu auch D io-
genes von Hpollonia (Diels,l.c.51 B,fr.7u. 8, S.339,16-18,
19-21): »zai aôzô μäv zoiito 'wi åidwv zai åäávazov aáiμa, zäh» dä
zà μäv yıfvezaı., zà dä åføoÃ.e:f:zeı.« -- »ållå zoíizo μoı dñlov dozeí eiıfaı,
du zai μäya :cui Eoxvgôv mai åıfdıóv za zai åötávazov zai rcoillá sidóg
äorw (Das >>aäró<< interpretiert Diels als =›urftoff<<, alfo wohl åggıfß
oder azoıgaíov nach fpäterer Terminologie.)
Wir fehen aus diefen Fragmenten: Schon beim erften Philo-
fophen, der fich mit dem unendlichen befaßte, ipielte die Zeit eine
entfdıeidende Rolle bei der Definition des åínssıgov.
flnaximander führt den Husdrudr åêggıi, -Hnfang-, ein. Das
ëneıgov ift ågxıi, weil für es felbft nicht ågxfi fein kann, weil es
felbft, als ohne -Grenze-, keinen Hnfang hat 1. Er fagt weiterhin:
-Die Dinge zahlen einander Strafe nad) der Zeit Ordnung.-
Der ewige Wechiel, der notwendig rhythmiich gedacht werden muß,
der ewige Wellenfchlag der Geburten und Tode, - das ift das
åineıgov als Prinzip (gågxøj). Die Stelle ift alfo nicht moralifch zu
verftehen, fondern fie ftellt einen Husdrucksverfuch des unendlichen
Weltgefchehens dar, - mit Worten, die der Lebensbedeutfamkeit
entnommen iind. Das flpeiron ift die urkraft (vgl. Di o g en es v o n
fipollonia), die das Werden nicht aufhören läßt2. - O
1) Vgl. Hri ftoteles, Phyf. Ill, 4 (203 b, 4-7): srhlóyr-ig dä :mi åggfiv
aöfô (sc. 'tö äntøgov) nfišadı. fnívtëç . . . ı'c':fraı›°foı ydzg ii ågxñ ñ äš ågzfiç' 'roü dä
åneípov oüx äarw ågxıj' ein yàg fir aöroü nšgaç.
2) Vgl. fr. 10 (Diels l. c. 13, 31-33, 34-35), das aus Theophraft
ilamml: ånecpøfivaro (flnaxímândet) dä tüv cpäogàıf yc'veo'¬imı. :mi noir) ngórëgov
1i;ı›y.s'vwı.v §5 åneígov afâıvoç åvuxıfxlovμëvwv ncívfwv aäzäiv. -- qmai dè
rô äx toü âıdíoıf yóvıμov -'ıtegμoü za). ıiıvxgoü Jmfà 'rigv yšıfww foñde T017
xódμov ånoxgzåiñvm . . .
Dazu vgl. die Interpretation von K. Reinh ar dt, Parmenides und die
Gefchichte der griechifchen Philofophie. (Bonn 1916), S. 253 ff., 258.
Es fei auch auf Reinh ardts Bemerkungen über die grammatifche
Natur des Wort es ıàanrgov- (fubftantiviertes Neutrum eines Hdjektivums)
hingewiefen (1. c. 251 if.), die es als philofophifchen Terminus befonders
geeignet fein läßt.
[649] Mathematifche Exiftenz. . 209

Blidten wir auf die fämtlichen hiftorifchen Belege zurück, die


wir vor dem Lefer ausgebreitet haben, fo ergibt fich mit voller
Klarheit, daß von Hnf ang an das äírreıgov mit der Zeit ver=
knüpft erfcheint. Der Sinn der Unendlichkeit entfpringt überall aus
dem dei, dem -Immer-, genauer: der immerwährenden Wieder-
holung (Wiederkehr des Gleichen). Die Endlofigkeit ift alfo
offenbar das entfcheidende Moment an der Zahl, das fie mit der
Zeit in eine ganz urfprüngliche Verbindung bringt. Die Zahl als
Reihenglied gewinnt mit dem Horizont der Endloiigkeit zugleich
irgendwie den Charakter der Zeitlichkeit.
D. Zahl, Unendlichkeit und die Zeit.
Wir haben diefe finnhafte Verknüpfung von der Seite der un-
endlichkeit aus aufgewíeíen; wir müffen nun zur Ergänzung die
andere Perfpektive kurz berühren, die ebenfalls Hriftoteles dem
Problem von feiten einer finalytik der Zeit (Phyf. IV, c. 10-14)
gegeben hat.
Hriftoteles definiert die Zeit durch folgende Säge:
fils Überleitung vom åë'frsı.Qov zum xgóvog fei zunächft angeführt:
»oddä μävsı. ø§ årzeıgıfa åítlå yävezaı, ciåarveg :mai d ggórog kai ö
ågcåμôg 1:013 xgóvov« (207b 14-15). c
Bezüglich der Zeit felbft wird zunächft - nach der Kritik der
älteren Hnfchauungen -- geíagt: . fie fei weder Bewegung noch ohne
Bewegung (oüza scíviyocv oifza ävsv zcv-ıfiaewg Ö xgóvog äozıf, 219, a 1), alfo
ift zu fragen, was an der Bewegung fie ift (nf rijg zufiaeoåg šarw, 219,
a 3) 1. Darauf ift zu antworten, daß dann Zeit vergangen ift, wenn
wir das Frühere und Spätere in der Bewegung wahrgenommen
haben. (rózs qzaμäv 3/ayovšvaı. xgóvov, draw rot? rcgorägov wi darägov
äıf zg'§ mvrjosı. aifoâøgacv láßwμsıf, 219a, 23-25). D. h. nur dann,
wenn das Jegt nicht als eins gegeben ift, fondern wir immer ein
anderes ]et3t erfaffen, in der Ordnung des Früheren und Späteren.
(rg) ållo zai 50.2.0 iffrıiolaßsív adzd: [sC. rd vüv], 219 a, 25 -- 26).
und nun kommt die entfcheidende »Definition-= der Zeit: -Denn
dies ift die Zeit: die -Zahl- der Bewegung gemäß dem Früher
und Später!-= (zoiiro yág äarıv ö xgóvog, ågıdμôg zcvıfoewg zazå zô
frgóregor zai išozagov; 219b, 1-2.) und zwar ift die Zeit genauer
nicht die =-zählende-, fondern die -gezählte« Zahl der Bewegtheit.

1) Dazu die icharfe Erfaffung der -inneren« Bewegtheit -in der Seele-=:
säμa yàg xwıiøewg aíaäaıvóμeda xai. ggóvov' xai yàg äàv gj Gzótog, xa) μnäèv dad
zoü móμaroç náaxmμëv, xı'ı›:;6cç dä fig šv rf; ıpıçgfi åvfi. 5531); díμa düzff Tlfš 7/ê}'0Vê"VM
....1 39840;. - Pbyfik IV, 11 (219 a, 3-6).
210 Oskar Becker. [650]

(ö dä xgóvoç äari zô ågıåμoáμsvov, 0:31 cf; ågıäμoiiμev; 219b, 7-8).


Dies geht nach dem Simplicius darauf, daß die kontinuierlich
fließende Zeit nicht unmittelbar mit der diskreten Zahl identifiziert
werden kann, fondern fozufagen das urfubftrat des Zählens darftellt.
wobei aber die innere fiktivität des Zählens immer noch von dem
pafiiven Wahrnehmen des ftetigen Zeitfiuffes unterfdiieden werden
muß 1.
Mit einer anderen Wendung: die Zeit mi ß t die Bewegung, und
zwar ihrem >>Sein<< nach (nicht etwa dem ihr zugrunde liegenden
raumhaften >Weg<< nach): 221 a, 4--7: 1/.ai šbu z-37 zmjaec zô äv xgóvqi
eivaı, zô μerçeíadaı. zrıö xgóvcp ıcai adrfiv kai zô eivac adzijg' å'μa yàg
'm}v mfvøyacv zai zô sit/ac zi] */.ıvøficrsı μezgeí' ^/.ai zoiiı' ä'o'zıv aåzfi zö är xgóıay
eivaı, zö μaz9s'ío3a:. aåzijg zô eivaı.
(und für die Bewegtheit bedeutet das in der Zeit Sein, daß
fie felbft und ihr Sein durch die Zeit gemeffen wird. Denn zugleich
mißt fie [die Zeit] die Bewegtheit und das der Bewegtheit zukom-
mende Sein. und das ift ihr [der Bewegtheit] das in der Zeit Sein:
das Gemeffenwerden ihres Seins.)
1 \ \ 1' I
und Weiter: 22119, 14-16: zô d' eivaı. är ågıdμqi, eau zo an/at
'uva ågıfiμôv zofö øzgáyμafrog, :mi μazgsíaäaı. zô eivac. afiroö zrfı ågcåμrfi
är Q) äaziv' diaz' ei. äv xqórcp, éfrô xqóvov.
(Das Sein in einer Zahlmannigfaltigkeit bedeutet, daß es eine
Zahlmannigfaltigkeit [einen Zahlcharakterl der betreffenden Gegen-

1) Vgl. dazu neben den weiter unten angeführten Simplicius=Stellen


vor allem folgende ñußerung aus der frühperipatetifchen Schulfdırift fragt
åróμwv ygaμμfiíw 9692130-b3; oädè di; rd xaft' äzaarov äånreaäaø für c2neı'(›c-iv
für duívotav oüx' ííøzw ågıdμeív, el äga ng xa) vowiaecev oíítw; äqicínreadaı. 1&1-.v
åneígwv rigv dwívomv. öneç i'0'w; ådıívarov' oi) ydcg šv avvšgsaı :cat ıfinoxeıiuävorg
ii rijç dravoınç xıäfrgcng, åíansg vi rw» cpsgoμšvwv. ai d'oÖı›' zai êyxwgsí xwsiaå-m oífraıg
aim Ã-fan» foüro c`cQı3μ&I'v° 'rô 7/dp ågrdμsív äari. fô μsrä: åffwrríaawç.
(Das Erfaffen jedes einzelnen Elements eines unendlichen durch die
fiufmerkfamkeit (das diskurñve Vermeinen) ift nicht Zählen; felbft wenn
jemand meinen follte, daß das Vermeinen [überhaupt] fo das unbegrenzte
erfaffen könnte. Das ift vielleicht unmöglich: denn nicht vollzieht fich die
Bewegung des Vermeinens im Stetigen und Vorliegenden (dem Subftrat),
wie die der bewegten Körper. fiber felbft, wenn man zugibt, daß das Ver-
meinen iich fo bewegen könnte, fo wäre dies doch kein Zählen. Denn das
Zählen gefchieht mit Stillftänden.)
Vgl. damit die präzife fiußerung des firiftoteles felbft: d' :E943-
μnrôv 'rd ngórsgcw :cal fidtsgov, rd 1/ür 50'113/ (219 b 25): ıfofern (quâ) das Früher
und Später zählbar ift, ift es ein Jegt-f. Der Fluß der Zeit wird alfo durch
das l-Ierausheben der ››]egte- (Zeitpunkte) zählbar, d. h. in feinem Mannig-
faltigkeitscharakter, dem Reihencharakter feiner Ordnung, faßbar.
[651] Mathematifche Exiftenz. 311

ftändlichkeit gibt und daß ihr Sein gemeffen wird durch den Zahl-
charakter, in dem fie ift. So, wenn fie in der Zeit ift, durch die Zeit.)
Doch darf andererfeits diefes an fich wichtige Moment des
-Meffens« auch nicht überfchägt werden, als ob alle Zeit nach unab-
änderlich quantitativen Maßftäben gemeffen werden könnte. Die
Heraushebung der ordnungshaften Seite der Zahl ift entfcheidend:
das, was die Zeit zum Zahlcharakter macht, ift allein das Früher
und Später 1.
Darüber finden fich wenigftens bei Simpli cius Äußerungen
von einer auch heute noch unübertroffenen begritflidven und termi-
nologifchen Schärfe: 5
p. 713, 17- 19: díaze fvavrá;go3sv zoii xgóvor äifvoıa äyg/ívezaı
zråö dıalaμßáı/s03aL zô ztgózegov zai iíazegov zijg zcınjaawg' dcalaiμfiá-
rstaı. dä, özav dig åíllo zai fälle l2;(p33'§, zovzäo'-zw Star åQı3μ1;3§;.
(So daß überall das Erfafíen der Zeit dadurch gefchieht, daß
das Früher und Später der Bewegtheit auseinandergehalten wird;
es wird aber auseinandergehalten, wenn es wie ein anderes und
anderes genommen wird, das ift, wenn es gezählt wird.)
p. 714, 10-16: */.ai d μäv ågıdμciiv cigıäμôg oíäd” ágμóaeia zii?)
Zgóvcy dıgygøgμävog yág šarı zai od awfäggijg. 6 dä ågıäμoıiμevog dıiıfarai
zai avvsxfig sivaı, cåg zô dógv zö ävdszáfmyxir. 'zai zô ågıdμodicavov dä
dizzóv, zö μäv */.azdı zô fcoaóv, cåg Ãäyoμev duo ^/.ıwfiaeıg ij zgsíg, zô dä
af-.ard zfåv zášıv, cb; íláyoμev zazå zifiv fvgozägar zıfvøyacv ^/.ai ıfiazägaıf.
dsišac oda» fiodlezaı, der ågıßμóg äau mvijaecug 6 xgórog icai cfıg ågz3~
μo-ıfμsvog zai cög icazå z¬r}v zášcv ågcdμoäμerog. oífrog yåg i'dı0g.
(und die zählende Zahl paßt nicht zur Zeit; denn fie ift diskret
und nicht kontinuierlich. fiber die gezählte Zahl kann auch kon-
tinuierlich fein, wie der elf Ellen lange Speer. Fiber auch das
-Gezählte« hat zwei Bedeutungen: erftens meint es das Wieviel,
wie wenn man fagt: 2 Bewegungen oder 3, zweitens aber die Reihen-
folge, wie wenn man fagt: die frühere oder fpätere Bewegung.
fi. will nun zeigen, daß die Zeit ein Zahlcharakter der Bewegung
ift, und zwar als gezählte Zahl und als Ordnungszahl. Diefer Zahl-
charakter ift fpezififch) 2.

1) Vielleicht nicht allein, denn in dem gelegentlich betonten rà «ürà


ırıilw xa). nioílw, in der Wiederkehr des Gleichen (tiμšga, švcccvróç, åycóv) liegt
auch die Meßbarkeit im Sinne des Wieviel. Fiber fie ift nicht fo fundamental
wie das Früher und Später.
2) M311 Vgl. die Pa'l.'ílllelftelle¦ p.'1'16, 18-21: änstdij dä d ågtdμôç dırfóç,
6 iušv ågidμvgrzxôç ii ågıâμnföç roü froaoñ, örccv J.ä;-fwıusv if-v dıío rgia, ó dè
212 Oskar Becker. [652]

Diefer ordnungshafte Reihencharakter der Zahlfolge trifft nun


nach firiftoteles das Sein der Bewegung felbft, wie die vorhin
angeführten Stellen zeigten. :Huch hierzu bringt S i mplic i us noch
einige wenigftens in terminologifcher Hinficht bemerkenswerten Er-
läuterungen: Er kontraftiert Zeit und Raum, nachdem er zunächft
ihre enge Verwandtfdvaft in bezug auf die Charakteriftik der Be-
wegung betont hat. Sie beziehen fich beide auf ein gewiffes Früher
und Später (eine Ordnungsfolge) an der Bewegung. (äbıze dtnföv
eiıiaı. zô är mvrfaeı. frgótegov */.ai ífarsgov, zô μäv dm) 'voii «'ı'ófı;ov, zô dä
tim) roií Zgóvor.) Die eine Ordnung bezieht fich auf die Lage der
(räumlichen) Größe (if: zei? μayéåoıfç äáaıg), die andere auf die zeit-
liche ›Erftreckung« (ggovmıj fıagáraoıg). Die Bewegung fteht in der
Mitte zwifchen Zeit und Raum und nimmt von beiden das Maß oder
die Zahl des Früher und Später. Sie kann aber gewiffermaßen auf
diefe beiden Komponenten ››projiziert« werden, d. h. werräumlicht-
(roxíšsraı) bzw. ››verzeitlicht« (;(g_›oı›ı'.f_.'azaı) werden, einm al, fofern die
Bewegung eine räumliche Erftreckung oder Lage hat, (wi dıáazaaı;
(eng zıvfçaewg) .9.~=†ocv šjigsı, der fibftand der nach der Bewegung ent-
fteht, hat eine beftimmte Lage): zweitens, infofern das Subftrat
im Fluß ift. (är Q5037 iv ~ıj= ifvızóoraaıg.) Die Zeit ift alfo zu definieren
als der Mannigfaltigkeitscharakter des Früher und Später des Seins
des Bewegungsfluffes. (dçıäμôg 'wii :frgorägov ^/.ai iåazägov roö zazå rô
eiifac 'rd êeôv zfig x.cr1j0swg1_)

Damit ift alfo das Sein der Bewegtheit als folcher in enge Ver-
bindung gebracht mit dem Sein der Zahl.
faxrcxóg, draw Äšywμw ngôütov deıfregov ~rpı'¬roı›, focofiróç äarw (í:gı.19'μöç 6 ;_f9óı'o;
dcô xaräc td fıgóreçov xai f5arf(›o~v åıpogíšcrac.
(Die Zahl aber hat zweifache Bedeutung, einmal als die zählende oder
zählbare Zahl des Wieviel, wenn wir fagen eins, zwei, drei; dann als
Ordnungsz ahl, wenn wir fagen das erfte, zweite, dritte: eine folche
Zahl ift nun die Zeit. Deswegen wird ñe mit Bezug auf das Früher oder
Später abgegrenzt ldefiniertl).
1) Zu der ganzen Darlegung ift zu vergleichen die platoni fche fib-
ieitung der Zeit aus der Ewigkeit, bei der die Zahl ebenfalls eine entfcheí-
dende Rolle fpielt: Timäus 37 D: I
>›fízd› d'š2'uıfo&ı`. (sc. d dıyμcoügyoç) zwıgtóv In/rz aflüvoç noøñoaı, xai dra-
xaaμfüv fšμa oågccvàv note? μšvovzoç aitüvoç åv švi xrzt' åQz3μ.öı› íaüüav
ai'u5ı.›ı.ov sixóva, toürov 31» dig Xgóvov dmoμfíxaμeu«
Die Zeit ift alfo das »bewegte Bild der Ewigkeit« oder genauer »das
gemäß der Zahl laufende Ewigkeits-Hbbild, während die Ewigkeit im Ein-
haften verbleibt-.
Vgl. dazu Simplic i us, l.c. 703, 7-9; 717, 21- 718,12.
[653] Mathematifche Exiftenz. 213

Einerfeits ift die Zeit zu befchreiben als der fpezififche zahlen-


hafte Charakter, der jegliche Bewegtheit nach der Dimenfion der ihr
eigentümlidien Seinsweife felbft kennzeichnet.
Flndererfeits ift die Zahl, fofern fie unbegrenzt ift, notwendig
ein Phänomen, das fein eigentliches Sein im Werden, alfo in der Be-
wegtheit hat; was am fchärfften in der engen flnalogie der Defini-
tionen des unbegrenzten und der Bewegung felbft mittels der arifto-
telifchen Grundkategorien dévaμıç und äve'9;/sta hervortritt.
Es ift weiterhin klar erkennbar, daß die Zahl in diefem Zufam-
menhang als reines Stellenzeichen, nicht als Hnzahl zu
faffen ift. Nur vermöge der Gleidıheit der beim Zählen gemachten
Fortfchritte (um jeweils die Einheit) ift es möglich, die Länge einer
folchen Reihe zu meffen. Fiber Meffung unabhängig von der Reihen-
folge hat keinen Sinn.
1 Weil alfo die Hnzahl als beftimmte -wirkliche-f Menge notwendig
ift , nicht wird , ift fie notwendig endlich. Es gibt keine unendliche
Menge (åè'›zeıgoı' frlñdog) 1. ~

II. Kant über Zeit, Zahl, Unendlichkeit.


Dielen antiken Hnalyfen, die dem Begriff des unendlidıen in
fchnellem Fortfdıritt nicht lange nach feiner Entdeckung (die in halb-
mythifchem Gewand durch Hnaximander erfolgt, während die
begrifflichen fchon bemerkenswert fdvarfen erften Formulierungen
von Zeno, dem Eleaten und finaxagoras herrühren) zuteil
wurden, ftellen wir nun die Hnalyfe Kants gegenüber. Eine Ge-
fchichte des unendlichkeitsbegriffs im Zufammenhang mit dem Be-
griff der Zahl und der Zeit muß erft noch gefchrieben werden und
kann hier natürlich nicht gegeben werden. K an t wählen wir wegen
feiner grundfäglichen Verwandtfchaft mit Hriftoteles in diefer
Frage und wegen feiner pofitiven Stellung in der Frage der Be-
ziehung von Zahl und Zeit, eine Stellungnahme, die hinfidıtlich
ihrer prinzipiellen philofophifdven Bedeutung in dem nächften fib-
fchnitt (§ 6c III D) noch zu erörtern fein wird.
Es ift bekannt, daß Kant die beiden mathematifchen urdifzi-
plinen Hrithmetik und Geometrie den beiden finfchauungsformen
(des Menfchenl) Zeit und Raum zuordnet. Wie der reine Raum
1) Dies wurde klar ausgefprochen und bewiefen bereits durch den
Eleaten Zen o n. Vgl. das oben zitierte fragm. 3 (Diels) und die bekannten
Hrgumente von Hchilles und der Schildkröte u. dgl., die von B. Ruffell
mit Recht im Sinne einer ›>mengentheoretifchen- Vergleichung von »Mächtig-
keitenı interpretiert worden find (f. o. S. 144, Hum. 2).
214 Oskar Becker. [654]

der Geometrie, fo liegt die reine Zeit der firíthmetik zugrunde.


