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Exit Ghost - Roth
Exit Ghost - Roth
Exit Ghost
Roman
1 2 3 4 5 12 11 10 09 08
ISBN 978-3-446-23001-9
© Philip Roth 2007
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2008
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
Für B.T.
Bevor der Tod dich nimmt, nimm dies zurück
Dylan Thomas: Find Meat on Bones
1 Der gegenwärtige Augenblick
Als ich Lonoff und Hope 1956 kennenlernte, waren ihre drei
Kinder bereits erwachsen und hatten das Haus verlassen, und
obwohl diese Tatsache ebensowenig an der harten Disziplin
seines täglichen Lebens als Schriftsteller änderte wie das Ver-
schwinden der Leidenschaft, zu dem es im Verlauf einer Ehe
kommt, war während der wenigen Stunden, die ich dort ver-
brachte, deutlich zu spüren, wie sehr Hope unter der Isola-
tion in der Abgeschiedenheit dieses Bauernhauses in den
Berkshires litt. Beim Essen an dem Abend, an dem ich dort
eintraf, hatte sie sich noch tapfer bemüht, ruhig und liebens-
würdig zu sein, doch schließlich war sie zusammengebrochen
und, nachdem sie ihr Weinglas an die Wand geworfen hatte, in
Tränen aus dem Zimmer gestürzt. Sie überließ es Lonoff, mir
zu erklären, was eigentlich los war – wobei sich allerdings
herausstellte, dass er keineswegs der Ansicht war, er müsse
mir irgend etwas erklären. Beim Frühstück am nächsten Mor-
gen, bei dem Amy und ich anwesend waren und die hinrei-
ßende junge Frau, wie ich zu Gast in diesem Haus, mit ihrer
bezaubernden Heiterkeit und Selbstbeherrschung, mit der
Klarheit ihres Geistes, ihrer Schauspielerei, ihrem geheimnis-
vollen Wesen und dem Esprit ihrer witzigen Bemerkungen
eine besonders angenehme Gesellschaft war, bröckelte Hopes
stoische Fassade abermals, und als sie diesmal vom Tisch auf-
stand, packte sie eine Reisetasche, zog einen Mantel an und
verließ, trotz der Kälte und der verschneiten Straßen, das
Haus, wobei sie verkündete, sie übergebe hiermit den Posten
der vernachlässigten Frau des großen Schriftstellers an nie-
mand anderen als seine ehemalige Studentin und (nach allem
Anschein) gegenwärtige Geliebte. »Dies ist jetzt offiziell dein
Haus!« erklärte sie der jungen Siegerin und machte sich auf
den Weg nach Boston. »Du bist jetzt diejenige, mit der er nicht
zusammenlebt!«
Ich ging eine Stunde später und sah keinen von ihnen wie-
der. Es war ein purer Zufall, dass ich bei dieser Szene anwe-
send war. Ich wohnte damals in einer nicht weit entfernten
Schriftstellerkolonie und hatte Lonoff ein Päckchen mit mei-
nen ersten veröffentlichten Kurzgeschichten sowie einen eif-
rigen Brief geschickt, in dem ich mich ihm vorstellte. Auf
diese Weise war ich zu einer Einladung zum Abendessen ge-
kommen – über Nacht geblieben war ich nur, weil schlechtes
Wetter mich daran gehindert hatte, nach Hause zurückzu-
kehren. Von den späten vierziger Jahren bis zu seinem Tod an
Leukämie im Jahr 1961 war Lonoff wahrscheinlich Amerikas
angesehenster Kurzgeschichten-Autor – wenn schon nicht
für die breite Öffentlichkeit, so doch für die meisten Angehö-
rigen der intellektuellen und akademischen Elite. Er hatte
sechs Sammlungen veröffentlicht, in denen die Mischung aus
Komödie und Düsterkeit die sattsam bekannten Geschichten
vom harten Los der jüdischen Einwanderer vollkommen
ihrer Sentimentalität beraubt hatte; seine Erzählungen waren
wie ein Panorama aus unzusammenhängenden Träumen,
ohne dass er allerdings die Sachlichkeit von Ort und Zeit
zugunsten von surrealistischem Hokuspokus oder magisch-
realistischen Knalleffekten geopfert hätte. Seine jährliche
Produktion von Geschichten war nie groß gewesen, und in
den letzten fünf Jahren, als er angeblich an seinem ersten Ro-
man arbeitete, der ihm, wie seine Bewunderer behaupteten,
internationale Anerkennung und den Nobelpreis einbringen
würde, den er schon längst hätte bekommen sollen, publi-
zierte er gar nichts. In dieser Zeit lebte er mit Amy in Cam-
bridge und hatte eine lose Verbindung zur Harvard Univer-
sity. Er heiratete Amy nicht; anscheinend war er in diesen fünf
Jahren juristisch nicht imstande gewesen, irgend jemanden zu
heiraten. Und dann war er tot.
Als ich wieder im Hotel war, telefonierte ich mit Rob Massey,
einem Tischler, der seit zehn Jahren mein Hausmeister ist, und
mit seiner Frau Belinda, die in dieser Zeit einmal wöchentlich
zum Putzen kommt und die Einkäufe erledigt, wenn ich keine
Lust habe, die zwölf Kilometer nach Athena zu fahren. Ich
diktierte ihnen eine Liste von Dingen, die sie einpacken und
nach New York bringen sollten, und erzählte ihnen von dem
jungen Ehepaar, das in der nächsten Woche in mein Haus
ziehen und für ein Jahr dort wohnen würde.
»Ich hoffe, das hat nichts mit Ihrer Gesundheit zu tun«,
sagte Rob. Als vor neun Jahren die Prostataoperation vor-
genommen worden war, hatte Rob mich nach Boston und an-
schließend vom Krankenhaus nach Hause gefahren, und Be-
linda hatte für mich gekocht und mir in den unangenehmen
Wochen der Genesung mit der Behutsamkeit und dem Ein-
fühlungsvermögen, die ein Kranker braucht, geholfen. Seit-
her war ich nicht mehr im Krankenhaus gewesen und hatte
nichts Schlimmeres als eine Erkältung gehabt, doch sie waren
ein freundliches, kinderloses Ehepaar in mittleren Jahren –
ein drahtiger, scharfsinniger, sympathischer Mann und seine
vollbusige, gesellige, unerhört tüchtige Frau –, und seit der
Operation hatten sie meine kleinsten Bedürfnisse behandelt,
als wären diese von größter Bedeutung. Hätte ich eigene Kin-
der gehabt, die verfolgten, wie ich alt wurde, so hätte ich nicht
besser versorgt sein können – und möglicherweise wesent-
lich schlechter. Beide hatten noch nie ein Wort von dem ge-
lesen, was ich geschrieben hatte, doch wann immer sie mei-
nen Namen oder mein Foto in einer Zeitung oder Zeitschrift
entdeckten, schnitt Belinda den Artikel aus und brachte ihn
mir. Dann bedankte ich mich, gestand, dass ich ihn noch nicht
kannte, und um jede unabsichtliche Kränkung dieser war-
men, großherzigen Frau zu vermeiden, die überzeugt war,
dass ich diese Ausschnitte in etwas aufbewahrte, was sie
als mein »Album« bezeichnete, zerriss ich ihn später unge-
lesen in winzig kleine, umdentifizierbare Fetzen, die ich in
die Mülltonne warf. Auch das hatte ich aus meinem Leben
getilgt.
An meinem siebzigsten Geburtstag hatte Belinda zum
Abendessen in meinem Haus Hirschsteaks und Rotkohl für
uns drei zubereitet. Das Fleisch – Rob hatte den Hirsch im
Wald hinter meinem Grundstück erlegt – schmeckte wun-
derbar, und ebenso wunderbar waren die freundliche Groß-
herzigkeit und warme Zuneigung dieser beiden Freunde. Sie
prosteten mir mit Champagner zu und schenkten mir einen
dunkelbraunen Pullover aus Lammwolle, den sie in Athena
gekauft hatten; dann baten sie mich, eine kleine Rede darüber
zu halten, wie es war, siebzig zu sein. Nachdem ich ihren
Pullover angezogen hatte, erhob ich mich von meinem Platz
am Kopf der Tafel und sagte: »Es wird eine kurze Rede sein.
Stellen Sie sich das Jahr 4000 vor.« Sie lächelten, als wäre ich
im Begriff, einen Witz zu erzählen, und so fügte ich hinzu:
»Nein, nein. Stellen Sie es sich vor. Ganz im Ernst. In allen
Dimensionen und allen Aspekten. Nehmen Sie sich ein biss-
chen Zeit.« Nach einigen Augenblicken ernsten Schweigens
sagte ich leise: »So ist es, wenn man siebzig ist«, und setzte
mich wieder.
Rob Massey war der ideale Hausmeister, von dem jeder
träumt, Belinda die ideale Putzfrau, die jeder will. Ich hatte
zwar nicht mehr Larry Hollis, der über mich wachte, wohl aber
diese beiden, und die Zeit, die ich dem Schreiben widmen
konnte, ja sogar das Schreiben selbst, verdankte ich zum Teil
der Tatsache, dass sie sich so gut um alles kümmerten. Und
nun wollte ich mich von ihnen trennen.
»Nein, mit meiner Gesundheit ist alles in Ordnung. Aber ich
habe hier einiges zu tun, und darum haben wir die Woh-
nungen getauscht. Ich bleibe in Kontakt mit Ihnen, und wenn
Sie mich über irgend etwas benachrichtigen wollen, rufen Sie
mich per R-Gespräch an.«
Rob antwortete gutmütig: »R-Gespräche führt seit zwanzig
Jahren kein Mensch mehr.«
»Tatsächlich? Na ja, Sie wissen schon, was ich meine. Ich
werde den Leuten sagen, dass Belinda einmal wöchentlich
zum Putzen kommt und dass sie sich an Sie wenden sollen,
wenn irgend etwas im Haus zu tun ist. Ich werde Sie weiter-
hin bezahlen, außer für Dinge, die Jamie Logan oder Billy
Davidoff für sich selbst erledigt haben wollen – das können sie
dann mit Ihnen aushandeln.« Ich verspürte einen überra-
schenden Stich, als ich Jamies Namen aussprach und daran
dachte, dass ich nicht nur Rob und Belinda, sondern auch sie
verlor – und diesen Verlust auch noch selbst einfädelte. Es
war, als würde ich das verlieren, was mir auf der Welt am lieb-
sten war.
Ich sagte ihnen, sobald ich in die Wohnung in der West
71st Street gezogen sei, sollten sie mir gemeinsam die Sachen,
die ich noch benötigte, bringen, und anschließend solle einer
von ihnen meinen Wagen zurückfahren und in ihrer Garage
unterstellen – und übrigens solle er in meiner Abwesenheit
bhin und wieder bewegt werden. Ich hatte zwei Monate zu-
vor ein Buch beendet und noch kein neues begonnen, daher
waren keine Manuskripte oder Notizbücher zu transportie-
ren. Hätte ich bereits an einem neuen Buch gearbeitet, so
hätte ich diesen Ortswechsel vermutlich nicht in Erwägung
gezogen, und wenn, dann hätte ich das Manuskript gewiss
keinem anderen anvertraut. Und außerdem: Wäre ich aus ir-
gendeinem Grund in mein Haus am Wald zurückgekehrt,
dann wäre ich, das wusste ich genau, nicht wieder nach New
York gefahren, und zwar nicht aus Jamies Gründen, nicht
weil ich Angst vor einem terroristischen Angriff hatte, son-
dern weil sich alles Nötige dort befand, wo ich war: die un-
unterbrochene Ruhe, die ich mittlerweile zum Schreiben
brauchte, die Bücher, die meinen Interessen dienten, und eine
Umgebung, in der ich besser als anderswo mein seelisches
Gleichgewicht bewahren und mich fit genug halten konnte,
um so lange wie möglich zu arbeiten. In der Stadt würde ich
nur etwas finden, was ich, wie ich beschlossen hatte, nicht
mehr brauchte: das Hier und Jetzt.
Hier und Jetzt.
Damals und Jetzt.
Der Anfang und das Ende des Jetzt.
Das waren die Zeilen, die ich auf den Zettel kritzelte, auf
dem ich zuvor Amy Bellettes Namen und die Telefonnummer
meiner neuen New Yorker Wohnung notiert hatte. Titel für
irgend etwas. Vielleicht für dieses Buch. Oder sollte ich ganz
unverblümt sein und es Ein Mann in Windeln nennen? Ein
Buch über einen, der weiß, wohin er zu gehen hat, um seine
Qual zu erleben, und dann dorthin geht.
Durch eine einzige kurze Begegnung mit Billy und Jamie war
ich nicht nur wieder eingetaucht in eine Welt literarisch ehr-
geiziger Jugend, die mich nicht mehr interessierte, sondern
hatte mich auch für die Irritationen, die Reize, die Versuchun-
gen und die Gefahren des gegenwärtigen Augenblicks geöffnet.
In meinem Fall ging damals, als ich beschlossen hatte, die
Stadt für immer zu verlassen, die spezifische Gefahr – die Ge-
fahr eines Angriffs auf mein Leben – nicht vom islamischen
Terrorismus aus, sondern von mehreren Morddrohungen,
die, wie das FBI festgestellt hatte, von einer einzigen Person
stammten. Jede einzelne dieser Drohungen stand auf einer
Postkarte, die irgendwo im Norden von New Jersey abge-
stempelt worden war, der Gegend, in der ich aufgewachsen
war. Es war nie zweimal derselbe Ort, doch das abgebildete
Motiv war jedesmal der damalige Papst, Johannes Paul II, der
die Menge auf dem Petersplatz segnete, kniend betete oder in
brokatverziertem weißem Ornat Audienz gewährte. Auf der
ersten Karte stand:
Der Text der zweiten Karte mit dem Bild Johannes Pauls war
mit dem der ersten identisch, nur dass der letzte Satz lautete:
»D IE S I ST DI E ZW EI T E W A R NU NG , JU D E !«
Ich hatte auch früher schon Schmäh- oder Drohbriefe er-
halten, aber niemals mehr als zwei oder drei pro Jahr, und in
den meisten Jahren gar keine. Außerdem hatten mich auf den
Straßen von New York immer wieder Fremde angesprochen
und mir unangenehme Diskussionen aufgedrängt, weil ich in
einem Roman etwas geschrieben hatte, was sie faszinierte
oder wütend machte oder sie faszinierte, weil es sie wütend
machte, oder wütend machte, weil es sie faszinierte. Mehr als
einmal war ich zum Opfer solcher beunruhigenden Auf-
dringlichkeiten geworden, weil meine Bücher Menschen, die
von Erdichtetem leicht zu Phantasien verleitet wurden, zu ge-
wissen Auffassungen anregten. Doch nun wurde ich zum Ziel
erklärt: Monatelang erhielt ich diese Postkarten Woche für
Woche, und zur gleichen Zeit bekam ein im Mittleren Westen
lebender Kritiker, der eins meiner Bücher in der New York
Times Book Review äußerst lobend rezensiert hatte, ebenfalls
eine Postkarte mit dem Bild des Papstes. Diese war an das
College adressiert, an dem er unterrichtete, und zwar an die
»Abteilung für Speichelleckerei und Englisch«. Keine Anrede,
bloß dies, in winzigen Buchstaben:
Mein New Yorker Anwalt stellte den Kontakt zum FBI her. In
meiner Wohnung in der East 91st Street erhielt ich Besuch
von einer Agentin namens M. J. Sweeney, einer kleinen, mun-
teren, aus den Südstaaten stammenden Frau von Anfang Vier-
zig, die die Postkarten an sich nahm (um sie, zusammen mit
der, die der Kritiker erhalten hatte, zur Untersuchung und
Analyse nach Washington zu schicken) und mir sagte, welche
Vorsichtsmaßnahmen ich treffen sollte, als würde sie mir die
Grundregeln eines mir unbekannten Sports oder Spiels erklä-
ren. Ich sollte ein Gebäude erst verlassen, wenn ich mich da-
von überzeugt hatte, dass weder gegenüber noch rechts und
links verdächtig wirkende Personen zu sehen waren. Wenn
auf der Straße jemand auf mich zukam, sollte ich nicht auf
sein Gesicht, sondern auf seine Hände achten, für den Fall,
dass er nach einer Waffe griff. Sie gab mir noch mehr solcher
Ratschläge, die ich auch befolgte, obwohl ich nicht sehr über-
zeugt war, dass sie einen wirksamen Schutz gegen jemanden
darstellten, der entschlossen war, mich niederzuschießen.
Die Bezeichnung »AK-47«, die auf der an den Rezensenten
adressierten Postkarte gestanden hatte, tauchte nun auch in
den an mich gerichteten Botschaften auf. Es gab Wochen, in
denen die Nachricht lediglich aus den mit schwarzem Filz-
stift geschriebenen fünf Zentimeter hohen Buchstaben und
Ziffern »AK-47« bestand.
Jedesmal, wenn wieder eine Postkarte eintraf, telefonierte
ich mit M.J. Ich fotokopierte beide Seiten der Karte, bevor
ich sie in einen Umschlag steckte und an die Agentin schickte.
Als ich sie eines Tages anrief und ihr sagte, mein neuestes
Buch sei für einen Preis nominiert worden und man habe mich
zur Preisverleihung in einem Hotel in Manhattan einge-
laden, fragte sie: »Wie sind die Sicherheitsmaßnahmen?« »Ich
nehme an, dass es so gut wie keine gibt.« »Hat die Öffentlich-
keit Zutritt?« »Sie hat jedenfalls nicht keinen Zutritt«, sagte
ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der hinein-
will, auf ernsthafte Schwierigkeiten stößt. Ich schätze, es wer-
den an die tausend Leute dasein.« »Na, dann passen Sie gut
auf sich auf«, sagte sie. »Das hört sich an, als würden Sie mir
abraten, hinzugehen.« »Ich kann nicht für das FBI spre-
chen«, sagte M.J. »Das FBI kann Ihnen in dieser Sache nicht
raten.« »Sollte ich den Preis erhalten, muss ich auf die Bühne
gehen, um ihn entgegenzunehmen. Da wäre ich ein leichtes
Ziel, oder?« »Wenn ich Ihre Freundin wäre«, antwortete sie,
»würde ich sagen: Ja.« »Wenn Sie meine Freundin wären, was
würden Sie mir dann raten?« »Bedeutet es Ihnen viel, dorthin
zu gehen?« »Nein, es bedeutet mir nichts.« »Also, wenn ich
diejenige wäre, der es nichts bedeutet«, sagte M.J., »und ich
hätte über zwanzig Morddrohungen bekommen, würde ich
nicht mal in die Nähe dieses Hotels gehen.«
Am nächsten Tag mietete ich einen Wagen und fuhr in den
Westen von Massachusetts, Innerhalb von achtundvier-
zig Stunden kaufte ich ein Haus mit zwei großen Räumen –
in dem einen gab es einen offenen Kamin, in dem anderen
einen Holzofen –, zwischen denen sich eine kleine Küche
befand; durch ihr Fenster sah man einen Hain aus knorrigen
alten Apfelbäumen, einen recht großen, zum Schwimmen ge-
eigneten ovalen Teich und eine hohe, vom Sturm beschädigte
Weide. Die zwölf Morgen Land, die zum Haus gehörten,
grenzten an einen malerischen, von Wasservögeln bevölker-
ten Sumpf. Am Haus führte in einiger Entfernung ein Feld-
weg vorbei, auf dem man nach vier bis fünf Kilometern eine
Asphaltstraße erreichte – nach Athena ging es dann durch
viele Kurven noch weitere sieben bis acht Kilometer zu Tal.
In Athena hatte E. I. Lonoff unterrichtet, als ich ihn, seine
Frau und Amy Bellette 1956 kennengelernt hatte. Das Haus
der Lonoffs, 1790 erbaut, war in der Familie seiner Frau von
einer Generation an die nächste weitergegeben worden, und
man konnte es von dem Haus, das ich soeben gekauft hatte,
mit dem Wagen in zehn Minuten erreichen. In diese Gegend
hatte Lonoff sich zurückgezogen, und deshalb suchte ich in-
stinktiv ebenfalls dort Zuflucht – deshalb, und weil ich da-
mals dreiundzwanzig gewesen war und diese Begegnung nie
vergessen hatte.
In der Armee hatte ich gelernt, mit einem Gewehr umzu-
gehen, und so kaufte ich mir in einem Waffengeschäft eine
.22er und verbrachte ein paar Nachmittage damit, im Wald zu
schießen, bis ich wieder einigermaßen treffsicher war. Das
Gewehr und die Munition bewahrte ich im Schrank neben
meinem Bett auf. Ich ließ eine Alarmanlage mit einer direkten
Verbindung zur nächsten Station der Staatspolizei einbauen
und eine Außenbeleuchtung an den Ecken des Hausdachs in-
stallieren, damit das Grundstück nicht im Dunkeln lag, wenn
ich abends nach Hause zurückkehrte. Dann rief ich M.J. an
und erzählte ihr von meinen Maßnahmen. »Vielleicht bin ich
hier draußen gefährdeter, aber bis jetzt fühle ich mich sicherer
und habe weniger Angst als in der Stadt. Ich werde meine
Stadtwohnung noch behalten, aber vorerst bleibe ich hier
draußen, jedenfalls so lange, bis ich keine Drohungen mehr
bekomme.« »Weiß irgend jemand, wo Sie sind?« »Bislang nur
Sie. Ich lasse mir die Post an eine andere Adresse nachschik-
ken.« »Tja«, sagte M.J., »das wäre nicht meine erste Empfeh-
lung gewesen, aber Sie müssen natürlich tun, was Ihnen das
größte Gefühl der Sicherheit gibt.« »Ich werde immer wieder
mal in der Stadt sein, aber hier draußen wohnen.« »Viel
Glück«, sagte sie und fügte hinzu, dass sie meine Akte nun an
das FBI-Büro in Boston werde schicken müssen. Nachdem
sie sich verabschiedet und aufgelegt hatte, wälzte ich mich die
ganze Nacht unruhig im Bett herum und dachte über das
nach, was ich getan hatte, denn ich war überzeugt, dass es
M.J. Sweeney gewesen war, die in der ganzen Zeit, in der ich
die Drohungen erhalten hatte, zwischen mir und der AK-47
des Absenders gestanden hatte.
Auch als schließlich keine Morddrohungen mehr kamen,
blieb ich in meinem Haus auf dem Land. Es war inzwischen zu
meinem Zuhause geworden, und ich lebte dort elf Jahre lang,
schrieb Bücher, hielt mich fit, bekam Krebs, unterzog mich
einer radikalen Therapie und wurde, ohne es zu wissen oder zu
registrieren, mit jedem Tag alter. Die Gewohnheit, allein zu
sein, ohne darunter zu leiden, hatte von mir Besitz ergriffen,
und mit ihr kamen die Freuden, niemandem Rechenschaft
schuldig und frei zu sein – paradoxerweise frei vor allem von
mir selbst. Ich widmete mich tagelang ausschließlich meiner
Arbeit und genoss den Luxus der Zufriedenheit. Einsamkeit,
bittere Einsamkeit war selten und konnte mit Hilfe von
Strategien abgewehrt werden: Überfiel sie mich tagsüber, so
verließ ich den Schreibtisch und machte einen langen
Spaziergang durch den Wald oder am Fluss entlang, kam sie in
der Nacht, dann legte ich das Buch, das ich las, beiseite und
hörte mir etwas an, was meine ganze Aufmerksamkeit
erforderte, beispielsweise ein Quartett von Bartók. So gewann
ich meine Stabilität zurück und machte die Einsamkeit
erträglich. Alles in allem war ein Dasein ohne die
Notwendigkeit, eine Rolle zu spielen, weit besser als eines mit
den Spannungen und Aufregungen, den Konflikten, der Sinn-
losigkeit und dem Abscheu, welche, wenn man altert, die viel-
fältigen Beziehungen, aus denen ein reiches, erfülltes Leben
besteht, ganz und gar nicht erstrebenswert erscheinen lassen.
Ich hielt mich von alldem fern, weil ich mir im Lauf der Jahre
eine Lebensweise zu eigen gemacht hatte, die ich (und nicht
nur ich) für unmöglich gehalten hätte, und darauf war ich
stolz. Ich hatte New York aus Angst verlassen, doch indem ich
Schicht um Schicht meines Lebens abtrug, fand ich in meiner
Abgeschiedenheit eine Art von Freiheit, die mir meist sehr
gefiel.
Ich hatte die Tyrannei meiner Intensität abgeschüttelt –
aber indem ich über ein Jahrzehnt lang für mich allein gelebt
hatte, war ich vielleicht auch nur ihrer strengsten Form er-
legen.
AUF DEM WEG VON MEINEM HOTEL zur West 71th Street
ging ich in ein Spirituosengeschäft und kaufte zwei Flaschen
Wein für meine Gastgeber, dann setzte ich meinen Weg fort,
um mir das Ergebnis dieses Wahlkampfs anzusehen, von dem
ich, zum erstenmal seit 1940, als Willkie von Roosevelt ge-
schlagen worden war und ich begonnen hatte, Wahlkämpfe zu
verfolgen, so gut wie nichts wusste.
Ich war mein Leben lang ein eifriger Wähler gewesen, der
den Republikanern niemals eine Stimme gegeben hatte. Als
Student hatte ich für Stevenson geworben, und meine jugend-
lichen Erwartungen hatten schwere Rückschläge erlitten, als
Eisenhower ihn 52 und 56 vernichtend geschlagen hatte; und
ich hatte meinen Augen nicht trauen wollen, als ich sah, dass
ein so durch und durch pathologischer, offensichtlich betrü-
gerischer und bösartiger Mensch wie Nixon 1968 Humphrey
besiegte und dass in den achtziger Jahren ein von sich selbst
eingenommener Holzkopf von unübertrefflicher Hohlheit,
dessen abgedroschene Phrasen und absolute Blindheit für alle
komplexen historischen Zusammenhänge zum Gegenstand
nationaler Verehrung wurden, als »großer Kommunikator«
gefeiert wurde und bei beiden Wahlen Erdrutschsiege ein-
fuhr. Und gab es je einen Wahlkampf wie den von Gore gegen
Bush, der auf so niederträchtige Weise entschieden wurde, auf
eine Art, die perfekt geeignet war, die letzten verschämten
Reste der Naivität gesetzestreuer Bürger zu beseitigen? Ich
hatte mich kaum je aus parteipolitischen Kämpfen herausge-
halten, doch nachdem ich beinahe ein Dreivierteljahrhundert
lang von amerikanischer Politik in Bann geschlagen worden
war, hatte ich nun beschlossen, mich nicht mehr alle vier
Jahre von den Gefühlen eines Kindes überwältigen zu las-
sen – von den Gefühlen eines Kindes und dem Schmerz eines
Erwachsenen. Jedenfalls nicht, solange ich mich in meinem
Häuschen vergraben konnte, wo es mir gelang, in Amerika zu
sein, ohne mich von Amerika vereinnahmen zu lassen. Ich
schrieb Bücher und befasste mich noch einmal, ein letztes
Mal, mit den ersten großen Schriftstellern, die ich gelesen
hatte – der ganze Rest, der einst so wichtig gewesen war, hatte
seine Bedeutung vollkommen verloren, und ich hatte gut die
Hälfte, wenn nicht sogar mehr, der politischen Werte und
Ziele, die mein Leben bestimmt hatten, über Bord geworfen.
Nach dem 11. September hatte ich all den Widersprüchen den
Rücken gekehrt. Denn sonst, hatte ich mir gesagt, wirst du der
typische verrückte Leserbriefschreiber, der Dorfnörgler, an
dem sich das Syndrom in seiner ganzen Lächerlichkeit
manifestiert: Du wirst beim Lesen der Zeitung schäumen und
wüten, du wirst dich, wenn du abends mit Freunden telefo-
nierst, lautstark über das bösartige Profitdenken ereifern, für
das der authentische Patriotismus der verwundeten Nation
von einem schwachköpfigen König ausgenutzt werden wird –
und das in einer Republik: ein König in einem freien Land,
trotz all der Slogans von Freiheit, mit denen amerikanische
Kinder aufwachsen. Die gnadenlose Verachtung, die einen
gewissenhaften Bürger in der Zeit von George W. Bushs Prä-
sidentschaft auszeichnete, war nichts für jemanden, der ein
starkes Interesse daran entwickelt hatte, als einigermaßen
gelassener Mensch zu überleben – und so begann ich, den
beständigen Wunsch, etwas herauszufinden, nach und nach
abzutöten. Ich kündigte Zeitschriftenabonnements, hörte auf,
die Times zu lesen, und kaufte nicht einmal mehr hin und
wieder eine Ausgabe des Boston Globe, wenn ich hinunter zum
Lebensmittelgeschäft fuhr. Die einzige Zeitung, die ich
regelmäßig las, war der Berkshire Eagle, eine lokale Wochen-
zeitung. Im Fernsehen sah ich mir nur Baseballspiele an, im
Radio hörte ich lediglich Musik, und damit hatte es sich.
Zu meiner Überraschung brauchte ich bloß einige Wo-
chen, um mit der eingefleischten Gewohnheit zu brechen, die
den größten Teil meines nicht auf das Schreiben gerichteten
Denkens geprägt hatte, und mich ganz und gar wohl dabei zu
fühlen, dass ich nicht wusste, was in der Welt geschah. Ich
hatte mein Land aus meinen Gedanken ausgeschlossen und
war meinerseits von allen erotischen Kontakten mit Frauen
ausgeschlossen – infolge einer Kriegsneurose verloren für die
Welt der Liebe. Ich hatte einen Verweis erteilt. Ich hatte mein
Leben und meine Zeit hinter mir gelassen. Oder konzentrierte
mich vielleicht nur auf das Wesentliche. Mein Häuschen hätte
ebensogut auf hoher See dahintreiben können, anstatt in
vierhundert Meter Hohe an einem Feldweg in Massachusetts
zu stehen, eine dreistündige Autofahrt westlich von Boston
und etwa ebensoweit nördlich von New York.
Als ich eintraf, war der Fernseher eingeschaltet, und Billy ver-
sicherte mir, die Wahl sei gelaufen – er stehe in Kontakt mit
einem Freund im Hauptquartier der Demokratischen Partei,
und deren Umfragen zeigten, dass Kerry all die Bundesstaa-
ten gewonnen habe, die er brauche. Billy nahm dankend den
Wein entgegen und sagte, Jamie sei ausgegangen, um etwas zu
essen zu kaufen, und werde gleich wieder zurück sein. Wieder
war er überschwenglich liebenswürdig und verströmte eine
joviale Sanftheit, als läge Autorität ihm noch fern, als würde
sie ihm vielleicht immer fernliegen. Ist er ein Relikt, dachte
ich, oder gibt es sie noch immer, diese jüdischen Jungen aus
der Mittelschicht, durchdrungen von der familientypischen
Empathie, die einen, trotz der unvergleichlichen Befriedi-
gung, die sie durch ihre Geborgenheit vermittelt, den Boshei-
ten seitens weniger freundlicher Menschen schutzlos auslie-
fert? Besonders im literarischen Milieu von Manhattan hätte
ich etwas anderes erwartet als diese von Sanftheit erfüllten
braunen Augen und die vollen, engelsgleichen Wangen, die
ihn zwar nicht wie einen behüteten kleinen Jungen, aber doch
wie einen großzügigen jungen Mann wirken ließen, gänzlich
außerstande, zu verletzen oder verächtlich zu lachen oder
auch nur die kleinste Verantwortung abzulehnen. Ich nahm
an, dass Jamie jemand war, dem die nette Selbstlosigkeit
dieses Mannes, dessen Worte und Gesten ausnahmslos von
seinem Anstand kündeten, nicht annähernd gewachsen war.
Die vertrauensvolle Unschuld, die Milde, das mitfühlende
Verständnis – was für eine Einladung an einen Schurken, der
es darauf anlegte, die Frau zu verführen, deren Untreue für
diesen Mann unvorstellbar war.
Das Telefon läutete, als Billy im Begriff war, eine der
Weinflaschen zu öffnen, und er reichte sie mir, damit ich sie
entkorkte, während er zum Hörer griff und fragte: »Was
s Neues?« Nach einer Sekunde sah er mich an und sagte:
»New Hampshire ist sicher.« Und dann, an den Freund am an-
deren Ende der Leitung gerichtet: »Und Washington, D.C.?«
s acht zu eins für Kerry. Das ist
die Entscheidung – die Schwarzen sind massenhaft zur Wahl
gegangen. Okay, sehr gut«, sagte Billy in den Hörer und
wandte sich, nachdem er aufgelegt hatte, strahlend mir zu.
»Wir leben also doch in einer liberalen Demokratie.« Und
damit wir auf die zunehmende freudige Erregung anstoßen
konnten, schenkte er zwei große Gläser Wein ein. »Diese
Kerle hätten das Land zugrunde gerichtet«, sagte er, »wenn sie
ein zweites Mal gewonnen hätten. Wir hatten ja schon
s überlebt, aber der hier
schlägt alles. Ernsthafte kognitive Defizite. Dogmatisch. Ein
unglaublich beschränkter Dummkopf, der im Begriff war,
etwas sehr Großes zu zerstören. In Macbeth gibt es eine Zeile,
die ihn perfekt beschreibt. Wir lesen uns laut vor, Jamie und
ich. Im Augenblick die Tragödien. Die Stelle ist im dritten Akt,
in der Szene mit Hekate und den Hexen. ›Ein verkehrter
Sohn‹, sagt Hekate, ›trotzig und voll Übermut.‹ Das ist George
Bush in sieben Worten. Es ist alles so ekelhaft. Wenn Sie für
Ihre Kinder und für Gott sind, müssen Sie die Republikaner
wählen – dabei sind diejenigen, die am meisten verarscht
werden, genau diejenigen, die ihn unterstützen. Es ist schon
erstaunlich, dass diese Leute es bei der letzten Wahl geschafft
haben. Und entsetzlich, sich auszumalen, was sie in einer
zweiten Amtszeit gemacht hätten. Das sind schreckliche, böse
Menschen. Aber ihre Arroganz und ihre Lügen haben sie
schließlich doch zu Fall gebracht.«
Mir gingen eigene Gedanken durch den Kopf, und ich ließ
ihn noch ein paar Minuten lang zusehen, wahrend die ersten
Ergebnisse eintrafen, bevor ich ihn fragte: »Wie haben Sie und
Jamie sich eigentlich kennengelernt?«
»Wie durch ein Wunder.«
»Sie haben zusammen studiert.«
Er lächelte überaus freundlich, während er doch, angesichts
meiner Gedanken, besser daran getan hätte, den Dolch zu
zücken, der Duncans Schicksal besiegelte. »Das macht das
Wunder nicht kleiner«, sagte er.
Ich erkannte, dass ich mich nicht aus Angst vor Entdek-
kung zu zügeln brauchte. Offenbar vermochte Billy sich
nicht einmal ansatzweise vorzustehen, dass ein Mann meines
Alters ihn nach seiner jungen Frau fragte, weil er an nichts
anderes mehr denken konnte. Mein Alter führte ihn in die Irre,
und meine Berühmtheit ebenfalls. Wie könnte er einem
Schriftsteller, dessen Werke er in der Highschool gelesen
hatte, so überaus niedrige Beweggründe unterstellen? Es war,
als säße ihm Henry Wadsworth Longfellow gegenüber. Wie
konnte der Verfasser von »Das Lied von Hiawatha« ein un-
züchtiges Interesse an Jamie haben?
Vorsichtshalber galt meine nächste Frage seiner Person.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Familie«, sagte ich.
»Tja, ich bin der einzige in meiner Familie, der liest, aber das
heißt nichts; es sind gute Menschen. Seit inzwischen vier
Generationen in Philadelphia. Mein Urgroßvater hat das Fa-
milienunternehmen gegründet. Er stammte aus Odessa und
hieß Sam. Seine Kunden nannten ihn Onkel Sam, den Regen-
schirmmann. Er hat Schirme hergestellt und repariert. Mein
Großvater hat ins Koffergeschäft expandiert. In den zehner
und zwanziger Jahren fuhr alle Welt mit der Eisenbahn, und
plötzlich brauchte jeder einen Koffer. Und es gab Schiffs-
reisen, transatlantische Schiffsreisen. Es war die Zeit der
Schrankkoffer – Sie wissen schon, diese großen, schweren
Dinger, die man auf lange Reisen mitnahm und wie einen
Schrank öffnete, mit Schubladen und Kleiderbügeln.«
»Ja, die kenne ich«, sagte ich. »Und auch die kleineren, die
horizontal aufgeklappt wurden wie schwarze Piratentruhen. So
einen hatte ich, als ich aufs College ging. Fast jeder hatte so
einen. Diese Koffer waren aus Holz und hatten an den Ecken
Metallbeschläge, und die teureren hatten Bänder aus verzier-
tem Metall, und die Schlösser waren aus Messing und derart
solide, dass sie ein Erdbeben überstanden hätten. So einen
Koffer schickte man per Bahnexpress. Man fuhr damit zum
Bahnhof und gab ihn am Gepäckschalter ab. Der Mann in der
Penn Station in Newark trug damals noch einen grünen Au-
genschirm und hatte sich seinen Bleistift hinters Ohr ge-
klemmt. Er wog den Koffer, denn die Gebühr wurde nach
Gewicht berechnet, und dann gingen die Unterhosen und
Socken auf die Reise.«
»Ja, und in jeder Stadt gab es ein Koffergeschäft, und in
den Warenhäusern gab es Abteilungen, wo man Gepäck-
stücke kaufen konnte. Erst die Stewardessen haben die Ein-
stellung der Amerikaner zu ihrem Gepäck verändert«, sagte
Billy. »Das war in den fünfziger Jahren. Auf einmal sah man,
dass Koffer leicht und chic sein konnten. Ungefähr zu der
Zeit stieg mein Vater ins Geschäft ein, modernisierte den
Laden und änderte den Namen in ›Davidoffs elegantes Ge-
päcks Bis dahin hatte die Firma ›Samuel Davidoff und
Söhne‹ geheißen. Damals kamen auch die ersten Koffer mit
Rädern auf – und das ist, stark gekürzt, die Geschichte der
Gepäckbranche. Die vollständige Version umfasst etwa tau-
send Seiten.«
»Sie schreiben die Geschichte des Familiengeschäfts?«
Er nickte, er zuckte mit den Schultern, er seufzte. »Und
der Familie. Jedenfalls versuche ich es. Ich bin ja sozusagen im
Laden aufgewachsen. Ich habe von meinem Großvater tausend
Geschichten gehört. Jedesmal, wenn ich ihn besuche, schreibe
ich wieder ein Notizbuch voll. Ich hab genug Geschichten für
ein ganzes Leben. Aber e s? Ich
meine, wie man sie erzählt.«
»Und Jamie? Wie ist sie aufgewachsen?«
Er begann zu erzählen, wobei er sich lang und breit über
ihre Leistungen ausließ: von Kinkaid, der exklusiven Privat-
schule in Houston, die sie als Jahrgangs beste abgeschlossen
hatte, von ihrer steilen akademischen Karriere in Harvard, wo
sie den Abschluss mit summa cum laude gemacht hatte, von
River Oaks, dem vornehmen Viertel von Houston, wo ihre
Familie lebte, vom Houston Country Club, wo sie Tennis ge-
spielt hatte und geschwommen und gegen ihren Willen beim
Debütantinnenball in die Gesellschaft eingeführt worden war,
von ihrer spießigen Mutter, der sie es so gern recht machen
wollte, und ihrem schwierigen Vater, dem sie es nie recht
machen konnte, von ihren Lieblingsplätzen, die sie Billy ge-
zeigt hatte, als sie zum ersten Mal gemeinsam nach Houston
gefahren waren, um mit der Familie Weihnachten zu feiern,
von den Orten, wo sie als kleines Mädchen gespielt hatte und
die er hatte sehen wollen, und von der bedrohlichen Schönheit
der hässlichen Bayous, der Altwasser von Houston, bei Son-
nenaufgang und wie Jamie mit ihrer wilden älteren Schwester,
die, wie er sagte, das Wort wie die alten Einwohner von Hou-
ston »Buy-ohs« aussprach, trotzig in dem trüben Wasser ge-
schwommen war.
