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Methoden und
Verfahren
243
Kapitel III. 1:
Beobachtungsmethoden
und Auswertungsverfahren
in der Entwicklungspsychologie
Axel Schölmerich, Bochum & Holger Weßels, Berlin
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 7. Die Rolle des Kontextes . . . . . . . . . . . . . . . . 248
4. Die Rolle des menschlichen Beobachters . . 247 10. Statistische Weiterverarbeitung von
Beobachtungsdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
5. Reliabilität und Beobachterüber- 10.1 Zeitunabhängige Analysen . . . . . . . . . . . . . 252
einstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 10.2 Zeitabhängige Analysen . . . . . . . . . . . . . . . 255
für die Reliabilität. Dabei korrigiert Kappa stimmte Anzahl von Stunden zur Kodierung
den Zusammenhang zwischen zwei Kodie- von Verhaltensweisen zur Verfügung. Es ist
rungen um die Auftretenshäufigkeit des Ver- also abzuschätzen, ob es für die Prüfung der
haltens. Es leuchtet ein, daß eine Verhaltens- Theorie günstiger ist, wenige Versuchsperso-
weise, die 95 % der Beobachtungszeit vorliegt, nen intensiver zu beobachten oder mehr Ver-
von beiden Beobachtern häufiger überein- suchspersonen mit einem gröberen System zu
stimmend kodiert wird, als ein Verhalten, das untersuchen.
nur in 50 % der Zeit auftritt. Generell ist zu beachten, daß sich Beob-
Es sollte festgehalten werden, daß eine achtungen mit hoher Auflösung immer zu
hohe Reliabilität nicht unbedingt der Aus- weniger detailreichen Datensätzen reduzieren
weis einer qualitativ hochwertigen Forschung lassen (durch Zusammenfassung von äquiva-
ist. Es gibt durchaus wissenschaftlich bedeut- lenten Beobachtungskategorien oder durch
same Erkenntnisse, die nicht von jedem Be- Bildung größerer Zeiteinheiten).
obachter repliziert werden können. Manche
Personen erweisen sich als trainingsresistent,
die Gründe dafür sind noch vollständig un- 7. Die Rolle des Kontextes
bekannt. In der Regel sind solche Probleme
bei der Bewertung komplexer Phänomene Verhalten spielt sich immer in einem Kontext
schwerwiegender. ab. Diese kontextuelle Gebundenheit ist häufig
sozialer Natur, d. h., wir beschäftigen uns in
der Entwicklungspsychologie besonders häufig
6. Auswahl des mit irgendwie gearteten Interaktionen zwi-
schen Menschen. Dies ist ganz besonders deut-
Beobachtungsgegenstandes lich in der Säuglingsforschung, trifft aber prin-
zipiell auf alle anderen entwicklungspsycholo-
Die Entscheidung darüber, welche Verhal- gischen Forschungsbereiche auch zu. Die so-
tensweisen beobachtet werden sollen und ziale Einbindung von Verhalten kann als ein
wie diese zu gliedern und einzuteilen sind, ist Sonderfall einer generellen Abhängigkeit des
zentrales Bestimmungsstück der Definition Verhaltens von seinem Kontext betrachtet wer-
von wissenschaftlicher Beobachtung. Der den – mit dem allerdings schwerwiegenden
Forscher muß in Übereinstimmung mit den Unterschied, daß sich nicht alle Kontexte mit
Hypothesen und der Theorie seines Gebietes vergleichbaren Methoden untersuchen lassen.
entscheiden, welche Verhaltensweisen als In- Beispielsweise könnte man in einer bestimm-
dikatoren für Bestandteile der zu prüfenden ten Entscheidungssituation die bisherigen Er-
Theorie angesehen werden sollen. Gleichzei- fahrungen einer Person als für ein Verständnis
tig sind aber auch viele Faktoren zu berück- des konkreten Verhaltens wesentlichen Hinter-
sichtigen, die sich nicht allein aus der wissen- grund betrachten. Diese Erfahrungen sind
schaftlichen Theorie, sondern auch aus Rand- durch Befragung oder biographische Metho-
bedingungen ergeben. Dazu gehört der Auflö- den zu erheben, nicht aber zu beobachten. Im
sungsgrad des Beobachtungssystems sowohl Sonderfall der Interaktion kann man das Ver-
hinsichtlich des Detailreichtums der Defini- halten mehrerer Beteiligter mit identischen
tionen der Verhaltensweisen als auch der Verfahren (vielleicht unterschiedlichen Defini-
Feinheit auf der Zeitachse. Die Zahl der zu tionen der relevanten Verhaltensweisen) pro-
untersuchenden Versuchspersonen determi- tokollieren und diesen Datensatz zum Gegen-
niert gleichzeitig aus statistischen Gründen stand der Analyse machen. Dabei zeigt sich,
die Zahl der in einer Untersuchung sinnvoll daß bei Interaktionsanalysen das Verhalten
zu behandelnden Variablen. Dies kann zu einer Person Teil des Kontextes für das Verhal-
einer Beschränkung auf eine bestimmte An- ten der anderen Person ist. Es besteht eine
zahl verschiedener Beobachtungskategorien (durch geeignete Analysetechnik umkehrbare)
führen. Typischerweise steht im Rahmen Figur-Grund-Beziehung.
eines wissenschaftlichen Projektes oder bei- In der Beobachtung einer Interaktion zwi-
spielsweise einer Diplomarbeit nur eine be- schen Mutter und Kind wird beispielsweise
Beobachtungsmethoden und Auswertungsverfahren 249
die Häufigkeit, mit der das Kind lächelt, vo- synchrones Interaktionsereignis oder als asyn-
kalisiert oder ein bestimmtes Objekt berührt, chrones Ereignis einzuschätzen. Der Datensatz
quantitativ erfaßt. Die so erzeugten Daten basiert auf einer Beobachtung mit einer
werden dann als Indikatoren für den Ausprä- «checklist» mit 28 definierten Verhaltenswei-
gungsgrad psychologisch relevanter Merkma- sen. Ein Beispiel für ein synchrones Interak-
le interpretiert. Das Kind wird als freundlich tionsereignis ist das Auftreten einer kindlichen
bezeichnet, wenn es häufig positive emotio- Vokalisation und einer responsiven Muttervoka-
nale Reaktionen zeigt, oder es wird auf der lisation im gleichen Zeitintervall. Das gemein-
Grundlage quantitativer Indikatoren ein be- same Auftreten von ‹Kind ist schläfrig› und
stimmter Entwicklungsstand festgestellt. Die ‹Mutter stimuliert› wird entsprechend als asyn-
Interpretierbarkeit der interindividuellen Un- chrones Ereignis bewertet. Mit dieser Methodik
terschiede hängt allerdings davon ab, ob die konnten Isabella und seine Kollegen zeigen,
kontextuelle Einbindung der Beobachtungen daß die so gewonnenen Maße der Synchro-
in den untersuchten Fällen identisch oder nie der Interaktion mit der Bindungssicher-
wenigstens vergleichbar war. Hat sich näm- heit am Ende des ersten Lebensjahres in
lich die eine Mutter mit ihrem Kind beschäf- einem systematischen Zusammenhang stan-
tigt, es wiederholt angelächelt, auf seine Vo- den. Dieses Vorgehen hat sicher den wesent-
kalisationen geantwortet und bei Anzeichen lichen Vorteil, neben der Synchronie auch
von Langeweile angemessen stimuliert, die die Basishäufigkeit bestimmter Verhaltens-
andere dagegen die kindlichen Signale igno- weisen der beiden Interaktionspartner ge-
riert, bei Übermüdung weiter stimuliert und trennt analysieren zu können. In einer Un-
intrusiv auf dem Durchsetzen der eigenen tersuchung, die mit ähnlicher Technik durch-
Handlungspläne bestanden, dann erscheint geführt wurde, zeigen Schölmerich, Fracasso,
es höchst unangemessen, Unterschiede in Lamb und Broberg (1995), daß die einzelnen
Häufigkeiten positiven Vokalisierens der Kin- Verhaltenshäufigkeiten in keinem systemati-
der als Indikatoren ihres Entwicklungsstandes schen Zusammenhang mit dem Entwick-
zu interpretieren. Die Erfassung des Kontex- lungsergebnis stehen, die Synchronie- und
tes und seine adäquate statistische Behand- Asynchroniewerte aber einen gewissen
lung ist unserer Auffassung nach das Schlüs- Vorhersagewert für die Bindungssicherheit
selproblem von Beobachtungsmethoden in haben.
der Entwicklungspsychologie und ungleich
wichtiger als zahlreiche traditionelle Unter-
scheidungen zwischen verschiedenen Beob- 9. Zeitliche Struktur von
achtungstechniken (siehe Kasten oben).
Verhalten
Die Zeitachse verläuft in dieser Abbildung Statistikprogrammen, mit denen man diese
von links nach rechts, und in der Vertikalen deskriptiven Parameter berechnen kann.
sind die jeweiligen Kategoriennummern bzw. Die Kategorie mit der Nr. 123 (Kind quen-
die definierten Verhaltensweisen angegeben. gelt) beispielsweise kommt in diesem Falle 72
Ein schwarzer Block bedeutet die Beobach- mal vor und dauert insgesamt 6300 Sekun-
tung des entsprechenden Verhaltens zu dem den an. Die Kategorie 252 (Mutter tröstet mit
auf der x-Achse angegebenen Zeitpunkt. Körperkontakt) kommt 49 mal vor und dau-
Dabei bedeutet 123 Quengeln des Kindes, ert 4830 Sekunden an. Die beiden letzten Zei-
124 Weinen, 252 Trösten mit Körperkontakt len geben die Ergebnisse für definierte Kate-
und 253 vokal es / verbales Trösten. gorien wieder, hier sind das Quengeln und
Die Daten des vorliegenden Beispiels stam- das Weinen des Kindes zusammengefaßt
men aus einem Forschungsprojekt, in dem (125) sowie das Trösten mit und ohne Kör-
die frühen Erfahrungen von drei Monate perkontakt (254). Es ist zu beachten, daß bei
alten Säuglingen in verschiedenen Lebensbe- solchen Definitionen nicht einfach die Häu-
dingungen untersucht wurden, hier sind Aka- figkeiten der einzelnen Verhaltensweisen ad-
Pygmäen und Ngandu-Farmer aus Zentral- diert werden, so ist die Häufigkeit der Kombi-
afrika beobachtet worden (Hewlett, 1991). nation Quengeln / Weinen sogar geringer als
In der Praxis wird man selten die Daten in die Häufigkeit von Quengeln alleine. Dies
diesem Rohdatenformat berichten können. kann durch einen Wechsel von Quengeln zu
Es ist sehr schwierig, beispielsweise Ähnlich- Weinen und umgekehrt entstehen. Benutzt
keiten oder Unterschiede zwischen Gruppen man dann eine «Oder»-Definition (also Ver-
in solchen komplexen Mustern zu erkennen. halten = Quengeln oder Weinen), kann die
Insofern ist es vorteilhaft, diese Daten zusam- entstehende Variable mit geringerer Häufig-
menzufassen. Aus der Betrachtung von Abbil- keit auftreten. Immer aber sollte die Gesamt-
dung 1 geht unmittelbar hervor, daß ein sol- zeit einer kombinierten Variable mindestens
cher zeitgetreuer Datensatz sich durch einfa- so groß oder größer sein als die Gesamtzeit
ches Auszählen z. B. in Häufigkeitsdaten über- der Einzelvariablen mit der längsten Dauer.
setzen läßt. Betrachtet man das gleichzeitige Auftreten
Die folgende Tabelle zeigt einen Auszug von mindestens zwei Variablen (also die
aus den allgemeinen Kennwerten des Daten- «Und»–Verknüpfung), dann kann ebenfalls
satzes, der in der Abbildung 1 wiedergegeben die Häufigkeit größer oder kleiner sein als die
ist. Dabei werden in Spalte 3 die Häufigkeit, Häufigkeiten der einzelnen Variablen, aber
danach die Gesamtdauer in Sekunden, die die Gesamtdauer muß kleiner oder gleich der
mittlere Dauer, die Standardabweichung der kürzesten Dauer der Einzelvariablen sein.
mittleren Dauer, der prozentuale Anteil der Häufig werden Individuen unterschiedlich
Aktivität dieser Kategorie an der Gesamtzeit lange beobachtet. Um die Ergebnisse um die-
bzw. Kriteriumszeit und die Rate pro Minute sen Faktor zu korrigieren, werden proportio-
angegeben. Unterschiedliche Kodierungssy- nale Meßgrößen angegeben, d. h., die Häufig-
steme (s. Hinweise am Ende des Kapitels) keit wird in eine Rate pro Minute oder Sekun-
geben alle mehr oder minder entsprechende de umgerechnet, und die kumulierte Dauer
Kennwerte aus oder besitzen Schnittstellen zu einer Verhaltensweise wird als prozentualer
Beobachtungsmethoden und Auswertungsverfahren 251
Tabelle 1: Deskriptive Statistik (Auszug) für den Beispieldatensatz
Subjekt: 9 Dateiname: K009u 220 Zeit: 13:35:09
Code-Name Code Häufigkeit t(Aktiv) t(mittel t(std) t%(krit) F/min.
Anteil der Gesamtzeit angegeben. Solche Findet man bei einer solchen Analyse
Werte sind in den beiden rechten Spalten der deutliche, aber nicht erwartete Effekte über
Tabelle oben angegeben. die Beobachtungszeit (Abnahme oder Zunah-
Abbildung 1 legt nahe, daß Trösten vor- me), so kann dies einen Hinweis auf einen
wiegend im Zusammenhang mit Weinen / möglichen Einfluß der Beobachtung auf das
Quengeln auftritt. Solche Zusammenhänge Verhalten darstellen. Treten am Anfang einer
testet man häufig über Korrelationen etwa Beobachtungsepisode besonders viele respon-
der Gesamtdauer der Variablen. Das ist aber sive Vokalisationen auf, gegen Ende aber nur
irreführend, da die kumulierten Parameter noch wenige, kann das ein Hinweis auf den
(wie Gesamtdauer vom Weinen / Quengeln Versuch der beobachteten Person sein, einen
und Trösten) auch bei hoher Korrelation besonders guten Eindruck zu erwecken.
nicht in zeitlichem Zusammenhang aufgetre- Unter Umständen erfolgt erst mit Gewöh-
ten sein müssen. Daher ist es vorzuziehen, nung an die Situation eine Reduzierung auf
die tatsächliche zeitliche Überlappung zu be- einen längerfristig stabilen Wert. Es ist in
rechnen, oder die bedingten Wahrscheinlich- jedem Fall zu empfehlen, die Möglichkeiten
keiten von Trösten während Weinen / Quen- der graphischen Darstellung von Beobach-
geln und während der restlichen Zeit mitein- tungsdaten zu nutzen, bevor weitere Analy-
ander zu vergleichen. Ein solches Vorgehen sen durchgeführt werden.
erlaubt es, Faktoren als quasi-experimentelle
Bedingungen einzuführen, die ihrerseits Er-
gebnisse der Beobachtungstätigkeit selbst 10. Statistische
sind. In solchen Fällen sollte sich der Unter-
sucher allerdings durch graphische Inspekti- Weiterverarbeitung
on seiner Daten davon überzeugen, daß die von Beobachtungsdaten
zugrundegelegten Zustände auch hinreichend
lange vorkommen. Proportionale Meßgrößen Im Gegensatz zu anderen Untersuchungsfor-
von seltenen Ereignissen ergeben zwangsläu- men liegen bei Beobachtungsstudien – wie
fig verzerrte und nicht aussagekräftige Daten. übrigens auch generell bei Längsschnittstudi-
In ähnlicher Weise kann man einzelne Ereig- en in der Entwicklungspsychologie (!) – meh-
nisse als Kriterium verwenden, um beispiels- rere sogenannte ‹Datenrecords› für jede Un-
weise in den auf eine Vokalisation folgenden tersuchungsperson vor. Während man zum
zehn Sekunden nach der durchschnittlichen Beispiel in einem Interview alle Fragen ein
Häufigkeit einer Antwort zu suchen. einziges Mal stellt und diese Antworten den
Vergleicht man bedingte Wahrscheinlich- Datensatz darstellen, wird bei Beobachtungen
keiten für aufeinanderfolgende passend ge- typischerweise eine Vielzahl von identischen
wählte Zeitintervalle, so erhält man Zeitfunk- Ereignissen (in unserem Beispiel: Weinen des
tionen. Solche Zeitfunktionen können bei Kindes oder Trösten der Mutter) festgehalten.
einer Langzeitbeobachtung Tagesrhythmen Diese Besonderheit, die man in der Statistik
aufzeigen, wie das in einer Untersuchung von auch als ‹hierarchische Datenstruktur› bezeich-
Leyendecker, Lamb, Schölmerich und Fracasso net, wird noch zusätzlich kompliziert durch
(1995) gezeigt werden konnte. die zweite Besonderheit von Beobachtungs-
252 Methoden und Verfahren
daten, nämlich ihre inhärente Zeitstruktur. In Tabelle 2: Rohdaten von Weinen und Trösten
aller Regel besteht das Ziel der Datenauswer- Zeiteinheit Kind weint Mutter tröstet
tung genau darin, diese Zeitstruktur zu erfas-
sen und z. B. auf mögliche Gruppen- oder Al- 0 0 0
tersunterschiede zu testen. Die Entwicklung 1 1 0
von Verfahren, mit denen man dieses Analy- 2 1 1
seziel erreichen kann, ist eng mit dem Auf- 3 1 1
kommen moderner Computer und entspre- 4 1 1
chender Programme verbunden.
5 0 1
Es lassen sich zunächst aufgrund des Ska-
6 0 0
lenniveaus der Daten zwei Gruppen von Ver-
fahren unterscheiden. Liegt ein kontinuierli-
ches oder zumindest hinreichend angenäher-
tes kontinuierliches Niveau vor (d. h. gibt es
zu jedem Zeitpunkt einen Meßwert wie zum Insgesamt liegen pro Person hier 1080 Zeit-
Beispiel die Körpergröße), dann ist die Zeit- einheiten vor. Bildet man nun eine Kreuzta-
reihenanalyse das am häufigsten eingesetzte belle des Verhaltens der Mutter und des Kin-
Verfahren zur Auswertung der Daten (Gott- des für alle Zeiteinheiten, dann erhält man
man & Ringland, 1981; Schmitz, 1990). Mei- folgendes Resultat:
stens beschränkt man sich allerdings bei Be-
obachtungen darauf, zu jedem Zeitpunkt fest-
zuhalten, ob ein bestimmtes Verhalten auf-
tritt oder nicht. Daher kommt den Verfahren, Tabelle 3: Kreuztabelle von Weinen und Trösten
die mit diskreten (ja / vielleicht / nein), meist Mutter tröstet
binären (0/1) Daten arbeiten, eine größere
Kind weint nein ja
Bedeutung zu, so daß nur diese hier vorge-
stellt werden. nein 1010 23
Ausgangspunkt dieser Verfahren ist dabei
eine gewöhnliche Kreuztabelle; das am häu- ja 14 33
figsten verwendete Verfahren, das sogenann-
te allgemeine log-lineare Modell, stellt im
Grunde genommen nichts anderes als eine Aus der Tabelle geht hervor, daß in 1010
Erweiterung dieses Ansatzes auf Tabellen dar, Zeiteinheiten das Kind nicht weint und die
in der mehr als zwei Variablen gleichzeitig Mutter auch nicht tröstet, während in 33
untersucht werden sollen. Zeiteinheiten das Kind weint und von der
Mutter getröstet wird. Da wir davon ausge-
hen, daß ein Zusammenhang zwischen dem
10.1 Zeitunabhängige Analysen Verhalten der Mutter und dem Verhalten des
Kindes besteht, benötigen wir ein Maß, mit
Beginnen wir mit dem etwas einfacheren Fall, dessen Hilfe wir die Stärke dieses Zusammen-
in dem auf die Analyse der zeitlichen Struktur hangs ausdrücken können. Eines der einfach-
zunächst verzichtet wird. Wir verwenden hier sten dieser Maße ist das sogenannte ‹Kreuz-
weiterhin das oben eingeführte Beispiel. Produkt-Verhältnis›, das berechnet wird,
Tabelle 2 gibt einen Auszug aus den Roh- indem man die Häufigkeiten in den zwei glei-
daten wieder. Dabei wird deutlich, daß das chen Zellen (ja-ja und nein-nein) miteinan-
Kind in der ersten Zeiteinheit nicht weint der multipliziert und durch das Produkt der
und die Mutter auch nicht tröstet. In der beiden anderen Zellen dividiert. Dabei wird
folgenden Zeiteinheit beginnt das Kind zu zu jeder Häufigkeit noch eine Konstante von
weinen, aber die Mutter tröstet nicht, 0.5 addiert, was die asymptotischen Eigen-
während in der dritten Zeiteinheit das Kind schaften des Koeffizienten verbessert (Bishop,
weiterhin weint und die Mutter begonnen Fienberg & Holland, 1975; Wickens, 1989).
hat, es zu trösten. Allgemein ausgedrückt ergibt sich somit
Beobachtungsmethoden und Auswertungsverfahren 253
ne, 1980). In diesem Falle muß die Analyse hang nicht besteht, das mittlere Kreuzpro-
mit drei Variablen – den beiden Beobach- duktverhältnis also 0 ist, was in diesem Falle
tungskategorien sowie der Identifikations- t = 23.90, p = .000 ergibt. In der Stichprobe
nummer der einzelnen Dyade – durchgeführt besteht also ein signifikanter Verhaltenszu-
werden. Bezeichnen wir das Verhalten des sammenhang. Auf diese Weise lassen sich je-
Kindes mit A, das Verhalten der Mutter mit B doch potentielle Gruppenunterschiede nicht
und die Mutter-Kind-Dyade mit C, dann er- überprüfen. Um zu testen, ob die Stärke des
gibt sich die Modellgleichung für das voll- Zusammenhangs sich zwischen den beiden
ständigste, das sogenannte saturierte Modell untersuchten Gruppen der Aka und der
als Ngandu unterscheidet, verwendet man den t-
Test für zwei unabhängige Stichproben und
eˆijk = λ + λ i + λ j + λ k + λ ij + λ ikj + λ jk + λ ijk .