ñllerdings offenbar nicht in ganz derfelben Weile, denn die Zahl ift
urfprünglich diskret, die geometrifche Figur dagegen kontinuierlich.
Dem trägt Kant dadurdi Rechnung, daß die Zahl nicht in der
tranfzendentalen fifthetik allein behandelt wird, fondern außerdem
noch in dem Hauptftück der tranfzendentalen finalytik über den
Schematismus der reinen Verftandsbegriffe und da erft in eigent-
licher und maßgeblicher Weile. Dort heißt es:
-Das reine Schema der Größe (quantitatis) als eines Begriffs
des Verftandes ift die Zahl, welche eine Vorftellung ift, die fuk-
zeffive Hddition von Einem zu Einem (gleichartigen) zufammenbe-
faßt. filfo ift die Zahl nichts anderes, als die Einheit der Synthefis
des Mannichfaltigen einer gleichartigen Hnfchauung überhaupt, da-
durch, daß ich die Zeit felbft in der Hpprehenfion der Hnfchauung
erzeuge.-< (B 182.)1 Der Zahl entfpricht demgemäß die -Zeitreihe-.
Zur Erläuterung des eigentümlichen und vielumftrittenen Husdrucks
-Schema« fei noch folgendes angeführt:
»Dagegen ift das Schema eines reinen Verftandesbegriffs etwas,
was in gar kein Bild gebracht werden kann, fondern ift nur die
reine Synthefis . . . . , die die Kategorie ausdrückt und ift ein tran-
fzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Beftimmung
des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen ihrer Form (der
Zeit)2 in finfehung aller Vorftellungen, betrifft, fofern diefe der
Einheit der Hpperzeption gemäß a priori in einem Begriff zufammen-
hängen follen.- (B 181.) g
D. h. alfo die Kategorie (der reine Verftandsbegriff) der Größe
(quantitas) wird durch eine beftimmte reine Synthefis der Ein=
bildungskraft -ausgedrückt-, in der Weife, daß die fpezififche Zeit-
form angegeben wird, in der die einzelnen Vorftellungen gemäß
jener Kategorie zur Einheit eines Begriffes gebracht werden können.
Für den uns hier intereffierenden Zahlbegrifl° hat dies Kant
noda verftändlicher gemacht durch die Entgegenfegung von Bild
und Schema:

1) H bedeutet die erfte, B die zweite Huflage der Kritik der


reinen Vernunft. Die Zahlen bezeichnen die Seiten.
2) Vgl. dazu Tranfz. fåfthetik § 6, b: Die Zeit ift nid-:ts anderes als die
Form des inneren Sinns, das ift des finfchauens unferer felbft und unferes
inneren Zuftandes . . . lie beftimmt das Verhältnis unferer Vorftellungen in
unferem inneren Zuftand . . . und eben, weil diefe innere finfchauung keine
Geftalt gibt, fuchen wir auch diefen Mangel durch finalogie zu erfegen und ftellen
die Zeitfolge durch eine ins unendliche fortgehende Linie vor... (B. 49-50).
[655] Mathematifche Exiftenz. 215

>›- - wenn ich 5 Punkte hintereinanderfege, . . . . . , ift diefes


ein Bild der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt
nur denke, die nun fünf oder hundert fein kann, fo ift dief es
Denken mehr die Vorftellung einer Methode, einem
gewiffen Begriff gemäß eine Menge (z. B. Taufend)
in einem Bilde vorzuftellen, als diefes Bild felbft,
welches ich im legteren Falle fchwerlich würde -über-
fehen und mit dem Begriff vergleichen könnenl.
Diele Vorftellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Ein-
bildungskraft, einem Begriff fein Bild zu verfchaffen, nenne ich das
Schema zu díefem Begriff.« (B 179f.)
D. h. alfo, die großen Zahlen können nicht im anfchaulidwen
Bilde geftalthaf ter flrt mehr dargeftellt werden; es bedarf
eines Verfahrens, fich folche Zahlen auch über die unmittelbare
Vorftellung hinaus ››bildhaft« anfchaulich zu machen. Diefes Ver-
fahren befteht dann darin, die Zeit als die Form des »inneren
Sinnes«, der anfchaulidven Mannigfaltigkeit der Vorftellungsver-
knüpfungen, zu Hilfe zu nehmen, und die Zahl als eine gewiffe
-Zeitbeftimmung-, nämlich die -Zeitreihe-, aufzufaffen.
und zwar ift die Zeit-Reihe die fundamentalfte Zeitbeftím-
mung; fie allein bedarf im Gegenfag zu allen anderen Zeitbeftim-
mungen -Zeitinhalt-, ›Zeitordnung«, -Zeitinbegriff« nicht des -Re-
alen-, das die Zeitform erfüllt, fondern ergibt fich unmittelbar aus
der Form der Zeitbewegtheit felbft.
Man vergleiche dazu die Bemerkung aus der tranfzendentalen
Dialektik (fintinomie der reinen Vernunft, 1. fibfchnitt).
-Die Zeit ift an fich felbft eine Reihe (und die formale Be-
dingung aller Reihen) . . .« (B 438) und in der vorhin zitierten
Stelle: - . . dadurch, daß ich die Zeit felbft in der Hpprehen-
fion der finfchauung erzeuge-. -
Vergleicht man nun damit die ariftoteli fdie Lehre, fo kann
man die Definitíon der Zeit als ågcåμôg zwrjaawg '/.ard zö nígózegov
mil iiazegov unmittelbar interpretieren: Zeit als eine (ordnungs-
mäßig beftimmte) Reihe (analog wie die ordinale Zahlreihe). Wie
auch umgekehrt die unendliche Zahl nur im zeitlichen -Schema«
anfchaulich wird, entfprechend wird das åE›zsı9oı› von Simplicius
charakterifiert als zô är zıjš yí;/vs0.9aı. rô airaı äjgov.

1) Vgl. dazu außer der oben (S. 91, Finm. 2) zitierten Stelle aus der
»Kritik der Llrteilskraft« (1. fiufi. S. 86) den ganzen § 26, wo der
Sachverhalt ausführlich erläutert wird.
215 Oskar Becker. [656]

In der Tat: find fchon große endliche Zahlen nicht anders als
zeitlich aufzufaffen (in der Weile eines geregelten Durchlaufens an
der Hand eines beftimmten -figuralen Moments-), fo gilt dies von
unendlichen Zahlen erft recht (Husserl)1.
Damit ftimmt denn auch Kants eigene Huffaffung in dem Hb-
fchnitt über die Hntínomíen überein. 1
Das ›fchlechthín unbedingte-, die ganze (unendliche) -Summe
der Bedingungen« kann nur in der Form einer (unendlichen)
R ei h e von einander untergeordneten Bedingungen gegeben werden.
Obwohl z. B. der (unendliche) Raum an fich keine Richtung enthält,
mithin keinen unterfdaied von Progreffus und Regrefíus, weil er
ein -Hg g reg a t, aber keine Reihe ift« (›indem feine Teile insgefamt
zugleich ñnd-i), fo ift doch -die Synthefis der mannigfaltigen Teile
des Raumes, wodurch wir ihn apprehendieren, fukzeffiv, gel'chieht
alfo in der Zeit und enthält eine Reihe- (B 439).
Flhnlidı im Beweis der Thefis der I. fintinomie: »Nun können
wir die Größe eines Quanti, welches nicht innerhalb gewiffer Gren-
zen jeder Hnfchauung gegeben wird, auf keine andere Hrt, als nur
durdø die Synthefis der Teile und die Totalität eines folchen Quanti
nur durdı die vollendete Synthefis oder durch wiederholte Hinzu-
fegung der Einheit zu lid) felbft gedenken* (B 454, 456).
Dazu die Hnmerkung: »Der Begriff der Totalität ift in díefem
Falle nidıts anderes, als die Vorftellung der vollendeten Synthefis
feiner Teile, weil, da wir nicht von der Hnfdıauung des Ganzen
(als welche in díefem Falle unmöglich ift) den Begriff abziehen
können, wir diefen nur durch die Synthefis der Teile, bis zur Voll-
endung des unendlichen, wenigftens in der Idee faffen können«-.
und endlich die genaue explizite Beftimmung des unendlich-
keitsbegriffs in der Hnmerkung zur Thefis der 1. Fintinomie: Fehler-
haft ift der Begriff der ›Dogmatiker«: -unendlich ift eine Größe,
über die keine Größe möglich ift- (B 458). -Der wahre (tranfzen-
dentale) Begriff der unendlichkeit ift: daß die fukzeffive Synthefis
der Einheit in Durchmeffung eines Quantums niemals vollendet fein
kann- (B 460). (Vgl. Diifertation von 1770, sect. I, § 1, finm. 2.)
Man vgı. wieder Hriftoteles (Pbyfi1<.l11,6; zosb, aa -201a, 2);
›Svμßaı'veı dä roävavzíov sivaı. ärcaıgov, ij áıg i.e';›ovaı° 013 yåg od μøgdäı»
ššw, ci)./'L' od dei rc ä'§a› äazí, zoíiıo åíıvaıgóv äuuıfc. _
Das Ergebnis diefer fchnellen Durchmufterung der Meinungen
Kants über Zahl, Zeit, unendlichkeit ift die Feftftellung einer
1) Vgl. die Darftellung in § 5a I. (S. 90-94.)
[657] Mathematifche Exiftenz. 217

grundläglichen Übereinltimmung mit Hriltoteles. (Der tiefere


philolophilche Grund diefer Übereinftimmung wird in § 6c, IV, näher
beleudvtet.)
Die Zahl ift - fobald lie lehr groß oder gar unbegrenzt groß
wird - nur von der Zeitreihe aus zu verftehen (wobei Zeitreihe eine
Folge -diskreter« Flugenblicke bedeutet; die Relation des H b-
ftandes diefer Hugenblicke voneinander wird nid›t benötigt).
findererfeíts ift das unendlidıe feinerfeits nur in Beziehung auf das
zeitliche -immer wieder- konkret faßbar. Die Zeitreihe ift alfo das
zugrundeliegende ur-Phänomen 1.
III. Syltematifche unterfud›ungen.
fi. Die verldıiedenen Firten der unendlidıen Progrefñon.
Diefes Ergebnis hält nun audi der Prüfung vom -lyftematilchen«
Gefichtspunkt, d. h. dem der Gegenwart aus ftand. Denn wir brau-
dien uns bloß der früher angeftellten Erörterungen über die C anto r-
fchen Transfiniten zu erinnern, um die vollkommene übereinftim-
mung der fadılich-phänomenologifdıen unterludıung mit firi lto-
teles und Kant feftzuftellen.
Im Hnfdıluß an Hufferls -Philofophie der firithmetik- hatte
iich ergeben, daß die direkte anldiaulidve Erfaffung einer Zahl-
geftalt nur bei kleinen, vielleicht nur bei fehr kleinen Zahlen möglich
1) Es ift merkwürdig, das H ilb ert (in feinem öfters zitierten Huffag
über das unendlidie) bei feiner Durdvmulterung der -Natur- nad› dem un-
endlidven die Zeit v erg i ßt! Vielleidıt meint er nur aktual und gleich-
zeitig dafeiendes unendlidıes. Dies findet er freilich nicht. Fiber hat nidit
fchon fi ri ft o t el e s dies gezeigt?
Plndererfeits ift nodımals auf § 26 der Kritik der urteilskraft
hinzuweifen, wo außer der -logilchen (mathematildıen) Größenfdıägung-
(-comprehensio logica- durch den Zahlbegriff des Ve rfta ndes nach dem
Schema der Zeitreihe) nodı die -äfthetildıe Größenfchägung- (comprehensio
aesthetica) erwähnt wird. Diele legte führt auf die Idee der unendlidıkeit
und damit auf das -Mathematifdi-Erhabene-. Denn die V e rnunf t fordert
-zu allen gegebenen Größen, felbft denen, die zwar niemals ganz aufgefaßt
werden können, gleidıwohl aber (in der linnlidıen Vorftellung) als ganz
gegeben beurteilt werden, 'I`otalität«. -Das g e g e b e n e unendliche . . . ohne
Wíderlpruch audi nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen,
das felbft überlinnlich ift, im menfdilichen Gemüte erfordert.« In der
äfthetifdoen Größenlchägung -überlchreitet das Beftreben der Zulammen-
faflung das Vermögen der Einbildungskraft-, in dem als ››Grundmaß« das
-ablolute Ganze- der Natur genommen wird, welches -wegen der unmöglich-
keit der abfoluten Totalität eines Progreffes ohne Ende- ein -lich felbft wider-
fprechender Begriff- ift. - Das geftalthafte Denken verliert lich alfo in tran-
lzendentale Illulionen, die freilich den -›tranfz. Schein- der Ideen an fidı tragen.
213 ' Oskar Becker. [653]

ift. Sehr bald wird die größer werdende Menge nur noch dem
durchlaufenden Blick faßbar; wozu diefer Blick einer Füh-
run g durdı ein beftímmtes ›figurales Moment- bedarf. (Man denke
etwa an ein Hingleiten längs einer auffallend lich heraushebenden
Linie, an der man -entlangzählt-.) Damit tritt die Zeit in ihr
Recht. Dieles Durchlaufen braudit Zeit, alfo auch das Zählen. und
zwar ift dies nicht nur eine Trivialität - infofern alles Bewußtlein
in der Zeit ift -, fondern es gehört zum Sinn des Zählens und
der Zahl felbft, daß die Zeit dazu benugt wird den phänomeno-
logilchen Zugang zur Zahl zu verfchaffen. Die (größere) Zahl ift
nicht anders -originär« faßbar als im zeitlichen Zählprozeß. Das
unendliche ift prinzipiell niemals anders »gegeben-= als im offenen
Horizont des -Immer-Weiter--Zählens. Das dai frálw zai n:áP.ıi››
beftimmt die ontologilche Struktur des åíføsıgov als zô šv zig? yıfı›sa.9aı
zô eivaı šjgov. Deshalb ift es di-váμec ör, aber nidıt wie das -poten-
tiale- Erz in bezug auf die =›aktuale« Bildfäule, - fondern dig ij ijμégrr
:wi 6 ci;/cóıf: wie ein unbegrenzt fich wiederholender zeitlicher
Rhythmus.
fiber - lo richtig dies alles ift - damit ift noch nidit alles ge-
fagt. Es find die neuen phänomenologifdven Möglichkeiten, die
lid) aus dem Cantorldıen transfiniten Progreflus und der
Brouwerlchen -freien Wahlfolge- ergeben können, noch
nicht herausgearbeitet. Die -freie Wahlfolge- und der transfinite
Progreß find Formen unendlicher »Folgen-, die bisher nodv nidvt
auf ihre Zeitlichkeit hin betradıtet wurden. Vielleicht find es Phä-
nomene, die fich nicht dem Prinzip der Wiederholung oder beller.
der ltändigen Wiederkehr des Gleidıen fügen.
Denn z. B. die freie Wahlfolge trägt doch in lid) kein Prinzip,
das fie durd› ftändig wiederholte flnwendung derlelben Regel ins
unbegrenzte zuftande brächte. Zwar -›wähle« id› immer wieder,
aber doch eben -frei-, d. h. immer etwas Neues, eine neue Zahl,
die in keinem fchon vorhandenen Geleg enthalten ift. Jede Wahl
ift eine fdıöpferifche =-Tathandlung-, nidit das vorausfehbare Ergeb-
nis einer mechanildıen Redmung 1.
In einer anderen Weile entgeht die Reihe der transfiniten Ord-
nungszahlen dem Sdıicklal, eine -fchledite unendlid›keit- in H e g els
1) Ebenlo ift es, wenn die Zahlen einer werdenden Folge nach-
einander durdı Redmung zuftandekommen, ohne daß vorher voraus-
zulehen ift, welche Zahlen kommen werden oder auch welche Eigenfchaften
die kommenden Zahlen haben werden. Man denke an gewilfe zahlen-
theoretilche Probleme, wie das der ›Zwillingsprimzahlen-= ufw. (l. S. 66-68).
[659] Mathematifche Exiftenz. 219

Sinn darzuftellen. Obwohl ihr immer diefelben beiden (oder drei)


