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Philip Roth

Exit Ghost

Roman

Aus dem Amerikanischen von


Dirk van Gunsteren

Carl Hanser Verlag


Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007
unter dem Titel Exit Ghost bei Houghton Mifflin in Boston.

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ISBN 978-3-446-23001-9
© Philip Roth 2007
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2008
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
Für B.T.
Bevor der Tod dich nimmt, nimm dies zurück
Dylan Thomas: Find Meat on Bones
1 Der gegenwärtige Augenblick

nicht mehr in New York gewe-


I C H W AR SE I T E L F J A H R E N
sen. Abgesehen von einem Aufenthalt in Boston, wo man mir
die von Krebs befallene Prostata entfernt hatte, war ich in
diesen elf Jahren kaum je anderswo unterwegs gewesen als auf
der kleinen Landstraße m den hügeligen Berkshires, und
überdies hatte ich seit dem Attentat vom 11. September drei
Jahre zuvor nur selten eine Zeitung gelesen oder eine Nach-
richtensendung gesehen; ohne ein Gefühl des Verlustes – es
war anfangs lediglich eine Art innerer Dürre gewesen – hatte
ich aufgehört, ein Bewohner der großen Welt oder auch nur
des gegenwärtigen Augenblicks zu sein. Den Impuls, in dieser
Welt zu sein und zu ihr zu gehören, hatte ich längst abgetötet.
Doch nun war ich die zweihundert Kilometer nach Süden,
nach Manhattan, gefahren, um einen Urologen am Mount
Sinai Hospital aufzusuchen, der sich auf eine Methode zur
Behandlung jener Tausende von Männern spezialisiert hatte,
die, wie ich, nach einer Prostataoperation inkontinent waren.
Er führte einen Katheter in die Harnröhre ein und injizierte
am Blasenmund Kollagen in gelatiner Form, wodurch er bei
etwa fünfzig Prozent seiner Patienten eine signifikante Bes-
serung des Zustands erreichte. Die Chancen standen nicht
überwältigend gut, zumal »signifikante Besserung« lediglich
eine teilweise Linderung der Symptome bedeutete: aus »schwe-
rer Inkontinenz« konnte »moderate Inkontinenz« werden,
aus »moderater« möglicherweise eine »leichte«. Doch weil
seine Resultate besser waren als die anderer Urologen, die
so ziemlich dieselbe Technik anwendeten (an der zweiten
möglichen Folge einer radikalen Prostatektomie – Impotenz
infolge einer Schädigung des Nervengewebes –, von der ver-
schont zu werden mir, wie Zehntausenden von Männern, nicht
vergönnt gewesen war, ließ sich ohnehin nichts ändern), fuhr
ich zu einer Konsultation nach New York, obgleich ich mir seit
langem einbildete, mich mit den praktischen Widrigkeiten
dieses Zustands abgefunden zu haben.
In den Jahren seit der Operation hatte ich sogar geglaubt, die
Beschämung über die Tatsache, dass ich mir in die Hose
pinkelte, überwunden zu haben, den verwirrenden Schock, der
in den ersten eineinhalb Jahren besonders groß gewesen war,
in jenen Monaten nämlich, als der behandelnde Arzt mir
Hoffnungen gemacht hatte, diese Unannehmlichkeit werde im
Lauf der Zeit langsam verschwinden, wie es bei einigen
wenigen glücklichen Patienten der Fall ist. Doch obwohl die
Maßnahmen, die ich traf, um sauber und geruchsfrei zu blei-
ben, zur täglichen Routine geworden waren, hatte ich mich
anscheinend nie wirklich daran gewöhnt, besondere Unter-
hosen zu tragen, die Einlagen zu wechseln und mit den wie-
derkehrenden »Malheurs« fertig zu werden, ebensowenig wie
es mir gelungen war, die damit verbundene Erniedrigung hin-
zunehmen, denn da war ich nun, einundsiebzig Jahre alt,
zurück in der Upper East Side von Manhattan, nur ein paar
Blocks von der Gegend entfernt, wo ich als tatkräftiger, ge-
sunder jüngerer Mann gelebt hatte, und saß im Empfangs-
bereich der urologischen Abteilung des Mount Sinai Hospi-
tal, wo man mir in Kürze versichern würde, dass ich, sofern es
gelang, das Kollagen dauerhaft am Blasenmund zu befesti-
gen, Chancen hatte, meinen Harnfluss ein wenig besser unter
Kontrolle zu halten als ein Kleinkind. Ich saß da, stellte mir
die Prozedur vor, blätterte in den Stapeln von People und New
York und dachte: Völlig sinnlos. Geh raus und fahr nach
Hause.
In den vergangenen elf Jahren hatte ich allein in einem
kleinen Haus an einem Feldweg in der hintersten Provinz ge-
lebt; den Entschluss dazu hatte ich, etwa zwei Jahre bevor der
Krebs diagnostiziert wurde, gefasst. Ich komme mit wenigen
Menschen zusammen. Seit mein Nachbar und Freund Larry
Hollis vor einem Jahr gestorben ist, vergehen manchmal zwei,
drei Tage, an denen ich allenfalls mit der Haushälterin, die
einmal pro Woche zum Putzen kommt, und ihrem Mann,
meinem Hausmeister, spreche. Ich gehe nicht zu Dinner-
partys. Ich gehe nicht ins Kino. Ich sehe nicht fern. Ich be-
sitze weder ein Handy noch einen Videorekorder, einen
DVD-Spieler oder einen Computer. Ich lebe weiterhin im
Zeitalter der Schreibmaschine und habe keine Ahnung, was
das World Wide Web eigentlich ist. Ich mache mir nicht mehr
die Mühe, zur Wahl zu gehen. Den größten Teil des Tages und
oft auch des Abends verbringe ich mit Schreiben. Ich lese viel,
hauptsächlich die Bücher, die ich als Student entdeckt habe,
die Meisterwerke der Literatur, die mich heute nicht weniger
und in einigen Fällen sogar mehr faszinieren als bei meinen
allerersten erregenden Begegnungen mit ihnen. Unlängst
habe ich zum ersten Mal seit fünfzig Jahren wieder Joseph
Conrad gelesen, zuletzt Die Schattenlinie, ein Buch, das ich
nach New York mitgenommen hatte, um noch einmal hinein-
zusehen, nachdem ich es kürzlich an einem Abend durchgele-
sen hatte. Ich höre Musik, ich wandere in den Wäldern, und
wenn es heiß ist, schwimme ich in meinem Teich, dessen Was-
ser selbst im Sommer nie wärmer wird als knapp über zwanzig
Grad. Ich schwimme nackt, denn dort kann mich niemand
sehen, und das bedeutet, dass ich, wenn ich eine blasse,
schlierige Urinwolke hinter mir herziehe, die das Wasser des
Teichs wahrnehmbar verfärbt, weitgehend gelassen bin und
mir die Peinlichkeit erspart bleibt, die mich gewiss zu Boden
drücken würde, sollte meine Blase sich gegen meinen Will-
len in einem öffentlichen Schwimmbad entleeren. Für inkon-
tinente Schwimmer gibt es Plastikunterhosen mit starken
Gummizügen, die, wie die Werbung verspricht, wasserdicht
sind, doch als ich mir, nach langem inneren Hin und Her, eine
solche Hose von einem Hersteller für Swimmingpool-Zube-
hör hatte kommen lassen und im Teich ausprobierte, stellte
ich fest, dass das Tragen dieser eher großen weißen Dinger
unter der Badehose das Problem zwar verringerte, jedoch
nicht in ausreichendem Maße, um meine Befangenheit zu
überwinden. Anstatt das Risiko einzugehen, mich bloßzu-
stellen und Anstoß zu erregen, gab ich den Gedanken auf,
während des größten Teils des Jahres regelmäßig (und in Un-
ter- und Badehose) im Schwimmbad des örtlichen College zu
schwimmen, und fand mich damit ab, in den wenigen Mona-
ten, in denen es in den Berkshires warm genug ist und ich, bei
gutem wie schlechtem Wetter, täglich eine halbe Stunde
schwimme, zuweilen das Wasser meines eigenen Teichs zu
verunreinigen.
Ein paarmal pro Woche verlasse ich meinen Hügel und fahre
hinunter ins zwölf Kilometer entfernte Athena zum Su-
permarkt oder zur Reinigung; gelegentlich gehe ich etwas es-
sen, kaufe ein Paar Socken oder eine Flasche Wein, benutze
die College-Bibliothek. Nach Tanglewood ist es nicht weit,
und im Sommer fahre ich etwa zehnmal dorthin, um ein Kon-
zert zu hören. Ich gebe keine Lesungen, ich halte keine Vor-
träge, ich unterrichte nicht, ich trete nicht im Fernsehen auf.
Wenn meine Bücher erscheinen, bleibe ich zu Hause. Ich
schreibe jeden Tag – im übrigen schweige ich. Der Gedanke,
nichts mehr zu veröffentlichen, erscheint mir verführerisch: Ist
das, was ich brauche, nicht das Arbeiten und Überarbeiten?
Was spielt es denn noch für eine Rolle, ob ich inkontinent und
impotent bin?