ABC A B C AB AC BC ABC
überprüft, ob die Mittelwerte in beiden Grup-
pen gleich sind. Im vorliegenden Falle ergibt
ABC
Hierbei bezeichnet eˆijk den natürlichen Lo- sich für die Aka ein Mittelwert von 4.38 (SD
garithmus des Erwartungswertes in der Zelle 1.18) und für die Ngandu ein Wert von 4.27
ijk. Für das saturierte Modell ist dieser Erwar- (SD 1.17). Der Unterschied zwischen den
tungswert genau gleich dem tatsächlich be- Mittelwerten ist nicht signifikant (t = 0.30,
obachteten Wert, d. h., in diesem Falle ist p = .767), d. h., der Zusammenhang zwischen
ABC
eˆijk genau gleich dem natürlichen Logarith- dem Mutter- und dem Kindverhalten ist in
mus der beobachteten Häufigkeit in Zelle ijk. beiden Gruppen gleich stark.
Die auf der rechten Seite der Gleichung be- Verwendet man das allgemeine log-lineare
findlichen λ (lambda)-Parameter lassen sich Modell wie oben beschrieben, dann erhält
als numerische Quantitäten interpretieren, man neben den Parametern für den Zusam-
mit denen die jeweiligen Haupteffekte und menhang auch Parameter, mit deren Hilfe
Interaktionen am Zustandekommen dieser sich untersuchen läßt, ob es Unterschiede
beobachteten Häufigkeit beitragen. Zwei die- zwischen dem Verhalten der Kinder bzw. der
ser Parameter sind dabei für die Analyse unse- Mütter in den beiden Gruppen gibt. Für das
rer Beobachtungen von besonderem Interes- Kindverhalten ergibt sich hier zum Beispiel
se. Der Parameter λ ij quantifiziert den mitt- ein Wert für λ iA von 0.55, was besagt, daß im
AB
0 0 0
1 1 0 0 0
2 1 1 1 0
3 1 1 1 1
4 1 1 1 1
5 0 1 1 1
6 0 0 0 1
256 Methoden und Verfahren
Mutter tröstet
nein / nein nein / ja ja / nein ja/ja
nein / ja 11 13 0 3
ja / nein 7 1 16 3
ja / ja 1 5 2 12
Aus der Tabelle 5, die die gleiche Mutter- Verhalten des anderen Partners (z. B. der Mut-
Kind-Dyade darstellt wie Tabelle 2, wird deut- ter) in der nachfolgenden Zeitsequenz be-
lich, daß sich in 974 von 1010 Zeiteinheiten, stimmt, ein Zusammenhang in der umge-
in denen das Kind nicht weint und die Mut- kehrten Richtung jedoch nicht besteht. Von
ter nicht tröstet, weder das Verhalten des Kin- Bidirektionalität oder Symmetrie hingegen
des noch das der Mutter ändert. In jeweils elf spricht man, wenn das Verhalten beider In-
Zeiteinheiten ändert nur ein Interaktions- teraktionspartner sich im Zeitverlauf wechsel-
partner sein Verhalten, und in 13 Einheiten seitig beeinflußt, d. h. sowohl das Kindverhal-
ändern beide Partner ihr Verhalten gleichzei- ten auf das spätere Mutterverhalten wie auch
tig. Interessant ist an dieser Tabelle, daß die das Mutterverhalten auf das spätere Kindver-
Mutter acht mal in beiden Zeiteinheiten trö- halten einwirkt. Von erheblicher Bedeutung
stet, obwohl das Kind in keiner dieser Einhei- sind daneben die Konzepte der sog. Autokon-
ten weint, drei Mal tröstet die Mutter das tingenz und der Synchronität. Mit Autokontin-
Kind bereits, obwohl es erst in der nächsten genz wird dabei das Ausmaß bezeichnet, mit
Zeiteinheit zu weinen beginnt. dem das Verhalten des Kindes oder der Mut-
Gehen wir wiederum davon aus, daß mehr ter vom eigenen Verhalten in der vorherge-
als eine Dyade beobachtet wurde, besteht un- henden Zeiteinheit abhängt. Im allgemeinen
sere Analyse nunmehr aus fünf Variablen – wird diese Autokontingenz als reiner Störfak-
dem Kind- und dem Mutterverhalten zu je tor betrachtet, den es zu kontrollieren gilt,
zwei Zeitpunkten sowie der Identifikations- der aber keine inhaltliche oder interpretative
nummer der Dyade. Dadurch wird die Analy- Bedeutung hat. Wenngleich wir dieser Auffas-
se naturgemäß wesentlich komplexer, wobei sung nicht zustimmen, so muß aus Platz-
allerdings, wie wir im folgenden zeigen wer- gründen eine genauere Analyse der Autokon-
den, die unterschiedlichen Parameter eine tingenzen hier unterbleiben. Mit Synchro-
eindeutige und im Bezugsrahmen der Beob- nität schließlich bezeichnen wir den Zusam-
achtungen recht einfach zu verstehende Be- menhang zwischen dem Mutter- und dem
deutung haben. Sie lassen sich an zwei be- Kindverhalten in der jeweils gleichen Zeitein-
deutsame Konzepte aus diesem Bereich an- heit, im Grunde genommen also den Zusam-
binden: Dominanz (oder Asymmetrie) und Bi- menhang, wie er in der zeitunabhängigen
direktionalität (oder Symmetrie; vgl. z. B. Bu- Analyse untersucht wird.
descu, 1984, 1985; Gottman & Ringland,
1981). Von Dominanz oder Asymmetrie wird In eher technischen Kategorien ausgedrückt
gesprochen, wenn das Verhalten des einen lautet die log-lineare Modellgleichung für das
Interaktionspartners (z. B. des Kindes) das saturierte Modell aller fünf Variablen d. h., für
λ Kijklm
, , , ,Dyade
λ Kijklt K t+ 1 M t M t+t
, , , Synchronität zum Zeitpunkt t+1 vorher t K t+ 1 M t M t+t
λ Kijkt K t+ 1 M t λ Kijkmt K t+ 1 M t
, , Synchronität zum Zeitpunkt t sagt das Kindverhalten zum , , ,Dyade
Zeitpunkt t+1 vorher
λ Kijl t K t+ 1 M t +1 λ Kijlmt K t+ 1 M t +1
, , Kindverhalten zum Zeitpunkt t sagt Synchronität zum Zeit- , , , Dyade
punkt t+1 vorher
λ Kiklt M t M t +1 λ Kiklmt M t M t +1
, , Synchronität zum Zeitpunkt t sagt das Mutterverhalten zum , ,
Zeitpunkt t+1 vorher
λ Kjklt+ 1 M t M t +1 λ Kjklm
, , Mutterverhalten zum Zeitpunkt t sagt Synchronität zum Zeit- ,
t+ 1 M t M t +1 , , Dyade
punkt t+1 voraus
λ Kjl t+ 1 M t +1 λ Kjlmt+ 1 M t +1
, , , Dyade
Synchronität zum Zeitpunkt t+1
λ Kik t M t λ Kikmt M t
, Synchronität zum Zeitpunkt t , , Dyade
λ Kil t M t +1
Kindverhalten zum Zeitpunkt t sagt Mutterverhalten zum
λ Kilmt M t +1
, , ,Dyade
Zeitpunkt t+1 vorher
λ Kjk t+ 1 M t λ Kjkmt+ 1 M t
, Mutterverhalten zum Zeitpunkt t sagt Kindverhalten zum , ,Dyade
Zeitpunkt t+1 vorher
λ Kij t K t+ 1 λ Kijmt K t+ 1
, , , Dyade
Autokontingenz des Kindverhaltens
λ Mkl t M t +1 λ Mklmt M t +1
, , ,Dyade
Autokontingenz des Mutterverhaltens
258 Methoden und Verfahren
Bei den Interaktionen zweiter und höherer festzustellen. Der positive Zusammenhang
Ordnung ist dabei zu beachten, daß die vorge- bei den Aka kann dabei so interpretiert wer-
schlagene Interpretation nicht zwingend in den, daß die Mütter früher auf das Verhalten
dem Sinne ist, daß sie die einzig (technisch) des Kindes reagieren, als dies bei den Ngandu
mögliche darstellt. Im Rahmen der Analyse der Fall ist. Insoweit legt diese begrenzte Un-
von Beobachtungsdaten scheint sie uns aller- tersuchung der zeitlichen Struktur der Daten
dings unter inhaltlichen Gesichtspunkten die- nahe, daß die Mütter der Aka responsiver
jenige zu sein, die in den allermeisten Fällen sind als die Mütter der Ngandu, ein Unter-
angebracht sein dürfte, wenngleich sich unter schied, der allerdings erst hervortritt, wenn
sehr spezifischen Fragestellungen ein Wechsel die zeitliche Struktur der Beobachtung wie
des Interpretationsfokus anbieten mag. hier explizit in die Analyse mit einbezogen
Mit den in diesem Analyseschritt berech- wird. Bei der zeitunabhängigen Analyse oben
neten Größen oder Zusammenhangsmaßen konnte kein statistisch bedeutsamer Unter-
wird nunmehr ebenso verfahren wie mit den schied zwischen den beiden Gruppen nach-
Parametern im vorigen Abschnitt. Das mittle- gewiesen werden.
re Zusammenhangsmaß und die dyadenspe- Ein weiterer signifikanter Unterschied zwi-
zifische Abweichung hiervon werden schen den beiden Gruppen ergibt sich bei der
zunächst addiert und dann auf Verschieden- Autokontingenz der Mütter: Hier ist der Para-
heit von Null geprüft. Dabei ist allerdings zu meter für die Aka-Mütter signifikant kleiner
beachten, daß für diesen Test eine multivaria- als der Parameter der Ngandu-Mütter. Dies
te Prüfstatistik, «Hotelling’s T2» (z. B. in der könnte darauf hinweisen, daß die Ngandu-
SPSS-Prozedur MANOVA), verwendet werden Mütter sich in ihrem Verhalten seltener am
muß, da diese Daten nicht unabhängig von- Verhalten der Kinder orientieren als dies bei
einander sind (Wickens, 1993). den Aka-Müttern der Fall ist. Signifikant, aber
Führen wir die Analyse wie beschrieben nicht nochmals hier berichtet, sind zudem
durch, so ergeben sich die in Tabelle 7 darge- die Haupteffekte des Mutter- und Kindverhal-
stellten Ergebnisse. In der zweiten Spalte die- tens, die bereits bei der Analyse von Tabelle 3
ser Tabelle sind die Stichprobenmittelwerte kurz dargestellt wurden. Angemerkt sei
für die einzelnen Parameter wiedergegeben, zudem, daß die multivariaten Tests ebenfalls
grau unterlegte Zellen bedeuten dabei, daß signifikant waren und somit die Interpretati-
der Stichprobenmittelwert signifikant von on der univariaten Ergebnisse statistisch ab-
Null verschieden ist (α = .05). So läßt sich aus gesichert ist. Mit dieser Analyse haben wir ge-
der Tabelle z. B. ablesen, daß das Kindverhal- zeigt, wie wichtig es ist, ein tatsächlich auf
ten zum Zeitpunkt t im Stichprobenmittel die theoretischen Annahmen angepaßtes Mo-
einen signifikanten Einfluß auf das Mutter- dell zur statistischen Analyse zurückzugrei-
verhalten im folgenden Zeitpunkt hat, d. h., fen. Macht man Aussagen über die Beeinflus-
daß die Mutter auf das Weinen des Kindes sung eines Interaktionspartners durch einen
reagiert. Umgekehrt allerdings hat im Stich- anderen, dann ist es wesentlich, tatsächlich
probendurchschnitt das Mutterverhalten die zeitliche Struktur mit in diese Analyse
keine Vorhersagekraft für das nachfolgende einzubeziehen. Wir hoffen, daß hier deutlich
Verhalten des Kindes. wurde, daß die statistisch anspruchsvolle
In den nächsten beiden Spalten sind die Weiterverarbeitung von Beobachtungsdaten
Parameter-Mittelwerte für die beiden Grup- relativ einfach und konsequent möglich ist.
pen wiedergegeben und in der letzten Spalte Dieses Verfahren läßt sich, wie oben ange-
die Ergebnisse der univariaten F-Tests zur deutet, auf eine ganze Reihe von Situationen
Überprüfung der Unterschiede dieser Mittel- anwenden. Es wäre beispielsweise ebenfalls
werte. Bezogen auf den Zusammenhang zwi- möglich, die Prüfung der Übereinstimmung
schen dem Verhalten der Mutter und dem mehrerer Beobachter auf diese Weise durch-
nachfolgenden Verhalten des Kindes ergibt zuführen. Auf die Ähnlichkeit zwischen Da-
sich dabei ein bemerkenswerter Gruppenun- tensätzen aus Beobachtungsstudien und
terschied: Bei den Aka ist ein positiver, bei Längsschnittuntersuchungen haben wir
den Ngandu ein negativer Zusammenhang ebenfalls hingewiesen.
Beobachtungsmethoden und Auswertungsverfahren 259
Tabelle 7: Prüfung der Gruppenunterschiede zwischen Aka und Ngandu bei zeitabhängiger Analyse
Mittel Aka Ngandu Unterschied
(Stdv.) (Stdv.) (Stdv.) F (p)
Gottman, J. M. & Ringland, J. T. (1981). The analysis Sackett, G. P. (1987). Analysis of sequential social in-
of dominance and bidirectionality in social deve- teraction data: some issues, recent developments,
lopment. Child Development, 52, 393–412. and a causal inference model. In J. D. Osofsky
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261
Kapitel III. 2:
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen:
Zugänge zum Verstehen von Kindern
und Jugendlichen1
Siegfried Hoppe-Graff, Leipzig
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6. Gespräche: Partiell standardisierte
Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
2. Ein Blick in die Psychologiegeschichte: 6.1 Exemplarische Studie: Damon & Hart (1988) 279
Tagebücher, spontane Sprachäußerungen 6.2 Durchführung und Aufzeichnung . . . . . . . 280
(Erzählungen) und Gespräche in den 6.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Anfängen der Entwicklungspsychologie . . . . . . 263
2.1 Historische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . 263 7. Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
2.2 Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 7.1 Exemplarische Studie:
Gilligan & Attanucci (1988) . . . . . . . . . . . . 285
3. Psychologiegeschichte, zweiter Teil: 7.2 Durchführung und Aufzeichnung . . . . . . . 286
Die Rückkehr von Tagebüchern, Gesprächen 7.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
und Erzählungen in das Beobachtungsrepertoire
der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . 267 8. Stärken und Schwächen der Verfahren . . . . 288
4. Erstes Resümee: Das Verhältnis von Methoden 9. Zweites Resümee und Ausblick: Das Netz
zum Gegenstand, den Zielen und den Theorien des Ichthyologen, das Beobachtungsideal
in der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . 271 der Naturwissenschaften und Datenerhebung
in der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . 291
5. Tagebuchaufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . 271
5.1 Exemplarische Studie: Mendelson (1990) . 272 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
5.2 Durchführung und Aufzeichnung . . . . . . . 274
5.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
1 Ich danke Irma Engel für wertvolle Hilfen bei der Erstellung des Manuskriptes.
262 Methoden und Verfahren
Tagebuchaufzeichnung gibt es für Stern einen spräche mit Kindern: Untersuchungen zur Sozial-
immanenten Zusammenhang, denn ein psychologie und Pädagogik» (1928) dokumen-
Grundprinzip des Personalismus lautet: «Alle tiert insgesamt 154 dieser Dialoge und ent-
Trennungen innerhalb der Persönlichkeit hält daneben die entwicklungs- und sozial-
sind nur relativ, nur Abstraktionen ...; alle psychologische Interpretation («Diskussion»)
Teilentwicklungen einzelner Funktionen sind eines jeden Dialogs sowie allgemeine Schluß-
stets getragen von der persönlichen Gesamt- folgerungen, etwa über «die Metaphysik der
entwicklung.» (1967, S. 27). Wie aber ließe kindlichen Welt» oder «die Wunschwelt des
sich dieser Gesamtzusammenhang besser Kindes».
berücksichtigen als durch die kontinuierliche Anders als bei den Sterns, die die
Beobachtung und Protokollierung der Verän- Sprachäußerungen ihrer Kinder vorrangig
derungen in allen Funktionsbereichen und zum Studium der Sprachentwicklung heran-
der Gesamtpersönlichkeit? gezogen haben (Stern & Stern, 1907), richtet
Prädestiniert zur Durchführung dieser Be- sich die Aufmerksamkeit von David und Rosa
obachtungen sind theoretisch geschulte und Katz nicht auf die Erforschung der Kinderspra-
mit dem Kind vertraute Personen, also etwa che. Sie betrachten Gespräche als Zugang zu
Entwicklungspsychologen, die ihre eigenen anderen Funktionsbereichen, etwa dem Den-
Kinder beobachten. Die Verbindung von ken, Wünschen, Träumen und Fühlen. Aus-
theoretischem Wissen und Vertrautheit mit drücklich weisen sie darauf hin, daß die Ge-
den individuellen Eigenheiten und der Le- spräche mit ihren Kindern alles andere sind
benswelt des Kindes gibt ihnen ein besonde- als gezielte Befragungen:
res Maß an Kompetenz, um Entwicklungs-
«Am nächsten kommt man dem Charakter
prozesse zu erkennen, zu deuten und einzu-
der meisten hier mitgeteilten Gespräche,
ordnen.
wenn man sie als Plaudereien bezeich-
Weil er dem ganzheitlichen Ansatz des kri-
net. Wir haben nie mit den Kindern im er-
tischen Personalismus verpflichtet ist, ist die
habenen Stil gesprochen, sondern be-
Tagebuchaufzeichnung für Stern folgerichtig
mühten uns, die Unterhaltung immer so
eine bevorzugte Form der Datenerhebung,
schlicht und natürlich zu führen, wie es
aber sie ist nicht die einzige. In seinem Lehr-
die jeweilige Situation nur zuließ. Nie
buch plädiert er nachdrücklich für Metho-
war unsere Belehrung aufdringlich. Unse-
denpluralismus. Als weitere legitime Wege
re Antworten auf Fragen der Kinder oder
zur Gewinnung von Beobachtungen nennt er
die uns nötig erscheinenden eignen Fra-
etwa die experimentellen Methoden und in-
gen waren der jeweils gegebenen Lage
direkte Zugangsweisen, wie beispielsweise
so weit als möglich angepaßt.» (1928,
Kindheitserinnerungen von Erwachsenen.