C an torfchen -Erzeugungsprinzipiem zugrunde liegen, fo erfordert
doch, nachdem eine gewiffe Stufe erreidıt ift, die Fortfegung die Schaf-
fung eines neuen Symbols, da jedes beftimmte endliche Zeichen-
iyitem fchließlich nicht mehr für die Bezeichnung der Transfiniten
ausreicht. Huch handelt es lid) nicht etwa nur um die mechanilche
gleidvförmige Einführung immer neuer einfacher Symbole (die
Zahl- oder Verknüpfungsfymbole fein können) a, 02 63 . . . . . ,
fondern die Hrt des überganges zum Limes ift immer wieder eine
andere; fie muß immer wieder neu entdeckt werden. Es be-
iteht ein ganz beftímmtes mathematildıes Problem der Bezeichnung
neuer Transfiniten, das z. B. von V eble n , Ma hlo 1 u. a. behandelt
worden ift. Es ift dabei keine Rede davon, daß man nodı alle
aufeinanderfolgenden Transfiniten lückenlos bezeidinen kann (das
kann man nidit einmal bis zu S21, der finfangszahl der III. C an t or-
ichen Zahlklalfel), fondern die durdı die Bezeichnung getroffenen
'Fransfiniten folgen aufeinander in immer größer werdenden
Sprüngen. Es liegt hier eine äußerlte Steigerung jenes Fortgangs
ins Endlole vor, der gegenüber die Endlofigkeit der gewöhnlichen
Zahlreihe allerdings als eine geringe und vlchlechte« unendlidikeit
erfdıeint. In dem gegenwärtigen Zufammenhang widıtig ift, daß
es zur Entdeckung (und Bezeichnung, was in gewiflem Sinn zu-
íammenfälltl) neuer Transfiniten eines wirklich fchöpferifchen
geiltigen fiktes bedarf. Es belteht wirklidi eine formale Hnalogie
mit der wahren unendlid›keit des dialektilchen Prozeffes bei H e g el.
Denn auch dort ift es zwar daslelbe Prinzip des dialektild›en Drei-
idıritts Thefis, Hntithelis, Synthefis, das immer wieder angewandt wird
(analog dem Cantorfdıen Wechlel zwifchen Fortfdoritt von ß zu ,B-l-1
und Limesbildung), aber trogdem bedarf es zur Huffindung des in
dem jeweils erreichten Begriff liegenden »Widerlprudis-< und zu
feiner ››Verföhnung« jedesmal einer neuen ldıöpferifdıen Erkennt-
nis. Nur durdı diefe ldıöpferildie Erkenntnis wird die Wahrheit
konkreter 2.
1) Siehe oben S. 112, 128 u. Math. Hnh. zu § 5, Vl B. 6
2) Für H e g els Charakterifierung und Kritik der -ldvledaten unendlich-
keit« vgl. z. B. »Wiffenfdiaft der Logik- I. Bud), I. Hbfchnitt, 2. Kapitel C.,
b. u. c. (Werke, 2. Hull., Berlin 1891, Bd. III, S.142ff.) und -Enzyklopädie der
philof. Wiflenlchaften« (herausgegeben von G. La lion) §§ 94, 95.
Für die formale Seite des dialektifchen Prozeffes ñehe das legte Kapitel
der -Logik«: -Die abfolute Idee« (l. c. Bd. V, S. 319ff.).
Befonders wichtig ift endlidı der Begriff des -flufhebens- (Logik I, I,
Kap. 1, Hum. S. 104f.), der das -Stirb und werde« der hiftorildıen Zeitlidikeit
42*
220 Oskar Becker. [660]

Blickt man nun auf diefe neue Hrt ins Unendliche zu gehen, die
bei der Wahlfolge und dem transfiniten Progreß auftritt, hin, io erhebt
iich nunmehr die ontologíídve Frage nach der Weite der Zeit-
lichkeit, die diefen ›l.Inendlichkeiten« als ipezififdven Phänomenen
eignet. Es handelt iich jegt nicht mehr um das ariftotelifche öínaıgov
åvváμeı å`v ofıg frjμšga */.ai Ö åyufm Die yšvsoıg, die jeßt in Frage
fteht, ift eine neue und andere. Der ågıåμôg ^/.mfioewg diefer
neuen ›Bewegtheit« ift nicht mehr die alte natürliche Zahl, die
ins Indefinite, aber nicht ins Transfinite läuft und auch nicht »frei
gewählt« wird. Zugleich hat man hier nicht mehr diejenige Zeit,
die »die Bewegtheit« auf ihr Sein hin mißtl. Denn gerade das
Meiien befteht ia in dem wiederholten Hnlegen ein und des-
íelben Maßítabes, der die Einheit darftellt. Es entfpricht da-
her der natürliduen Zahlenreihe, wie ia fchon Euklid die Zahl
als Vielheit von Einheiten definiert“.
Welches ift nun diefe Weiie der Zeitlidıkeit, die ihrem Sinne
nach keine meiiende (und im gewöhnlichen Sinn zählende) Funktion
ausüben kann? Sie ioll mit dem Terminus ıhiftorif che Zeit-
lichkeit« belegt werden; - aus Gründen, die ipäter zu er-
örtern find.
B. Die hiítoriiche und die naturhafte Zeit.
Diele Weiie der Zeitlidøkeit ift zuerft von Heidegger phäno-
menologifdı beicbrieben worden. Wir geben im folgendenzunächft
einen freilidv äußerit kurzen Hbriß der H eideg geríchen De-
ikription 3.
in feiner Weile ausdrückt. - Endlich fei auf das unten (S. 228) in extenso
angeführte Stück aus der Vorrede zur ~Phänomenologie des Geiftes«
(S. XXXVIII) hingewiefen, wo der Hegeliche Grundgedanke in feiner
fríi h en Faiiung beíonders lebendig ericheint.
1) Vgl. »ami š0'n ıfi ıtwrjøu 16 iv 193 xgóvqı ıivou. rà μergeíoärrı, iq) xgóvqı :cm
aüfiμf mi. fà eívm miıñc-=. (Hrift. Pbyf. IV, cap. 12, p.221 a 4--5.) - Vgl. o. S. 210.
2) Euklí d, Elemente VII, Def, 2. ågıßμôç dä rè šx μovrídwv auyxııíuevov
711-ñ90;. - Vgl. ferner die eigentümliche Kant-»Stelle (Kritik der reinen Ver-
nunft B. 300): »Den Begriff der Größe überhaupt kann niemand erklären.
als eben fo: daß fie die Beftimmung eines Dinges fei, dadurch, wievielmal
Eines in ihm gelegt ift, gedacht werden kann. Hlleín diefes Wíevielmai
gründet fich auf die iukzeiiive Wiederholung, mithin auf die Zeit und die
Syntheñs (des Gleichartigen) in derfelben.- -
Hllerdings ift zu bemerken, daß man bei einer infiniteñmalen Maßein-
heit ñdı mit der Gleichheit unmittelbar benachbarter »Einheitsftreckenı be«
gnügen kann. (S. u. S. 225 Hnm. 2.)
3) Hls Quelle liegt im weientlichen zugrunde ein vor der M a r b u r g e r
Theologenfdıaft am 25. ]uli 1924 von H e i de g g er gebaltener Vortrag mit
[661] Mathematifche Exiftenz. 221

Die H ei d e g g e r fche Zeitexplikation hängt wefentlich zufammen


mit feiner Explikation des (menfdvlichen) Dafeins felbft, die näher
beftimmt ift als Huslegung (Interpretation, šgμøyveia, wovon der
Husdrudt ›hermeneutiiche Phänomenologim). Dieeigent-
liche Huslegung menfchlichen Dafeins ift Selbftauslegung und »die
Selbftauslegung des Dafeins, die jede andere überragt, ift die auf
feinen To d« hin, d. h. »auf die unbeftimmte Gewißheit der eigenften
Möglichkeit des Zu-Ende-Seins-=. Denn »das Dafein ift in der
Jeweiligkeit, es ift das meinige, - wie foll es da erkannt
werden, bevor es zu feinem Ende gekommen ift? . . . . . Vor feinem
Ende ift es eigentlich nur das, was es fein kann- (und Dafein ift
nach Heidegger wefentlich Möglichkeit, ôóvaμıg), - -und ift es
am Ende, fo ift es nichts-«. So zeigt iich das Dafein im Tode, oder
befier im Vorblick auf den eigenen Tod in feiner äußerften (onto-
logifchen) Möglichkeit. Der Tod aber fteht vor dem Dafein zugleich
in völliger Gewißheit und völliger Llnbeftimmtheit. So ift
das Wiffen um den (eigenen) Tod -das Vorlaufen des Dafei ns
zu feinem Vorbei als einer gewiffen, ganz unbe-
ftimmte n Möglidıkeit feiner felbft«. In díefem »Vorlaufen-
aentdeckt fich das Dafein als einmal nicht mehr da«, und damit
enthüllt iich das »W i e feiner Jeweiligkeit-f, demgegenüber alles Was
feines alltäglichen Sorgens verfchwindet.
Mit diefer Stellung des Dafeins zu fich felbft, dem Vollzug feiner
Selbft-Entdeckung hängt nun das Phänomen der »eigentlichen-= [in
unferer Terminologie: der hiftorifchen] Zeitlichkeit zufammen.
Denn in dem gefchilderten »Vorlaufen zu feinen eigenen Vor-
bei-« ift das menfchlidve Dafein »zukünftig-=. »Es ift dann feine Zu-
kunft, es kommt in díefem Zukünftig-Sein auf feine Vergangen-
heit und Gegenwart zu-rück.-= »Das (menfchlíche) Dafein in diefer
Möglichkeit ergriifen ift die Zeit felbft: es ift nicht nur in der
Zeit, fondern ift felbft zeitlich.« Has der Zukünftigkeit gibt
fich das Dafein felbft feine Zeit. Im Vorlaufen zu feinem Vorbei
hat es Zeit. Das Grundphänomen der Zeit ift alfo die Zukunft.
»Der urfprünglidøe Umgang mit der Zeit kann alfo nie ein
Meff en fein, fondern das Zurückkommen im Vorlaufen ift das

dem Titel »Die Zeit-, (Nicht veröffentlicht. - Die jegt gedruckte Husführung
in »Sein und Zeit« konnte im Text noch nidvt berüdıfichtigt werden.) Die
Wiedergabe fdıließt iich möglichft eng an eine Nachfchrift des Vortrages
an, die mir zur Verfügung ftand. Vollftändige Treue der Wiedergabe war
natürlich nicht zu erreichen. Doch habe ich an den markanteften Stellen
(nidvt bei allen übernommenen Husdrücken) Hnführungszeichen gelegt.
222 Oskar Becker. [662]

Zurückkommen auf ftändig daslelbe Einmalige, auf das Wie des


Beforgens, in dem ich gerade verweile«-. Dies Immer-Wieder-Zurüdv
kommen kann nie langweilig werden. Die jeweiligkeit hat aus dem
Vorlaufen in die Zukunft alle Zeit jeweilig für fich. Di e Zeit
wird fo nie lang; weil fie urfprünglich überhaupt
keine Länge hat. Das Vorlaufen bricht aber in fich zufammen
bei Fragen nach dem »Wann-etwas vorbei fein wird?-= und dem
»Wie lange - noch etwas andauert?-= Solche Fragen iind gar nicht
im Vorbei, fondern halten fich an das »Noch-nicht-vorbei«, befchäf-
tigen iich mit dem, was mir möglicherweife noch bleibt, ergreifen
nicht die llnbeftimmtheit der Gewißheit des Vorbei, fondern wollen
fie im Beftimmen befeitigen; fie organifieren die Flucht vor dem
Vorbei.
Trogdem mißt das »Dafein in der fllltäglichkeit« ftändig die
Zeit, es »lebt mit der Uhr-, wenn auch nur mit der =›Tag- und
Nacht-l.lhr«. Das foll heißen: die natürliche Rhythmik der kosmi-
fdıen und biologifchen (leiblichen) flbläufe (Tag und Nacht, Wachen
und Schlafen, Jahreszeiten und Vegetationsperioden ufw.) mißt die
Zeit. Das alltägliche Leben wird dadurch veranlaßt die Zeit einzu-
teilenl: »man-= rechnet mit der Zeit.
Diefe nichthiftorif che Dafeinsweife des Menfchen ift vor
allem durch ein von dem hiftorifchen verfchiedenes Zukunfts-
phänomen gekennzeichnet.
»Die Zukunft [diefes nicht-hiftorifchen Dafeins] ift das, woran
die Sorge [des Hlltags] hängt. Nicht das eigentliche Id. i. das hilto-
rifche] Zukünftigfein des Vorbei [ift damit gemeintl, fondern die
Zukunft, welche fich die Gegenwart als die ihre ausbildet, als ein e ,
welche Gegenwart werden foll. Das Vorbei als
eigentliche Zukunft kann nie Gegenwart werden, -
wäre fie das, dann wäre fie das Níchtsl«
=›. . . So in der Welt feiend, ift das Dafein zugleich das Dafein
als die Zeit, in der man miteinander ift. Die Uhr, die man
hat, zeigt die Zeit des Miteinander-in-der-Welt=Seins. Darin liegen
die . . . Phänomene der 'Generation' und 'Tradition'«.
Diefe ›gemeffene Zeit« »fließt ab-=, »diefe Gegenwartszeit wird
explizit als Hblaufsfolge, die ftändig durch die Zeit rollt-. Die
Zeit wird dabei >>homogenifıert«, dies bedeutet: »Hngleíchung an die
fchlechthinnige Pr/äfenz« (Hngleichung der Zeit an den Raum,

1) Tempus heißt eigentlich (Zeit-Qfibfchnitt. Wurzel »te-m., wovon;


femplllm, ršμëvoç, 'ršμvto ufw.
[663] Mathematifche Exiftenz. 223

[B ergf o nl, Zeit als vierte Koordinate der ››Weltmannigfaltigkeit«


[Minkowski1). - - Soweit Heideggerk- D
Für die gegenwärtige Problemftellung ift vor allem wichtig die
Llnterfcheidung zweier flrten von Zeit, der hi ftori fchen und der
nidıt-hiftorifchen; in der Terminologie Heideggers: der
eigentlichen Zeit(lichkeit) und der Zeit des Dafeins in feiner Hlltäg=
lichkeit oder des ›man«2 (d. h. alfo die Zeit, in der »man-= lebt).
Dem Mathematiker und Naturforfcher liegt feinen ganzen Denkge-
wohnheiten nach die nicht-hiftorifdıe Zeit viel näher als die
hiftoriiche; wir wollen jene auch pofitiv als »Natur-Zeit«
oder »naturhafte Zeit« bezeidmen3.

1) Man lieht fchon aus dem gegebenen Huszug, daß Heidegger


das Problem der Zeit in das philofophifche Grundproblem des Sei ns (das
o ntolo gifche Problem) hineinftellt. Es muß hier verwiefen werden auf
feine ñbhandlung »Sein und Zeit<<. Dort heißt es in der Eingangs-
bemerkung, das Ziel der Hbhandlung fei die »Interpretation der Zeit als
des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverftändniffes überhaupt-=.
2) Für Heidegger ift das ››man<< des alltäglichen Llmgangs das, was die
eigentliche Zeit nicht hat. D. h. diefes ~›man<< ift der Repräfentant des
nichthiftorifchen Lebens (Dafeins.) Vgl. die folgenden Stellen aus dem Zeit-
Vortrag: »Dafein ift ferner beftimmt als »ich bim: ebenfo primär wie in der
Welt fein ift es auch immer mein Dafein, je eigenes, jeweiliges Dafein. . . .
So es ein Seiendes ift, das ich bin und dies zugleich im Miteinander-Sein,
bin ich mein Dafein zumeift und durchfchnittlich nidıt felbft . . . Keiner
ift in der Hlltäglichkeit er felbft. Diefer Niemand, von dem man gelebt wird,
ift das ››man<<, aus deffen Hartnäckigkeit das »ich bin« möglich ift.<< -- Hier
fcheint aber doch berückfichtigt werden zu müffen, daß das Phänomen »mans
foziologifch eine ganz beftimmte fpäte ››gefellfchaftliche<< (Tönnies) Struktur
an fich trägt; der entwidtlungsgefchichtlich un d f i n n g e n e t i f ch die foziale
Form der ››Gemeinfchaft<< (Lebensgemeinfchaft, Bluts-, Stammesgemeinfchaft
ufw.) vorausgeht. Hlle diefe primitiveren ›>Wir<<-Phänomene ftehen im Gegenfag
fowohl zum ››Ich<< wie zum »Mann Die für fie kennzeidmende Zeitlichkeit
ift nahezu die Naturzeitlichkeit; das faktifche (heutige) »Mam ift dagegen-ein
naturhaft - hiftorifches Mifchphänomen.
3) Wir dehnen dabei den Begriff ›>Natur<< über feinen gewöhnlichen
Umfang hinaus aus. Wir nennen Natur alles Seiende, was ››naturhaft<< ift,
alfo, außer der äußeren, »totem und lebendigen, Natur, auch noch das natur-
hafte Sein der Naturvölker, des Kindes (des ›Naiven«) und des menfchlichen
Trieb lebens. (Vgl. den Wortgebrauch im Sprichwort: »naturalia non sunt
turpia« und »naturam expellas furca, tamen usque recurret« (Horaz).) Es kommt
alfo zur äußeren Natur noch hinzu das Primitiv-Seelifch e. - Hlle
diefe Phänomenbezirke find u. E. gekennzeichnet durch ihre -nicbthiftorifche-=
Zeitlichkeit, in der fıe nicht etwa nur lind, als in einer Leerform, fondern
durch die lie ontif ch wefentlich mit ausgemacht (konftituiert) werden. -
Wieweit das Math ematif ch e naturzeitlich ift, wird im 'Text erörtert.
224 Oskar Becker. [664]

Das Kennzeichnende der Naturzeit gegenüber der hiftorifdıen


Zeit ift das Beftehen der Möglidıkeit der Wiederkehr des
Gleichen, des Sido-Wiederholens des gleichen Ereigniffes.
Dagegen kennt die hiftorifche Zeit die Wiederkehr nicht; man könnte
zugefpigt fagen: (echte) Zu kunft fchließt (echte) Wi e d erkunft aus.
Indem die Dinge ftets auf mich zu-kommen d. h. auf mein Dafein
in feiner einmaligen Jeweiligkeit gewiffermaßen zugefpigt find, können
fie nicht in der gleichen Weile wiederkommen, denn damit wür-
den fie ihre eindeutige Zugefpigtheit verlieren. Daınit ift (in der
hiftorifchen Zeit) genau genommen auch die Katogorie des Glei di en
ausgeichloffen, es gibt dort nur Nämlichesl. (Identifches im
ítrengen Sinn.) Die Zeit ift beide Male in ganz verfchiedener
Weiíe principium individuationis. Naturzeit ermöglidıt das
Wiederauftreten des genau Gleichen (öμoeuiáç) »zu verfchiedenen
Zeiten«. So ift etwa ein Schlag des Pendels wie der andere, der
Lauf der Sonne nad» genau einem Jahr fo wie ein ]ahr zuvor. Budo
im Reiche des Lebendigen gilt ähnliches. Schopenhauer fagt
(die Welt als Wille und Vorftellung, II. Bd., Kap. 91; S. 549). »Ich
weiß wohl, wenn idı Einem ernfthaft verficherte, die Hage, welche
eben jegt auf dem Hofe fpielte, fei nodı diefelbe, weldae dort vor
dreihundert jahren die nämlichen Sprünge und Sdıliche gemad›t hat,
1) über den Llnterfdıied von Nämlichem und Gleichem vgl. H.
Hmmann, Die menfd'›lid›e Rede 1 (Lahr i. B. 1925), I. Teil: die Idee der
Sprache und das Wefen der Wortbedeutung, 6. Kapitel: der Name, bef.
Seite 71f. Etymologifch kommt mämlidı« von Name, »gleich-= von
g eli di = c o n fo r m i s ›diefelbe Befchaffenheit habend-. (got.: galeiks =
übereinftimmenden Leib habend, von got. leik === Leib.) - H m m an n be-
merkt weíter, man könne »das Verhältnis der ~Nämlid›keit« . . . in voller
Entfchiedenheit nur auf den Men ich en anwenden-=.
-. . . Der legte Sinn der »Nämlichkeit-= liegt bei Gegenftänden wie bei
Tieren immer in der Bezogenheit auf den Menfd›en, in der Rolle, die -diefer-
Gegenftand in meinem Leben gefpielt hat-.
›. . .Die Einheit des Gegenftandes, die feine Identifizierung
geftattet, ruht legten Endes in der Einheit des Ida, das fid›
mit fich felbft identifch weiß.- Dies gilt (nad) Hmmanns wie
nad› unferer Hnlicht) für den h i ft o ri ich e n Menfdıen (den »mit Bewußtlein
ausgeftatteten Menfchen-). Der Primitive (-›das frühmenfchlidıe Denken-)
kennt die Identität der Perfon noda nidıt. (Vgl. die Husführungen 1. c.
S. 73-76.) -
In diefen Beftimmungen, die - mit einigem Vorbehalt -~ o n t o l o g i ich e
genannt werden können, fpiegelt lich derfelbe Grund-Gegenfat) zwifchen
Hiftorifdıem und Nicht-Hiftorifdiem, ~Geíft- und »Natur-, der ñd› beim
Phänomen der Zeitlid-ıkeit als Gegenfag zwifchen »Zukunft-« und »Wieder-
kunft« gezeigt hat. - -
[665] Mathematilche Exiftenz. 225

er midi für toll halten würde: aber idw weiß auch, daß es fehr viel
toller ift, zu glauben, die heutige Kage fei durdı und durd›
und von Grund aus eine ganz andere, als jene vor dreihun-
dert ]ahren«1. (Vgl. Hriftot., Metaph. Z, c. 7, p. 1032a 24-25:
if- xaıå rô eidog_Äeyo_uåm; cpåaıg 1) óμoeıdıfig' aiín; d'åv Zíllgu' Zívågcofroç
yàg åívågwfvov yevvıš.) `
Die genaue Gleichheit ift empirifdı (wie alles ›Genaue«) zwar
niemals verwirklicht, aber fie ift (ideal) möglich: man kann lich
genau gleiche Wiederholungen d enk en, die Hbweidıungen find »zu-
fällig«. Ein Naturvorgang läßt fich in zeitlicher Hinficht direkt kenn-
zeichnen als ein zeitlicher Hblauf, was befagt, daß eine genaue
Wiederkehr wefenhaft möglidı ift. So legt z. B. eine Uhr idealiter
eine folche genaue Wiederkehr voraus, fie ift ein Hpparat, um einen
rein periodifchen Vorgang hervorzubringen 2. Denn nur fo