Larry und Marylynne Hollis waren von West Hartford in die


Berkshires gezogen, nachdem Larry, der sein ganzes Berufs-
leben als Anwalt bei einer Versicherungsgesellschaft in Hart-
ford verbracht hatte, in Ruhestand gegangen war. Larry war
zwei Jahre jünger als ich, ein penibler, ja pedantischer Mann,
der zu glauben schien, das Leben sei nur dann sicher, wenn
man alles bis ins Letzte plante, und dem ich in den Monaten,
als er versuchte, mich an seinem Leben teilhaben zu lassen,
nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Schließlich gab ich je-
doch nach, nicht nur, weil er so unbeirrbar war in seinem
Wunsch, meine Einsamkeit zu lindern, sondern auch, weil ich
einen Menschen wie ihn nie kennengelernt hatte – einen Er-
wachsenen, dessen traurige Kindheit nach eigener Einschät-
zung jede einzelne Entscheidung beeinflusst hatte, seit er zehn
gewesen und seine Mutter an Krebs gestorben war, bloß vier
Jahre nachdem sein Vater, Inhaber eines Linoleumgeschäfts
in Hartford, auf ebenso qualvolle Weise derselben Krankheit
zum Opfer gefallen war. Larry war ein Einzelkind und kam
zu Verwandten, die südwestlich von Hartford lebten, am Nau-
gatuck, knapp außerhalb der trostlosen Industriestadt Water-
bury, Connecticut, und dort entwarf er in einem Tagebuch
einen detaillierten Plan für die Zukunft, an den er sich für den
Rest seines Lebens buchstabengetreu hielt; von da an war alles,
was er tat, äußerst zielgerichtet. Er war nur mit den besten
Noten zufrieden und legte sich schon als Schüler mit allen
Lehrern an, die seine Leistungen nicht angemessen beurteil-
ten. Er nahm am Ferienunterricht teil, um die Highschool
früher abschließen zu können und noch vor seinem siebzehn-
ten Geburtstag die Zulassung zum College zu bekommen; auch
an der University of Connecticut, wo er ein Vollstipendium
hatte und das ganze Jahr über im Heizungsraum der
Bibliothek für Unterkunft und Verpflegung arbeitete, belegte
er Sommerseminare, um so schnell wie möglich den College-
abschluss zu machen, seinen Namen von Irwin Golub in
Larry Hollis ändern zu lassen (wie er es sich bereits mit zehn
vorgenommen hatte), in die Air Force einzutreten, sich als
Jagdflieger Lieutenant Hollis einen Namen zu machen und ein
Militärstipendium für ein Universitätsstudium zu bekommen;
nach seiner Dienstzeit schrieb er sich in Fordham ein, und die
Regierung bezahlte ihm für seine drei Jahre in der Air Force
ein dreijähriges Jurastudium. Als Pilot war er in Seattle
stationiert und warb intensiv um ein hübsches Mädchen na-
mens Collins, das gerade die Highschool hinter sich hatte und
genau Larrys Vorstellungen von seiner zukünftigen Ehefrau
entsprach – dazu gehörte unter anderem, dass sie aus einer iri-
schen Familie stammte und dunkles, lockiges Haar sowie eis-
blaue Augen hatte wie er selbst. »Ich wollte kein jüdisches
Mädchen heiraten. Meine Kinder sollten nicht jüdisch erzogen
werden oder sonst irgend etwas Jüdisches haben.« »Warum
nicht?« fragte ich ihn. »Weil ich das eben nicht wollte«, lau-
tete seine Antwort. Dass er wollte, was er wollte, und nicht
wollte, was er nicht wollte, war seine Antwort auf praktisch
alle meine Fragen nach der ungeheuer konventionellen Struk-
tur, die er seinem Leben gegeben hatte, nachdem er seine
jungen Jahre in ständiger Eile und mit dem Schmieden von
Plänen verbracht hatte. Als er zum erstenmal an meine Tür
klopfte, um sich vorzustellen – ein paar Tage nachdem er und
Marylynne in das Haus, das meinem am nächsten stand, ge-
zogen waren, etwa achthundert Meter den Feldweg hinun- ter
–, beschloss er sogleich, dass ich nicht jeden Abend allein
sein, sondern fortan mindestens einmal pro Woche mit ihm
und seiner Frau in ihrem Haus zu Abend essen sollte. Er
wollte nicht, dass ich die Sonntage allein verbrachte – der Ge-
danke, dass irgendjemand so allein sein könnte, wie er selbst
es als Waisenkind gewesen war, wenn er mit seinem Onkel,
einem staatlichen Milchinspekteur, sonntags im Naugatuck
geangelt hatte, war ihm unerträglich –, und so bestand er dar-
auf, dass wir jeden Sonntag morgen eine Wanderung unter-
nahmen oder, wenn das Wetter zu schlecht war, Tischtennis
spielten. Das war zwar ein Zeitvertreib, den ich kaum erträg-
lich fand, doch lieber tat ich ihm diesen Gefallen, als mit ihm
über das Verfassen von Büchern zu sprechen. Er stellte mir die
abgedroschensten Fragen über das Schreiben und gab keine
Ruhe, bis ich sie zu seiner Befriedigung beantwortet hatte.
»Woher kriegen Sie Ihre Ideen?« »Woher wissen Sie, ob eine
Idee gut oder schlecht ist?« »Woher wissen Sie, ob Sie einen
Dialog einsetzen oder eine Situation ohne Dialog beschreiben
sollen?« »Woher wissen Sie, wann ein Buch fertig ist?«
»Wonach wählen Sie den ersten Satz aus? Wonach wählen Sie
den Titel aus? Wonach wählen Sie den letzten Satz aus?«
»Welches Buch ist Ihr bestes?« »Welches Buch ist Ihr
schlechtestes?« »Mögen Sie Ihre Protagonisten?« »Haben Sie
je einen Protagonisten umgebracht?« »Im Fernsehen hab ich
einen Schriftsteller sagen hören, dass die Personen in dem
Buch die Führung übernehmen und es selbst schreiben.
Stimmt das?« Er hatte einen Jungen und ein Mädchen haben
wollen, und erst nach der Geburt der vierten Tochter hatte
Marylynne aufbegehrt und sich geweigert, weiterhin zu ver-
suchen, den männlichen Erben hervorzubringen, den ihr
Mann schon im Alter von zehn Jahren geplant hatte. Er war ein
großer Mann mit einem viereckigen Gesicht und sand-
farbenem Haar, und seine Augen waren verrückt, eisblau und
verrückt, ganz anders als Marylynnes eisblaue Augen, die
wunderschön waren, oder die eisblauen Augen der vier hüb-
schen Töchter, die allesamt in Wellesley gewesen waren, weil
sein bester Freund damals in der Air Force eine Schwester
hatte, die in Wellesley gewesen war und die, als Larry sie ken-
nenlernte, genau die guten Umgangsformen und den Schliff
hatte, die er von seiner eigenen Tochter erwartete. Wenn wir
in ein Restaurant gingen (was wir jeden zweiten Samstagabend
taten – auch hier duldete er keinen Widerspruch), konnte man
sich darauf verlassen, dass er ein schwieriger Gast war.
Jedesmal beschwerte er sich über das Brot. Es war nicht frisch.
Es war nicht die Art von Brot, die er mochte. Es war nicht
genug für alle da.
Eines Abends nach dem Abendessen kam er unangemel-
det vorbei und gab mir zwei orangefarbene Kätzchen, ein
langhaariges und ein kurzhaariges, etwas über acht Wochen
alt. Ich hatte ihn weder darum gebeten, noch hatte er mich
zuvor davon in Kenntnis gesetzt, dass er mir dieses Geschenk
machen wollte. Er sagte, er sei morgens zu einer Routine-
untersuchung beim Augenarzt gewesen und habe am Tisch der
Sprechstundenhilfe ein Schild gesehen, auf dem gestanden
habe, sie wolle junge Katzen verschenken. Am Nachmittag sei
er zu ihr gefahren und habe aus dem Wurf von sechs Kätzchen
die beiden schönsten für mich ausgesucht. Beim Anblick des
Schildes habe er sofort an mich gedacht.
Er setzte die beiden Kätzchen auf den Boden. »Sie führen
nicht das Leben, das Sie führen sollten«, sagte er. »Wer tut das
schon?« »Ich, zum Beispiel. Ich habe alles, was ich immer ha-
ben wollte. Ich werde nicht zulassen, dass Sie weiterhin einem
Leben in solcher Einsamkeit ausgesetzt sind. Sie gehen bis
an die verdammten Grenzen. Sie treiben es ins Extrem, Na-
than.« »Sie ebenfalls.« »Ganz und gar nicht! Ich bin doch
nicht derjenige, der so lebt. Ich sorge nur dafür, dass Sie ein