Ich hatte ihn lediglich gebeten, mir von ihr zu erzählen,
doch was ich bekommen hatte, war eine Rede, die zur feier-
lichen Einweihung eines großen Gebäudes gepasst hätte. An
dieser ausgeprägt zärtlichen Darbietung war nichts Sonder-
bares – ein bis über beide Ohren verliebter Mann kann, wenn
die Frau seines Herzens in Buffalo aufgewachsen ist, diesen
Ort in ein Xanadu verwandeln –, doch die Begeisterung für
Jamie und ihre Kindheit in Texas war derart ungebremst, dass
es war, als erzählte er mir von einer Frau, die er sich im Ge-
fängnis erträumt hatte. Oder von der Jamie, die ich mir im
Gefängnis erträumt hatte. Es war so, wie es bei vollendeter
männlicher Hingabe zu sein hatte: Die Verehrung für seine
Frau war seine stärkste Bindung an das Leben.
Als er mir von der Strecke erzählte, die sie gemeinsam
joggten, wenn sie Jamies Familie besuchten, wurde er regel-
recht elegisch:
»River Oaks – das ist das Viertel, in dem Jamies Eltern
wohnen – ist völlig untypisch für Houston. Ein altes Viertel
mit alten Häusern, obwohl auch ein paar schöne abgerissen
worden sind, um Platz für Fertighäuser zu machen. Es ist
eines der wenigen Viertel in Houston, wo man noch ein Ge-
fühl für die Vergangenheit hat. Schöne Häuser, alte Eichen,
Magnolien, ein paar Kiefern. Riesige, gutgepflegte Gärten.
Gärtnerkolonnen. Alles Mexikaner. Donnerstags und freitags
stehen an den Straßen dicht an dicht die Pick-ups der
Gartenbaufirmen, und Armeen von Arbeitern schneiden und
schnippeln und mähen und pflanzen für das Wochenende, für
die Partys und Feiern, die dann stattfinden. Wir joggen immer
durch den älteren Teil von River Oaks, wo die Ölfamilien seit
zwei, drei Generationen ihre riesigen Grundstücke haben, an
den älteren Häusern vorbei und an einer ziemlich befahrenen
Straße entlang, und dann kommen wir an ein Altwasser, das
von River Oaks durch einen Park verläuft, in dem man kilo-
meterlang bis fast zur Innenstadt joggen kann. Oder am
Bayou entlang und wieder zurück. Kurz nach Sonnenaufgang
ist es noch kühl, und die Gegend ist wunderschön. Der ru-
hige, diskrete Teil von River Oaks, wo die Leute nicht mit
ihrem Reichtum angeben und ihre vielen Mercedes-Limousi-
nen vor ihren neuen, protzigen Häusern parken, ist wirklich
schön. Es gibt dort einen Rosengarten, der uns besonders ge-
fällt und um den die Anwohner sich gemeinschaftlich küm-
mern. Ich liebe es, morgens mit Jamie an diesem Rosengarten
vorbeizujoggen. Einige der alten Anwesen grenzen an das
Wasser, und wenn man zum Bayou will, um daran entlangzu-
laufen, muss man River Oaks verlassen. Und dann ist da noch
der Rest von Houston. River Oaks ist eine Insel, ein wohlha-
bender Rückzugsort, wo sich gleich zu gleich gesellt, das alte
Geld und das neue Geld, die Familien an der Spitze des Ka-
stensystems von Houston, und der Rest der Stadt ist größten-
teils bloß heiß und feucht und flach und hässlich: Tätowier-
studios neben Bürohäusern, Geschäfte für Joggingschuhe
neben baufälligen Mietskasernen, alles irgendwie zusammen-
gewürfelt. Das Schönste in der Stadt ist in meinen Augen der
alte Friedhof mit den alten immergrünen Eichen, wo ein paar
von Jamies Vorfahren beerdigt sind, gleich neben den Bayous,
beinahe in der Innenstadt.«
»Ist das Geld in Jamies Familie alt oder neu?« fragte ich
Billy.
»Alt. Das alte Geld kommt aus dem Ölgeschäft, das neue
aus selbständiger Arbeit.«
»Und wie alt ist das alte Geld?«
»Ach, nicht so alt, denn Houston ist relativ jung. Es
stammt aus der Zeit der Ölmagnaten, wann immer das war.
Jamies Großvater war einer von ihnen.«
»Und wie reagierte das alte Houstoner Geld auf die Tatsa-
che, dass Sie Jude sind?« fragte ich.
»Ihre Eltern waren nicht begeistert. Die Mutter hat nur
geweint. Aber der Vater hat den Vogel abgeschossen. Als
Jamie sie besuchte und ihnen sagte, dass wir uns verlobt hät-
ten, stützte er den Kopf in die Hände, und das tat er von da
an jedesmal, wenn mein Name fiel. Sie schrieb ihm E-Mails
von der Ostküste, die er drei, vier Wochen lang nicht be-
antwortete, mit voller Absicht. Sie sah einmal pro Stunde
nach, aber er antwortete ihr nicht. Ein wirklich fieser Tyrann,
dieser Typ. Die Karikatur eines Vaters. Egoistisch. Gedan-
kenlos. Cholerisch. Vollkommen irrational. Dominierend.
Giftig. Ein durch und durch widerwärtiger, ungehobelter
Scheißkerl. Das muss man sich vorstellen: Indem er ihr nicht
antwortet, versucht er, seine eigene Tochter zu brechen, nutzt
bewusst und mit voller Überzeugung den Anstand seiner
Tochter aus, um ihr das Gefühl zu geben, im Unrecht zu sein.
Will sie kleinkriegen. Und mich natürlich auch. Wir waren
einander noch gar nicht begegnet, und doch wollte er mir weh
tun. Und wer hätte mir je absichtlich weh tun wollen? Meines
Wissens niemand, Mr. Zuckerman. Aber dieser brutale Kerl
glaubt, völlig selbstverständlich das Recht zu haben, dem
Mann weh tun zu dürfen, den seine Tochter zufällig liebt!
Jamie ist eine gute Tochter, eine sehr gute Tochter – sie hat
sich alle Mühe gegeben, diesen Menschen zu lieben, der im-
mer im Unrecht war, sie hat sich bemüht, sosehr sie nur
konnte, obwohl sie es gehasst hat, wie er ihre Mutter herum-
kommandiert hat, obwohl ihr seine politischen Ansichten
und seine arroganten rechten Freunde zuwider waren. Ein-
mal hat er ihr nach dreiwöchigem Schweigen eine E-Mail ge-
schickt, die nur aus einem Satz bestand: ›Ich liebe dich, mein
Schatz, aber ich kann diesen Mann nicht akzeptieren.‹ Aber
Jamie hat Mumm, sie hat Mumm und Würde, und obwohl ihr
Alter auf dem Geldsack saß und – nicht mal besonders zart –
angedeutet hatte, dass er ihr, sollte sie tatsächlich einen Juden
heiraten, den Hahn zudrehen würde, hat sie nicht nachgege-
ben. Sie hat durchgehalten, und schließlich stand dieses bi-
gotte Arschloch vor der Wahl, entweder seine Feindseligkeit
hinunterzuschlucken und sich mit mir abzufinden oder sein
geliebtes Summa-cum-laude-Töchterchen zu verlieren. Eine
schwächere Fünfundzwanzigjährige, eine, die nicht Jamies Mut
und Selbständigkeit besitzt, hätte kapituliert. Aber Jamie ist
nicht schwach. Jamie ist nicht verzogen, sie verstellt sich nicht,
sie hat Ehrgefühl und würde sich nie und nimmer in etwas
fügen, was ihr gegen den Strich geht. Jamie ist die Beste. Sie
hat zu mir gesagt: ›Ich liebe dich, und ich will dich, und ich
werde nicht die Sklavin seines Geldes sein.‹ Sie hat ihm
praktisch gesagt, er soll sein Geld nehmen und es sich sonst-
wohin schieben, und so hat sie schließlich ihn kleingekriegt.
Ach, Mr. Zuckerman, es war so schon zu sehen, wie Jamie
durchgehalten hat. Obwohl man hätte meinen sollen, dass ihr
Vater sich bis zu dem Zeitpunkt, als sie mich kennengelernt
hat, daran gewöhnt haben sollte. Mit ›daran‹ meine ich Jamie
und Juden. Der Country Club dort unten nimmt inzwischen
auch Juden auf. Zu Zeiten ihres Großvaters wäre das undenk-
bar gewesen, auch vor fünfzehn Jahren noch, in der Generation
ihrer Eltern. Das ist alles noch ziemlich neu. Dass Juden
und Schwarze in Kinkaid aufgenommen werden. Alles noch
relativneu. Jamies Klassenkameradinnen waren jüdische Mäd-
chen. Sie können sich vorstellen, was dieser Choleriker davon
hielt. Aber sie waren intelligent und talentiert und versuchten
nicht, das zu verbergen, nur um sich beliebt zu machen. Eine
von Jamies Freundinnen hatte einen Bruder – Nelson Speil-
s School besuchte, die andere renom-
mierte Privatschule in Houston –, und der war zwei Jahre lang
ihr Freund, bis er, in dem Jahr bevor sie in Kinkaid ihren Ab-
schluss machte, nach Princeton ging. Jamie war eine sehr flei-
ßige Schülerin in einem behüteten Umfeld, wo gesellschaft-
liche Anerkennung das Allerwichtigste ist. Es ist eine Schule,
wo die Footballmannschaft die Schönheitskönigin für die all-
jährliche Versammlung der Ehemaligen wählt und sich kein
Mädchen mit einem Jungen sehen lassen darf, der auf eine
staatliche Schule geht – s
sein. Die Jungen auf der Kinkaid fahren Broncos und gehen auf
die Jagd und sehen sich Sportsendungen an, alle wollen auf
die University of Texas und trinken wie verrückt, und die
Eltern drücken bei diesen Besäufnissen beide Augen zu.«
»Sie wissen eine Menge über ihre Schule. Sie wissen auch
eine Menge über ihre Heimatstadt.«
»Ich bin fasziniert«, sagte er und lachte. »Bin ich wirklich.
Ich bin Jamies Herkunft hilflos ausgeliefert.«
»Und mit anderen Freundinnen, die Sie früher hatten, ist
Ihnen das nicht passiert?«
»Nein, nie.«
»Tja«, sagte ich, »als Heiratsgrund ist das wahrscheinlich
nicht der schlechteste.«
»Ach«, sagte er scherzend, »es gibt schon noch ein paar
andere.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich.
»Ich bin die ganze Zeit stolz auf sie. Wissen Sie, was sie
vor vier Jahren gemacht hat, als Jessie, die wilde ältere Schwe-
ster, im Endstadium der Charcot-Krankheit war? Sie hat ihre
Sachen gepackt, ist nach Houston geflogen und hat Jessie bis
zu ihrem Tod gepflegt. Ist fünf schreckliche, elende Monate
Tag und Nacht bei ihr gewesen, während ich hier in New
York war. Es ist eine furchtbare Krankheit. Normalerweise
kriegt man sie erst mit über fünfzig, aber Jessie war erst drei-
ßig, als ihre Hände und Füße plötzlich schwächer wurden
und die Diagnose gestellt wurde. Im Verlauf der Krankheit
werden alle motorischen Nervenbahnen zerstört, aber weil das
Gehirn davon ausgespart bleibt, ist der Patient sich der
Tatsache, dass er ein lebender Leichnam ist, vollkommen be-
wusst. Als es zu Ende ging, konnte Jessie nur noch die Lider
bewegen, und so hat sie dann mit Jamie kommuniziert: durch
Zwinkern. Fünf Monate lang ist Jamie nicht von ihrer Seite
gewichen. Nachts hat sie in Jessies Zimmer geschlafen. Die
Mutter war schon kurz nach der Diagnose zusammengebro-
chen und zu nichts zu gebrauchen, und der Vater blieb sich
von Anfang bis Ende treu: Er wollte nichts mit einer Tochter
zu tun haben, die ihm Ungclegenheiten bereitete, indem sie
eine tödliche Krankheit bekommen hatte. Er kümmerte sich
nicht um sie, und nach einer Weile wollte er nicht mal mehr
ihr Zimmer betreten, um sie mit väterlichen Worten zu trö-
sten, geschweige denn sie zu berühren oder ihr einen Kuss zu
geben. Er verdiente einfach weiter Geld, als wäre zu Hause al-
les in schönster Ordnung, während seine sechsundzwanzig-
jährige jüngere Tochter seiner vierunddreißigjährigen älteren
Tochter beim Sterben half. Aber an dem Abend, bevor das ge-
schah, an dem Abend, bevor Jessica schließlich ihrer Krankheit
erlag, saß er mit Jamie in der Küche, wo ein Dienstmädchen
ihnen etwas zu essen machte, und brach mit einemmal
zusammen. In der Küche brach er endlich zusammen und be-
gann zu weinen wie ein Kind. Er klammerte sich an Jamie, und
wissen Sie, was er zu ihr sagte? ›Wenn es doch mich treffen
würde anstatt Jessie!‹ Und wissen Sie, was Jamie ihm ge-
antwortet hat? ›Ja, wenn es doch dich treffen würde.‹ Das ist
die Frau, in die ich mich verliebt habe. Das ist die Frau, die ich
geheiratet habe. Das ist Jamie.«
Als Jamie mit den Tüten voller Lebensmittel durch die Tür
trat, sagte sie: »Auf der Straße hat mir jemand gesagt, dass
Ohio nicht so gut aussieht.«
»Ich hab gerade mit Nick gesprochen«, sagte Billy. »Kerry
wird Ohio gewinnen.«
Sie wandte sich zu mir. »Ich weiß nicht, was ich mache,
wenn Bush wiedergewählt wird. Es wäre das Ende einer
bestimmten Art von politischem Leben. Diese Leute richten
ihre ganze Intoleranz gegen eine liberale Gesellschaft. Die
Werte des Liberalismus werden weiter in ihr Gegenteil ver-
kehrt. Das wird schrecklich. Ich glaube nicht, dass ich damit
leben kann.«
Während sie dies atemlos sagte, hatte Billy ihr die Tüten
abgenommen und war in die Küche gegangen, um die Sachen
einzuräumen.
»Wir haben von unseren Vätern ein sehr anpassungsfähi-
ges System geerbt«, sagte ich. »Es ist erstaunlich, wieviel wir
verkraften.«
Sie schien meinen Versuch, sie zu trösten, herablassend zu
finden und reagierte auf diesen eingebildeten Affront
beinahe bissig. »Haben Sie jemals eine Wahl wie diese erlebt?
Eine von solcher Tragweite?«
»Ja, einige. Diesen Wahlkampf habe ich nicht verfolgt.«
»Nicht?«
»Das habe ich Ihnen neulich abend schon gesagt: Um solche
Dinge kümmere ich mich nicht.«
»Dann ist es Ihnen also egal, wer gewinnt.« Sie bedachte
mich mit einem strengen Blick der Missbilligung für meine
gewollte Unwissenheit.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Das sind schreckliche, böse Menschen«, sagte sie – die-
selben Worte, die ihr Mann benutzt hatte. »Ich kenne sie. Ich
bin unter ihnen aufgewachsen. Es wäre nicht bloß schade,
wenn sie gewinnen würden – es könnte sich als Tragödie er-
weisen. Die Hinwendung nach rechts, die dieses Land erlebt,
ist der Versuch, politische Institutionen durch Moral zu erset-
zen – durch ihre Moral. Sex und Gott. Fremdenfeindlichkeit.
Eine Kultur totaler Intoleranz ...«
Sie war zu erregt von der bedrohlichen Welt, in der sie
lebte, um sich zu bremsen oder mir gegenüber, aus welchem
Grund auch immer, wirklich höflich zu sein, und so hörte ich
ihr zu, ohne noch einmal den törichten Versuch zu unterneh-
men, mich auf die ritterliche Suche nach dem Heiligen Gral
ihrer Aufmerksamkeit zu machen. Der Anblick ihres schlan-
ken, vollbusigen Körpers und des Vorhangs aus schwarzem
Haar gefiel mir nicht weniger als an dem Abend, an dem ich
mir die Wohnung angesehen hatte. Als sie vom Einkaufen
nach Hause gekommen war, hatte sie ein weinrotes engge-
schnittenes Kordjackett getragen, das sie, wie ihre flachen
dunkelbraunen Stiefel, ausgezogen hatte, nachdem Billy mit
den Tüten in der Küche verschwunden war. Darunter trug sie
einen gerippten schwarzen Rollkragenpullover aus Kasch-
mirwolle, der so eng saß wie die dunklen Jeans, deren Beine
etwas ausgestellt waren, vermutlich wegen der Stiefel. Dann
hatte sie ein Paar flache Slipper angezogen, die wie Ballett-
schuhe aussahen. Obgleich ihre Berechnung subtil war,
wirkte Jamie nicht, als verfolgte sie mit der Art, wie sie sich
kleidete, unbedingt unschuldige Ziele oder als mangelte es ihr
an Vertrauen in ihr Vermögen, männliche Bewunderung zu
wecken. Kümmerte es sie einen Deut, ob ich so beeindruckt
war wie andere? Wenn nicht, warum hatte sie sich dann so
verführerisch gekleidet, da sie doch nur einkaufen und den
Ausgang der Wahl im Fernsehen verfolgen wollte? Vielleicht
hätte aber auch jeder andere unbekannte Gast sie bewo-
gen, etwas Attraktives anzuziehen. Wie auch immer, dem
Zauber ihrer Erscheinung entsprach der ihrer Stimme, die,
obwohl sie schnell sprach, warm und melodisch klang, selbst
wenn sie sich aufregte, und eine Menge Texas oder ihres
Teils von Texas enthielt: Die Vokale waren entspannt, die
Diphthonge klangen weich, und sie zog die Worte mit einer
gewissen Trägheit zusammen, so dass jedes sich mit dem
folgenden verband. Es war nicht jenes ins Ohr stechende Nä-
seln, nicht der Wildwest-Akzent, den George W Bush kulti-
vierte, sondern vielmehr die gehobene texanische Sprech-
weise, die mehr an die alten Südstaaten erinnerte und die sein
aus dem Norden stammender Vater sich zugelegt hatte. Es lag
eine gewisse Vornehmheit darin, ganz gewiss aus Jamie Lo-
gans Mund. Vielleicht war es einfach der Akzent, den man in
den besseren Vierteln von River Oaks und in der Kinkaid
School sprach.
Ich war ebenso froh wie Billy, dass sie nach Hause gekom-
men war. Es spielte keine Rolle, ob ihre Kleidung etwas mit
meinem Besuch zu tun hatte oder nicht. Die Entschiedenheit,
mit der sie keine weitere Notiz von mir nahm, hatte etwas
enorm Erregendes. Es gibt keine Situation, aus der Vernarrt-
heit keinen Gewinn zieht. Bei Jamies Anblick durchfuhr
mich ein Ruck – ich ließ sie in meine Augen ein, wie ein
Schwertschlucker ein Schwert schluckt.
»Du wirst nicht am Boden zerstört sein. Du wirst auf den
Straßen tanzen«, sagte Billy, als wollte er ein krankes Kind
trösten.
»Nein«, erwiderte sie, »nein, dieses Land ist eine Zuflucht
der Unwissenheit. Ich muss es wissen – ich stamme von daher,
wo sie ihren Ursprung hat. Bush spricht genau den unwissen-
den Kern der Bevölkerung an. Amerika ist ein sehr rückstän-
diges Land, die Leute lassen sich so leicht an der Nase herum-
führen, und er ist genau wie ein Jahrmarktschreier ...« Sie hatte
wohl seit Monaten ihre düsteren, wütenden Gedanken laut
ausgesprochen und verstummte nun für einen Augenblick,
und ich fragte mich, ob sie jemand war, der gar nicht wusste,
wie man etwas unernst sagte, oder ob diese Wahl alles andere
überschattete und ich im Augenblick keine Vorstellung davon
haben konnte, wie Jamie war, wenn nichts sie bedrängte, und
ich fragte mich auch, ob ihre Reaktion auf die große Welt je
anders als schmerzlich intensiv war.
Wir setzten uns mit den Tellern, dem Besteck und den Lei-
nenservietten, die Billy ausgeteilt hatte, an den Couchtisch,
nahmen das Essen von den Servierplatten und ließen, wäh-
rend wir meine beiden mitgebrachten Flaschen Wein leerten,
den Bildschirm nicht aus den Augen, wo die ausgezählten
Ergebnisse Bundesstaat für Bundesstaat aufgelistet wurden.
Kurz nach zehn wurden Nicks Anrufe aus dem Hauptquar-
tier der Demokratischen Partei weniger optimistisch, und um
Viertel vor elf klang er offenbar regelrecht niedergeschlagen.
»Die Umfragen geben ein falsches Bild«, sagte Billy, nachdem
er aufgelegt hatte. »In Ohio sieht es nicht gut aus, und er wird
Iowa und New Mexico verlieren. Florida hat er schon
verloren.«
Das wussten wir bereits aus dem Fernsehen, doch Jamie
traute den Tabellen im Wahlstudio nicht, und so brachte erst
dieser Anruf sie, die schon ein wenig betrunken war, zum
Weinen. »Das ist jetzt also die Nacht, bevor alles noch schlim-
mer wird! Ich weiß nicht, was ich denken soll!« Und ich
dachte: Irgendwann wird sie kapitulieren, aber bis dahin wird
die große Schwierigkeit darin bestehen, die Illusionen zu
vertreiben. Bis dahin wird sie schmerzerfüllt um sich schla-
gen oder sich verstecken wie ein verletztes Tier. In meinem
Haus. In diesen Kleidern. In keinen Kleidern. In meinem
Bett, neben Billy, nackt.
»Ich weiß nicht, was ich denken soll!« rief sie abermals.
»Jetzt kann sie nichts mehr aufhalten, nur noch Al Qaida.«
»Schatz«, sagte Billy sanft, »wir wissen ja noch gar nicht,
s ab.«
»Ach, die Welt ist so dumm«, rief Jamie mit Tränen in den
Augen. »Letztes Mal sah es so aus, als wäre es einfach bloß
Pech gewesen. Da war Florida, und da war Nader. Aber das
s nicht glauben! Es ist
unglaublich! Ich werde eine Abtreibung machen lassen, egal,
ob ich schwanger bin oder nicht. Lasst abtreiben, solange ihr
noch dürft!«
Als sie diesen bitteren Witz machte, sah sie mich an, ohne
Antipathie jetzt – sie sah mich an wie jemanden, den man ge-
rade aus einem brennenden Haus oder einem Unfallwagen
gerettet hat, als wäre man als unbeteiligter Beobachter im-
stande, etwas zu sagen, was diese alles verändernde Kata-
strophe erklären könnte. Doch das, was mir einfiel, wäre ihr
wahrscheinlich nur wie Gewäsch erschienen. Ich dachte
daran, noch einmal zu sagen: Es ist erstaunlich, wieviel wir
verkraften. Ich dachte daran zu sagen: Wenn man in Amerika
so denkt wie Sie, wird man in neun von zehn Fällen scheitern.
Ich dachte daran zu sagen: Das ist schlimm, aber nicht so
schlimm, wie nach der Bombardierung von Pearl Harbor auf-
zuwachen. Es ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie am
Morgen nach Kennedys Ermordung aufzuwachen. Es ist
schlimm, aber nicht so schlimm, wie am Morgen nach der
Ermordung von Martin Luther King aufzuwachen. Es ist
schlimm, aber nicht so schlimm, wie am Morgen nach der Er-
schießung der Studenten an der Kent State University aufzu-
wachen. Ich dachte daran zu sagen: Wir alle haben so etwas
durchmachen müssen. Doch ich sagte nichts. Sie wollte ohne-
hin keine Worte. Sie wollte Mord. Sie wollte am Morgen nach
der Ermordung von George Bush aufwachen.
Es war Billy, der sagte: »Irgend etwas wird ihr Untergang
sein, Schatz. Terror wird ihr Untergang sein.«
»Ach, wozu damit leben?« sagte Jamie, und ihre Verzweif-
lung war so groß, ihre Verletzlichkeit lag so dicht unter der
Oberfläche, dass sie zu schluchzen begann.
Ihre beiden Handys begannen zu läuten: Grausam ent-
täuschte Freunde riefen an, viele von ihnen ebenfalls in Trä-
nen. Das letzte Mal hatte es, wie Jamie gesagt hatte, so aus-
gesehen, als wäre es einfach bloß Pech gewesen, doch dies war
der zweite schwere Wahlschock für ihren Idealismus, und nun
dämmerte ihnen die unbarmherzige Erkenntnis, dass sie dieses
Land nicht durch bloße Willenskraft in das Bollwerk eines
Rooseveltschen Liberalismus zurückverwandeln konnten, das
es vierzig Jahre vor ihrer Geburt gewesen war. Trotz ihrer
Intelligenz, ihrer Artikuliertheit, ihres Savoir-faire und jamies
Vertrautheit mit dem reichen republikanischen Amerika und
der Unwissenheit, wie man sie in Texas fand, hatten sie keine
Ahnung, welcher Art die Menschen waren, die die große Masse
der Amerikaner ausmachten, und ebensowenig war ihnen
zuvor so deutlich bewusst gewesen, dass es nicht die
Gebildeten wie sie selbst waren, die den Kurs des Landes
bestimmten, sondern die vielen Millionen, die anders waren
als sie, deren Lebenswelt sie nicht kannten und die Bush ein
zweites Mal Gelegenheit gegeben hatten, »etwas sehr Großes
zu zerstören«, wie Billy es ausgedrückt hatte.
Ich saß da, in meinem künftigen Zuhause, wo ich bald jeden
Morgen erwachen würde, und hörte den beiden zu, die bald
jeden Morgen in meinem Haus erwachen würden, einem Ort,
wo man, wenn man wollte, die Wut darüber, wieviel
schlimmer alles war, als man gedacht hatte, und den Kummer
darüber, wie tief das Land gesunken war, auslöschen und, so-
fern man jung, hoffnungsvoll, engagiert und noch immer in
seine Erwartungen verliebt war, lernen konnte, wie man auf-
hörte, sich über Amerika im Jahr 2004 Sorgen zu machen, wie
man lebte, anstatt ständig in Wut über Dummheit und Ver-
dorbenheit zu geraten, wo man lernen konnte, in Büchern,
Musik, seinem Partner, seinem Garten Erfüllung zu finden.
Ich sah diesen beiden zu und verstand ohne große Mühe,
warum Menschen in ihrem Alter und mit ihrem Engagement
vor diesem grausamen Liebhaber, in den ihr Land sich ver-
wandelt hatte, fliehen wollten.
»Terrorismus?« rief Jamie in ihr Telefon. »Aber alle Staa-
ten, die davon betroffen waren, alle Staaten, wo irgendwas
passiert ist oder wo Menschen lebten, die getötet worden
sind, haben für Kerry gestimmt! New York, New Jersey,
Washington, D.C., Maryland, Pennsylvania – keiner davon
ist an Bush gegangen! Sieh dir die Staaten östlich des Mis-
sissippi an – es sind die Nordstaaten gegen die Südstaaten.
Dieselbe Trennung. Bush hat in den alten Südstaaten ge-
wonnen!«
»Willst du wissen, wo der nächste ekelhafte Krieg stattfin-
den wird?« fragte Billy seinen Gesprächspartner. »Sie brau-
chen einen Sieg. Sie brauchen einen schönen, glatten Sieg
ohne irgendeine schmutzige Besatzung. Tja, und die Gele-
genheit dazu liegt hundertfünfzig Kilometer vor der Küste
von Florida. Sie werden Castro mit Al Qaida in Verbindung
bringen und Kuba den Krieg erklären. Die provisorische Re-
gierung sitzt ja schon in Miami. Die Besitz Verhältnisse sind
s ab. In ihrem
Krieg gegen die Ungläubigen kommt als nächstes Kuba dran.
Wer soll sie schon aufhalten? Sie brauchen Al Qaida ja nicht
s nur auf noch mehr Gewalt abgesehen, und
Kuba ist für sich schon kriminell genug. Die Leute, die ihn ge-
wählt haben, werden begeistert sein. Die letzten Kommunisten
werden ins Meer getrieben.«
Ich blieb lange genug, um noch zu hören, wie sie mit ihren
Eltern telefonierten. Sie waren inzwischen so erschöpft, dass
sie sich nur noch wünschten, sie hätten Eltern, bei denen sie
ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnten und getröstet
wurden. Sie waren pflichtbewusste Kinder, und als der Au-
genblick gekommen war, riefen sie an, wie es sich gehörte,
doch Jamies Eltern waren, wie ich von Billys Schilderung des
Houston, in dem Jamie aufgewachsen war, wusste, Mitglieder
im selben Country Club wie George Bush senior, und so be-
mühte Jamie sich umsonst, nicht zu vergessen, dass sie eine
verheiratete Frau war, die beinahe zweitausend Kilometer von
dem Ort entfernt lebte, wo sie als privilegiertes Mädchen von
erzkonservativen Texanern indoktriniert worden war, allen
voran von ihrem Vater, den sie vor allem wegen seiner
unerträglichen Gleichgültigkeit gegenüber ihrer sterbenden
Schwester verachtete und dem sie sich offen und hartnäckig
widersetzt hatte, indem sie gegen seinen Willen einen Juden
geheiratet und ihn herausgefordert hatte, sie zu enterben.
Sie war inzwischen weit mehr als eine schöne Frau, die Ich
betrachtete. Ihre Stimme verriet, wie mitgenommen sie war,
nicht zuletzt dadurch, dass ihre Eltern zu den Menschen ge-
hörten, die ihr liberales Gewissen nicht ertragen konnte, und
doch war sie ihre Tochter und hielt es offenbar für wichtig,
ihnen von ihrem Kummer zu erzählen. Jamies Stimme kündete
sowohl von der starken Verbindung zwischen ihr und ihren
Eltern als auch von ihrem heftigen Kampf dagegen. Man
konnte hören, was es sie gekostet hatte, sich zu einem neuen
Menschen zu machen, und was es ihr gebracht hatte.
Billys Eltern in Philadelphia waren ihm keineswegs ent-
fremdet, sie waren nicht seine Gegner oder Objekte seiner
Verachtung, sondern standen ihm offensichtlich sehr nahe.
Dennoch schüttelte er, als er den Hörer aufgelegt hatte, den
Kopf und musste sein halbvolles Glas Wein austrinken, bevor
er etwas sagen konnte. Sein sanftes Gesicht konnte über die
Ernüchterung und Erniedrigung nicht hinwegtäuschen, und
sein empfindsames Herz, das stets offen war für die Gefühle
anderer, ließ nicht zu, dass er seinem Widerwillen Luft
machte, was den Schmerz ein wenig gelindert hätte. Ein emp-
findsames Herz war nicht das, was dieser Augenblick erfor-
derte, und Billy war ratlos. »Mein Vater hat Bush gewählt«,
sagte er so entgeistert, als hätte er soeben erfahren, dass sein
Vater eine Bank ausgeraubt hatte. »Meine Mutter hat es mir
gesagt. Als ich sie fragte, warum, sagte sie: ›Israel.‹ Sie hatte
ihm eingeschärft, Kerry zu wählen, und dann kommt er aus
der Kabine und sagt: › s für Israel getan.‹ Meine Mut-
ter hat gesagt: ›Ich hätte ihn umbringen können. Er glaubt
noch immer, dass sie irgendwelche Massenvernichtungswaf-
fen finden.«
Als ich wieder im Hotel war, schrieb ich diese kleine Szene:
ER Sie haben mir gar nicht gesagt, dass wir uns schon mal be-
gegnet sind.
SIE Ich dachte, es wäre nicht weiter wichtig. Ich dachte, Sie
würden sich nicht erinnern.
ER Ich dachte, Sie würden sich nicht erinnern.
SIE Nein, ich erinnere mich.
ER Wissen Sie noch, wo das war?
SIE In der Signet Society.
ER Genau. Erinnern Sie sich an den Tag?
SIE Ja, sehr gut. Ich war Mitglied der Signet Society, aber ich
bin nicht oft zum Mittagessen dorthin gegangen. Eine
Freundin hatte mich angerufen und gesagt, sie hätte Sie für
den nächsten Tag zum Mittagessen eingeladen, aber sie
wüsste nicht, ob Sie erscheinen würden, obwohl Sie
zugesagt hätten, und ich sollte doch auch kommen. Also bin
ich hingegangen. Ich habe Richard mitgenommen, und
dann hatte ich das Glück, an Ihrem Tisch zu sitzen und
nicht an dem nebenan. Ich hab mich hingesetzt, und dann
kamen Sie und haben sich an den Tisch gesetzt, und ich
habe Sie während des ganzen Mittagessens angesehen.
ER Sie haben nichts gesagt, sondern mich nur angestarrt.
SIE (lacht entschuldigend) Tut mir leid, dass ich so aufdringlich
war.
ER Ich habe zurückgestarrt. Und zwar nicht nur in Selbstver-
teidigung. Erinnern Sie sich daran?
SIE Ich dachte, das hätte ich mir nur eingebildet. Ich konnte
nicht glauben, dass ich tatsächlich eine Reaktion hervor-
rufen würde. Ich konnte nicht glauben, dass Sie Notiz von
mir nehmen würden. Ich dachte, Sie wären unnahbar. Sie
erinnern sich wirklich, dass Sie mir gegenübersaßen?
ER Es ist ja erst zehn Jahre her.
SIE Zehn Jahre sind eine lange Zeit, um sich an jemanden zu
erinnern, mit dem man gar nicht gesprochen hat. Welchen
Eindruck habe ich auf Sie gemacht?
ER Ich wusste nicht, ob Sie schüchtern waren oder bloß eine
heiter-gelassene Zurückhaltung besaßen.
SIE Beides.
ER Waren Sie am Abend zuvor bei der Lesung?
SIE Ja. Ich weiß noch, dass wir uns nach dem Mittagessen auf
die Ledersofas im Wohnzimmer gesetzt haben. Ungefähr
die Hälfte von uns ist geblieben. Ich dachte: Was für eine
unangenehme Situation muss das für diesen Mann sein. Wir
alle drängen uns um ihn und warten darauf, dass er etwas
sagt, damit wir nach Hause gehen und es in unser Tagebuch
schreiben können.
ER Und sind Sie nach Hause gegangen und haben etwas in Ihr
Tagebuch geschrieben?
SIE Ich muss mal nachsehen. Das könnte ich tun. Wenn Sie
wollen, könnte ich nachsehen. Ich bewahre alle meine Ta-
gebücher auf. Wie fanden Sie damals diesen Tag?
ER Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn damals fand. Eine sol-
che Bitte war jedenfalls nichts Ungewöhnliches. Mei-
stens fragte man mich, ob ich eine Seminarsitzung leiten
würde. Das tat ich dann, und anschließend fuhr ich nach
Hause. Warum haben Sie es neulich, bei unserer Begeg-
nung, nicht erwähnt?
SIE Warum sollte ich erwähnen, dass ich Sie bei einem Mit-
tagessen angestarrt habe? Ich weiß nicht – ich wollte es
nicht geheimhalten. Wir tauschen die Wohnungen. Ich
habe keinen Grund gesehen, darüber zu sprechen, dass
ich im College mal in einem Hörsaal gesessen und Sie an-
gestarrt habe. Warum waren Sie damals einverstanden,
mit einem Haufen Studenten im Vorstudium zu Mittag zu
essen?
ER Wahrscheinlich habe ich gedacht, es könnte interessant
sein. Am Abend zuvor hatte ich nur eine Stunde ge-
lesen und ein paar Fragen beantwortet. Ich hatte nur die
Leute kennengelernt, die mich eingeladen hatten. Mit
Ausnahme von Ihnen kann ich mich an nichts und nie-
manden erinnern.
SIE (lacht) Flirten Sie mit mir?
ER Ja.
SIE Das kommt mir so unwahrscheinlich vor, ich kann es fast
nicht glauben.
ER Das sollten Sie aber. Es ist ganz und gar nicht unwahr-
scheinlich.
Ich ging zu Bett, las diese Szene vor dem Einschlafen noch
einmal durch und dachte: Wenn es etwas gibt, was unnötig
war, dann dies. Jetzt geht sie dir überhaupt nicht mehr aus
dem Kopf.