S. 5).
Auch wenn sich William Stern bei seiner
Lehrbuchdarstellung primär auf die eigenen
Tagebücher stützte, so konnte er daneben Tagebücher bilden auch das «Ausgangsmate-
auch auf Tagebuchaufzeichnungen anderer rial» für Charlotte Bühlers «Das Seelenleben
Forscher zurückgreifen. Beispielsweise hatte des Jugendlichen», eine 1921 erstmals erschie-
auch das Ehepaar Scupin (1907, 1910) über nene Entwicklungspsychologie des Jugendal-
die Entwicklung ihres Sohnes Bubi Tagebuch ters (Nachdruck 1991), die von Oerter (1991,
geführt, und für spätere Auflagen seines Lehr- S. 3) als «ein historischer Meilenstein in der
buchs standen ihm auch die Tagebücher des Forschungsgeschichte der Entwicklung des
Ehepaars Katz zur Verfügung. Jugendalters» bezeichnet wird. Aber hier geht
Die von David und Rosa Katz geführten es um einen anderen Typus von Tagebüchern
Tagebücher unterscheiden sich deutlich von als bei den Sterns, den Scupins oder den
den Aufzeichnungen der Sterns, denn sie Katz’: Nicht der Forscher hat seine Beobach-
haben sich von vornherein auf die Protokol- tungen in Form von Tagebuchaufzeichnun-
lierung von Gesprächen beschränkt, die sie gen notiert, sondern Jugendliche selbst haben
mit ihren Kindern Wilhelm Theodor und Ju- das Tagebuch geschrieben. Es handelt sich
lius Gregor geführt haben. Ihr Buch «Ge- also eher um Selbstauskünfte in Form von Be-
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 265
richten über Befindlichkeiten, Erzählungen «Ich vertrete die Auffassung, daß derarti-
über Gegebenheiten, Reflexionen über das ge qualitative Aufzeichnungen nicht nur
Selbst. Bühler standen immerhin 76 derartige eine wesentliche Vorbedingung für erfolg-
«Jugendtagebücher» zur Verfügung, die in der reiches Experimentieren in der Entwick-
Regel über den Zeitraum von mehreren Jah- lungspsychologie darstellen. Sie werden
ren geführt worden waren. Sie war sich sogar dann einen unverzichtbaren Hinter-
durchaus der methodischen Probleme be- grund und ein Korrektiv darstellen, wenn
wußt, die auftreten, wenn man diese «literari- die experimentelle Technik perfektio-
schen Produktionen» als Forscher nutzt, um niert worden ist. Ohne eine solche Hin-
Schlußfolgerungen über die Entwicklung zu tergrundinformation über das gesamte
ziehen. Sie betont aber die Vorzüge mit Argu- Spektrum der Verhaltensweisen von Kin-
menten, die an Stern erinnern. So verweist dern in ganzheitlichen Situationen wird
sie etwa darauf, daß das vom Jugendlichen diese oder jene Reaktion auf eine be-
geschriebene Tagebuch grenzte experimentelle Aufgabe nicht
mehr sein als sterile und irreführende Ar-
«... durch Jahre hindurch uns das Leben
tefakte.» (1967, S. 4 [Übersetzung des
eines jungen Menschen begleiten läßt
Autors])
und ihn nicht nur in mißverständlichen
Einzeläußerungen, sondern von vielen
Obwohl Jean Piaget wahrscheinlich als der
Seiten her kennen lehrt. Dies ist der
berühmteste und einflußreichste Entwick-
große Vorzug des Tagebuchs vor einzel-
lungspsychologe gelten darf, ist wenig be-
nen Beobachtungen oder Experimenten.
kannt geworden, daß auch er Tagebücher ge-
Es ist ein Entwicklungsbuch. Es zeigt uns
führt hat. Seine sog. Säuglingsmonographien,
neben den direkt dargestellten Einzelhei-
die in den dreißiger und vierziger Jahren er-
ten Entwicklungstatsachen und eine Ent-
schienenen Bände «Das Erwachen der Intelli-
wicklungsrichtung.» (1991, S. 51).
genz beim Kinde» (1969a / 1936), «Der Aufbau
der Wirklichkeit beim Kinde» (1972a / 1937)
Und abermals wird hervorgehoben, daß nur und «Nachahmung, Spiel und Traum» (1969b /
theoretische Kenntnisse, die der Forscher als 1945), beruhen auf detaillierten Tagebüchern,
Leser des Tagebuchs hat, die Entwicklungstat- die Piaget über die Entwicklung seiner drei
sachen und die Entwicklungsrichtung deut- Kinder Jacqueline, Laurent und Lucienne in
lich werden lassen. Und schließlich finden den ersten beiden Lebensjahren angelegt hat.
wir auch bei Charlotte Bühler ein Plädoyer In die genannten Publikationen hat er eine
für Methodenpluralismus, also die Verwen- Vielzahl von diesen Beobachtungen eingear-
dung vielfältiger Wege der Datenerhebung beitet. Die Tagebücher selbst hat er unseres
(s. op. cit., S. 52). Wissens nie der Fachöffentlichkeit zugäng-
Im deutschsprachigen Raum nahezu unbe- lich gemacht, so daß sich nicht nachvollzie-
kannt geblieben sind die Tagebuchaufzeich- hen läßt, inwieweit die in die Säuglingsmo-
nungen von Susan Isaacs, die sie in der Zeit nographien übernommenen Beobachtungen
von 1924–1927 als Erzieherin in einem Kin- eine repräsentative Auswahl darstellen oder
derheim angelegt und in den beiden Bänden nur unter dem Gesichtspunkt der Illustration
«Intellectual growth in the young child» (1930) von Phänomenen ausgewählt worden sind
und «Social development in young children» (s. hierzu ausführlich Gratch & Schatz, 1987).
(1967/1933) publiziert hat. Es ist eine erstaun- Bevor Piaget die Tagebuchaufzeichnungen
liche Konvergenz, daß auch Isaacs, eine psy- zu seinen eigenen Kindern anlegte, hatte er
choanalytisch geschulte und orientierte Ent- in seinem «Frühwerk», den schon in den
wicklungspsychologin, erstens ähnliche Grün- zwanziger Jahren veröffentlichten Studien
de für die Bevorzugung von Tagebuchauf- «Sprechen und Denken des Kindes» (1972b /
zeichnungen anführt wie Stern und Bühler 1923), «Urteil und Denkprozeß des Kindes»
und zweitens ebenfalls die Notwendigkeit (1972c / 1924) und «Das Weltbild des Kindes»
sieht, diesen Zugang zur Entwicklung des Kin- (1988 / 1926), die Beobachtung und Protokol-
des durch andere Methoden zu ergänzen: lierung von Sprachäußerungen als Zugang
266 Methoden und Verfahren
zur Psychologie des Kindes bevorzugt. Die stimmte Form von erkundendem Gespräch,
beiden erstgenannten Werke, in denen es um die er klinisches Interview oder klinische Unter-
die formalen Merkmale des Denkens und der suchung nennt. Diese Bezeichnung soll auf
Sprache geht, basieren auf der Untersuchung Ähnlichkeiten des Gesprächs, das der For-
von spontanen Sprachäußerungen im Alltag. scher mit dem Kind führt, mit dem Gespräch
Zwei Mitarbeiterinnen Piagets beobachteten zwischen Psychiater und Patient hinweisen.
je ein Kind einen Monat lang vormittags in Das klinische Interview besteht nicht aus
der Vorschule und notierten genau, was das einer schematischen, stereotypen Abfolge
Kind sagte und in welchem Zusammenhang von Fragen, sondern muß vom Interviewer
das geschah. Der Rahmen der Vorschule, so theoriegeleitet den jeweiligen Äußerungen
meinte Piaget, gebe den Kindern jede Gele- des Kindes angepaßt werden. Wir führen für
genheit, miteinander zu spielen oder zu spre- diese Form des Gespräches eines Forschers
chen, wenn sie Lust dazu hätten. mit dem Heranwachsenden die Bezeichnung
Auf der Grundlage dieses Beobachtungs- «partiell standardisiertes Interview» ein (s. aus-
materials hat Piaget weitreichende, allgemein führlich Abschnitt 6).
bekannte Schlußfolgerungen gezogen. Unter-
scheidet man etwa zwischen der egozentri-
schen und der sozialisierten Funktion der
Sprache, so ist nach seinen Beobachtungen 2.2 Schlußfolgerungen
ein großer Teil der Äußerungen des Kindes
egozentrisch: «Diese Sprache ist zunächst ein- Obwohl mit diesem kurzen Ausflug in die
mal egozentrisch, weil das Kind nur von sich Psychologiegeschichte keinesfalls der An-
erzählt, vor allem aber, weil es nicht versucht, spruch verbunden sein kann, ein vollständi-
auf den Standpunkt des Zuhörers einzuge- ges oder repräsentatives Bild der entwick-
hen. ...» (1972b, S. 21). Man muß präzisieren, lungspsychologischen Erhebungsmethodik in
daß Piaget darin vor allem einen kognitiven den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts
und erst sekundär einen kommunikativen zu zeichnen, so wird doch deutlich, daß Tage-
Mangel sieht: Egozentrismus ist die Unfähig- buchaufzeichnungen, spontane Sprachäuße-
keit, sich in den Standpunkt eines anderen rungen und erkundende Gespräche als Da-
hineinzuversetzen und zu verstehen, daß des- tenquellen in der Frühphase der Entwick-
sen Sichtweise der Dinge von der eigenen ab- lungspsychologie eine bedeutsame Rolle ge-
weicht. Wir wissen heute, daß sich Piagets spielt haben. Bedeutsam waren sie, weil sie
These der Dominanz egozentrischer Äuße- relativ verbreitet waren und weil sie bei der
rungen nicht aufrechterhalten läßt und daß Gewinnung grundlegender Erkenntnisse ge-
er offensichtlich auch durch die Besonderhei- nutzt worden sind, etwa als Datenbasis für
ten seiner Beobachtungsmethode in die Irre Piagets epochale Theorie der geistigen Ent-
geführt worden ist. Übersehen wird aber häu- wicklung. Die historische Reminiszenz hat
fig, daß das Ehepaar Katz in dem oben ge- aber auch gezeigt, daß diese drei Verfahren
nannten Buch schon 1928 aufgrund der Aus- nicht immer deutlich zu trennen sind und
wertung der Gespräche von Kindern mit El- häufig miteinander verbunden werden, und
tern die «Egozentrismusthese» zurückgewie- sei es auch nur in der Person des Forschers.
sen hatte: «Wir gehen so weit, zu behaupten, Wir haben gesehen, daß Piaget nacheinander
daß die Äußerungen, die ein Kind in Anwe- auf die Protokollierung von spontanen Äuße-
senheit der Eltern hören läßt, so gut wie nie rungen im Alltag, das partiell standardisierte
egozentrischen Charakter tragen ...» (S. 4). Interview und die Tagebuchaufzeichnung
In «Das Weltbild des Kindes» hat sich Piaget zurückgegriffen hat, je nachdem, welchen
den Inhalten des Denkens und Sprechens zu- Zugang zum Kind das aktuelle For-
gewandt, und er hat – aus seiner Sicht: schungsthema erforderte. Das Ehepaar Stern
zwangsläufig – das Beobachtungsverfahren hat in seinen Tagebüchern eine Vielzahl von
ändern müssen. Er beobachtet nun nicht kindlichen Erzählungen und von erkunden-
mehr die spontanen Sprachäußerungen von den Gesprächen notiert (s. Behrens &
Kindern, sondern führt mit ihnen eine be- Deutsch, 1991), und die Tagebücher des Ehe-
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 267
paars Katz bestehen sogar aus nichts anderem genüber dem Experiment plädieren alle
als spontanen Gesprächen. genannten Forscher für Methodenvielfalt.
Im Rückblick springen mehrere Gemein- Teilweise praktizieren sie diesen Pluralis-
samkeiten ins Auge, die Stern, Katz, Bühler mus sogar in der eigenen Forschung,
und Isaacs (und mit Abstrichen auch Piaget) indem sie je nach Fragestellung verschie-
miteinander teilen: dene Methoden präferieren. William Stern
und Jean Piaget lassen sich als glänzende
1. Sie gehen davon aus, daß die Reduzierung Beispiele anführen; wir werden im näch-
der Datenerhebung auf das Experimentie- sten Abschnitt sehen, daß dieser Metho-
ren dem Ziel und dem Gegenstand der denpluralismus später verlorengegangen
Entwicklungspsychologie nicht gerecht ist und erst in den letzten Jahren in An-
wird. Unter dem Experimentieren verste- sätzen wiederkehrt.
hen sie dabei einen Zugang zu psycholo-
gischen Daten, der zwangsläufig zu einer
sehr starken Einengung des Untersu- 3. Psychologiegeschichte,
chungsgegenstands führt, etwa der Be-
schränkung auf eine einzelne, isolierte zweiter Teil: Die Rückkehr
Sprach-, Wahrnehmungs- oder Gedächt- von Tagebüchern,
nisleistung, und bei dem ein künstlicher
oder wenigstens ein reduzierter Beobach-
Gesprächen und Erzählun-
tungsrahmen geschaffen wird. «Redu- gen in das Beobachtungs-
ziert» oder «künstlich» ist die Beobach- repertoire der Entwick-
tungssituation im Vergleich zur alltägli-
chen Lebens- und Erfahrungswelt.
lungspsychologie
2. Deshalb bevorzugen die genannten Auto-
ren die Beobachtung von Sprachäußerun- In den letzten Jahren ist zu beobachten, daß
gen in Alltagssituationen, insbesondere in Tagebücher, klinische Interviews und Erzäh-
Verbindung mit der Protokollierung in lungen in das Methodenrepertoire der Ent-
einem umfassenden Tagebuch, das über wicklungspsychologie zurückkehren. Der Be-
einen längeren Zeitraum geschrieben griff Rückkehr schließt ein, daß sie zwi-
wird. schenzeitlich verschwunden waren.
3. Die Präferenz für Beobachtungen von Es besteht in der Geschichtsschreibung der
Spontanäußerungen, die relative Gering- Psychologie Einigkeit darüber, daß die ameri-
schätzung von experimenteller Kontrolle kanische Psychologie von den zwanziger bis
und der Blick auf die Gesamtpersönlich- zu den sechziger Jahren vom Behaviorismus
keit des Kindes durch die Auswahl ent- dominiert worden ist (s. z. B. Gardner, 1985;
sprechender Datenerhebungstechniken Zimbardo, 1995). Das galt auch weitgehend
sind theoretisch begründet. Am deutlich- für die Entwicklungspsychologie, denn die ab
sten wird dieser Zusammenhang bei Wil- etwa 1925 in Amerika entstehende «Kinder-
liam Stern in Form des kritischen Perso- psychologie» war, wie Höhn (1959, S. 35) ver-
nalismus, jedoch ist er auch bei Katz, merkt, «gar nicht im eigentlichen Sinne Ent-
Bühler und Isaacs sichtbar. Das bedeutet wicklungspsychologie, sondern will prakti-
aber auch, daß die höhere Wertschätzung sche Hilfe für die Erziehung des Kindes
der genannten Methoden nicht dadurch geben.» Der Behaviorismus ist dann vor
erklärt werden kann, daß zu der damali- allem durch die Kognitive Psychologie ab-
gen Zeit die experimentelle Untersu- gelöst worden – man spricht deshalb auch
chungsmethodik noch nicht so ausgefeilt von der «kognitiven Wende». Diese Wende
war wie heute. bedeutete, die Annahme zu akzeptieren, daß
4. Trotz der eindeutigen Präferenz für die Be- Menschen über geistige Inhalte, Strukturen
obachtung möglichst vielfältiger Verhal- und Prozesse verfügen und daß es eine sinn-
tensweisen des Kindes im natürlichen volle Aufgabe ist, diese zum primären For-
Kontext und trotz der Reserviertheit ge- schungsgegenstand der Psychologie zu ma-
268 Methoden und Verfahren
wortlich, die wir hier kurz nennen wollen. Im Sinn macht. ... Will man eine Psychologie
Gegensatz zu dem oft zitierten geflügelten des Individuums erschaffen, so setzt das
Wort, daß Wissenschaft im Elfenbeinturm voraus, daß man zunächst ein integrati-
lebe, zeigt der Blick auf die Psychologie, wie ves Rahmenmodell für das Verständnis
wissenschaftsimmanente Veränderungen mit der historischen und kulturellen Existenz
Wandlungen des Zeitgeistes und soziokultu- von Personen entwickelt» (McAdams,
rellen Trends verwoben sind. Manche Beob- 1996, S. 296 [Übersetzung des Autors]).
achter (z. B. Giddens, 1991; Gergen, 1992)
charakterisieren unsere Zeit als die Postmoder-
Diese Perspektive wiederum bildet die Folie,
ne. Sie ist gekennzeichnet durch zunehmende
auf der sich verschiedene Trends in der aktu-
Infragestellung vieler Selbstverständlichkei-
ellen Psychologie verstehen lassen (vgl. auch
ten der Moderne, auch was unser Selbstkon-
Kap. I.2):
zept und unsere naive Psychologie angeht.
War die Moderne dazu angetan, eine positivi- 1. das Interesse an individuumszentrierten
stische, technokratische und rationalistische Strategien psychologischer Forschung
Sicht der Welt zu unterstützen, so geraten in (vgl. auch Deutsch & Hoppe-Graff, 1996).
der Postmoderne viele Überzeugungen und Den Gegensatz bilden die bisher dominie-
Klarheiten ins Wanken – der Glaube an Wis- renden nomothetischen Strategien. Der
senschaft und Technik, die Annahme, daß nomothetisch orientierte Forscher ist
objektive und rationale Diskurse möglich primär an generellen (nomothetischen)
seien, der Fortschrittsglaube, die Überzeu- Gesetzen interessiert und versucht die in-
gungskraft von geschlossenen Weltbildern dividuelle Entwicklung – wenn er sich
wie der marxistischen und der kapitalisti- überhaupt Individuen zuwendet – aus-
schen Ideologie. Die neue Unbestimmtheit schließlich durch Anwendung der allge-
und Unübersichtlichkeit findet nach Gergen meinen Gesetze auf den Einzelfall zu re-
(1992) eine Korrespondenz in der «Multi- konstruieren. In der Wissenschaftstheorie
phrenie» im Selbstkonzept des postmodernen der Psychologie ist es inzwischen ein All-
Menschen: gemeinplatz, daß dieses Programm ver-
schiedene grundlegende Mängel aufweist
«... Personen sind wie «Standorte» sich und deshalb nicht gelingen kann (vgl.
überschneidender Kräfte und aufeinan- von Wright, 1974). Zu den individuums-
der einwirkender Stimmen in einer spezi- zentrierten Strategien gehört die idiogra-
fischen sozialen Gemeinschaft .... Perso- phische Strategie, bei der das Verstehen
nen sind Geschöpfe, deren tiefste Iden- des Individuums aus der Konzentration
titäten durch ihre sozialen Einbettun- auf den Einzelfall gelingen soll, ohne daß
gen... oder ihren Standort im aktuellen dieser in allgemeinen Gesetzen rekonstru-
Diskurs bestimmt wird ...» (zit. nach Mc iert wird;
Adams, 1996, S. 298 [Übersetzung des 2. die Entstehung einer Kulturentwicklungs-
Autors]. psychologie, also einer Entwicklungspsy-
chologie, die Kultur als Rahmenbedin-
gung und effektiven Entwicklungsfaktor
Dieses postmoderne Weltbild bereitet den
theoretisch und empirisch einbezieht und
Boden sowohl für die Betonung des Individu-
den Entwicklungsprozeß als Kulturerwerb
ums in verschiedenen Teilbereichen der Psy-
rekonstruiert. Ein derartiges Programm
chologie als auch für die Konzentration auf
steht beispielsweise im Gegensatz zu den
den Zusammenhang von Individuum und
bis vor kurzem dominierenden Theorien,
Kultur:
wie etwa dem Neo-Nativismus oder dem
«Vieles von dem, was wir benötigen, um Informationsverarbeitungsansatz;
die individuelle Person zu beschreiben 3. die zunehmende Einsicht, daß nicht die
und zu verstehen, hat seine Grundlage in «objektiven Verhältnisse», sondern die
der Kultur dieser Person und in dem so- subjektiven Repräsentationen von Erfah-
ziohistorischen Setting, in dem ihr Leben rungen und die Deutungen und Bedeu-
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 271
tungen von Lebensbedingungen und Ge- Fragestellungen und deshalb sei ihre Ak-
schehnissen darüber entscheiden, wie die zeptanz primär anhand der Adäquatheit
Person handeln wird; und für die im Einzelfall angestrebten Unter-
4. die Attraktivität der Metapher der Erzäh- suchungsziele und Gegenstände zu bewer-
lung («narrative, story»), um zu charakteri- ten, ist zu einfach. Welche Methoden als
sieren, wie Menschen sich selbst, ihrem «wissenschaftlich» akzeptiert werden,
Handeln und ihren Erfahrungen Sinn zu wird in erster Linie nach Kriterien beur-
geben versuchen. teilt, die von dem allgemeinen theoreti-
schen Rahmen sowie von noch generelle-
Es liegt auf der Hand, daß alle diese Trends
ren Vorstellungen von Wissenschaftlich-
die Verwendung der in diesem Aufsatz refe-
keit abhängen. Wie der Blick in die Histo-
rierten Methoden nahelegen. Anders als die
rie gezeigt hat, haben sich die allgemei-
experimentelle Untersuchung des Einflusses
nen theoretischen Prämissen der Entwick-
von Variablen, bei der Gruppen (Stichpro-
lungspsychologie im Laufe der letzten
ben) von Personen unterschiedlichen Bedin-
hundert Jahre mehrmals grundlegend ver-
gungen («treatments») ausgesetzt werden, ist
ändert. Und wie wir noch sehen werden,
es Programm und Anliegen von Tagebüchern,
sind auch die generellen Kriterien von
das einzelne Individuum in seinen Besonder-
«Wissenschaftlichkeit» grundlegenden
heiten zu rekonstruieren – in den besonderen
Veränderungen unterworfen (vgl. Ab-
Lebenserfahrungen, die immer auch kulturel-
schnitt 8).
le Erfahrungen sind, wie auch in den Beson-
2. Folglich sind Wandlungen in den For-
derheiten seiner subjektiven Interpretation
schungsmethoden kein kumulativer Pro-
der Welt. Zu diesem Zweck nehmen in mo-
zeß der sukzessiven Vervollkommnung
dernen Tagebuchstudien (ähnlich wie schon
einmal eingeführter Verfahren. Die Ge-
in der Frühzeit der Entwicklungspsychologie)
schichte der akzeptierten und präferierten
Erzählungen und Gespräche mit den beob-
Methoden der Entwicklungspsychologie
achteten Personen eine zentrale Rolle ein.
ist von Diskontinuitäten und Zäsuren ge-
Aus der mit diesen Methoden verbundenen
kennzeichnet.
besonderen Kenntnis der Lebenswelt der Per-
3. Während die eingeengte Gegenstandsdefi-
son durch den Beobachter/Forscher – wir
nition des Behaviorismus seit einigen
werden unten dafür den Begriff Interpretati-
Jahrzehnten passé ist, gelten in weiten
onskompetenz vorschlagen – erwächst auch
Kreisen der Entwicklungspsychologie
ein besserer Zugang zum Verständnis jener
immer noch die Maximen des methodo-
Prozesse der Sinngebung und Bedeutungsver-
logischen Behaviorismus. Die Akzeptanz
leihung, die die subjektive Welt von den ob-
von Methoden der Datenerhebung wird
jektiven Gegebenheiten unterscheiden.