bisschen Normalität haben. Sie leben zu abgeschieden für
einen Menschen. Da können Sie wenigstens ein paar Katzen
als Gesellschaft haben. Ich hab das ganze Zeug, das Sie brau-
chen, draußen im Wagen.«
Er ging hinaus, kehrte zurück und leerte einige große Su-
permarkttüten auf den Boden: ein halbes Dutzend Spielzeug-
tierchen, denen sie nachjagen konnten, ein Dutzend Dosen
Katzenfutter, ein Katzenklo und eine große Tüte Katzen-
streu, zwei Plastiknäpfe für das Futter und zwei Plastikschüs-
seln für Wasser.
»Mehr brauchen Sie nicht«, sagte er. »Sehen Sie nur, wie
schön sie sind. Sie werden eine Menge Freude an ihnen haben.«
Er war dabei äußerst bestimmt, und mir blieb nichts an-
deres übrig, als zu sagen: »Das ist sehr aufmerksam von
Ihnen, Larry.«
»Wie werden Sie sie nennen?«
»A und B.«
»Nein. Sie brauchen richtige Namen. Sie verbringen schon
den ganzen Tag mit dem Alphabet, Nathan. Sie können die
Kurzhaarige Shorty und die Langhaarige Longy nennen.«
»Dann werde ich das wohl tun.«
In meiner einzigen engen Beziehung zu einem anderen
Menschen erfüllte ich genau die Rolle, die Larry mir zuge-
dacht hatte. Ich fügte mich, wie alle in Larrys Leben, gehor-
sam in das, was er sagte. Man stelle sich vor: vier Töchter, und
nicht eine hatte gesagt: »Aber ich würde lieber nach Barnard
gehen. Ich würde lieber nach Oberlin gehen.« Obgleich ich,
wenn ich mit ihm und seiner Familie zusammen war, nie das
Gefühl hatte, er sei ein schrecklicher Haustyrann, fand ich es
doch seltsam, dass meines Wissens keine von ihnen je Ein-
wände erhoben hatte, wenn ihr Vater bestimmte: Du gehst
nach Wellesley, und damit basta. Doch ihre Bereitschaft, als
Larrys gehorsame Kinder keinen eigenen Willen zu zeigen, war
in meinen Augen nicht ganz so bemerkenswert wie meine
eigene Willenlosigkeit. Für Larry war Macht der uneinge-
schränkte Gehorsam der geliebten Menschen in seinem Le-
ben – für mich war Macht, keine Menschen in meinem Leben
zu haben.
Er hatte mir die Katzen an einem Donnerstag gebracht.
Ich behielt sie bis zum nächsten Sonntag. In dieser Zeit arbei-
tete ich praktisch überhaupt nicht an meinem Buch. Statt des-
sen verbrachte ich die Tage damit, ihnen ihr Spielzeug hinzu-
werfen, sie gleichzeitig oder abwechselnd auf dem Schoß zu
haben und zu streicheln oder einfach dazusitzen und ihnen
zuzusehen, wie sie fraßen, spielten, sich putzten oder schlie-
fen. Ich stellte das Katzenklo in eine Ecke der Küche, und
abends brachte ich die beiden ins Wohnzimmer und schloss
die Schlafzimmertür. Nach dem Aufwachen ging ich als erstes
hinüber, um zu sehen, was sie machten. Und dann saßen sie
neben der Tür und warteten darauf, dass ich sie öffnete.
Am Montag morgen rief ich Larry an und sagte: »Bitte
kommen Sie und holen Sie die Katzen ab.«
»Sie hassen sie.«
»Im Gegenteil. Wenn ich sie behalte, werde ich nie wieder
ein Wort schreiben. Ich kann diese Katzen nicht im Haus
haben.«
»Warum nicht? Was haben Sie denn bloß, verdammt?«
»Sie sind einfach zu süß.«
»Gut. Hervorragend. Das war ja auch der Sinn der Sache.«
»Kommen Sie und holen Sie sie ab, Larry. Wenn Sie wollen,
bringe ich sie selbst der Sprechstundenhilfe von Ihrem
Augenarzt zurück. Aber ich kann sie nicht behalten.«
»Was soll das sein? Trotz? Wollen Sie mich provozieren?
Ich bin ja selbst ein disziplinierter Mensch, aber Sie schlagen
mich um Längen. Ich hab Ihnen doch – Gott bewahre – nicht
zwei Menschen ins Haus gebracht, sondern zwei Katzen.
Kleine Kätzchen.«
»Und ich habe sie freundlich aufgenommen, oder nicht?
s versucht, oder nicht? Aber jetzt holen Sie sie bitte
wieder ab.«
»Das werde ich nicht.«
»Ich habe Sie nicht um zwei Katzen gebeten.«
»Das heißt gar nichts. Sie bitten nie um etwas.«
»Geben Sie mir die Telefonnummer der Sprechstunden-
hilfe.«
»Nein.«
»Na gut, dann werde ich mich selbst darum kümmern.«
»Sie sind verrückt«, sagte er.
»Larry, zwei junge Katzen machen mich nicht zu einem
neuen Menschen.«
»Doch, das ist genau das, was passiert. Das ist genau das, was
Sie nicht zulassen wollen. Ich verstehe das nicht – dass ein
Mann von Ihrer Intelligenz es zulässt, so zu werden. Das be-
greife ich nicht.«
»Es gibt im Leben viele unerklärliche Dinge. Sie sollten sich
über diesen kleinen blinden Fleck in meiner Person keine
Gedanken machen.«
»Na gut. Sie haben gewonnen. Ich komme und hole die
Katzen ab. Aber ich bin noch nicht fertig mit Ihnen, Zucker-
man.«
»Ich habe auch keinen Grund zu der Annahme, dass Sie mit
mir fertig sind oder es je sein könnten. Sie sind ebenfalls ein
bisschen verrückt, müssen Sie wissen.«
»Ganz und gar nicht!«
»Hollis, bitte. Ich bin zu alt, um mich umzukrempeln.
Kommen Sie und holen Sie die Katzen ab.«
Kurz bevor die vierte Tochter in New York heiratete –
einen jungen Anwalt aus einer irisch-amerikanischen Fami-
lie, der, wie Larry, in Fordham studiert hatte –, wurde bei
Larry Krebs diagnostiziert. An dem Tag, an dem die Familie
zur Hochzeit nach New York fuhr, wies Larrys Onkologe ihn
in das Universitätskrankenhaus in Farmington, Connecticut,
ein. Am ersten Abend im Krankenhaus nahm Larry, nachdem
die Schwester Blutdruck und Temperatur gemessen und ihm
eine Schlaftablette und ein Glas Wasser gegeben hatte, etwa
hundert Schlaftabletten, die er in seinem Reisenecessaire ver-
wahrt hatte, löste sie auf und trank das Glas in dem dunklen
Zimmer. Früh am nächsten Morgen erhielt Marylynne einen
Anruf vom Krankenhaus, in dem man ihr mitteilte, ihr Mann
habe sich umgebracht. Sie bestand darauf, dass die Hochzeit
und das Hochzeitsessen wie geplant stattfanden – schließlich
war sie nicht umsonst all die Jahre seine Frau gewesen –, und
kehrte erst danach in die Berkshires zurück, um die Beerdi-
gung in Angriff zu nehmen.
Später erfuhr ich, dass Larry seinen Arzt gebeten hatte, ihn
an diesem Tag anstatt am Montag der folgenden Woche
einzuweisen, was durchaus möglich gewesen wäre. Auf diese
Weise war sichergestellt, dass die Familie an einem Ort ver-
sammelt war, wenn die Nachricht von seinem Tod eintraf;
außerdem hatte Larry, indem er sich im Krankenhaus um-
brachte, wo Fachleute sich um seinen Leichnam kümmern
würden, Marylynne und den Kindern die mit einem Selbst-
mord verbundenen Groteskerien soweit wie möglich erspart.
Bei seinem Tod war er achtundsechzig und hatte, mit Aus-
nahme des in seinem Tagebuch vermerkten Plans, eines Tages
einen Sohn namens Larry Hollis jun. zu haben, erstaunlicher-
weise jedes einzelne Ziel erreicht, das er sich als zehnjähriger
Waisenjunge gesteckt hatte. Es war ihm gelungen, so lange zu
warten, bis seine jüngste Tochter verheiratet war und die er-
sten Schritte in ein neues Leben tat, und dennoch war er im-
stande gewesen, zu vermeiden, was er am meisten fürchtete:
dass seine Kinder würden zusehen müssen, während ein El-
ternteil unter Qualen starb, so wie er hatte zusehen müssen,
als sein Vater und seine Mutter langsam und unter Schmerzen
an Krebs gestorben waren. Sogar mir hatte er eine Nachricht
hinterlassen. Am Montag nach dem Sonntag, an dem wir von
seinem Tod erfuhren, fand ich diesen Brief in der Post: »Na-
than, mein Junge, ich lasse Sie nicht gern so zurück. In dieser
großen weiten Welt darf man nicht allein sein. Man darf nicht
ohne Kontakt mit allem anderen sein. Sie müssen mir verspre-
chen, dass Sie nicht so weiterleben werden wie damals, als wir
uns kennengelernt haben. Ihr treuer Freund Larry.«