1) Noch eine andere Stelle verdient angeführt zu werden (l. c. S. 543):


›Durchgängig und überall ift das edvte Symbol der Natur der Kreis, weil er
das Schema der Wiederkehr ift: Diele ift in der Tat die allgemeinfte Form
der Natur, welche fie in allem durdiführt, vom Laufe der Geftirne an bis
zum Tod und der Entftehung organifcher Wefen, und wodurch allein in dem
raftlofen Strome der Zeit und ihres Inhalts doch ein beftehendes Dafein,
d. i. eine Natur, möglich wird-=. Die Vorftellung diefer Wiederkehr des
Gleichen ift bekanntlich faft allgemein antiker Glaube: Plato, Hriftoteles
die Stoa, Plotin ftimmen darin überein, Epikur macht eine merk-
würdige Husnahme. -~ (Vgl. Ernlt Hoffmann in De lfoirs Lehrbudı
der Philolophie Bd.I (Berlin 1925), Seite 219f.) -
Niegfche hat in feiner Lehre von der »ewigen Wiederkunft- diefe
uralten Motive wieder aufgenommen.
2) Vom Geñchtspunkt der modernen Phyfik kann man gegen die Be-
hauptung des Textes einen Einwand erheben: H. We yl hat in feiner Weiter-
bildung der allgemeinen Relativitätstheorie zu einer reinen Infiniteñmal-
geometrie der Raumzeitmannigfaltigkeit audi für Raum- und Zeitftredcen
das »Naheprinzirw eingeführt, demzufolge zwei kleine Strecken nur in unmittel-
barer (räumlicher bzw. zeitlicher) Nähe miteinander verglichen werden
können. Erft durch eine ›unendlid› häufige- Wiederholung einer derartigen
Nahübertragung kommt man zu einem Fernvergleich. Es ift nun i. a. durch-
aus nidıt notwendig, daß diefer Vorgang =›vollftändig integrabel« ift, d. h.
durchwandert man mit Maßftab und Uhr einen gefchlolfenen Weg von kos-
mifdıen Dimenlionen, fo braucht man nicht mit dem gleidilangen Maß und
der gleich fchnell gehenden Uhr zum Husgangspunkt zurüdczukommen, w e n n
auch die Wanderung ftörungsfrei durchgeführt würde.
Die »Wiederkehr-« gilt alfo hier nur im Inñnitelimalen. (Vgl. Weyl, ~›Raum,
Zeit, Materie« 5. Hufl., Berlin 1923, §17 u. § 40 und meine Hrbeit, dl.
]ahrb. VI, S. 529ff.) -- Man kann von díefem Gedanken eine Hnwendung
machen zurßeftimmung desverhältnilfes von biologifcher Ent-
wicklung und menlchlidıer Gefdıichte. Die Wiederkehr des
226 Oskar Becker. [666]

kann die zeitlidıe Maßeinheit von einer Stelle zur anderen über-
tragen werden.
Von der Seite des Gedächtnilfes aus erldieint diefe primitive,
naturhafte Zeitform als die bildhafte Wiederholung einer vergangenen
Situation und Situationskette (die wie ein Film wiederholt »ab-
rollen« kann)1 - im Gegenlag zur hiftorifchen Erinnerung , dem
expliziten Sich-Fineignen der eigenen Vergangenheit, die man zu-
vor fchon »ift-. - -
Dagegen individuiert die hiftorifc:he Zeit durchaus nicht in diefer
Weile der ›Vereinzelung« ganz gleid›er, nicht mehr fpezifizierbarer
Gegenftände. Sie individuiert nur fo, daß jedes Individuum jeweils
auf feinen eigenen Tod verwiefen wird, für den es fich nicht irgend-
wie vertreten laffen kann. »Im Zukünftigfein wird das Dafein es
felbft, wird fiditbar als die einzige Diesmaligkeit feines einzigen
Sdıickfals, in der gewilfen Möglídıkeit feines einzigen, einmaligen
Vorbei. Dies verhindert aber gerade, das Individuum als Husnahme-
exiftenz aufzufaffen, fdılägt gerade jedes Sidi-Herausnehmen mit
einem Schlage nieder, individuiert fo, daß es fie alle gleichmacht:
im Beifammenfein mit dem T o d e , wo keiner vor dem anderen aus-
gezeichnet ift, in einem Wie, in dem alles Was zerftäubt.-1 (Heid-
egger, Zeit-Vortrag.) - -
Es handelt fich nun darum, das Formale diefer hiftorifdien
Zeitlichkeit herauszuheben.
Gleidıen in der Kette der Zeugungen (qušmç óμoucifjc Hriftoteles) gilt
nur im infinitefımalen Bereich, der die gefamte zeitliche Erftreckung der
menfchlid›en Gefd›id›te enthält. im Großen ift der Prozeß nicht in t e g r a b el ,
d. h. Raffen und felbft Tierfpezies ändern lidı in den »biologifch großen-
Zeiträumen. [Man führt ››die Rückkehr zum Husgangspunkte« durd›, indem
man etwa ein fofiiles Skelett mit dem des entfprechenden heutigen Tieres
vergleid¬›t.] - - Doch ändert all dies an der Gegeniiberftellung von Natur-
zeit und hiftorilcher Zeit nichts; denn die hiftorilche Zeit hat audi »im
Infinitefimalen« grundfá§lid› keine Möglidikeit der Wiederkehr.
1) Neuere pfychologifche und ethnologii'che Forfchungen haben einerfeits
die »fubjektiven optifchen Hnldaauungsbilder« als primitive Gedäditnisleiftung
aufgewiefen (E. R. J aenfdı), wobei es auf die ››objektive<< Treue im Ver-
hältnis zum ››Reizvorgang<< nid›t fo fehr ankommt (diefe ift im primitiven
Seelenleben in mandaer Hinñcht geringer als beim ausgebildeten), fondern
nur auf die Gegebenheit des ››eidetifchen« Bildes (Jaenfch) als
eines gegenwärtigen.
Hndererfeits ift auf die ungeheure Gedächtnisleiftung der Primitiven
hinzuweifen (wörtliches Rezitieren langer Epen, Wiederkennen aller Einzel-
heiten eines langen unüberfidıtlichen Weges ufw.), die iich nur durdı ein
››Wiederabrollen- des Original-Vorganges verftehen läßt. (Lévy-Brühl,
H. Schweiljer u. a.).
[667] Mathematifche Exiftenz. 227

Zu dielem Zwecke werde diefer Zeitbegriff zunächft von feiner


Zufpigung auf die perfönliche Exiftenz des Einzelnen abgelöft und
auf die hiftorifche Zeit einer kulturell gefdfloffenen Menfdven gruppe
übertragen, womit das von Heidegger erwähnte Problem der
»Generation-1 berührt wird.
Die hiftorifd›e -Generation-= ift zwar im Miteinander da, aber
doch als Ganzes betrachtet, ft erblidı , - im Gegenfag zum »man-f.
das nidvt ftirbt.
Es handelt fich dabei nidıt um die Generation im biologifdven.
fondern im hiftorifchen, ›geiftigen- Sinnl. Jede folche »Gene-
ration-« hat ihre fpezififchen ›fiufgaben-, ihren ››Stil«, ihre Weile
des Sehens ufw. Schöpferifdı ift fie in ihrer Jugend (Pubertät).
Ihr erwachfenes Leben befteht im Explizieren und zu Ende bringen
des in der fchöpferifdien Krile der Pubertät Konzipierten. (Was
vielleidit nidvt ausfchließt, daß befondere -geniale-= Individuen wieder-
holte Pubertätsperioden haben, wie Goethe von fidv fagte.) Das
heißt - zeitlid› betraditet - jede Generation ift geiftig bezogen
auf ihr eigenes Ende (rsleımfi). Ihre ›Geiftigkeit« befteht gerade
darin, fich zu Ende zu bringen (etwa zu Ende zu denken, zum
-legten-: Husdrudc zu bringen). Was nadı ihr kommt, ift ihr prin-
zipiell dunkel. Die nädıfte neue, heranwadıfende Generation wird
von der alten im Grunde nidit mehr verftanden, d. h. die alte ver-
fteht das Wollen, die Sdıaffensrichtung der neuen nicht mehr.
Der Geift muß fid› alfo felbft verleugnen, muß fterben, um aufs
neue zu werden. »Stirb und werde!-= ift der für ihn als Geift
idılechthin konftitutive Imperativ. Der hiftorildae Geift (der ftets
nur, eben als wefenhaft hiftorifdver in der je weilig en Generation
fein konkretes Dafein hat) hat fidı alfo nur als folcher, wenn er
»zu feinem eigenen Vorbei vorläuft-=. (Heidegger.) Dann hat
er feine eigentlidie Zu-kunf t, er kommt zu fid› felbft in feiner
einmaligen Jeweilígkeit und Diesheit zurück und begreift darin erft
feine ihm eígentiimlidıe Weile des Seins.
Jede Bekümmerung um eine ››Zukunft, die Gegenwart werden
foll- (alfo etwa Sorge um künftige Kultur) lähmt die Schöpferkraft
des Geiftes. Nur wenn der Horizont, in den hinein er fd›reitet,
dunkel ift - das »gewiffe, aber unbeftimmte Vorbei« - , hat der Geift
1) Wir bezeidmen das hiftorif che Leben (Dafein) als Geil t und
ftellen ihm das nid›t-hiftorifche, z. B. das =›prähiftorifche- (friihmenfchliche)
und »fubhiftoril'che« Dafein (unterınenfd›liches Triebleben) als N atur
gegenüber. ~ filles -Geiftige-= ift alfo für uns wefenhaft h i ftori ich und
keineswegs -übergefdıidıtlidw-E!
228 Oskar Becker. [668]

die Freih eit des S du affens , des Hineingeftaltens in die Leere,


die vor ihm liegt. Trogdem wirkt er gerade damit zugleidıl aus
feiner edıten hiltorifchen Tradition heraus, aber diefe ift ihm nicht
als etwas Fremdes bewußt, wonach er lid) richten müßte (als wie
nada einer Norm), fondern er ift feine Gefchichte felbft.
(Graf Yorck: »wir lind die Gefdvichtefl)
Der erfte, der diefe Zeitlichkeit des Geiftes erldıaut hat -
wenn auch nicht unter díefem Namen -, war Hegelı. Es fei fol-
gende Stelle aus feiner Vorrede zur ››Phänomenologie des Geiftes«
angeführt (Seite XXXVIII): -Der Kreis, der in fich gefdfloflen ruht
und als Subftanz feine Momente hält, ift das unmittelbare und
darum nicht verwunderlame Verhältnis. fiber daß das von feinem
Umfange getrennte Fikzidentelle als folches, das Gebundene und
nur in feinem Zufammenhange mit anderem Wírklíche ein eigenes
Dafein und abgefonderte Freiheit gewinnt, ift die ungeheure Madıt
des Negativen; es ift die Energie des Denkens, des reinen Ich. Der
Tod, wenn wir jene Unwirklidıkeit fo nennen wollen, ift das Furd›t=
barfte, und das Tote feftzuhalten das, was die größte Kraft er-
fordert. Die kraftlofe Schönheit haßt den Verftand, weil er ihr
dies zumutet, was fie nicht vermag. fiber nicht das Leben,
das lid) vor dem Tode fcheut und vor der Verwüftung
rein bewahrt, fondern das ihn erträgt und fich in
ihm erhält, ift das Leben des Geiftes. Er gewinnt feine
Wahrheit nur, indem er in der abfoluten Zerriffenheit fid› felber
findet. Diele Macht ift er nicht als das Politive, welches vom Ne-
gativen wegfieht, wie wenn wir von etwas lagen, dies ift nidıts
oder fallch, und nun, damit fertig. davon weg zu irgend etwas
anderem übergehen; fondern er ift diefe Madıt nur, indem er dem
Negativen ins Hngeficht fchaut, bei ihm verweilt. Dieles Verweilen
ift die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.-= - -
C. Mathematik und Zeitlichkeit.
Wir wiederholen nun unfere Frage: Weldıes ift nun die for-
male Struktur dieler hiltorifchen Zeit? Und weiter: Welcher Zu-
lammenhang läßt lich finden zwifdıen ihr und den früher gefchil-
derten mathematifdven Phänomenen der Wahlfolge und des
transfiniten Progreffes?
1) Vgl. dazu Heidegger, »Sein und Zeit« § 82, wo zwar der hier
nicht behandelte explizite ZeitbegriffHegels in feiner naturhaften
Struktur hauptfächlich dargeftellt ift, aber dod› auch (l. c., S. 435) auf den im
Text hervorgehobenen Zufammenhang hingewiefen wird.
[669] Mathematifche Exiftenz. 229

Die Bezeichnung der Wahlfolge als einer »f r ei w e r d e n d en-


Folge führt auf den gemeinlamen Zug. F r ei w e r d e n - das kann
nur der Geift, das hiltorildıe Dafein. Die Freiheit des Werdens
ift wefentlich Freiheit des Sdvaffens - bei der Folge aber die Frei-
heit der Wahl, die das neue Folgeglied ››fchafft«. Diele ift - was
den zugrunde liegenden Zeitcharakter anlangt - nur möglich durch
die Dunkelheit der Zukunft, - des eigenen Vorbei. So ift jede
einzelne Wahl ››vorbei«, wenn die nächfte vollzogen wird. Bei der
erften Wahl ift die folgende (und alle weiter folgenden) völlig
unbeftimmt - aber ihr Stattfinden ift gewiß. Man erkennt
Zug um Zug die Eigentümlidokeiten der hiftorildven Zeit.
Ob eine beftimmte Zahl in der Folge vorkommen wird, ift
nicht entfdıieden; auch nicht »an lich-. Kein »ewiges Gefeg- be-
herrldıt die Folge. Gerade deshalb ift die Folge ein »eigentlich
zeitliches« Phänomen. Der ausfdvlaggebende Umftand, der die
Entfcheidung über das künftige Vorkommen einer beftimmten Zahl
ausfchließt, ift, daß keine nodı fo große fefte Zahl M a priori
angegeben werden kann, (derart, daß die Entfdıeidung mit der
(M + 1)*°“ Wahl fallen muß. Könnte irgendeine folche Zahl an-
gegeben werden, dann wäre ihre Größe ganz gleichgültig; die
Sdmelligkeit der aufeinander folgenden Wahlen kann nicht ge-
meffen werden, ift beliebig. Die Frage »wie lange es nod'›
dauert« hat keinen Sinn. I
Man kann diefe Verhältnifle mit der Sterblidıkeit des
M e n f ch e n in Zufammenhang bringen: der Menfd› als Mathematiker
ftirbt notwendig, bevor er die Folge zu Ende gewählt hat. Weldıes
noch fo entfernte Glied der werdenden Folge er auch ins Huge
faßt, die Entfcheidung kann möglidıerweife erft fpäter fallen: jen-
leits des ins Huge gefaßten Ziels, im Gebiete des »Vorbei-= der
zielenden Intention. Wäre der Menfch unlterblich, fo gäbe es den
Unterfchied zwifchen freien und geleglich gebundenen Folgen nicht..
fiber dagegen läßt fich folgendes einwendenlz Huch wenn
jemand »ewig-= lebte, würde er doch niemals, -fo lange er auch
lebte, die Entfcheidung erreichen. Denn auch der mnfterblidae-
Mathematiker müßte doch einen beftimmten Zeitpunkt ins Huge faffen.
wo die Entfcheidung fertig vorliegt. Und jeder folcher erzielte
Zeitpunkt wird notwendig einmal von der Entwicklung der Folge
überldıritten. flllo ift die Sterblichkeit des Mathematikers
irrelevant. - Dielem Einwand ift nur zu begegnen, wenn man einen
1) Dielen Einwand verdanke ich Herrn Profelfor J. E b bin g h aus.
230 Oskar Becker. [670]

Unterfd›ied berückfichtigt, den fchon P l o t i n in gewiflem Sinne macht,


nämlidı den zwifdıen Ewigkeit (airóv) und Im m e rle i n (åıôıóreyg) 1.
Was vorhin vorausgelegt wurde, ift nicht ewiges, fondern immer-
währendes Leben des Menfchen. Eine unbegrenzte Hinausldvie-
bung des Todesdatums verfchafft dem Menfdien noch kein »ewiges
Sein-=. Der (hiftorifche) Menfdı ift gewiffermaßen lo wefenhaft
lterblich - eben wegen feiner hiltorifchen Zeitlichkeit -, daß er
auch durch die Hbfchaffung des phyfildven Todes nicht ewig würde.
Denn Ewigkeit ift in lid» ruhendes, voll»-endetes Sein, Sein, das
an fein Ziel (fåívë) kam und doch nidvt Nichts ward. Ewigkeit
ift allumfaffende Gegenwart und deshalb dem flugenblick tief
verwandt. (Ki erkeg aard.) Ein tieflinniger antiker Mythos läßt
den Tithonus, der fich von den Göttern Unfterblid›keit erbat
und die Bitte um ewige Jugen d vergaß, dahinlchwinden in end-
loiem filtern, bis er endlid› zur Heufdırecke wird. Er kommt alfo
trog feiner Unlterblichkeit fdıließlich »ans Nichts- 2. Ewige Jugend,
das bedeutet Verwandlung des hiftorifdven Zeitcharakters (vermöge
deffen der Menlch altert) in den naturhaften.
Für den Blick eines ewigen Wefens wäre in der Tat die
Wahlfolge bis ans Ende mit einem Sdılag erfaßbar, lie wäre nicht
mehr endelos. Gott zählt nicht (gegen Gauß). Der Unterfdwied
gegen die gefeglidie Folge hätte feinen Sinn verloren. Ja, der
Sinn der mathematifchen Gefeglichkeit, deren welenhafte Bedeutung
es eben ift, das Endelofe mit endlidıen Mitteln zu beherrfdıen, ginge
verloren. Die Mathematik als Wilfenlchaft verlchwände. --