immer noch wie bei Watson nach Ge-
sichtspunkten beurteilt, die sich aus der
uneingeschränkten Orientierung der Psy-
chologie an dem Ideal der Naturwissen-
4. Erstes Resümee: Das schaften ergeben.
Verhältnis von Methoden
zum Gegenstand, den Zie-
len und den Theorien in der
5. Tagebuchaufzeichnungen
Entwicklungspsychologie
Der Terminus Tagebuchaufzeichnung ist
mehrdeutig. Er bezeichnet erstens eine längs-
Bevor wir näher auf die einzelnen Methoden
schnittliche Strategie entwicklungspsycholo-
eingehen, können wir schon an dieser Stelle
gischer Datenerhebung und zweitens eine
einige generelle Schlüsse ziehen.
spezielle Form der Dokumentation von Beob-
1. Die Vorstellung, Methoden seien das achtungen – eben im Tagebuch. Nur die erste
Werkzeug zur Untersuchung bestimmter Bedeutung ist aus methodischer Sicht belang-
272 Methoden und Verfahren
voll; ob die gesammelten Daten in einem Ta- Die folgenden Ausführungen stellen in ei-
gebuch oder auf Audiokassetten protokolliert nigen Punkten eine Revision unserer in
werden, ist hingegen unerheblich. einem früheren Aufsatz (Hoppe-Graff, 1989b)
Von einem Längsschnitt ist in der Entwick- vorgetragenen Sichtweise der Tagebuchme-
lungspsychologie immer dann die Rede, thodik dar. Beispielsweise war ein wesentli-
wenn die in die Untersuchung einbezogenen cher Gesichtspunkt der früheren Publikation
Personen wiederholt beobachtet werden, um die Gegenüberstellung und Abgrenzung der
auf der Basis dieser intraindividuellen Ver- klassischen und der modernen Tagebuchstu-
gleichsdaten Entwicklungsprozesse zu rekon- dien, verbunden mit einer impliziten höhe-
struieren. (Hingegen wird beim Querschnitt ren Wertschätzung der modernen Variante.
aus interindividuellen Vergleichen von Perso- Heute, acht Jahre später, möchten wir beides
nen aus verschiedenen Stichproben auf Ent- nicht mehr aufrechterhalten. Die Synopsis
wicklungsvorgänge geschlossen; vgl. Hoppe- hat sich als zu holzschnittartig erwiesen, und
Graff, 1989a; s. auch Kap. III.3) Die Tage- aus heutiger Sicht bewerten wir einige Merk-
buchaufzeichnung kann zwar nicht strikt male von Datenerhebungsstrategien anders
von anderen Längsschnittstrategien abgrenzt als früher.
werden, aber sie läßt sich durch eine Reihe Als exemplarische Studie wird die Untersu-
von typischen Eigenheiten charakterisieren. chung von Mendelson (1990) vorgestellt. Der
Typischerweise Autor selbst bezeichnet sie nicht als Tage-
buchstudie, sondern als Fallstudie. Dennoch
– werden in erster Linie Beobachtungen spon- handelt es sich aber eindeutig um eine Tage-
tanen Verhaltens in der alltäglichen Lebens- buchaufzeichnung im oben definierten
welt gesammelt; Beobachtungen provo- Sinne. Mendelsons Untersuchung ist als ein-
zierten Verhaltens unter kontrollierten Be- führendes Beispiel besonders geeignet, weil
dingungen haben allenfalls ergänzenden sie ein Exempel für die Einbindung von parti-
Charakter; ell strukturierten Interviews und Erzählungen
– ist die Stichprobe der Beobachtungen sehr in Tagebuchaufzeichnungen liefert.
umfangreich. Im Extremfall nimmt der Be-
obachter2 ständig am Leben der beobach-
teten Person teil. Als Beispiele können 5.1 Exemplarische Studie:
neben der unten vorgestellten exemplari- Mendelson (1990)
schen Studie die klassischen Tagebuchbe-
obachtungen ihrer Kinder Hilde, Günther Die Tagebuchstudie von Mendelson befaßt
und Eva durch ihre Eltern Clara und Wil- sich mit dem Übergang von der Rolle des Ein-
liam Stern dienen (s. Abschnitt 2.1); zelkindes in die Rolle des älteren Geschwi-
– ist die Personenstichprobe sehr klein. Häufig sterkindes. In anderer Perspektive sind An-
handelt es sich sogar um Einzelfallstu- passungsprozesse das zentrale Thema: Wie
dien; paßt sich ein etwa vierjähriges Kind an die
– kennt der Beobachter die beobachtete Person Geburt eines Geschwisterkindes und die
sehr gut und kann deshalb deren Hand- damit zusammenhängenden gravierenden
lungen und Äußerungen nicht nur «theo- Veränderungen in seiner Lebenswelt, speziell
riebezogen», sondern auch «personbezo- in seiner Familienrolle, an?
gen» einordnen und interpretieren; Das Interesse an dieser Fragestellung ist
– wird die Datenerhebung nicht auf ein speziel- aus Alltagsbeobachtungen in der eigenen Fa-
les Verfahren begrenzt. Der Beobachter be- milie erwachsen. Als Mendelson und seine
dient sich verschiedener Zugänge. Bei- Frau ihrem Sohn Simon erzählten, daß sie ein
spielsweise protokolliert er Erzählungen,
führt Gespräche, sammelt Kinderzeich-
nungen und notiert Spielbeobachtungen;
– wird wenigstens ein Teil der Beobachtun-
gen in einem chronologisch angelegten Tage- 2 Männliche Personbezeichnungen gelten auch für
buch protokolliert. Personen weiblichen Geschlechts.
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 273
Baby bekommen werden und daß Simon gen benutzt. Beispielsweise zeichnet er an-
dann der große Bruder sein wird, beobachtete hand der Tagesprotokolle quantitativ exakt
Mendelson einige überraschende Reaktionen. nach, wie sich nach Ashers Geburt der Um-
Beispielsweise war Simon sich sicher, daß das fang der von Simon mit Asher «gemeinsam»
Baby ein Junge sein würde, und er befürchte- unternommenen Aktivitäten (gemeinsame
te, nicht der große Bruder sein zu können, Mahlzeiten, Spielen, Hilfe bei der Versorgung
wenn eine Schwester geboren würde. Ashers) von Monat zu Monat veränderte.
Mendelsons Studie umfaßt einen Beobach- Derartige quantitative Analysen werden zwar
tungszeitraum von zehn Monaten. Sie be- häufig in die Ergebnisdarstellung eingebaut,
gann fünf Monate vor der Geburt von Asher, dennoch haben sie im Duktus von Mendels-
Simons Bruder, und endet fünf Monate da- ons Argumentation nur eine unterstützende
nach. Während dieses Zeitraums sammelte Funktion. Sie dienen zur Illustration oder Be-
der Autor eine Vielzahl von unterschiedli- stätigung bestimmter Veränderungen, die
chen Beobachtungen, um Simons Anpas- Mendelson als intuitiver Gesamteindruck evi-
sungsprozesse, insbesondere das aktive Erar- dent sind oder die er vor allem an besonders
beiten der neuen Rolle und die Veränderun- markanten Einzelbeobachtungen abliest. Mit
gen im Selbstkonzept, zu erfassen. Zu den Da- anderen Worten, das Gewicht der Daten be-
tenquellen gehörten mißt sich nicht nach statistischen Maßzah-
len oder Differenzen, sondern nach der in-
– tägliche Eintragungen («log entries») aller haltlichen Bedeutsamkeit der Beobachtung.
«einschlägigen» Äußerungen und Verhal- Ein Beispiel soll die Nutzung der Tage-
tensweisen von Simon in ein Tagebuch im buchbeobachtungen veranschaulichen. Die
engeren Sinne. Einschlägig bedeutet: «Ich Eintragung bezieht sich auf Simons Spiel-
zeichnete alles auf, was Simon tat oder phantasie, selbst das Baby zu sein («preten-
sagte, was auch nur entfernt damit zu tun ding to be a baby»).
haben konnte, daß er nun ein Bruder
wurde» (Mendelson, 1990, S. 207 [Über- «Nach Ashers Geburt tat Simon gelegent-
setzung des Autors]); lich so, als sei er ein Baby. Als Asher eine
– Gespräche zwischen Mendelson und Woche alt war, übernahm Simon nicht
Simon, die zunächst auf Audiokassetten bloß die Spielrolle des Babys, sondern er
aufgenommen und dann in das Tagebuch vertauschte die beiden Rollen regel-
übertragen wurden; recht. Dieses Spiel begann er, als er ge-
– Interviews eines studentischen Versuchs- badet wurde, und er setzte es fort, ob-
leiters mit Simon, die genauso dokumen- wohl er dabei nicht unterstützt und mehr-
tiert wurden; mals unterbrochen wurde. «Wir tun so,
– auf Audiokassetten aufgenommene Inter- als ob Du der Hummerpapa bist und ich
aktionen zwischen Simon und Asher; das Hummerbaby», schlug er als erstes
– Beurteilungen von Simons Verhalten mit- vor. «Und Du gibst mir ein Hummerbaby-
tels formeller Ratingskalen (unter ande- Bad.» Ein wenig später sagte er, daß wir
rem «Home Behavior Rating Scale») durch eine Hummer-Familie haben, mit einer
die beiden Eltern und Simons Betreuerin- Hummermama, einem Hummerpapa,
nen im Kindergarten; und einem Hummerbaby und einem großen
– «Tagesprotokolle» (Mendelson verwendet Hummerbruder. Ich fragte ihn, wer er sei:
hierfür die Bezeichnung «daily diaries»), das Hummerbaby oder der große Hum-
die an ausgewählten Tagen eine vollstän- merbruder. Er antwortete: «Ich bin das
dige Aufstellung aller Aktivitäten Simons Hummerbaby. Ich heiße Asher, und mein
lieferten. großer Bruder ist Simon.» ... Später sagte
Bev (Simons Mutter), daß sie das Baby
füttern werde, und Simon behauptete, er
Je nach ihrer Eigenart werden diese Beobach- sei Asher (vier Jahre, zehn Tage).» (Men-
tungen von Mendelson in unterschiedlicher delson, 1990, S. 99 [Übersetzung des Au-
Weise zur Beantwortung seiner Fragestellun- tors]).
274 Methoden und Verfahren
Aufgrund der theoretischen Einordnung und aber ist mit dieser Strategie eine Reihe von
Interpretation der Tagebuchstudie kommt Präferenzen hinsichtlich der einzelnen Me-
Mendelson zu dem generellen Fazit, daß das thoden verbunden. Bevorzugt und betont
Hineinwachsen in die Geschwisterrolle ein wird die Protokollierung anekdotischer Beob-
langwieriger, komplexer Prozeß ist. Er achtungen spontanen kindlichen Handelns
schließt ein, daß eine aktive Beziehung zu im alltäglichen Kontext, die dem «theoriege-
dem Baby aufgebaut wird und daß eine emo- leiteten Blick» des Beobachters besonders auf-
tionale Anpassung an die unausweichlichen gefallen sind.
Veränderungen in alltäglichen Routinen, in Während nach den traditionellen psycho-
den Familienbeziehungen und im Selbstkon- logischen Kriterien die Variablen und die Ver-
zept erfolgt. fahren zu ihrer Beobachtung mit Beginn der
Mendelson selbst diskutiert abschließend Studie unabänderlich festgelegt sind, weichen
auch das Problem der Generalisierbarkeit (s. manche Autoren von Tagebuchstudien aus-
ausführlich unten in diesem Abschnitt). Re- drücklich von diesem Prinzip ab (Mendelson,
plikationsstudien sind ein Schritt zu dessen 1990; Hoppe-Graff & Schmid, 1997). Sie be-
empirischer Lösung. Zum Übergang in die fürchten, daß eine derartige Eingrenzung des
Geschwisterrolle liegt inzwischen eine derar- Beobachtungsgegenstandes dazu führen könn-
tige Replikationsstudie vor (Hoppe-Graff & te, daß Daten übersehen werden, die erst im
Schmid, 1997). Wir untersuchten in einer Ta- Laufe der Studie besondere theoretische Rele-
gebuchstudie mit einer sehr ähnlichen Me- vanz gewinnen, weil nicht im voraus
thodik wie Mendelson, wie sich ein etwa überblickt werden konnte, wie sich beispiels-
zweieinhalbjähriges Mädchen an die Geburt weise in Mendelsons Studie Veränderungen
eines Bruders anpaßt. Auf der zuvor beschrie- des Selbstkonzepts oder die Versuche, die neue
benen Ebene der generellen Anpassungspro- Geschwisterrolle zu erwerben, äußern:
zesse bestätigen unsere Daten Mendelsons
«... Ich beschränkte mich nicht auf vorge-
Schlußfolgerungen; im einzelnen jedoch voll-
gebene Konstrukte und Meßverfahren.
zieht sich die Veränderung des Selbstkonzepts
Eine ernstzunehmende Fallstudie sollte
und die Übernahme der neuen Rolle anders.
ein den tatsächlichen Lebensverhältnis-
Beispielsweise kommt nach unserem Ein-
sen entsprechender Bericht über ein spe-
druck dem Als-ob-Spiel (Symbolspiel) für das
zifisches Individuum in einem spezifi-
zweieinhalbjährige Kind eine noch größere
schen Kontext sein. Deshalb versuchte
Bedeutung zu als für Simon.
ich Simon’s Erfahrungen so gut wie mög-
lich zu verstehen, indem ich für neue Er-
eignisse, Themen und Fragestellungen
5.2 Durchführung und Aufzeichnung offen blieb.» (Mendelson, 1990, S. xv).
Es gibt keine Methodenlehre der Tagebuch-
aufzeichnung, so wie es etwa eine Methodik Wer führt die Beobachtungen durch?
psychologischer Tests oder der Verhaltensbe-
obachtung gibt, denn die Tagebuchaufzeich- Nach dem traditionellen behavioristischen
nung ist eine Datenerhebungsstrategie und Methodenverständnis (s. Abschnitt 3) sollte
kein Beobachtungsverfahren. Wie oben be- es zwischen der direkten Beobachtung psy-
reits ausgeführt worden ist, läßt sie sich nicht chischer Merkmale durch eine Person (perso-
strikt, wohl aber durch charakteristische naler Beobachter) und der Beobachtung
Merkmale von anderen Forschungsstrategien durch ein Meßinstrument keinen grundle-
abgrenzen. genden Unterschied geben. Mehr noch: Das
Hinsichtlich der innerhalb dieser Strategie Meßinstrument – etwa ein Thermometer oder
eingesetzten Verfahren ist sie grundsätzlich eine Waage – ist in mancherlei Hinsicht das
«neutral»: Anekdotische Beobachtungen sind Ideal für den personalen Beobachter. Es ist in
ebenso möglich wie nach einem regelmäßi- dem Sinne objektiv, daß die «Beziehung» des
gen Plan wiederholt durchgeführte standardi- Instrumentes zum beobachteten Objekt sich
sierte Beobachtungen oder Tests. Tatsächlich nicht auf das Meßergebnis auswirkt.
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 275
Wir wissen aus der Alltagserfahrung und ausdrücklich ab. Sie plädieren also dafür, daß
aus der wissenschaftlichen Psychologie, daß Tagebuchaufzeichnungen bevorzugt von Per-
die psychologische Beziehung zwischen dem sonen durchgeführt werden, die sowohl
Beobachter und der beobachteten Person das «theoretisch vorbelastet» als auch «persön-
Resultat der Beobachtung weitgehend beein- lich befangen» sind. Ideale «Versuchsleiter»
flussen kann. Wir neigen beispielsweise zu von Tagebuchstudien sind nach diesem Ver-
Milde und Überschätzung, wenn wir die Lei- ständnis Entwicklungspsychologen, die die
stung eines Menschen beurteilen, den wir Entwicklung der eigenen Kinder beobachten
mögen, und wir neigen zu Härte und Unter- – wir verweisen abermals auf die Studien
schätzung, wenn uns jemand unsympathisch Mendelsons und des Ehepaars Stern.
ist. Wir neigen dazu, das zu sehen, was wir er- Natürlich werden die ersten beiden der
warten, und das zu übersehen, mit dem wir vier Prinzipien nicht aus Ignoranz verletzt,
nicht rechnen. Um diesen Verzerrungen («bia- sondern verlieren vor dem Hintergrund an-
ses») entgegenzuwirken, werden in der psy- derer methodologischer Prämissen ihr Ge-
chologischen Methodenlehre in aller Regel die wicht. Diese Prämissen lauten: (a) Je größer
folgenden Maßnahmen vorgeschlagen: die theoretischen Kenntnisse des Beobacht-
ers, um so eher ist er auch in der Lage, theo-
1. Nicht der in seiner Theorie und seinen
retisch relevantes Verhalten zu sehen bzw. ge-
theoriegeleiteten Erwartungen befangene
sehenes Verhalten als theorierelevant zu in-
Forscher sollte die Daten sammeln, son-
terpretieren (gemäß der kognitionspsycholo-
dern ein Assistent, der «blind» gegenüber
gischen Regel: «Man sieht nur, was man
den Fragestellungen und Erwartungen ist.
weiß»). (b) Je enger die Beziehung zu einer
2. Ähnlich wie die Objektivität von Ge-
Person ist, um so besser kennt man ihre per-
richtsverfahren dadurch gesteigert werden
sönlichen Eigenheiten; mit anderen Worten,
kann, daß Richter und Täter nicht mitein-
um so mehr weiß man darüber Bescheid, was
ander verwandt oder befreundet sind,
ihr Handeln bedeutet.
kann die Objektivität von psychologi-
Theoriekenntnisse und die persönliche Be-
schen Beobachtungen und Beurteilungen
ziehung zur beobachteten Person vergrößern
dadurch gesteigert werden, daß der «Ver-
die Interpretationskompetenz des Beobachters.
suchsleiter» und die «Versuchsperson» –
Nach unserer Meinung besteht die Kontro-
der Jargon deutet es bereits an! – in keiner
verse zwischen den Gegnern und den Befür-
persönlichen Beziehung zueinander ste-
wortern der Tagebuchmethode vor allem in
hen.
der gegensätzlichen Bewertung der Interpre-
3. Sofern es um Daten geht, die aus der Beur-
tationskompetenz. Die Gegner sehen darin
teilung von Beobachtungen entstehen,
keinen Gewinn, wohl aber die massive Ver-
sollten die Prozesse der Beobachtung und
letzung des klassischen Objektivitätsideals (s.
der Beurteilung so weit wie möglich von-
ausführlich unten in Abschnitt 8). Die Befür-
einander getrennt werden. Beispielsweise
worter betonen den in der Interpretations-
sollten die Beobachtungen mittels Video-
kompetenz liegenden Gewinn vor allem des-
aufzeichnung vom Versuchsleiter A vorge-
halb, weil sie ein anderes Vorverständnis vom
nommen werden, die davon unabhängi-
psychologischen Zugang zum Individuum
ge Beurteilung der Videoaufzeichnungen
haben und weil sie das klassische Objekti-
hingegen durch die Versuchsleiter B und
vitätsideal nicht teilen. Auch auf diese Positi-
C.
on gehen wir in Abschnitt 8 ein.
4. Die Versuchsleiter sollten an einem inten-
Nach unserer persönlichen Auffassung
siven Training teilnehmen, um die objek-
und nach unseren Erfahrungen (Hoppe-Graff
tive Beobachtung und Beurteilung ein-
& Kirchgässner; 1996; Hoppe-Graff &
zuüben.
Schmid, 1997) liegt in der Wertschätzung der
Die Befürworter der traditionellen und der Interpretationskompetenz bei den Befürwor-
modernen Tagebuchmethode schließen sich tern der Tagebuchaufzeichnung eine Notwen-
nur den letzten beiden Empfehlungen an, digkeit. Spielte sie keine Rolle, so gäbe es kei-
lehnen aber die ersten beiden Maßnahmen nen Grund, den enormen Aufwand, der mit
276 Methoden und Verfahren
sich nur, wenn Daten von mehr als einer Per- sich nicht strikt von Tagebuchaufzeichnun-
son vorliegen: Sollen in diesem Falle Einzel- gen und Erzählungen abgrenzen. Die Verwo-
falldaten oder statistische Kennwerte von benheit mit der Tagebuchmethode ist in Ab-
Stichproben (Mittelwerte, Varianzen etc.) prä- schnitt 5 deutlich geworden. Tagebuchstudi-
sentiert werden? Bei den meisten Tagebuch- en enthalten häufig als geplantes oder beiläu-
studien dürfte sich aus den allgemeinen Prä- figes Element Gespräche zwischen dem Beob-
missen eine Präferenz für die Auswertung achter und dem Kind oder Jugendlichen.
und Darstellung des einzelnen Falles ergeben. Hinzu kommen Aufzeichnungen von Ge-
Statistische Kennwerte können bekanntlich sprächen zwischen der beobachteten und an-
nicht nur atypisch für manche Individualda- deren Personen, bei denen der Beobachter
ten sein. Im Extrem entsprechen sie nicht Zuhörer war. Gespräche können Erzählungen
einem einzelnen der tatsächlich vorkommen- enthalten – deshalb ist auch die Grenze zu
den Individualdaten (Hoppe-Graff, 1989a). dieser Datenquelle fließend.