Blieb ich also darum im Wartezimmer der urologischen Ab-


teilung sitzen – weil Larry mir beinahe auf den Tag genau ein
Jahr zuvor diesen Brief geschrieben und sich dann umge-
bracht hatte? Ich weiß es nicht, und hätte ich es damals ge-
wusst, so hätte das auch keinen Unterschied gemacht. Ich saß
da, weil ich eben da saß, und blätterte in Zeitschriften, wie
ich sie seit Jahren nicht gesehen hatte: Ich sah Fotos von
berühmten Schauspielern, berühmten Models, berühmten
Modedesignern, berühmten Köchen und Wirtschaftsbossen,
ich erfuhr, wo ich das teuerste, billigste, hipste, engste, weich-
ste, witzigste, geschmackvollste und geschmackloseste von
praktisch allem kaufen konnte, was für den amerikanischen
Markt produziert wurde, und wartete darauf, dass man mich
aufrief.
Am Nachmittag zuvor war ich in die Stadt gekommen. Ich
hatte ein Zimmer im Hilton reserviert, und nachdem ich
meine Reisetasche ausgepackt hatte, war ich die Sixth Avenue
entlangspaziert, um die Stadt in mich aufzunehmen. Doch
wo sollte ich anfangen? Sollte ich die Straßen aufsuchen, wo
ich früher gewohnt hatte? Die Cafés und Restaurants, wo ich
zu Mittag gegessen hatte? Den Stand, wo ich meine Zeitung
gekauft, und die Buchhandlungen, wo ich herumgestöbert
hatte? Sollte ich noch einmal die Wege gehen, die ich bei mei-
nen langen Spaziergängen am Ende des Arbeitstages einge-
schlagen hatte? Oder sollte ich, da ich nicht mehr so viele von
ihnen zu sehen bekam, einige andere Angehörige meiner
Zunft aufsuchen? In den Jahren meiner Abwesenheit hatte
ich Anrufe und Briefe erhalten, aber mein Haus in den Berk-
shires ist klein, und ich hatte niemanden ermuntert, mich zu
besuchen, und so war der persönliche Kontakt im Lauf der Zeit
sehr sporadisch geworden. Lektoren, mit denen ich lange
zusammengearbeitet hatte, waren zu anderen Verlagen ge-
gangen oder im Ruhestand. Viele Kollegen hatten, wie ich, die
Stadt verlassen. Die Frauen in meiner Bekanntschaft arbeiteten
in anderen Berufen, hatten geheiratet oder waren fortgezogen.
Die beiden Menschen, die mir zuerst einfielen, als ich
überlegte, wen ich besuchen könnte, waren tot. Ich wusste,
dass sie gestorben waren, dass es ihre unverwechselbaren Ge-
sichter und ihre vertrauten Stimmen nicht mehr gab – und
doch, als ich vor dem Hotel stand und nachdachte, wie und wo
ich für ein, zwei Stunden noch einmal in das Leben eintauchen
könnte, das ich hinter mir gelassen hatte, wie ich am ein-
fachsten wieder zurückkehren könnte, fühlte ich mich für
einen Augenblick wie Rip Van Winkle, der zwanzig Jahre ge-
schlafen hatte, als er, in dem Glauben, er sei nur eine Nacht
fort gewesen, die Berge verließ und durch sein Heimatdorf
ging. Erst als er sich überrascht über den langen grauen Kinn-
bart strich, ging ihm auf, wieviel Zeit vergangen war, und we-
nig später erfuhr er, dass er nicht mehr Untertan der briti-
schen Krone, sondern Bürger der neu gegründeten Vereinigten
Staaten war. Ich hätte mich nicht fremder fühlen können als
er, wenn ich mit Rips rostigem Gewehr und in seinen alten
Kleidern an der Ecke Sixth Avenue und West 54th Street ge-
standen hätte, umgeben von einer Heerschar Neugieriger, die
mich begafften, diesen zwischen ihnen umherwandelnden
abgezehrten Fremden, dieses Relikt aus vergangenen Zeiten
inmitten des Lärms und der Gebäude, inmitten der Arbeiter
und des Verkehrs.
Ich ging in Richtung U-Bahn, um zum Ground Zero zu
fahren. Fang da an, wo das größte Ereignis stattgefunden hat –
doch weil ich mich, als Beteiligter wie als Zuschauer, aus allem
zurückgezogen hatte, schaffte ich es nicht mal bis zur U-Bahn.
Zu dem Menschen, der ich geworden war, hätte das nicht
gepasst. Statt dessen fand ich mich, nachdem ich den Park
durchquert hatte, in den vertrauten Räumlichkeiten des
Metropolitan Museum wieder, wo ich den Nachmittag her-
umbrachte wie jemand, der nichts aufzuholen hat.

Als ich am Tag darauf das Sprechzimmer des Arztes verließ,


hatte ich einen Termin für eine Kollageninjektion am näch-
sten Morgen. Ein anderer Patient hatte abgesagt, und der
Arzt konnte mich einschieben. Die Krankenschwester sagte
mir, er halte es für ratsam, nach der Behandlung nicht so-
gleich in die Berkshires zurückzukehren, sondern noch eine
Nacht im Hotel zu bleiben – Komplikationen träten zwar nur
selten auf, doch sei es vorsichtshalber empfehlenswert, in der
Nähe des Krankenhauses zu bleiben. Wenn alles glatt verlau-
fen sei, könne ich anschließend nach Hause fahren und mei-
nen gewohnten Tätigkeiten nachgehen. Der Arzt rechnete mit
einer erheblichen Verbesserung und schloss nicht aus, dass ich
nach der Injektion wieder nahezu vollständige Kontrolle über
meine Blase haben würde. Gelegentlich komme es vor, dass
das Kollagen »wandere«, erklärte er mir, und in diesem Fall
müsse er dann eine zweite oder dritte Injektion vornehmen,
um das Material dauerhaft am Blasenmund zu befestigen;
andererseits sei es aber auch gut möglich, dass eine einzige
Behandlung ausreiche.
Gut, sagte ich, und anstatt die Entscheidung erst zu tref-
fen, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, mir das alles zu
Hause durch den Kopf gehen zu lassen, überraschte ich mich
selbst, indem ich den frei gewordenen Termin annahm,
und nicht einmal später, als ich die ermutigende Umgebung
des Sprechzimmers verlassen hatte und im Aufzug hinunter
ins Erdgeschoss fuhr, gelang es mir, das Gefühl der Ver-
jüngung mit etwas Nüchternheit zu dämpfen. Im Aufzug
schloss ich die Augen und sah mich am Ende eines Tages im
College-Schwimmbad, sorglos und ohne Angst vor Pein-
lichkeiten.
Dieses Triumphgefühl war lachhaft und vielleicht weniger
auf die verheißene Veränderung als auf den Preis zurückzu-
führen, den ich für die Selbstdisziplin eines zurückgezogenen
Lebens und den Entschluss zu zahlen hatte, alles aus meinem
Leben zu verbannen, was zwischen mir und meiner Aufgabe
stand – einen Preis, der mir bis dahin gar nicht bewusst gewe-
sen war (und gewollte NichtWahrnehmung war ja ein wesent-
licher Bestandteil der Selbstdisziplin). Auf dem Land gab es
nichts, was mich in Versuchung geführt hätte, zu hoffen. Ich
hatte mich von der Hoffnung verabschiedet. Doch dann war
ich nach New York gefahren, und New York hatte innerhalb
von Stunden getan, was es bei allen Menschen tut: Es hatte
mir Möglichkeiten bewusst gemacht. Die Hoffnung hatte sich
Bahn gebrochen.
Im Stockwerk unter der Abteilung für Urologie hielt der
Aufzug an, und eine gebrechliche altere Frau stieg ein. Der
Stock, auf den sie sich stützte, und ein verblasster roter Re-
genhut, den sie weit über den Kopf gezogen hatte, verliehen
ihr ein exzentrisches, wunderliches Aussehen, doch als ich sie
leise mk dem Arzt sprechen hörte, der mit ihr in den Aufzug
getreten war – einem Mann von Mitte Vierzig, der sie leicht
am Arm stützte –, nahm ich eine schwache ausländische Fär-
bung ihres Englisch wahr und fragte mich, ob ich sie von frü-
her her kannte. Die Stimme war so unverwechselbar wie der
Akzent, besonders da sie nicht zu ihrer gespenstischen Er-
scheinung passte, sondern die eines jungen Menschen war,
ganz unpassend mädchenhaft und unberührt von Not und
Strapazen. Ich dachte: Ich kenne diese Stimme. Ich kenne die-
sen Akzent. Ich kenne diese Frau. Im Erdgeschoss ging ich
hinter den beiden durch die Eingangshalle zum Ausgang und
hörte den Arzt den Namen der Frau sagen. Und darum folgte
ich ihr hinaus auf die Straße und ein paar Blocks weit die
Madison Avenue entlang zu einem Schnellimbiss. Ich kannte
sie tatsächlich.
Es war halb elf, und in dem Lokal waren nur vier oder fünf
Gäste, die frühstückten. Die Frau setzte sich in eine Nische.
Ich nahm an einem freien Tisch Platz. Sie schien nicht be-
merkt zu haben, dass ich ihr gefolgt war, schien mich, der ich
nur wenige Meter von ihr entfernt saß, nicht einmal wahrzu-
nehmen. Sie hieß Amy Bellette. Ich war ihr nur einmal begeg-
net. Ich hatte sie nie vergessen.
Amy Bellette trug keinen Mantel, nur den roten Regenhut,
eine helle Strickjacke und etwas, was ein dünnes Baum-
wollkleid zu sein schien, bis ich merkte, dass es sich um ein
blassblaues Krankenhausnachthemd handelte, dessen Band-
verschlüsse auf dem Rücken durch Knopfe ersetzt waren. Um
die Taille hatte sie einen Gürtel geschnürt, der wie ein Stück
Seil aussah. Ich dachte: Sie ist entweder völlig verarmt oder
verrückt.
Ein Kellner nahm ihre Bestellung auf, und als er gegangen
war, öffnete sie ihre Handtasche und zog ein Buch hervor.
Während sie darin las, setzte sie den Hut ab und legte ihn
neben sich. Die mir zugewandte Seite ihres Kopfes war kahl,
vor nicht allzu langer Zeit rasiert, dort wuchs nur ein zarter
Flaum, und über den Schädel zog sich eine geschwungene
Operationsnarbe, eine frische, sich scharf abzeichnende Narbe
von einem Punkt hinter dem Ohr bis zum Rand der Stirn. Alles
längere Haar, das sie noch besaß, war auf der anderen Seite
des Kopfes, ergrauendes Haar, lose zu einem Zopf geflochten,
über den die Finger ihrer rechten Hand jetzt geistesabwesend
strichen – die Hand spielte mit dem Haar wie es die eines
lesenden Kindes tun mochte. Ihr Alter? Fünfundsiebzig. Als
wir uns 1956 kennengelernt hatten, war sie siebenundzwanzig
gewesen.
Ich bestellte einen Kaffee, nippte daran, ließ ihn eine Weile
stehen, trank ihn aus, stand dann auf, ohne sie anzusehen, und
verließ den Schnellimbiss und die überraschend wieder in
meinem Leben aufgetauchte und mitleiderregend veränderte
Amy Bellette, deren Leben – das bei unserer ersten Begeg-
nung so reich an Aussichten und Verheißungen gewesen war –
offenbar eine Wendung zum unverkennbar Schlechten ge-
nommen hatte.