1) Die Darlegungen Plotins darüber ftehen im 7. Buch der VII. Enneade:


=«'r-Sei cßfcüvor zei xgóvøv, Kap. 3 ff. (Zitate nach der Husgabe von R. Volkmann,
Lips. 1883, V01. 1) p. 312, 17-21: . . . aftüva &.7°ó`w idcbv §mı`;v μšvovdav åv 'rcfi r-:drm
rial :rrzgôv tô fläv šzovøav, dll' ol) vüv μšv róde, afifhç ó"f§"r.5Qov, till' fíμtz rd:
:arrivrcr . . . fillà 157.0; åμsgšç . . .
p. 313,6--9: 3 ofiv μvjrs ñv, μıjre šfcfrm, dll' fon μóvov, roüto šcitcbç E5201» ró
efvaø rg) μfj μëtaßállfw eig fô fførtu, μrjci' «Ö μëı'aßsçl_2.11xë'ı›m. åcíriv Ö fcfcóv.
p. 314, 21-24: vi ofw foü övtoç vırzvreılijç oıZ=c)'ı'a :mi 31.11 . . . :ml ij šv fç-`5_u'›;ó`èv
(iv .in åılılsíıpew :mi 193 ,undêv åiv ,nig ô`z› crürfi frgooysvšøärrø.
Daraus geht klar hervor, daß bei Plotin an-5-« mehr ift, als »Immerfein-=
ift. Die àldlórn; charakteriiiert er aber nicht als lelbftändiges Phänomen,
fondern (nada anfänglicher Unterlcheidung) biegt er fie um in eine Eigen-
tümlichkeit des ånóv felbft.
2) Derfelbe Gedanke findet lid) in entfel-jlid› eindrucksvoller Weile aus-
geführt bei Swift, Gullivers Travels, Part. III, Ch. X (a particular description
of the Struldbrugs etc. - Die »Struldbrugs« find zwar unfterblidıe, aber
ftändig alternde, unter den Gebrechen des Hlters in furchtbarer Weile
leidende Welen).
[671] Matbematifche Exiftenz. 231

Was von der Wahlfolge gelagt wurde, gilt mutatis mutandis


aud› von dem transfiniten Progreß. Huch da muß die Benennung
neuer Transfiniten, wenn ein beftímmtes Bezeichnungsfyftem und
eine beftimmte Weile, zum Limes überzugehen, erfchöpft ift, neu
gef chaf f en werden. Nur hängt hier das Vordringen welentlich
mit ab von dem bereits Geleifteten; durch Reflexion auf den jeweilig
vollzogenen endlofen Prozeß, den jeweils durd›fd›auten endlofen
Horizont, wird die neue Stufe der ftrukturalen Komplikation er-
reicht. Hier ift alfo in gewiflem Sinn die Finalogie mit der hiftori-
fchen Entwicklung (und auch mit Hegels dialektifchem Prozeß 1)
noch enger als bei der Wahlfolge, deren einzelne Schritte ganz un-
abhängig voneinander fínd. - Nun find wir endlich imftande, das
Eigentümlid›e der hiltorifchen Zeit formal zu kennzeichnen.
Man hat bei ihr zu unterfcheiden: erftens das formale
Schema des Weiterfdıritts, das fich gleichbleibt, das lid) wieder-
h o l t: die ltändige Wa hl bei der Wahlfolge, die immer von neuem
vollzogene Reflexion beim transfiniten Progreß, die ftändig aufs
neue zu leiltende Überwindung der alten Generation durch die
junge. Diefer formale Weiterfdoritt geht ins Endlole.
Zweitens aber hat man den konkreten Vollzug des Weiter-
ldiritts, der alfo nicht mehr durch das formale Sdıema erfaßt wird:
die konkrete Wahl jeweils einer beftimmten Zahl, die konkrete
Reflexion auf den jeweils gerade zulegt durchfchauten Horizont, die
konkrete fdvöpferifche Tat der Überwindung des Hlten. Für diefen
konkreten Vollzug gibt es keinen erhellten, vorauszufehenden Hori-
zont. Und das formale Schema ift im konkreten Vollzug nidıt gegen-
ftändlich da - wäre es das, lo würde der konkrete Vollzug ge-
hindert2 --, fondern der Vollzug vollzieht fich nach dem Schema
ohne lid» deffen bewußt zu fein. Der eigentliche Ernlt liegt in
1) Man kann logar den legten Sdıritt im dialektifchen Dreild-ıritt, die
Synthefis, mit der Reflexion auf das jeweils Vollzogene in eine engere
Parallele bringen.
2) Damit ift ein Phänomen von großer Tragweite berührt: das Reflek-
tieren auf das Gleidıförrnige des Schemas (den Pinteil, den die ~fd1lechte
Unendlichkeit« aud› nod› am hiftorildıen Prozeß hat) führt zum lchwächlichen
-Relativismus~, der die eigenen Erkenntniffe und fchöpferilchen Taten nicht
mehr ernlt nimmt, da iie ja dod› überholt werden würden. Dadurch wird
die fpezíflldı philof ophif che (ontologifd›e) Erkenntnis der wefenhaft
hiltorifchen B e f a n g e n h ei t des Menfchen trivialiliert und gänzlich unfrudat-
bar gemacht.
Die ftreng hiftorifche Zeit ift im Grunde endli ch, d. h. ihr fehlt das
(in gewiflem Sinne poiitive) Phänomen des endlofen Horizontes. (Die End-
232 Oskar Becker. [672]

dem exquifit Faktil chen, dem »Zu-fälligen« (dem, was ihm als
Einmaligem gerade zu-fällt), díefem konkreten Vollzug, für den es
keine allgemeingültige, überzeitliche Norm gibt. Der Geift ift in
díefem Vollzug ganz auf lich felbft angewielen, auf lich felbft zurüdc-
geworfen, fidı felbft allein verantwortlidi, aus feiner eigenen Subftanz
lebend -: frei, aber einfam und im Dunkel, das er nie felbft er-
hellen kann. -
Die Struktur der hiftorifdien Zeit erweift fidı fo als eine dop-
pelte: ein gleichförmiges formales Schema, das feinem Zeitcharakter
nach eigentlich felbft natur-zeitlidı ift, und ein ganz unfchematildves
Sdıaffen, das zugleich ein immerwährendes Sterben ift.
.Die formale Struktur der hiltorifchen Zeit .erlcheint alfo mit
einer merkwürdigen Paradoxie behaftet. Sie ift, foweit fie eigentlich
f o r m al ift, unrein, enthält ein ihr fremdes, nicht-hiftorifdves Moment,
- foweit fie aber hiftorifch ift, ift fie formal ganz unfaßbar: der
konkrete Vollzug hat keine Gemeinfamkeit der Form.
Das weift darauf hin, daß der Begriff der Form felbft ein
nichthiftorifcher Begriff ift und daher dem Hiltorifchen legten Endes
nidıt adäquat. Woher kommt denn dann aber der formale flnteil
in der bifmiraıen zeicıidıılem
s Die Hntwort lautet: Es wurde in der vorangegangenen Erörte-
rung der urfprünglidı hiftorifche Zeitbegriff des Individuums
außer advt gelaflen zugunlten der Zeitlichkeit der hiltorifchen
Gruppe. Damit ging aber viel von der legten Zulpigung des
H ei d e g g erldıen Zeitbegriffs verloren; fo vor allem die Beziehung
auf den eigenen Tod, mit dem es wirklidv zu Ende ift. Die fter-
bende »Generation-= kennt ihren Nachfolger, ihre Beziehung zur
Jugend ift nicht eine rein negative, nidıt nur Haß, fondern aud›
Liebe. Der einzelne Menfch hat in díefem Sinn keinen Nadıfolgerl;
lichkeit kommt alfo durch fo etwas wie eine doppelte Negation zuftandel).
Id› mödıte glauben, daß mit diefer merkwürdigen Erlcheinung H egels
eigentümliche Lehre vom »Ende der Geldıichte« zulammenhängt. Die Ge-
ld›id›te muß zu Ende gehen: - denn die diefer zugrunde liegende Zeitlichkeit
(die, wie ich darzulegen verluchte, zuerlt von H e g el mittels feines Begriffes
des ~fIufhebens- [= Vernichten und dod› Bewahren] ihre, wenn aud›
unvollkommene, Explikation fand) ift endlich.
1) Das Verhältnis von Eltern und Kindern ift kein urfprünglich hifto-
rifches, fondern ein naturhaftes. Geiftige Schüler- oder Jüngerfchaft wäre
vielleidıt die einzige, aber fehr inadäquate Parallele. Denn der Schüler ift
nidıt frei. Hiltorifdi denkt dagegen Nieg lch es Zarathuftra, wenn er fagt:
»Nun heiße ich eudv, mich verlieren und eudı finden; und erft, wenn ihr
mid: Fille verleugnet habt, will idı Euch wiederkehrenm (fillo fprach
Zarathultra, I. Teil, Von der fdienkenden Tugend, 3.)
[673] Mathematilche Exiftenz. 233

er ift ftets jeweils der legte. So fagt aud› Heidegger: »Das


Vorlaufen ins eigene Vorbei läßt das Dafein ganz allein bei lich
felbft ftehen, mitten im Lärm der Hlltäglichkeít, ftellt es in die
Unheimlichkeit-6
Das bedeutet aber, daß das fdıematilche, naturzeitlidve Moment
bei der Zeitlichkeit des Einzelnen keine Rolle fpielt. Jeder Einzelne
ftirbt nur einmal; jede einzelne Generation allerdings auch, aber fie
weiß lid) ein Glied in der Kette der Generationen. Wenn auch
völlig leer und dunkel, ift doch das formale Schema für beliebig
viele folgenden Generationen vorgezeidmet. Es fpielt eben hier
offenbar das Naturhafte in der »Kette der Zeugungen« mit
hinein. Der Name (generatio) felbft weift darauf hin. Das natur-
hafte Moment in der Zeitlidıkeit der hiftorifdven Entwidclung einer
Menfchengruppe rührt alfo her von dem naturhaften Hnteil diefer
Gruppe felbft, die immer etwas von dem Heide gg erldıen »Man-
an fich hat.
Daher kommt es, daß das lchematilche Moment nicht ein ltreng
verweilendes, auf die Jeweilígkeit zurückwerfendes ift (alfo
von der Hrt der logenannten »formalen Finzeige- im Sinne Heid-
eg g ers), fondern ein Nebeneinander oder Hintereinander, eben
das Phänomen der -Ke tte-, geftattet.
Betrachtet man das Leben mehrerer Einzelnen, fo kann man
natürlich auch eine formal-lchematilche Hnalogie in ihrem Verhältnis
zum Tode und zur Zeit linden; aber diefe Hnalogie führt nie zu
einem Nebeneinander, das die ›Zukünftigkeit«, die Zugefpigtheit der
Zeitlidikeit auf den Einzelnen irgendwie befeitigte. Im Tode find
zwar alle gleich, im Wie, aber durch diefe Gleichheit »individuiert-
die hiftorifche Zeit gerade den Einzelnen, indem fie ihn einfam
madut, ihm jeden Vergleidı mit Flnderen hinlidøtlich des -Was-,
feiner qualitativen Belonderheiten, feines Ranges, Wertes ufw. un-
möglich madvt (l. S. 226). Die Schickfalsgemeinlchaft des Sterbens
erleidıtert dem Einzelnen -- als hiftorilchem Welen - den Tod
nicht 1. - Die Weile der formalen Gemeinfamkeit beim Einzelnen
ift alfo eine welentlidı andere als bei den »Generationen-. - -
Diele Verhältnifle haben - fo befremdend das zunädıft auch
klingen mag -- ihre finalogie im Mathematifdaen.
_ fl _ ` ,_

1) Lebenslagen, wo G e mein ldı aft en (Menfd›en gleichen Stammes,


Blutes, Glaubens ufw.) gemeinfam in den Tod gehen, find niemals von rein
hiftoı:ilc:hem Seinsdmrakter. Es findet irgendeine Weile der Identifizierung
(Einsfühlung) ftatt, die die hiftorifche lndividuation auslöfcht.
234 Oskar Becker. [674]

Die freie Wahlfolge (als Reprälentantin des hiftorifdıen Menfchen)


ift individuiert derart, daß ein Nebeneinander mehrerer Wahlfolgen
in gewiflem Sinne ausgeldwloflen ift. Man kann nämlich Wahlfolgen
nid'›t in Mengen zufammenfallen, nicht klaffifizieren oder aud› nur
kolligieren. Man könnte das nur in ganz äußerlicher Weile nach
ihren Hnfangsltüdcen 1. Es lind alfo allein die gefegmäßigen Folgen
einer ›Klaffifikation« und Hbltufung nach der Komplikation ihrer
Strukturgefege fähig, wie bei der Befprechung des Kontinuum-
problems (§ 5b) ausführlidı erörtert wurde. - -
Die rein hiftorifche Zeitlichkeit, fo können wir zufammenfaffend
fagen, ift die des individuellen hiltorifchen Lebens. Sie findet
lich wieder in dem Zeitdıarakter gewiffer mathematifcher Phänomene:
der frei werdenden Wahlfolge und des transfiniten Progreflus.
Der Grund dafür ilt,daß diefe mathematifchen Phänomene, die ebenfo-
wenig wie irgendwelche anderen Phänomene, reine Gehalts- oder
r e in eßezugsphänomene iind, felbft h i fto rif du e Vollzugsmodi kon-
ftitutiv enthalten: Das freie Wählen und die Reflexion auf die
eigene jeweilige Lebenslage 2. Freilid› eignet jenen mathemati-
ldıen Phänomenen ein gewiffes formal-fchematildıes Moment nicht-
hiftorifdıen (naturzeitlidıen) Charakters, das feinen Urfprung hat in
dem Umftand, daß das Mathematifdıe als lolches nicht-hiltorifdv ift.
Dies führt nun endlich auf die legte in diefer Hbhandlung zu
erörternde Frage, die nach dem Seinsfinn des Mathemati-
fchen felbft. Die vorangehende Explikation der Zeitlichkeit ma-
thematifmer Gegenltände dient dazu als Vorbereitung. Denn die
Zeit kann, nad'› Heideggers ld'›on angeführtem Wort, interpre-
tiert werden -als der mögliche Horizont eines jeden Seinsverltänd-
nifles-. s

c) Der ontologildıe Sinn mathematildıer Exiftenz.


I. Einführung in die Problemltellung.
Der fiusdruck ›› mathematildıe Exiftenz « hat zunächft den
Charakter eines terminus ted›nicus. Er bezeichnet innerhalb der
mathematifdıen Wiflenfchaft und ihrer fpezifild›enT e ch nik einen be-
I) Nidıt völlig freieWahlfolgen, fondern loldve mit N e b en b e di n g un g en ,
können freilich klafñfiziert werden, aber eben nur n a d› ihr e n N e b en-
bedingungen (fo kann man etwa Würfelfolgen mit einem oder zwei
Würfeln unterfcheiden), d. h. alfo gerade foweit, als lie n i cht frei, fondern
geleglich gebunden iind.
2) Vgl. das in §5a, IIC im finlchluß an Doft.ojewskij erörterte
Beifpiel der ~Parenthefen--Reflexion. (S. 102 ff.)
[675] Mathematildıe Exiftenz. 235

ftimmten Grundbegriff. Ihm hatten viele der vorangehenden Be-


tradıtungen gegolten, die ja von einem Konflikt in der gegenwärtigen
mathematifchen (nidvt philolopbilchen) Forfchung ausgingen,
obzwar es iidı immerhin dabei um einen Streit um die Grund-
legung der Mathematik als Wilfenldıaft handelte.
Fiber, wollte man fich auf die eben gekennzeichnete Bedeutung
der Worte ›mathematifche Exiftenz- befdıränken, lo käme man über
ein Randproblem der Philolophie der Mathematik nicht hinaus.
Das eigentlid› philolophifd›e Problem, das das Beftehen einer
mathematifchen Willenfchaft und das »Vorkommen-= mathematíld›er
Gegenftände in unlerem Leben und feiner Welt ftellt, kann fich nicht
darauf beziehen, mit welchen tedmild›en Mitteln man die -Exiftenz-
mathematilcher Entitäten in der Willenfchaft lidıert. Mag aud› klipp
und klar entfdıieden fein, ob Konftruktion (und welche) oder Wider-
lpruchsfreiheit die »mathematilche Exiftenz« garantieren, welche Flrt
des Unendlichen in der Mathematik zulällig fein foll ufw., -- phi-
lolophilch ift damit noch nichts von Belang geleiftet. Und wenn
man nidat der Meinung ift (- und wir find es keineswegsl), daß
die Philolophie als ancilla scientiarum, alfo in unlerem Falle als
Magd der Mathematik ihr Dafein friften foll, für die lie »den Grund
zu legen« habe 1, -- fo ift vor allem zu fragen, welches Problem
iich denn nun eigentlidı eine wirklidie Philofop hie der Mathe-
matik zu ftellen habe.
Nach unferer grundläglidıen Hnfchauung vom philofophilc:hen
Fragen (die hier nicht zu begründen ift) ift jede eigentlich philofo-
phifdıe Frage eine folche nach dem Sein: genauer dem Sinn des
(jeweiligen in Rede ftehenden) Seins und vielleidıt auch nach feinem
-Grunde« (dem »Seinsgrunde«). Eine loldıe Frage ift, mit anderen
Worten, ontologifdı.
Sofern nun *Exiftenz-= ein Seinsausdruck ilt2, geht aber die
Frage nach der »mathematifchen Exiftenz« auf das Sein des Mathe-
matifchen, genauer auf die Wie feines Seins. Wir fragen alfo nach
dem Wie des Seins des Mathematilchen und damit philo-
l o p hi e r e n wir über das Mathematifche.
1) Mandıe neukantilchen Richtungen lind nicht fern von einer loldien
Behauptung gewelen (f. o. S. 126 u. Math. Fınh., Sdılußbemerkung).
2) Um Mißverftändnilfe zu vermeiden, fei bemerkt, daß -Exiftenz« nidıt
etwa in dem belonderen Sinne gemeint ift, den ihm H ei d e g ger in »Sein
und Zeit« gibt. - »Exiftenz- heißt hier einfach -Seinsweile-«.
Huch das Wort wntologilch« ift zwar im finfdıluß an Heidegger,
aber doch in freierer Weile als bei ihm, nicht gemäß der in »Sein und Zeit-
gebrauchten ftrengen Terminologie verwendet. 43*
236 Oskar Becker. [676]