Ich war nur wegen dem, was die Behandlung verheißen hatte,
nach New York gekommen. Ich war wegen einer Besserung
gekommen. Indem ich dem Wunsch nachgegeben hatte, etwas
Verlorenes wiederzugewinnen – einem Wunsch, den ich besser
schon vor langer Zeit aufgegeben hätte –, war ich nun leichte
Beute für den Glauben, ich könnte irgendwie wieder so
leistungsfähig sein wie der Mann, der ich einmal war. Die
Lösung lag auf der Hand: In der Zeit, die ich brauchte, um ins
Hotel zurückzukehren, zu duschen und mich umzuziehen,
kam ich zu dem Entschluss, den Plan, die Wohnungen zu tau-
schen, aufzugeben und sofort den Heimweg anzutreten.
Als ich anrief, meldete sich Jamie. Ich sagte, ich müsse mit
ihr und Billy sprechen, und sie antwortete: »Aber Billy ist
nicht da. Er ist vor zwei Stunden losgefahren, um sich Ihr Haus
anzusehen. Er müsste jetzt bald bei Ihrem Hausmeister
sein, um die Schlüssel abzuholen. Er wollte mich anrufen, so-
bald er daist.«
Ich wusste jedoch nichts von einer Verabredung, nach der
Billy sich das Haus ansehen und Rob ihm den Schlüssel geben
sollte, damit er hineingehen konnte. Wann hätten wir sie tref-
fen sollen? Nicht gestern abend. Eher am Abend davor. Den-
noch konnte ich mich nicht daran erinnern.
Allein in meinem Hotelzimmer und ohne Jamies Gesicht
vor mir, spürte ich, dass ich wütend errötete, obwohl ich in
den vergangenen Jahren tatsächlich Probleme gehabt hatte,
mich an Kleinigkeiten zu erinnern. Um dem zu begegnen,
hatte ich begonnen, neben meinem Tageskalender ein Schul-
heft – eine jener Kladden mit schwarzweiß marmoriertem
Einband und auf der Innenseite des hinteren Deckels abge-
druckten Multiplikationstabellen – zu führen, in dem ich zu
erledigende Dinge, geschriebene und empfangene Briefe und,
in Stichworten, den Inhalt meiner Telefongespräche notierte.
Ohne dieses Aufgabenbuch konnte ich (wie sich soeben wieder
erwiesen hatte) nur zu leicht vergessen, mit wem und worüber
ich gestern noch gesprochen hatte oder was jemand für mich
am nächsten Tag erledigen sollte. Ich hatte vor drei Jahren
damit angefangen, als ich bemerkte, dass mein bis dahin
zuverlässiges Gedächtnis Lücken aufwies. Damals war ein
Irrtum nicht mehr als ein kleines Ärgernis, doch ich hatte
erkannt, dass die Vergesslichkeit voranschritt und dass, sollte
mein Erinnerungsvermögen sich im selben Tempo verschlech-
tern wie in diesen ersten Jahren, meine Fähigkeit, etwas zu
schreiben, bald ernsthaft beeinträchtigt sein würde. Was sollte
ich tun, wenn ich eines Morgens eine am Vortag geschriebene
Seite lesen würde, ohne mich zu erinnern, dass ich sie
geschrieben hatte? Was sollte aus mir werden, wenn ich die
Beziehung zu dem, was ich schrieb, verlor, wenn ich weder ein
Buch schreiben noch eines lesen konnte? Was würde ohne
mein Werk von mir bleiben?
Ich ließ Jamie nicht merken, dass ich nicht wusste, wovon sie
sprach, dass ich begonnen hatte, in einer Welt voller Löcher zu
leben, und dass mein Geist – von dem Augenblick an, in dem
ich wie eine außerirdische Spezies nach New York gekommen
war, ein Fremder in dieser Welt, in der alle anderen lebten –
zwischen Obsession und Vergesslichkeit hin und her schwang.
Es ist, als wäre ein Schalter umgelegt worden, dachte ich, als
würde eine Verbindung nach der anderen gekappt. »Wenn es
irgendwelche Fragen gibt«, sagte ich, »soll er mich anrufen.
Aber Rob kennt das Haus besser als ich, und Billy wird sehr
gut zurechtkommen.«
Ich fragte mich, ob das vielleicht genau die Worte waren, die
ich gesagt hatte, als wir übereingekommen waren, dass Billy
das Haus in Augenschein nehmen würde.
Es war nicht der rechte Zeitpunkt, um zu erklären, dass
ich meine Meinung geändert hatte. Ich würde warten müssen,
bis Billy zurück war. Möglicherweise fand er mein kleines
Haus ja ungeeignet – dann würde sich der Plan ohne weitere
Schwierigkeiten in Luft auflösen.
»Ich hatte angenommen, dass Sie ihn begleiten würden.
Zumal Sie ja ein bisschen angeschlagen sind.«
»Ich bin gerade mitten in einer Erzählung«, sagte sie, doch
ich glaubte nicht, dass das der Grund war, warum sie in New
York geblieben war. Der wahre Grund war Kliman. Sie war es
doch, die nach Massachusetts ziehen wollte – hätte sie dann
nicht auch diejenige sein sollen, die sich das Haus ansah?
Nein, sie war geblieben, weil sie sich mit Kliman treffen
wollte.
»Und wie gefällt Ihnen Ihr Amerika jetzt«, fragte sie mich,
»am ersten Tag der Wiederkunft?«
»Der Schmerz wird vergehen«, antwortete ich.
»Aber Bush nicht. Cheney nicht. Rumsfeld nicht. Wolfo-
witz nicht. Und diese Rice ebenfalls nicht. Der Krieg wird
nicht vergehen. Die Arroganz wird nicht vergehen. Dieser
sinnlose, idiotische Krieg! Und bald werden sie den nächsten
sinnlosen, idiotischen Krieg vom Zaun brechen. Und dann
noch einen und noch einen, bis alle Welt uns in die Luft spren-
gen will.«
»Tja, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Sie in meinem
Haus in die Luft sprengt, ist ziemlich klein«, sagte ich, ob-
gleich ich sie angerufen hatte, um die Vereinbarung zu wi-
derrufen, die ihr diesen sicheren Hafen bot. Doch ich wollte
nicht, dass das Telefongespräch endete. Sie brauchte gar nichts
Einladendes oder Aufreizendes zu sagen – der bloße Klang
ihrer Stimme in meinem Ohr vermittelte mir ein angenehmes
Gefühl, wie ich es seit Jahren nicht verspürt hatte.
»Ich habe mich mit Ihrem Freund getroffen«, sagte ich.
»Sie haben meinen Freund gründlich verwirrt.«
»Woher wissen Sie das? Es ist keine zehn Minuten her.«
»Er hat mich vom Park aus angerufen.«
»Als Kind hab ich mal gesehen, wie ein ehrgeiziger
Schwimmer im Meer ertrunken ist«, sagte ich. »Niemand
hatte bemerkt, dass er in Schwierigkeiten war, bis es schließ-
lich zu spät war. Mit einem Handy hätte er, wie Kliman, Hilfe
holen können, als er spürte, dass die Strömung ihn hinaus-
zog.«
»Was haben Sie gegen ihn? Warum machen Sie ihn schlecht?
Was wissen Sie überhaupt über ihn?« fragte Jamie. »Er verehrt
Sie, Mr. Zuckerman.«
»Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, dass sein Eifer eher in
die andere Richtung geht.«
»Für ihn war es ein wichtiges Gespräch«, sagte sie. »In
letzter Zeit gibt es in seinem Leben nichts Wichtigeres als
Lonoff. Er will, dass ein Autor wiederentdeckt wird, den er
überragend findet und dessen Werk in Vergessenheit geraten
ist.«
»Die Frage ist das Wie.«
»Richard ist ein ernsthafter Mensch.«
»Warum nehmen Sie ihn in Schutz?«
»Ich ›nehme ihn in Schutz‹, weil ich ihn kenne.«
Ich malte mir lieber nicht allzu farbig aus, warum sie sich so
für diesen ernsthaften Menschen einsetzte, der auf dem
College ihr Freund gewesen war und mit dem sie (wie ich mir
nur zu gut vorstellen konnte) eine sexuelle Beziehung hatte,
auch jetzt noch, nachdem sie den ihr so ergebenen Billy
geheiratet hatte ... der übrigens nicht da war, der in diesem
Augenblick hundertfünfzig Kilometer nördlich von New York
unterwegs war, während seine Frau allein in ihrer ge-
meinsamen Wohnung gegenüber der Kirche saß und sich über
Bushs Wiederwahl grämte.
Meine Torheit, aus den genannten Gründen nach New York
zu fahren – und dann zu denken, ich sollte für ein ganzes
Jahr dort bleiben –, hätte nicht besser abgerundet werden
können als durch den Versuch, Jamie zu sehen, bevor Billy
zurückkehrte.
»Dann wissen Sie also, worum es bei dem Skandal geht«,
sagte ich.
»Bei welchem Skandal?«
»Beim Lonoff-Skandal. Hat Kliman Ihnen nicht davon er-
zählt?«
»Selbstverständlich nicht.«
»Aber natürlich hat er das – Ihnen zuallererst. Er hat sich
damit gebrüstet, was er allein weiß, und gesagt, wie überaus
nützlich seine Entdeckung sein wird.«
Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, es abzustreiten.
»Sie kennen die ganze Geschichte«, sagte ich.
»Wenn Sie sie nicht von Richard hören wollten, warum
wollen Sie sie dann von mir hören?«
»Darf ich vorbeikommen?«
»Wann?«
»Jetzt.«
Ich war regelrecht benommen, als sie leise sagte: »Wenn Sie
wollen.«
Ich packte meine Sachen, um New York zu verlassen.
Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was ich in den
kommenden Wochen zu Hause erledigen müsste, und dachte
an die Erleichterung, die mit der Wiederaufnahme meiner
täglichen Routine und dem Verzicht auf weitere Behand-
lungen verbunden wäre. Nie wieder würde ich mich in eine
Situation begeben, in der es schmerzlicher Reue und dem mit
ihr verbundenen Wunsch nach Wiedergutmachung erlaubt
wäre, meinen nächsten Schritt zu bestimmen. Dann machte
ich mich auf den Weg zur West 71st Street und gab sogleich
der Rigorosität einer verzweifelten Vernarrtheit nach, die ga-
rantiert alles andere als harmlos wäre für jemanden, der zwi-
schen den Beinen einen tröpfelnden Hahn aus verschrumpel-
tem Fleisch hatte, wo früher das voll funktionsfähige, mit
einem gesunden Blasenschließmuskel versehene Genital eines
kräftigen erwachsenen Mannes gewesen war. Das einst steife
Fortpflanzungsorgan war jetzt wie ein Rohr, das man ir-
gendwo aus einem Feld ragen sieht, ein Stück Rohr ohne je-
den Nutzen, aus dem hin und wieder ein wenig Wasser tröp-
felt oder plätschert, bis es eines Tages jemandem einfällt, den
Hahn bis zum Anschlag zuzudrehen, damit das verdammte
Ding endlich aufhört.
Sie hatte jede Zeile gelesen, die in der New York Times über die
Wahl stand. Die Seiten lagen auf dem verschlungenen gold-
orangeroten Muster des weichen, abgetretenen Perserteppichs,
und ihr Gesicht verriet echtes Unglück.
»Zu schade, dass Billy heute nicht hier sein kann«, sagte
ich. »Es ist nicht gut, mit so großer Enttäuschung allein zu
sein.«
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Wir dachten, wir
würden etwas zu feiern haben.«
Während ich auf dem Weg hierher gewesen war, hatte
sie Kaffee gekocht, und nun saßen wir in zwei mit schwar-
zem Leder bezogenen Eames-Sesseln einander gegenüber
am Fenster und tranken ihn schweigend. Drückten schwei-
gend unsere Unsicherheit aus. Nahmen schweigend die Un-
vorhersehbarkeit dessen hin, was geschehen würde. Verbargen
schweigend unsere Verwirrung. Bei meinen früheren Besu-
chen hatte ich nicht bemerkt, dass es zwei orangerote Katzen
gab. Eine von ihnen sprang jetzt elegant auf Jamies Schoß,
legte sich hin und ließ sich streicheln, während ich, weiterhin
schweigend, zusah. Die andere Katze erschien von irgend-
woher, legte sich auf Jamies nackte Füße und erzeugte (in mir)
die angenehme Illusion, dass das Schnurren, das bald darauf
zu hören war, nicht von der Katze stammte, sondern von den
Füßen. Die eine hatte ein langes Fell, die andere war kurzhaa-
rig, und ihr Anblick verblüffte mich. Sie sahen aus, wie die
beiden Kätzchen, die Larry Hollis mir geschenkt hatte, in-
zwischen aussehen würden, wenn ich sie länger als drei Tage
behalten hätte.
Obwohl Jamie ein verblasstes blaues Sweatshirt und eine
weite graue Trainingshose trug, war ich nicht weniger ge-
bannt von ihrer Schönheit. Und wir waren allein, und da-
her kam ich mir keineswegs vor wie jemand, der imstande
war, Ehrfurcht einzuflößen, sondern fühlte mich infolge der
Macht, die sie über mich hatte, meines ganzen Status beraubt,
um so mehr, als sie durch Kerrys Niederlage und die schreck-
liche Ungewissheit, die diese heraufbeschwor, so bedrückt
war.
Ganz im Einklang mit dem wilden Schwanken meiner
Gemütsverfassung in New York fragte ich mich nun, was das
Verfassen von Lonoffs Biographie mit mir zu tun haben
könnte. Nach meinem Besuch in seinem Haus im Jahr 1956
war ich nie wieder in seiner Gegenwart gewesen, und der
Brief, den ich ihm danach geschrieben hatte, war unbeant-
wortet geblieben, so dass der Traum, den ich womöglich
träumte – der Traum von einer Beziehung, in der er der Mei-
ster und ich sein Schüler war –, unverwirklicht hatte bleiben
müssen. Was eine Biographie oder einen Biographen betraf,
so besaß ich weder Lonoff noch seinen Erben gegenüber
irgendeine Verantwortung. Meine Reaktion auf Kliman und
seine Andeutungen von einem dunklen »Geheimnis« war zum
einen darauf zurückzuführen, dass ich Amy Bellette nach so
vielen Jahren wiedergesehen hatte, und zwar gebrechlich und
entstellt, vertrieben aus dem Haus ihres eigenen Körpers, und
zum anderen auf die Tatsache, dass ich danach seine Bücher
gekauft und im Hotel noch einmal gelesen hatte. Ware ich zu
Hause geblieben und hätte unvermutet einen Brief von
irgendeinem Kliman oder seinesgleichen erhalten, so hätte ich
gar nicht darauf reagiert, geschweige denn ihm gedroht, ihn
praktisch zu vernichten, sollte er es wagen, sein Projekt
weiterzuverfolgen. Auf sich allein gestellt, würde Kliman bei
seinem grandiosen Vorhaben vermutlich scheitern; für ihn war
die bislang größte Ermunterung wahrscheinlich nicht der
Zuspruch eines Literaturagenten oder Lektors gewesen,
sondern mein vehementer Widerstand. Und nun saß ich hier
bei Jamie und brach unser Schweigen mit der Frage: »Mit wem
habe ich es zu tun? Können Sie mir das sagen? Wer ist dieser
junge Mann?«
Argwöhnisch fragte sie: »Was wollen Sie wissen?«
»Wie kommt er zu der Annahme, dass er dieser Aufgabe
gewachsen ist? Kennen Sie ihn schon lange?«
»Seit er achtzehn war. Seit seinem ersten Jahr an der Uni.
Seit zehn Jahren.«
»Woher stammt er?«
»Aus Los Angeles. Sein Vater ist Anwalt. Ein Medien-
anwalt, berüchtigt für seine Aggressivität. Seine Mutter ist
ganz anders. Sie ist Professorin, für Ägyptologie, glaube ich,
an der UCLA. Sie meditiert jeden Morgen für zwei oder drei
Stunden und behauptet, dass sie an guten Tagen gegen Ende
der Meditation eine grüne Lichtkugel vor sich schweben lassen
kann.«
»Wie haben Sie sie kennengelernt?«
»Durch ihn natürlich. Sie haben ihn und seine Freunde zum
Essen eingeladen, wenn sie ihn besuchten. Und wenn meine
Eltern mich besucht haben, war er unter den Freunden, die
mit uns zum Abendessen gingen.«
»Dann ist er also in einer Akademikerfamilie aufgewach-
sen.«
»Er ist mit einem starrsinnigen, aggressiven Vater und einer
intellektuellen, stillen Mutter aufgewachsen. Er ist klug. Sehr
klug. Sehr scharfsinnig. Er hat seine eigene Aggressivität, was
Sie offenbar vor den Kopf gestoßen hat. Aber er ist kein
Dummkopf. Ich sehe keinen Grund, warum er nicht imstande
sein sollte, ein Buch zu schreiben – es sei denn den, der für alle
gilt.«
»Und der wäre?«
»Dass es schwer ist.«
Sie bemühte sich, mich merken zu lassen, dass sie nicht
mehr sagte, als sie sagte, sie bemühte sich, mich mit ihrer
Unbeeindruckbarkeit zu beeindrucken, und war entschlossen,
nicht nachzugeben, sondern lediglich zu antworten. Sie wollte
auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als wäre sie infolge des
großen Unterschieds in Alter und Status eine leichte Gegnerin.
Obwohl sie offensichtlich zufrieden war mit der Wirkung, die
sie auf Männer hatte, war ihr anscheinend noch nicht bewusst,
dass sie bereits triumphiert hatte und ich der leichte Gegner
war.
»Wie war er zu Ihnen?« fragte ich.
»Wann?«
»Als Sie zusammen waren.«
»Es war eine wunderbare Zeit. Wir hatten ähnlich starr-
sinnige Vater, mit denen wir uns auseinandersetzen mussten,
und darum jede Menge schöne Katastrophengeschichten, die
wir uns erzählen konnten. So sind wir uns sehr schnell sehr
nahe gekommen: Es waren herrliche Geschichten voller Komik
und Schrecken. Richard ist robust und energisch und will
immer irgendwas Neues ausprobieren, und er ist furchtlos. Er
hält nichts zurück. Er ist abenteuerlustig, und er ist furchtlos,
und er ist frei.«
»Übertreiben Sie nicht ein bisschen?«
»Ich beantworte nur wahrheitsgemäß Ihre Fragen.«
»Furchtlos im Hinblick worauf, wenn ich fragen darf?«
»Im Hinblick auf Ablehnung. Auf Missbilligung. Er ist
nicht so eingeschränkt wie andere Menschen, wenn es darum
geht, in welchen Gruppen sie sich wohl fühlen. Er hat nichts
Zögerndes an sich. Er ist eine einzige Abfolge entschlossener
Taten.«
»Und mit seinem Vater, der für seine Aggressivität berüchtigt
ist, kommt er gut aus?«
»Ach, ich glaube, sie streiten sich oft. Sie sind beide kämp-
ferische Männer, und darum kämpfen sie. Aber es ist wohl
nicht so ernst, wie wenn ich mit meiner Mutter streiten würde.
Sie telefonieren miteinander und geraten in einen wüsten
Streit, und am nächsten Tag telefonieren sie wieder, und es ist,
als wäre nichts gewesen. So sind sie eben.«
»Erzählen Sie mir mehr.«
»Was wollen Sie denn noch wissen?«
»Alles, was Sie mir nicht sagen.« Eigentlich wollte ich na-
türlich nur von ihrem Leben hören. »Haben Sie ihn je in Los
Angeles besucht?«
»Ja.«
»Und?«
»Sie leben in einem großen Haus in Beverly Hills. Meiner
Meinung nach ist es extrem hässlich. Es ist groß und prot-
zig. Kein bisschen gemütlich. Seine Mutter sammelt ... Ich
glaube, man nennt das alte Kunst: Skulpturen, kleine Ob-
jekte. Es gibt Vitrinen und Wandnischen, die viel zu groß sind
für das, was darin steht – wie alles dort viel zu groß ist. Es ist
ein Ort ohne jede Wärme. Zu viele Säulen. Zuviel Marmor.
Im Garten ein riesiger Swimmingpool. Der Garten selbst
extrem gestaltet. Manikürt. Das ist nicht Richards Welt. Er ist
im Nordosten aufs College gegangen. Dann ist er nach New
York gegangen. Er hat sich dafür entschieden, in New York zu
leben und in der Welt der Literatur zu arbeiten und nicht
superreich zu werden und in einem Marmorpalast in L. A. zu
wohnen und seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass
er anderen die Hölle heiß macht. Er hätte zwar das Zeug
dazu – das hat er von seinem Vater gelernt –, aber es ist nicht
das, was er will.«
»Sind seine Eltern noch zusammen?«
»Ja, es ist schockierend. Ich weiß nicht, was sie gemeinsam
haben. Sie meditiert und arbeitet dann den ganzen Tag. Er ar-
beitet ebenfalls den ganzen Tag. Sie bewohnen dasselbe Haus,
und damit hat es sich wohl. Ich habe nie erlebt, dass sie über
irgendwas miteinander geredet hätten.«
»Ist er mit ihnen in Kontakt?«
»Ich nehme es an. Er spricht nicht über sie.«
»Er würde seine Eltern nicht am Wahlabend anrufen.«
»Ich glaube nicht. Allerdings bin ich sicher, dass es we-
sentlich angenehmer wäre, am Wahlabend mit ihnen zu spre-
chen als mit meinen Eltern. Es sind gute L. A.-Liberale.«
»Und seine Freunde in New York?«
Sie seufzte – das erste Anzeichen von Ungeduld und Ver-
ärgerung. Bis dahin war sie betont distanziert und die Ruhe
selbst. »Er ist viel mit ein paar Leuten zusammen, die er im
Fitnesscenter kennengelernt hat. Lauter Akademiker, wahr-
scheinlich zwischen fünfundzwanzig und vierzig. Sie spielen
Basketball, und er verbringt viel Zeit mit ihnen. Anwälte. Me-
dienleute. Ein paar von unseren gemeinsamen Freunden aus
der Collegezeit arbeiten für Zeitschriften und in Verlagen. Ein
guter Freund von ihm hat eine Firma für Videospiele ge-
gründet.«
»Ich finde, mit dem sollte er sich zusammentun. Ich finde, er
sollte Videospiele verkaufen. Soll er dort furchtlos sein. Denn
er denkt, dies ist ein Spiel. Er denkt, ›Lonoff‹ ist der Name
eines Spiels.«
»Sie haben unrecht«, sagte sie und milderte diese harsche
Äußerung mit einem raschen Lächeln. »Sie sehen in ihm
jemanden wie seinen Vater, diesen Menschen, der immer alle
einschüchtern will, dabei hat er viel mehr von seiner Mutter.
Er ist ein Intellektueller. Er ist nachdenklich. Er hat zwar au-
ßerordentlich viel Energie. Er ist dynamisch und aufregend
und stark und widerspenstig und manchmal furchterregend,
aber er ist kein gedankenloser Opportunist, der nur auf seinen
eigenen Vorteil aus ist.«
»Ich hätte gesagt, dass er genau das ist.«
»Welcher Opportunist will die literarische Biographie
eines Schriftstellers schreiben, der inzwischen praktisch ver-
gessen ist? Wenn er ein Opportunist wäre, würde er in die
Fußstapfen seines Vaters treten. Er würde keine Biographie
über einen Schriftsteller schreiben, von dem niemand unter
fünfzig je gehört hat.«
»Sie preisen ihn an. Sie idealisieren ihn.«
»Ganz und gar nicht. Ich kenne ihn um einiges besser als Sie,
und ich versuche, Sie zu korrigieren. Sie brauchen jemanden,
der Sie korrigiert.«
»Er meint es nicht ehrlich. Er besitzt keine Besonnenheit.
Er besteht nur aus Dreistigkeit, Trotz und Frivolität. Ich sehe
keinen Ernst.«
»Er besitzt vielleicht nicht die Zurückhaltung oder die Fi-
nesse, die andere Leute haben, aber er ist nicht ohne Beson-
nenheit.«
»Und Integrität. Ist er angekränkelt von Integrität? Ich
glaube, dass das Ränkeschmieden ihm nicht fernliegt. Gibt es
bei ihm irgendwo ein kleines bisschen Integrität?«
»Sie beschreiben ihn nicht, Mr. Zuckerman, sie karikieren
ihn. Es stimmt zwar, dass er nicht immer versteht, warum er
sich nicht so benehmen sollte, wie er sich benimmt. Aber er
hat seine Prinzipien. Sehen Sie, Richard ist nicht allem – er
lebt in einer Welt voller Aufsteiger, in der man sich wie ein
Versager fühlt, wenn man nicht ebenfalls aufsteigt. In einer
Welt, in der es nur um Reputation geht. Sie sind ein älterer
Mensch, der gerade in die Stadt zurückgekehrt ist, und Sie
wissen nicht, wie es ist, heutzutage jung zu sein. Sie sind aus
den fünfziger Jahren, er ist aus der Gegenwart. Sie sind Na-
than Zuckerman. Es ist wahrscheinlich lange her, dass Sie
Kontakt mit Menschen hatten, die noch nicht fest in ihrem
beruflichen Leben verankert sind. Sie wissen nicht, wie es ist,
wenn man in einer Welt, in der Reputation alles bedeutet,
seine Reputation noch nicht gefestigt hat. Aber wenn Sie in
dieser Welt voller Aufsteiger kein Zen-Meister sind, wenn Sie
ein Teil dieser Welt sind und nach Anerkennung streben, sind
Sie deswegen dann der böse Feind? Ich gebe zu, dass Richard
vielleicht nicht der tiefgründigste Mensch ist, den ich kenne,
aber es gibt keinen Grund, warum er in seiner Erfahrungswelt
damit rechnen sollte, dass das entschlossene Streben nach dem,
was er anstrebt, für irgend jemanden anstößig sein könnte.«
»Was seine Tiefgründigkeit angeht, würde ich sagen, dass
er nicht halb so tiefgründig ist wie Ihr Mann. Und dass Ihr
Mann nicht annähernd ein solcher Aufsteiger wie Kliman ist
und sich dennoch nicht als Versager fühlt.«
»Er fühlt sich aber auch nicht als Erfolgsmensch. Trotzdem
haben Sie im Grunde recht.«
»Sie sind eine glückliche Frau.«
»Sehr glücklich. Ich liebe meinen Mann sehr.«
Diese makellose Zurschaustellung von Selbstsicherheit
hatte innerhalb von zehn Minuten nichts anderes bewirkt, als
mein Begehren nach ihr zu vertiefen und sie zu dem mit Ab-
stand größten Problem meines Lebens zu machen. Die Wucht
der sexuellen Anziehungskraft lässt keinen Raum für Resi-
gnation – nur für die Gier des Begehrens.
»Aber Sie werden mir sicher zustimmen, wenn ich sage,
dass Kliman zumindest ein sehr unsympathischer Mensch
ist.«
»Keineswegs«, erwiderte sie.
»Und das Geheimnis? Sein Streben, das Geheimnis zu
enthüllen? Lonoffs großes Geheimnis?«
Ohne das rhythmische Streicheln der Katze zu unterbre-
chen, sagte sie: »Inzest.«
»Und woher weiß Kliman davon?«
»Er hat schriftliche Beweise. Er hat irgendwelche Leute
kontaktiert. Das ist alles, was ich weiß.«
»Aber ich war bei Lonoff. Ich habe ihn kennengelernt. Ich
habe alles gelesen, was er geschrieben hat, mehr als einmal.
Ich kann das unmöglich glauben.«
Mit einem Flüstern der Überlegenheit sagte sie: »So etwas ist
immer unmöglich zu glauben.«
»Es ist Unsinn«, beharrte ich. »Inzest mit wem?«
»Mk einer Halbschwester«, sagte Jamie.
»Wie Lord Byron und Augusta.«
»Ganz und gar nicht wie sie«, widersprach sie – scharf
diesmal – und machte sich daran, ihre (oder Klimans) pro-
funde Vertrautheit mit diesem Thema zu demonstrieren.
»Byron und seine Halbschwester kannten sich als Kinder
kaum. Sie wurden erst als Erwachsene ein Paar, als sie bereits
Mutter von drei Kindern war. Die einzige Parallele ist, dass
Lonoffs Halbschwester ebenfalls älter war als er. Sie stammte
aus der ersten Ehe des Vaters. Ihre Mutter war gestorben, als
sie noch klein war, der Vater hatte schnell wieder geheiratet,
und dann wurde Lonoff geboren, als sie drei Jahre alt war. Sie
sind zusammen aufgewachsen, als Bruder und Schwester.«
»Drei Jahre alt. Das heißt, dass sie 1898 geboren wurde. Sie
muss längst tot sein.«
»Sie hatte Kinder. Ihr jüngster Sohn lebt noch. Er muss
jetzt über achtzig sein. Er lebt in Israel. Nachdem ihr Ver-
hältnis entdeckt wurde, ging sie nach Palästina. Die Eltern
gingen mit ihr dorthin, um der Schande zu entfliehen. Lonoff
blieb zurück und schlug sich allein durch. Er war damals
siebzehn.«
Was ich von Lonoffs Herkunft wusste, stimmte nur bis
zu einem gewissen Punkt mit dieser Geschichte überein.
Die jüdischen Eltern waren aus Russland nach Boston emi-
griert, hatten die amerikanische Gesellschaft jedoch nach
und nach als abstoßend materialistisch empfunden und waren,
als Lonoff siebzehn gewesen war, nach Palästina ausge-
wandert, das damals noch nicht unter Mandatsherrschaft
stand. Es stimmte, dass Lonoff in Amerika geblieben war, al-
lerdings nicht, weil er als ein auf Irrwege geratener Missetäter
zurückgelassen worden wäre; vielmehr war er ein beinahe er-
wachsener amerikanischer Junge, der lieber ein amerikanisch
sprechender Amerikaner als ein hebräisch sprechender Palä-
stina-Jude werden wollte. Ich hatte nie ein Wort von einer
Schwester oder überhaupt von Geschwistern gehört, aber da er
verhindern wollte, dass sein Werk auf oberflächliche Weise
als Spiegel seines Lebens fehlinterpretiert wurde, hatte Lo-
noff niemandem – außer vielleicht seiner Frau Hope oder
Amy – mehr als äußerst rudimentäre Fakten seiner Biogra-
phie preisgegeben.
»Und wann hat dieses Verhältnis begonnen?« fragte ich.
»Als er vierzehn war.«
»Wer hat Kliman davon erzählt? Der Sohn in Israel?«
»Das hätte Richard Ihnen gesagt, wenn Sie ihn gelassen
hätten«, sagte Jamie. »Er hätte Ihnen das alles selbst erzählt.
Er hätte all Ihre Fragen beantwortet.«
»Und es wem außer mir erzählt? Wem außer Ihnen?«
»Ich kann nicht erkennen, was für ein Verbrechen es wäre,
wenn er es jedem erzählen würde, dem er es erzählen will. Sie
wollten, dass ich es Ihnen erzähle. Deswegen haben Sie mich
angerufen und sind hergekommen. Habe ich jetzt ein Verbre-
chen begangen? Es tut mir leid, wenn Sie den Gedanken, dass
Lonoff eine inzestuöse Beziehung hatte, quälend finden. Es
fällt mir schwer zu glauben, dass es einem Mann, der Bücher
geschrieben hat wie Sie, lieber wäre, wenn Lonoff zu einem
Heiligen verklärt würde.«
»Zwischen leichtfertigen Anschuldigungen und Verklä-
rung zum Heiligen ist ein großer Unterschied. Kliman kann
unmöglich irgendeine intime Beziehung beweisen, die, wie er
behauptet, vor fast hundert Jahren bestanden hat.«
»Richard ist nicht leichtfertig. Ich habe Ihnen doch gesagt: Er
ist abenteuerlustig. Er hat eine Schwäche für waghalsige
Unternehmungen. Was ist daran so falsch?«
Waghalsige Unternehmungen. Darauf war ich auch versessen
gewesen.
Ich sagte: »Hat Kliman mit dem Sohn in Israel, mit Lonoffs
Neffen, gesprochen?«
»Mehrere Male.«
»Und der bestätigt die Geschichte. Hat ihm Aufzeichnungen
übergeben, aus denen hervorgeht, wie oft die beiden mit-
einander geschlafen haben. Ich nehme an, der junge Lonoff hat
darüber Buch geführt.«
»Der Sohn bestreitet natürlich alles. Das letzte Mal, als die
beiden miteinander gesprochen haben, hat er gedroht, nach
Amerika zu kommen und eine Klage einzureichen, wenn Ri-
chard diese Dinge über seine Mutter publik machen würde.«
»Und Kliman behauptet, dass dieser Neffe aus Gründen
lügt, die auf der Hand liegen, oder die Wahrheit einfach nicht
kennt – welche Mutter würde ihrem Sohn schon ein solches
Geheimnis offenbaren? Sehen Sie, Kliman kann gar nicht ge-
nug wissen, um zu irgendwelchen Schlüssen über eine inze-
stuöse Beziehung zu kommen. Es gibt zwei Arten von ›so ist es
mcht‹: Die eine enthüllt, wie es ist – das nennt man Fiktion –,
die andere aber bestätigt nur, dass es nicht so ist – das ist bei
Kliman der Fall.«
Jaimie erhob sich abrupt, so dass die eine Katze von ihrem
Schoß glitt und die andere, die auf ihren Füßen gelegen hatte,
aufsprang. »Ich habe nicht das Gefühl, dass dieses Gespräch in
eine Richtung geht, die irgendwie hilfreich wäre. Ich hätte
mich nicht einmischen sollen. Ich hätte Sie nicht einladen sol-
len, um an Richards Stelle zu versuchen, Sie zu überzeugen.
Ich habe brav dagesessen und Ihre Fragen beantwortet. Ich
habe Ihren herabsetzenden Worten kein einziges Mal wider-
sprochen. Ich habe Ihnen aufrichtig geantwortet und bin die
ganze Zeit respektvoll, wenn nicht gar unterwürfig gewesen. Es
tut mir leid, wenn irgend etwas, was ich gesagt habe, oder die
Art, wie ich es gesagt habe, Sie verärgert hat. Aber offenbar
habe ich Sie verärgert, auch wenn das nicht meine Absicht
war.«
Auch ich hatte mich erhoben und stand nur eine Armlänge
von ihr entfernt. Ich sagte: »Ich bin es, der Sie verärgert hat.
Vor allem durch die Herabsetzung.« Es wäre der richtige
Augenblick gewesen, um ihr mitzuteilen, dass unsere Verein-
barung hinfällig war. Doch ich konnte sie in Gedanken nur
dann realistisch vor mir sehen, wenn die Vereinbarung weiter-
hin galt und ich mein Haus gegen ihre Wohnung tauschte.
Dann würde sie inmitten meiner und ich inmitten ihrer Dinge
leben. Gab es ein lächerlicheres Motiv, das überstürzt ver-
einbarte Arrangement aufrechtzuerhalten, das ich so gern be-
enden wollte? Ich war mir über die Fadenscheinigkeit der
Gründe, die ich hervorkramte, um meine Lebensumstände
drastisch zu verändern, durchaus im klaren, und dennoch
schien alles, was geschah, ohne Rücksicht auf meine Verfas-
sung und mein Bewusstsein zu geschehen.
Das Telefon läutete. Es war Billy. Sie hörte lange zu, bevor sie
ihm sagte, ich sei zufällig gerade bei ihr. Offenbar fragte er sie
nach dem Grund, denn sie sagte: »Er wollte sich die Wohnung
noch einmal ansehen. Ich führe ihn gerade herum.«
Ja, Kliman war ihr Liebhaber. Sie war so sehr daran gewöhnt,
Billy anzulügen, um ihr Verhältnis mit Kliman zu verbergen,
dass sie ihn jetzt im Hinblick auf meine Anwesenheit
angelogen hatte. Und zuvor, am Telefon, hatte sie mir eben-
falls die Unwahrheit gesagt, als es um Kliman gegangen war.
Entweder das – oder ich war derart geblendet von ihrer Aus-
strahlung, dass meine Gedanken so dicht um die eine Sache
kreisten wie schon seit Jahren nicht mehr. Hatte sie ihren jun-
gen Ehemann vielleicht einfach deshalb angelogen, weil es
einfacher war, als die Wahrheit zu sagen, während ich neben
ihr stand und sie so weit voneinander entfernt waren?
Alles, was Jamie tat oder sagte – selbst ihr harmloses Ge-
plauder mit Billy am Telefon –, bewirkte in mir eine unver-
hältnismäßige Reaktion. Ich war dauerhaft aus dem Gleich-
gewicht gebracht. Ich fand keine Ruhe. Es war, als sähe ich
zum erstenmal in meinem Leben eine junge Frau. Oder zum
letztenmal. Es war jedenfalls allesbeherrschend.
Ich ging, ohne es zu wagen, sie zu berühren. Ohne es zu
wagen, ihr Gesicht zu berühren, obgleich es die ganze Zeit,
während ich sie, wie sie sagte, herabgesetzt hatte, in Reich-
weite gewesen war. Ohne es zu wagen, ihr langes Haar zu be-
rühren, das in meiner Reichweite gewesen war. Ohne es zu
wagen, meine Hand auf ihre Hüfte zu legen. Ohne es zu wa-
gen, sie darauf hinzuweisen, dass wir uns bereits früher be-
gegnet waren. Ohne es zu wagen, die Worte auszusprechen,
die ein so verstümmelter Mann wie ich zu einer begehrens-
werten, vierzig Jahre jüngeren Frau sagen konnte, Worte, mit
denen er sich nicht unmöglich machte, weil er der Versuchung
einer Wonne nachgegeben hatte, die er nicht genießen konnte,
und einer Lust, die längst tot war. Auch ohne dass zwischen
uns mehr stattgefunden hatte als dieses unangenehme kleine
Gespräch über Kliman, Lonoff und den Vorwurf einer inze-
stuösen Beziehung, war es schon schlimm genug.
Mit Einundsiebzig erfuhr ich, was geistige Verwirrung ist. Ein
Beweis dafür, dass das Abenteuer der Selbsterfahrung noch
nicht vorüber war. Ein Beweis dafür, dass das Drama, das man
normalerweise mit der Jugend bei ihrem Eintritt in die Welt
der Erwachsenen verbindet – mit Heranwachsenden, mit
jungen Männern wie dem standhaften jungen Kapitän in der
Schattenlinie –, auch die Alten erschrecken und über sie
hereinbrechen kann (die eingeschlossen, die sich resolut gegen
alle Arten von Drama gewappnet haben), selbst wenn ihre
Lebensumstände auf ihren baldigen Abgang hindeuten.