Der Eingriff am nächsten Morgen dauerte fünfzehn Minuten.


So simpel! Ein Wunder! Ein medizinisches Wunder! Wie-
der sah ich mich im College-Schwimmbad, bekleidet nur mit
einer ganz normalen Badehose, und ich zog keine Urinspur
hinter mir her. Ich sah mich unbekümmert durch den Tag
schreiten, ohne die Watteeinlagen, die ich neun Jahre lang Tag
und Nacht in meinen Plastikunterhosen hatte tragen müssen.
Ein fünfzehn Minuten währender schmerzloser Eingriff, und
das Leben erschien mir wieder frei von Einschränkungen. Ich
war ein Mann, der nicht mehr machtlos war, wenn es um so
elementare Dinge ging wie um die Fähigkeit, in eine Klo-
schüssel zu pinkeln. Die Beherrschung der Blasenfunktion –
welcher gesunde Mensch im Vollbesitz seiner Kräfte denkt je
über die damit verbundene Freiheit nach oder über das Ge-
fühl ängstlicher Verletzlichkeit, das der Verlust dieser Fähig-
keit auch in den Selbstsichersten unter uns erzeugen kann?
Ich, der ich nie über dergleichen nachgedacht hatte, der ich
schon mit zwölf Jahren darauf aus gewesen war, meine Ein-
zigartigkeit zu unterstreichen und alles Ungewöhnliche an
mir willkommen geheißen hatte – ich konnte jetzt sein wie
jeder andere.
Als wäre der ständig drohende Schatten der Demütigung
nicht in Wirklichkeit das, was einen mit allen anderen ver-
bindet.
Lange vor Mittag war ich wieder in meinem Hotel. Ich
hatte genug, um mich den Tag über zu beschäftigen, bevor ich
nach Hause zurückkehrte. Am Nachmittag zuvor war ich –
nachdem ich beschlossen hatte, Amy Bellette in Ruhe zu las-
sen – zum Antiquariat Strand gegangen, dem ehrwürdigen
Geschäft südlich des Union Square, wo ich für nicht ein-
mal hundert Dollar eine Originalausgabe der sechsbändigen
Sammlung von E. I. Lonoffs Kurzgeschichten erstanden hatte.
Diese Bücher hatte ich auch zu Hause in meinem Regal, aber
ich kaufte sie trotzdem und trug sie ins Hotel, denn ich wollte
in der restlichen Zeit, die ich in New York verbringen müsste,
in chronologischer Reihenfolge darin lesen.
Wenn man das Werk eines Schriftstellers zwanzig oder
dreißig Jahre lang nicht mehr gelesen hat und dann ein sol-
ches Experiment unternimmt, weiß man nicht, was dabei
herauskommen wird: Vielleicht stellt man fest, dass der einst
bewunderte Autor völlig veraltet ist oder dass die damalige
Begeisterung von Naivität gespeist war. Gegen Mitternacht war
ich allerdings nicht weniger als in den fünfziger Jahren
überzeugt, dass die schmale Bandbreite von Lonoffs Prosa, die
Begrenztheit seiner Interessen und die eiserne Zurückhal-
tung, die er sich auferlegte, weder die Implikationen einer Er-
zählung in sich zusammenstürzen ließen noch ihre Wirkung
schmälerten, sondern im Gegenteil den geheimnisvollen Wi-
derhall eines Gongs erzeugten, einen Widerhall, der einen mit
Verwunderung erfüllte, wie so viel Ernst und so viel Leichtig-
keit sich auf so engem Raum mit einem so weitgreifenden
Skeptizismus verbinden konnte. Ebendiese Beschränkung der
Mittel war es, die jede der kleinen Erzählungen nicht hemmte
oder lähmte, sondern in ein Wunderwerk verwandelte – als
würden ein Märchen oder ein Kinderlied von innen erleuchtet
durch den Geist von Pascal.
Er war so gut, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er war bes-
ser. Es war, als hätte in unserem literarischen Spektrum eine
Farbe gefehlt, als wäre sie uns vorenthalten worden, als wäre
Lonoff der einzige, der über sie verfügte. Lonoff war diese
Farbe, ein amerikanischer Autor des 20. Jahrhunderts, der
nicht seinesgleichen hatte, und dabei war sein Werk seit Jahr-
zehnten vergriffen. Ich fragte mich, ob er so vollständig in
Vergessenheit geraten wäre, wenn er seinen Roman vollendet
und die Veröffentlichung erlebt hätte. Und ich fragte mich, ob
er gegen Ende seines Lebens überhaupt an einem Roman ge-
arbeitet hatte. Wenn nicht, wie sollte man dann das Schwei-
gen vor seinem Tod verstehen, in jenen fünf Jahren, in denen
er, von seiner Frau Hope getrennt, ein neues Leben an der
Seite von Amy Bellette begonnen hatte? Ich erinnerte mich
noch gut, wie er mir, einem jungen, respektvollen Verehrer,
der entschlossen war, ihm nachzueifern, mit nüchternen,
sarkastischen Worten die Monotonie eines Lebens geschil-
dert hatte, das daraus bestand, tagsüber gewissenhaft Erzäh-
lungen zu schreiben, abends eifrig zu lesen und sich dabei
Notizen zu machen und, beinahe stumm vor geistiger Er-
schöpfung, Tisch und Bett mit einer treuen, schrecklich ein-
samen Frau von fünfunddreißig Jahren zu teilen. (Denn die
Disziplin erlegt man nicht nur der eigenen Person auf, son-
dern auch den Menschen in seiner Umgebung.) Bei einem au-
ßergewöhnlichen Schriftsteller von so beeindruckender
Kraft, der noch nicht einmal sechzig war, der endlich den
Ausbruch aus dem Gefängnis der Bevormundung durch
seine Frau geschafft hatte (oder vielmehr von ihr, die ihn wü-
tend und überstürzt verlassen hatte, hinausgestoßen worden
war) und nun sein Leben mit einer charmanten, intelligenten,
verehrungsvollen Gefährtin teilte, halb so alt wie er, hätte
man meinen können, die Intensität würde wieder erstarken.
Nachdem er sich mit einem Kraftakt aus der Einengung
durch die ländliche Umgebung und seine Ehe befreit hatte –
zwei Dinge, die seine künstlerische Arbeit zu einem so ge-
waltigen Opfer hatten werden lassen –, hätte man meinen
können, es sei nicht nötig, E. I. Lonoff für diesen Ausbruch so
schwer zu bestrafen, ihn zu einem so vollständigen Schwei-
gen zu verurteilen, nur weil er gewagt hatte zu glauben, es sei
ihm vielleicht gestattet, einen Absatz fünfzigmal an einem
Tag umzuschreiben, ohne dabei in einem Käfig leben zu müs-
sen.
Was war in jenen fünf Jahren wirklich geschehen? Wenn
diesem ruhigen, zurückgezogen lebenden Schriftsteller, der
sich – gestützt von der bitteren Ironie, die seine gesamte Welt-
sicht beherrschte – tapfer damit abgefunden hatte, dass ihm
nie etwas widerfahren würde, schließlich doch etwas wider-
fahren war, was war dann geschehen? Amy Bellette würde es
wissen – sie war es ja immerhin gewesen, die ihm widerfahren
war. Und sofern es irgendwo ein fertiges oder unfertiges Ma-
nuskript eines Lonoff-Romans gab, dann würde sie auch dies
wissen. Wenn nicht der gesamte Nachlass an Hope und die
drei Kinder gefallen war, befand sich das Manuskript in ihrem
Besitz. Und selbst für den Fall, dass die Rechte an dem Roman
nicht bei ihr lagen, sondern bei den Familienangehörigen des
Autors, würde Amy, die an seiner Seite gewesen war, als er das
Buch geschrieben hatte, jede Seite eines jeden Entwurfs gele-
sen haben und wissen, wie gut oder schlecht das neue Projekt
verlaufen war. Aber selbst wenn sein Tod die Fertigstellung
des Romans verhindert hatte – warum waren dann abge-
schlossene Passagen nicht in den literarischen Vierteljahres-
zeitschriften erschienen, die regelmäßig seine Erzählungen
gedruckt hatten? War der Roman so schlecht, dass sich nie-
mand um eine Veröffentlichung bemüht hatte? Und wenn ja,
war dieses Scheitern die Folge davon, dass Lonoff alles hinter
sich gelassen hatte, was ihn zuverlässig an sein Talent band,
dass er endlich die Freiheit und die Freude gefunden hatte,
vor denen ihn seine Gefangenschaft hatte bewahren sollen?
Oder hatte er nie die Beschämung darüber verwinden kön-
nen, dass er sein Leiden auf Hopes Kosten beendet hatte?
Aber war es nicht Hope gewesen, die es für ihn beendet hatte,
indem sie ihn verlassen hatte? Wie hatte es bei einem der-
art entschlossenen und erfahrenen Schriftsteller, für den die
Gestaltung seines unverkennbaren, lakonischen umgangs-
sprachlichen Stils eine nie endende Schwerarbeit gewesen
war, die er nur durch überaus gewissenhaft eingesetzte Ge-
duld und Willenskraft zu bewältigen vermochte, zu einer
fünfjährigen Schreibblockade kommen können? Warum
sollte eine so gewöhnliche Veränderung – ein in mittleren Jah-
ren eingeschlagener, gewöhnlich frische Energie verleihender
neuer Lebenskurs, eine neue Partnerin, ein Umzug in eine
neue Umgebung – einen Mann, der über Lonoffs Geduld ver-
fügte, brechen?
Wenn es das war, was ihn gebrochen hatte.
Als ich mich daranmachte, zu Bett zu gehen, wusste ich,
wie wenig diese Fragen geeignet waren, mir zu einem Ver-
ständnis dessen zu verhelfen, was Lonoff in seinen letzten
Jahren zum Schweigen gebracht hatte. Wenn es ihm zwischen
seinem sechsundfünfzigsten und einundsechzigsten Lebens-
jahr nicht gelungen war, einen Roman zu schreiben, so lag
das vermutlich daran, dass (wie er vielleicht schon immer ver-
mutet hatte) die Leidenschaft des Romanschriftstellers für
Verstärkungen und Vergrößerungen eine Form von Übertrei-
bung darstellt, die im Widerspruch zu seinem eigenen beson-
deren Talent für die Verdichtung und Reduktion stand. Die
Leidenschaft des Romanschriftstellers für Verstärkungen und
Vergrößerungen erklärte wahrscheinlich auch, warum ich
den Tag überhaupt mit Gedanken über diese Fragen ver-
bracht hatte.
Was sie nicht erklärte, war, warum ich Amy Bellette in je-
nem Schnellimbiss nicht angesprochen und versucht hatte,
wenn schon nicht alles, so doch wenigstens das herauszufin-
den, was sie mitzuteilen bereit war.