Gegen die Reduktion der individuellen Infor- In den Sozialwissenschaften finden die un-
mation auf Gruppendaten spricht aber auch, terschiedlichsten Formen von Gesprächen
daß das Ziel der Tagebuchstudie meistens ge- Verwendung (vgl. die Übersicht von Fontana
rade darin besteht, Entwicklungsprozesse und & Frey, 1994). Das Spektrum reicht von Beob-
-verläufe im Individuum kennenzulernen. Die achtungen informeller Gespräche im Alltag
Interpretationskompetenz des Beobachters bis zu genau geplanten Interviews in Form
soll dazu genutzt werden, die Daten eben von strikt festgelegten Frage-Antwort-Spielen.
nicht nur «merkmalsbezogen», sondern auch Wir beschränken uns in diesem Abschnitt auf
«personbezogen» zu verstehen. einen speziellen Typus von Gesprächen, für
Sofern Daten von mehr als einem Beob- die wir in Abschnitt 2 den Begriff des partiell
achter, Ergebnisse von mehr als einem Aus- standardisierten Interviews eingeführt haben.
werter oder Interpretationen von mehr als Derartige Gespräche haben in der Entwick-
einem Forscher zur Verfügung stehen, kön- lungspsychologie eine lange Tradition, denn
nen für die quantitative Auswertung Koeffizi- sie stehen in der unmittelbaren Nachfolge
enten für die Höhe der Durchführungs-, Aus- von Piagets Methode des klinischen Interviews
wertungs- oder Interpretationsobjektivität im (vgl. abermals Abschnitt 2).
traditionellen Sinne berechnet werden. Über Mit der Bezeichnung Interview wollen wir
die entsprechenden Maßzahlen und die Ver- auf die spezifische Rollenverteilung bei die-
fahren zu ihrer Berechnung informieren z. B. sen Gesprächen verweisen. Der Forscher ist
Bakeman und Gottman (1987) und Bortz, eindeutig der Fragesteller und der Gesprächs-
Lienert und Boehnke (1990, darin: Kap. 9). partner eindeutig der Befragte. Abgesehen
Wir haben bereits deutlich gemacht, daß der von Gesprächen mit sehr jungen Kindern ist
quantitative Nachweis einer «ausreichenden» diese Struktur beiden Gesprächspartnern be-
Auswertungsobjektivität aus unserer Sicht wußt, denn das Gespräch wird in aller Regel
keine conditio sine qua non für die Wissen- in den ausdrücklichen Rahmen einer Befra-
schaftlichkeit von Ergebnissen oder Studien gung gestellt. Die Bezeichnung partiell stan-
in der Entwicklungspsychologie ist. Insbeson- dardisiert verweist auf die Besonderheit die-
dere kann er es nicht für qualitative Daten ses Interviews. Zwar wird im Interviewleitfa-
sein. Dieses Argument wird in Abschnitt 8 den festgelegt, welche Themen behandelt
vertieft. und welche Kernfragen gestellt werden müs-
sen, aber es wird ausdrücklich der Entschei-
dung des Forschers in der aktuellen Ge-
sprächssituation überlassen, in welche Fra-
6. Gespräche: Partiell genformulierungen und Nachfragen er die
Themen und Kernfragen transformiert. Statt
standardisierte Interviews von partiell standardisierten Gesprächen ist
manchmal auch von semi-strukturierten In-
Die Gewinnung von entwicklungspsycholo- terviews die Rede. Wir ziehen partiell stan-
gisch bedeutsamen Daten in Gesprächen läßt dardisiert vor, weil nach unserer Auffassung
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 279
derartige Gespräche unter der Perspektive der William James unterschied zwei Kompo-
Zielsetzung des Forschers vollkommen struk- nenten des Selbsterlebens, im Englischen als
turiert sind. «I» oder «The-self-as-subject» und «Me» oder
Die exemplarische Studie stammt aus der «The-self-as-object» bezeichnet. Es empfiehlt
kognitiv-strukturtheoretischen Tradition, die sich, auch im deutschen Sprachgebrauch die
von Piaget begründet worden ist. Viele der englischen Termini beizubehalten, weil sie
Theorien und Ergebnisse, von denen in an- die Bedeutungen dieser Komponenten beson-
deren Kapiteln dieses Lehrbuchs die Rede ist, ders gut veranschaulichen. «I» bezieht sich
sind in dieser Perspektive entstanden. Als Bei- auf die Subjektivität der Selbsterfahrung, mit-
spiele seien an dieser Stelle nur Kohlbergs hin auf die Kernmerkmale des Erlebens von
Theorie der Moralentwicklung, Selmans Individualität:
Theorie des sozial-kognitiven Verstehens und
– das Erleben, die eigene Lebensgeschichte
Damons und Harts Modell der Entwicklung
selbst aktiv hervorgebracht zu haben
des Selbstkonzepts genannt. Ihnen allen ist
(«awareness of one’s agency over life events»);
die Vorstellung gemeinsam, daß Strukturen
– das Gewahrsein der Einmaligkeit der eige-
Gegenstand und «Träger» der Entwicklung
nen Erfahrungen («awareness of the uni-
sind. Entwicklung zu erforschen bedeutet
queness of one’s life experience»);
mithin, Strukturen und Strukturveränderun-
– die Erfahrung der eigenen Kontinuität
gen («Transformationen von Strukturen»)
(«awareness of one’s personal continuity»);
aufzudecken. Für diese Aufgabenstellung ist
und
das partiell standardisierte Interview ein «un-
– das Gewahrsein des eigenen Bewußtseins
verzichtbares Werkzeug» (Damon & Hart,
(«awareness of one’s own awareness»).
1988, S. 78).
Längsschnitt. Beispielsweise berechneten sie Graff, 1984). Beispielsweise ist unter dem
in einer Querschnittstudie an 82 Mädchen Stichwort «Geschichtengrammatik» unter-
und Jungen im Alter von sechs bis 16 Jahren sucht worden, wann und wie Kinder Wissen
als Maßzahl Cohen’s Kappa. Sie beträgt für die über den prototypischen Aufbau von Ge-
Aspekte des «Self-as-object» Kappa = .79, wenn schichten erwerben. Es versteht sich von
man prüft, ob verschiedene Auswerter zu selbst, daß in diesem Zusammenhang Erzäh-
identischen Entwicklungsniveaus kommen lungen oder Nacherzählungen von Kindern
(Damon & Hart, 1988, S. 89). Damon und beobachtet worden sind. Die psychoanalyti-
Hart gehen in der Quantifizierung sogar so sche Erforschung kindlicher Phantasien hat
weit, daß sie nicht nur für jede Altersstufe an- sich ebenfalls des Mediums der Erzählung be-
geben, welcher Prozentsatz der Probanden dient. So sammelten etwa Pitcher und Prelin-
sich auf den verschiedenen Entwicklungsni- ger (1963) Geschichten von zwei- bis fünf-
veaus befindet, sondern sie berechnen sogar jährigen Kindern und analysierten sie hin-
ein (gewichtetes) durchschnittliches Entwick- sichtlich der Form und des Inhalts der Phan-
lungsniveau. tasietätigkeit.
Unabhängig davon, ob die Auswertung Das immense Interesse an Narrativa außer-
quantitativ oder qualitativ erfolgt, drohen halb der Sprachpsychologie ist nach unseren
abermals dieselben Diagnosefehler wie bei Beobachtungen ein sehr aktueller Vorgang,
der Durchführung der Interviews. Im konkre- der allenfalls die letzten zehn Jahre umfaßt.
ten Beispiel: Das tatsächlich erreichte Ent- Er ist eng gekoppelt mit zwei zusammenhän-
wicklungsniveau des Selbstkonzepts wird genden Veränderungen auf der Ebene der
überschätzt (falsche Positive), oder es wird Metatheorie, das heißt, der Perspektive, in
unterschätzt (falsche Negative). Piagets Hin- der Entwicklungspsychologie betrieben wird.
weis auf die Rolle der Erfahrung gilt auch Erstens hat sich die Analyse des Entwick-
hier: Durch aufwendiges und ausführliches lungsprozesses in manchen Bereichen – etwa
Auswertertraining kann aller Erfahrung nach bei der Entwicklung des Selbst, der Moral und
die Beurteilerübereinstimmung (Auswer- von personalen Bindungen – zunehmend
tungsobjektivität) erhöht werden. Allerdings mehr auf den Einfluß alltäglicher, kulturell
bedeutet die höhere Übereinstimmung nicht vermittelter Erfahrungen gerichtet. Beispiels-
notwendig, daß das Risiko für falsche Positive weise spielen in der Psychologie der Moral-
oder falsche Negative reduziert wird, wenn es entwicklung die Fragen, wie der soziokultu-
sich um einen systematischen Fehler handelt. relle Rahmen die moralischen Erfahrungen
eines Heranwachsenden bestimmt, wie mora-
lische Normen, Regeln und Werte in persönli-
7. Erzählungen chen Interaktionen sozial vermittelt werden
und wie diese sozialen Erfahrungen internali-
Erzählungen sind bereits in den ersten Deka- siert werden, eine immer größere Rolle (Day
den dieses Jahrhunderts eine wichtige Daten- & Tappan, 1996). Zweitens gibt es eine zu-
quelle für die Entwicklungspsychologie gewe- nehmende Akzeptanz für die Auffassung, daß
sen. Die in Abschnitt 2 erwähnten Tagebuch- jegliche Erfahrung dieselbe Grundstruktur
aufzeichnungen des Ehepaars Stern, die Ge- wie die Erzählung hat: Sie wird als eine Abfol-
spräche, die David und Rosa Katz mit ihren ge von Geschehnissen in Raum und Zeit ver-
Kindern geführt haben, und die von Charlot- standen. Das ist der Grund dafür, daß eine
te Bühler gesammelten Jugendtagebücher Person, wenn sie berichten soll, was passiert
enthalten eine Vielzahl von Erzählungen ist, eine Geschichte erzählen wird. Sarbin
(Narrativa) der unterschiedlichsten Art: Er- (1990) hat auf dieser Grundlage für die Psy-
zählungen über Erlebnisse, reine Phantasiege- chologie der Moral das «Grundprinzip der Er-
schichten, Darstellungen des Selbsterlebens zählstruktur» formuliert: Moralisches Verste-
in Erzählform. hen und Handeln müssen vom Forscher
Für die Sprachentwicklungspsychologie unter Bezug auf die Sinnstiftung, die morali-
sind Erzählungen immer eine wichtige Unter- sche Erfahrungen durch die Interpretation als
suchungsmethode gewesen (s. etwa Hoppe- Narrativa erhalten, gedeutet werden.
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 285
Die exemplarische Studie ist so ausgewählt Situation gewesen, in der Sie eine Entschei-
worden, daß die enge Verknüpfung zwischen dung zu fällen hatten, sich aber nicht sicher
Theorie- und Methodenwandel deutlich waren, was die richtige Wahl war?» Ergänzen-
wird. Nach Einschätzung von Day und Tap- de Nachfragen bezogen sich auf die genauere
pan (1996) gehört die Untersuchung zur mo- Beschreibung der Ausgangssituation, die Prä-
ralischen Orientierung von Gilligan und zisierung des subjektiv erlebten Konfliktes,
Attanucci (1988) zu jenen Arbeiten, die «die die Begründung für die letztlich getroffene
narrative Wende» («narrative turn») in der Wahl und die Erläuterung von Begriffen wie
Moralentwicklungspsychologie vorbereitet Verantwortlichkeit, Verpflichtung, Moral,
haben. Auch für die Entwicklung des Selbst Fairneß und Fürsorglichkeit, wenn diese von
(Engel, 1995; Nelson, 1989; Engel & Hoppe- den Versuchsteilnehmern gebraucht worden
Graff, in Druck a), des Gewissens (Kochanska, waren.
Padavich & Koenig, 1996) und von Bindun- Die Untersuchung wurde in Form von Ein-
gen (Oppenheim, Emde & Warren, 1997) zelgesprächen durchgeführt, auf Audiorecor-
scheint die großspurig anmutende Wendeme- der aufgenommen und später transkribiert.
tapher, jedenfalls als Trendbeschreibung, Die inhaltsanalytische Auswertung erfolgte
nicht überzogen zu sein. anhand eines von Lyons (1982) erstellten
Auswertungsmanuals («Manual for Coding
Real Life Dilemmas»). Sie begann mit der
Identifizierung von Analyseeinheiten, hier
7.1 Exemplarische Studie: «moralische Erwägungen» genannt. Eine mo-
Gilligan & Attanucci (1988) ralische Erwägung ist definiert als eine einzel-
ne Idee, die bei der Diskussion eines morali-
Im Rückblick ist es erstaunlich, daß Kohl- schen Problems angeführt wird. Im nächsten
bergs Stufen des moralischen Urteilens für Schritt wurde unter Nutzung von Kriterien
Jahrzehnte als umfassende, inhaltsunabhän- und Beispielen aus dem Manual beurteilt, ob
gige Entwicklungsschritte bei der Beurteilung es sich um eine «moralische Erwägung unter
der Geltung von moralischen Normen ange- dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit» («justice
sehen worden sind. Vornehmlich Carol Gilli- consideration») oder um eine Fürsorge-Er-
gan (1984 / 1982) ist es zu verdanken, daß seit wägung («care consideration») handelte. Für
Mitte der achtziger Jahre immer deutlicher er- die Beurteilungen unabhängiger Rater be-
kannt wurde, daß sich Kohlbergs Beschrei- rechneten Gilligan und Attanucci als Maß der
bung nur auf die Orientierung an einer Moral Auswertungsobjektivität einen Prozentsatz
der Gerechtigkeit bezieht (s. auch Engel & von 80 % übereinstimmender Kategorisierun-
Hoppe-Graff, in Druck b). Gilligan hat dieser gen.
Ausrichtung als Ergänzung die Orientierung
an einer Moral der Fürsorge zur Seite gestellt. Die wichtigsten Ergebnisse werden von den
Die Studie von Gilligan und Attanucci (1988) Autorinnen folgendermaßen zusammenge-
verfolgte die Zielsetzung, diese beiden morali- faßt:
schen Orientierungen näher zu untersuchen
und zu bestimmen, in welchem Maße Män- 1. Bei der Abwägung moralischer Fragen ori-
ner und Frauen auf Gerechtigkeit oder Fürsor- entieren sich die meisten Personen so-
ge bezug nehmen, wenn sie über moralische wohl am Gesichtspunkt der Gerechtigkeit
Konflikte in ihrem alltäglichem Leben nach- als auch am Maßstab der Fürsorge, aber in
denken. der Regel überwiegt der eine oder der an-
46 Männer und 34 Frauen im Alter von 14 dere Gesichtspunkt.
bis 77 Jahren, darunter eine Teilstichprobe 2. Es gibt einen Zusammenhang zwischen
von 14 bis 18jährigen Jugendlichen, wurden moralischer Orientierung und Geschlecht,
mit folgender Instruktion gebeten, ein mora- denn Frauen orientieren sich eher am Ge-
lisches Dilemma aus ihrem Lebensalltag zu sichtspunkt der Fürsorge, Männer ganz
erzählen: «Haben Sie jemals einen morali- überwiegend am Gesichtspunkt der Ge-
schen Konflikt erlebt? Sind sie also in einer rechtigkeit.
286 Methoden und Verfahren
7.2 Durchführung und Aufzeichnung ten, die Geschichte fortzusetzen. Wenn man
auf dieser Grundlage auf Merkmale oder Be-
Grundsätzlich hat der Forscher zwei Möglich- findlichkeiten beim Kind zurückschließt, so
keiten, um Erzählungen zu beobachten. Er geht man implizit von der einen oder ande-
sammelt entweder spontan geäußerte Erzäh- ren Version der Projektionsannahme aus. Das
lungen, oder er leitet das Kind oder den Ju- heißt, man nimmt beispielsweise an, daß das
gendlichen durch geeignete Instruktionen Kind das eigene Gewissen (Kochanska et al.,
dazu an, etwas zu erzählen. Spontane Erzäh- 1996), die selbst erfahrenen Mißhandlungen
lungen sind typisch für Tagebuchstudien. So (Buchsbaum, Toth, Clyman, Cicchetti &
notierte das Ehepaar Stern eine Vielzahl von Emde, 1992) oder die eigenen Gefühle ge-
spontanen Erzählungen des Sohnes Günther, genüber der Mutter (Oppenheim et al., 1997)
in denen er die Phantasiegestalt eines ima- in die Inhalte und / oder in die Art und Weise,
ginären Gefährten erfand. In Abschnitt 5.1 wie die Geschichte erzählt wird, projiziert
haben wir aus der Studie von Mendelson eine hat.
von Simon erfundene Geschichte zitiert, in Kochanska et al. (1996) bezeichnen jene
der Familienrollen in eine Phantasiewelt Komponente des Gewissens, die sich in hy-
transformiert werden. pothetischen Geschichten äußert, als das «de-
Verschiedene Gründe können dafür spre- klarative Wissen» bei moralischen Themen.
chen, Heranwachsende zur Äußerung von Davon sind die tatsächlichen Handlungen in
Narrativa anzuleiten. Erstens sind, wie moralischen Situationen zu unterscheiden,
Pitcher und Prelinger (1963) berichten, spon- die in Fortführung der kognitionspsychologi-
tane Erzählungen selten, wenn der Versuchs- schen Begrifflichkeit «prozedurales Wissen»
leiter, anders als in Tagebuchstudien, keine genannt werden. Das Vorgehen in dieser Stu-
vertraute Person ist. Zweitens besteht in der die eignet sich sehr gut, um zu zeigen, wie
Anleitung die Möglichkeit, die Aufmerksam- man bei Kindern im Vorschulalter mit Erfolg
keit des Kindes oder Jugendlichen in eine be- hypothetische Erzählungen auslösen kann.
stimmte Richtung zu lenken und dadurch Wir werden es deshalb ausführlicher be-
Geschichten eines bestimmten Typs hinsicht- schreiben.
lich Inhalt, Realitätsgehalt oder Struktur zu Die Präsentation von Geschichtenanfän-
provozieren. gen wird durch die Vorgabe von Spielmaterial
Die exemplarische Studie von Gilligan und unterstützt, insbesondere durch Spielpuppen,
Attanucchi (1988) veranschaulicht, wie durch die Jungen oder Mädchen abbilden. Das Kind
die Instruktion der Versuchsleiterin das Spek- gibt den Figuren Namen, die von der Ver-
trum möglicher Erzählinhalte eingegrenzt suchsleiterin dann bei der Einführung der
wird. Sie zeigt auch, wie die Methode des par- Geschichten übernommen werden. Jeder Ge-
tiell standardisierten Interviews ein geeigne- schichtenanfang wird außerdem durch die
ter Weg zur Erhebung von Erzählungen über Präsentation entsprechender Requisiten un-
real erlebte Geschehnisse sein kann. Die Au- terstützt. Einer der Anfänge behandelt das Di-
torinnen bitten die Versuchsteilnehmer aus- lemma, daß es dem (Spielzeug-)Kind von der
drücklich, reale («real life») moralische Kon- Mutter verboten worden ist, an das Regal im
flikte zu erzählen, weil sie annehmen, auf Badezimmer zu gehen, daß sich aber dort ein
diesem Wege eher etwas über die tatsächliche Verband befindet, den das Kind braucht, weil
moralische Orientierung zu erfahren, als sich ein anderes Kind beim Spielen am Knie
wenn Personen über hypothetische Konflikte verletzt hat. Als Requisit wird ein Spielzeugre-
nachdenken. gal mit entsprechendem Verbandszeug ge-
In vielen aktuellen Studien, in denen Er- zeigt. Das teilnehmende Kind wurde nun bei
zählungen gesammelt werden, richtet sich jedem der Szenarien mit einer Reihe von
das Interesse allerdings ausdrücklich auf Nar- Standardfragen gebeten, die Geschichten wei-
rativa über hypothetische Situationen. Dem terzuerzählen. Da es in der Regel die Figur,
Kind wird, meistens in einem Spielrahmen, die für den Protagonisten der Geschichte
ein fiktiver «Geschichtenbeginn» («story steht, auch die Handlung ausführen läßt, lie-
stem») vorgegeben, und es wird dann gebe- gen häufig Erzählungen in zwei Modalitäten
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 287
vor: verbale Erzählungen und «Erzählungen» che Informationen und Auswertungsmög-
in Handlungen. Die Versuchsdurchführung lichkeiten. Das Audio- und Videomaterial
wird vollständig auf Video aufgenommen; kann beliebig oft verwendet werden, um die
deshalb können die Informationen aus bei- Auswerter zu trainieren, um verschiedenste
den «Kanälen» bei der inhaltsanalytischen Auswertungsgesichtspunkte an die Beobach-
Auswertung berücksichtigt werden (s. u.). tungen heranzutragen, um die Auswertungs-
Bei der Konstruktion der Geschichtenan- objektivität zu bestimmen und schließlich
fänge und der Auswahl der unterstützenden um Sekundäranalysen durchzuführen.
Requisiten haben Kochanska et al. (1996) auf
die «MacArthur Story-Stem Battery» (MSSB)
zurückgegriffen, ein inzwischen in der Fachli- 7.3 Auswertung
teratur verbreitetes Verfahren zur Unterstüt-
zung der Produktion von hypothetischen Ge- Erzählungen liegen als Ergebnis der Audio-
schichten bei Vorschulkindern (abgedruckt in oder Videoaufzeichnung als Texte im auditi-
Oppenheim et al., 1997). Es besteht aus zehn ven und ggf. auch im bildlichen Modus vor.