Vielleicht macht man die größten Entdeckungen erst zu-
letzt.
SIE Ich verstehe, warum Sie nach New York zurückkehren. Aber
warum sind Sie überhaupt fortgegangen?
ER Weil ich eine Reihe von Morddrohungen bekommen habe.
Postkarten mit Morddrohungen auf der einen und einem Bild
des Papstes auf der anderen Seite. Ich bin damals zum FBI
gegangen, und die haben mir gesagt, was ich tun soll.
SIE Hat man den Absender je ermittelt?
ER Nein, nie. Aber ich bin geblieben, wo ich war.
SIE Dann ... schicken irgendwelche Verrückten also Morddro-
hungen an Schriftsteller. Davor hat man uns auf der Uni nicht
gewarnt.
ER Na ja, auch wenn man nur die letzten Jahre betrachtet, bin ich
nicht der erste, der Morddrohungen erhalten hat. Der
berühmteste Fall ist der von Salman Rushdie.
SIE Das stimmt. Natürlich.
ER Ich will meine Situation nicht mit seiner vergleichen.
Aber lassen wir Salman Rushdie mal beiseite – ich kann
mir nicht vorstellen, dass ich der einzige bin, dem das pas-
siert ist. Es stellt sich die Frage, ob die Drohung aufgrund
dessen ausgestoßen wird, was der Schriftsteller geschrie-
ben hat, oder ob es Leute gibt, die einfach von einem be-
stimmten Namen in Rage versetzt werden und Impulsen
gehorchen, die uns anderen fremd sind. Sie haben viel-
leicht bloß ein Foto in einer Zeitung gesehen. Stellen Sie
sich vor, was passieren konnte, wenn so ein Mensch eines
der Bücher aufschlägt, die Sie geschrieben haben. Für ihn
sind Ihre Worte etwas Bösartiges, das ihn in einen über-
mächtigen Bann schlägt. Selbst zivilisierte Menschen wer-
fen mal ein Buch, das ihnen nicht gefällt, quer durchs
Zimmer. Für weniger beherrschte Leute ist es nur ein
kleiner Schritt zum Laden einer Pistole. Oder sie steigern
sich in einen echten Hass auf das hinein, was sie in einem
sehen – denken Sie an die Motive der Terroristen, die das
World Trade Center angegriffen haben. Es gibt dort drau-
ßen jede Menge Hass.
SIE Ja, der Hass ist da – er ist grenzenlos und verrückt.
ER Und er macht Ihnen schreckliche Angst.
SIE Das stimmt. Ich bin fix und fertig – immerzu nervös und
ängstlich. Und dann ist da auch noch die Scham, die man
empfindet, wenn man sich so fühlt. Zu Hause bin ich
schweigsam und narzisstisch und besessen von Gedanken an
meine eigene Sicherheit, und das, was ich schreibe, ist
schrecklich.
ER Hatten Sie immer schon Angst vor dem Hass ?
SIE Nein, das ist neu. Ich habe alles Vertrauen verloren. Man
hat jetzt nicht mehr bloß Feinde – auch die Menschen, die
einen beschützen sollen, sind zu Feinden geworden. Die
Menschen, die sich um einen kümmern sollen, sind zu
Feinden geworden. Nicht Al Qaida jagt mir Angst ein, sondern
meine eigene Regierung.
ER Al Qaida jagt Ihnen keine Angst ein? Sie haben keine Angst
vor Terroristen?
SIE Doch. Aber die tiefersitzende Angst ist die vor den Men- schen,
die auf meiner Seite stehen sollten. Da draußen in
der Welt wird es immer Feinde geben, aber ... Als Sie sich
an das FBI gewandt haben – wenn Sie an einem gewissen
Punkt das Gefühl gehabt hätten, dass das FBI Sie nicht
vor der Person, die Ihnen Morddrohungen geschickt hat,
beschützt, sondern dass es vielmehr das FBI ist, von dem
Gefahr für Sie ausgeht, dann hätte das dem Terror eine
ganz neue Dimension gegeben. Und das ist der Grund,
warum ich eine solche Angst habe.
ER Und Sie glauben, dass Sie diese Angst dort, wo ich lebe,
nicht haben werden?
SIE Ich glaube, das Leben dort wird meine begründeteren
Ängste mindern, indem es den Aspekt physischer Gefahr
beseitigt, und das wird mich ein wenig beruhigen, glaube
ich. Ich glaube nicht, dass es meine Wut beseitigen wird –
die Wut auf meine Regierung –, aber im Augenblick stehe ich so
unter Spannung, dass ich zu nichts fähig bin. Ich weiß nicht mal
ansatzweisc, was ich tun soll, und darum muss ich einfach
fortgehen. Darf ich Sie etwas fragen? (Sie lacht schon im voraus
höflich über ihre Vermessenheit.)
ER Natürlich.
SIE Glauben Sie, dass Sie auch ohne diese Morddrohungen
fortgegangen wären? Glauben Sie, dass Sie an einem be-
stimmten Punkt so oder so gegangen wären?
ER Ich weiß es wirklich nicht. Ich war allein. Ich war ungebunden.
Ich kann meine Arbeit überallhin mitnehmen. Ich hatte ein
Alter erreicht, in dem ich mich nicht mehr auf gewisse Arten
von Beziehungen einlassen wollte.
SIE Wie alt waren Sie, als Sie gegangen sind?
ER Sechzig. Das erscheint Ihnen jetzt sehr alt.
SIE Ja. Das stimmt.
ER Wie alt sind Ihre Eltern?
SIE Meine Mutter ist fünfundsechzig, mein Vater ist achtund-
sechzig.
ER Als ich fortging, war ich nur wenig jünger als Ihre Mutter.
SIE Das war etwas anderes als das, was wir jetzt vorhaben. Billy
findet das alles nicht so gut. Auch nicht das, was es über mich
offenbart hat.
ER Nun, er kann ja auch dort schreiben.
SIE Ich glaube, es wird uns beiden guttun, und das wird er mit der
Zeit schon erkennen. Er ist ohnehin anpassungsfähiger als ich.
ER Gibt es etwas, was Sie nicht gern zurücklassen? Was Ihnen
fehlen wird?
SIE Ein paar Freunde. Aber es ist auch ganz gut, mal eine Zeitlang
ohne sie zu sein.
ER Haben Sie einen Liebhaber?
SIE Warum fragen Sie mich das?
ER Wegen der Art, wie Sie gesagt haben, dass es ein paar Freunde
gibt, die Ihnen fehlen werden.
SIE Nein. Ja.
ER Sie haben also einen Liebhaber. Wie lange sind Sie verhei-ratet?
SIE Fünf Jahre. Wir waren jung.
ER Weiß Billy, dass Sie einen Geliebten haben?
SIE Nein, nein, er weiß nichts.
ER Kennt er ihn?
SIE Ja.
ER Was hält Ihr Geliebter davon, dass Sie fortgehen? Weiß er es
überhaupt? Macht es ihn wütend?
SIE Er weiß es noch nicht.
ER Sie haben es ihm nicht gesagt?
SIE Nein.
ER Sagen Sie die Wahrheit?
SIE Ja.
ER Warum sagen Sie die Wahrheit?
SIE Irgend etwas an Ihnen flößt mir Vertrauen ein. Ich habe
Ihre Bücher gelesen. Sie sind nicht so leicht zu schockie-
ren. Nach dem, was ich von Ihnen gelesen habe, stelle ich
mir vor, dass Sie eher ein neugieriger Mensch sind als einer,
der schnelle Urteile fällt. Ich glaube, es ist mit einer
gewissen Lust verbunden, Gegenstand der Neugier eines
neugierigen Menschen zu sein.
ER Versuchen Sie, mich eifersüchtig zu machen?
SIE (lacht) Nein. Sind Sie denn eifersüchtig?
ER Ja.
SIE (etwas verblüfft) Tatsächlich? Auf meinen Liebhaber?
ER Ja.
SIE Wie kann das sein?
ER Erscheint Ihnen das so unmöglich?
SIE ES kommt mir sehr seltsam vor.
ER Wirklich?
SIE Wirklich.
ER Sie wissen gar nicht, wie attraktiv Sie sind.
SIE Warum sind Sie heute hergekommen?
ER Um mit Ihnen allein zu sein.
SIE Ich verstehe.
ER Ja, um mit Ihnen allein zu sein.
SIE Warum wollen Sie mit mir allein sein?
ER Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen ?
SIE Ich habe Ihnen auch die Wahrheit gesagt.
ER Weil es mich erregt, mit Ihnen allein zu sein.
SIE Gut. Ich glaube, es erregt mich ebenfalls, mit Ihnen allein
zu sein. Vielleicht aus anderen Gründen. Wir könnten
wahrscheinlich beide ein bisschen Erregung vertragen.
ER Sorgt denn Ihr Liebhaber nicht für Erregung?
SIE Ich kenne ihn schon sehr lange. Dass er mein Liebhaber
geworden ist, hat sich erst vor relativ kurzer Zeit entwik-
kelt. Da gibt es nichts Neues.
ER Er war schon auf dem College Ihr Liebhaber.
SIE Aber dann viele Jahre lang nicht mehr. Und jetzt entwickelt die
Beziehung sich rückwärts. Die Leidenschaft ist längst vorbei.
Wir sind auf dem absteigenden Ast.
ER Ihr Liebhaber ist also nicht mehr aufregend. Und Ihre Ehe
ebenfalls nicht. Haben Sie erwartet, dass Ihre Ehe aufregend
sein würde?
SIE (lackt) Ja.
ER Wirklich?
SIE Ja.
ER Hat man Ihnen in Harvard irgend etwas beigebracht?
SIE (lacht abermals leise) Als wir geheiratet haben, waren wir sehr
verliebt, und die Aussicht auf die Zukunft, die Aussicht darauf,
eine gemeinsame Zukunft zu haben, erschien uns wunderbar.
Zu heiraten erschien uns wie das größte Abenteuer. Wie das
Neueste, was wir tun konnten. Wie der große nächste Schritt.
(Sie hält inne.) Sind Sie froh, dass Sie fortgegangen sind? Sind
Sie froh über das, was Sie getan haben?
ER Vor ein paar Wochen hätte ich Ihnen eine andere Antwort
gegeben. Noch vor ein paar Stunden hätte ich Ihnen eine andere
Antwort gegeben.
SIE Durch was hat sich die Antwort verändert?
ER Dadurch, dass ich eine junge Frau wie Sie kennengelernt
habe.
SIE Was interessiert Sie so sehr an mir?
ER Ihre Jugend und Ihre Schönheit. Dass wir so schnell ins Gespräch
gekommen sind. Die erotische Stimmung, die Sie mit Worten
erzeugen.
SIE New York ist voll von schönen jungen Frauen.
ER Ich bin seit Jahren ohne die Gesellschaft einer Frau und
all dessen, was dazugehört. Dies ist eine überraschende
Wendung, die mir nicht unbedingt guttut. Jemand – ich
weiß nicht mehr, wer – hat mal geschrieben: »Eine große
Liebe, die spät im Leben kommt, steht allem anderen im
Weg.«
SIE Große Liebe? Könnten Sie das bitte etwas genauer er-
klären?
ER Es ist eine Krankheit. Ein Fieber. Eine Art Hypnose. Ich
kann es nur erklären, indem ich sage, dass ich mit Ihnen
allein in einem Zimmer sein will. Ich will in Ihrem Bann
sein.
SIE Das freut mich. Es freut mich, dass Sie bekommen haben, was
Sie wollen. Das ist gut.
ER Es ist herzzerreißend.
SIE Warum?
ER Was glauben Sie? Sie sind Schriftstellerin. Sie wollen Schrift-
stellerin sein. Warum würde ein Einundsiebzigjähriger sagen,
dass es herzzerreißend ist?
SIE (taktvoll) Weil Sie wieder all diese Gefühle haben, aber nicht
imstande sind, den nächsten Schritt zu tun.
ER Genau.
SIE Aber es ist eine gewisse Lust dabei, nicht?
ER Eine Lust, die mir das Herz zerreißt.
SIE (hat etwas gelernt) Hmmm. (Nach einer langen Pause, mit
gespielter Theatralik.) Ach, was kann man da tun?
ER Haben Sie einen Vorschlag?
SIE Nein, ich habe keine Ahnung, was man da tun könnte. Ich gehe
fort, weil ich keine Ahnung habe, was ich gegen irgend etwas
tun könnte.
ER Sie machen den Eindruck, als wären Sie die ganze Zeit den
Tränen nahe.
SIE (lacht) Tja, aber ich kann Ihnen sagen: Weinen hilft nicht.
ER (lacht ebenfalls, schweigt aber. Dieser Flirt ist eine Höllenqual, der
Mann in ihm steht in Flammen.)
SIE Waren Sie heute schon draußen? Die ganze Stadt ist den
Tränen nahe. Ja, ja, ich bin den Tränen nahe. Für mich ist
das alles sehr bedeutsam, das können Sie sich ja vorstel-
len. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich gestern
abend gefühlt habe, als –
ER Ich war hier. Ich habe es gesehen. Haben Sie bemerkt, dass ich
da war?
SIE Und Sie haben offenbar bemerkt, dass ich da war. Aber
irgend etwas hat Sie gepackt, bevor Sie mich kennenge-
lernt haben. Und zwar nicht ich. Sie haben beschlossen,
sich unsere Wohnung anzusehen. Irgend etwas hat Sie
gepackt – was war es? Diese Morddrohungen erklären in
meinen Augen nicht diese extreme Wendung, die Sie
Ihrem Leben gegeben haben. Auch wenn Sie noch so oft
erklären, dass Sie Schriftsteller sind und diese Morddro-
hungen erhalten haben – Sie haben Ihrem Leben eine ex-
treme Wendung gegeben, indem Sie fortgegangen sind
und so gelebt haben, wie Sie es in den vergangenen Jahren
getan haben. Ich denke immer wieder darüber nach. Was
war der wahre Grund? Es gab also diese Postkarten. Na
und? Die Postkarten waren ein Vorwand. Wenn es nur
die Postkarten gewesen wären, hätten Sie für ein Jahr
fortgehen und Kontakt zu Freunden und Frauen halten
können, und nach und nach wären keine Postkarten mehr
gekommen, und Sie hätten wieder zurückkehren können.
Aber ein Mann, der sich zurückzieht, der sich so abschot-
tet, wie Sie es getan haben, muss einen viel gewichtigeren
Grund haben. Man gibt sein Leben nicht wegen eines
willkürlichen, äußerlichen Grundes wie einer Mord-
drohung auf.
ER Was könnte denn der eigentliche Grund sein?
SIE Einem Schmerz entkommen zu wollen.
ER Was für einen Schmerz meinen Sie?
SIE Den Schmerz, anwesend zu sein.
ER Beschreiben Sie jetzt nicht sich selbst?
SIE Vielleicht. Der Schmerz, im gegenwärtigen Augenblick anwes-
end zu sein. Ja, man könnte sagen, das erklärt recht
genau den extremen Schritt, den ich tun will. Aber bei
Ihnen ging es nicht bloß um den gegenwärtigen Augen-
blick. Es ging darum, überhaupt anwesend zu sein. Es
ging darum, in der Gegenwart von irgend etwas anwesend zu
sein.
ER Haben Sie mal den Roman Die Schattenlinie gelesen?
SIE Von Conrad? Nein. Ein Freund hat mir davon erzählt, aber ich
habe das Buch nie gelesen.
ER Der erste Satz lautet: »Nur junge Menschen kennen sol-
che Augenblicke.« Es sind Augenblicke, die Conrad als
»unbesonnen« bezeichnet. Auf den ersten Seiten bereitet
er den Boden für seine Geschichte. »Unbesonnene Au-
genblicke« – eine Aussage, die nur aus diesen beiden
Wörtern besteht. Dann fährt er fort: »Ich meine Augen-
blicke, in welchen junge Menschen geneigt sind, etwas
Unbesonnenes zu tun, etwa Hals über Kopf zu heiraten
oder einen Posten grundlos zu kündigen.« So heißt es da.
Aber diese unbesonnenen Augenblicke gibt es nicht nur
in der Jugend. Dass ich gestern abend hierhergekom-
men bin, war unbesonnen. Dass ich es gewagt habe, hier-
her zurückzukehren, war ebenfalls unbesonnen. Auch
im Alter gibt es unbesonnene Augenblicke. Meine erste
Unbesonnenheit war fortzugehen, meine zweite war zu-
rückzukehren.
SIE Billy denkt, dass er einem unbesonnenen Augenblick von mir
nachgibt und ich, wenn er das nicht täte, in Angst und
Depression versinken würde. Aber er denkt, dass es ein
unbesonnener Augenblick ist. Ich habe mich nie als einen
verzweifelten Menschen betrachtet. Ich will nicht denken, dass
ich etwas Verzweifeltes tue.
ER Ich glaube, es wird Ihnen dort gefallen. Sie werden mir feh-
len.
SIE Na ja, es ist Ihr Haus. Sie können jederzeit kommen.
Wenn Sie etwas vergessen haben, kommen Sie einfach vorbei.
Wir könnten zusammen zu Mittag essen.
ER Sie könnten etwas vergessen haben und nach New York
kommen.
SIE Klar.
ER Gut. Sie sind weniger kurz angebunden zu mir als gestern
abend. Die Tatsache, dass ich mir Bushs Lügen nicht an-
gehört habe, macht mich ja noch nicht zu einem Gegner.
STE War ich gemein?
ER Ich hatte das Gefühl, dass Sie mich nicht mochten. Aber
vielleicht habe ich Sie eingeschüchtert.
SIE Natürlich haben Sie das. Auf dem College habe ich all
Ihre Bücher gelesen und seither alle, die Sie später geschrieben
haben. Da oben, in der Abgeschiedenheit der Berkshires, war es
Ihnen vielleicht nicht bewusst, aber es gibt viele, Leute in
meinem Alter oder älter (lacht) oder jünger, für die Sie eine
wichtige Funktion erfüllen. Wir bewundern Sie.
ER Tja, ich habe mich seit vielen Jahren nicht mehr im Spiegel der
Öffentlichkeit betrachtet. Davon weiß ich nichts.
SIE Ich habe es Ihnen gerade gesagt.
ER Ich weiß es trotzdem nicht. Aber es ist sehr schön zu hören, dass
Sie mich bewundern, denn ich habe Sie schon nach kurzer Zeit
bewundert.
SIE (überrascht) Sie haben mich schon nach kurzer Zeit bewundert?
Warum?
ER Ich sage es nicht gern, aber »eines Tages werden Sie es ver-
stehen«. (Sie lacht.)
ER Ihr Postmodernen lacht oft.
SIE Ich lache, weil ich vieles komisch finde.
ER Lachen Sie über mich?
SIE Ich lache über die Situation. Sie reden mit mir, als wären
Sie mein Vater. Eines Tages werde ich es verstehen. Liegt
die Freude darin, es zu tun, oder nur darin, es getan zu
haben? Ich spreche vom Schreiben. Und ich wechsle das
Thema.
ER Sie liegt darin, es zu tun. Die Freude daran, es getan zu ha-
ben, wahrt nicht lange. Man spürt Freude, wenn man
den Stoß Papier in der Hand hält, und dann noch einmal,
wenn das erste Exemplar eintrifft. Ich nehme es hundert-
mal in die Hand und lege es wieder weg. Wenn ich esse,
liegt es neben meinem Teller. Manchmal nehme ich es mit
ins Bett.
SIE Das kenne ich. Als meine erste Geschichte veröffentlicht
wurde, habe ich den New Yorker unter mein Kopfkissen
gelegt.
ER Sie sind eine überaus bezaubernde junge Frau.
SIE Danke, danke.
ER Darum lebe ich auf dem Land.
SIE Ich verstehe.
ER Es ist ein bisschen schmerzlich für mich, nach New York
zurückzukehren, und auch das hier ist ein bisschen
schmerzlich. Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.
SIE Gut. Vielleicht können wir uns noch einmal allein treffen und
miteinander sprechen.
ER Das würde mir den Rest geben, meine Freundin.
SIE Ich wäre gern Ihre Freundin.
ER Warum?
SIE Weil ich niemanden wie Sie habe.
ER Sie kennen mich nicht.
SIE Das stimmt. Ich habe sonst keine Interaktionen wie diese.
ER Müssen Sie dieses Wort gebrauchen? Sie sind doch Schrift-
stellerin – streichen Sie das Wort »Interaktion« aus Ihrem
Wortschatz.
SIE (lacht) Ich habe keine Gespräche wie dieses. Ich komme nicht in
Situationen wie diese.
ER Ich wollte Sie nicht korrigieren. Das geht mich nichts an.
Entschuldigen Sie.
SIE Ich verstehe Sie schon. Wenn Sie sich mk mir treffen und sich
mit mir unterhalten wollen – meine Nummer ist Ihre Nummer.
Sie können mich jederzeit anrufen.
ER Es ist, als hätte ich nicht auf eine Anzeige aus der Rubrik
»Wohnungstausch« reagiert, sondern auf eine aus der
Rubrik »Bekanntschaften«. »Höchst attraktive, sehr ge-
bildete junge Frau (weiß, verheiratet) hat noch Termine
für intime Gespräche frei ...« Ich habe mehr gefunden als
eine neue Wohnung, nicht wahr?
SIE Vielleicht eine Freundin.
ER Aber dies ist keine Freundschaft, wie ich sie haben kann.
SIE Was können Sie denn haben?
ER Wie es aussieht, nicht viel. Mir ist Wertvolles genommen
worden, und das hat mich in eine unangenehme Lage ge-
bracht, aus der ich nicht durch harte Arbeit und so weiter
herausfinden kann. Verstehen Sie, was ich meine?
SIE Nein, ich verstehe nicht ganz. Meinen Sie, dass Sie alter
geworden sind? Oder sprechen Sie von etwas Bestimm-
tem?
ER (lacht) Ich glaube, ich meine, dass ich älter geworden bin.
SIE Jetzt verstehe ich.
ER Es zerreißt mir noch das Herz, also gehe ich jetzt besser.
Ich werde meinem Verlangen widerstehen und nicht versuchen,
Sie zu küssen.
SIE Okay.
ER Es würde uns nicht weiterbringen.
SIE Sie haben recht. Ich bin froh, dass Sie vorbeigekommen sind.
Sehr froh.
ER Sind Sie eine Verführerin?
SIE Nein, nein, absolut nicht.
ER Sie haben einen Mann, Sie haben einen Liebhaber, und jetzt
wollen Sie mich als Freund. Sammeln Sie Männer? Oder
sammeln Männer Sie?
SIE (lacht) Ich glaube, ich habe Männer gesammelt, und Männer
haben mich gesammelt.
ER Sie sind erst dreißig. Haben Sie viele Männer gesammelt?
SIE Ich weiß nicht, was Sie mit »viele« meinen. (Lacht wieder.)
ER Ich meine, seit Sie das College verlassen haben. In der Zeit
zwischen der Abschlussfeier und diesem Nachmittag, der damit
endet, dass Sie mich mit Ihrer Verführungskraft gesammelt
haben ... Aber Sie benehmen sich jetzt kindisch, als besäßen Sie
diese Kraft nicht. Hat Ihnen nie jemand gesagt, dass Sie sie
besitzen?
SIE Doch. Ich habe nur gelacht, weil ich, wenn Sie sich zu den
gesammelten Männern zählen, nicht wüsste, wie ich die
Männer, die ich angeblich gesammelt habe, zählen sollte.
ER Sie haben mich gesammelt.
SIE Und trotzdem wollen Sie mich nicht mehr anrufen. Und Sie
wollen mich nicht küssen. Vielleicht werden wir einander gar
nicht mehr sehen, außer bei der Schlüsselübergabe, wenn mein
Mann dabei ist. Ich verstehe nicht, wie ich Sie gesammelt haben
soll.
ER Für einen Mann wie mich ist eine Begegnung wie diese
überwältigend.
SIE Das will ich nicht. Es tut mir leid, wenn ich Sie überwäl-
tigt habe.
ER Schade, dass ich Sie nicht überwältigen konnte.
SIE Sie haben mir eine Freude gemacht.
ER Wie gesagt: das hier zerreißt mir noch das Herz, und darum
muss ich jetzt gehen.
SIE Danke, dass Sie gekommen sind.
(Auf der Straße, als er zu Fuß zurück zum Hotel geht und an
die soeben erlebte Szene denkt – und wenn er sich vorkommt
wie ein Schauspieler, der von einer Probe für ein noch nie öf-
fentlich gezeigtes Stück kommt, dann weil diese Frau ihm wie
eine Schauspielerin erscheint, wie eine mit überaus viel Intui-
tion begabte, intelligente junge Schauspielerin, die gut zuhört,
vollkommen konzentriert ist und ruhig antwortet –, fühlt er
sich an die Szene in Ein Puppenheim erinnert, in der der ster-
bende, unglücklich liebende, gebildete Dr. Rank von Torvald
Helmers schöner Frau, der verwöhnten, flatterhaften jungen
Nora, aufgefordert wird, sich für einen Augenblick zu ihr zu
gesellen. Das Tageslicht schwindet, der Raum erscheint klei-
ner, auf der Straße fahren ein, zwei Droschken vorbei, die
Stadt tritt in den Hintergrund, während die direkte Umge-
bung der beiden dunkler wird und näher rückt. Sie nehmen
sich Zeit füreinander, sie hören einander gut zu. Die Szene ist
so aufgeladen mit Sexualität, aber auch so traurig. Beide sind
sehr mit ihrer jeweiligen Vergangenheit beschäftigt, doch keiner
weiß viel über die des anderen. Das langsame Tempo, das
häufige Schweigen und was es zu enthalten scheint. Beide sind
verzweifelt, wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen
Gründen. Für ihn ist es jedoch die letzte verzweifelte Szene,
ganz gewiss mit dieser schlauen, begabten Schauspielerin, die
sich als hoffnungsvolle Schriftstellerin ausgibt. Eine Szene,
mit der das Stück Er und Sie beginnt, ein Stück über Begehren
und Versuchung, über Koketterie und Qual – nicht enden
wollende Qual –, eine Improvisation, die man am besten
einen gnädigen Tod sterben lassen sollte. Es gibt eine Erzäh-
lung von Tschechow mit dem Titel »Er und Sie«. Er kann sich
nur an den Titel erinnern, nicht an den Inhalt [vielleicht gibt
es diese Erzählung auch gar nicht], doch er kennt den Wort-
laut des Schlüsselsatzes in dem Brief in dem der noch junge
Tschechow Ratschläge über das Schreiben von Erzählun-
gen erteilt hat. Er hat diesen Brief eines sehr bewunderten
Schriftstellers, den er mit Mitte Zwanzig gelesen hat, noch
deutlich vor Augen, während ihm gestern getroffene Verab-
redungen vollkommen entfallen sind. »Der Schwerpunkt«,
schrieb Tschechow 1886, »sollte in zwei Personen liegen: ihm
und ihr.« Das sollte er. Das hat er. Zum allerletztenmal.)
Ich gab mir fünfzehn Minuten für den Weg vom Hotel zu
dem Restaurant, wo ich mich um sieben Uhr mit Amy treffen
wollte. Tony begrüßte mich und führte mich zu meinem Tisch.
»Nach all den Jahren«, sagte er fröhlich und schob mir den
Stuhl heran.
»Sie werden mich jetzt wieder öfter zu sehen bekommen,
Tony. Ich bleibe für eine Weile in der Stadt.«
»Wie schon für Sie«, sagte er. »Nach dem n. September sind
ein paar von unseren Stammgästen mit ihren Kindern nach
Long Island gezogen oder aufs Land oder nach Vermont – sie
sind einfach weggezogen, in alle möglichen Richtungen. Ich
respektiere das natürlich, aber es war trotzdem reine Panik. Es
hat sich dann schnell wieder gelegt, aber ich muss ehrlich
sagen: Wir haben nach dieser Sache einige wunderbare Gäste
verloren. Sind Sie allein, Mr. Zuckerman?«
»Ich erwarte noch jemanden«, sagte ich.
Doch sie kam nicht. Ich hatte ihre Telefonnummer nicht
mitgenommen und konnte nicht anrufen, um sie zu fragen,
ob alles in Ordnung sei. Ich dachte, sie schäme sich vielleicht
zu sehr, sich mir als geschwächte alte Frau mit einem halb
rasierten Schädel und einer entstellenden Narbe zu zeigen.
Vielleicht hatte sie es sich aber auch einfach anders überlegt,
vielleicht wollte sie mich nicht mehr bewegen, bei Kliman zu
intervenieren, und mir auch nicht – wie sie es hätte tun müs-
sen – jene angeblichen Episoden aus Lonoffs Jugend enthüllen,
deren Veröffentlichung sie, als Bewahrerin des Andenkens
dieses derart auf seine Privatsphäre bedachten Mannes, so sehr
fürchtete.
Ich wartete über eine Stunde und bestellte, weil es mir
möglich erschien, dass sie noch kommen würde, in dieser Zeit
nichts als ein Glas Wein – und dann fiel mir ein, dass dies
nicht das Restaurant war, in dem wir uns verabredet hatten.
Ich war ganz automatisch zu Pierlu s gegangen, in der
Gewissheit, dass ich diesen Ort vorgeschlagen hatte, und jetzt
konnte ich mich nicht erinnern, ob ich Amy gebeten hatte, ein
Lokal ihrer Wahl vorzuschlagen. Wenn ich das getan hatte, so
konnte ich mich jedenfalls nicht erinnern, für welches sie sich
entschieden hatte. Der Gedanke, dass sie die ganze Zeit dort
gesessen und gedacht hatte, ich hätte sie wegen der Art, wie
sie sich selbst beschrieben hatte, versetzt, ließ mich die Treppe
hinunter zum Telefon eilen. Ich rief mein Hotel an und hörte
meinen Anrufbeantworter ab. Es gab eine Nachricht: »Ich
habe eine Stunde gewartet, dann bin ich gegangen. Ich ver-
stehe.«
Am Vormittag war ich in einem Drugstore gewesen und
hatte ein paar Toilettenartikel gekauft, die ich vergessen hatte,
nach New York mitzunehmen. An der Kasse hatte ich die
Verkäuferin gefragt: »Könnten Sie das bitte in eine Schachtel
packen?« Sie hatte mich ausdruckslos angesehen und geant-
wortet: »Wir haben keine Schachteln.« »Ich meine, in eine
Tüte, bitte.« Ein winziger Fehler, der mich dennoch beunru-
higte. Solche Versprecher unterliefen mir inzwischen beinahe
täglich, und trotz der Einträge, die ich gewissenhaft in mein
Aufgabenbuch schrieb, trotz aller Bemühungen, mich auf das,
was ich tat oder tun wollte, zu konzentrieren, vergaß ich
häufig etwas. Wenn ich telefonierte, bemerkte ich, dass wohl-
meinende Menschen manchmal versuchten, den angefangenen
Satz oder Gedanken für mich zu Ende zu führen, bevor mir
überhaupt bewusst wurde, dass ich gezögert oder auf der
Suche nach dem richtigen Wort innegehalten hatte. Andere
gingen großzügig über meine Fehler hinweg, wenn ich (wie
erst neulich gegenüber meiner Haushaltshilfe Belinda) neue
Wortschöpfungen wie »schwerempfunden« anstatt »tiefemp-
funden« von mir gab, wenn ich in Athena einen Bekannten mit
dem falschen Namen ansprach oder wenn der Name der
Person, mit der ich mich unterhielt, mir mit einemmal entfal-
len war und ich angestrengt nachdenken musste, bis ich ihn
wieder parat hatte. All diese bemühte Konzentration schien
wenig gegen eine Entwicklung zu bewirken, die sich nicht so
sehr wie ein langsames Nachlassen des Gedächtnisses als viel-
mehr wie ein jäher Rutsch in die Besinnungslosigkeit anfühlte,
als wohnte in meinem Kopf etwas Diabolisches, das eigene
Ziele verfolgte – der Kobold der Amnesie, der Dämon des
Vergessens, gegen dessen Zerstörungskraft ich nicht ankam –,
als würde diese Wesenheit solche Ausfälle einzig und allein
einsetzen, um das Vergnügen zu genießen, mir bei meinem
Verfall zuzusehen, als wäre es ihr hämisches Endziel, je-
manden, dessen Scharfsinn als Schriftsteller auf Erinnerung
und verbaler Präzision beruhte, in einen belanglosen Men-
schen zu verwandeln.
(Das ist auch der Grund, warum ich, ganz gegen meine Ge-
wohnheit, so schnell arbeite, wie ich nur kann, solange ich
dazu noch imstande bin, wobei ich, gerade wegen der geisti-
gen Widrigkeiten, denen ich zu entgehen suche, nicht an-
nähernd so rasch vorankomme, wie ich sollte. Die einzige
Gewissheit, die ich noch habe, ist, dass dies vermutlich mein
letzter Versuch sein wird, tastend nach Worten zu suchen, die
sich zu den Sätzen und Absätzen eines Buches zusammen-
fügen. Denn dies ist nun ein permanentes Tasten, ein Tasten,
welches weit über das bemühte Tasten nach Geläufigkeit
hinausgeht, aus dem das Schreiben im Grunde besteht. Im
letzten Jahr der Arbeit an dem Roman, den ich kürzlich an
meinen Verlag geschickt habe, musste ich feststellen, dass ich
täglich gegen drohende Zusammenhanglosigkeit anzukämp-
fen hatte. Als ich schließlich fertig war – das heißt, als ich
nach vier Durchgängen einfach nicht mehr konnte –, ver-
mochte ich nicht zu sagen, ob meine Aufnahmefähigkeit bei
der Lektüre des Manuskripts durch einen verwirrten Geist
beeinträchtigt war oder ob mein Eindruck richtig gewesen war
und das Manuskript den verwirrten Geist widerspiegelte. Ich
schickte das fertige Manuskript wie immer an meinen
aufmerksamsten Leser, der vor ewigen Zeiten ein Kommili-
tone an der University of Chicago gewesen war und auf des-
sen Intuition ich mich hundertprozentig verlasse. Als er mich
anrief, um mir sein Urteil mitzuteilen, spürte ich, dass er die
mir vertraute Freimütigkeit abgelegt hatte und sich aus
Freundlichkeit verstellte, indem er erklärte, er sei kein geeig-
neter Leser für dieses Buch und könne leider nichts Brauch-
bares darüber sagen, denn der Protagonist, dem ich im großen
und ganzen mit Sympathie gegenüberstand, sei ihm so fremd,
dass er nicht imstande sei, genug Interesse für ihn aufzubrin-
gen, um mir von Nutzen zu sein.
Ich drängte ihn nicht, ich war nicht einmal verwirrt. Ich
verstand die Taktik, mit deren Hilfe er seine Gedanken ver-
barg, doch angesichts der Tatsache, dass ich die kritischen Fä-
higkeiten meines Freundes sehr gut kannte und wusste, dass
sein Urteil stets gerechtfertigt war, hätte ich extrem naiv sein
müssen, um mich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
Nach der Lektüre der vierten Fassung war er zu dem Schluss
gekommen, dass die tiefgreifenden Korrekturen, die ihm vor-
schwebten, enorm hohe Anforderungen an das stellen wür-
den, was von meinen Fähigkeiten geblieben war, und so hielt
er es, anstatt den Vorschlag zu machen, ich solle eine fünfte
Überarbeitung vornehmen, für das Beste, die Schuld bei einer
nichtexistenten eigenen Beschränkung wie ebenjenem Man-
gel an Sympathie für den Protagonisten zu suchen und nicht
bei dem, was mir, wie er wohl glaubte, inzwischen fehlte.
Wenn ich seine Reaktion richtig gedeutet hatte und sein Ein-
druck, wie ich zu wissen glaubte, auf schmerzliche Weise
meinem eigenen entsprach – was sollte ich dann mit einem
Buch tun, an dem ich beinahe drei Jahre gearbeitet hatte und
das ich für ebenso abgeschlossen wie unbefriedigend hielt? In
einer derart misslichen Situation hatte ich mich noch nie be-
funden – bisher war es mir immer gelungen, genug Energie
und Einfallsreichtum zu mobilisieren, um den Kampf bis zu
einem entscheidenden Ende fortzusetzen –, und ich dachte
daran, was zwei amerikanische Schriftsteller ersten Ranges
getan hatten, als sie ein Nachlassen ihrer Fähigkeiten gespürt
oder in ihrem Buch eine Unvollkommenheit bemerkt hatten,
die sich jeder Korrektur hartnäckig widersetzte. Ich konnte
tun, was Hemingway getan hatte – und zwar nicht erst gegen
Ende seines Lebens, als seine monumentale Kraft, seine Rast-
losigkeit, seine Freude an gewalttätigen Konflikten verdrängt
wurden von körperlichen Schmerzen, alkoholbedingtem
Verfall, geistiger Erschöpfung und depressiven Selbstmord-
gedanken, sondern in seiner großen Zeit, als seine Stärke
grenzenlos war, als er vor Streitlust strotzte und die überra-
gende Bedeutung seiner Prosa in aller Welt anerkannt war: Ich
konnte das Manuskript in die Schublade legen, um es ent-
weder später zu überarbeiten oder aber für immer unveröf-
fentlicht zu lassen. Oder ich konnte tun, was Fauikner getan
hatte, und es zur Veröffentlichung an den Verlag weiterleiten,
damit das Buch, an dem ich so mühsam gearbeitet hatte und
das ich nicht weiter verbessern konnte, die Leser in dem Zu-
stand erreichte, in dem es sich befand, und ihnen die Freude
bereitete, die es zu bereiten vermochte.
Wie jeder andere brauchte ich eine Strategie, die es mir er-
möglichte, diesen Zustand zu ertragen und weiterzumachen,
und schließlich entschied ich mich, mochte es sich als gut oder
schlecht, als falsch oder richtig erweisen, für die zweite
Variante, auch wenn ich nur halb daran glaubte, dass dies
meine Fähigkeit, in die Dämmerung meines Talentes voran-
zuschreiten, ohne allzuviel Schande auf mich zu häufen, noch
am wenigsten beeinträchtigen würde. Und das war, bevor der
Kampf so schwer wurde, wie er es jetzt ist, und der Verfall bis
zu einem Stadium fortgeschritten war, wo nicht einmal der
schwächste Schutz davor zu finden ist, wo es nicht mehr
darum geht, dass ich mich nach ein, zwei Tagen nicht an die
Einzelheiten des vorigen Kapitels erinnern kann, sondern,
so unwahrscheinlich es auch klingt, nach wenigen Minuten
schon nicht mehr weiß, was auf der vorangegangenen Seite
steht.