Als ich Lonoff und Hope 1956 kennenlernte, waren ihre drei
Kinder bereits erwachsen und hatten das Haus verlassen, und
obwohl diese Tatsache ebensowenig an der harten Disziplin
seines täglichen Lebens als Schriftsteller änderte wie das Ver-
schwinden der Leidenschaft, zu dem es im Verlauf einer Ehe
kommt, war während der wenigen Stunden, die ich dort ver-
brachte, deutlich zu spüren, wie sehr Hope unter der Isola-
tion in der Abgeschiedenheit dieses Bauernhauses in den
Berkshires litt. Beim Essen an dem Abend, an dem ich dort
eintraf, hatte sie sich noch tapfer bemüht, ruhig und liebens-
würdig zu sein, doch schließlich war sie zusammengebrochen
und, nachdem sie ihr Weinglas an die Wand geworfen hatte, in
Tränen aus dem Zimmer gestürzt. Sie überließ es Lonoff, mir
zu erklären, was eigentlich los war – wobei sich allerdings
herausstellte, dass er keineswegs der Ansicht war, er müsse
mir irgend etwas erklären. Beim Frühstück am nächsten Mor-
gen, bei dem Amy und ich anwesend waren und die hinrei-
ßende junge Frau, wie ich zu Gast in diesem Haus, mit ihrer
bezaubernden Heiterkeit und Selbstbeherrschung, mit der
Klarheit ihres Geistes, ihrer Schauspielerei, ihrem geheimnis-
vollen Wesen und dem Esprit ihrer witzigen Bemerkungen
eine besonders angenehme Gesellschaft war, bröckelte Hopes
stoische Fassade abermals, und als sie diesmal vom Tisch auf-
stand, packte sie eine Reisetasche, zog einen Mantel an und
verließ, trotz der Kälte und der verschneiten Straßen, das
Haus, wobei sie verkündete, sie übergebe hiermit den Posten
der vernachlässigten Frau des großen Schriftstellers an nie-
mand anderen als seine ehemalige Studentin und (nach allem
Anschein) gegenwärtige Geliebte. »Dies ist jetzt offiziell dein
Haus!« erklärte sie der jungen Siegerin und machte sich auf
den Weg nach Boston. »Du bist jetzt diejenige, mit der er nicht
zusammenlebt!«
Ich ging eine Stunde später und sah keinen von ihnen wie-
der. Es war ein purer Zufall, dass ich bei dieser Szene anwe-
send war. Ich wohnte damals in einer nicht weit entfernten
Schriftstellerkolonie und hatte Lonoff ein Päckchen mit mei-
nen ersten veröffentlichten Kurzgeschichten sowie einen eif-
rigen Brief geschickt, in dem ich mich ihm vorstellte. Auf
diese Weise war ich zu einer Einladung zum Abendessen ge-
kommen – über Nacht geblieben war ich nur, weil schlechtes
Wetter mich daran gehindert hatte, nach Hause zurückzu-
kehren. Von den späten vierziger Jahren bis zu seinem Tod an
Leukämie im Jahr 1961 war Lonoff wahrscheinlich Amerikas
angesehenster Kurzgeschichten-Autor – wenn schon nicht
für die breite Öffentlichkeit, so doch für die meisten Angehö-
rigen der intellektuellen und akademischen Elite. Er hatte
sechs Sammlungen veröffentlicht, in denen die Mischung aus
Komödie und Düsterkeit die sattsam bekannten Geschichten
vom harten Los der jüdischen Einwanderer vollkommen
ihrer Sentimentalität beraubt hatte; seine Erzählungen waren
wie ein Panorama aus unzusammenhängenden Träumen,
ohne dass er allerdings die Sachlichkeit von Ort und Zeit
zugunsten von surrealistischem Hokuspokus oder magisch-
realistischen Knalleffekten geopfert hätte. Seine jährliche
Produktion von Geschichten war nie groß gewesen, und in
den letzten fünf Jahren, als er angeblich an seinem ersten Ro-
man arbeitete, der ihm, wie seine Bewunderer behaupteten,
internationale Anerkennung und den Nobelpreis einbringen
würde, den er schon längst hätte bekommen sollen, publi-
zierte er gar nichts. In dieser Zeit lebte er mit Amy in Cam-
bridge und hatte eine lose Verbindung zur Harvard Univer-
sity. Er heiratete Amy nicht; anscheinend war er in diesen fünf
Jahren juristisch nicht imstande gewesen, irgend jemanden zu
heiraten. Und dann war er tot.