Llm diefer Frage nunmehr näher zu kommen und auch um zu


leben, was die vorangehenden Betrachtungen für ihre ››Löíung«
nügen können, ift es zunächft notwendig zu wilíen, was »das
Matbemarifcbe« ift.
Eine folche Frage ift nur zu beantworten, wenn man auf die
Gefchichte der Philolophie zurückgeht und in echter, d. h. fachlicher
Interpretation die Entwicklung verfolgt, die die Bedeutung des
Husdrucks durchlaufen hat. ,ln díefem Sinne werden wir zunächft
die geíchichtlichen Wurzeln der Idee des Mathematiíchen in der
antiken Philoíophie zu ergründen veriuchen und dann ihre Ent-
wicklung in der neueren Zeit weiter verfolgen.
ll. Hiftorifche Orientierung an der Hntike.
H. Das Problem der μáänøıc (Vorplatoniker [firchytas] und Plato).
Der Husdruck »das Mathematifche.« ift mit Hbíirht doppeldeutig
gewählt. Er kann, ebenfo wie (noch deutlicher) das griechifche Wort
μáäqμa, von dem er herftammt, bedeuten: e r ft e n s die Mathematik,
z we i te n s die mathematiidıen Gegenitände als Thema der
Mathematik.
Díeíe Doppeldeutigkeit ift nicht einfadı eine läftige Flquivokation,
fondern der Husdrudi für ein eigentümlidves Moment am Seins-
charakter des Mathematiíchen.
Máthgμa (die Worte auf μa ftehen im Griechiídıen gewiffermaßen
zwifchen Verb und Subitantív, vgl. S. 194, Hnm. 1) heißt ein e r ie i t s
das, was gelernt (bzw. gelehrt) ift oder werden kann (der Gegen-
itand des Lernens), andereríeits - ebenfo wie unier deutfches
Wort »die Lehre« -- der Lebenszuiammenhang, in dem man lernt
(belehrt wird)1; man denke an die Redewendungen: ›er ging beim
Meifter in die Lehre« oder »das war mir eine bittere Lehre~. -
So hat es, bei feinem erltmaligen (wiíienldvaftlichen) Huftreten
in einem wörtlichen Fragment des Hrchytas (Diels 35, B.1) fchon
einen ›mittleren« Sinn: ».... :Lai fvsgi yaμsrgíag xai ågıäμcür 'mi
o'q›aıgmå'g xai . . . fvegi μwomäg. raüra yàg rd μaåifμaıa Öoxoüvtı
íjμsv åôeíupéa. zu deutích: »denn diefe ›Lehren« ícheinen uns ver«
íchwiitert zu íein«, - nämlich Hitronomie, Geometrie, Hrithmetik
und Mulik. Nad› der beachtenswerten Llnteríuchung von B. S n ell*
1) lm Griechilchen ift die Sadılage von der Seite des L ernens
(μavsávm), im Deutichen von der des Lehrens aus geiehen. (Flhnlich wie
im Latein: ›disciplina« = ››Lehre« kommt von vdiscere« = »lernen«).
2) Bruno Snell, Die Husdriicke für den Begriff des Willens in der
vorplatoniícben Philoíophie (Philologifche Llnterluchungen, herausgegeben
von Kießling u. Wilamowig, Heft 29, Berlin 1924); V. _uá3›;μa, S. 72 ff.
[677] Mathematildıe Exiftenz. 237

hat μáåøyμa allerdings eine paffive Bedeutung (Gegenftand des


Lernens). S n e ll überlegt auch in dem loeben genannten Fragment
μaäfiμara mit ›Lehrgegenftände«. Wenn diefe Interpretation auch
offenfidıtlich einfeitig ift, muß man doch andereríeits S n ell zugeben,
daß die ›paffivifche Bedeutung des Wortes« zu den Eigentümlich-
keiten gehört, »die es dazu geeignet machten, eine ganz beftimmte
Gruppe von Wiifenlchaftem, eben die mathematifdøen, »zu bezeichnem.
Snell fagt (1. c. S. 79): ›Während alle bisher behandelten Begriffe
vom Erkennen des finnlich wahrnehmenden S u b j e k ts ausgingen, ift
durdı μáäqμa das Objekt als das Maßgebende gekennzeichnet.
Das Wort μáäøyμa wies alfo auf eine Erkenntnis, die von der
Zufälligkeit der Perfon und der Empirie abfieht,
die vielmehr Gegenítände fieht, die mit völliger Sicherheit erkannt
werden. Hber diefe Gegenftände mußten =›gelernt« werden können;
ihre Erkenntnis mußte eindeutig und mitteilbar fein. Und
diefer doppelten Forderung entfpricht nur die Mathematik«
um dies befíer zu verftehen, müfien wir wiffen, weldıes die
»anderen Weifen des Erkennens« find, auf die Snell anípielt.
Diele find: 1. aocpıfa: das praktilche Können (von ooqıóg, der Kundige);
2. yvıóμq: das Erkennen durch das Huge; 3. aóvaaıgı das Verftehen
durdı das Ohr (vor allem deffen, was jemand fagt): 4. íarogía (von
i`<:m›9: der Hugenzeuge): das Erfahren durch (das Verhör von)
fiuggenzeugen.
Was ift nun für alle diefe Weiíen von Erkenntnis charakte-
riftifd›? und wodurch unterfcheiden fie fich alle vom μaväávsw?
Diefe Erkenntnisweiíen erwerben ihr Wiffen alle felbft
in der unmittelbaren Lebenserfahrung: durch tätigen Umgang mit
den Dingen, durch Erblicken, durch Hinhören, durch eigenes Nach-
fragen bei Hugenzeugen. Diefe felbíterwerbende Erfahrung ruht
ganz in der Faktizítät des eigenen Dafeins. (Das ift gemeint :mit
dem íehr unzulänglidıen Husdrucke Snells: ›Zufälligkeit der
Perfon und der Empirie«). Dagegen kann man ohne eigene Er-
fahrung auch von anderen etwas ››lernen«, was der andere vielleicht
in feiner Lebenserfahrung felbft erworben - der Meifter des
Handwerks zeigt dem Lehrling den und jenen praktifchen Griff und
Knifl' - oder feinerfeits von einem Dritten gelernt hat. - Fiber
kann man in der eigenen Lebenserfahrung Erworbenes íchrankenlos
auf andere übertragen? Kann man nicht das Befte nur ›vormachen«,
fo daß es der andere dann, wenn's ihm ›glückt«, madamachen«
kann? Kann jener es nicht höchftens nur ››ablernen«, - aber dod›
nidot eigentlidv, als einen beftimmten »Gegenftand des Wiffens« , lernen?
238 S Oskar Becker. [573]

Der ››flblernende« muß fich mit feiner Faktizität der des Lehrers
angleicben, er muß es »fo machen wie er« und legtlich alfo auch
felbft erfahren, in ähnlicher konkreter Lebensñtuation, im faktifchen
Umgang mit den Dingen. Zu diefer Selbfttätigkeit allein leitet ihn
der Lehrer an. - Der eigentlich oder ›bloß« Lernende aber foll dies
nidvt brauchen. Ihm wird das Wiffen gegeben, er braucht es nicht
felbft zu erwerben; er braucht nicht irgendwie Hand anlegen, er läßt
es iich vorführen, vorlegen.
Kann man aber auf díefem Wege überhaupt zu echtem
Wifien gelangen? lft diefes Lernen nicht ein bloßes uneinfichtiges
übernehmen von der Hutorität des Lehrers, alfo ein »Sich-Einlernen«,
das zu keiner eigenen Überzeugung führen kann?1
In der Tat liegt eine Schwierigkeit im Begriffe des eigenh-
líchen Lernens, das weder ›Hblernen« noch »Sich-Einlernen« fein
foll. Das. was in díefem ftrengen Sinn eigentlich erlernbar fein
foll, muß in fıdı felbft einen ganz belonderen Sinncharakter haben.
Es muß von der fpezififchen Verfchiedenheit der individuellen
Lebenserfahrung unabhängig fein und es muß andererfeits auch
trotzdem der eigenen Einficht zugänglich fein.
Dies ift nun in der Tat das Eigentümliche math ematifoher
Zufammenhänge, daß »ihr Gehalt offen zutage liegt« (Hri ftoteles:
'rföv ôå (SC. μaåegμarmíiıf) rô 'uf åørıv mia: åíó`1;Äov.)2 Sie haben alfo
einen eigentiimlichen Sachgehalt, der in iich finnvoll ift, ohne
Rückiicht auf den Erfahrungszufammenhang, in dem er auftritt.
Daher ift es in gewiflem Sinn wirklich richtig, das Eigentümlidıe
der mathematifchen Erkenntnis vom ›Objekt« her zu beftimmenfi
Huf der anderen Seite ift ein folcher erfahrungsunabhängiger
Sinngehalt etwas fehr Rätfelhaftes. Denn die Dinge der Umwelt
find dod› nur im Zufammenhang der Lebenserfahrung. Sie find

1) Es wird hier abgeiehen von der Erwerbung von Wifien aus autori-
tatlver Tradition, z. B. in religiöfen Fingelegenheiten, in der Sitte und im
Recht. Dies möchten wir nidıt als ›Lernen- bezeichnen.
2) Hn der fchon früher (S. 190, Hum. 2) zitierten Stelle Eth. Nic. V1, 9
(1142a 20). Der Kontraft dazu ift die Erkenntnis der wirklidıen Natur, deren
Urfprung in der Erfahrung liegt; davon können lich die jungen Menfchen nicht
felbft überzeugen, fondern lie reden bloß (ohne Einñcht) darüber. (mv J' ai
ågxai .EE šμns:9ı'o:ç' xai rå μåv 0:3 manıíovow of všoı, ållà lšyouaw, I, C, 19--20),
3) S n e ll erwähnt noch (l. c. S. 19 Hnm. 5) die in der Tat merkwürdige
Tatiache, daß die pailive Verwendung von gfrywíaxw außer bei den mathe-
matil'ch gerichteten ›Pythagoreern« fehr felten ift. (Bllerdings ift die Echt=
heit der P hilo l a o s -Fragmente von E. Fran k beftritten worden.) Das
Mathematiíche ››wird« in der Tat »eingefehemg von wem, ift belanglosl
[679] Mathematifche Exiftenz. 239

gar nicht uriprünglich »Dinge für fich felbft«, fondern Gebrauchs«


gegenftände, Werkzeuge, Nahrungsmittel, Waffen, freundliche und
feindliche Naturgewalten, Rohftoffe u. dgl.1
B. Das Hpriori und die Hnamneñs (der junge Plato).
Dieie Rätielhaftigkeit ift früh empfunden worden: Plato hat
fie als erfter aufgedeckt und gedeutet, durch feine Lehre von
der Wiedererinnerung (åı›áμvø;aıg)an die vorweltliche
Schau der ewigen Ideen. lm Meno (80H-86C) handelt es
fich um die Möglichkeit des Suchens (Forfchens, Lfiyreiv) und zugleich
auch des μavfiársw. Das fophiftifche Dilemma über das Suchen
lautete fo: Weder nach dem, was der Meních weiß, wird er forfchen,
denn er weiß es ja fchon, noch nach dem, was er nicht weiß,
denn er weiß ja gar nicht, wonach er forfchen foll. (oiíre yåg åšv ya
3 aide Cøyrol“ ofôe 7&9 .. .. oiire 3 μfi oiöav' oåöå yàg oiôev Ö' fu C1y'mfUeı.)`i
Man kann das Rätfel des Lernens (was Plato nicht tut) ebenfalls
auf die Form eines derartigen Dilemma bringen: Wenn jemand die
μaäıjμaw fchon kennt, braucht er fie nicht zu lernen, wenn er fie
aber noch nicht kennt, fo kann er fie gar nicht lernen, denn fie
follen ja nicht in der Lebenserfahrung ihm begegnen, - wie foll
er alfo auf fie ftoßen? Er foll ja die μaäøfiμaw nicht durch eigenen
íelbfttätigen Umgang mit den Dingen erwerben! - Oder anders
ausgedrückt: Wie ift es möglich, daß einer, ohne eig en e Erfahrung,
die erft das alternde Leben fidı erwirbt (frflwıjåog yåg ggóvor nroısí
rıfifv åmrsıgíav firiftot., l. c., 1142a 15 - 16), zu feiner eigenen über-
zeugung belehrt werde? S
Zur Beantwortung diefer Fragen ftellt Plato die Theíe auf:
rô yåg Cøyreív åíga :tui rô μaväáı-aıv åváμviymg öílov š0u'v3 (vdenn das

1) Die phänomenologifche Hnalyfe der »Umweltlichkeih ift von M.


H eidegg er in die Wiffenfchaft eingeführt worden, f. jegt »Sein und
Zeit« § 15ff. -
Heideg ger hat auch gelegentlich (in Marburger Vorlefungen W.-S.
1923/24) die veríchiedenen griechifchen Husdrücke für ›Gegenl'tände« wie
folgt zufammengeftellt: vl. rà ngáyμarrc das, womit ich es zu tun habe (›Tat›-
fachen«); 2. ni Xgfiμaıa Dinge, fofern lie im Gebrauch iind; 3. nk nowıíμna
das künftlich (fšxvg) Hergeftellte; 4. ni ıpvo'.«.›.›±-E das, was von lich felbft aus
wächft; 5. ni μamíμarıı das Lehrbare (worüber es ein eigentliches
Wiffen gibt, das jedem beigebracht werden kann)«.
D Huch in diefer vergleichenden Zufammenftellung hebt lich das μáßnμa
ab, durch feine form ale Charakteriftik. Ebenfo formal charakteriliert
müßte man (1)-(4) »das in der Lebenserfahrung (im Umgang) Begegnende«
nennen. 9
2) Meno 80 D. 3) Meno 81 CD.
240 j Oskar Becker.

Sudıen und das Lernen ift ganz und gar Wiedererinnerungr). W


Seele in einem früheren Leben (Leben und Tod werden als mitein
abwechfelnde periodifche Zuftände gedacht) Hlles [kennen] »ge
hat (mix ähm» 3 u mi μeμá3›;xav)1, ift fie imftande durch Erinn
›Hlles« wieder aufzufinden. Das ift dann das, was die Mei
›Lernen« nennen (3 ôı) μáäøgaw xaıloüaw Zivägwrcoı) 1. Das pr
μaväávew der Seele im früheren Leben ift eine urfprünglich
werbung, alfo kein μozvštávew in dem hier problematifdıen
Diefes Urphänomen verbirgt das Dunkel des Mythos. Hbeı
›fekundäre«, d. i. das eigentlich problematifdıe ›Lernen« erkläı
dadurch, daß wir uns bei ihm nur an etwas erinnern, was w
Grunde fchon von früher her wiffen, ohne daß wir uns felbi
rüber im klaren iind. >> T123 ofix síôóu åíga røsgi (är är μı} 62537
mv åløyâsig ôóšam. (»Dem Nídıtwiffenden wohnen alfo vu
Meinungen inne über das, was er nicht weiß«). ,Oåaoüv ori
ötåášavrog åll' ågwııfoavrog šrzıarøfaerao, åvalaßcbv afifı:ô_
aóroü für årvı,0r1§μ1;ı›,--- ı›aš«2. (>Wird er nicht, ohne dai
jemand belehrt, nur dadurch, daß ihn jemand ausfragt, zum W
kommen, indem er felber aus fich felbft heraus
Wiffen heraufholt?« - ›]a«). - So ift es nada Plato
allem geometrifchen und überhaupt »mathematifchen-= Wiffen (not
rcegi ıcáwqg yewμergiag wårå rañra 1-:aircñv åíıllwv μaâøgμá-
áfvoi-vzwv)3.
Damit hat Plato den ›apriori fchen« Charakter alles »ma
matifdıenı, eigentlich erlernbaren Wiffens entdeckt. Es ift in
Tat im wörtlichften Sinne Wiffen vor der Erfahrung diefes uni
Lebens.
Das mathematifche Wiffen ift alfo einerfeits Wiffen »von
Sache allein her-1, unabhängig von perfönlicher faktifcher
fahrung. Hndererfeits gerade deswegen nich t von außen komm
uns im Leben im Sinn von =›Erfahrung« begegnend, fondern u:
wußt in uns befchloffen, feít mythifcher Vorzeit. Nur der fin
zu feinem Wiederbewußtwerden kann aus der Erfahrung komm
durch Fr ag e n kann auf es aufmerkfam gemacht werden, g e le
werden kann es nicht. Das Rätfel von Lehren und Lernen wird
1) Meno 81C D.
2) Meno 85 C.
3) Meno 85 D.
4) Vgl. Kants bekanntes Wort: »Wenn aber gleich alle unfere
kenntnis mit der Erfahrung anbebt, fo entfpringt fie darum doch nichti
alle a u s der Erfahrung.-f (Kritik der reinen Vernunft; Einleitung, 2. Hufl., i
[631] Mathematifche Exiftenz. 241

dadurch »gelöft«, daß die Möglichkeit eigentlichen Lehrens und Ler-


nens (im naiven Sinn) g e l e u g n e t wird 1. i
Damit gewinnen aber die μaßıjμam und die μáâvgaıg eine ganz
ausgezeichnete Stellung: jene ftammen aus der mythifchen Vorzeit,
und diefe hat gewiffermaßen die magiíche Kraft, die
Sdiatten des in jener Vorzeit Lebenden wieder her-
au f z u b e ich w ö r e n. Daher die Erhabenheit der Mathematik in
der Meinung der Hkademie und daher jener merkwürdige Spruch
über ihrer Pforte: μnåsig åyewμšrgıgrog sioıfzwii
Der Skeptiker von heute wird freilich fagen, es handele iich
eben um einen jener bekannten platonifdven Mythen und man dürfe
die Sache nicht wörtlich nehmen. Ernfthaft habe nicht einmal P la t o
felbft an die Wirklichkeit des früheren Seelenlebens und an die »Er-
innerung« daran geglaubt. Und fa chlich fei die fchöne Sage natür-
lidı völlig indiskutierbar. Man habe in der åváμvıjaıg eben den noch
ftammelnden, halbmythifchen Husdruck für das allerdings für das
philofophifche Verftändnis des Mathematifchen grundlegende Phänomen
der »reinen flnfchauung a priori« im Sinne Kants. i
Wir find anderer Meinung. Wir wagen zu fragen: Sollte viel-
leicht der platonifche Terminus åváμmgmg, philofophifch d. h. onto-
lo g i f ch betrachtet, tiefer und eigentlicher das Wefen mathematifdıer
Erkenntnis treffen als die K a n t i f ch e Bezeichnung »reine flnfchau-
ung - a priori«? Oder noch fchärfer gefragt: Was heißt a priori?
Was kann es anderes heißen als »von dem Früheren her«, d. h. »aus
dem früheren Leben her«?
In welchem Sinn ift das aber zu verftehen? Das frühere Leben
ift die »Vor-Zeit«, das prähiftorifche Dafein; diefes ift wahr-
haft vor der zmogia, <1. b. der ıeibbafcen Erfabwngß. Es in bei
1) Das vorhin aufgeftellte Dilemma löft fich genauer fo: In gewiffem
Sinne kennt man fchon die μawjμara, in anderem nicht. Man kann fie
»lernen-, weil man fie innerlich fchon im Befig hat, man hat es aber auch
nötig, fie zu lernen, denn diefer innere Befitj ift nicht >›bewußt«; das bewußte
(hiftorifche) Leben muß ihn fich erft aneignen. Dies ift aber nicht ››Lernen<<
im Sinne der Übernahme einer fr e md en »Lehre «.
2) Es kann den fymb oli ich en Wert diefes Spruches nicht antaften,
daß die hiftorifche 'Patfächlichkeit jener Infchrift zweifelhaft ift.
Nach H. H a n k el (zur Gefchichte d. Math. im filtert. u. Ma. S. 129) folldas
Wort in der Form: »μqdeiç ılyfawμšrpnroç aiaírw μoü rijv arš;/›çv<< bei der Er.
öffnung der Vorträge Pl at o s in der Hkademie (389) gefprochen worden fein.
Die (erft byzantiniiche) Quelle ift Tzeges, Chil. VIII, 972.
3) Ich nehme hier íarogía, iarogeiv alfo in der Bedeutung »durch (eigene)
flugenzeugenfchaft erfahren<<; obwohl neuerdings Snell (l. c. S. 59ff.) es
wahrfcheinlich gemacht hat, daß iaw9ti"ı› urfprü n glich »durch das Verhör
242 Oskar Becker. [632]