Als ich schließlich in New York ärztliche Hilfe zu suchen
beschloss, war nicht nur mein Penis undicht, der Funktions-
verlust betraf nicht nur den Blasenschließmuskel, und ich
konnte nicht mehr hoffen, dass die nächste Krise, die mich
verändern würde, sich auf einen körperlichen Ausfall
beschränken würde. Diesmal würde es um meine geistigen
Fähigkeiten gehen, und diesmal gab mir meine Ahnung eine
kurze Vorwarnzeit, wenn auch, soweit ich wusste, nicht viel
mehr als das.)
Es war nicht so schlimm, wie ich es mir auf dem Weg dorthin
vorgestellt hatte; dennoch schien es kaum gerecht, dass eine
solche Frau, die Gefährtin eines brillanten Schriftstellers,
dieses Gebäude ihr Zuhause nennen sollte. Im Erdgeschoss
befanden sich ein Spaghetti-Imbiss und eine irische Bar, und
weder die Haustür noch die Innentür, die zum Treppenhaus
führte, verfügten über ein Schloss. Stark verbeulte Mülltonnen
standen in der dunklen Nische unter der ersten Treppe. Als ich
auf den Klingelknopf neben der Reihe von Briefkästen drückte,
bemerkte ich, daß einer der Kästen kein Schloss hatte und
seine Tür offenstand. Ich war mir nicht sicher, ob die Klingel
funktionierte, und überrascht, von oben Amys Stimme zu
hören: »Vorsicht, ein paar Stufen sind lose.«
Einige an der Decke befestigte nackte Glühbirnen be-
leuchteten das Treppenhaus ausreichend, doch die Kor-
ridore lagen im Dunkeln. Der Geruch hier im Inneren des
Hauses mochte vom Urin von Katzen oder Ratten oder beiden
stammen.
Sie wartete am Treppenabsatz im zweiten Stock. Der zur
Hälfte rasierte Schädel und der graue Zopf waren das erste,
was ich von dieser alten Frau sah, die in einem langen, form-
losen zitronengelben Kleid, das eigentlich Fröhlichkeit signa-
lisieren sollte, noch bemitleidenswerter wirkte als in dem
zum Straßenkleid umgearbeiteten Krankenhausnachthemd.
Wie sie aussah, schien ihr jedoch gleichgültig zu sein, und sie
freute sich geradezu kindlich, mich zu sehen. Sie streckte mir
die Hand hin, doch ich konnte nicht umhin, sie auf beide
Wangen zu küssen, ein Vergnügen, für das ich 1956 große
Anstrengungen unternommen hätte. Alles an diesen Küssen
erschien mir wie ein Wunder – das größte war, dass sie, ihrem
äußeren Erscheinungsbild zum Trotz, keine Schwindlerin,
sondern tatsächlich sie selbst war. Dass sie all diese Torturen
überstanden hatte und mich in dieser heruntergekommenen
Umgebung willkommen hieß, war ein großes Wunder, und es
wollte mir scheinen, als wäre mein Besuch, als wäre diese
Vollendung einer Begegnung mit einer jungen Frau, die vor
beinahe fünfzig Jahren eine so große Anziehungskraft auf
mich ausgeübt hatte, mein mir selbst unbekannter Grund
gewesen, nach New York zu fahren, der Grund, warum ich
hierhergekommen war und überstürzt beschlossen hatte zu
bleiben. Dass ich nach so langer Zeit zurückgekehrt war,
nachdem ich an Krebs erkrankt war und sie an Krebs er-
krankt war und sich unsere schlauen jungen Gehirne ein we-
nig abgenutzt hatten – vielleicht war das der Grund, warum
ich fast zitterte und warum sie ein langes gelbes Kleid angezo-
gen hatte, das, wenn überhaupt jemals, vor einem halben
Jahrhundert Mode gewesen war. Wir brauchten beide so sehr
diese Gestalt aus unserer Vergangenheit. Zeit – die Macht und
die Kraft der Zeit – und dieses alte gelbe Kleid über ihrem
wehrlosen, vom Tod überschatteten Körper! Und wenn ich
mich nun umdrehte und Lonoff die Treppe hinaufkommen
sah? Was würde ich zu ihm sagen? »Ich bewundere Sie noch
immer«? »Ich habe gerade Ihre Erzählungen noch einmal ge-
lesen«? »In Ihrer Gegenwart werde ich wieder zum Jungen«?
Und er würde sagen – ich konnte ihn geradezu hören: »Küm-
mern Sie sich um sie. Die Vorstellung, dass sie leiden muss, ist
unerträglich.« Als Toter war er korpulenter als zu Lebzeiten.
Er hatte im Grab zugenommen. »Soviel ich weiß«, sagte er und
nahm rasch einen freundlich-sarkastischen Ton an, »sind
Sie kein so hervorragender Liebhaber mehr. Das macht es
wahrscheinlich leichter.«
»Körperliche Ausfälle«, antwortete ich, »machen nichts
leichter. Ich werde tun, was ich kann.« Ich hatte in meiner
Brieftasche einige hundert Dollar, die ich ihr geben konnte,
und im Hotel würde ich einen Scheck ausstellen, den ich am
nächsten Morgen absenden konnte. Ich musste nur daran
denken, mich beim Abschied davon zu überzeugen, dass der
schadhafte Briefkasten nicht ihr gehörte. Wenn doch, würde
ich andere Wege finden, ihr Geld zukommen zu lassen.
»Danke«, sagte Lonoff, als ich dem gelben Kleid in die
langgezogene, schmale Wohnung folgte, in der zwei Räume –
ein Arbeitszimmer und dahinter, zugänglich durch einen von
einem Bogen überwölbten Durchgang, die Küche – fenster-
los waren. Nach vorn hinaus, über dem Verkehr auf der 1st
Avenue und der Imbiss-Stube, war ein kleines Wohnzimmer
mit zwei vergitterten Fenstern, nach hinten hinaus war ein
noch kleinerer Raum mit nur einem vergitterten Fenster, ge-
rade groß genug für ein schmales Bett und einen Nachttisch.
Drei Fenster. In Lonoffs Haus in den Berkshires musste es zwei
Dutzend Fenster gegeben haben, die man nie hatte besonders
sichern müssen.
Das Schlafzimmerfenster ging auf einen Luftschacht und
eine winzige Gasse, in der die Mülltonnen des Spaghettilokals
standen. Ich stellte fest, dass sich die Toilette in einer klei-
derschrankgroßen Kammer hinter einer Tür neben der Spüle
befand. Eine eher kleine Badewanne stand auf Klauenfüßen
in der Küche, zentimetergenau eingepasst zwischen Herd
und Kühlschrank. Da es nach vorn hinaus laut war wegen der
Busse, Lastwagen und Autos auf der ist Avenue und nach
hinten hinaus wegen des unablässigen Lärms, der aus der
Imbissküche drang, deren Hintertür zur Belüftung tagein,
tagaus offenstand, setzten wir uns in Amys relativ ruhiges
Arbeitszimmer, zwischen Papierstapel und Bücher, welche
die Regale an den Wänden füllten und sich rings um den mit
einer Resopalplatte versehenen Küchentisch türmten, der als
Arbeitstisch diente. Die Lampe darauf gab das einzige Licht
in diesem Raum – es war eine hohe, bauchige, halbdurch-
sichtige braune Flasche, die mit einer Glühbirnenfassung und
einem gefältelten, wie ein breitkrempiger Sonnenhut wirken-
den Schirm versehen war. Zuletzt hatte ich sie vor achtund-
vierzig Jahren gesehen: Es war Lonoffs hässliche Schreib-
tischlampe. Ich entdeckte noch ein anderes Relikt aus seinem
Arbeitszimmer: den stumpf braunen, mit Rosshaar gepolster-
ten großen Sessel, in dem im Lauf der Jahrzehnte nicht nur
sein schwerer Körper, sondern, wie mir schien, auch seine
Gedanken und die Konturen seines Stoizismus ihren Ab-
druck hinterlassen hatten, den abgenutzten Sessel, in dem er
gesessen und mich mit ganz simplen Fragen über meine ju-
gendlichen Ziele eingeschüchtert hatte. Ich dachte: »Was? Sie
hier?«, und erinnerte mich, dass diese Worte in Eliots »Little
Gidding« vorkommen, an der Stelle, wo der Dichter vor Mor-
gengrauen durch die Straßen geht und den »vielgestaltigen
Geist« trifft, der ihm verrät, welche Schmerzen ihn erwarten:
»Denn die Worte des vergangenen Jahres gehören zur Sprache
des vergangenen Jahres / Und die Worte des nächsten Jahres
harren einer anderen Stimme.« Wie beginnt Eliots Geist?
Sardonisch. »Lasst mich enthüllen, welche Geschenke das
Alter bereithält.« Das Alter bereithält. Das Alter bereithält.
Weiter weiß ich es nicht. Es folgt eine schreckliche Prophe-
zeiung, an die ich mich nicht erinnere. Wenn ich zu Hause
bin, werde ich es nachschlagen.
Stumm teilte ich Lonoff einen Gedanken mit, der mir eben
erst gekommen war: »Sie sind nicht mehr über dreißig Jahre
älter als ich. Ich bin jetzt zehn Jahre älter als Sie.«
»Haben Sie etwas gegessen?« fragte Amy.
»Ich habe keinen Hunger«, antwortete ich. »Ich bin zu
überwältigt, in Ihrer Gesellschaft zu sein.« Eine so abwegige
Vorstellung überfiel mich und nahm mich derart gefangen,
dass dies alles war, was ich hervorbringen konnte. Wie unge-
nau und erratisch mein Gedächtnis in letzter Zeit auch sein
mochte – meine Erinnerung an Amy Bellette, die ich nur ein-
mal und vor langer Zeit getroffen hatte, war noch immer leb-
haft und geprägt von dem Gefühl, das ich 1956 gehabt hatte:
dass sie ein außerordentlich bedeutender Mensch sei. Damals
war ich so weit gegangen, ein detailliertes Szenario zu entwik-
keln, das ihre Person mit den schrecklichen Einzelheiten der
Biographie von Anne Frank verknüpfte, einer Anne Frank al-
lerdings, die Europa und den Zweiten Weltkrieg überlebt,
einen anderen Namen angenommen und sich selbst als ver-
waiste, aus Holland stammende Studentin in Neuengland neu
erfunden hatte, als Schülerin und dann als Geliebte E.I. Lo-
noffs, dem sie – nachdem sie allein nach Manhattan gefahren
war, um sich die erste Bühnenversion von Das Tagebuch der
Anne Frank anzusehen – ihre wahre Identität anvertraut
hatte. Natürlich wurde ich nicht mehr von den Motiven ge-
trieben, die mich als jungen Mann veranlasst hatten, diese
extravagante Fiktion weiter auszuführen. Die Gefühle, die
meine Phantasie mit Mitte Zwanzig in diese Richtung geleitet
hatten, waren zusammen mit den moralischen Forderungen,
welche die Eminenzen der jüdischen Gemeinde an mich ge-
stellt hatten, längst verschwunden. Ihre Verurteilung meiner
ersten veröffentlichten Erzählungen als schlimme Manife-
stationen »jüdischen Selbsthasses« hatten mich geschmerzt,
trotz der erbitternden Selbstgerechtigkeit ihrer jüdischen
Selbstverliebtheit, gegen die ich mit all meinem Abscheu an-
gekämpft hatte – unter anderem, indem ich in meiner Phan-
tasie Lonoffs Amy in die Märtyrerin Anne Frank verwandelt
hatte, die ich mir, nur wenig ironisch, als meine Braut vorge-
stellt hatte. Als die muntere, jugendliche jüdische Heilige
wurde Amy zu meinem fiktionalen Bollwerk gegen die ver-
nichtende Kritik.
»Möchten Sie etwas trinken?« fragte sie mich. »Ein Bier?«
Ich hätte gern etwas Stärkeres getrunken, doch weil Alko-
hol meine mentalen Ausfälle verstärkte, beschränkte ich mich
inzwischen auf ein Glas Wein zum Essen. »Nein, danke. Ha-
ben Sie etwas gegessen?«
»Ich esse nicht mehr viel.« Nicht mehr. Das war eine
Wortkombination, die auch ich oft gebrauchte.
»Geht es Ihnen gut?« fragte ich.
»Es ging mir gut. Monatelang. Aber jetzt habe ich erfahren,
dass das verdammte Ding zurückgekehrt ist. So geht es: Das
Schicksal schleicht sich von hinten an, und eines Tages springt
es hervor und ruft: ›Buh!‹ Als ich den ersten Tumor hatte und
noch gar nichts davon wusste, habe ich Dinge getan, die ich
lieber nicht wiederholen möchte. Den Hund meines Nachbarn
getreten. Es war so ein kleiner Köter, der im Treppenhaus im-
mer gekläfft und nach den Schuhen der Leute geschnappt hat,
eine richtige Nervensäge, die man eigentlich gar nicht rauslas-
sen sollte, und eines Tages hab ich ihm einen ordentlichen
Tritt verpasst. Ich habe Leserbriefe an die New York Times ge-
schrieben. Ich hatte einen Anfall in der Leihbücherei und bin
vollkommen durchgedreht. Ich bin hingegangen, um mir eine
Ausstellung über E. E. Cummings anzusehen. Als ich als Stu-
dentin nach New York kam, habe ich seine Gedichte geliebt.
›Ich singe von Olaf, froh und groß.‹ Als ich die Ausstellung
verließ, sah ich, dass an den Wänden des Korridors eine noch
viel größere, viel dramatischere Ausstellung mit dem Titel
›Meilensteine moderner Literatur‹ eingerichtet war. Große
gerahmte Porträts hingen über Vitrinen, in denen Erstaus-
gaben in ihren Original-Schutzumschlägen ausgestellt waren,
und das Ganze war nichts als politisch idiotisch korrekter
Mist. Normalerweise wäre ich einfach weitergegangen und
hätte mich auf dem Heimweg, in der U-Bahn, mit Manny
darüber unterhalten. Er war der Inbegriff von Takt – von Takt,
Witz und Geduld. Menschliche Dummheit konnte ihn nie
überraschen. Selbst als Toter spendet er mir so viel Trost.«
»Nach vierzig Jahren? Gab es in diesen vierzig Jahren keinen
anderen Menschen, der für Sie so wichtig geworden ist, dass er
Sie trösten könnte?«
»Hätte es so jemanden geben können?«
»Hätte es nicht so jemanden geben können?«
»Nach ihm?«
»Als er starb, waren Sie dreißig. Dass Ihr ganzes Leben
von einer einzigen Episode bestimmt wurde ... Sie waren
noch jung.« Ich verbot mir zu sagen: »Wurde alles, was da-
nach kam, von diesen wenigen Jahren erdrückt?«, denn die
Antwort lag mittlerweile auf der Hand. Ja, alles, jede Kleinig-
keit.
»Unwichtig«, lautete ihre Antwort auf das, was ich gesagt
hatte.
»Was haben Sie denn danach getan?«
»Getan? Was für ein Wort. Getan. Ich habe Bücher über-
setzt – aus dem Englischen ins Norwegische, aus dem Norwe-
gischen ins Englische, aus dem Schwedischen ins Englische,
aus dem Englischen ins Schwedische. Das habe ich getan.
Aber die meiste Zeit habe ich mich treiben lassen. Ich habe
mich immerzu treiben lassen, und jetzt bin ich fünfundsieb-
zig. So bin ich fünfundsiebzig geworden: indem ich mich
habe treiben lassen. Aber Sie haben sich nicht treiben lassen.
Ihr Leben war wie ein abgeschossener Pfeil. Sie haben gear-
beitet.«
»Und so bin ich einundsiebzig geworden. Man erreicht
das Ende, so oder so, als Pfeil oder als Treibgut. Sind Sie nie
mit jemand anderem zu dieser Villa in Florenz zurückge-
kehrt?«
»Woher wissen Sie von der Villa in Florenz?«
»Weil er mir an jenem Abend davon erzählt hat. Ganz ab-
strakt, als wäre es etwas, über das er flüchtig nachgedacht
hatte. Und dann«, gestand ich, »habe ich Sie beide belauscht.
Ich habe mir an dem Abend erlaubt, ein Gespräch zwischen
ihm und Ihnen zu belauschen.«
»Wie haben Sie das gemacht?«
»Ich schlief in dem Zimmer unter Ihnen. Sie erinnern sich
sicher nicht daran. Er hatte mir in seinem Arbeitszimmer ein
Bett gemacht. Ich stellte mich auf den Schreibtisch und legte
das Ohr an die Decke. Sie haben gesagt: ›Ach, Manny, wir
könnten in Florenz so glücklich sein.‹«
Dieses Geständnis machte sie äußerst fröhlich. »Ach je, was
waren Sie für ein böser Junge. Was noch? Was haben Sie noch
gehört? Einen Zeugen zu haben für etwas, was so lange her ist
– was für ein Geschenk! Sagen Sie mir, was Sie noch gehört
haben, Sie böser Junge! Sagen Sie mir alles!«
Sagen Sie es mir, forderte sie mich auf, erzählen Sie mir
von diesem intimen Augenblick mit diesem unersetzlichen
Mann, den ich liebe und der tot ist, erzählen Sie es mir an dem
Tag, an dem ich erfahren habe, dass der Tumor zurückgekehrt
ist, der mich meinem eigenen Tod entgegenschleudert, und zu
dessen Feier ich mein gelbes Kleid angezogen habe!
»Ich wollte, das könnte ich«, sagte ich. »Aber ich erinnere
mich an nur wenig mehr. Ich erinnere mich an Florenz, weil er
mit mir darüber gesprochen hatte: über die Villa in Florenz
und die junge Frau, mit der er dorthin fahren und die sein Le-
ben wieder schön und neu machen würde.«
»›Schön und neu‹ – das hat er gesagt?«
»Ich glaube, ja. Sind Sie je nach Florenz gefahren?«
»Wir zwei? Nein, nie. Ich bin allein dorthin gefahren.
Nachdem er gestorben war, bin ich dorthin gefahren und für
eine Weile geblieben. Ich habe die Blumen für seine Vase ge-
schnitten. Ich habe Tagebuch geführt. Ich habe Spaziergänge
gemacht. Ich habe einen Wagen gemietet und bin in der
Gegend herumgefahren. Ein paar Jahre lang habe ich mir in
jedem Juni ein Zimmer in einer pensione gemietet, habe meine
Übersetzung mitgenommen und all die rituellen Dinge ge-
tan.«
»Und Sie haben es nie gewagt, das mit jemand anderem zu
tun.«
»Warum hätte ich das tun sollen?«
»Wie kann man so lange in der Erinnerung leben?«
»So war es nie. Ich spreche die ganze Zeit mit ihm.«
»Und er mit Ihnen?«
»Aber ja. Wir haben die missliche Tatsache, dass er tot ist,
erfolgreich umschifft. Jetzt sind wir völlig anders als alle an-
deren und einander so ähnlich.«
Diese Worte hatten eine so große emotionale Wucht, dass
ich Amy prüfend betrachtete, um zu sehen, ob sie gesagt
hatte, was sie hatte sagen wollen, ob sie diese übersteigerte
Formulierung absichtlich gewählt hatte oder ob sozusagen
das lädierte Gehirn gesprochen hatte. Ich sah nur einen Men-
schen, der von niemandem beschützt wurde. Ich sah nur das,
was Kliman sah.
»Was würde er von Ihren Lebensumständen halten?«
fragte ich. »Hätte er nicht gewollt, dass Sie jemand anderen
finden? Was hätte er davon gehalten, dass Sie all diese Jahre
allein gelebt haben?« Dann fügte ich hinzu: »Was sagt er
dazu?«
»Er verliert nie ein Wort darüber.«
»Wie findet er es, dass Sie hier, in dieser Wohnung leben?«
»Ach, damit befassen wir uns gar nicht.«
»Womit dann?«
»Mit den Büchern, die ich lese. Wir sprechen über Bü-
cher.«
»Über nichts anderes?«
Ȇber Dinge, die geschehen. Ich habe ihm von der Sache in
der Leihbücherei erzählt.«
»Und was hat er gesagt?«
»Was er immer sagt. Er hat gelacht. Er hat gesagt: ›Du
nimmst solche Sachen zu ernst.‹«
»Was sagt er über den Hirntumor?«
»Dass ich keine Angst haben soll. Es ist nicht gut, aber ich
soll keine Angst haben.«
»Und Sie glauben, was er sagt?«
»Wenn wir miteinander sprechen, spüre ich eine Zeitlang
keine Schmerzen mehr.«
»Nur Liebe.«
»Ja. Absolut.«
»Und was haben Sie ihm über die Sache in der Leihbücherei
gesagt? Erzählen Sie mir, wie es weiterging.«
»Ach, ich bin diesen Korridor hinauf- und hinuntergestürmt
und habe schäumend vor Wut die Fotos dieser Schriftsteller
angestarrt, von denen es heißt, sie hätten die Meilensteine
moderner Literatur gesetzt. Ich bin außer mich geraten, ich
habe angefangen zu schreien. Zwei Wachleute kamen und
beförderten mich in Null Komma nichts vor die Tür.
Wahrscheinlich dachten sie, ich wäre eine Verrückte, die sich
von der Straße hierher verirrt hatte. Ich habe das auch ge-
dacht: eine verrückte, böse Frau mit bösen Gedanken. Da-
mals habe ich angefangen, sehr schnell zu reden. Das tue ich
noch immer. Sogar wenn ich allein bin. Ich hatte noch nichts
von dem Tumor erfahren, müssen Sie wissen. Das habe ich
schon gesagt. Aber er war bereits da, hinten in meinem Kopf,
und krempelte mich um. Mein Leben lang konnte ich mich
immer, wenn ich nicht mehr weiterwusste, fragen: Was würde
Manny jetzt tun? Was würde Manny in dieser lächerlichen
Situation tun? Er hat mich mein Leben lang geführt. Ich
habe einen großen Mann geliebt. Das vergeht nicht. Doch
dann kam der Tumor, und das unentwegte Getöse hat ihn
übertönt.«
»Sie haben Geräusche gehört?«
»Nein, ich hätte sagen sollen: die Wolke. Es ist eine Wolke.
Man hat eine Gewitterwolke im Kopf.«
»Was war dieser politisch idiotisch korrekte Mist?«
Sie lachte, das Gesicht mit seinen feinen Falten und ohne
einen Rest der Schönheit, die es einst beherrscht hatte, lachte,
doch wegen des zur Hälfte rasierten Schädels mit dem nach-
wachsenden Flaum und der dämonischen Narbe war dieses
Lachen mit einer falschen Bedeutung unterlegt. »Sie können es
sich vorstellen. Gertrudc Stein war vertreten, aber nicht Er-
nest Hemingway. Edna St. Vincent Millay, aber nicht William
Carlos Williams oder Wallace Stevens oder Robert Lowell.
Blödsinnig. Es hat in den Colleges angefangen, und jetzt findet
man es überall. Richard Wright, Ralph Ellison und Toni
Morrison, aber nicht Faulkner.«
»Was haben Sie geschrien?« fragte ich.
»Ich habe geschrien: ›Wo ist E.I. Lonoff? Wie könnt ihr es
wagen, E. I. Lonoff wegzulassen?‹ Ich hatte sagen wollen: ›Wie
könnt ihr es wagen, William Faulkner wegzulassen?‹, aber der
Name, der aus meinem Mund kam, war der von Manny, Es ha-
ben sich ziemlich viele Schaulustige versammelt.«
»Und wie haben Sie herausgefunden, dass Sie einen Tumor
hatten?«
»Ich bekam Kopfschmerzen. So schlimm, dass ich mich
übergeben musste. Sie werden mir helfen, diesen Kliman los-
zuwerden, ja?«
»Ich werde es versuchen.«
»Dieses Ding ist wieder da. Habe ich Ihnen das schon
gesagt?«
»Ja«, sagte ich.
»Jemand muss Manny vor diesem Mann beschützen.
Jede Biographie, die er schreibt, wird nichts weiter sein als
das hinausposaunte Ressentiment eines zweitklassigen Men-
schen. Nietzsches Prophezeiung wird sich bewahrheiten: die
Kunst – getötet vom Ressentiment. Bevor ich von dem Tumor
wusste, hat Kliman mich besucht. Das war kurz nach dem Fi-
asko in der Leihbücherei. Ich redete damals schon ununter-
brochen. Ich habe ihm Tee angeboten, und er war so adrett
und schien – meinem Tumor schien es so – brillant über Man-
nys Erzählungen zu sprechen. Für meinen Tumor war er ein
reiner Liebhaber der Literatur, ein ernsthafter, in Harvard
ausgebildeter junger Mann, der nichts weiter wollte, als Man-
nys Reputation wiederherzustellen. Mein Tumor fand Kli-
man gewinnend.«
»Tja, Sie hätten den Hund gewinnend finden und Kliman
einen Fußtritt verpassen sollen. Wie ist es zu der Diagnose ge-
kommen?« fragte ich.
»Ich habe das Bewusstsein verloren. Eines Tages habe ich
den Wasserkessel aufgesetzt und das Gas angestellt, und das
nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich in der
Notaufnahme des Lenox Hill Hospital lag und zwei Polizi-
sten neben mir standen. Der Hausmeister hatte das Gas gero-
chen und mich dort gefunden« – sie zeigte auf die Küche mit
der Badewanne hinter uns –, »auf dem Boden. Sie dachten, ich
hätte mich umbringen wollen. Das machte mich wütend.
Alles machte mich wütend. Und dabei war ich doch früher ein
süßes, nettes Mädchen, nicht?«
»Sie wirkten auf mich sehr wohlerzogen.«
s richtig gegeben.«
s auf sie gewartet
hatte, kam mir der Gedanke, dass nicht ich im falschen Re-
staurant gewesen war, sondern Amy. Der Tumor, der zurück-
kehrte, krempelte sie abermals um – der Tumor, der zurück-
kehrte und einen Geisteszustand erzeugte, der es anscheinend
nicht zuließ, dass seine Rückkehr ihr angst machte. Zweimal
hatte sie mir gesagt, er sei zurück, und zwar nicht so, als wäre
sie am Abend eines folgenschweren Tages angelangt, sondern
einfach so, als spräche sie über einen Scheck, der geplatzt war,
weil sie ihr Konto überzogen hatte.
Wir saßen mehrere Minuten schweigend da, dann sagte sie
in die Stille hinein: »Ich habe seine Schuhe.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich habe schließlich seine Kleider weggeworfen, aber von
den Schuhen konnte ich mich nicht trennen.«
»Wo sind sie?«
»Im Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer.«
»Darf ich sie sehen?« fragte ich, allerdings nur, weil sie
offenbar wollte, dass ich das fragte.
»Möchten Sie es denn?«
»Ja.«
Das Schlafzimmer war winzig, und die Tür des Kleider-
schranks ließ sich nur ein Stück weit öffnen und stieß dann
gegen eine Seite des Bettes. Im Schrank hing eine ausgefranste
Schnur, und als Amy daran zog, ging eine schwache Glüh-
birne an. Das erste, was mir zwischen den etwa einem Dut-
zend Kleidungsstücken auffiel, war das zum Kleid geänderte
Krankenhausnachthemd. Dann sah ich Lonoffs Schuhe, die
auf dem Boden aufgereiht waren. Vier Paar, die allesamt mit
den Spitzen nach vorn zeigten, allesamt schwarz, allesamt
lange getragen. Vier Paar Schuhe eines Toten.
»Sie sind genau so, wie er sie zurückgelassen hat«, sagte
sie.
»Sie sehen sie jeden Tag«, sagte ich.
»Jeden Morgen. Jeden Abend. Manchmal öfter.«
»Ist es denn nie unheimlich, sie da stehen zu sehen?«
»Im Gegenteil. Was könnte tröstlicher sein als seine
Schuhe?«
»Er hatte keine braunen Schuhe?« fragte ich.
»Er hat nie braune Schuhe getragen.«
»Ziehen Sie sie auch mal an?« fragte ich. »Stehen Sie
manchmal in seinen Schuhen?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Das wäre nur menschlich. So ist das Leben.«
»Diese Schuhe sind mein Schatz«, sagte sie.
»Ich würde sie ebenfalls hüten wie einen Schatz.«
»Möchten Sie ein Paar haben, Nathan?«
»Sie haben sie schon so lange. Sie sollten sie nicht auf-
geben.«
»Ich würde sie nicht aufgeben. Ich würde sie weitergeben.
Ich will nicht, dass alles verloren ist, wenn ich an diesem Tu-
mor sterbe.«
»Sie sollten sie behalten. Man weiß nie, wie die Dinge sich
entwickeln. Vielleicht werden Sie noch Jahre hier sein und sie
ansehen.«
»Diesmal werde ich wahrscheinlich sterben, Nathan.«
»Behalten Sie die Schuhe, Amy, alle. Bewahren Sie sie hier für
ihn auf.«
Sie zog an der Schnur und löschte das Licht, dann schloss
sie den Schrank, und wir gingen durch die Küche zurück in ihr
Arbeitszimmer. Ich fühlte mich so erschöpft, als wäre ich
fünfzehn Kilometer gerannt.
»Erinnern Sie sich daran, was Sie mit Kliman besprochen
haben?« fragte ich jetzt, nachdem ich die Schuhe gesehen
hatte. »Erinnern Sie sich, was Sie zu ihm gesagt haben?«
»Ich glaube nicht, dass ich ihm überhaupt etwas gesagt
habe.«
»Nichts über Manny, nichts über sich selbst?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht genau.«
»Haben Sie ihm etwas gegeben?«
»Warum? Hat er das gesagt?«
»Er sagt, er hat eine Fotokopie des halben Manuskripts von
Mannys Roman. Er sagt, Sie hätten ihm den zweiten Teil
versprochen.«
»Das hätte ich niemals getan. Das könnte ich gar nicht.«
»Vielleicht hat der Tumor es getan?«
»Oje. O Gott. O nein.«
Auf dem Tisch lagen ein paar lose Blätter, und in ihrer
Aufregung schob sie sie hin und her. »Gehören die zu dem
Manuskript?« fragte ich.
»Nein.«
»Ist der Roman hier?«
»Das Original liegt in einem Schließfach in Boston, aber
ich habe eine Kopie davon hier.«
»Er konnte ihn wegen des Themas nicht schreiben.«
Sie sah mich beunruhigt an. »Woher wissen Sie das?«
»Sie haben es mir erzählt.«
»Habe ich das? Ich weiß nicht mehr, was ich tue. Ich weiß
nicht mehr, was geschieht. Ich wollte, man würde mich mit
diesem Buch in Ruhe lassen.« Sie sah die Blätter in ihrer Hand
an und sagte mit einem heiteren Lachen: »Das ist ein brillanter
Leserbrief an die Times. Er ist so brillant, dass sie ihn nicht
gedruckt haben. Ach, es ist mir egal.«
»Wann haben Sie ihn geschrieben?« fragte ich.
»Vor ein paar Tagen. Vor einer Woche. Sie haben einen Ar-
tikel über Hemingway gebracht. Vor einem Jahr vielleicht.
Vielleicht auch vor fünf Jahren. Ich weiß es nicht. Ich habe den
Artikel irgendwo. Ich hatte ihn ausgeschnitten, und vor ein
paar Tagen ist er mir abends in die Hände gefallen, und ich
habe mich so aufgeregt, dass ich mich hingesetzt und diesen
Brief geschrieben habe. Ein Reporter ist nach Michigan ge-
fahren und hat versucht, die realen Vorbilder für die Figuren in
Hemingways Kurzgeschichten zu finden. Also habe ich ihnen
geschrieben, was ich davon halte.«
»Sicht ziemlich lang aus für einen Leserbrief.«
»Ich hab auch schon längere geschrieben.«
»Darf ich ihn lesen?« fragte ich.
»Ach, es sind bloß die Ergüsse einer verrückten alten Frau.
Der Auswuchs einer Wucherung.« Abrupt ging sie in die Kü-
che, um den Wasserkessel aufzusetzen und uns etwas zu essen
zu machen. Ich blieb allein mit dem Brief. Er war mit Kugel-
schreiber geschrieben. Anfangs dachte ich, sie hätte ihn nicht
an einem Abend, sondern im Verlauf mehrerer Tage, Wochen
oder Monate geschrieben, denn die Farbe der Mine wechselte
auf jeder Seite einige Male. Doch dann kam ich zu dem
Schluss, dass sie ihn tatsächlich in einem Stück geschrieben
hatte – als Reaktion auf einen vielleicht fünf Jahre alten Arti-
kel – und dass die verschiedenen Farben der Minen nur die
Allgegenwart ihrer Verwirrtheit bezeugten. Doch die Sätze
waren zusammenhängend, und ihre Gedankengänge waren
alles andere als Auswüchse einer Wucherung in ihrem Gehirn.
Bis lange nach Mitternacht saß ich bei ihr und hörte ihr zu. Ich
sagte wenig, hörte viel, schenkte dem meisten Glauben und
vermochte einen Sinn darin zu erkennen. Soweit ich es
beurteilen konnte, machte sie kein einziges Mal den Versuch,
mich bewusst in die Irre zu führen. Die rasche Enthüllung
eines so gewaltigen Vorrats an Informationen führte jedoch
dazu, dass die Erzählstränge ihrer zahlreichen Geschichten
unentwirrbar miteinander verwoben wurden und man manch-
mal den Eindruck haben konnte, sie sei ihrem Tumor ganz
und gar ausgeliefert. Oder dass der Tumor die normalerweise
von Hemmungen und Konventionen aufgestellten Hinder-
nisse einfach umstürzte. Oder dass sie einfach eine schreck-
lich kranke und einsame Frau war, die nach jahrelangem Ver-
zicht das Interesse eines Mannes genoss, eine Frau, die vor
fünf Jahrzehnten vier kostbare Jahre mit einem brillanten ge-
liebten Mann verbracht hatte, dessen Integrität – in ihren Au-
gen das, was seine Majestät als Mann und als Schriftsteller
ausmachte – jetzt von der Zerstörung durch das unerklärliche
»Ressentiment eines zweitklassigen Menschen«, dem selbst-
ernannten Biographen dieses geliebten Mannes, bedroht war.
Vielleicht kündete der Schwall ihrer Worte lediglich davon,
wie alt und tief ihr Leiden war und wie lange sie nun schon
ohne ihn sein musste.
Es war eigenartig zu sehen, wie ihr Geist zusammen-
gepresst wurde und sich zugleich weitete. Und bisweilen
beunruhigende Fehlleistungen lieferte, wie zum Beispiel, als
sie mich nach mehreren Stunden des Erzählens plötzlich
erschöpft ansah und, vielleicht mit mehr Witz, als oberfläch-
lich zu erkennen war, fragte: »Waren wir eigentlich je verhei-
ratet?«
Ich lachte und sagte: »Ich glaube nicht. Ich habe allerdings
daran gedacht.«
»Dass wir heiraten könnten?«
»Ja. Als junger Mann, als wir uns bei Lonoff kennenge-
lernt hatten. Ich dachte, es müsste wunderbar sein, mit Ihnen
verheiratet zu sein. Sie waren einzigartig.«
»Ja, das war ich, nicht?«
»Sie wirkten gezähmt und wohlerzogen, aber Sie waren ganz
offensichtlich ungewöhnlich.«
»Ich hatte kerne Ahnung, was ich tat.«
»Damals?«
»Damals, jetzt, immer. Ich hatte keine Ahnung, auf wel-
ches Risiko ich mich mit diesem Mann einließ, der so viel
älter war als ich. Aber er war unwiderstehlich. Er war einzig-
artig. Ich war so stolz darauf, seine Liebe geweckt zu haben.
Wie war mir das gelungen? Ich war so stolz darauf, keine
Angst vor ihm zu haben. Und dabei war ich unentwegt starr
vor Angst: Ich hatte Angst vor Hope und dem, was sie tun
könnte, ich hatte Angst vor dem, was ich ihr antat. Und ich
hatte keine Vorstellung von der Verletzung, die ich ihm zu-
fügte. Ich hätte tatsächlich Sie heiraten sollen. Aber Hope
beendete das eheliche Zusammenleben, und ich lief mit E.I.
Lonoff davon. Ich war zu naiv, um überhaupt etwas zu be-
greifen, ich dachte, ich ginge ein großes, kühnes weibliches
Risiko ein, und so kehrte ich in meine Kindheit zurück, Na-
than. In Wahrheit habe ich sie nie verlassen. Ich werde als
Kind sterben.«
Als Kind, weil sie mit einem so viel älteren Mann zusam-
mengewesen war? Weil sie in seinem Schatten geblieben war
und immer bewundernd zu ihm aufgesehen hatte? Warum war
diese herzzerreißende Verbindung, die gewiss so viele ihrer
Illusionen zerstört hatte, eine Kraft, die sie in ihrer Kindheit
festhielt? »Was aber nicht bedeutet, dass Sie kindisch waren«,
sagte ich.
»Nein, das bedeutet es nicht.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, wenn Sie sagen, Sie
seien ein Kind.«
»Dann muss ich es Ihnen erklären, nicht?«
Und so wurde die sagenhafte Biographie, mit der ich sie
1956 ausgestattet hatte, durch die wahre ersetzt, die zwar we-
niger von der moralischen Bedeutung aufgebläht war, welche
meine Erfindung damals für mich gehabt hatte, jedoch fak-
tisch nicht so weit von ihr entfernt war. Es konnte auch gar
nicht anders sein, denn dies alles war auf demselben geschun-
denen Kontinent geschehen, und es war einer Angehörigen
derselben geschundenen Generation widerfahren, die zu den-
selben geschundenen Feinden der Herrenrasse gehörte. Dass
sie sich aus den Zusammenhängen herauslöste, in die ich sie
gestellt hatte, bedeutete nicht, dass sie dem Schicksal entgan-
gen war, das ihrer Familie nicht weniger grausam mitgespielt
hatte als den Franks. Dies war eine Katastrophe, deren Di-
mensionen nicht verkleinert und von keiner Phantasie rück-
gängig gemacht werden konnte, und die Erinnerung daran
vermochte auch der Tumor erst mit Amys Tod auszulöschen.