Am Abend vor meiner Heimfahrt ging ich zum Essen in ein


kleines italienisches Restaurant unweit des Hotels. Es hatte
noch immer denselben Besitzer wie damals, in den frühen
neunziger Jahren, als ich zuletzt dort gewesen war, und zu
meiner Überraschung wurde ich von Tony, dem jüngsten Sohn
der Familie, mit Namen begrüßt und zu dem Tisch in der Ecke
geführt, an dem ich immer am liebsten gesessen hatte, weil er
der ruhigste war.
Man verlässt einen Ort, während andere – wenig verwun-
derlich – dort bleiben und weiterhin tun, was sie immer getan
haben. Und wenn man zurückkehrt, ist man überrascht und
für einen Augenblick ganz aufgeregt, wenn man sieht, dass sie
noch immer da sind, und auch beruhigt, weil es jemanden gibt,
der sein ganzes Leben an einem Ort verbringt und nicht den
Wunsch hat, von dort fortzugehen.
»Sie sind weggezogen, Mr. Zuckerman«, sagte Tony. »Wir
kriegen Sie gar nicht mehr zu sehen.«
»Ich bin in den Norden gezogen. Ich lebe jetzt in den Ber-
gen.«
»Muss schön sein dort. Schön und ruhig, so dass Sie gut
schreiben können.«
s der Familie?«
s gut. Aber Celia ist gestorben. Erinnern Sie sich
an meine Tante? Die immer an der Kasse gesessen hat?«
»Natürlich erinnere ich mich. Das tut mir leid. Sie war doch
noch gar nicht alt.«
»Nein. Aber letztes Jahr ist sie krank geworden und ziemlich
schnell gestorben. Aber Sie sehen gut aus«, sagte er. »Wollen
s?«
Tonys Haar war so stahlgrau geworden wie das seines
Großvaters Pierluigi, das bewies ein Blick auf das Ölporträt
des aus Italien eingewanderten Gründers des Restaurants, in
Kochschürze dargestellt und blendend aussehend wie ein
Schauspieler, das noch immer neben der Tür zur Garderobe
hing, und obwohl Tony rundlich und weich geworden war,
seit ich ihn zuletzt gesehen hatte – damals war er Anfang
Dreißig gewesen, das einzige schlanke, knochige Familien-
mitglied in einem wohlgenährten Restaurant-Clan, und in-
zwischen hatte er etwa hunderttausend Pastaportionen ver-
speist –, hatten sich die Speisekarte, die Spezialitäten und das
Brot in den Brotkörben nicht verändert, und als der Ober-
kellner den Dessertwagen an meinem Tisch vorbeischob, sah
ich, dass die Desserts und der Oberkellner sich ebenfalls nicht
verändert hatten. Man hatte meinen sollen, dass auch meine
Beziehung zu all dem sich kein bisschen verändert hätte und
dass ich mich, sobald ich ein Glas Wein in der Hand hatte und
auf einem Stück Brot von der Art kaute, wie ich es hier schon
Dutzende Male gegessen hatte, ganz zu Hause fühlte, doch
dem war nicht so. Ich fühlte mich wie ein Hochstapler – als
gäbe ich nur vor, der Mann zu sein, den Tony einst gekannt
hatte, und als sehnte ich mich mit einemmal danach, es tat-
sächlich zu sein. Aber diesen Mann hatte ich hinter mir gelas-
sen, indem ich elf Jahre lang größtenteils ein Einsiedlerleben
geführt hatte. Ich war vor einer echten Bedrohung geflohen
und war fortgeblieben, nicht nur, um Ruhe zu haben vor
dem, was mich nicht mehr interessierte, sondern auch – und
wer träumt nicht davon? –, um die fortbestehenden Konse-
quenzen der Fehler eines Lebens loszuwerden (in meinem Fall
waren das mehrere gescheiterte Ehen, heimliche Affären und
der emotionale Bumerang erotischer Bindungen). Vermutlich
dadurch, dass ich gehandelt hatte, anstatt nur davon zu träu-
men, hatte ich mich selbst verloren.
s gegangen war, hatte ich
etwas zum Lesen mitgebracht. Da ich allein lebte, hatte ich
mir angewöhnt, beim Essen zu lesen, doch an diesem Abend
legte ich die Zeitung beiseite und betrachtete die anderen Gä-
ste, die an diesem 28. Oktober 2004 in New York zu Abend
aßen. Eine der bemerkenswerten Befriedigungen des Lebens
in der Stadt: Fremde huldigen der Schimäre menschlichen
Einklangs, indem sie zusammen mit anderen in einem guten
kleinen Restaurant zu Abend essen. Und ich war einer von
ihnen. Es war ein wenig spät, eine so gewöhnliche Erfahrung
bedeutsam zu finden, doch für mich war sie es.
Erst als der Kaffee vor mir stand, schlug ich die Zeitung
auf, die aktuelle Ausgabe der New York Review of Books. Ich
hatte keine mehr in der Hand gehabt, seit ich New York ver-
lassen hatte. Ich hatte sie nicht lesen wollen, obwohl ich seit
ihrer Gründung in den frühen sechziger Jahren ein Abonne-
ment gehabt und anfangs gelegentlich Beitrage für sie ge-
s war ich an einem
Zeitungsstand vorbeigekommen und hatte die obere Hälfte
der Titelseite gesehen, wo über einigen Karikaturen von Da-
vid Levine ein Banner prangte, auf dem mit gelben Buch-
staben stand »Spezialausgabe zur Präsidentschaftswahl« und
darunter, über einer Liste von etwa einem Dutzend Journali-
sten und Kommentatoren, die Worte »Die Wahl und Amerikas
Zukunft«, und ich hatte dem Zeitungsverkäufer vier Dollar
fünfzig gegeben und die Zeitung ins Restaurant mitge-
nommen. Doch nun tat es mir leid, dass ich sie gekauft hatte,
und selbst als meine Neugier zu groß wurde, sah ich nicht im
Inhaltsverzeichnis nach und schlug die Seite mit den Meinun-
gen und Kommentaren zur bevorstehenden Wahl auf, son-
dern begann meine Wiederannäherung, indem ich mich,
gleichsam auf Zehenspitzen, von hinten hineinschlich und
die Kleinanzeigen las. »SCHÖNE Fotografin/Kunsterziehe-
rin, liebevolle Mutter ...« »K O M P L E X E , G E D A N KE N V O L L E ,
BEGEHRENDE und begehrenswerte Frau, verheiratet ...«
»ENERGISCHER, L E B E N S L U S T IG E R , D U R C H T R A I N IE R T E R ,
fest im Leben stehender Mann mit vielen Interessen ...«
»GRÜNÄUGIGE, witzige, verrückte, kurvenreiche ...« Ich
blätterte weiter zur Rubrik Immobilien und stolperte in der
Spalte »Vermietungen« – über der viel längeren Spalte »Ver-
mietungen, international«, wo die angebotenen Wohnungen
meist in Paris oder London lagen – über eine Anzeige, die so
explizit für mich bestimmt zu sein schien, dass ich mich vom
Zufall, einem puren und doch scheinbar ganz und gar von
Absicht erfüllten Zufall, wie mit einer Peitsche angetrieben
fühlte, weiterzulesen.

ZUVERLÄSSIGES Schriftstellerehepaar, Anfang Drei-


ßig, möchte gemütliche 3-Zimmer-Wohnung mit gro-
ßer Bibliothek in der Upper West Side gegen ruhiges
Haus in ländlicher Umgebung 150 km von New York
tauschen. Neuengland bevorzugt. Termin sofort, vor-
zugsweise für ein Jahr ...