jedem Einzelnen feine eigene frühe Kindheit, bei jedem Volke feine
vorgefchichtliche Epoche, bei der Menfchheit überhaupt das »Früh=
menfd'›liche«, das primitive Seelenleben. Es ift nicht im groben Sinne
»vergangen«, es lebt noch in uns, obzwar verborgen: als das fogenannt
»Unbewußte« oder »Unterbewußte«, wie wir fagen wollen: als das
Subhiftorifche.
Platos Thefe von der åváμwgaıg ift alfo zu interpretieren als
die Behauptung des prähiftorífchen bzw. fubhiftorifchen
Urfprungs mathematifcher Erkenntnisl. Es ift gewiß
nicht nachweisbar, daß Plato dies mit voller Klarheit gewußt hat.
Schon deshalb nicht, weil ihm der explizite Begriff des Hiftori~
fchen fehlti, wie eigentlich der gefamten Hntike. fiber er hat in-
tuitiv die Spannung zwifchen Hiftorifchem und Nicht-hiftorifchem er-
kannt und die Hbfeitigkeit und Husgefondertheit des Mathemati-
fchen von allem übrigen Wiffen empfundenf und fie tieffinnig ge-
deutet als Zugehörigkeit zu jenem vorzeitlichen Bereich. Diefe

von (anderen) Hugenzeugen erfahren« bedeutet. Immerhin heißt auch


nach S ne ll frnwp (››fiugenzeuge<<, aber auch ››Sı:biedsrichter«!) wörtlich:
›der, der gefehen hat« und faroge'w=i'arw9 eiμı ››ich bin der, der gefehen
hat<<. Es ift alfo wohl auch jegt noch geftattet, fcrroçcfv als »leibhaft erfahren«
zu interpretieren und das Wort ›hiftorifch<< in díefem Sinne terminologifch
zu verwenden.
1) Es fei bemerkt, daß auch fonft Pl a t o für das Prä~ und Subhiftorifche
öfters das feinfte Verftändnis zeigt. Hingewiefen fei nur auf die wunderbar
hellfichtigen Bemerkungen über den Sinn des Traumes (Staat, Buch IX,
571 CD, 572 B), die geradezu wefentliche Teile der heutigen Pfychoanalyfe
vorwegnehmen. - [In fachlicher Hinficht vgl. o. S. 223 ff.]
2) Implicite exiftiert die Llnterfczheidung des Hiftorifchen vom Nicht=
hiftorifchen (Naturhaften) bei Plato fehr wohl. V
Zu nennen lind vor allem die verfchieclenen Seelenmythen (Phaidros,
Staat: Buch X, Sympolion), die Erfchaffung der Zeit im Timaios (37 CD),
die Htlantisfage ufw.
Wefentlich lind vor allem die Zeitvorftellungen, das Verhältnis von
zyklifcher und einmaliger Zeitlichkeit u. ä. - Nach neueren Forfchungen
liegen (v i e llei ch ti) a l t 1 r a ni 1' ch eVorftellungen (die nıöglicherweife durch
E ud ox o s' Orientreifen der fikademie vermittelt wurden) zugrunde. (Vgl.
W.]äger, Hriftoteles (Berlin 1923), Seite 133 ff.) p
Für die altiranifchen Zeitvorftellungen vgl. H ei n ri ch Junker, über
iranifche Quellen der helleniftifchen Fiion-Vorftellung, Vorträge der Bibliothek
Warburg 1921/22 (Leipzig und Berlin 1923). Ferner: R. Reigenftein, das
iranifchc Erlöiungsmyfterium (Bonn 1921). - Für das primitive Zeitbewußt-
fein: C a f f i r e r, Philofophie der íymbolifchen Formen II. Teil: das mythifche
Denken (Berlin 1925) S. 132 ff. (Die Darftellung C.s enthält wichtiges Material,
das aber noch nicht weit genug interpretiert ift. Hier liegt noch eine
fchwierige ungelöfte fiufgabe vor.) V
[633] Mathematifrhe Exiftenz. 243

kühnen Hhnungen Platos können uns aber heute noch zum Leit-
faden dienen und den Frageanfatj nach dem Seinsfinn des Mathe»
matifchen wenigftens andeutungsweífe geben.
C. Die Hbftraktion (cicpmbecm) als das Kennzeichen des Mathematifchen.
(Hriftoteles.)
Es kreuzt fich allerdings fchon in der Hntike noch ein ganz
anderer Gedankengang mit dem platonifchen, der ebenfalls unfere
äernftefte Beachtung verdient. Er rührt von firi ftoteles her und
wurde teilweife fchon früher (§ 6a) betrachtet- Es handelt fich um
die Kennzeichnung des Mathematifchen als des flbftrakten, als das
was »ôıf åmatgáaeóg åaw›<< 1. Diefe Kennzeichnung ftempelt das Mathe-
matifche zu einem Moment am Sein, es nimmt ihm das felb~
ftändige Sein, drückt es unter das volle Sein herab. Genauer ger
fagt: das Mathematifche exiftiert eigentlich nur als Korrelat einer
beftimmten »aphairetiichem Weife der Betrachtung. Diefe betrachtet
gewiffe an und für fich nicht »getrennte-= Seiten des finnlich ver»
nehmbaren Dinges als getrennte (rei μaäøyiıarıxå oå aexwgıaμéva 015,;
zexıagıajıáva ı»osí)2. Damit betrachtet aber der Mathematiker die
Eigentümlichkeiten des Naturdinges nicht als folche, in ihrem eigent-
lichen Wefen, fondern »als nicht-folche«, alfo uneigentlich. Es ift
zum genauen fachlichen Verftändnis erforderlich, auf die Texte im
einzelnen einzugehen. ö cpramôg frsgi å'rrav3` 50a 'mii zoıovôi crcåμarog

1) Eth. Nic. VI, 9 (1142a 18) [f. S. 190, Hum. 2].


2) Die Stelle (de anima III, 7; 431 b 12-16) lautet im Zufammenhang:
ni d`š §1/ å(pm,Qe'o'eı Äsyóμsw: vosi' [5c. rô vonrmóv] ciionsg äv tl rô aıμóv, μèıv
cnμóv, oi) xqwgıøμšvcoç, cfå xoflov, si' ng åvóe: åveQye±'qc, àíı/ev fíjç aagxôç âv åvóet
šv rô xoíílov' oíírw rd: μocfhjμrznxà oü xegwgaoıuíva ch; xexwgwμívrc vosf, örav
[voii êxsíva. (Nach der fikad. Husg. [Bekker] und auch nach Bíehl-Hpelt.)
Nach Bywater foll die Stelle (leichter verftändlich) fo heißen: rd: J" .cv
åtpctıgíøeı, le;/óμsvrr voei, åiorffg är si' ng rô cnμóv μåv mμóv oíí., cfå xoílov švóu,
åvëg;/sı'q: voäiv ıiívcv 'rñç oagxôç (Ev åvóu .§11 rö xoílov, oíírw 'rå μafhjμarıxà . . .
Der Sinn ift: fin lich verhält es lich mit den räumlichen und Zahl=
Eigenfchaften wie mit der Hohlnaligkeit (entfprechend im Deutfchen wäre
das Schielen oder die Scheelheit). Diefe kommt ihrem eigenen Sinngehalt nach
nur der Nafe (bzw. dem Huge) oder ftofflich dem Fleifche zu; fo auch die
räumlichen oder Mengencharaktere konkreten Sinnendingen. Hber der Mathe-
matiker betrachtet diefe Charaktere fo, wie wenn man das Hohlnañge (bzw.
das Scheele) als das Gebogene oder Hohle (bzw. das Schiefe) betrachtet.
d. h. ohne das Fleifch, in dem doch das Hohlnañge (bzw. Scheele) notwendig
feinem Wefen nach ift. So betrachtet der Mathematiker das wefenhaft nicht
Getrennte doch als ein Getrenntes.
Daraus folgt aber, daß das Mathematifche nur als Korrelat diefer
›abftrahierenden<< Betrachtungsweife fein' Sein hat.
244 Oskar Becker. [634]

:car: rig 'rouriírøyg íiløyg šfg;/a xai fıotfhg' 30a åå μif; zotcrišra, åílflog (naß
fragt) z:ı›c'i'n› μâv rexvirøyg, ååv 1153537, ofov 're'-mwv ij fafvgôg), zföv Öå μøj
xwgıoroüv μäv, dä μıj zoıoórov odıμarog rcáåøy 'xai åš åcpaıgå-
aswg, Ö μaqμarızóg, ñ åê xaxwgwμäva ö rrgcörog q›ıló0oç›og. (de anim.
I, 1; 403b, 11-16.) (»Der Naturforfcher betrachtet alles, was zu
einem folchen Körper hier gehört und die Leiltungen und Zuftände
eines folcben Stoffes. Was aber »nicht als lolches« 1 angefehen wird,
das unterfucht ein anderer llo, wenn fıchs trifft, der Mann der Praxis,
wie der Zimmermann oder der ñrztl, das aber, was nicht (an fich)
abgetrennt ift, betradıtet - aber infofern es nicht Zuftändlídıkeit eines
foldıen Körpers ift und fofern es aus der flbltraktion ftammt - der
Mathematiker; fofern es aber (an fich) Hbgetrenntes ift, der erfte
Philofoph«.) Befremdend ift auf den erften Blick vielleicht der Ver-
gleich des Mathematikers mit dem rsgvirqç, dem Handwerker und
Hrzt. fiber diefer Vergleich führt gerade die Hbhängigkeit des
Mathematifchen von der Weife der Intention, in der es erfaßt wird,
deutlich vor Hugen. Der Zimmermann nimmt den Stamm, der an
fich felbft die Leiche eines pflanzlídıen Organismus ift, als Bau-
material, der Hrzt den Saft einer Pflanze oder ein Salz etwa als
Hrzenei oder als Gift. Beide haben die Dinge unter einem be-
ftimmten Hfpekt. fihnlich der Mathematiker, der etwa die fteinerne
Säule a ls Zylinder nimmt. den Ball als Kugel, die Kante des Steines
oder den Lidvtftrahl als Gerade 2. Hllerdings ift diefe Weife des
Habens von Gegenftänden immer noch wefenhaft auf fie bezogen
und »trifft« nidıt einfach »auf fie zu« (avμßaíver, wovon :card
avμßsßøyzóg) 3.
Das geht am klarften daraus hervor, daß die mathematifchen
Wiffenfchaften eine ganz beftimmte Beziehung zu den Wirklichkeits-
1) Der Text ift hier leider unñcher: 403b 12 haben die meiften Hand-
fchriften öaa dä μà gj mmüm Cod E hat åfv; das hieße: »Was aber nicht fo
befchaífen ift« bzw. ››war«. Simplicius zitiert aber die Stelle mit (dies
übernimmt Biehl-Hpelt nach dem Vorgang von Boníl3); danach haben
wir überlegt, denn nur lo erhält die Stelle die volle Schärfe des Husdrudcs.
Gerade die eigentümliche Wendung »μñ 1] 'r0mı7w<< »nichtlals lolches« ginge
fonft verloren zugunlten eines gänzlich trivialen Sages.
2) Vgl. Phyfik II, 2 (der ganze erfte Teil des Kapitels ift in Betracht zu
ziehen bis 194 a 12). - 194 a 9ff.: åll' ij μiv yrwμngía mgi 9/9“.“μñ§ çivaixñc Q

oxonsí, till' oı`›;(`fi (pvcnxıj, vj crônrıxñ μaäıjμarøxigv μåv ygaμμıjv, dll' 05:1 gj
μaßıgμnrıxij åill' (pvcnxıj.
3) Die Weile, wie firi ft oteles die Dinge der »Umwelt« ñeht, ift der
der herıneneutifchen Phänomenologie (Heidegger) in gewiflem Sinne
entgegengefegt. Ihre Bedeutfamkeit ift xmà avμfisfiıjxóç, fofern ñe nicht mit
ngašrc und nur-wir zufammenhängt. S. Metaph. E 2; 1026 b,' 2-10.
[635] Mathematilche Exiftenz. 245

wiffenlchaften haben; »fo daß die eine »unter« der anderen ift, indem
es Sache der beobachtenden Dilziplin ift, das »daß« (die bloße Tat-
fache), der mathematifchen, das »warum-= zu erkennen.« [u§›or° sinn;
Üáregoıf ıfircô Üáreçov (78b 36). rô μåıf fÃı'ı. zcüıf afaåtjrıxciiv elôåıfaz.
rö dä Öıóu 'zäh' μaäıyμarmciir (79-a, 2 - 3)]1.
Jene angewandten Wiffenfchaften verhalten fich lo, daß fie, ob-
wohl fie ihrem Seinslinn nach anders find, doch die (mathematifchen)
Formen gebrauchen. Die Mathematik handelt nämlich von den
Formen, und fie ift nicht »gemäß einem zugrunde liegenden Sub-
ltrat«. »Denn wenn auch die Geometrie irgendwie ein lolches
haben lollte, lo ift fie doch als folche nicht von ihm abhängig...
(šifu dä miöm, 30a grsgóv rt Öfvra' 'rfiıf oåofar, 'ašxgigrcrt 'mfg sifôaøıv. rd:
yåg μaäifμara rcegi 61'617 šarír. oå yåg naß' 15-n:o›csıμái›ov rıvóg. al 3,-'cêg
zai zaåt' fšfıozsıμšvoiu zwôg rå ysçuμergızcz' åorw, ci?.?.' mix ya zašt'
šrcozeıμšvoıi [79a, 6-10].) _
Diele Stelle zeigt nun zugleich noch eine andere Gedankenwen=-
dung, die die fibftraktionstheorie des Mathematifchen etwas mildert.
Sie befagt nämlich, daß die sifdøy, auf die fich das Mathematilche be=
zieht, doch nicht fchledıthin ein Moment am wirklidıen Körper lind,
fondern dem Seinslinn nach anders als der Körper. Die »rein
mathematifchen« Dilziplinen (wie wir heute lagen) hängen nicht
ab von dem materiellen Subftrat, an dem fie im Leben als konkretes
Wiffen erworben werden. Das dies fo gemeint ift, geht aus einer
anderen Stelle der erften flnalytik (I, 41) hervor. Es wird dort
gelagt, die Gültigkeit der formal-logilchen Säge fei nicht abhängig
von der å'›«..9emg (expositio) der termini, die in dem Schlulfe illuftrativ
figurieren. Denn wir brauchen nicht zum Beweife, daß diefe als
Illuftration dienenden Verhältniffe wirklich fo lind, fondern es ift lo
»wie der Geometer zwar fagt, diefe Linie fei gerade und einen Fuß
lang und ohne Breite, während fie es doch nicht (genau) ift, aber
diefen Umftand nicht fo benugt, daß er daraus argumentiert« (lon-
dern eben nur als Erläuterung) 2. Und weiterhin heißt es ein an-
dermal noch deutlicher: »Der Geometer macht keine fallchen Vor«
auslegungen, wie man ihn befchuldigt hat, wenn er von einer fuß-
langen Geraden fpridvt, wo doch die von ihm gezeichnete Linie weder
gerade noch genau ein Fuß lang ift. Denn er zieht keinen Schluß

1) Vgl. die ganze Stelle: finalyt. post. I, 13 (78b, 39-79a, 10).


2) oö ds? cl" oieoäaa nrcgcšı rà åxrı'›'›*eo&a:.' rz øvμßaívsv ıiíronov' oüdèv yàg ngou-
Xgıóμeıüu rg] róds n efvıu, till' äianêg ci 3--'swμštgqç ríçv :†rod`ccu'cw xaè eôäafuv rıjvde
:mi ånlocrñ efvm. Ã.e')/aı oüx ofšuav, å:J.).' oóz ofirwç xgijraø nö; šx toüraw 0'u}J.oyıš.'cí-
iuevos. (49 b, 33-37).
246 Oskar Becker. [686]
daraus, daß gerade diefe gezeidınete Linie die ift, die er angeführt
hat, fondern aus nur dem, was die Zeichnung lichtbarwerden läßt 1.
firiftoteles ift fich alfo durchaus darüber im klaren, daß die
Mathematik auch von der Ungenauigkeit und den Störungen, die
den materiellen Dingen anhaften, lich frei machen muß. Die mathe-
matifche åmaígeınç ift alfo nicht nur eine abftraktive Heraushebung
gewiffer geltaltlicher (und allgemein »formaler«) Momente am
materiellen Seienden, fondern zugleich auch das, was wir heute
»Idealifierung-= nennen. Weder die irdifchen Gegenftände zeigen ge-
naue Kreife und Gerade, noch felbft die Bewegungen der Geftirne
am Himmel find von vollendeter Regelmäßigkeit und auch fchon die
Sterne felbft find nicht etwa mathematifche Punkte 2.
Fiber er hat doch eben die abltraktive Heraushebung und die
»Idealifierung« zufammen unter dem Terminis ågoaigaaıg begriffen,
er fieht auch in der Idealifierung nichts als eine Fortfetjung der
ñbftraktion, - wie wir ja auch heute noch zu fagen pflegen, man
müffe in der Geometrie nicht nur von dem Körperlichen und von
der Farbigkeit der gezeichneten Figuren, fondern auch von ihrer
Ungenauigkeit »abftrahieren«.
Infolgedeffen bekämpft er die Lehre Pla t os von der Zwifchen-
ftellung der mathematifchen Gegenftände zwifchen Idee und Sinnen-
ding, wie fie von ihm in der fdøon früher (S. 198, Hnm. 1) zitierten
bekannten Stelle aus dem erften Buch der Metaphyfik“ kurz dar-
geftellt wird.
Wir können hier diefe Polemik nicht im einzelnen verfolgen,
die im Laufe der Gefchichte fich nicht als erfolgreich erwiefen hat:
die flkademie bis zum Neuplatonismus (P r o klo s`) hat die griechifche
Philolophie der Mathematik gefchaffen. fiber wir müffen doch auf
die Hauptunterlchiede der platonifchen und der aríftotelifchen Lehre
eingehen. 8
D. Hxiomatifcher Elementaraufbau (aror;;n'waı;). (Der fpätere Plato.)
Die mathematifchen Gegenftände (rd μaåiyμarıxå rcñv nrgayμárcuv)
bilden alfo nach Plato eine dritte Hrt von Wahrheiten neben den
1) Hnalyt. post. 1,10 (76b 39-77 a 3): mid” ö yewμäfpnc 1,'/cvcfñ =5ff0fl'='*ffw›,
áiafreg -rwšç šcpnanv, lšyovfsç cb; oıå dei 193 ıpeüdsı xgñafhzø, ràı/ ó`å yswμšrgqv ıμaü-
d`so'¬9m lšyovra :rrod`uu'm› rip» oü :fıod`mı'av ij eåäeíav rijv yeygaμμšvnv oüx cåäíícrv
oíffcnw. ö ó`è yswμärgnç oüdêv cı'uμns9aı'vemı 19)' -rıjı›c|`e efvıu 7/gaμμ-ıjv ij-v tzıirôç
štpåicyxraø, rtllà 'nt ó`:.å roürwv cfnloüμeva.
2) Vgl. Metaph. B 2, 997 b 32 -- 998 a 6.
3) Für weiteres Material fowohl über Platos Lehre wie über flriftoteles'
Polemik l. L. Robin, la theorie platonicienne des idées et des nombres
d'après I-iristote. (Paris 1908), §§ 99-126 (S. 199 ff.). I
[637] Mathematifche Exiftenz. 247