So erfuhr ich, dass Amy nicht aus den Niederlanden
stammte, wo ich sie in dem verschlossenen, später in eine Ge-
denkstätte umgewandelten Dachboden eines Lagerhauses an
einer Amsterdamer Gracht versteckt hatte, sondern aus Nor-
wegen – aus Norwegen, aus Schweden, aus Neuengland, aus
New York, womit ich sagen will: Mittlerweile stammte sie
von nirgendwo, wie so viele jüdische Kinder ihrer Zeit, die
nicht in Amerika, sondern in Europa geboren und im Zweiten
Weltkrieg wie durch ein Wunder dem Tod entgangen waren,
obgleich sie ihre Jugend in der Zeit durchlebt hatten, in
der Hitler erwachsen gewesen war. Auf diese Weise erfuhr ich
von den näheren Umständen dieses Leids, das so, wie es
sich abgespielt hat, unfehlbar nicht nur Zorn, sondern auch
eine gewisse Ungläubigkeit hervorruft. Jedenfalls beim Zu-
hörer. Bei der Erzählerin war keine Aufwallung zu bemerken.
Und gewiss keine Ungläubigkeit. Je tiefer sie in das Unglück
ihrer Kindheit vordrang, desto trügerisch nüchterner wurde
sie. Als könnte dieser Verlust je aufhören, auf ihrer Seele zu
lasten.
»Meine Großmutter stammte aus Litauen. Die Familie
meines Vaters kam aus Polen.«
»Wie sind sie ausgerechnet in Oslo gelandet?«
»Meine Großeltern waren unterwegs von Litauen nach
Amerika. Als sie nach Oslo kamen, wurden sie aufgehalten,
und mein Großvater musste dort bleiben. Amerikanische
Konsularbeamte ließen ihn nicht Weiterreisen, sie stellten ihm
nicht die nötigen Papiere aus. Meine Mutter und mein Onkel
wurden in Oslo geboren. Mein Vater war in Amerika gewesen,
für ihn war es beinahe so etwas wie ein Abenteuer, in das man
sich als junger Mensch stürzt. Er war auf dem Weg zurück
nach Polen, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Damals war er
gerade in England, und er wollte nicht zurückkehren und zur
Armee eingezogen werden. Also ging er nach Norwegen. 1915.
Und dort lernte er meine Mutter kennen. Juden hatten sich in
Norwegen nicht niederlassen dürfen. Aber es gab einen
bekannten norwegischen Schriftsteller, der sich für die Juden
einsetzte, und so hatte man ab 1905 Juden ins Land gelassen.
1915 haben meine Eltern geheiratet. Wir waren fünf Kinder,
vier Brüder und ich.«
»Und alle wurden gerettet«, sagte ich hoffnungsvoll, »Ihre
Mutter, Ihr Vater, Ihre vier Brüder?«
»Meine Mutter nicht und mein Vater nicht und auch nicht
mein ältester Bruder.«
Also fragte ich: »Was ist geschehen?«
»Als 1940 die Deutschen kamen, taten sie erst einmal gar
nichts. Alles schien ganz normal. Aber im Oktober 1942 wur-
den alle jüdischen Männer über achtzehn verhaftet.«
»Von den Deutschen oder den Norwegern?«
»Die Deutschen gaben die Befehle, aber die Ausführenden
waren die Quislinge, die norwegischen Nazis. Um fünf Uhr
morgens standen sie vor unserer Tür. Meine Mutter sagte:
›Ach, ich dachte, Sie wären die Leute von der Ambulanz. Ich
habe gerade angerufen. Mein Mann hat einen Herzanfall. Er
liegt im Bett. Sie dürfen ihn nicht anrühren.« Und die kleine-
ren Kinder weinten.«
»Sie hatte diese Geschichte erfunden?« fragte ich.
»Ja. Meine Mutter war sehr schlau. Sie bat und flehte, und
schließlich sagten sie: ›Na gut, wir kommen um zehn wieder
und sehen nach, ob er weg ist.‹ Also rief sie den Arzt an und
ließ meinen Vater ins Krankenhaus einweisen. Im Kranken-
haus machte er den Plan, nach Schweden zu fliehen, aber er
hatte Angst, sie würden kommen und uns verhaften, wenn
sie herausfanden, dass er geflohen war. Und so wartete er bei-
nahe einen Monat, und eines Morgens kam ein Anruf vom
Krankenhaus, die Gestapo sei da. Sogar am Telefon konnte
man das Geschrei im Hintergrund hören. Wir wohnten nicht
weit vom Krankenhaus entfernt, und so rannten meine Mut-
ter, meine Brüder und ich dorthin. Ich war dreizehn. Mein
Vater lag auf einer Trage. Wir flehten sie an, ihn nicht mitzu-
nehmen.«
»War er krank?«
»Nein, aber das hätte ohnehin keine Rolle gespielt. Sie
nahmen ihn mit. Wir gingen nach Hause. Es war November,
und wir packten warme Kleider für ihn zusammen und gin-
gen zum Nazi-Hauptquartier. Wir versuchten, mit Leuten zu
sprechen, wir weinten, wir sagten, er sei krank und habe nichts
anzuziehen außer dem Krankenhausnachthemd, aber es half
nichts. Wir sagten, wir würden nach Hause gehen und am
nächsten Tag wiederkommen, aber sie sagten: ›Ihr könnt nicht
gehen, ihr seid verhaftet.‹ Meine Mutter protestierte. Meine
Mutter war stark. Sie sagte: ›Wir sind Norweger wie alle
anderen – Sie dürfen uns nicht verhaften.‹ Es gab ein langes
Hin und Her, aber nach einer Weile durften wir gehen.
Draußen war es dunkel. Überall war es schwarz. Meine Mutter
sagte, wir könnten nicht nach Hause gehen – sie war sicher,
dass sie am nächsten Morgen kommen und uns mitnehmen
würden.
Da waren wir also, auf der dunklen Straße, und genau in
diesem Augenblick gab es Fliegeralarm. In der allgemeinen
Verwirrung verschwand einer meiner älteren Brüder, und
mein ältester Bruder, der gerade geheiratet hatte, ging zur
Familie seiner Frau, um sich zu verstecken. So waren nur
noch meine Mutter, meine beiden jüngeren Brüder und ich
übrig. Als der Fliegeralarm vorüber war, sagte ich zu meiner
Mutter: ›Die Frau in dem Blumengeschäft ist immer so nett
zu mir. Und ich weiß, dass sie nicht für die Nazis ist.‹ Meine
Mutter sagte, ich solle sie anrufen. Wir suchten eine Telefon-
zelle, und ich rief sie an und fragte: ›Können wir vorbeikom-
men und ein bisschen feiern?‹ Sie verstand, was ich meinte,
und sagte ja. ›Aber seid vorsichtig, wenn ihr kommt‹, sagte sie.
Also gingen wir zu ihr, und sie ließ uns bleiben. Aber wir
durften nicht auf und ab gehen, wir mussten die ganze Zeit
zusammengedrängt auf dem Sofa sitzen. Sie war mit den
Nachbarn befreundet, die auf derselben Etage wohnten, und
ging am nächsten Morgen zu ihnen. Die Nachbarn hatten
Verbindungen zur Widerstandsbewegung. Es waren Norweger,
keine Juden, der Mann war Taxifahrer und sagte uns, alle
Juden würden zusammengetrieben und deportiert. Am näch-
sten Abend kam er mit zwei anderen Männern, die meine
beiden jüngeren Brüder mitnahmen, sie waren damals elf und
zwölf. Sie sagten, wir anderen müssten noch warten, sie
würden uns später abholen. Damit waren meine Mutter und
ich gemeint. Doch als sie zurückkamen, sagten sie, es sei nicht
möglich, uns gemeinsam mitzunehmen. Ich fragte meine
Mutter: ›Wenn ich jetzt mitgehe, kommst du dann nach?‹ Und
sie sagte: ›Natürlich. Ich werde dich nie im Stich lassen.«
Irgendwann erfuhr ich, dass sie später am Abend mit einem
Taxi abgeholt worden war, von bewaffneten Widerstands-
kämpfern, die auf dem Weg aus Oslo hinaus noch eine andere
Frau und einen jungen, Mutter und Sohn, mitnahmen. Meine
Mutter kannte sie dem Namen nach. Die jüdische Gemeinde in
Oslo war klein. Die meisten Juden kannten einander. Jedenfalls
verließen sie Oslo, und man hat nie wieder etwas von ihnen
gehört. Inzwischen wurde ich in einen Zug gesetzt. Im Zug war
ein Nazi-Offizier mit einer Hakenkreuz-Armbinde. Man sagte
mir, er werde mir beim Aussteigen einen Wink geben, und ich
solle ihm dann folgen. Ich war sicher, dass das eine Falle war.
In der Nähe der schwedischen Grenze stieg er aus, und ich
stieg ebenfalls aus und wurde einem anderen Mann
übergeben. Wir gingen zu Fuß weiter. Durch den Wald. Wir
liefen und Hefen. Derjenige, der einen führt, kennt die
versteckten Markierungen an den Bäumen. Es war ein langer
Marsch, acht bis zehn Kilometer. Wir gingen über die Grenze
nach Schweden. Durch den Wald und dann durch Ackerland.
Und mein Bruder, der in der Nacht, als es Fliegeralarm ge-
geben hatte, von uns getrennt worden war, erwartete mich. Er
hatte befürchtet, seine ganze Familie verloren zu haben. Dann
waren meine beiden jüngeren Brüder aufgetaucht und
schließlich ich. Aber das war alles. Wir warteten auf meine
Mutter und meinen verheirateten Bruder, aber sie kamen
nicht.«
Als sie geendet hatte, sagte ich: »Jetzt verstehe ich.«
»Sagen Sie mir bitte: Was verstehen Sie?«
»Bei den meisten Leuten ist es so: Wenn sie sagen, sie hät-
ten ihre Kindheit nie verlassen, meinen sie, dass sie unschul-
dig wie ein Kind geblieben sind und dass ihr Leben immer
schön war. Aber wenn Sie sagen, Sie hätten Ihre Kindheit nie
verlassen, meinen Sie, dass Sie in dieser schrecklichen Ge-
schichte geblieben sind – Ihr ganzes Leben war und blieb eine
schreckliche Geschichte. Sie meinen, dass Sie in Ihrer Jugend
so viel Schmerz auszuhalten hatten, dass Sie irgendwie immer
dort geblieben sind.«
»So ungefähr«, sagte sie.
ER Warum heiratet eine Frau wie Sie mit Vier- oder Fünf-
undzwanzig? Zu meiner Zeit wäre es selbstverständlich
gewesen, dass Sie in diesem Alter schon ein Kind gehabt
hätten, vielleicht auch schon mit Zweiundzwanzig. Aber
heute ... Sagen Sie mir ... Ich kenne mich nicht mehr aus.
Ich war lange fort.
SIE Tja, abgesehen von dem offensichtlichen Grund, dass
ich jemanden kennengelernt habe, in den ich mich verliebt
habe und der sich bis über beide Ohren in mich verliebt
hat, jemanden, der ... Jedenfalls, abgesehen von all den
Gründen, die auf der Hand liegen, gab es eben auch den
entgegengesetzten Grund: weil so etwas zu meiner Zeit
niemand tat. Als Sie so alt waren wie ich, war es vielleicht
ganz normal, aber ich war die einzige von allen in meinem
College-Jahrgang, die einzige in meinem Freundeskreis,
die nach dem Abschluss in Harvard nach New York ge-
zogen ist und die (lacht) ... die mit Fünfundzwanzig
geheiratet hat. Es kam uns vor wie ein wildes Abenteuer
auf das wir uns gemeinsam eingelassen haben.
ER (ein wenig ungläubig) Ist das wahr?
SIE Aber ja. (Lacht wieder.) Warum sollte ich denn lügen?
ER Was haben Ihre Freunde dazu gesagt?
SIE Die Leute waren... Niemand war schockiert. Alle haben
sich gefreut. Aber ich war die erste. Die erste, die es ge-
wagt hat, sich häuslich niederzulassen. Ich bin gern die
erste.
ER Trotzdem haben Sie keine Kinder.
SIE Nein, noch nicht. Nicht jetzt jedenfalls. Ich glaube, bevor
das passiert, wollen wir beide beruflich noch ein bisschen
gefestigter sein.
ER Als Schriftsteller.
SIE Ja. Ja. Das steht ja zum Teil auchhinter dem Plan, aufs Land
zu gehen. Wir wollen arbeiten und nochmals arbeiten.
ER Im Gegensatz zu?
SIE Im Gegensatz zu arbeiten und hierzusein und in einer
Stadtwohnung eingesperrt zu sein und ständig überein-
anderzustolpern und ständig unsere Freunde zu sehen. Ich
bin in letzter Zeit so nervös. Ich kann nicht stillsitzen. Ich
kann nicht arbeiten. Ich kann gar nichts. Und darum
glaube ich, wenn wir damit zurechtkommen, habe ich
vielleicht bessere Chancen, etwas zu schaffen.
ER Aber warum haben Sie sich diesen jungen Mann als Ehe-
mann ausgesucht? Ist er der aufregendste Mensch, den Sie
finden konnten? Sie wollten ein Abenteuer, haben Sie ge-
sagt. Ich habe ihn kennengelernt. Ich mag ihn, er war mir
gegenüber in den vergangenen vierundzwanzig Stunden
extrem aufmerksam und rücksichtsvoll, aber ich würde
sagen, dass Kliman eher ein Abenteuer ist. Er war Ihr
Liebhaber auf dem College, nicht?
SIE Eine Ehe mit Richard Kliman wäre unmöglich. Er steht
ständig unter Strom. Seine Stärken liegen auf anderen Ge-
bieten. Warum Billy? Er ist intelligent, er war interessant,
wir konnten stundenlang reden, er hat mich nicht gelang-
weilt. Er ist nett, und man scheint allgemein zu glauben,
dass ein netter Mensch nicht interessant sein kann. Ich
weiß natürlich, was er nicht ist: Er ist nicht leidenschaft -
lich, er ist kein Vulkan. Aber wer will schon einen Vulkan?
Er kann sanft sein, er kann charmant sein, und er betet
mich an. Er betet mich absolut an.
ER Und beten Sie ihn ebenfalls an?
SIE Ich liebe ihn sehr. Aber er betet mich auf eine andere
Weise an. Er zieht für ein Jahr nach Massachusetts, weil
ich dorthin will. Er will nicht dorthin. Ich würde das wohl
nicht für ihn tun.
ER Aber Ihnen gehört das Geld. Natürlich tut er es für Sie. Sie
leben beide von Ihrem Geld, oder?
SIE (erschrocken über seine Unverblümtheit) Wie kommen Sie
darauf?
ER Na ja, Sie haben eine Geschichte im New Yorker veröffent-
licht, und von ihm ist bis jetzt noch gar nichts in einer
Publikumszeitschrift erschienen. Wer bezahlt die Miete?
Ihre Familie.
SIE Aber es ist jetzt mein Geld. Es kommt von meiner Fa-
milie, aber es ist jetzt mein Geld.
ER Dann lebt er also von Ihrem Geld.
SIE Wollen Sie damit sagen, dass er deswegen mit mir nach
Massachusetts geht?
ER Nein, nein. Ich will damit sagen, dass er Ihnen in einem
wichtigen Punkt verpflichtet ist.
SIE Wahrscheinlich.
ER Empfinden Sie nicht eine gewisse Überlegenheit, weil Sie
Geld haben und er nicht?
SIE Wahrscheinlich schon. Viele Männer würden sich in einer
solchen Situation sehr unwohl fühlen.
ER Und viele würden sich sehr wohl fühlen.
SIE Ja, viele würden das sehr genießen. (Lacht.) Aber er ge-
hört weder zu der einen noch zu der anderen Sorte.
ER Ist es viel Geld?
SIE Geld ist kein Problem.
ER Da haben Sie ja Glück.
SIE (beinahe verwundert, als wäre sie jedesmal erstaunt, wenn
es ihr einfällt) Ja. Großes Glück.
ER Ist es Ölgeld?
SIE Ja.
ER Ist Ihr Vater ein Freund von George Bushs Vater?
SIE Sie sind nicht befreundet. Bush senior ist etwas älter als
mein Vater. Sie haben geschäftlich miteinander zu tun.
(Mit Nachdruck.) Sie sind nicht befreundet.
ER Aber ihre Eltern haben ihn gewählt.
SIE (lacht) Wenn nur Bushs Freunde für ihn gestimmt hätten,
würde es uns viel bessergehen. Oder etwa nicht? Das ist
eine ganz bestimmte Welt. Sie leben in ein und derselben
Welt. Mein Vater – und (sie macht ein Geständnis) das-
selbe gilt wahrscheinlich auch für mich – hat dieselben
finanziellen Interessen wie Bush und sein Vater. Aber sie
sind nicht befreundet, das würde ich nicht sagen.
ER Sie haben keinen gesellschaftlichen Umgang?
SIE Sie begegnen sich vielleicht mal auf einer Party.
ER Und im Country Club?
SIE Ja. Im Houston Country Club.
ER Ist das ein Club, wo nur reinblütige weiße Christen auf-
genommen werden?
SIE Ja. Reinblütige weiße christliche Familien aus dem neun-
zehnten Jahrhundert. Das alte Houston. Es finden eine
Menge Debütantinnenbälle dort statt. Die Mädchen wer-
den im Club in die Gesellschaft eingeführt. Ein Rausch in
Weiß. Und alles tanzt, trinkt und kotzt.
ER Sind Sie als Mädchen dort schwimmen gegangen?
SIE In den Sommern war ich jeden Tag dort, um zu schwim-
men oder Tennis zu spielen, außer montags, wenn der
Club geschlossen war. Meine Freundin und ich haben
dem australischen Tennistrainer geholfen, indem wir die
Bälle aufgesammelt haben, wenn er Stunden gab. Ich war
vierzehn. Meine Freundin war zwei Jahre älter als ich und
viel durchtriebener, und sie hat mit ihm geschlafen. Der
Trainerassistent war der hübsche Sohn eines Clubmit-
glieds. Er war Kapitän der Tennismannschaft von Tulane.
Ich hab nicht mit ihm geschlafen, aber sonst haben wir
nichts ausgelassen. Ein kalter Fisch. Es hat keinen Spaß
gemacht. Teenagersex ist schrecklich. Man versteht gar
nichts, und die meiste Zeit versucht man herauszukrie-
gen, ob man überhaupt dazu imstande ist, und es ist ein-
fach nur unerfreulich. Einmal hab ich gekotzt, Gott sei
Dank auf ihn, als er mir seinen Schwanz zu tief in die
Kehle geschoben hat.
ER Und dabei waren Sie noch ein Mädchen.
SIE Waren die Mädchen in den vierziger Jahren anders?
ER Ganz anders. Louisa May Alcott hätte sich in meiner
Highschool sehr wohl gefühlt. Sind Sie in die Gesellschaft
eingeführt worden? Waren Sie eine Debütantin?
SIE Ach, jetzt erforschen Sie meine schmutzigen Geheim-
nisse. (Lacht ausgelassen.) Ja, ja, ja. Ich war eine Debütan-
tin. Es war schrecklich. Ich habe jede Sekunde gehasst.
Meiner Mutter war es so wichtig. Wir haben uns immer
gestritten. Meine ganze Schulzeit hindurch haben wir uns
gestritten. Ab s für sie getan. (Sie lacht jetzt lei-
ser – das Spektrum ihres Lachens ist bemerkenswert und
auch ein weiteres Anzeichen dafür, wie wohl sie sich in
ihrer Haut fühlt.) Und sie hat das zu würdigen gewusst.
Ja. Es war wahrscheinlich richtig. Als ich dann aufs Col -
lege ging, sagte meine Mutter, die in Savannah geboren
ist: »Sei nett zu diesen Mädchen von der Ostküste, Jamie
Hallie.«
ER Und haben Sie sich in Harvard den anderen Debütantin-
nen angeschlossen?
SIE In Harvard verrät man nicht, dass man Debütantin war.
ER Nein?
SIE Nein. Darüber spricht man nicht. Man behält sein
schmutziges Geheimnis für sich. (Beide lachen.)
ER Aber Sie haben sich in Harvard mit anderen reichen
Töchtern angefreundet.
SIE Mit einigen.
ER Und? Wie war das?
SIE Was wollen Sie wissen?
ER Ich weiß gar nichts. Ich war in einer anderen Zeit auf
einer anderen Universität.
SIE Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich da erzählen soll.
Wir waren Freundinnen.
ER Waren sie wie Billy – interessant und nie langweilig?
SIE Nein. Sie waren hübsch, sehr gut angezogen, sehr über-
legen. Oder jedenfalls dachten sie – wir – das.
ER Wem überlegen?
SIE Diesen nicht so gut angezogenen Mädchen aus Wiscon-
sin mit den dünnen Haaren, die so gut in den Naturwis-
senschaften waren. (Lacht.)
ER Und worin waren Sie gut? Wie sind Sie auf den Gedanken
gekommen, dass Sie Schriftstellerin werden wollen?
SIE Das wollte ich schon ziemlich früh. Ich glaube, schon auf
der Highschool. Ich habe schwer dafür gearbeitet.
ER Sind Sie gut?
SIE Ich hoffe es. Ich fand mich immer ziemlich gut. Ich habe
bisher nur nicht sehr viel Glück gehabt.
ER Die Geschichte im New Yorker.
SIE s geschafft, aber
dann (eine ausladende Geste) – wusch ...
ER Wie lange ist das her?
SIE Fünf Jahre. Es war eine wunderbare Zeit. Ich habe gehei-
ratet. Meine erste Geschichte erschien im New Yorker.
Aber jetzt habe ich das Selbstvertrauen verloren und kann
mich nicht mehr konzentrieren. Sie wissen ja, dass Kon-
zentration entscheidend oder jedenfalls sehr wichtig ist.
Das treibt mich zur Verzweiflung, und das wiederum
bewirkt, dass ich mich noch weniger konzentrieren kann
und mein Selbstvertrauen noch mehr verliere. Ich habe
das Gefühl, ein Mensch zu sein, der nichts mehr zustande
bringt.
ER Darum sprechen Sie mit mir.
SIE Wie bringen Sie diese beiden Dinge in Zusammenhang?
ER Vielleicht haben Sie das Selbstvertrauen gar nicht so sehr
verloren, wie Sie denken. Sie machen jedenfalls nicht den
Eindruck, als hätten Sie kein Selbstvertrauen.
SIE Nicht, wenn es um Männer geht. Nicht, wenn es um Men-
schen im allgemeinen geht. Aber wenn ich vor meinem
Computer sitze, habe ich immer weniger Selbstvertrauen.
ER Und wenn Sie in meinem Haus sitzen, neben dem Sumpf,
und Ihnen nur das Schilf und der Reiher vor dem Fenster
Gesellschaft leisten ...
SIE Ja, das spielt bei diesem Plan eine Rolle. Dort gibt es
keine Männer, keine Menschen, keine Partys. Ich werde
das, was ich brauche, nicht aus einer dieser Quellen
schöpfen können, und ich werde, wie zu hoffen ist, nicht
so überarbeitet sein, ich werde, wie zu hoffen ist, nicht so
abgespannt sein, ich werde, wie zu hoffen ist, nicht mehr
mit den Nerven am Ende sein, und ich glaube –
ER Sie über strapazieren die Wendung »wie zu hoffen ist«.
SIE (lacht und sagt – zu seiner Überraschung – schüchtern)
Tatsächlich? Tue ich das?
ER »Hoffentlich« wäre völlig ausreichend. Sie könnten auch
»mit etwas Glück« sagen. In alten Zeiten, als man wohl-
erzogenen Mädchen noch nicht seinen Penis in den Ra-
chen schob, hörte man »wie zu hoffen ist« so gut wie nie.
Das eher gewöhnliche »hoffnungsfroh« wurde manchmal
anstelle von »in Hoffnung auf« gebraucht, aber das war
dann auch schon alles – damals, als ich so alt war wie Sie
und Schriftsteller werden wollte.
SIE Tun Sie das nicht. Das haben Sie gestern auch schon ge-
s nicht noch mal.
ER Ich habe nur Ihren Stil ein wenig korrigiert.
SIE Ich weiß. Tun Sie das nicht. Wenn Sie reden wollen, dann
lassen Sie uns reden. Sollte ich Ihnen je etwas zu lesen ge-
ben, was ich geschrieben habe und von dem ich möchte,
dass Sie es lesen, können Sie meinen Stil gern korrigieren.
Aber wenn wir uns unterhalten, ist das kein Examen.
Wenn ich anfange zu denken, es ist ein Examen, kann ich
nicht mehr frei sprechen. Also tun Sie das bitte nicht.
(Sie hält inne.) Aber es stimmt: Der Gedanke ist, dass ich,
wenn ich mein Selbstvertrauen nicht mehr aus den ge-
sellschaftlichen Kontakten schöpfe, mehr Energie in die
Arbeit stecken werde, und dann wird mein Selbst-
vertrauen, wie zu hoffen ist, wieder zurückkehren. Hören
Sie auf, mich auszulachen.
ER Ich lache, weil Sie, die Sie sich diesen Mädchen aus Wis-
consin mit den dünnen Haaren so überlegen gefühlt ha-
ben, sich nicht korrigieren. Weil Sie sich nicht korrigieren
wollen.
SIE Weil ich meinem Gedankengang gefolgt bin und nicht
daran gedacht habe, ob Sie mit mir und meiner Wortwahl
einverstanden sind oder nicht.
ER Was glauben Sie, warum ich das tue?
SIE Um Ihre Überlegenheit zu demonstrieren?
ER Mit »wie zu hoffen ist«? Wie dumm von mir.
SIE Ja (lacht), wie dumm von Ihnen.
ER Ich schätze, ich habe Angst vor Ihnen.
SIE (lange Pause) Ich habe ein wenig Angst vor Ihnen.
ER Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass ich
Angst vor Ihnen haben könnte?
SIE Nein, ich habe nie gedacht, dass Sie Angst vor mir haben
könnten. Mir ist wohl der Gedanke gekommen, dass Sie
sich an mir freuen, dass Sie gern in meiner Gesellschaft
sind, aber nie, dass Sie Angst vor mir haben könnten.
ER Habe ich aber.
SIE Warum?
ER Was glauben Sie? Sie schreiben. Wie zu hoffen ist.
SIE (lacht) Sie doch auch. (Hält inne.) Die einzigen Gründe,
die mir einfallen, sind, dass ich jung bin, dass ich eine
Frau bin, dass ich gut aussehe. Aber ich werde nicht im-
mer jung sein, und dann wird die Tatsache, dass ich eine
Frau bin, nicht mehr so wichtig sein, und was das gute
Aussehen betrifft – was hat das damit zu tun? Aber viel-
leicht gibt es andere Gründe, von denen ich nichts weiß.
Was glauben Sie?
ER Ich hatte noch keine Gelegenheit, es herauszufinden.
SIE Wenn Ihnen irgendwelche anderen Gründe einfallen,
würde ich sie gern erfahren. Wenn Sie auch bloß die drei
s mir nicht zu
sagen. Aber wenn Ihnen andere einfallen, würden Sie mir
sehr helfen, indem Sie sie mir verraten.
ER Sie verströmen Selbstvertrauen. Die Art, wie Sie dasitzen,
die Arme über dem Kopf gekreuzt, wie Sie Ihr Haar mit
den Händen hochhalten, damit ich sehe, dass Sie so nicht
weniger schön sind. All das verrät Ihre Haltung. Sie ver-
strömen Selbstvertrauen, wenn Sie lächeln. Sie verströmen
Selbstvertrauen mit Ihrer Gestalt, mit Ihrem Körper. Ihr
Körper muss Ihnen Selbstvertrauen geben.
SIE Das tut er. Aber er wird mir kein Selbstvertrauen gegen-
über dem Sumpf und dem Reiher geben. Dort muss ich
mein Selbstvertrauen hier drinnen finden. (Sie neigt den
Kopf.)
ER In Ihrem Kopf, nicht in Ihren Brüsten.
SIE Ja.
ER Geben Ihre Brüste Ihnen Selbstvertrauen?
SIE Ja.
ER Erzählen Sie mir mehr davon.
SIE Davon, dass meine Brüste mir Selbstvertrauen geben? Ich
weiß, dass ich etwas habe, was anderen Menschen gefällt,
auf das andere Menschen neidisch sind, das andere Men-
schen begehren. Das Vertrauen darauf, dass man begehrt
wird – das ist Selbstvertrauen. Dass man Anklang findet,
einen guten Ruf genießt, dass andere sich nach einem seh -
nen – wenn man das weiß, hat man Selbstvertrauen. Ich
weiß, dass ich alles, was mit diesen –
ER Mit Ihren Brüsten.
SIE – mit meinen Brüsten zu tun hat, gut kann.
ER Sie sind ein Original, Jamie. Von Ihnen gibt es nicht eine
Million Kopien.
SIE Man findet heraus, was die Leute wollen, man findet her-
aus, was die Leute beeindruckt, und wenn man ihnen dann
etwas gibt, was sie beeindruckt, dann kriegt man, was
man will.
ER Und was beeindruckt mich? Was will ich? Oder wollen
Sie mich etwa nicht beeindrucken?
SIE Oh, ich mochte Sie sehr gern beeindrucken. Ich sehe zu
Ihnen auf. Sie sind für mich ein großes Rätsel, müssen Sie
wissen. Sie faszinieren mich sehr.
ER Wieso fasziniere ich Sie?
SIE Weil außer dem Reiher vor Ihrem Fenster niemand etwas
über Sie weiß. Über berühmte Menschen weiß jeder alles –
jedenfalls denkt man das. Aber Sie – Sie haben diese
Bücher geschrieben, die Sie in einer bestimmten Gruppe
von Leuten berühmt gemacht haben. Sie sind kein Tom
Cruise. (Lacht.)
ER Wer ist Tom Cruise?
SIE Jemand, der so berühmt ist, dass Sie nicht mal wissen,
wer er ist. Das ist Tom Cruise. Wer tagein, tagaus all die
Klatschillustrierten liest, weiß natürlich gar nichts über
diese berühmten Menschen, aber er könnte sich einbilden,
alles über sie zu wissen. Doch niemand kann sich
einbilden, irgend etwas über Sie zu wissen.
ER Jedesmal, wenn ich ein Buch veröffentliche, denken die
Leute, dass sie alles über mich wissen.
SIE Das sind Idioten. In Wirklichkeit sind Sie ein Rätsel.
ER Sie wollen ein Rätsel beeindrucken.
SIE Ja. Ja, ich will Sie beeindrucken. Womit kann ich Sie
beeindrucken?
ER Ihre Brüste beeindrucken mich.
SIE Sagen Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß.
ER Alles an Ihnen beeindruckt mich.
SIE Was noch?
ER Ihr Intellekt. Ich weiß, dass das etwas ist, was man nach
den heutigen Regeln sagen muss, aber ich halte mich nicht
an die heutigen Regeln.
SIE Stimmt es, dass mein Intellekt Sie beeindruckt, oder
stimmt es nicht?
ER Soweit schon.
SIE Noch etwas?
ER Ihre Schönheit. Ihr Charme. Ihre Eleganz. Ihre Freimüt-
igkeit.
SIE s.
ER Billy hat es.
SIE Das stimmt.
ER Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass Billy Sie anbetet?
Wie sieht diese Anbetung aus?
SIEWenn wir in Texas sind, will er sehen, wo ich als Kind ge -
spielt habe. Er will auf der Schaukel sitzen, auf der mein
Kindermädchen mich hat schaukeln lassen, und die Wip-
pe, auf der sie und ich gesessen haben, als ich vier war. Er
hat sich von mir Kinkaid zeigen lassen, meine Schule, da -
mit er das Klassenzimmer der dritten Klasse besichtigen
konnte, wo wir Butter gemacht haben, und das der vier-
ten Klasse, wo wir ein Experiment mit einer Petrischale
gemacht haben. Ich bin mit ihm in die Schulbibliothek
gegangen, weil ich im Club der Bibliothek war, in den nur
die besten Schüler aufgenommen wurden, und dort hat er
am Fenster gestanden und das üppig begrünte Schulge-
lände betrachtet, als wäre er ein romantischer Dichter, der
einen Regenbogen sieht. Er wollte das große Spielfeld se -
hen, wo ich in der vierten Klasse beim Stelzenlaufen mit-
gemacht habe, und damals war alles geschmückt wie bei
einem mittelalterlichen Turnier, mit roten und goldfar-
benen Flaggen überall, so dass ich ganz aufgeregt war
und drei Meter nach dem Start hingefallen bin, obwohl
ich doch eigentlich die Schnellste war und hätte gewin-
nen sollen. Wir mussten vom Haus meiner Eltern in Ri-
ver Oaks zur Schule fahren, damit er die Vorgärten und
Bäume und Büsche und Häuser sehen konnte, an denen
unser Chauffeur auf den acht Kilometern nach Kinkaid
vorbeigefahren ist. In Houston joggt er nur auf der
Strecke, die ich mir mit fünfzehn ausgesucht hatte. Be i
Billy nimmt das kein Ende. Meine Ichheit ist sein ma-
gnetischer Pol. Wenn ich träume, dass ich mit jemandem
Sex habe – diese Träume, die jeder mal hat, ganz gleich,
ob Mann oder Frau –, dann ist er eifersüchtig auf meine
Träume. Wenn ich aufs Klo gehe, ist er eifersüchtig auf
das Klo. Er ist eifersüchtig auf meine Zahnbürste. Er ist
eifersüchtig auf meine Haarspange. Er ist eifersüchtig auf
meine Unterwäsche. In der Tasche jeder Hose, die er hat,
sind Stücke meiner Unterwäsche. Ich finde sie, wenn ich
seine Sachen in die Reinigung bringe. Reicht das oder
wollen Sie noch mehr hören?
ER Dann heißt Anbetung, dass er nicht nur Sie liebt, sondern
Ihr ganzes Leben.
SIE Ja, mein Leben ist für ihn ein einziges Wunder. Ich höre
von ihm nur Worte schwärmerischer Liebe. Wenn ich
mich an- oder ausziehe, ist es, als stünde ich an einem
Fenster, an das er sein Gesicht drückt.
ER Er findet Ihre Kurven nicht weniger faszinierend als die
Wippe.
SIE Wenn ich, von hinten beleuchtet, im Schlafzimmer stehe,
preist er meine Silhouette. Wenn ich in der Küche Kaffee
koche und nichts weiter anhabe als eine Unterhose,
kommt er von hinten, streichelt meine Brüste, knabbert
an meinen Ohren und zitiert Keats: »Ein Seufzer heißt:
›Ja‹, ein Seufzer heißt: ›Nein‹, / Ein Seufzer: › s
nicht ertragen!‹
n? / Sollen den Biss in den Apfel wir wagen?«
ER Also, wenn Billy aus dem Gedächtnis ein Liebesgedicht
von Keats zitieren kann, ist er ein seltener Vertreter seiner
Generation.
SIE Das tut er. Das ist er. Er zitiert für mich Verse von Keats.
ER letztem Brief?
Als er ihn schrieb, war er fünf Jahre jünger als Sie und
schwerkrank. Wenige Monate später war er tot. »Ich
habe das Gefühl, als wäre mein wirkliches Leben vorbei«,
schrieb er, »und als würde ich eine postume Existenz
fristen.«
SIE Nein, seine Briefe kenne ich nicht. Und postume Existen-
zen sind mir noch nicht untergekommen.
ER Sagen Sie mir: Wie findet das Objekt dieser Anbetung die
Kraft, sie zu ertragen?
SIE Ach (lacht zärtlich), ich weiß, was sich gehört.
ER All diese sexuelle Aufmerksamkeit ist auf Sie gerichtet,
und dennoch sind Sie rastlos und verzweifelt.
SIE Wir haben viel Sex. Aber für den einen Partner ist Sex
nicht immer so unglaublich aufregend wie für den ande-
ren. Das ist oft nur am Anfang einer Beziehung so.
ER Ich erinnere mich.
SIE Wann hatten Sie zuletzt eine Affäre mit einer Frau?
ER Als Sie eine Debütantin waren.
SIE War es schwer, so lange darauf zu verzichten? Haben Sie
seitdem keinen Sex mehr gehabt?
ER Nein.
SIE War das schwer?
ER Ab einem gewissen Punkt ist alles schwer.
SIE Ich meine: besonders schwer. (Ihre Stimmen sind jetzt
sehr leise – wenn draußen ein Wagen vorbeifährt, kann man
sie kaum verstehen.)
ER E S gehört zu den Dingen, die besonders schwer sind.
SIE Warum? Ich weiß, dass Sie auf dem Land leben, am Ende
der Welt, aber es muss doch ... Sie haben gesagt, dass es in
der Nähe ein College gibt. Ich weiß, wie alt Sie sind, aber
dort muss es doch Studentinnen geben, die Ihre Bücher
gelesen haben und die sehr beeindruckt wären. Warum?
Warum haben Sie beschlossen, nicht nur das Stadtleben,
sondern auch das aufzugeben?
ER Es hat beschlossen, mich aufzugeben.
SIE Wie meinen Sie das?
ER So, wie ich es gesagt habe.
SIE Das verstehe ich nicht.
ER Das können Sie nicht verstehen.
SIE Nur, wenn Sie es mir nicht erklären. Würden Sie den
Entschluss, auch das aufzugeben, nicht rückgängig ma-
chen?
ER Ich mache ihn ja rückgängig. Deswegen bin ich immer
noch hier.
SIE Tja ... Ich bin geschmeichelt. Wenn es stimmt, dass es
Jahre her ist, bin ich überaus geschmeichelt.
ER Jamie. Jamie Logan. Jamie Hallie Logan. Sprechen Sie
irgendwelche Fremdsprachen, Jamie?
SIE Nicht gut.
ER Sie sprechen ein gutes Englisch. Ihr texanischer Akzent
gefällt mir.
SIE (lacht) Als ich aufs College gegangen bin, habe ich mir
große Mühe gegeben, ihn abzulegen.
ER Tatsächlich?
SIE Ja.
ER Ich habe gedacht, Sie hätten ihn betont.
SIE Es war dasselbe, wie niemandem zu verraten, dass ich
eine Debütantin gewesen war. Wie niemandem zu
verraten,dass ich in demselben Country Club war wie
George Bush senior und junior.