Geschichtenanfängen zu emotional besetzten Der nächste Schritt besteht oftmals darin,
Themen (beispielsweise die von Kochanska et diese Texte von der Audiokassette abzuschrei-
al. (1996) übernommene «Badezimmerregal- ben und das Videomaterial ebenfalls in eine
Geschichte»). Dieses Material eignet sich zur schriftliche Darstellung umzusetzen. Bei
Unterstützung von Erzählungen über unter- sprachentwicklungspsychologischen Fragestel-
schiedlichste Inhaltsbereiche, wenn man den lungen können die schriftlichen Protokolle
Geschichtenanfang oder das unterstützende der Erzählungen hinsichtlich linguistischer
Material entsprechend variiert. Merkmale, zum Beispiel der grammatischen
Day (1991) hat darauf hingewiesen, daß Strukturen oder der Erzählkompetenz, analy-
die Tatsache, daß wir Geschichten in aller siert werden.
Regel für einen bestimmten Zuhörer oder ein Bei allen anderen Fragestellungen ist es er-
bestimmtes Publikum erzählen, auch bei der forderlich, die Erzählungen inhaltsanalytisch
Nutzung von Erzählungen zu diagnostischen oder strukturell zu dem Thema der Untersu-
Zwecken in der Entwicklungspsychologie be- chung in Beziehung zu setzen. Das schließt
achtet werden muß. Bei Tagebuchstudien ist in aller Regel die Nutzung oder Konstruktion
der Zuhörer eine dem Kind sehr vertraute eines entsprechenden Kategoriensystems ein.
Person, und es wird, sofern die Tagebuchauf- Gilligan und Attanucci (1988) konnten auf
zeichnung unwissentlich erfolgt, diesem das bereits erprobte inhaltsanalytische Aus-
Zuhörer die Geschichte nicht anders erzählen wertungsmanual von Lyons (1982) zurück-
als sonst. Führt hingegen ein dem Kind rela- greifen. Das Vorgehen bei der Konstruktion
tiv fremder «Versuchsleiter» die Beobachtun- eines auf die Erzählinhalte bezogenen Aus-
gen durch, so ist der Zuhörer im Erleben des wertungssystems läßt sich anhand der Studie
Kindes eine ganz andere Person als Vater oder von Oppenheim et al. (1997) demonstrieren.
Mutter, und das kann seine Erzählung grund- Ziel der Studie war es herauszufinden, wie die
legend verändern. Beispielsweise könnten Mutter in projektiven Geschichten von vier-
sich zumindest ältere Kinder und Jugendliche bis fünfjährigen Kindern repräsentiert wird.
an die Alltagsregel halten, Fremden nicht Entsprechende Kategorien lagen vor Beginn
alles zu erzählen, oder sie können daran den- der Untersuchung noch nicht vor. Die Kon-
ken, was der andere an Schlußfolgerungen struktion des Kategoriensystems begann
aus den Erzählungen zieht. damit, daß 10 % der Erzählungen auf Video
Beim heutigen Stand der technischen nach Zufall ausgewählt und transkribiert
Möglichkeiten werden Erzählungen von Kin- wurden. Die Transkription schloß neben der
dern in aller Regel per Audio- oder Videokas- Abschrift der sprachlichen Erzählungen auch
sette aufgezeichnet. Besonders wenn man, die Aufzeichnungen aller mit der Spielfigur
wie etwa in der Studie von Kochanska et al. der Mutter ausgeführten Handlungen ein.
(1946), die Kinder die Geschichten auch spie- Als nächstes wurden diese Beschreibungen
len läßt, eröffnet die Videoaufnahme zusätzli- der Mutter durch die Autoren nach Ähnlich-
288 Methoden und Verfahren
keiten gruppiert, wobei die Betonung auf der henden belastenden (oder sogar traumati-
emotionalen Ähnlichkeit lag. So wurden etwa schen) Erlebnissen durch Personen beobach-
die Handlungen des Küssens und des Umar- tet werden, die mit der Welt des jeweiligen
mens und Beschreibungen der Mutter als Kindes genauestens vertraut sind? Ernsthaft
warmherzig zu der Kategorie der Herzlichkeit belastende Erfahrungen von Kindern zu pro-
(«affectionate») zusammengefaßt. Schließlich vozieren, verbietet sich aus ethischen Grün-
ergab sich bei diesem Vorgehen ein System den. Retrospektive Elternbefragungen und
von neun Kategorien zur Beschreibung der Beobachtungen durch einen «externen» Ver-
Repräsentation von Müttern. Dieses an suchsleiter, die auf ausgewählte «standardi-
einem Teil des Beobachtungsmaterials erstell- sierte» Situationen beschränkt sind, dürften
te Kategoriensystem wurde dann von ande- auch nach klassischen Methodenmaßstäben
ren Auswertern bei der Analyse der restlichen schwerwiegende Defizite aufweisen. Also sind
90 % des Videomaterials angewendet. sie keine ernsthafte Alternative zur Tagebuch-
Werden Erzählungen im Rahmen von Ta- aufzeichnung.
gebuchstudien anekdotisch gesammelt, so ist Mendelson (1990) nennt nicht weniger als
es natürlich ohne weiteres möglich, auch die- sechs Gründe dafür, weshalb er zur Untersu-
ses Material in der beschriebenen Weise sy- chung der Frage nach der Verarbeitung der
stematisch inhaltsanalytisch auszuwerten. Geburt eines Geschwisters die Tagebuchme-
Aber darüber hinaus werden einzelne Erzäh- thode bevorzugt:
lungen auch häufig kasuistisch verwendet,
weil sie einen Entwicklungsprozeß besonders – «Ich war kein Außenstehender. Deshalb
prägnant beschreiben und veranschaulichen schuf meine Anwesenheit keinen künstli-
und die Gewichtigkeit dieser einzelnen Beob- chen Kontext, der möglicherweise die Ge-
achtung sich jenseits aller möglichen Quanti- schehnisse verändert hätte.
fizierung dem Beobachter nur erschlossen – Und ich konnte mich wesentlich intensi-
hat, weil er aufgrund seiner persönlichen ver auf die Beobachtungen Simons einlas-
Kenntnis des Kindes dessen Bedeutung er- sen, als es in einer konventionellen Studie
kannt hat. mit 30 oder 40 Kindern möglich gewesen
wäre.
– Ich hatte Zugang zu ausgewählten Infor-
mationen, weil ich als Familienmitglied
8. Stärken und Schwächen mit den Personen hinlänglich vertraut
war und weil ich sehr private Situationen,
der Verfahren wie etwa das Baden und Zubettgehen be-
obachten konnte.
Wir haben in einem früheren Aufsatz – Ich mußte mich nicht auf wenige, relativ
(Hoppe-Graff, 1989b, S. 247–250) für den kurze Beobachtungen beschränken, son-
Themenbereich des Symbolspiels (Fiktions- dern konnte Informationen aus den tag-
spiels) eine Reihe von Fragestellungen be- täglichen Begebenheiten und Begegnun-
schrieben, deren angemessene empirische Un- gen sammeln.
tersuchung nur mittels der Tagebuchstudie – Ich bekam deshalb relevante Ereignisse
möglich erscheint. Darunter fällt etwa die auch sogar dann mit, wenn sie relativ sel-
Frage, ob das spielerische Hineinschlüpfen in ten waren,
fiktive Rollen und Handlungen die Funktion – und ich konnte Entwicklungsprozesse
haben kann, zur Bewältigung von Erfahrun- über ausgedehnte Zeitabschnitte verfol-
gen beizutragen, die emotional belastend gen.» (S. xv [Übersetzung des Autors]).
sind und in der Realität nicht ausreichend be-
arbeitet werden können. Wie sollte die Funk- Führt man sich diese Notwendigkeiten und
tion des Symbolspiels für die Wirklichkeits- Vorzüge der Tagebuchaufzeichnung vor
verarbeitung anders untersucht werden als Augen, so ist zunächst kaum zu verstehen,
dadurch, daß spontane Spielhandlungen im daß sie in Lehrbüchern jahrzehntelang nur
alltäglichen Lebenskontext nach vorherge- dazu diente, zu veranschaulichen, wie ent-
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 289
wicklungspsychologische Forschung nicht In einer solchen Perspektive ist es völlig
auszusehen hat (nach Wright, 1960). Die Auf- konsequent, die bei Tagebuchstudien häufig
lösung des Widerspruchs liegt in der Einsicht im Vordergrund stehenden anekdotischen
in die prinzipielle Relativität von Bewertun- Beobachtungen durch nur einen Beobachter
gen empirisch-psychologischer Datenerhe- als methodisch unzureichend einzustufen, da
bungsverfahren. Ob die von Mendelson auf- deren Objektivität weder quantifiziert wird,
geführten Eigenheiten der Tagebuchaufzeich- noch mangels eines zweiten Beobachters be-
nung Stärken oder Schwächen darstellen, läßt rechnet werden könnte. Allerdings ist es ein
sich nur bei Kenntnis des Wissenschafts- und Trugschluß zu glauben, daß diese Definition
Gegenstandsverständnisses des Forschers und von Objektivität jenen Schutzwall bildet, der
seiner Zielsetzung sagen. Die Geringschät- Wissenschaft von Unwissenschaftlichkeit
zung der Tagebuchstrategie (und in Grenzen trennt! Es würde hier zu weit führen, die ent-
auch des partiell-strukturierten Interviews sprechende wissenschaftstheoretische Diskus-
und der Sammlung von Narrativa) hängt vor sion nachzuzeichnen (s. z. B. Schäfer, 1992),
allem mit speziellen Lesarten des Kriteriums aber es bleibt festzuhalten, daß zum Beispiel
der Objektivität und des Ziels der Generali- im Sinne des kritischen Rationalismus und
sierbarkeit zusammen. seines Hauptvertreters K. R. Popper nicht der
Nachweis der Objektivität in jeder einzelnen Stu-
Objektivität. Der gängigste Einwand gegen die das Objektivitätskriterium bildet, sondern
die Tagebuchbeobachtung lautet, sie liefere die Kritisierbarkeit: «Jede Annahme kann, im
keine objektiven Daten. Auch gegen das par- Prinzip, kritisiert werden. Und daß jeder-
tiell standardisierte Interview, insbesondere mann kritisieren darf, konstituiert wissen-
aber gegen seinen historischen Vorläufer, Pia- schaftliche Objektivität» (Popper, 1958,
gets klinisches Interview, wird dieser Ein- S. 221). Für Popper ist also Kritik – und mit-
wand ins Feld geführt. Die Begründungen hin: Objektivität – gekoppelt an Diskurs: «Öf-
heißen: Es werden dem Beobachter zu wenig fentlichkeit und Offenheit gehören zu dieser
Vorgaben (Standards) für das Verfahren der intersubjektiven Kooperation, und nur aus ihr
Datenerhebung gemacht; und es liegen, kann Objektivität entspringen – niemals aber
zumal bei der Tagebuchstudie durch enge Be- aus dem isolierten Bemühen eines Einzelnen,
zugspersonen des Kindes, in aller Regel keine ‹objektiv zu sein›...» (Schäfer, 1992, S. 71).
zusätzlichen Daten von einem zweiten Beob- Übernimmt man dieses Verständnis von
achter vor, die die Berechnung von Objekti- Objektivität, so haben die anekdotischen Be-
vitätskennwerten erlaubten. obachtungen aus Tagebuchaufzeichnungen
Teilweise haben wir diese Argumente be- dieselbe Chance, objektiv zu werden wie
reits in den Abschnitten 5 und 6 zurückge- «streng kontrollierte» experimentelle Beob-
wiesen (s. dort). An dieser Stelle wollen wir achtungen, und sie werden es tatsächlich,
uns lediglich mit dem impliziten Verständnis wenn sich der Forscher uneingeschränkt und
von Objektivität auseinandersetzen. Nach der offensiv der Kritik durch die «scientific com-
referierten Auffassung sind Beobachtungen munity» stellt. Dazu gehört, daß er die Verfah-
dann objektiv, wenn nachgewiesen wird, daß ren seiner Beobachtung möglichst genau be-
verschiedene Beobachter zu denselben Daten schreibt, die Beobachtungen präzise doku-
kommen (oder das Ausmaß der Übereinstim- mentiert und den Duktus seiner Argumenta-
mung wenigstens genügend groß ist). Be- tion expliziert.
schrieben wird die Höhe der Auswertungsob-
jektivität durch statistische Maßzahlen, z. B. Generalisierbarkeit. Neben der fraglichen
den Prozentsatz übereinstimmender Beob- Objektivität wird gegen die Tagebuchauf-
achtungen oder den Zusammenhangskoeffi- zeichnung häufig eingewendet, daß die Ge-
zienten Kappa. Deshalb läßt sich die Objekti- neralisierbarkeit der Resultate äußerst strittig
vität in diesem Sinne auch nie für eine einzel- sei, zumal wenn sie von nur einem Kind
ne Beobachtung, sondern immer nur für eine stammten. Mit dieser Kritik verbunden ist die
genügend große Stichprobe von Beobachtun- Vorstellung, daß Resultate um so eher verall-
gen angeben. gemeinerbar sind, je größer die Zahl der in
290 Methoden und Verfahren
die Studie einbezogenen Personen ist. Men- Verstehens ist wiederholt gezeigt worden,
delson (1990, S. xvi) weist am Beispiel seiner daß individuelle Differenzen in der Abfol-
Studie auf die Notwendigkeit hin, verschiede- ge von Entwicklungsschritten weitaus ge-
ne Aspekte von Generalisierbarkeit zu unter- ringer sind (wenn sie überhaupt auftre-
scheiden. Sein Ziel ist es, die Erfahrungen ten!) als im Erwerbszeitpunkt.
eines einzelnen Kindes bei der Geburt eines
Geschwisters zur Grundlage zu nehmen, um Die empirische Lösung des Generalisierbar-
die typischen Entwicklungsaufgaben und keitsproblems besteht immer darin, daß in
-prozesse zu identifizieren, die mit diesem Replikationsstudien mit anderen Personen
kritischen Lebensereignis verbunden sind. mit derselben oder veränderter Beobach-
Das ist ein anderes Generalisierungsproblem tungsmethodik geprüft wird, inwieweit die
als die Frage der Verallgemeinerung von Un- Resultate übereinstimmen oder divergieren.
terschieden zwischen Stichproben auf die Für den Umgang von Kindern mit der Geburt
entsprechenden Grundgesamtheiten, bei- eines Geschwisters haben wir beispielsweise
spielsweise die Extrapolation von Geschlecht- eine Replikationsstudie durchgeführt, bei
sunterschieden in Stichproben von Jungen dem sich das Geschlecht und das Alter des
und Mädchen auf Geschlechtsunterschiede Kindes von Mendelsons Originalstudie unter-
«schlechthin». Im zweiten Fall bekommt die schieden (Hoppe-Graff & Schmid, 1997).
Frage der Repräsentativität zusätzliches Ge- Es kann hier nur angedeutet werden, daß
wicht. die Generalisierbarkeit der Resultate der übli-
Es soll aber nicht bestritten werden, daß chen Experimente und der nicht-experimen-
sich Tagebuchstudien, die die Generalisier- tellen «large sample studies» ebenfalls in Frage
barkeit der Resultate über den Einzelfall hin- gestellt werden kann. Die Probleme der Ge-
aus behaupten, auch mit der Berechtigung neralisierbarkeit experimenteller Ergebnisse
dieser Annahme auseinandersetzen müssen. werden üblicherweise unter dem Stichwort
Die «Lösung» des Problems sehen wir auf der externen Validität behandelt. Externe Va-
zwei Ebenen, einer argumentativen und einer lidität ist dann gegeben, wenn die Resultate
empirischen. «Argumentativ» bedeutet, daß einer Untersuchung nicht nur unter den spe-
oftmals bei Kenntnis des Untersuchungsge- zifischen Umständen gültig sind, unter
genstandes und der individuellen Besonder- denen sie durchgeführt wurde, sondern wenn
heiten des Kindes die Generalisierbarkeit der sie darüber hinaus gelten. Für viele experi-
Resultate mehr oder weniger berechtigt er- mentelle Studien in der Entwicklungspsycho-
scheint. Im allgemeinen dürfte gelten, daß logie wird die Generalisierbarkeit entweder
nicht thematisiert oder sie wird stillschwei-
– die Gültigkeit der Ergebnisse für andere gend unterstellt, obwohl wissenschaftstheo-
Personen und Personengruppen in der retische Analysen gegen die externe Validität
frühen Kindheit höher einzuschätzen ist experimentalpsychologischer Befunde spre-
als in späteren Altersabschnitten. Spezifi- chen (Holzkamp, 1964; Gadenne, 1976). Un-
sche Lebensumstände haben beim Säug- tersuchungen an großen Stichproben mün-
ling vermutlich noch einen relativ gerin- den meistens in die Berechnung von statisti-
gen Einfluß; schen Maßzahl (Gruppenkennwerten). Die
– die Generalisierbarkeit für manche Merk- individuelle Gültigkeit für den Einzelfall wird
malsbereiche höher einzuschätzen ist als häufig unterstellt, obwohl sie aus methodi-
für andere. Vermutlich sind interindividu- scher Sicht alles andere als zwingend ist und
elle Differenzen in der Wahrnehmung im die enorme interindividuelle Varianz häufig
allgemeinen geringer als in sozialen Ein- dagegen spricht.
stellungen; Manchmal gewinnen psychologische Da-
– die Verallgemeinerbarkeit auf andere Per- tenerhebungsverfahren dadurch an Attrakti-
sonen für bestimmte Entwicklungsaspekte vität, daß sich nicht nur die methodologi-
eher gegeben ist als für andere. Sowohl für schen Maßstäbe wandeln, sondern auch der
die kognitive Entwicklung als auch für die Untersuchungsgegenstand selbst verändert!
Entwicklung der Moral und des sozialen McAdams (1996) hat in einem Sammelreferat
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen 291
nachgezeichnet, wie sich unter den Lebens- schen will. Wie geht dieser dabei vor? Ver-
verhältnissen der Moderne im europäisch- kürzt gesagt besteht sein Tun darin, daß er
nordamerikanischen Kulturkreis das Selbst- sein Netz auswirft, es an Land zieht und den
konzept der Menschen verändert hat. Neben Fang gewissenhaft prüft. Hat er das oft genug
anderen Eigenheiten nennt er als Kernmerk- getan, so könnte er beispielsweise zu der fol-
mal des modernen Selbst die ausdrückliche genden «empirisch begründeten» Feststellung
Suche nach subjektiver zeitlicher Kohärenz. kommen: «Alle Fische sind größer als 5 cm».
Als beobachtungsmethodisches Pendant bie- Bei jedem Fang hat sich diese Aussage be-
ten sich Tagebücher («diaries») und Narrativa stätigt. Einem Skeptiker, der die grundsätzli-
geradezu an: che Bedeutung des Gesetzes mit dem Hinweis
auf die Maschenweite des Netzes (5 cm) be-
«Während der Entwicklung sucht das
streitet, wird der Fischkundler unbeeindruckt
Selbst nach Kohärenz ... .Es ist kein Zu-
entgegnen, daß ihn derartige Objekte (Fische)
fall, daß der Aufstieg der Novelle als
nicht interessieren. Er hält sich an den
einer Kunstform der westlichen Literatur
Grundsatz, daß das, was er nicht fangen
und die zunehmende Popularität von
kann, außerhalb des fischkundlichen Wissens
Journalen, Tagebüchern und anderen au-
liegt.
tobiographischen Darstellungsmitteln
Korrespondenzen zu aktuellen Grundla-
sehr eng mit dem Aufstieg der Moderne
gendiskussionen in der Psychologie sind of-
zusammenfällt. ... Das Selbst bedient
fensichtlich. Dem Netz des Ichthyologen ent-
sich der Konstruktion von Selbsterzäh-
sprechen die Beobachtungsverfahren und
lungen (self-narratives), um im Prozeß
deren konzeptuelle Voraussetzungen (Theori-
der eigenen Veränderung Sinn zu finden»
en, Begriffe, Definitionen), und dem Auswer-
(a.a.O., S. 297–298 [Übersetzung des Au-
fen und Einziehen des Netzes korrespondiert
tors]).
die wissenschaftliche Beobachtung. Der Skep-
tiker geht von der Idee aus, daß es im Meer
eine objektive, vom Beobachter unabhängige
9. Zweites Resümee und Fischwelt gebe, zu der auch Fische gehören
können, die kleiner als 5 cm sind. Aber in der
Ausblick: Das Netz des Kontroverse mit dem Ichthyologen hat er
Ichthyologen, das Beobach- Schwierigkeiten, deren «objektive» Existenz
zu beweisen, da für diesen gilt: Nur jenes Ob-
tungsideal der Naturwissen- jekt ist ein Fisch, das mit meinem Netz gefan-
schaften und Daten- gen werden kann. Der Skeptiker hingegen
erhebung in der Entwick- empfindet das Kriterium der Fangbarkeit mit
dem vorhandenen Netz als eine unzulässige
lungspsychologie subjektive Einschränkung der Wirklichkeit.