Sinnendingen und den Ideen, und zwar zwifchen (jııerazšé) diefen. Sie
unterfcheiden fich von den finnlichen Dingen (wie ldıon früher er-
wähnt) dadurch, daß fie ewig und unveränderlich find; von den
Ideen dadurch, daß fie in mehreren Exemplaren exiftieren, während
jede Idee nur einmal da fein kann. (ôıagnšgovra 'uhr μêv aloåiyzcñv rd?
å'i'ciıa naß åxiwjra sivaı., 'rcñv ö”sf,öc'ör uff râ μâv woll] åírra öμoícr slvaz.
rö Ö' eideg aårô är šficaorov μóıfov. Hriftot.Metaph.H, 6, 987 b,16~18.)
Sie find alfo damit auf dem Wege zum iívrwg, iív, díefem ver-
wandter als die Sinnendinge: vgl. Timäus 52 H: frgirov (neben eideg
und aloåøyróv) dê ati yévog Ö`v 'cô rñg xoôgag åeıf, ıpåogåv 0-5 føgoode-
xóμevov, fšögav dä nagšxov ô'aa šfigsı. yávsmv :wåaw . . . (Die dritte Hrt
des Seienden ift das Seiende des Raumes, ewig, der Vernichtung
nicht unterworfen, allem Werdenden Plat_3 gewährend.) - Wefentlich
ift, daß diefes mittlere Seinsgebiet dem Werden und Vergehen ent-
rückt ift. Es kommt ihm, wie wir heute fagen werden, ein anderer
Zeitcharakter zu als der Welt des Werdensi.
Nun bleibt aber zum mindeften der fpätere Plato keineswegs
bei diefer »ontologifchen Hypoftafierung« eines dritten Seinsreidıes
ftehen, fondern gerade diefes Mittlere (μáaa) ift, wie die grund-
legende Erörterung im Philebos (160ff.) zeigt 3, das methodifche
Mittel, den Sinn des Mathematifchen, nämlich feine Fähigkeit zur
››Beherrfchung« des åënrsıgov zur Geltung zu bringen. Das große
Problem des Einen und Vielen, der Grenze und des Grenzenlolen
(ärrsıgov) kann nur gelölt werden dadurch, daß man die gefamte
Zahl der Vielheit überfieht, die zwifchen dem Unbegrenzten und dem
Einen liegt. (ngiv öív 'ng 'vöv åQı3μôv aıiroíı' frávra zaríög; 'ıôv μsrašfı
rot? årızeígov re mi roö švóg.) Der Unterlchied zwifchen der Dialektik
und Eriftik befteht gerade darin, daß jener »die Mittelglieder ent-
gehen« (rà dä μéaa aıiroig Isc. den Eriltikern] šzgoróyeı), weil fie un-
mittelbar nach dem Einen das Unbegrenzte fegen (μarà dä rô tiv

1) Hriltoteles betont demgegenüber (Metaph. E 1; 1026 a 7 ff.):


till' fon xai ij; μccänμarmij äcwgrjnmj' dll' ai åxwrjrmv xui zwgıorfíw šorí, vüv
f='c'c§`1¶3.o:v'-öu μšvroø švm μofôtıjμafrc 3; åxívnra xrıi 3; xwgıarà 38wgsZ(l), cfñlov.
(1026 a 7-10). - ij μêv yàg ıpvcnzij rregi. gwgıorå μåv fill' oıffx åxívıjra, 17;; ó`š
μaüıjμnrıxñç švtr.: msgi åxíwgrtr μâv oı) Xwgcorà ci" fowç, åıll' cb; åv 13'111' ıj dt
:frpcórn (sc. cpıloo'o<pı'a) xai nfgi Xwgwrå :mi åxívnrfc (1026 a 13-16). In gewiflem
Sinne fteht alfo auch bei firiltoteles die Mathematik zwifchen »Phylik«
und »erfter Philolophie-=. fiber diefe Eigentiimlichkeit der Mathematik kommt
durch die Weile i h r e rB e t r a ch tu n g (gi . . . ärwgeí) zuftande, nicht durch die
Seinsart ihrer Gegenftände, die gar nicht lelbftändig vorhanden (gwgwrá) find.
2) Es lei auf die fehr wertvolle Interpretation Stenzels zu diefer
Stelle (»Zahl u. Geftalt bei Plato und Hriftoteles« S. 12ff.) hingewielen.
248 Oskar Bedter. [ess]
öín:.<-:ıga eôäwíg. - Phil. 16 E). Was damit in concreto gemeint ift, hat
dann bekanntlich P la t o an zwei berühmten Beifpielen auseinander-
gefegt: der Beftimmung der mufikalifchen Intervalle durch Zahlen
(Phil. 17 D) und der Zerlegung des Lautbeltandes der Rede in Buch-
ftaben (Phil.18C). Das erfte ift ein wirklich mathematilches Bei-
fpiel, das zweite ein viel allgemeineres und prinzipielles, das feine
Tragweite aber gerade deshalb auch auf das Mathematifche zurück-
erftreckt. Für die Interpretation im einzelnen verweilen wir auf
S t e n z e ll. Das Wefentlichlte ift, daß in der »grenzenlofenı Rede be-
ftimmt begrenzte Laute, und zwar in ihrer genauen (endlichen) Zahl
erblickt werden, und zwar von dreierlei Hrt (Selbftlaute, Mitlaute,
Stumme), die dann bis zu jedem Einzelnen hinab getrennt werden.
((96173 . . . , 35: fvgcörog rd maıvıfievra šv rg" åzvefgqı ~/.arevóiyoev 015% 31» iivra
ållà mlsfw iccri ftáılıv 3139« . . . .. , ågıåμôv öé 'uva mai zoürwv efraı . . . °
'rô μerå roñro ötgjgsı. ro? re åí'go3*o;/ya mai . . . . . μåxgı švög šzáorov . . . . ,
.flog ågıåμôv a'ı3rc'öv Äaßâıv šıu' rs šxáofrqı nai cníμfmm Uroıxsíov
šrmvóμaos.) Die unzerlegbaren Einzellaute heißen dann Buch-
ftab e n (oroıgsía). Das heißt alfo, prinzipiell gefehen, Plato be-
trachtet die Zerlegung der Rede in Buchftaben als das typifche Bei-
fpiel einer Ele m entar analy f e (arorgsior = elementumi). Die
Idee der Kombination endlich vieler Elementarltücke ftammt aus der
Htomiftik, die eigentlich die erfte oroıxsıfwaıg; durchführte. Implicite
ift der Gedanke fchon fehr viel früher in der gríechifchen Kunft vor-
handen, nämlich im fog. »geometrilchen Stil« (11.-8. Jahrhundert),
in dem (wenigftens im 8. Jahrhundert) Ornamente bereits mit dem
Zirkel konftruiert wurden (f. o. S. 136, Hum. 2). So gibt es zum Beifpiel
eine die Sedısteilung des Kreiles darltellende Figur auf peloponefifchen
Fibeln des 8.iJahrhunderts. Dies Ornament ift alfo aus lieben ge-
nau gleich großen Kreilen (und einem achten genau doppelt lo großen)
nach einer ganz genau beftimmten Konltruktion zufammengefegt;
es liegt alfo ein wirklicher Elementaraufbau vor.
Nun liegt hier, in díefem grundlegenden Gedanken der orocxsíwoıg 3,
der finalyfe bis zu den Elementen und des Hufbaues aus Elementen,

1) l. c. S. 12-23.
2) Der Husdruck oroqaíov für Element ltammt von Plato (Simplicius,
in Hriltot. phys. p. 7, 10-14 ed. Diels), der Gedanke der Gleichleígung von
Buchftabe und Element ift weitgehend vorbereitet in der fitomiftik (vgl.
D i e ls, Elementum, Berlin1899), der ältefte Husdruck für -Elementıı åggøj (»l.Ir-
fprung-=)›ftammt von Hnaximander, Empedokles fagt ëíšwμcc (»Wurzel-).
3) Das erfte Vorkommen des Wortes ift mir unbekannt. (araqmórqç als
ehrende Bezeichnung E u k li d s erlcheint fchon bei fi r chi m ed e s.) P r o c l u s,
[639] Mathematifche Exiftenz. 249

die methodílche Grundidee der griechifchen Mathe-


matik vor. Die von Stenzel aufgewielenen Zufammenhänge
bezüglich der »atomiftilchem Mathematik und Phyfik Platos und
des Xenokrates, ihrem Nadvwirken bei einzelnen lpäteren Ma-
thematíkern (z. B. in Euklids Definitionen), endlich die merkwür-
dige Lehre von den Idealzahlen möge ihre große Wichtigkeit haben.
Hllein das, was die Entwicklung für Jahrtaufende, bis heute, in der
Mathematik beftimmt hat, das eigentlich Entlcheidende und Frucht-
bare des aroıggdwaıg-Gedankens ift damit noch nicht genannt. Dies
ift der Elementaraufbau der Mathematik felbft aus
Hxiomen und Poftulaten, durch den »Beweis« der Theoreme, ebenfo
wie die Lölung der Probleme durch eine Kombination von »elemen-
taren« Konltruktionen. Der Neuplatoniker Proklos zum mindeften hat
dies mit völliger Klarheit gefehen und fich gerade dabei auf das
Buchftabengleichnis bezogen [in Euclidem p. 72, 6ff. (Friedlein)]:
(bg yåg rñg šyygaμμárov ıpwvñg slow ågxai ngcöraı auf årrloóararaı zai
ååıafgavoı, afç 'tô övoμa rcíıv oroıxsıfwv šnıqvvyμiëoμev, ıcai fråaa Úšıg åz
roıírwv ifiqıšorøyasv naß rväg 2.6;/og, ofirw dv) zai rñg ößløyg yewμszgíag šorf
'nwa äewgrjμara ngoøyyofeíμera mai ågxfjg lóyov šfigowa flígôg zå åıpešñg
auf öujxovra dcà vrármw :cui nıagexóμava rrolltöv årøoôeišetg ovμrrrw-
μcårwv, 52 ôfi oroıgeía føgooayogafíovmv, (Wie es nämlich erfte, unzer-
legbare Hnfänge (Elemente) der Rede gibt, denen wir den Namen
der Buchftaben geben, und wie jeder lchriftlíche Text aus diefen
befteht und auch jede Rede, fo gibt es auch in der Geometrie ge-
wiffe Theoreme, die vorangeltellt werden und das Verhältnis des
Urfprungs haben zu den folgenden, die alles durchdringen und die
Beweife für viele Eigentümlichkeiten gewähren, welche denn audı
››aroıxs'ia<< (Buchftaben, elementa) genannt werden 1.) `
6 Daß alfo der Gegenltand der Mathematik eine »definite
Mannigfaltigkeit« ift, der aus einer endlidıen Hnzahl von
Konltruktionselementen mittels einer endlichen Hnzahl von Kon-
ftruktionsprinzipien aufgebaut werden kann, diefe bis heute grund-
legende methodildıe Maxime verdanken wir Plato.

in Euclidem verwendet es häufig. (Hriltoteles und die ältere Sto a [Fragm.


coll. Hrnim] verwenden es nach den Indices v. Bonig bzw. v. F1rnim~
Hdler noch nicht.)
1) Im weiteren Text (p. 72, 23 ff.) gibt Proklos die Meinung des
M en aich mos (des Eudoxosfchülers) über aroizrtov wieder, wo lich beide
Bedeutungen des Hufbaues (rö xctradxcvárfov šdri roö xttrnoxsva§`oıuie'vov Gtoøxsfov,
p. 72, 24-25) und des .Ergebnifles der Hnalyle (ällwc «fi Ääycrcrc vfoøzfíov, cf;
3 ámloıíorsgov ıånoíçlov cfratgefraı ró otívdsrov (p. 73, 5-6) finden.
250 Oskar Becker. [690]

Es gibt aber noch ein anderes fpezielleres, aber glänzendes


Beifpiel für die im Philebos aufgeltellte Methodei: Das ift die
Klaffifikation der Irrationalitäten durch Theätet, eine hochbedeut-
fame mathematifche Leiftung, die fozufagen unter den Eugen P lat o s
vollzogen wurde 1. Denn hier wird die Unendlichkeit des geheimnis-
vollen und unheimlichen Irrationalen von den Elementen aus fyfte-
matifch aufgebaut und damit der Grenze und der Zahl unterworfen.
Wir lahen früher (vgl. z. B. S. 158, Hnm. 2), daß das (mathematifche)
Kontinuumproblem ,fdion hier - mit der Spannung zwifchen T he ä-
tets Konftruktionen und E u doxo s' -Nominaldefinition« des »Ver-
hältnifles« (lóyog) -- beginnt. Wir bemerken jet3t, daß es fich ein-
gliedert in das Problem der Begrenzung des Unbegrenzten, wie es
Plato im Philebos ftellt und an dem Budıftabenbeifpiel erläutert.
Im großen betrachtet, kann man fagen: Die Mathematik vor
Plato war noch an das Hnlchaulich-Geftalthafte gebunden (›Wahr-
nehmungsgeometrie« Zeuthen). fluffallende (fymmetriíche u. dgl.)
Figuren wurden auf ihre Eigentümlichkeiten hin unterfucht, ohne
daß diefe Llnterluchungen einen einheitlichen Zufammenhang gehabt
hätten. Huch die -Konftruktionen« waren willkürlich und nicht von
ltrengen Regeln beherrlcht (-Einfchiebung, allerlei kinematifche Kon-
ftruktionen, wie etwa bei der Quadratrix (rargaywvıfioı-oa) des Hip-
pias von Elis). Plato führte erft die durchgreifende Reform
durch, die uns die axiomatilche Methode und die Definition der
mathematifchen Exiftenz durch Konltruktion fchenkte 3.
Wie überhaupt, fo waren auch bezüglich der Räumlichkeit und
-Zahl-, die Gefamt-Geftalten das Primäre. Sie werden nicht
primär in der frühen Mathematik (weder in der Hrithmetik noch
in der Geometrie) konftruiert, fondern vorgefunden und analyliert.
1) Fortgelegt in Euklids X. Buch (f. o. § 5b I. S. 135 ff.). - Gegenüber diefer
Leiftung kommen die abltrakten Spekulationen des Xenokrates, Speu-
fippos ufw. und felbft Platos eigene Idealzahlenlehre gar nicht in Betracht.
2) Vgl. dazu etwa Z e u then, Sur les connaissances géometriques
des Grecs avant la réforme platonicienne. Oversight over Danske Vid. Selsk.
Forh. 1913, p. 431ff. O. Toeplig hat demgegenüber darauf hingewiefen
(-die Fintike-, Bd. I, S. 201 ff.), daß der omc;;e:'w<nc-Gedanke auch möglicher-
weife aus der konkreten mathematifchen Forfchung ftammen und von dort
aus P l at o erlt zugefloflen fein könnte. Diefe Hypothele läßt fich bei den
wenigen uns bekannten Urkunden aus der Zeit weder beweifen noch wider-
legen. Soviel wird man aber doch wohl als licher annehmen können, daß
Plato als erfterdas klare Bewußtlein des ltreng methodilchen
Verfahrens des Elementaraufbaues gewonnen hat und dadurdi
auch die Entwicklung der poñtiven mathematifchen Forfchung entlcheidend
gefördert hat.
[691] Mathematifche Exiftenz. 251

In einem entwickelteren Stadium erfolgt dann ihre R e- konftruktion


aus den -Elementen-, die erft durch Hnalyle gewonnen werden
mußten. Zugleich und in engfter wefenhafter Verbundenheit leudı-
tet im fiugenblick diefes Umfchlags gleichfam von der Hnalyfis in
die Synthefis das Problem des Unendlichen (Grenzenlofen,
åízraıgov) auf. Die primitiven Geftalten werden in der Paffivität des
Vernehmens, das feinerfeits wieder aus der naiven fiktivität des
urfprünglíchen »Umgangs-= mit den Dingen erwuchs, noch nicht als
abgehoben und in fich gelchlolfen vorgefunden: fie find in einem
ftrukturierten »Feld-, einer ›Umwelt«, von vornherein eingebaut.
Sobald fie in Elemente zerlegt werden, entfteht die Gefahr, daß die
ihres natürlichen, -gewachfenen« Zulammenhangs beraubte Welt zu
einem wüften Trümmerhaufen zerfällt (die Welt des Werdens H e r a ~
klits, Kratylos', des jungen Plato), der dann als unbeftimm-
bar, unbegrenzt, nicht zu durchlaufen, unüberfehbar erlcheint und
mit dem wegwerfenden Husdruck μoj är, -nicht feiend-, abgelehnt
wirdi. Dieles Unheímlíche - nachdem die urfprüngliche Heimlich-
keit der Welt zerftört ift - , diefes äfreıgov verlangt in Schranken
gehalten, geordnet, beherrlcht, überfehbar gemacht zu werden. Man
kann fagen, das öírreıgov ift, im Munde P la t o s ,. das zu Bändigende;
die chaotifche Unheimlichkeiti, die zu bannen, das Untier, das zu
feffeln ift. Es gibt in der Tat einen zentralen Gedanken Platos,
der feine Stellung klar verdeutlicht, nämlich den des Syn desmos,
wie er im Mittelpunkt der Stenzellchen Interpretation ftehti. Er
ift im gegenwärtigen Zulammenhang zu verftehen als das Band des
Gefeges, wodurch dem grenzenlolen Chaos die Ordnung, die Be-
herrfchbarkeit zuteil wird. Dies ift nicht nur anwendbar auf die
Beherrfchung der finnlichen Welt des Werdens durch das Mathema-

1) Es ift dabei nicht etwa nur an -Phyßk« zu denken. Huch die


natürlich erwachlenen Grundlagen des menfchlichen faktifchen Lebens felbft,
in Religion, Sitte, Kunft, Staat werden zur Zeit des jungen Plato von der
Sophiltik -zerlegt-. Huch da oder vielmehr da in erfter Linie droht der
Trümmerhaufenl
2) Die Bedeutung von à'1m(›0c (cf. Phileb. 17 E) fchwankt, nach N a t o r p
(Platos Ideenlehre* S. 302), zwifchen -unendlich-, -unbeftimmt-, -unkundig«
(Gegenfat): išμnecgoçl; auch ånogía ift entfernt Verwandt). Vgl.: nsíga, nógoç,
entfernter frcbcr, flšgc-r ufw.; äm.-.gcc kann aber von beiden Stämmen, je nach
der Bedeutung, abgeleitet werden; gemeinlam ilt aber doch legtlich die Grund-
bedeutung 'per' ,= -durch-, »hinüber-<. (Vgl. B o i f a c q, Dictionnaire étymo-
logique de la langue grecque (Heidelberg-Paris 1916), p. 772).
3) Vgl. »Zahl und Geftalt-, die im Sachregilter unter ››Syndesmos«
angeführten Stellen.
44*

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