ER Aber Sie haben ihn noch.
SIE Aber ich bemühe mich, ihn zu unterdrücken. Ich spreche
ihn nur, wenn ich ironisch sein will. Als ich nach Harvard
ging, war er noch ganz intakt, aber ich habe ihn bald
abgelegt.
ER Schade.
SIE Ich kannte dort niemanden. Ich war achtzehn und zog
in das Studentinnenheim ein, und als ich das erstemal
den Mund aufmachte, dachten alle, ich sei die letzte Hin-
terwäldlerin. Von da an habe ich meinen texanischen Ak-
zent unterdrückt. Im Vergleich zu den meisten anderen
Studienanfängern dort war ich wirklich sehr naiv. Und im
Vergleich zu den Studenten, die aus Manhattan stamm-
ten, war ich tatsächlich die letzte Hinterwäldlerin. Sie
waren regelrecht beängstigend. Heute hört man meinen
Akzent, weil ich mit den Nerven fertig bin. Vielleicht ist
er ein bisschen ausgeprägter als sonst. Wenn ich mit den
Nerven fertig bin, kommt er deutlicher heraus.
ER Sie lassen keinen Trick aus. Sie finden immer eine Er-
klärung.
SIE Na ja, ich kenne mich eben. Ganz gut. Glaube ich.
ER Das waren drei Behauptungen: Ich kenne mich eben. Ganz
gut. Glaube ich.
SIE Wissen Sie, wer so schreibt? Conrad.
ER In Dreiergruppen.
SIE Ja. Conrads Dreiergruppen. Sind Ihnen die aufgefallen?
(Sie zeigt ihm ein Taschenbuch, das unter einer Zeitschrift
auf der Glasplatte des Couchtisches gelegen hat.) Ich habe
mir Die Schattenlinie gekauft. Sie haben das Buch er-
wähnt, und ich bin zu Barnes and Noble gegangen und
hab es mir gekauft. Sie haben die Passage neulich genau
richtig zitiert. Sie haben ein gutes Gedächtnis.
ER Für Bücher, nur für Bücher. Und Sie verlieren keine Zeit.
SIE Hören Sie sich das an. Die Triaden, das Drama der Tria-
den. Hier, auf Seite 35 – er hat gerade sein erstes Kom-
mando bekommen und ist überglücklich. »Ich schwebte
die Treppe hinunter. Ich schwebte durch das große, be-
eindruckende Portal. Ich schwebte davon.« Oder auf
Seite 47, noch immer in Ekstase: »Ich dachte an mein un-
bekanntes Schiff. Es war Vergnügen genug, Qual genug,
Beschäftigung genug.« Auf Seite 53 beschreibt er das
Meer: »Eine immense Weite, die keinen Eindruck trägt,
keine Erinnerungen bewahrt, kein Leben verzeichnet.«
Er macht das die ganze Zeit, verstärkt gegen Ende. Seite
131: »Aber ich werde Ihnen sagen, Captain Giles, wie
ich mich fühle. Ich fühle mich alt. Und ich muss alt
sein.« Seite 130: »Er sah aus wie eine verängstigte, heraus-
geputzte Vogelscheuche, auf das Heck eines vom Tod
gezeichneten Schiffs gesetzt, um die Seevögel von den
Leichen fernzuhalten.« Seite 129: »Das Leben war eine
Wohltat für ihn – dieses gefährliche, schwere Leben –,
und er war sehr beunruhigt über sich selbst.« Seite 125:
»Mr. Burns rang die Hände und stieß plötzlich einen
Schrei aus.« Und dann – eins: »Wie soll das Schiff ohne
Besatzung in den Hafen einlaufen?« Im nächsten Ab-
schnitt – zwei: »Und ich konnte es ihm nicht sagen.« Und
dann, im nächsten Abschnitt – drei: »Nun, es geschah
etwa vierzig Stunden später.« Und dann noch einmal von
vorn, noch immer auf Seite 125: »Die letzte Nacht werde
ich nie vergessen – dunkel, windig, sternklar. Ich steuer-
te.« Der Abschnitt geht weiter, und der nächste beginnt:
»Und ich steuerte ...«
ER (Alles dient dem Flirt, auch die Zitate von Conrad.) Lesen
Sie mir den ganzen Abschnitt vor.
SIE »Und ich steuerte, zu müde, um Angst zu empfinden, zu
müde, um zusammenhängende Gedanken zu denken. Ich
erlebte Augenblicke grimmigen Jubels, und dann sank
mein Herz bei dem Gedanken an die Back am anderen
Ende des dunklen Decks, die voller fiebernder Männer
war – von denen einige im Sterben lagen. Durch meine
Schuld. Doch ich schob das beiseite. Die Reue musste
warten. Ich musste steuern.« Ich könnte noch mehr vor-
lesen. (Sie legt das Buch beiseite.) Ich mag es, Ihnen vor-
zulesen. Billy lässt sich nicht gern vorlesen.
ER Steuern. Ich musste steuern. Haben Sie noch mehr von
Conrad gelesen?
SIE Früher. Eine ganze Menge.
ER Was hat Ihnen am besten gefallen?
SIE Haben Sie mal die Erzählung »Jugend« gelesen? Wun-
derbar.
ER »Taifun«?
SIE Großartig.
ER Als Sie noch dort unten in Texas waren und im Bikini
mit all den anderen Millionärstöchtern im Country Club
am Swimmingpool gelegen haben – haben Sie da gele-
sen?
SIE Seltsam, dass Sie mich das fragen.
ER Waren Sie die einzige, die gelesen hat?
SIE Ja. Ich war die einzige. Als ich noch jünger war, als ich
noch richtig jung war, gab es einen Punkt, wo es wirklich
lächerlich war. Eines Tages wurde ich beim Lesen ertappt,
und es war so peinlich, dass ich damit aufhörte. Ich ver-
steckte mein Buch in einem Teenager-Magazin, damit
niemand sehen konnte, was ich las. Aber das ließ ich dann
bleiben. Dabei ertappt zu werden war so viel peinlicher,
als einfach ein Buch zu lesen, dass ich schließlich damit
aufhörte.
ER Welche Bücher haben Sie denn in diesem Magazin ver-
steckt?
SIE Als ich ertappt wurde, war ich dreizehn, und das Buch
war Lady Chatterley. Die anderen machten sich darüber
lustig, aber wenn sie es mal gelesen hätten, wäre ihnen
aufgegangen, dass es viel pikanter war als diese Teenager-
Magazine.
ER Hat Lady Chatterley Ihnen gefallen?
SIE Lawrence gefiel mir sehr. Aber Lady Chatterley war nicht
mein Lieblingsbuch. Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht,
aber ich habe es damals nicht ganz verstanden. Anna
Karenina habe ich mit Fünfzehn gelesen. Zum Glück habe
ich es später noch einmal gelesen. Ich habe schon immer
Bücher gelesen, für die ich noch nicht bereit war. (Lacht.)
Aber das hat mir nicht geschadet. Ja, das ist eine gute
Frage: Was habe ich mit Vierzehn gelesen? Hardy. Ich
habe Hardy gelesen.
ER Welche Bücher?
SIE Ich erinnere mich an Urhervilles. Ich er-
innere mich an ... Wie heißt das andere? Es ist komisch.
Nicht Herzen im Aufruhr. Wie heißt das andere?
ER Sie meinen das, in dem der Rötelhändler vorkommt? Am
grünen Rand der Welt?
SIE Ja. Am grünen Rand der Welt.
ER E S gibt noch ein anderes, in dem ein Rötelhändler vor-
kommt. Wie heißt es noch? Mit einer Heldin, einer tragi-
schen Heldin. Ach, mein Gedächtnis. (Doch sie hört die
drei Worte seiner Klage nicht – sie ist zu sehr damit be-
schäftigt, sich an ihr vierzehntes Lebensjahr zu erinnern.
Und das tut sie mit solcher Leichtigkeit.)
SIE Sturmhöhe. Ach, Sturmhöhe habe ich geliebt. Da war ich
noch etwas jünger, vielleicht zwölf oder dreizehn. Ich bin
durch Jane Eyre darauf gekommen.
ER Und jetzt Männer.
SIE (mit einem kleinen, mittlerweile vertrauten Gähnen) Ist das
ein Einstellungsgespräch?
ER Ja. Das ist ein Einstellungsgespräch.
SIE Und welcher Job wartet auf mich?
ER Der Job, den Mann, der Sie anbetet, zu verlassen und mit
einem Mann zusammenzuleben, dem Sie vorlesen kön--
nen.
SIE Sie müssen verrückt sein.
ER Das stimmt, aber was macht das schon? Dass ich hier bin,
ist verrückt. Dass ich in New York bin, ist verrückt. Der
Grund, warum ich nach New York gekommen bin, war
verrückt. Hier zu sitzen und mit Ihnen zu reden ist ver-
rückt. Hier zu sitzen und nicht imstande zu sein, Sie zu
verlassen, ist verrückt. Ich kann Sie heute nicht verlassen,
und ich konnte Sie gestern nicht verlassen, und darum
führe ich ein Einstellungsgespräch mit Ihnen, um zu
klären, ob Sie geeignet sind, Ihren jungen Ehemann zu
verlassen und eine postume Existenz mit einem Einund-
siebzigjährigen zu fristen. Lassen Sie uns weitermachen.
Lassen Sie uns weitermachen mit dem Einstellungsge-
spräch. Erzählen Sie mir von Männern.
SIE (leise jetzt und beinahe wie in Trance) Was wollen Sie
wissen?
ER (ebenso leise) Ich will vor Eifersucht sterben. Erzählen Sie
mir von allen Männern, mit denen Sie zusammengewesen
sind. Sie haben mir von dem Jungen erzählt, der Kapitän
der Tennismannschaft von Tulane war und Ihnen, als Sie
vierzehn waren, seinen Schwanz so tief in die Kehle ge-
schoben hat, dass Sie ihn vollgekotzt haben. Und obwohl
es schon recht schwer war, mir das anzuhören, will ich an-
scheinend noch mehr hören. Ja, erzählen Sie mir mehr.
Erzählen Sie mir alles.
SIE Tja, mein erster Mann. Mein erster Liebhaber. Er war
mein Lehrer. Auf der Highschool. Im letzten Schuljahr.
Er war vierundzwanzig. Und er war ... Er hat mich ver-
führt.
E R Wie alt waren Sie da ?
SIE Das war drei Jahre später. Ich war siebzehn.
ER Und zwischen vierzehn und siebzehn ist nichts passiert?
SIE Doch, es gab ein paar jugendliche Ausrutscher.
ER Alles Ausrutscher? Nichts Aufregendes?
SIE Doch, manche waren aufregend. Es war aufregend, als ein
Erwachsener im altehrwürdigen Houston Country Club
mir das T-Shirt hochzog und an meinen Brustwarzen
saugte. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich hab es nie-
mandem erzählt. Ich habe darauf gewartet, dass er es noch
einmal tun würde. Aber er hatte wohl zuviel Angst, denn
als ich ihn das nächste Mal sah, tat er, als wäre nichts
geschehen. Er war ein Freund meiner älteren Schwester.
Anfang Dreißig. Er hatte sich gerade mit der schönsten
Freundin meiner Schwester verlobt. Ich hab so geweint.
Ich dachte, dass er mich links liegen ließ, weil irgend et-
was mit mir nicht stimmte.
ER Wie alt waren Sie da?
SIE Das war noch früher. Ich war dreizehn.
ER Erzählen Sie weiter. Ihr Lehrer.
SIE Er war ein ganz eigenständiger Mensch. Er hat nicht ver-
sucht, irgend jemanden zu beeindrucken. (Lacht.) Aber er
war eben auch kein Schüler. Er war älter. Das war be-
eindruckend genug.
ER Für Sie war er wahrscheinlich viel älter. Sagen Sie mir: Er-
scheint ein Vierundzwanzigjähriger einem siebzehnjäh-
rigen Mädchen älter, als ein Einundsiebzigjähriger einer
dreißigjährigen Frau erscheint? Findet ein dreizehnjähri-
ges Mädchen einen Dreißigjährigen älter als eine dreißig-
jährige Frau einen Einundsiebzigjährigen? Früher oder
später müssen wir über diese Frage sprechen.
SIE (nach einer langen Pause) Ja, dieser Lehrer erschien mir
viel, viel alter. Er stammte aus Maine. Das war für mich
so exotisch. Wunderbar exotisch. Er war nicht aus Texas,
und er hatte kein Geld. Darum arbeitete er ja auch als
Lehrer. Er war ein begeisterter Lehrer. Nach dem College
hatte er zwei Jahre lang an dem Programm »Unterricht
für Amerika« teilgenommen. Wofür man ja kein Geld be-
kommt.
ER Was ist »Unterricht für Amerika«?
SIE Oje, Sie sind wirklich nicht auf dem laufenden. Es ist ein
Programm, bei dem College-Absolventen zwei Jahre um-
sonst an den ärmsten Schulen unterrichten, Schüler aus
den »unterprivilegierten« Schichten.
ER Das Wort »unterprivilegiert« gefällt Ihnen nicht.
SIE (lacht laut) Nein, es gefällt mir nicht.
ER Warum?
SIE Was heißt das? Unterprivilegiert. Entweder man hat ein
Privileg oder man hat es nicht. Wenn man unterprivile-
giert ist, hat man ein Privileg eben nicht. Ein Privileg ist
an und für sich etwas, das einen über das Mittelmaß hin-
aushebt. Ich hasse dieses Wort.
ER Sie dagegen waren sehr privilegiert. Man könnte sagen:
überprivilegiert.
SIE Na gut. Ist das die Strafe dafür, dass ich nicht Louisa May
Alcott bin? Dass ich mit Vierzehn dem Kapitän der Ten-
nismannschaft einen geblasen habe ? Dass ich es mit Drei-
zehn erregend fand, als ein Mann an meinen Brustwarzen
gesaugt hat?
ER Ich habe nur gefragt, ob das vielleicht der Grund ist,
warum Ihnen dieses Wort so auf die Nerven geht.
SIE Ich finde, es ist einfach ein schlechtes Wort. Schlechtes
Englisch. Wie »wie zu hoffen ist«.
ER Sie bezaubern diesen Mann zu Tode. Sie foltern und be-
zaubern ihn.
SIE Indem ich ihm von meiner ersten Liebe erzähle? Wollen
Sie zu Tode bezaubert werden?
ER Ja.
SIE Ein schöner Tod. Jedenfalls – das ist also »Unterricht für
Amerika«: Entwicklungshilfe im eigenen Land. Das hatte
er gemacht, dieser junge Idealist, aber er hatte noch einige
Schulden aus seiner Studienzeit zu bezahlen und wollte
nicht aufhören zu unterrichten, um in irgendeiner Bank
zu arbeiten, und so ging er an eine reiche Schule in Hou-
ston, die ein ordentliches Gehalt zahlte. Das war alles,
was er da tat – es hatte nichts mit diesem gesellschaft-
lichen Engagement zu tun. Und er war von der Schule
vollkommen unbeeindruckt. Eigentlich war er sogar
regelrecht abgestoßen. Auf dem Parkplatz standen die
BMW der Schüler und die Wagen der Lehrer – das waren
Hondas und so –, und dann war da sein Wagen: eine
zwölf Jahre alte Rostlaube mit Nummernschildern aus
Maine. Eine der hinteren Türen war mit einem Seil zu-
gebunden, weil der Griff fehlte. Ein ganz und gar eigen-
ständiger Mensch – anders als alle, die ich bis dahin ken-
nengelernt hatte. Er kümmerte sich kein bisschen um das
Kastensystem an der Kinkaid. Er war mein Geschichts-
lehrer. Unsere Klasse war die einzige in der Schule, in der
es eine Arbeitsgruppe für aktuelle politische Ereignisse
gab.
ER Wie fing es an?
SIE Wie es anfing? Ich ging einmal die Woche in seine
Sprechstunde. Er eröffnete mir eine Gedankenwelt, von
der ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Ich ging also
zu ihm, und wir redeten und redeten und redeten, und ich
hatte ein so starkes Gefühl für ihn, und trotz dieser frü-
hen Erfahrungen, die Sie so erstaunlich finden – und die
heutzutage, ob Sie es wissen oder nicht, praktisch jede
macht –, war ich ja immer noch ein Mädchen, nur ein
Mädchen, und hatte keine Ahnung, dass es sexuelle Ge-
fühle waren. (Lächelt.) Aber er wusste es. Es war wun-
derbar. Das war also mein erster Mann.
ER Wie lange hat es gedauert?
SIE Das ganze Jahr. Als ich aufs College ging, wollten wir zu-
sammenbleiben. Und ich war am Boden zerstört, als es
nicht so kam. Das ganze erste Semester hab ich geweint
und geweint. Aber ich war ja keine dreizehn mehr. Dies-
mal hab ich mich am eigenen Schopf herausgezogen. Ich
habe Kommilitoninnen und ihre Freunde kennengelernt
und mich wieder auf die Beine gestellt. Ich hab Spaß ge -
habt. Ja, ich bin aufs College gegangen, und er hat mich
nicht mehr angerufen, und ich hatte trotzdem Spaß.
ER Der junge Idealist hatte wahrscheinlich eine andere Sieb-
zehnjährige.
SIE Sie mögen ihn genausowenig wie den Tennisspieler.
ER Für eine Frau, die vom Kindergarten bis zur zwölften
Klasse auf der Kinkaid School war, dürfte das nicht so
schwer zu begreifen sein.
SIE Ein Jahr später, als ich schließlich darüber hinweg war,
hat er mir einen Brief geschrieben. Er schrieb, er habe das
getan, weil er gedacht habe, es sei das Beste für mich, und
außerdem sei er so durcheinander gewesen ... Aber Sie
haben wahrscheinlich recht.
ER Ich glaube, mehr von diesen Geschichten halte ich nicht
aus.
SIE Warum nicht? (Ein leichtes Lachen.) Ich habe Ihnen doch
erst eine erzählt.
ER Sie haben mir drei erzählt. Aber ich verstehe, worauf es
hinausläuft. Sie waren schon sehr früh sehr attraktiv.
SIE Überrascht Sie das?
ER Nein, es bringt mich um.
SIE Warum?
ER Ach, Jamie.
SIE Wollen Sie es nicht sagen?
ER Was sagen?
SIE Warum es Sie umbringt.
ER Weil ich verrückt nach Ihnen bin.
SIE Das wollte ich nur mal hören.
ER (nach einer langen Pause, in der hauptsächlich er es ist, der
Schmerz empfindet – hei ihr überwiegt die Neugier) So.
Damit wäre das Einstellungsgespräch zur Klärung der
Frage, ob Sie für den Job der Frau-die-ihren-Mann-ver-
lässt-um-mit-einem-viel-älteren-Mann-zusammen-zu-sein
geeignet sind, beendet. Ich werde Sie anrufen.
SIE Sie rufen mich an?
ER Ich werde Sie anrufen und Ihnen sagen, wie Sie abge-
schnitten haben.
SIE Okay.
ER Sind Sie frei für den Job?
SIE Wenn er mir angeboten wird, muss ich mir überlegen, ob
sich mein Leben so gestalten lässt, dass ich ihn gut erledi -
gen kann. Und dann bin ich diejenige, die Sie anruft.
ER Das ist nicht fair. Ich habe meine Autorität verloren.
SIE Und wie fühlt sich das an?
ER Ich bin mit so viel Autorität hierhergekommen. Und ich
gehe ohne jede Autorität.
SIE Fühlt es sich gut an?
ER Ein Mann, den alles verwirrt, was er einst so gut kannte,
ist jetzt obendrein ein verlorener Mann. Ich gehe.
SIE Solange Sie mit mir allein sind, wird es nie besser werden.
ER Das kann es auch nicht.
SIE Je besser es wird, desto schlimmer wird es.
ER So sieht es aus. Ja.
(Er steht auf und geht. Als er draußen ist, auf der Eingangstreppe
des Hauses, und hinübersieht zu der Kirche, fällt ihm etwas ein:
Die Rückkehr – der Titel des Romans von Hardy, in dem der
Rötelhändler vorkommt. Er hat ein gutes Gedächtnis für Bücher?
Nein, nicht einmal für Bücher. Erst jetzt erinnert er sich an den
Namen der tragischen Heldin, den Namen, der ihn immer so
fasziniert hat: Eustacia Vye. Er tritt nicht auf die Straße und muss
sich beherrschen, nicht umzukehren, auf den Klingelknopf zu
drücken und ihr zu sagen: »Die Rückkehr, Eustacia Vye«, um so
Gelegenheit zu haben, wieder zu ihr hinaufzugehen und mit ihr
allein zu sein. Sie werden sich nie küssen, er wird sie nie berühren,
nichts: Dies ist seine letzte Liebesszene. Sein Gedächtnis hat ihn
nur einmal im Stich gelassen. Während des ganzen Gesprächs nur
einmal. Zweimal: als sie ihn gefragt hat, wie lange er schon allein
sei. Oder hat sie diese Frage am Tag zuvor gestellt? Oder etwa gar
nicht? Nun, sie braucht von seiner Vergesslichkeit nicht mehr zu
wissen als das, was sie bis jetzt erlebt hat. Sie werden sich also nie
küssen, und er wird sie nie berühren –na und? Er nimmt das
schwer? Na und? Seine letzte Liebesszene? Wenn es so sein soll. Er
schiebt es beiseite. Die Reue muss warten.)
5 Unbesonnene Augenblicke
Ich erhob mich vom Bett, trat an den Schreibtisch, an dem ich
den größten Teil der Nacht gesessen und geschrieben hatte,
blätterte in meiner Kladde zurück, um einen Eintrag zu fin-
den, der sich auf eine Verabredung mit Kliman bezog, und
sagte dabei: »Ich kann nicht mit Ihnen zu Mittag essen.«
»Aber ich habe sie dabei. Ich habe sie mitgebracht. Sie
können darin lesen.«
»Worin lesen?«
»In der ersten Hälfte des Romans. Der ersten Hälfte von
Lonoffs Manuskript.«
»Kein Interesse.«
»Aber Sie haben mir doch gesagt, ich solle es mitbringen.«
»Ich habe nichts dergleichen gesagt. Auf Wiedersehen.«
Das beidseitig mit meinen Notizen über mein Gespräch
mit Amy und dem Dialog aus Er und Sie beschriebene Hotel-
briefpapier – alles, was ich zwischen meiner Rückkehr von
Amys Wohnung und dem Zeitpunkt geschrieben hatte, als ich,
ohne mich auszukleiden, eingeschlafen war, um von meiner
Mutter zu träumen – lag noch auf dem Tisch. In den fünf
Minuten, bevor Kliman abermals anrief, überflog ich die No-
tizen, um zu sehen, was ich zu Amy über Kliman und die
Biographie gesagt hatte. Ich hatte ihr versprochen, ihn davon
abzubringen. Ich hatte ihr eingeredet, Lonoff sei nicht durch
sein eigenes Leben zu diesem Roman inspiriert worden, son-
dern durch höchst zweifelhafte, von Literaturwissenschaft-
lern geäußerte Spekulationen über Nathaniel Hawthornes
Leben. Ich hatte ihr Geld gegeben ... Ich las, was ich gesagt
und getan hatte, doch über meine weiterreichenden Absich-
ten, sofern ich überhaupt welche gehabt hatte, war ich mir
nicht gleich im klaren.
Als Kliman ein zweites Mal aus der Hotelhalle anrief,
fragte ich mich, ob er es gewesen sein könnte, der vor elf
Jahren diese Morddrohungen an mich und den Rezensenten
geschickt hatte. Es war zwar höchst unwahrscheinlich – aber
was, wenn es dennoch so gewesen war? Was, wenn es der bös-
artige Streich eines Erstsemesters mit einem Hang zum Un-
ruhestiften gewesen war, der mich vor zehn Jahren veranlasst
hatte, meinen Wohnort zu wechseln und meine Lebensum-
stände drastisch zu verändern? Wenn das stimmte, war es
lächerlich, und doch war ich, gerade weil es so absurd war,
unwillkürlich überzeugt, dass es stimmte. Dieser Entschluss,
aufs Land zu ziehen und nie mehr in die Stadt zurückzu-
kehren, war absurd – ebenso absurd wie der Gedanke, dass
Richard Kliman mich dazu getrieben hatte.
»Ich bin in ein paar Minuten unten«, sagte ich zu ihm,
»und dann werden wir zu Mittag essen.« Und ich werde all
deine Bemühungen vereiteln. Ich werde dich vernichten.
Das dachte ich, weil ich es tun musste. Ich konnte nicht
bloß darüber reden, ich konnte nicht bloß darüber schreiben –
bevor ich Manhattan verließ und nach Hause zurückkehrte,
musste ich Kliman matt setzen, das war das mindeste. Es war
meine letzte Verpflichtung gegenüber der Literatur.
Wie konnte George tot sein? Immer wieder kehrte ich zu
diesem Gedanken zurück. Dass George vor einem Jahr ge-
storben war, machte alles absurd. Wie hatte das ausgerechnet
ihm passieren können? Und wie hatte mir das, was passiert
war, in diesen vergangenen elf Jahren passieren können?
George nie wiederzusehen – sie alle nie wiederzusehen! Ich
hatte dies wegen dem getan? Ich hatte das wegen jenem getan?
Ich hatte mein Leben durch jenen Zufall, durch jene Person,
durch jenes lachhaft nebensächliche Ereignis definieren las-
sen? Wie absonderlich mir das erschien, und alles nur, weil
George Plimpton ohne mein Wissen gestorben war. Mit ei-
nemmal gab es keine Rechtfertigung mehr für meine Art zu
leben, und George war mein ... Wie heißt das Wort, das ich
suche? Das Gegenteil von »Doppelgänger«. Plötzlich stand
George Plimpton für alles, was ich vergeudet hatte, indem ich
mich so überstürzt aus der Stadt entfernt und auf Lonoffs
Berg zurückgezogen hatte, um dort Asyl vor der großen Viel-
falt des Lebens zu suchen. »Wir leben in unserer Zeit«, sagte
George zu mir, und in seiner unverwechselbaren Stimme
schwang beschwingte Zuversicht mit. »Es ist unsere Mensch-
heit. Wir müssen dazugehören.«
Ich konnte ihn nicht ertragen. Ich konnte die Energie und die
glatte Selbstsicherheit dieses protzigen Jungen ebensowenig
ertragen wie seinen Stolz darauf, ein Enthusiast und Ra-
conteur zu sein. Seine erdrückende Unmittelbarkeit – gewiss
hatte George sie ebenfalls nicht ertragen. Doch ich wollte tun,
was immer möglich war, um Kliman davon abzuhalten, Lo-
noffs Biographie zu schreiben. Ich würde gegen den zu- und
abnehmenden Drang ankämpfen, meinen Wagen zu holen und
in die Berkshires zurückzukehren. Ich würde abwarten
müssen, was er als nächstes auffuhr, um, wie er glaubte, seine
Interessen zu fördern. Da ich in den vergangenen Jahren bei-
nahe vergessen hatte, wie man einem Widersacher die Stirn
bietet, ermahnte ich mich, die Raffinesse eines Gegners nicht
zu unterschätzen, nur weil er als nervtötendes Waschweib
daherkam.
Als er die zweite Tasse Kaffee getrunken hatte, sagte er
unvermittelt: »Lonoff und seine Schwester – das ändert doch
alles, nicht?«
Jamie hatte ihm also gesagt, dass sie es mir gesagt hatte.
Eine weitere beunruhigende Facette von ihr. Was sollte ich
davon halten, dass sie als Mittelsperson zwischen Kliman und
mir fungierte? »Das ist Unsinn«, sagte ich.
Er beugte sich hinunter und tätschelte seine Aktentasche.
»Ein Roman ist kein Beweis. Ein Roman ist ein Roman«,
sagte ich und aß weiter.
Lächelnd beugte er sich abermals hinunter, und diesmal
klappte er die Aktentasche auf, entnahm ihr einen flachen
Umschlag, öffnete ihn und schüttelte seinen Inhalt zwischen
unseren Tellern auf den Tisch. Wir saßen am Fenster, und ich
konnte die Passanten auf der Straße sehen. In dem Augen-
blick, als ich aufsah, sprachen sie allesamt in ihr Handy.
Warum erschienen mir diese Apparate wie die Verkörperung
all dessen, dem ich entfliehen musste? Sie waren eine unver-
meidliche technische Entwicklung, und doch führte ihre An-
zahl mir vor Augen, wie weit ich mich von der Gemeinschaft
meiner Zeitgenossen entfernt hatte. Ich gehöre nicht mehr
hierhin, dachte ich. Meine Mitgliedschaft ist erloschen. Geh!
Ich nahm die Fotos in die Hand. Es waren vier vergilbte
Bilder eines hochgewachsenen, mageren Lonoff und eines
hochgewachsenen, mageren Mädchens, bei dem es sich, wie
Kliman mir weismachen wollte, um Lonoffs Halbschwester
Frieda handelte. Auf einem Foto standen sie auf dem Bürger-
steig vor einem nichtssagenden Holzhaus, auf einer Straße, die
in der Sonne zu glühen schien. Frieda trug ein dünnes weißes
Kleid, und ihr Haar war zu langen, schweren Zöpfen
geflochten. Lonoff lehnte an ihrer Schulter und tat, als wäre
er von der Hitze ganz erledigt, und Frieda lächelte breit, ein
Mädchen mit ausgeprägtem Kinn und großen Zähnen, die an
ein robustes Pferd denken ließen. Er war ein gutaussehender
Junge mit dunkler Haartolle und schmalem Gesicht, dessen
Schnitt es ihm ermöglicht hätte, sich als junger Wüstenbe-
wohner, halb Moslem, halb Jude, auszugeben. Auf einem an-
deren Foto sahen die beiden, auf einer Picknickdecke sitzend,
in die Kamera und lachten über etwas Unidentifizierbares in
einer Schale, auf die Lonoff wies. Auf dem dritten waren sie
einige Jahre älter. Lonoff reckte einen Arm in die Luft, und
Frieda, ein wenig stämmiger geworden, tat, als wäre sie ein
mit den Pfoten bettelnder Hund, Lonoff blickte sie streng an
und gab ihr ein Kommando. Auf dem vierten sah sie aus
wie zwanzig und war nicht mehr die Dienerin, die folgsam
die Anweisungen ihres Halbbruders ausführte, sondern eine
große, stattliche, ernste junge Frau; im Vergleich zu ihr wirkte
Lonoff mit Siebzehn geradezu ätherisch und machte nicht
den Eindruck, als könnte ihn irgend etwas anderes als die
harmlose Muse der Jugendwerke in Versuchung führen. Es
ließ sich argumentieren, diese Fotos zeigten nur für einen
sensationslüsternen Menschen wie Kliman etwas Ungewöhn-
liches und man könne aus ihnen vernünftigerweise allenfalls
schließen, dass Halbbruder und Halbschwester einander zu-
getan gewesen waren, dass sie Spaß gehabt und einander ver-
standen hatten und dass sie im ersten Viertel des 20. Jahrhun-
derts gelegentlich von einem Elternteil, einem Nachbarn oder
einem Freund fotografiert worden waren.
»Diese Fotos«, sagte ich. »Das sind ganz normale Fotos.«
»In dem Roman«, sagte er, »schreibt Lonoff, Frieda sei die
Anstifterin gewesen.«
»Es gibt keinen Lonoff und keine Frieda in irgendeinem
Roman.«
»Verschonen Sie mich mit einem Vortrag über die unüber-
windliche Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Das
hier ist etwas, das Lonoff gelebt hat. Es ist eine unter Qualen
entstandene Beichte im Gewand eines Romans.«
»Es sei denn, es ist ein Roman im Gewand einer unter
Qualen entstandenen Beichte.«
»Warum hat ihn das Schreiben dieses Romans dann so
zermürbt?«
»Weil das Schreiben einen Schriftsteller zermürben kann.
Der Primat eines Lebens in der Phantasie kann das und noch
mehr bewirken.«
»Ich habe Ihnen die Bilder gezeigt«, sagte er, als hätte ich
soeben schlüpfrige Fotos gesehen, »und jetzt werde ich Ihnen
das Manuskript zeigen. Vielleicht haben Sie dann nicht mehr
die Stirn zu behaupten, dass die treibende Kraft hinter diesem
Buch die Beschreibung einer Möglichkeit war, die nicht rea-
lisiert worden ist.«
»Hören Sie, Kliman, Sie machen keine gute Figur. Das
ist für einen littèrateur wie Sie sicher keine große Überra-
schung.«
Er zog das Manuskript aus der Aktentasche und legte es
auf die Fotos: zwischen zwei- und dreihundert Seiten, zusam-
mengehalten von einem dicken Gummiband.
Was für eine Katastrophe. Dieser rücksichtslose, ent-
schlossene, schamlose, opportunistische junge Mann, dessen
Methode, sich ein Werk der erzählenden Literatur anzu-
eignen, in krassem Gegensatz zu der Lonoffs stand, war im
Besitz des ersten Teils eines Romans, den Lonoff nie vollendet
hatte, den er für misslungen hielt und den er, hätte er lange
genug gelebt, um ihn zu vollenden, vielleicht nie veröffentlicht
hätte.
»Hat Amy Bellette Ihnen das gegeben? Oder haben Sie es
ihr abgenommen?« fragte ich ihn. »Haben Sie dieser armen
Frau das Manuskript gestohlen?«
Statt einer Antwort schob er es mir zu. »Es ist eine Foto-
kopie. Ich habe sie extra für Sie machen lassen.«
Er hatte es weiterhin darauf abgesehen, mich auf seine
Seite zu ziehen. Ich konnte ihm nützlich sein. Schon allein die
Erwähnung der Tatsache, dass er mir diese Kopie gegeben
hatte, konnte sich als nützlich erweisen. Ich fragte mich, für
wie schwach er mich hielt, und dann fragte ich mich, wie
schwach ich, aHein in meinem kleinen Haus, geworden war.
Warum saß ich überhaupt an diesem Tisch? Nichts von dem,
was, wie er behauptete, zwischen uns stattgefunden hatte,
hatte wirklich stattgefunden – weder das Telefongespräch
noch die Verabredung zum Mittagessen, weder meine Bitte,
mir von Plimptons Beerdigungsfeier zu erzählen, noch die
Bitte, Lonoffs Manuskript zu sehen. Ich erinnerte mich jetzt
genau daran, was wirklich stattgefunden hatte. Sie riechen,
alter Mann, Sie riechen wie der Tod. Und auch ich roch es
wieder, roch den Geruch, der von meinem Schoß aufstieg und
mich stark an den erinnerte, der mir in dem Haus entgegenge-
schlagen war, in dem Amy wohnte – und die ganze Zeit fuhr
der Mann, der mich mit diesen Beleidigungen bedacht hatte,
in aller Seelenruhe fort, sein Sandwich zu essen, nur einen
Meter von dem Platz entfernt, wo ich meins aß. Ich hatte die-
ses Treffen zugelassen und fühlte mich ebenso schutzlos wie
Amy – durchlässig, verwässert und geistig schwächer, als ich es
je für möglich gehalten hätte.
Und Kliman wusste das. Kliman hatte das begünstigt.
Kliman hatte meinen Zustand von Anfang an richtig einge-
schätzt: Wer hätte gedacht, dass Nathan Zuckerman das nicht
aushalten würde? Aber er kann es nicht aushalten, er ist am
Ende, ein winziges, isoliertes Wesen, ein erschöpfter Flücht-
ling vor der rauhen Welt, zermürbt durch Impotenz und in
der schlechtesten Verfassung seines Lebens. Verwirr ihn, lass
nicht nach, auf ihn emzudreschen, und der Tattergreis wird in
sich zusammensacken. Lies mal wieder Baumeister Solness,
Zuckerman: Mach Platz für die Jugend!
Ich sah ihm zu, auf seiner Turmspitze, wie er sich an mich
anschlich, um mich hinunterzustoßen. Und plötzlich war er
für mich nicht mehr eine Person, sondern eine Tür. Wo Kli-
man sitzt, sehe ich eine schwere Holztür. Was bedeutet das?
Wohin führt diese Tür? Was trennt diese Tür? Klarheit und
Verwirrung? Das könnte sein. Ich weiß nie, ob er die Wahrheit
sagt, ob ich etwas vergessen habe oder ob er sich etwas
ausdenkt. Eine Tür, die Klarheit und Verwirrung trennt, die
Amy und Jamie trennt, eine Tür, die zu George Plimptons Tod
führt, eine Tür, die aufschwingt und sich, nur Zentimeter vor
meinem Gesicht, wieder schließt. Ist er noch mehr als diese
Tür? Die Tür ist alles, was ich sehe.
»Mit Ihrer Zustimmung«, sagte er, »könnte ich eine
Menge für Lonoff tun.«
Ich lachte ihn aus. »Sie haben gefühllos die Notlage einer
schwerkranken Frau mit einem Gehirntumor ausgenutzt.
Sie haben ihr dieses Manuskript auf irgendeine Weise ge-
stohlen.«
»Ich habe nichts dergleichen getan.«
»Natürlich haben Sie das. Sie hätte Ihnen nicht bloß die
erste Hälfte gegeben. Wenn Sie Ihnen dieses Buch hätte geben
wollen, hätte sie Ihnen das ganze Manuskript überlassen. Sie
haben gestohlen, was Sie stehlen konnten. Die andere Hälfte
lag nicht offen herum, sie war irgendwo in der Wohnung, wo
sie für Sie unzugänglich war. Natürlich haben Sie es gestoh-
len – wer gibt schon jemandem einen halben Roman? Und
jetzt«, sagte ich, bevor er antworten konnte, »wollen Sie sich
jemandem wie mir aufdrängen?«
Unbeeindruckt sagte er: »Sie können für sich selbst sor-
gen. Sie haben viele Bücher geschrieben. Sie haben genug
Abenteuer erlebt. Und auch Sie können rücksichtslos sein.«
»Das kann ich«, sagte ich und hoffte, dass es noch stimmte.
»George hat von Ihnen immer mit großer Bewunderung
gesprochen, Mr. Zuckerman. Er hat die seelische Kraft be-
wundert, die Ihr Talent befeuert hat. Und ich teile seine Be-
wunderung.«
So schlicht wie möglich sagte ich: »Gut. Dann lassen Sie
Amy in Ruhe und versuchen Sie nicht, auf irgendeine Weise
mit mir in Kontakt zu treten.« Ich legte etwas Geld für das
Essen auf den Tisch und ging zur Tür.