Diese Analogie beschreibt die Beziehung
Welche Rolle spielen Verfahren der Datener- des Forschers zur Wirklichkeit naturgemäß
hebung im Prozeß der psychologischen For- nur in grober Vereinfachung, aber sie läßt
schung? Die Antwort lautet: Das hängt davon eine Reihe zentraler Probleme um so deutli-
ab, wie man sich die Beziehung von Wissen- cher hervortreten.
schaft zur Realität vorstellt. Der englische Erstens zeigt sie auf, daß Psychologie nicht
Astrophysiker Sir Arthur Eddington (1939; zi- von der eigentlichen Wirklichkeit handelt, also
tiert nach Dürr, 1997) hat für die Naturwis- nicht von dem Handeln und Erleben von
senschaften eine Analogie entworfen, die sich Menschen, wie es ist, sondern zwangsläufig
unseres Erachtens auf die Psychologie über- nur von einer reduzierten Realität: von jener
tragen läßt, auch wenn die Psychologie qua Realität, die nicht durch die Netze unserer
Gegenstand keine Naturwissenschaft ist. Er Theorien, Begriffe und Beobachtungsmetho-
verdeutlicht das Vorgehen des Wissenschaft- den fällt.
lers anhand der Arbeit eines Ichthyologen Zweitens wird durch die Analogie deutlich,
(Fischkundlers), der das Leben im Meer erfor- welche Konsequenzen sich aus dieser Veren-
292 Methoden und Verfahren
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295
Kapitel III. 3:
Aufgaben und Methoden der differen-
tiellen Entwicklungspsychologie
Marcus Hasselhorn, Göttingen & Wolfgang Schneider, Würzburg
Inhaltsverzeichnis
1. Aufgaben der differentiellen 3.3 Sequenzpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 3.4 Mikrogenetische Methode . . . . . . . . . . . . . 304
1.1 Variabilität, Veränderung, 3.5 Trainingsstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
individuelle Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . 296
1.2 Was soll beschrieben und erklärt werden? . 298 4. Differenzwertproblematik . . . . . . . . . . . . . . 305
schen und dynamischen IDs unterschieden Verhaltensmerkmal bzw. einer Variablen be-
werden. Die statischen Differenzen beziehen trachtet wurden. Nimmt man zusätzlich zu
sich auf Unterschiede in der Art und im Aus- den Personen und Zeitpunkten mehrere Varia-
maß der intraindividuellen Variabilität. So blen in das System auf, wie das z. B. Buss
schwankt z. B. die Intensität des Rehearsalver- (1974) in seinem Modell einer multivariaten
haltens von Gedächtnisanforderung zu Ge- differentiellen Entwicklungspsychologie getan
dächtnisanforderung bei manchen Neun- hat, so ergeben sich allein 15 hypothetische
jährigen sehr stark und bei manchen kaum. Fragestellungen, von denen allerdings die
Unter dynamischen interindividuellen Diffe- Mehrzahl nicht unbedingt entwicklungspsy-
renzen versteht man Unterschiede in den chologisch sind. Im folgenden wollen wir
längerfristigeren und eher irreversiblen intra- daher lediglich die wichtigsten vier Aufgaben
individuellen Veränderungen. Im Zusam- der differentiellen Entwicklungspsychologie
menhang mit der Entwicklung des Rehearsal- skizzieren:
verhaltens kann man z. B. im Verlauf des
neunten Lebensjahres bei den meisten Kin-
a) Beschreibung und Erklärung der Alters-
dern lediglich eine quantitative Zunahme der
abhängigkeit interindividueller Differenzen
Rehearsal-Intensität beobachten, bei einigen
aber zusätzlich eine qualitative Veränderung, Erfaßt man die Intensität bzw. Ausprägung
indem die Kinder plötzlich damit beginnen, eines wenigstens rangskalierten Merkmals bei
immer mehrere Informationseinheiten zu mehreren Personen, so werden i. d. R. zwei
Gruppen zusammenzufassen (sog. Rehearsal- einfache deskriptive Statistiken zur Beschrei-
Sets) und sie als Gruppen, nicht mehr jede bung der Daten verwendet: der Mittelwert
Informationseinheit für sich, zu wiederholen. und die Standardabweichung. Bei letzterer
In der Gedächtnisentwicklung nennt man handelt es sich um ein Maß der Streuung der
dieses Verhalten auch kumulatives Rehearsal. Einzeldaten um den Gruppenmittelwert (zur
Berechnung und Definition vgl. z. B. Bortz,
1993). Ist das erfaßte Merkmal normalver-
1.2 Was soll beschrieben und er- teilt, so liegen 68 % aller Individualdaten in
klärt werden? dem Bereich, der sich aus dem Mittelwert
plus / minus einer Standardabweichung er-
Wir haben uns in den bisherigen Ausführun- gibt. Die Standardabweichung ist somit ein
gen immer auf ein sehr einfaches System be- guter Beschreibungswert für das Ausmaß in-
zogen, bei dem mehrere Personen hinsicht- terindividueller Differenzen. Abbildung 2 zeigt
lich ihrer zeitlichen Veränderungen in einem nun ein Beispiel möglicher Altersabhängig-
Aufgaben und Methoden der differentiellen Entwicklungspsychologie 299
keiten dieser interindividuellen Differenzen.
Bei dem dargestellten Merkmal kommt es
zunächst mit zunehmendem Alter zu einer
Zunahme interindividueller Differenzen und
im weiteren Entwicklungsverlauf wiederum
zu einer Abnahme des Ausmaßes interindivi-
dueller Differenzen.
Solche Altersunterschiede in den interindi-
viduellen Differenzen findet man oft in Quer-
schnittstudien (s. u.), in denen keine intrain-
dividuellen Veränderungen erfaßt wurden. In
Anlehnung an Appelbaum und McCall
(1983) könnte man daher darüber streiten, ob
es sich bei der Beschreibung und Erklärung
von Altersunterschieden interindividueller
Differenzen wirklich um eine entwicklungs-
psychologische Aufgabe handelt. Mit Nessel-
roade (1991) läßt sich allerdings argumentie- Abbildung 3: Beispiele für einen Entwicklungsab-
schnitt ohne interindividuelle Differenzen in den in-
ren, daß Altersdifferenzen in den interindivi- traindividuellen Veränderungen (t1 bis t2) und mit
duellen Differenzen immer das Produkt von interindividuellen Differenzen in den intraindividuel-
interindividuellen Differenzen in den intra- len Veränderungen (t2 bis t3)
individuellen Veränderungen sind.
auf, so weiß man, daß im interessierenden dern während der gesamten betrachteten
Entwicklungsbereich mit bedeutsamen Ko- Entwicklungsperiode erfaßt; zweitens ist die
horteneffekten zu rechnen ist. Zu klären, wel- Anzahl der Beobachtungen hoch im Ver-
che dies sind und wodurch sie zustande kom- gleich zur Veränderungsrate des Phänomens;
men, wird dann die Aufgabe weiterer Unter- und drittens wird das beobachtete Verhalten
suchungen sein. Tritt kein Interaktionseffekt intensiven Analysen von Meßzeitpunkt zu
zwischen Alter und Kohorte auf, heißt dies le- Meßzeitpunkt unterzogen mit dem Ziel, Auf-
diglich, daß die Art des Alterseffektes prinzi- schluß über die Prozesse zu erhalten, die die
piell unabhängig ist von den untersuchten Ko- Entwicklungsveränderungen charakterisieren
horten. Eine Generalisierung auf nicht direkt bzw. auslösen.
untersuchte Kohorten ist jedoch unzulässig. Vor allem das dritte Merkmal macht deut-
Der in der einschlägigen Literatur verbreite- lich, daß auch der mikrogenetische Versuchs-
ten Einschätzung, daß durch eine zunehmen- plan vorrangig für hypothesengenerierende
de Anwendung von Sequenzplänen unsere Untersuchungen geeignet ist. Dies heißt aber
entwicklungspsychologischen Erkenntnisse nicht, daß dieser Standardversuchsplan für
relativiert werden (z. B. Trautner, 1995, S. hypothesenprüfende Zwecke unbrauchbar
165), stehen wir daher eher skeptisch gegenü- wäre. Gerade in weit entwickelten Teilgebie-
ber. ten der Entwicklungspsychologie, in denen
etwa konkurrierende Erklärungen interindivi-
dueller Differenzen in den intraindividuellen
3.4 Mikrogenetische Methode Veränderungen vorliegen, scheint uns die
Nutzung der mikrogenetischen Methode sehr
In den beiden zuletzt dargestellten Standard- vielversprechend zu sein.
versuchsplänen der Entwicklungspsychologie
wird zwar das Ziel der direkten Erfassung von
intraindividuellen Veränderungen erreicht, 3.5 Trainingsstudie
dies jedoch auf einem vergleichsweise wenig
anspruchsvollen Niveau. Beobachtet man Widmet man sich der vierten der oben aufge-
z. B. im Rahmen einer Längsschnittstudie führten Hauptaufgaben der differentiellen
eine Gruppe von Kindern im Alter von sechs, Entwicklungspsychologie, der Spezifikation
acht, zehn und zwölf Jahren, so können der differentiellen Beeinflußbarkeit intraindi-
wir den Daten zwar etwas über das Ausmaß vidueller Veränderungen, so bietet sich
der interindividuellen Entwicklungsstabilität schließlich die Trainingsstudie als Standard-
(s. o.) entnehmen, über die Entwicklungsme- versuchsplan an. Ziel der Trainingsstudie im
chanismen im interessierenden Verhaltensbe- Rahmen der differentiellen Entwicklungspsy-
reich jedoch kaum etwas. Nach Überzeugung chologie ist die Wirksamkeitsevaluation ent-
etwa von Siegler und Crowley (1991) bedarf wicklungsmanipulativer Maßnahmen. Im
es hierzu nicht nur eines Längsschnittplanes, Vordergrund steht die Prüfung der Annahme,
sondern eines längsschnittlichen Versuchs- daß bei Personen eines näher umschriebenen
planes, bei dem die Beobachtungsdichte Entwicklungsstandes durch eine Trainings-
während der interessierenden Veränderungs- maßnahme A bestimmte intraindividuelle
periode eines Verhaltens im Vergleich zur Veränderungen (z. B. Aufhebung oder Redu-
Veränderungsrate des Verhaltens hoch ist. zierung einer Retardierung) erreicht werden
Hierfür bietet sich die mikrogenetische Me- können. Für diese Prüfung werden i. d. R. sog.
thode an, die bereits Mitte der zwanziger Vortest-Nachtest-Pläne verwendet, d. h., das
Jahre von Heinz Werner genutzt wurde, um interessierende Verhalten wird vor der Trai-
die Entstehung (Aktualgenese) von Wahrneh- ningsmaßnahme und nach der Trainings-
mungseindrücken zu untersuchen. Der mi- maßnahme erfaßt. Findet man keine bedeut-
krogenetische Versuchsplan ist durch drei samen Verhaltensänderungen vom Vortest
Merkmale charakterisiert (vgl. Siegler & zum Nachtest, so hat sich die Beeinflussungs-
Crowley, 1991): Erstens werden die interessie- hypothese nicht bewährt. Findet man aller-
renden Verhaltensdaten bei einzelnen Kin- dings die vorhergesagte Verhaltensänderung,
Aufgaben und Methoden der differentiellen Entwicklungspsychologie 305
so hat sich zwar die Hypothese bestätigt, ob ningsmethode andere Kontrollgruppen als
die Prüfung bzw. die Bestätigung jedoch über- die Wartegruppe zu realisieren, um neben Re-
zeugend ist, hängt davon ab, wie gut mögli- test- und Entwicklungseffekten andere poten-
che Störfaktoren kontrolliert wurden, die tiell relevante Störfaktoren zu kontrollieren
einen Trainingseffekt vortäuschen können. (vgl. Hager, 1995).
So ist z. B. bekannt, daß bei vielen psycho-
logischen Testverfahren die erzielten Leistun-
gen zunehmen, wenn man den Test mehr- 4. Differenzwertproblematik
mals bearbeitet (sog. Retesteffekte). Die Ver-
besserung der Leistung vom Vortest zum Geht man davon aus, daß die Längsschnitt-
Nachtest könnte also auch allein durch die methode für Fragestellungen der differentiel-
Tatsache erklärt werden, daß der Test zweimal len Entwicklungspsychologie zentrale Bedeu-
– nämlich vor dem Training und nach dem tung besitzt, so scheint es für die Einordnung
Training – bearbeitet wurde. Ein anderer vor von immer wieder angesprochenen Meßpro-
allem bei Trainings mit Kindern einzukalku- blemen wichtig, die Frage der angemessenen
lierender Störfaktor sind Entwicklungseffekte. Erfassung von Veränderungen zu diskutieren.
Auch ohne Beeinflussungsmaßnahmen sind Die Debatte über die Probleme von einfachen
bei Kindern mit der Zeit Leistungssteigerun- Differenzwerten hat dabei in der psychome-
gen zu erwarten. Im Bereich der Entwick- trischen Literatur eine lange Tradition. Seit
lungsstörungen kommt es z. B. nicht selten der klassischen Arbeit von Cronbach und
vor, daß sog. Spontanremissionen auftreten, Furby (1970) sind Differenzwerte bei Längs-
d. h. daß die Entwicklungsprobleme ohne schnittforschern in Mißkredit geraten. Sie
weiteres Zutun mit der Zeit verschwinden. wurden üblicherweise als unreliabel, irre-
Dies wäre eine Art Entwicklungseffekt, dessen führend und unfair charakterisiert und soll-
Eintreten fälschlicherweise die Wirksamkeit ten nach Auffassung vieler Kritiker weitmög-
des Trainings vortäuschen könnte. Üblicher- lichst vermieden werden.
weise werden Retest- und Entwicklungseffek- In jüngerer Zeit ist diese Sichtweise wieder-
te bei der Trainingsmethode durch Berück- holt als Mythos identifiziert worden (vgl.
sichtigung einer Wartegruppe kontrolliert. Die etwa Rogosa, 1988). Es ist beispielsweise abso-
Personen der Trainingsstudie werden dabei lut unproblematisch, Veränderungswerte im
per Zufall auf zwei Gruppen aufgeteilt, die Rahmen von randomisierten Vortest-Nach-
Trainingsgruppe und die Wartegruppe. test-Designs zu verwenden (Maxwell & Ho-
Während in der Trainingsgruppe zwischen ward, 1981). Vielen Sozialwissenschaftlern ist
Vortest und Nachtest das Training durchge- nicht bekannt, daß eine Varianzanalyse
führt wird, nehmen die Personen der Warte- (ANOVA) mit den Vortest-Nachtest-Differen-
gruppe lediglich an Vortest und Nachtest teil. zen als abhängiger Variable den gleichen F-
Auch sie bearbeiten also den betrachteten Wert erzeugt wie der Test auf Vortest-Nach-
Test zweimal und auch sie entwickeln sich in test-Wechselwirkungen in einer ANOVA, in
der Zeit vom Vortest zum Nachtest weiter. Als die Vor- und Nachtestwerte als wiederholte
trainingsbedingter Leistungszuwachs wird Messungen eingehen (s. Nunally, 1982). Im
dann die Differenz des Leistungszuwachses in Rahmen von Gruppenanalysen stellt die Ver-
Trainingsgruppe und Wartegruppe gewertet. wendung von Differenzwerten also kein Pro-
Leider kontrollieren die Wartegruppen an- blem dar.
dere bedeutsame Störfaktoren nicht. So ist es Wie sieht es aber dann aus, wenn Diffe-
z. B. möglich, daß die Überlegenheit der Trai- renzwerte zur Erfassung individueller Verän-
nings- gegenüber der Wartegruppe gar nicht derungen herangezogen werden? Auch in
auf die spezifische Trainingswirkung zurück- diesem Punkt scheint die landläufige Mei-
geht, sondern auf die simple Tatsache, daß nung, daß Differenzwerte äußerst problema-
den Personen der Trainingsgruppe eine inten- tisch sind, inzwischen im wesentlichen über-
sive (meist individuelle) Zuwendung zuteil holt zu sein. Befürworter des Differenzwert-
wurde (vgl. Hager & Hasselhorn, 1995). Des- Ansatzes (z. B. Nunally, 1982; Rogosa, 1988;
halb ist es ratsam, bei Anwendung der Trai- Rogosa, Brandt & Zimowski, 1982) gehen
306 Methoden und Verfahren
davon aus, daß Differenzwerte relativ unver- blems), lassen sich Differenzwerte demnach
zerrte Schätzer der wahren Veränderung dar- auch im Rahmen von Längsschnittstudien
stellen und die in ihrem Zusammenhang dis- für die Erfassung individueller Veränderun-
kutierten Probleme allgemein überschätzt gen heranziehen.
werden. Was beispielsweise die oft konstatier- Abschließend soll noch kurz auf die po-
te Unreliabilität von Differenzwerten angeht, puläre Annahme eingegangen werden, daß
trifft dies nicht generell zu: niedrige Reliabi- anstatt einfacher Differenzwerte Residual-Ver-
litäten werden immer dann gefunden, wenn änderungswerte verwendet werden sollten,
die individuellen Wachstumsraten für die bei denen die Eingangsunterschiede (im Vor-
meisten untersuchten Personen annähernd test) kontrolliert sind. Rogosa (1988; Rogosa
gleich sind. Sie indizieren, daß die Rangord- et al., 1982) weist in diesem Zusammenhang
nung der untersuchten Personen auf der darauf hin, daß eine solche Vorgehensweise
Wachstumsfunktion auf Grundlage der Diffe- sowohl logische als auch statistische Proble-
renzwerte nur ungenau erfolgen kann. Aus me aufwirft. Was das logische Problem an-
der niedrigen Reliabilität kann nun aber geht, so schließt sich etwa im Hinblick auf
nicht zwingend auf niedrige Präzision der die Frage «Wieviel würde die Veränderung
Messung geschlossen werden. Rogosa (1988) von Person P in Merkmal M betragen, wenn
präsentiert Beispiele dafür, daß niedrige Relia- alle Personen unter gleichen Bedingungen
bilitäten der Differenzwerte die sinnvolle Er- gestartet wären» unmittelbar die Frage an:
fassung individueller Veränderung nicht aus- «‹gleich› im Hinblick auf was»? Ist damit bei-
schließt. Andererseits resultieren respektable spielsweise der «wahre» Eingangswert einer
Reliabilitäten der Differenzwerte immer Person gemeint, der beobachtete Eingangssta-
dann, wenn sich große interindividuelle Un- tus, oder der beobachtete Eingangsstatus in
terschiede in intraindividuellen Verände- Kombination mit anderen problemrelevan-
rungsraten beobachten lassen (vgl. Rogosa & ten Hintergrundmerkmalen der Person? Wir
Willett, 1983). stimmen mit Rogosa (1988) darin überein,
In ähnlicher Weise ist die Bedeutung des daß die Frage «Um wieviel hat sich Person P
«Regression-zur-Mitte»-Effekts für die Erfas- in Merkmal M verändert» im Vergleich zu der
sung individueller Veränderungen in der Ver- oben gestellten Frage sehr viel leichter zu be-
gangenheit überschätzt worden (vgl. die kriti- antworten ist.
schen Analysen bei Nesselroade, Stigler & Zusammenfassend läßt sich also festhal-
Baltes, 1980; Rogosa, 1988). Wenn es auch an ten, daß längsschnittliche Fragestellungen
expliziten Beschreibungen dieses Phänomens der differentiellen Entwicklungspsychologie
mangelt, so läßt sich seine Bedeutung allge- sehr wohl über die Verwendung einfacher
mein in folgender Weise charakterisieren: Im Differenzwerte angegangen werden können.
Durchschnitt liegen individuelle Meßwerte Im Zusammenhang mit der folgenden Dis-
zum zweiten Testzeitpunkt im Vergleich zum kussion relevanter Auswertungsverfahren soll
ersten Testzeitpunkt näher am Gruppenmit- noch genauer gezeigt werden, welche Vorteile
telwert, was im wesentlichen auf Meßfehler- damit verknüpft sind.
Effekte rückführbar ist. Obwohl dieses Pro-
blem für den Fall von Vortest-Nachtest-Ana-
lysen nicht von der Hand zu weisen ist, bie- 5. Auswertungsverfahren
ten beispielsweise Nesselroade et al. (1980)
eine Reihe von Belegen dafür, daß «Regressi- Es ist hier aus Platzgründen nicht möglich,
on-zur-Mitte»-Effekte im Fall von Mehrzeit- die gesamte Palette der für Fragestellungen
punktmessungen (n > 2) gut kontrollierbar der differentiellen Entwicklungspsychologie
sind. Da wir von der Konvention ausgehen, geeigneten statistischen Auswertungsverfah-
daß Prä-Post-Messungen keine «wahren» ren zu diskutieren. Viele Verfahren wie etwa
Längsschnittstudien darstellen, letztere also Varianz- und Kovarianzanalysen mit wieder-
zumindest drei Meßzeitpunkte aufweisen holten Messungen werden in unterschiedli-
sollten (vgl. Schneider & Edelstein, 1990, für chen Gebieten der Psychologie verwendet
eine ausführliche Diskussion dieses Pro- und sind von daher in der Methodenliteratur
Aufgaben und Methoden der differentiellen Entwicklungspsychologie 307
gut dokumentiert (vgl. etwa Bortz, 1993). (zeitlich) vorgeordnete Variable das nachge-
Gleiches gilt für multivariate Techniken der ordnete Merkmal unmittelbar beeinflußt
Faktoren-, Cluster- und Diskriminanzanalyse (z. B.: der IQ einer Person beeinflußt ihre Ge-
sowie für unterschiedliche Verfahren der dächtnisleistung). Indirekte Effekte liegen
multiplen Regressionsanalyse, die hier in dann vor, wenn der Einfluß einer vorgeord-
ihren Grundstrukturen als bekannt vorausge- neten Variablen sozusagen über Umwege er-
setzt werden. Im folgenden werden deshalb folgt (z. B.: der IQ hat keinen direkten Pfad
lediglich zwei Analyseansätze näher beschrie- zur Gedächtnisleistung, beeinflußt letztere
ben, die zum einen für Fragestellungen der jedoch indirekt über seine Beziehung zur
differentiellen Entwicklungspsychologie be- Gedächtnisstrategie, die wiederum einen
sonders interessant erscheinen, zum anderen direkten Pfad zur Gedächtnisleistung auf-
aber auch noch nicht ähnlich bekannt und weist). Ein wesentlicher Unterschied zwi-
verbreitet sind wie die oben erwähnten Aus- schen Pfadanalysen und traditionellen multi-
wertungsprozeduren. Es wird zunächst auf plen Regressionsanalysen besteht darin, daß
Strukturgleichungsmodelle eingegangen, erstere a priori formulierte Kausalhypothesen
über die sich komplexe Relationen zwischen überprüfen, während letztere eher a-theore-
Variablen besonders elegant modellieren las- tisch operieren. In der einschlägigen Litera-
sen. Daran schließt sich die Diskussion von tur werden Pfadmodelle von daher oft auch
Wachstumsmodellen an, über die mögliche als «Kausalmodelle» bezeichnet. Kontrover-
Ursachen interindividueller Unterschiede in sen um diesen Begriff hat es vor allem
intraindividuellen Veränderungen exploriert deshalb gegeben, weil «Kausalität» vielfach in
werden können. Anlehnung an klassische philosophische und
wissenschaftstheoretische Positionen deter-
ministisch konzipiert wird. Bei den Pfad-
5.1 Strukturmodelle mit latenten modellen kann es jedoch nicht um die Über-
Variablen prüfung deterministischer Kausalprinzipien,
sondern allenfalls um die Annahme zeitlicher
Unter dem Begriff «Lineares Strukturglei- Sukzessionsgesetze gehen (vgl. Bentler, 1980;
chungsmodell» wird eine Reihe unterschied- Steyer, 1983). Aufgrund seiner wissenschafts-
licher Methoden zur Analyse komplexer Rela- theoretischen Vorbelastung wird der Kausa-
tionen zwischen Variablen subsumiert, die litätsbegriff in den folgenden Ausführungen
u. a. Regressions-, Faktor- und Pfadanalyse weitmöglichst vermieden und statt dessen
einschließen (vgl. Bortz, 1993, darin: Kap. 13; von Strukturmodellen gesprochen.
Rudinger, 1995; Schneider, 1994). Pfadmodel- Was unterscheidet nun Strukturglei-
le mit manifesten Variablen stellen insofern chungsmodelle mit latenten Variablen von
Weiterentwicklungen klassischer Regressions- den oben beschriebenen Pfadmodellen? Der
verfahren dar, als eine Unterscheidung zwi- wohl wichtigste Unterschied besteht darin,
schen exogenen (unabhängigen) und endo- daß bei Strukturgleichungsmodellen zwi-
genen (abhängigen) Prädiktormerkmalen ge- schen beobachteten (gemessenen) und nicht
troffen wird. Werden bei multiplen Regressi- beobachteten (latenten) Variablen differen-
onsanalysen alle Prädiktoren in ihrer Wir- ziert werden kann. Diese Modelle stellen
kung auf ein Kriterium als unabhängig ange- Kombinationen faktoren- und regressions-
sehen, so bietet die Pfadanalyse zusätzlich die analytischer Ansätze dar: Über ein faktoren-
Möglichkeit, theoretisch angenommene Zu- analytisches Meßmodell werden die Bezie-
sammenhangsmuster zwischen Prädiktorva- hungen zwischen den gemessenen Variablen
riablen in ihrer Einwirkung auf das Kriterium und den latenten Konstrukten definiert, die
genauer zu überprüfen, indem zwischen exo- sie repräsentieren. Im Strukturmodell werden
genen und endogenen Vorhersagemerkmalen dann Abhängigkeiten zwischen den latenten
unterschieden wird. Vorhersagemerkmale Variablen analysiert. Probleme von Pfadmo-
können demnach direkte und indirekte Effek- dellen mit manifesten Variablen sind insbe-
te auf das Kriterium aufweisen. Von direkten sondere im Fall von umfangreichen Varia-
Effekten wird dann gesprochen, wenn die blen-Pools und Längsschnittdaten darin zu
308 Methoden und Verfahren
torik (mit) beeinflußt und vice versa. Da die funden wurden. Für die in Abbildung 4b dar-
Literaturlage zu diesem Problem ziemlich un- gestellte Lösung ergab sich der insgesamt
klar erscheint, wurde in Abbildung 4a das beste «Daten-Fit». Dieses Modell stellt gewis-
sparsamste und ökonomischste Modell spezi- sermaßen eine Mischform aus den beiden an-
fiziert, das unabhängige Entwicklungsverläu- deren Konzeptionen dar. Während für die er-
fe unterstellt («Unabhängigkeits-Modell»). sten beiden Meßzeitpunkte das «Modell kau-
Die latenten Variablen sind dabei durch Krei- saler Reziprozität» gilt, scheint für die Be-
se, die gemessenen Merkmale durch Quadrate schreibung der Veränderungen innerhalb der
gekennzeichnet. Das Konstrukt der Intelli- Phase zwischen dem zweiten und dritten
genz wird zu jedem Meßzeitpunkt durch zwei Meßzeitpunkt das «Unabhängigkeitsmodell»
gemessene Variablen (verbale und nichtver- wesentlich besser geeignet zu sein. Der deutli-
bale Intelligenz), das der Motorik durch eben- che Abfall der Korrelation zwischen den la-
falls zwei gemessene Merkmale (Körperkoor- tenten Konstrukten Feinmotorik und Intelli-
dination mit und ohne Ausdauerkomponen- genz von r = .64 zu Zeitpunkt 1 auf r = .17 zu
te) repräsentiert. Die drei Messungen für die Zeitpunkt 3 illustriert, daß sich die gegenseiti-
annähernd 200 Kinder der Stichprobe fanden gen Beziehungen längsschnittlich am besten
im jährlichen Abstand statt. Bei der Ersterhe- über ein «Entwicklungstrend-Modell» charak-
bung betrug das Durchschnittsalter der Kin- terisieren lassen: Während feinmotorische
der annähernd vier Jahre. Fertigkeiten zu Beginn der Kindergartenzeit
Eine mit dem Computerprogramm EQS noch sehr stark von allgemeinen intellektuel-
(Bentler, 1985) durchgeführte Parameter- len Fähigkeiten abzuhängen scheinen (das
schätzung ergab, daß das «Unabhängigkeits- Pfadmuster deutet hier eine «kausale» Prädo-
Modell» sich nicht an die Daten anpassen minanz des IQ an), wird die Fähigkeit zur
ließ. Auch ein «Modell kausaler Reziprozität», Kontrolle komplexer Bewegungen im weite-
das alle möglichen Querbeziehungen zwi- ren Verlauf wohl zunehmend «automatisiert»
schen Intelligenz und Feinmotorik enthielt, und damit auch unabhängig von kognitiven
war mit den Daten nicht kompatibel, obwohl Faktoren.
vergleichsweise bessere Anpassungswerte ge-
310 Methoden und Verfahren
Wenn dieses Beispiel auch einige Vorteile darstellt. Damit ist eine Lösung gemeint, die
von Strukturgleichungsmodellen illustrieren speziell für die vorliegende Stichprobe paßt,
kann, soll nicht verschwiegen werden, daß jedoch kaum auf neue Zufallsstichproben aus
der Ansatz auch einige noch ungelöste Pro- der zugrundeliegenden Population zu genera-
bleme in sich birgt, die insbesondere die Mo- lisieren ist. Das Ausmaß dieses Problems kann
delltestung und -spezifikation betreffen. So über Kreuzvalidierungsansätze abgeschätzt
ist die oben beschriebene Chiquadrat-Prüf- werden, von denen es jedoch leider immer
größe beispielsweise von der Stichproben- noch viel zu wenige gibt.
größe abhängig und wird bei großen Stich- Ungeachtet dieser Probleme bleibt zusam-
proben unweigerlich mangelnde Modellan- menfassend festzuhalten, daß Strukturglei-
passung indizieren. Obwohl einige andere In- chungsmodelle mit latenten Variablen im
dizes von diesem Problem weniger betroffen Vergleich zu anderen multivariaten Metho-
sind, lassen auch sie sich lediglich als subjek- den wesentliche Vorzüge besitzen, die sie für
tive Größen ansehen und nicht im Sinne sta- Fragestellungen der differentiellen Entwick-
tistischer Signifikanz interpretieren (vgl. die lungspsychologie äußerst attraktiv machen.
Diskussion dieses Problems bei Marsh, Balla Sie lassen sich insbesondere im Kontext von
& McDonald, 1988). Bei der Einschätzung der Längsschnittstudien sinnvoll einsetzen, da
Modellanpassung sollten von daher immer hier die oft kontrovers diskutierte Frage nach
mehrere «goodness-of-fit»-Indikatoren gleich- der «kausalen» Richtung vergleichsweise ein-
zeitig betrachtet werden. Man sollte sich bei fach zu beantworten ist: Die zeitlichen Abläu-
der Bewertung eines Modells auch immer fe geben die Wirkungsrichtungen im Varia-
darüber im klaren sein, daß es der Struktur- blennetz vor.
gleichungsansatz nicht ermöglicht, das theo-
retisch am besten passende Modell zu identi-
fizieren. Unterschiedliche Modelle können 5.2 Wachtumskurven-Ansatz
mit ein und demselben Satz von Korrelatio-
nen ähnlich gut übereinstimmen. Die Mo- Im Zusammenhang mit der Debatte zur ange-
delltests sind so geartet, daß Modelle falsifi- messenen Analyse von Merkmalsveränderun-
ziert, nicht jedoch empirisch als beste «be- gen wurde schon darauf hingewiesen, daß
wiesen» oder «verifiziert» werden können. neuere Verfahren der Veränderungsmessung
Ein weiteres Problem besteht u. E. darin, auf der Analyse individueller Differenzwerte
daß der konfirmatorische Charakter der Mo- aufbauen. Im Hinblick auf Fragestellungen
dellschätzungen und Modelltests durch neue- der differentiellen Entwicklungspsychologie
re Programmentwicklungen immer mehr ver- scheint dabei das von Bryk und Raudenbush
loren geht. War es bei früheren Computer- (1987) entwickelte Verfahren «Hierarchical
programm-Versionen noch sehr wichtig, ge- Linear Modeling» (HLM) besonders vielver-
naue theoretische Vorannahmen zu machen, sprechend zu sein. Da die Prozedur in her-
um das Programm überhaupt «zum Laufen» kömmlichen Statistik-Lehrbüchern bislang
zu bringen, so sind die neueren LISREL- und noch nicht aufgenommen wurde, soll sie an
EQS-Versionen wesentlich benutzerfreundli- dieser Stelle etwas genauer dargestellt wer-
cher geworden, was exploratives Arbeiten den. Um dem Leser das Verständnis der Logik
stark begünstigt. LISREL bietet über sog. «Mo- dieses Verfahrens zu erleichtern, wird auf die
difikationsindizes» Information darüber an, zugehörige Formelsprache weitgehend ver-
über welche Modellmodifikationen sich deut- zichtet. Detaillierte Beschreibungen des An-
liche Verbesserungen der Anpassungsgüte er- satzes finden sich bei Bryk und Raudenbush
reichen lassen. Diese Möglichkeit zur Modell- (1987) und Goldstein (1979).
verbesserung sollte möglichst sparsam und Analysen mit der HLM-Prozedur bieten
theoriegeleitet verwendet werden, was in der sich immer dann an, wenn man sowohl an
Praxis leider oft nicht geschieht. Es muß der Erfassung individueller Wachstumskur-
damit vielfach offen bleiben, ob die von den ven als auch an der Erklärung der Variation
Autoren als beste Lösung propagierte Modell- in diesen Wachstumskurven interessiert ist.
variante nicht de facto ein «sample overfit» Es sollten Längsschnittdaten für Gruppen
Aufgaben und Methoden der differentiellen Entwicklungspsychologie 311
von Personen vorliegen, wobei die relevanten Schätzer zu generieren, der die verfügbare In-
Merkmale mindestens dreimal erhoben wur- formation optimal gewichtet. Lassen sich bei-
den. Wie der Name besagt, werden die Daten spielsweise die individuellen Wachstumspara-
bei HLM in einem mehrstufigen hierarchi- meter reliabel schätzen, wird der gewichtete
schen Verfahren analysiert. Während die ur- Bayes-Schätzer vor allem auf diesen Informa-
sprüngliche HLM-Version in zwei Stufen ope- tionen aufbauen. Fallen demgegenüber die
rierte, wurde neuerdings auch eine dreistufige Schätzungen der individuellen Wachstums-
Programmvariante entwickelt, die sich für die parameter unreliabel aus, basiert der gewich-
Analyse von Mehrebenendaten verwenden tete Bayes-Schätzer hauptsächlich auf der In-
läßt (vgl. Bryk, Raudenbush & Congdon, formation zu den Hintergrunddaten. Wie
1994). Im folgenden werden Anwendungs- von Bryk und Raudenbush (1987) herausge-
beispiele für beide Varianten dargestellt. stellt wird, versucht HLM die in den Daten
In einem ersten Analyseschritt und auf der liegenden Stärken maximal für die Bayes-
ersten Ebene wird das «within subject»-Mo- Schätzung zu nutzen. Von daher resultieren
dell geschätzt, das die individuelle Wachs- aus diesen Analysen in der Regel kleinere
tumsfunktion für jeden Probanden sowie die Schätzfehler, als dies bei der separaten Analy-
Varianz im Eingangsniveau der Probanden se von Individual- und Gruppendaten zu er-
(zum ersten Meßzeitpunkt) und in den indi- warten wäre.
viduellen Zuwachsraten über die Zeit ohne Die in der neueren Modellvariante (Bryk et
Einbezug irgendwelcher Erklärungsvariablen al., 1994) verfügbare dritte Analyseebene be-
schätzt. Die Wachstumsfunktion kann ein zieht sich auf die Frage, ob die nach dem
Polynom beliebigen Grades sein; sie kann zweiten Analyseschritt verbliebene unaufge-
demnach als linear, quadratisch oder kubisch klärte Parametervarianz durch den Einbezug
angenommen werden oder auch eine weni- von Gruppen-(Kontext-)Merkmalen weiter re-
ger geläufige Funktion (z. B. eine Wurzelfunk- duziert werden kann. Damit wird ein typi-
tion) darstellen. Visuelle Inspektionen der sches Problem der Mehrebenenanalyse ange-
Längsschnittdaten können dabei helfen, die gangen, das vor allem in der Soziologie und
Art des Polynoms näher einzugrenzen. Wich- der Pädagogischen Psychologie diskutiert
tig ist, daß nach diesem ersten Schritt indivi- wird, aber auch für Fragestellungen der diffe-
duelle Wachstumskurven (geschätzt über die rentiellen Entwicklungspsychologie Relevanz
Methode der kleinsten Quadrate) für die wei- besitzt. Für den Fall großer Stichproben läßt
tere Analyse verfügbar sind. sich die Varianz der Eingangsniveaus und Zu-
Im nächsten Schritt wird ein «between- wachsraten auf Gruppenebene (z. B. auf die
subjects»-Modell formuliert, bei dem es Ebene von Schulklassen) «hochaggregieren».
darum geht, die Variation im Eingangsniveau Die folgenden Analysen operieren dann mit
und in den individuellen Wachstumsparame- der neuen Fallzahl (z. B. Anzahl von Schul-
tern genauer aufzuklären. Es werden an dieser klassen in der Stichprobe) und versuchen, die
Stelle üblicherweise theoretisch relevante aggregierten unerklärten Parametervarianzen
Hintergrundmerkmale in die Gleichung ein- durch den Einbezug geeigneter Kontextmerk-
geführt, von denen man annimmt, daß sie male (im Fall von Schulklassen z. B. Instrukti-
den Anteil unerklärter Parametervarianz zwi- onsqualität oder Klassenmanagement) weiter
schen den Probanden deutlich reduzieren zu reduzieren. Über diese Form von Mehr-
können. Eine gewichtete Kleinstquadrat- ebenenanalyse läßt sich demnach der Pro-
Schätzprozedur wird zunächst dazu verwen- zentsatz an Varianz in den Eingangsniveaus
det, im «between-subject»-Modell eine zweite und Zuwachsraten des relevanten Merkmals,
Schätzung der individuellen Wachstumspara- der durch Unterschiede zwischen einzelnen
meter zu generieren, die Information über die Probanden bedingt ist, von demjenigen Vari-
Hintergrundmerkmale mit einbezieht. Über anzanteil separieren, der im wesentlichen
empirische Bayes-Schätzung wird anschlie- auf gruppenspezifischen Kontextmerkmalen
ßend versucht, in Abhängigkeit von der Re- (z. B. Schulklassen) beruht.
liabilität der individuellen Wachstumspara- Die Vorteile des HLM-Ansatzes sollen ab-
meter und der Hintergrundmerkmale einen schließend an zwei Beispielen illustriert wer-
312 Methoden und Verfahren
Belege für die Grundannahme der Studie, daß individuellen Veränderungen und (c) von in-
Unterschiede zwischen Schulklassen im terindividuellen Differenzen in den zeitli-
Sinne von Kontexteffekten für interindividu- chen Veränderungen der intraindividuellen
elle Unterschiede in den intraindividuellen Variabilität sowie (d) die Spezifikation der in-
Veränderungen von schriftsprachlichen Kom- terindividuell unterschiedlichen Beeinfluß-
petenzen bedeutsam sind und in Erklärungs- barkeit intraindividueller Veränderungen her-
modellen unbedingt berücksichtigt werden ausgestellt.
sollten. In der aktuellen Forschungsliteratur findet
Die beiden Anwendungsbeispiele sollten sich eine klare Dominanz hypothesengenerie-
deutlich gemacht haben, daß der HLM-An- render Forschungsstrategien. Demgegenüber
satz für Fragestellungen der differentiellen vertreten wir die Auffassung, daß gerade für
Entwicklungspsychologie gut geeignet ist. Er die Bewältigung der Erklärungsaufgaben der
bietet die Möglichkeit, Schätzungen der all- differentiellen Entwicklungspsychologie ein
gemeinen Entwicklungsfunktion sensu Wohl- vermehrter Rückgriff auf hypothesenprüfende
will mit Analysen zu kombinieren, die sich Forschungsstrategien wünschenswert wäre.
auf die Aufklärung interindividueller Unter- Eine solche Umorientierung sollte problem-
schiede in der Ausprägung dieser Entwick- los möglich sein, zumal die bekannten Stan-
lungsfunktion beziehen. HLM kann weiter- dardversuchspläne der Entwicklungspsycho-
hin dafür genutzt werden, die Reliabilität der logie auch für hypothesenprüfendes Vorge-
Schätzer von Eingangsniveaus und Zuwachs- hen geeignet sind; dies gilt prinzipiell auch
raten festzustellen sowie die Korrelation zwi- für die erst in jüngerer Zeit vermehrt berück-
schen Eingangsstatus und Veränderung zu sichtigten Versuchspläne der mikrogeneti-
bestimmen, und um Hypothesen im Hinblick schen Methode und der Trainingsstudie.
auf die Relevanz bestimmter Hintergrund- Da die empirische Erfassung intraindividu-
merkmale zu testen (vgl. Renkl & Gruber, eller Veränderungen von Verhaltensmerkma-
1995, für eine Darstellung weiterer Vorzüge). len auch für die differentielle Entwicklungs-
Obwohl dieser methodische Ansatz noch re- psychologie von zentraler Bedeutung ist, bot
lativ neu und damit bislang noch recht unbe- es sich an, zur sogenannten Differenzwert-
kannt geblieben ist, sollte er schon in naher problematik Stellung zu nehmen. Entgegen
Zukunft einen festen Platz im Arsenal ent- der verbreiteten Auffassung, Differenzwerte
wicklungspsychologischer Auswertungsver- in empirischen Analysen tunlichst zu umge-
fahren einnehmen. hen, haben wir begründet, warum und wie in
den bevorzugt längsschnittlich angelegten
Forschungsprojekten der differentiellen Ent-
wicklungspsychologie die Verwendung von
6. Resümee Differenzwerten angemessen ist. Als Beispiele
für die unter differentiellem Gesichtspunkt in
Die zunehmende Hinwendung zu differenti- der Entwicklungspsychologie verwendeten
ellen Fragestellungen in der Entwicklungs- Auswertungsverfahren werden schließlich die
psychologie haben wir zum Anlaß genom- Strukturmodelle mit latenten Variablen und
men, die wichtigsten Aufgaben der differenti- der Wachstumskurven-Ansatz kursorisch be-
ellen Entwicklungspsychologie zu skizzieren, schrieben.
einige ihrer methodischen Grundlagen zu
diskutieren und schließlich zwei komplexe
Auswertungsverfahren vorzustellen, auf die
in aktuellen einschlägigen Studien in zuneh-
mendem Maße zurückgegriffen wird. Als Literatur
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