Kliman brauchte nur wenige Sekunden, um seine Sachen
einzusammeln und mir nachzueilen. »Das ist Zensur. Sie
sind doch selbst Schriftsteller, und trotzdem versuchen Sie,
die Veröffentlichung des Werkes eines anderen Schriftstellers
zu blockieren.«
»Dass ich Ihnen bei diesem nichtswürdigen Buch nicht
helfe, bedeutet nicht, dass ich Sie in irgendeiner Weise blok-
kiere. Im Gegenteil – ich mache Ihnen den Weg frei, indem ich
in mein Loch krieche, um zu sterben.«
»Aber es ist nicht nichtswürdig. Und Amy Bellette sagt ja
selbst, dass es diesen Inzest gegeben hat. Sie hat mir ja über-
haupt erst davon erzählt.«
»Amy Bellette hat die Hälfte ihres Gehirns verloren.«
»Nicht, als ich mit ihr gesprochen habe. Das war vor dem
Eingriff. Sie war noch nicht operiert worden. Der Tumor war
noch nicht mal entdeckt worden.«
»Aber er war schon da, oder? Sie hatte den Kopf voller
Krebszellen, oder? Noch nicht entdeckt, ja, aber der Tumor
fraß sich schon durch ihr Gehirn. Ihr Gehirn, Kliman. Sie
hatte Ohnmachtsanfälle, ihr war übel, sie hatte furchtbare
Kopfschmerzen und furchtbare Angst und wusste nicht, was
sie zu irgend jemandem sagte. Zu diesem Zeitpunkt war sie
wirklich nicht Herrin ihrer selbst.«
»Aber es ist doch offensichtlich, dass genau das pas-
siert ist.«
»Offensichtlich ist es nur für Sie.«
»Ich kann das nicht glauben!« rief er, während er mit mir
Schritt hielt und mir das verwirrte Gesicht seiner Wut zeigte.
Er war nicht mehr in der Stimmung, meine Verachtung zu ge-
nießen, und so brach seine Abwehr gegen meine Ablehnung in
sich zusammen, und unter dem anmaßenden Rüpel kam
endlich der erbitterte Bettler zum Vorschein – es sei denn,
auch dies war ein Akt der Verstellung, und ich war nur auser-
sehen, vom Anfang bis zum Ende in dieser Schmierenkomö-
die den alten Trottel zu spielen. »Ausgerechnet Sie! Dieser
Mann hatte einen Penis, Mr. Zuckerman. Und sein Penis hat
die beiden in den Augen ihrer Umgebung drei Jahre lang zu
Verbrechern gemacht. Dann kam der Skandal, und vor dem
hat er sich die nächsten vierzig Jahre versteckt. Und dann
schließlich hat er dieses Buch geschrieben. Dieses Buch, das
sein Meisterwerk ist! Kunst, die aus einem gequälten Gewis-
sen entstanden ist! Der ästhetische Triumph über die Schande!
Er wusste es nicht – er war zu unglücklich und verängstigt,
um es zu erkennen. Und Amy war zu verängstigt von seinem
Unglück, um es zu erkennen. Aber wie können Sie veräng-
stigt sein? Sie, die Sie doch wissen, wie es kommt, dass Men-
schen unersättlich werden! Sie, die Sie doch den nagenden
Hunger nach mehr kennen! Hier ist die Abrechnung eines
großen Schriftstellers mit dem Verbrechen, das ihn jeden Tag
seines Lebens bedroht hat. Lonoffs letzter Kampf mit seinem
Makel. Sein lange aufgeschobener Versuch, das Abstoßende
zuzulassen. Sie kennen das doch. Das Abstoßende zulassen!
Das ist Ihr Verdienst, Mr. Zuckerman. Und sein Verdienst
liegt in diesem Buch. Seine Anstrengung, diese Last zu
schultern, ist zu heldenhaft, als dass Sie sie einfach übergehen
könnten. Dieses Selbstporträt ist nicht schmeichelhaft, glau-
ben Sie mir. Der Junge, der aus einem vierzigjährigen Schlaf
erwacht! Es ist außergewöhnlich. Es ist Lonoffs Scharlach-
roter Buchstabe. Es ist Lolita ohne Quilty und die dämlichen
Witze. Es ist das, was Thomas Mann geschrieben hätte, wenn
er nicht Thomas Mann gewesen wäre. Hören Sie mich an!
Helfen Sie mir! An irgendeinem Punkt müssen Sie diesen In-
zest doch ernst nehmen! Davor die Augen zu verschließen ist
sinnlos und steht Ihnen schlecht zu Gesicht! Ihre Abneigung
gegen mich macht Sie blind für die Wahrheit, Sir! Und die
Wahrheit ist einfach die, dass er das Leben mit Hope aufgeben
und mit Amy durch seine eigene Hölle gehen musste, um die
Leiden des jungen Lonoff zu befreien. Ich beschwöre Sie: Lesen
Sie das erstaunliche Resultat!«
Er war jetzt vor mir, ging mit schnellen Schritten rück-
wärts und stieß mir die Fotokopie des Manuskripts vor die
Brust. Ich blieb stehen, mit hängenden Armen und geschlos-
senem Mund. Ich hätte ihm von Anfang an mit Schweigen be-
gegnen sollen. Ich hätte – dachte ich zum hundertstenmal –
gar nicht erst mein Haus verlassen sollen. Jahrelang war ich
fortgewesen, hatte eine Festung gegen die Eindringlinge er-
richtet, die sich von meinem Werk angezogen fühlten, hatte
mich mit Schichten von Misstrauen geschützt – und doch
war ich jetzt hier und sah in diese schönen Augen mit dem
fanatischen grünlichen Schimmer. Ein Literaturverrückter.
Noch einer. Wie ich, wie Lonoff, wie jeder, dessen größte Lei-
denschaft einem Buch gilt. Warum hatte es nicht der sanfte
Billy Davidoff sein können, der Lonoffs Biographie schreiben
wollte? Warum konnte der zutiefst respektlose, hitzige Kliman
nicht der sanfte Billy und der sanfte Billy nicht der zutiefst
respektlose, hitzige Kliman sein, und warum konnte Jamie
Logan nicht mir gehören anstatt ihnen? Warum hatte ich
Prostatakrebs bekommen müssen? Warum hatte ich diese
Morddrohungen bekommen müssen? Warum musste das
Nachlassen der eigenen Kraft so rasch und grausam sein? Ach,
dieser Wunsch, das, was ist, möge so sein, wie es nicht ist –
und zwar nicht nur auf dem Papier!
Plötzlich erreichte sein Ärger den Höhepunkt, aber an-
statt mir das Manuskript an den Kopf zu werfen, wie ich es
erwartete – ich hob in einer instinktiven Abwehrbewegung
die Arme –, ließ er es nur Zentimeter vor meinen Füßen auf
den New Yorker Bürgersteig fallen und lief über die Straße
davon, wobei er zwischen den vorbeijagenden Wagen hin-
durchflitzte, und ich konnte nur hoffen, zum Zeugen zu wer-
den, wie sie diesen wütenden Möchtegernbiographen über den
Haufen fuhren.
Nachdem ich im Hotel meine uringetränkte Unterhose aus-
gezogen und mich am Waschbecken gewaschen hatte, rief ich
Amy an. Ich wollte wissen, wie Kliman zu dem Manuskript
gekommen war. Ich hatte es in meinem Zimmer. Ich hatte es
aufgehoben und mitgenommen. Ich hatte gewartet, bis Kli-
man außer Sicht gewesen war, und es dann ins Hotel getragen.
Was hätte ich sonst tun sollen? Ich hatte nicht vor, es zu lesen.
Ich konnte mich an diesem Wahnsinn nicht weiter beteiligen.
Ich hatte genug Wahnsinn hinter mich gebracht, als ich
jünger, klarer im Kopf und weit schlauer und wider-
standsfähiger als jetzt gewesen war. Ich wollte nicht wissen,
was Lonoff aus der Geschichte von ihm selbst und seiner
Schwester und ihrer beider großem Fehltritt gemacht hatte,
und ebensowenig wollte ich weiterhin verteidigen, was ich
nach wie vor glaubte: dass es diesen Fehltritt nie gegeben
hatte. Obgleich mich dieser Mann zu Beginn meiner Karriere
sehr fasziniert und ich noch vor ein paar Tagen sämtliche Bü-
cher von ihm gekauft hatte, Bücher, die ich seit Jahrzehnten
besaß, wollte ich das Manuskript loswerden und von Richard
Kliman und allem befreit sein, was ich an ihm nicht ein-
schätzen konnte und was in Gegensatz zu allem stand, was
ich ernst nahm. Selbst wenn seine Ausbrüche allesamt wie
einstudiert wirkten, wie der rücksichtslose, widerwärtige,
kindische Trick eines oberflächlichen Menschen, der vor-
gibt, von Liebe und Ehrfurcht für das geschriebene Wort
erfüllt zu sein, war er, wie mir schien, nicht nur Lonoffs, son-
dern auch meine Nemesis. Sollte ich fortfahren, mich diesem
Hochstapler und der Vitalität, dem Ehrgeiz, dem Behar-
rungsvermögen und der Wut, die ihn trieben, in den Weg zu
stellen, so konnte ich nur unterliegen. Sobald ich mit Amy ge-
sprochen und dafür gesorgt hatte, dass das Manuskript wie-
der in ihre Hände gelangte, würde ich jamie und Billy anru-
fen und ihnen sagen, dass unsere Vereinbarung hinfällig war.
Und ich würde New York verlassen, ohne den Urologen noch
einmal aufzusuchen. Ich besaß nicht die Kraft, die Kliman so
bewunderte, jedenfalls nicht die Kraft für weitere Interven-
tionen. Der Urologe konnte ebensowenig eine Veränderung
bewirken wie ich selbst. Ich mochte mir im Verlauf von vierzig
Jahren den Ruf erworben haben, ein Buch nach dem anderen
schreiben zu können, aber ich hatte dennoch die Grenzen
meiner Leistungsfähigkeit erreicht. Und auch die Grenzen
meiner Fähigkeit, jemanden zu beschützen – und das hatte ich
schon gewusst, als ich nicht mehr imstande gewesen war, mich
selbst auf andere Art zu schützen als durch Verschwinden. Ich
konnte diesen Burschen nicht aufhalten, nicht einmal, indem
ich Amy mitnahm in die Berkshires oder eine Wache vor ihrer
Tür postierte.
Und ich konnte ihn auch nicht davon abhalten, seine im-
pertinente Aufmerksamkeit mir zuzuwenden, sobald er mit
Lonoff fertig war. Wer konnte die Geschichte meines Lebens
vor Richard Kliman schützen, wenn ich tot war? War Lonoff
nicht bloß ein literarischer Trittstein auf dem Weg zu mir?
Und was würde mein »Inzest« sein? Inwieweit würde ich es
versäumt haben, ein idealer Mensch zu sein? Was würde mein
großes, unanständiges Geheimnis sein? Gewiss gab es eines.
Gewiss gab es mehr als eines. Erstaunlich auch, dass einem das
eigene Können und die Leistungen, die man erbracht hat,
zuletzt dadurch vergolten werden, dass sie der Inquisition
eines Biographen ausgeliefert sind. An den Mann, der die
Herrschaft über die Worte hat, der sein Leben lang Geschich-
ten erfunden hat, erinnert man sich nach seinem Tod, wenn
überhaupt, dann nur wegen einer Geschichte, die ein anderer
über ihn erfunden hat, einer Geschichte, in der seine verbor-
gene Verworfenheit enthüllt und mit schonungsloser Ehrlich-
keit, Klarheit und Selbstgewissheit geschildert wird, mit ern-
ster Sorge um die heikelsten Fragen der Moral und mit nicht
geringem Entzücken.
Ich war also der nächste. Warum hatte ich das nicht längst
gemerkt? Wenn ich es nicht schon längst gemerkt hatte.
Amy ging nicht ans Telefon. Ich wählte Jamies und Billys
Nummer. Nach dem ersten Klingeln schaltete sich der Anruf-
beantworter ein. Ich sagte: »Hier ist Nathan Zuckerman. Ich
rufe vom Hotel aus an. Die Nummer ist –«
Jamie nahm den Hörer ab. Ich hätte auflegen sollen. Ich
hätte gar nicht erst anrufen sollen. Ich hätte dies tun und jenes
lassen sollen, und jetzt hätte ich etwas ganz anderes tun sol-
len! Doch sobald ich dem Reiz ihrer Stimme ausgesetzt war,
hatte ich keine Kontrolle mehr über meine Gedanken. An-
statt fortzufahren, mich aus der Katastrophe zu lösen, aus
der Katastrophe, die ich heraufbeschworen hatte, indem ich
glaubte, ich könne meine Lebensumstände – den Umstand,
unwiderruflich verändert zu sein – verändern, tat ich das Ge-
genteil, und meine Gedanken kreisten nicht um das, was ich
war, sondern um das, was ich nicht war: Es waren die Gedan-
ken eines Menschen, der noch immer imstande ist, es mit dem
Leben aufzunehmen.
»Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte ich.
»Ja.«
»Ich möchte hier mit Ihnen sprechen.«
In der Pause, die eintrat, setzte ich mich so gut ich konnte
mit den lächerlichen Worten auseinander, die die Vergangen-
heit mich drängte auszusprechen.
»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, sagte sie.
»Ich hatte gehofft, Sie würden es können.«
»Es ist ein interessanter Gedanke, Mr. Zuckerman, aber
nein.«
Was konnte ich, ein ausgebrannter »Nicht-mehr«, der
weder genug Selbstvertrauen für eine Verführung noch die
Fähigkeit besaß, zur Tat zu schreiten, sagen, um sie umzu-
stimmen? Alles, was ich noch hatte, waren meine Instinkte:
wollen, begehren, haben. Und das dumme Erstarken meiner
Entschlossenheit zu handeln. Endlich zu handeln!
»Kommen Sie in mein Hotel«, sagte ich.
»Ich bin ziemlich verblüfft«, sagte sie. »Mit diesem Anruf
habe ich nicht gerechnet.«
»Ich auch nicht.«
»Warum haben Sie dann angerufen?«
»Seit wir uns in Ihrer Wohnung unterhalten haben, ist irgend
etwas in mich gefahren.«
»Allerdings etwas, das ich, fürchte ich, nicht befriedigen
kann.«
»Bitte kommen Sie.«
»Bitte hören Sie auf. Es braucht nicht viel, mich aus der
Bahn zu werfen. Denken Sie, ich bin streitlustig? Die kratz-
bürstige Jamie? Die aggressive Jamie? Ich bin ein streitlu-
stiges Nervenbündel. Denken Sie, Richard Kliman ist mein
Liebhaber? Denken Sie das immer noch? Dass ich in sexueller
Hinsicht nichts mit ihm zu tun haben will, sollte Ihnen mitt-
lerweile hinreichend klar sein. Sie haben sich eine Frau zu-
sammenphantasiert, die ich nicht bin. Können Sie sich nicht
vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich Billy kennenlernte
und nicht mehr jedesmal angebrüllt wurde, wenn ich mich
nicht jedem Wunsch fügte?«
Was konnte ich sagen, um sie aus der Reserve zu locken?
Was konnte ich sagen, um ein offenes Ohr zu finden?
»Sind Sie allein?« fragte ich.
»Nein.«
»Wer ist bei Ihnen?«
»Richard. Er ist nebenan. Er hat mir erzählt, wie sein Tref-
fen mit Ihnen war. Das ist alles, was wir hier tun. Er erzählt,
ich höre zu. Das ist alles. Der Rest ist Ihre Einbildung. Was
für ein verwundeter Mensch Sie sein müssen, sich so etwas
vorzustellen.«
»Bitte kommen Sie, Jamie.« Von allen sprachlichen Mit-
teln, die mir zu Gebote standen, waren diese Worte die ge-
haltvollsten, auf die ich verfiel, um sie zu wiederholen.
»Ich bin töricht«, sagte sie, »also hören Sie bitte auf.«
Ich sah mich, ich hörte mich, ich betrachtete mich mit an-
gemessener Häme und Verachtung und war abgestoßen vom
Ausmaß meiner Verzweiflung, doch die sexuelle Verbindung
zwischen mir und den Frauen war vor Jahren durch die Pro-
stataoperation so abrupt unterbrochen worden, dass ich jetzt,
im Gespräch mit Jamie, nicht anders konnte, als diese Tatsache
auszublenden und einem Ego zu gehorchen, das ich nicht
mehr besaß.
»Ich habe Sie angerufen«, sagte ich, »um Ihnen etwas ganz
anderes zu sagen. Ich wollte dies gar nicht sagen. Ich dachte,
ich hätte mich von alldem befreit.«
»Ist das überhaupt möglich?« Sie klang, als hätte sie diese
Frage nicht im Hinblick auf mich, sondern im Hinblick auf
sich selbst gestellt.
»Kommen Sie, Jamie. Ich habe das Gefühl, dass Sie mir
etwas beibringen können und dass es für mich noch nicht zu
spät ist, es zu lernen.«
»Das ist eine Täuschung. Das alles ist eine Täuschung.
Nein, ich kann nicht kommen, Mr. Zuckerman.« Und dann
fügte sie, sei es aus Freundlichkeit, sei es, um mich loszu-
werden oder vielleicht auch, weil ein Teil von ihr es wirklich
meinte, hinzu: »Ein andermal«, als könnte ich all die Tage, die
noch vor ihr lagen, in ihrer Nähe bleiben und warten.
Und so floh ich vor den Kräften, die einst meine eigene Kraft
erhalten und meine Stärke gefordert und meine Begeisterung
und Leidenschaft entfacht und meinen Widerstand geweckt
und mich mit dem Bedürfnis erfüllt hatten, alles, sei es groß
oder klein, wichtig zu nehmen und mit Bedeutung zu erfül-
len. Ich blieb nicht, um wie früher zu kämpfen, sondern floh
vor Lonoffs Manuskript, vor all den Gefühlen, die es aufge-
wühlt hatte, vor all den Gefühlen, die es aufwühlen würde,
wenn ich Klimans Randbemerkungen läse und dort auf die
Spuren eines Geistes stieße, der alles zum Nennwert nahm,
auf eine Vulgarität, die jede Äußerung auf vollkommen idioti-
sche Weise mit ihrem Urheber gleichsetzte. Ich war diesem
Kampf nicht gewachsen und wollte keinen Anteil haben an
den damit verbundenen Wirrungen, und daher warf ich das
Manuskript ungelesen – als wäre es das Werk eines Schrift-
stellers, der mir mein Laben lang gleichgültig gewesen war –
in den Papierkorb des Hotelzimmers, setzte mich in meinen
Wagen und war kurz nach Einbruch der Dunkelheit wieder
zu Hause. Auf der Flucht muss man rasch entscheiden, was
man mitnimmt und was nicht, und ich beschloss, nicht nur das
Manuskript zurückzulassen, sondern auch die sechs Bücher
von Lonoff, die ich bei Strand gekauft hatte. Die fünfzig Jahre
alten Exemplare, die ich zu Hause hatte, würden mir für den
Rest meines Lebens reichen.
Der Aufruhr von New York hatte wenig länger als eine
Woche gedauert. Es gibt keinen weltlicheren Ort als New
York, das voller Menschen ist, die, mit ihren Handys tele-
fonierend, in Restaurants gehen, Affären haben, sich um Jobs
bewerben, Zeitungen lesen, mit Leidenschaft politische Über-
zeugungen vertreten, und ich hatte gedacht, ich würde von
dort, wo ich gewesen war, zurückkehren und mich erneut in
all das stürzen, was ich hinter mir gelassen hatte – Liebe,
Verlangen, Auseinandersetzungen, berufliche Konflikte, das
ganze chaotische Vermächtnis der Vergangenheit –, doch statt
dessen war ich, wie in einem zu schnell abgespielten alten
Film, nur für einen ganz kurzen Augenblick hindurchgejagt,
um mich dann wieder daraus zu lösen und nach Hause zu
fahren. Es war nichts weiter geschehen, als dass beinahe etwas
geschehen war, doch ich kehrte zurück wie von einem großen,
bedeutenden Geschehen. Ich hatte im Grunde nichts zu
bewirken versucht, hatte ein paar Tage lang einfach dage-
standen, erfüllt von Frustration, erschüttert von der gnaden-
losen Auseinandersetzung zwischen den Nicht-mehrs und den
Noch-nichts. Das war demütigend genug.
Nun war ich zurück, wo ich für immer der Notwendigkeit
enthoben war, mich mit jemandem zu streiten oder etwas zu
begehren oder jemand zu sein, die Menschen von diesem oder
jenem zu überzeugen und eine Rolle in dem Drama meiner
Zeit zu übernehmen. Kliman würde mit all seiner rohen In-
tensität Lonoffs Geheimnis nachspüren, und Amy Bellette
würde ebenso außerstande sein, ihn davon abzuhalten, wie sie
als Mädchen außerstande gewesen war, die Morde an ihrer
Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder zu verhindern, oder
jetzt dem Tumor, der sie tötete, Einhalt zu gebieten. Ich
würde ihr sogleich einen Scheck schicken und einen weiteren
am Ersten eines jeden Monats, doch sie würde ohnehin inner-
halb eines Jahres sterben. Kliman würde nicht lockerlassen
und durch dieses überflüssige Buch, in dem er Lonoffs angeb-
lichen Fehltritt enthüllt und als Schlüssel zur Erklärung sei-
nes gesamten Werkes darstellte, vielleicht für ein paar Monate
literarische Bedeutung erlangen. Möglicherweise würde es
ihm sogar gelingen, jamie zu gewinnen, sofern sie entnervt
oder verwirrt oder gelangweilt genug war, um Trost bei seiner
abstoßend prahlerischen Pose zu suchen. Und irgendwann
würde ich ebenfalls sterben, wie Amy, wie Plimpton, wie Lo-
noff, wie alle, die ihre Taten vollbracht und ihre Aufgabe er-
füllt hatten und nun auf dem Friedhof lagen, allerdings nicht
ohne mich zuvor an den Tisch am Fenster zu setzen, hinaus-
zusehen in das graue Licht eines November morgens, über
den vom Schnee gepuderten Weg zum stillen, von Wind gerif-
felten Wasser des Sumpfes, das an den Rändern, wo die fau-
lenden, skelettartigen Stengel des rispenlosen Schilfs standen,
bereits überfror, und in meinem sicheren Hafen, wo keiner
dieser New Yorker Menschen mehr zu sehen war – und bevor
mein nachlassendes Gedächtnis mich vollends im Stich ließ –,
die letzte Szene von Er und Sie zu schreiben.
ER Es wird wohl noch zwei Stunden dauern, bis Billy zurück
ist. Warum kommen Sie nicht in mein Hotel? Ich wohne
im Hilton, Zimmer Nummer 1418.
SIE (leise lachend) Als Sie sie verlassen haben, sagten Sie,
dass es Sie umbringt und dass Sie sie nie mehr sehen
wollen.
ER Aber jetzt will ich sie sehen.
SIE Was hat sich verändert?
ER Das Ausmaß der Verzweiflung. Ich bin jetzt verzweifelter.
Und Sie?
SIE Ich ... ich ... ich bin weniger verzweifelt. Warum sind Sie
jetzt verzweifelter?
ER Fragen Sie die Verzweiflung, warum sie verzweifelter ist.
SIE Ich muss ehrlich mit Ihnen sein. Ich glaube, ich weiß,
warum Sie jetzt verzweifelter sind. Ich glaube nicht, dass
es helfen wird, wenn ich Sie in Ihrem Hotelzimmer besu-
che. Richard ist hier. Er ist gekommen und hat mir von
dem Gespräch zwischen Ihnen beiden erzählt. Ich muss
Ihnen sagen, dass Sie meiner Meinung nach einen großen
Fehler machen. Richard versucht nur, seine Arbeit zu tun,
so wie Sie Ihre Arbeit tun. Er ist äußerst verärgert. Und
Sie sind offenbar ebenfalls äußerst verärgert. Sie rufen an
und wollen etwas in Ihr Leben holen, das Sie lieber nicht –
ER Ich lade Sie in mein Hotelzimmer ein. Ich möchte, dass
Sie mich hier, in meinem Hotelzimmer, besuchen. Kliman
ist Ihr Liebhaber.
SIE Nein.
ER Doch.
SIE (mit Nachdruck) Nein.
ER Sie haben es neulich praktisch zugegeben.
SIE Das habe ich nicht. Sie haben mich entweder missverstan-
den oder sich verhört. Sie haben es völlig falsch verstan -
den.
ER Dann können Sie also auch lügen. Gut. Ich bin froh, dass
Sie lügen können.
SIE Wie kommen Sie darauf, dass ich lüge? Wollen Sie be-
haupten, weil ich auf dem College mit ihm zusammen war,
muss er jetzt mein Liebhaber sein ?
ER Ich habe gesagt, ich sei eifersüchtig auf Ihren Liebhaber.
Ich habe ihn für Ihren Liebhaber gehalten. Jetzt sagen Sie
mir, dass er nicht Ihr Liebhaber ist.
SIE Nein, das ist er nicht.
ER Dann ist jemand anders Ihr Liebhaber. Ich weiß nicht, ob
das schlimmer oder besser ist.
SIE Ich möchte nicht über meinen Liebhaber diskutieren.
Wollen Sie mir sagen, dass Sie mein Liebhaber sein wollen?
ER Ja.
SIE Sie wollen, dass ich jetzt zu Ihnen komme. Es ist sechs
Uhr. Ich könnte um halb sieben bei Ihnen sein. Ich kann
um neun mit ein paar Lebensmitteln nach Hause kommen
und sagen, ich hätte noch ein paar Besorgungen gemacht.
Ich müsste also etwas einkaufen. Oder Sie könnten das
jetzt für mich erledigen. Dann könnten wir etwas mehr
Zeit miteinander verbringen.
ER Wann sind Sie hier?
SIE Das rechne ich gerade aus. Sie könnten jetzt die Einkäufe
erledigen. Ich könnte Richard loswerden und mir ein Taxi
nehmen. Ich könnte um halb sieben bei Ihnen sein. Aber
ich müsste um halb neun wieder gehen. Wir hätten also
zwei Stunden. Gefällt Ihnen das?
ER Ja.
SIE Und dann?
ER Dann hätten wir zwei Stunden.
SIE Ich bin heute völlig verrückt. (Lacht.) Sie nutzen den Zu-
stand einer Verrückten aus.
ER Ich ernte die Früchte der Wahl.
SIE (lacht) Ja, das stimmt.
ER Die haben Ohio erobert – ich werde Sie erobern.
SIE Ich könnte heute ein bisschen starke Medizin vertragen.
ER Es gab Zeiten, da bin ich mit starker Medizin hausieren
gegangen.
SIE Das erinnert mich an die Bayous.
ER Was sagen Sie?
SIE Die Bayous in Houston. Wir sind über die Grundstücke
von anderen Leuten dorthin gegangen, haben irgendwo
eine Schaukel gefunden und sind ins Wasser gesprungen.
Wir sind in diesem geheimnisvollen, kakaobraunen Was-
ser geschwommen, in dem viele tote Bäume lagen und das
so trüb war, dass man seine Hand unter Wasser nicht se-
hen konnte. Von den Bäumen hing Moos, und das Wasser
war so schlammig – ich weiß auch nicht, warum ich es ge-
tan habe, höchstens weil es eines der Dinge war, die meine
Eltern mir verboten hätten. Das erste Mal hat meine ältere
Schwester mich mitgenommen. Sie war die Wagemutige,
nicht ich. Es hat sie total verrückt gemacht, dass meine
Mutter so entsetzlich viel Wert auf den äußeren Anschein
gelegt hat. Sie war diejenige, die nicht mal mein strenger
Vater zügeln konnte, geschweige denn meine Mutter. Ich
habe Billy geheiratet. Das Schlimmste an ihm war, dass er
Jude ist.
ER Das ist auch das Schlimmste an mir.
SIE Tatsächlich?
ER Kommen Sie, Jamie. Kommen Sie zu mir.
SIE (rasch und leichthin) Gut. Wo sind Sie noch mal?
ER Im Hilton. Zimmer Nummer 1418.
SIE Und wo ist das Hilton? Ich kenne die New Yorker Hotels
nicht.
ER Das Hilton ist in der Sixth Avenue, zwischen der 53rd und
der 54th Street. Gegenüber vom CBS-Gebäude. Schräg
gegenüber vom Warwick Hotel.
SIE Dieses riesige, nicht besonders schöne Hotel.
ER Genau. Ich wollte eigentlich nur ein paar Tage bleiben.
Ich wollte eine kranke Freundin besuchen.
SIE Ich weiß von Ihrer kranken Freundin. Wir wollen nicht
davon sprechen.
ER Was hat Kliman Ihnen von ihr erzählt? Wissen Sie eigent-
lich, was er dieser Frau antut, die an einem Hirntumor
stirbt?
SIE Er versucht, ihre Geschichte zu erfahren. Oder eigent-
lich nicht mal ihre Geschichte, sondern die eines Men-
schen, den sie geliebt hat und dessen Werk in Vergessen-
heit geraten ist. Dessen Reputation verschwunden ist.
Sehen Sie, Richard ist leider selbst sein ärgster Feind.
Aber Sie sollten sich davon nicht beeinflussen lassen. Er
ist ein energischer, zwanghafter, entschlossener, interes-
sierter Mensch, der sich jetzt mit diesem praktisch unbe-
kannten Schriftsteller befasst, den niemand mehr liest. Er
ist von ihm fasziniert, er ist erregt, er denkt, es gibt da ein
Geheimnis, das nicht einfach skandalös, sondern viel-
mehr lehrreich und interessant ist. Ja, er hat diese ver--
rückte Gier des Biographen. Ja, er hat den rücksichts-
losen Drang, das zu kriegen, was er haben will. Ja, er
würde alles dafür tun. Aber warum nicht – wenn es ihm
ernst ist? Er versucht, diesem Mann zu seinem verdien-
ten Platz in der amerikanischen Literatur zu verhelfen,
und dazu braucht er die Hilfe dieser Frau – damit er
eine Geschichte erzählen kann, die niemandem schadet.
Niemandem. Die Leute, die darin vorkommen, sind seit
vielen Jahren tot.
ER Dieser Mann hat drei Kinder, die noch leben. Was ist mit
denen? Wie würden Sie sich fühlen, wenn so etwas über
Ihren Vater ans Licht käme?
SIE Als Lonoff siebzehn war, hatte er eine Beziehung mit sei-
ner Halbschwester – er war jünger als sie, und als das
anfing, war er vierzehn. Er war der jüngere von beiden, er
war unschuldig. Ich kann darin keine Schande entdecken.
ER Sie sind sehr großzügig. Glauben Sie, Ihre Eltern würden
ebenso großzügig sein, wenn sie von Lonoffs Jugend le-
sen?
SIE Mein Vater und meine Mutter haben am Dienstag George
Bush gewählt. Die Antwort lautet also: Nein. (Lacht.)
Selbst wenn Ihnen an ihrer Zustimmung liegen würde,
hatten Sie nie ein Buch veröffentlicht, das mein Vater oder
meine Mutter nicht mit Wohlwollen betrachtet hätten.
Keines Ihrer Bücher wäre so, wie es ist, je veröffentlicht
worden, mein Freund.
ER Und was ist mit Ihnen? Würden Sie Ihren Vater mit Wohl-
wollen betrachten, wenn so etwas über ihn herauskäme?
SIE Es würde mir nicht leichtfallen.
ER Haben Sie eine Tante?
SIE Nein, ich habe keine Tante. Aber ich habe einen Bruder.
Ich habe keine Kinder. Aber wenn ich welche hätte,
würde ich nicht wollen, dass sie es erfahren würden, wenn
zwischen meinem Bruder und mir etwas gewesen wäre.
Aber ich glaube, es gibt Dinge, die wichtiger sind als –
ER Bitte. Nicht Kunst.
SIE Wofür haben Sie dann Ihr Leben aufgegeben?
ER Ich wusste nicht, dass ich es aufgebe. Ich habe getan, was
ich getan habe, und ich wusste es nicht. Können Sie sich
vorstellen, was die Zeitungen daraus machen werden?
Können Sie sich vorstellen, was die Kritiker daraus ma-
chen werden? Das hat nichts mit Kunst und noch weniger
mit der Wahrheit oder mit Verständnis für einen Fehltritt
zu tun. Es hat etwas mit Sensationslust zu tun. Wäre
Lonoff noch am Leben, es würde ihm leid tun, je ein Wort
geschrieben zu haben.
SIE Er ist tot. Es wird ihm nicht leid tun.
ER Er wird bloß in den Schmutz gezogen werden. Ohne
guten Grund. Er wird übel in den Schmutz gezogen wer-
den von den moralistischen Tugendbolden, den femini-
stischen Predigerinnen, der übelkeiterregenden Überle-
genheit der Läuse der Literatur. Viele der Kritiker, die
eigentlich nette Menschen sind, werden sagen, dass er ein
schweres sexuelles Verbrechen begangen hat. Worüber
lachen Sie jetzt?
SIE Über Ihre Herablassung. Glauben Sie, wenn es die »fe-
ministischen Predigerinnen« nicht gegeben hätte, würde
ich es auch nur in Erwägung ziehen, in zwanzig Minuten
bei Ihnen in Ihrem Hotelzimmer zu sein? Glauben Sie,
ein Mädchen, das so aufgewachsen ist wie ich, hätte den
Mumm, so etwas zu tun? Sie ernten die Früchte der Wahl
und der Feministinnen. George Bush und Betty Friedan.
(Sie spricht mit einemmal wie eine hartgesottene Gang-
sterbraut in einem Film.) Wollen Sie, dass ich vorbei-
komme – wollen Sie das wirklich? Oder wollen Sie sich
lieber mit mir am Telefon über Richard Kliman unter-
halten?
ER Ich glaube Ihnen nicht. Was Kliman betrifft, glaube ich
Ihnen nicht. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.
SIE Gut. Gut. Spielt das eine Rolle für die zwei Stunden, die
wir miteinander verbringen wollen? Sie können mir glau-
ben oder nicht glauben, und wenn Sie mir nicht glauben
und nicht wollen, dass ich komme, dann ist das in Ord-
nung. Wenn Sie mir nicht glauben und wollen, dass ich
komme, ist das auch in Ordnung. Und wenn Sie mir glau-
ben und wollen, dass ich komme, ist das ebenfalls in Ord-
nung. Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen.
ER Sind die dreißigjährigen Frauen heutzutage alle so extrem
selbstsicher, oder sind sie es nur so lange, wie sie die Fas -
sade aufrechterhalten können?
SIE Keins von beiden.
ER Dann gilt das also nur für dreißigjährige Frauen mit lite-
rarischen Ambitionen?
SIE Nein.
ER Oder für die dreißigjährigen Frauen, die in durch Öl reich
gewordenen Houstoner Familien aufgewachsen sind? Die
überprivilegierten jungen Frauen?
SIE Nein, das gut für mich. Sie sprechen mit mir.
ER Ich bete Sie an.
SIE Sie kennen mich nicht.
ER Ich bete Sie an.
SIE Sie fühlen sich sehr stark zu mir hingezogen.
ER Ich bete Sie an.
SIE Sie beten mich nicht an. Das können Sie nicht. Es ist un-
möglich. Diese Worte sind bedeutungslos. Sie kommen
mir vor wie ein Mensch, der auf ein Abenteuer aus war,
ohne es zu wissen. Er, der alle Erfahrungen elf Jahre lang
von sich geschoben hat, der sich gegen alles außer dem
Denken und dem Schreiben abgeschottet hat – er, dessen
Existenz so ganz auf sich selbst bezogen war, hatte keine
Ahnung. Erst als er wieder in der großen Stadt ist, ent-
deckt er, dass er wieder mitten im Leben stehen will und
dass der einzige Weg dorthin durch die unvernünftige,
unbesonnene ... Tja, er ist einem vollkommen unver-
nünftigen Verlangen ausgeliefert. Ich spreche von einem
geradezu unmenschlich disziplinierten, vernunftgesteu-
erten Menschen, der jeden Sinn für Proportion verloren
und sich in eine verzweifelte Geschichte voller unver-
nünftiger Wünsche begeben hat. Aber so ist es eben, wenn
man mitten im Leben steht, nicht? Wenn man sich ein
Leben aufbaut. Sie wissen, dass die Vernunft sich jederzeit
wieder Geltung verschaffen kann – und wenn sie das tut,
sind das Leben und die Instabilität, die zum Leben gehört,
dahin. Jedermanns Schicksal: Instabilität. Das einzige
andere mögliche Motiv, das Sie haben könnten, um zu
sagen, dass Sie mich anbeten, ist, dass Sie im Augenblick
ein Schriftsteller ohne Buch sind. Fangen Sie ein neues
Buch an, steigen Sie richtig ein, und wir werden sehen,
wie sehr Sie Jamie Logan anbeten. Jedenfalls, ich bin
gleich bei Ihnen.
ER Dass Sie zu mir ins Hotel kommen wollen, legt den
Schluss nahe, dass Sie ebenfalls in großen Schwierigkeiten
sind. Unbesonnene Augenblicke. Dies ist Ihrer.
SIE Unbesonnene Augenblicke, die zu unbesonnenen Be-
gegnungen führen. Unbesonnene Augenblicke, die zu ge-
fährlichen Entscheidungen führen. Sie sollten mich nicht
zu eindringlich daran erinnern.
ER Ich glaube, ich kann mich darauf verlassen, dass Sie sich
während der ganzen Taxifahrt hierher selbst daran erin-
nern werden.
SIE Tja, ich habe Ihnen ja gesagt, dass Sie den Ausgang der
Wahl ausnutzen. Also haben Sie recht.
ER Sie überschreiten Conrads Schattenlinie, erst von der
Kindheit in die Reife, dann von der Reife in etwas anderes.
SIE In den Wahnsinn. Ich bin gleich da.
ER Gut. Beeilen Sie sich. Eilen Sie in den Wahnsinn. Runter
mit den Kleidern und hinein in die Bayous. (Er legt auf.)
Ins kakaobraune Wasser, in dem viele tote Bäume liegen.
Zentaur 2008-03-12