Ohne zu warten – so spontan, wie ich meine Einwilligung zu


der Kollagen-Behandlung gegeben hatte, über die ich doch
eigentlich erst zu Hause hatte nachdenken wollen, bevor ich
mich ihr unterzog, so spontan, wie ich die New York Review
gekauft hatte –, ging ich die Treppe neben der Küche hinunter,
wo, wie ich mich erinnerte, gegenüber der Tür zur Her-
rentoilette ein Telefon hing. Die in der Anzeige angegebene
Telefonnummer hatte ich auf einem Zettel notiert, auf den ich
den Namen »Amy Bellette« geschrieben hatte. Ich sagte dem
Mann, der sich meldete, ich riefe wegen der Anzeige an, in der
es um einen Wohnungstausch für ein Jahr gehe. Mir gehöre
ein kleines Haus auf dem Land im Westen von Massachusetts,
es liege an einem Feldweg auf einem Hügel neben einer gro-
ßen, sumpfigen Marsch, die ein Vogel- und Naturschutzge-
biet sei, rund zweihundert Kilometer von New York entfernt.
Bis zum nächsten Haus seien es achthundert Meter, und un-
ten im Tal, zwölf Kilometer entfernt, gebe es eine Kleinstadt
mit einem College, einem Supermarkt, einer Buchhandlung,
einer Weinhandlung, einer ausgezeichneten College-Biblio-
thek und einer gutbesuchten Bar, wo man auch anständig
essen könne. Wenn das ungefähr dem entspreche, was er sich
vorgestellt habe, würde ich gern vorbeikommen, mir die
Wohnung ansehen und den Tausch besprechen. Ich sei im Au-
genblick in der Upper West Side, nur wenige Blocks entfernt;
wenn er nichts dagegen habe, könne ich in wenigen Minuten
dasein.
Der Mann lachte. »Sie hören sich an, als wollten Sie noch
heute nacht einziehen.«
»Wenn Sie heute nacht ausziehen wollen«, sagte ich und
meinte es ernst.
Bevor ich zu meinem Tisch zurückkehrte, ging ich auf die
Herrentoilette, trat in eine Kabine und ließ die Hose herun-
ter, um zu sehen, ob die Behandlung gewirkt hatte. Um aus-
zulöschen, was ich sah, schloss ich die Augen, um auszulö-
schen, was ich empfand, fluchte ich laut. »Scheißtraum!« rief
ich und meinte damit den Traum, plötzlich wie alle anderen zu
sein.
Ich machte mich daran, die Watteeinlage aus der Plastik-
unterhose zu entfernen und durch eine neue aus dem kleinen
Päckchen, das ich in der Innentasche meines Jacketts hatte, zu
ersetzen. Ich wickelte die benutzte Einlage in Toilettenpapier,
warf sie in den mit einem Deckel versehenen Papierkorb neben
dem Waschbecken, wusch mir die Hände und stieg, gegen die
Düsternis meiner Stimmung ankämpfend, wieder die Treppe
hinauf.
Ich ging zur West 71st Street und war am Columbus Circle
überrascht zu sehen, dass sich das massige, festungsartige Co-
liseum in zwei Wolkenkratzer aus Glas verwandelt hatte, die
an der Hüfte miteinander verbunden waren und in deren Erd-
geschossen sich schicke Geschäfte niedergelassen hatten. Ich
schlenderte durch die Passage, und als ich meinen Weg den
Broadway entlang in nördlicher Richtung fortsetzte, fühlte
ich mich nicht so sehr wie in einem fremden Land als viel-
mehr wie das Opfer einer optischen Täuschung, als würde ich
alles in einem Zerrspiegel sehen, wie man sie von Jahrmärkten
kennt und in denen einem die Dinge vertraut erscheinen und
doch nicht zu erkennen sind. Ich hatte mich, wie gesagt, nicht
ohne Schwierigkeiten an das Leben eines Einsiedlers gewöhnt;
ich kannte seine Prüfungen und Belohnungen, hatte die
Palette meiner Bedürfnisse an seine Beschränkungen an-
gepasst, hatte Aufregungen, Intimitäten, Abenteuer und Wi-
dersprüche längst zugunsten von Lesen, Arbeit und einem
ruhigen, beständigen, berechenbaren Kontakt mit der Natur
aufgegeben. Warum das Unerwartete einladen, warum sich um
mehr Schocks und Überraschungen bemühen als die, wel-
che das Alter mir auch ohne mein Zutun präsentieren würde?
Dennoch setzte ich meinen Weg fort – vorbei an den Men-
schenmengen vor dem Lincoln Center, denen ich mich nicht
anschließen wollte, an den Kino komplexen, deren Filme ich
nicht sehen wollte, an den Geschäften für Lederwaren und
Feinkost, deren Produkte ich nicht kaufen wollte –, nicht wil-
lens, gegen die überwältigende, verrückte Hoffnung auf Ver-
jüngung anzukämpfen, die verrückte Hoffnung, dass die Be-
handlung das stärkste Symptom meines Verfalls beseitigen
würde, und in dem Bewusstsein, dass ich einen Fehler beging,
indem ich, ein Mann, der dem dauerhaften Kontakt mit ande-
ren Menschen und seinen Möglichkeiten entsagt hatte, zu-
rückkehrte und mich der Illusion hingab, ich könne noch
einmal neu beginnen. Und zwar nicht aufgrund meiner indi-
viduellen mentalen Fähigkeiten, sondern durch eine Modifi-
kation meines Körpers, die das Leben wieder grenzenlos ma-
chen würde. Natürlich ist das falsch, ist das verrückt, dachte
ich, aber wenn es so ist, was ist dann das richtige, das Ge-
sunde, und wer bin ich, zu behaupten, ich hätte je genug ge-
wusst, um das Richtige zu tun? Ich habe getan, was ich getan
habe – das ist alles, was man weiß, wenn man zurückblickt. Ich
selbst habe mir diese Prüfung geschaffen, aus meiner eigenen
Inspiration heraus, meiner eigenen Unfähigkeit – die In-
spiration war die Unfähigkeit –, und höchstwahrscheinlich tue
ich nun wieder dasselbe. Und das auch noch in dieser
wahnwitzigen Eile, als fürchtete ich, meine Verrücktheit
könnte jeden Augenblick verschwinden, so dass ich nicht mehr
imstande wäre, das zu tun, was ich tue und was ich, wie ich
nur zu gut weiß, nicht tun sollte.

Der Aufzug in dem fünfstöckigen kleinen Mehrparteienhaus


aus weißen Ziegeln trug mich in die oberste Etage, wo ich am
Eingang zu Wohnung 6B mit sympathischer Verbindlichkeit
von einem pausbäckigen jungen Mann empfangen wurde,
der sogleich sagte: »Sie sind der Schriftsteller.« »Stimmt.
Und Sie?« »Ein Schriftsteller«, sagte er lächelnd. Er bat mich
herein und stellte mich seiner Frau vor. »Noch jemand, der
schreibt«, sagte er. Sie war eine große, schlanke junge Frau,
die, im Gegensatz zu ihrem Mann, nichts Kindliches, Ver-
spieltes an sich hatte, jedenfalls nicht an diesem Abend. Ihr
langes, schmales Gesicht war von feinen, gerade fallenden
schwarzen Haaren eingerahmt, die bis über die Schultern
reichten – der Schnitt sollte anscheinend einen Fehler ver-
decken, der allerdings kaum äußerlicher Natur sein konnte,
denn, ganz gleich, was sie verbergen wollte, ihr Äußeres war
erlesen sanft und makellos. Sie wurde von ihrem Mann gren-
zenlos geliebt und war der Quell seiner Lebenskraft, das war
aus der unverstellten Zärtlichkeit ersichtlich, mit der seine
Bücke und Gesten sie einhüllten, selbst wenn sie etwas sagte,
was ihm nicht unbedingt gefiel. Es war deutlich, dass beide sie
als die Brillantere betrachteten und dass seine Persönlichkeit
in ihre eingebettet war. Sie hieß Jamie Logan, sein Name war
Billy Davidoff, und als sie mir die Wohnung zeigten, schien er
Gefallen daran zu finden, mich respektvoll Mr. Zuckerman zu
nennen.
Es war eine hübsche Wohnung mit drei großen Zimmern,
möbliert mit modernen, teuren europäischen Möbeln, Ke-
lims und einem wunderschönen Perserteppich im Wohnzim-
mer. Im Schlafzimmer gab es einen großen Arbeitsplatz mit
Bück auf eine hohe Platane im Hof und im Wohnzimmer
einen zweiten, von dem aus man auf eine Kirche blickte.
Überall waren Bücherstapel, und wo keine mit Büchern ge-
füllten Regale standen, hingen gerahmte Fotos von Statuen,
die Billy in italienischen Städten aufgenommen hatte. Woher
kam das Geld, mit dem die beiden Dreißigjährigen diese be-
scheidene Opulenz finanzierten? Ich nahm an, dass es von ihm
stammte und dass sie sich in Amherst oder Williams oder
Brown kennengelernt hatten: ein fügsamer, reicher, weich-
herziger jüdischer Junge und ein starkes, leidenschaftliches
armes Mädchen, irisch, vielleicht halb italienisch, das von der
Grundschule an immer alle Erwartungen übertroffen hatte, mit
enormem Ehrgeiz, vielleicht sogar so etwas wie eine Auf-
steigerin ...
Doch ich irrte mich. Es war ihr Geld, und es stammte aus
Texas. Ihr Vater war in Houston in der Ölindustrie, und seine
Herkunft war so amerikanisch, wie eine amerikanische Her-
kunft nur sein kann. Billys jüdischer Familie gehörte ein Ge-
schäft für Koffer und Schirme in Philadelphia. Die beiden
hatten sich in einem Schreibseminar für Graduierte an der
Columbia University kennengelernt. Beide hatten noch kein
Buch veröffentlicht, doch vor fünf Jahren war eine ihrer
Kurzgeschichten im New Yorker erschienen, worauf Verleger
und Agenten sich erkundigt hatten, ob sie vielleicht einen Ro-
man habe. Ich hätte nicht gedacht, dass sie diejenige mit der
höherentwickelten künstlerischen Veranlagung war.
Nachdem ich die Wohnung gesehen hatte, setzten wir uns in
das ruhige Wohnzimmer, dessen Fenster doppelt verglast
waren. Die kleine lutherische Kirche gegenüber, ein hübsches
Gebäude mit schmalen Fenstern, Spitzbögen und einer Fas-
sade aus rauhem Naturstein, war zwar vermutlich Anfang des
20. Jahrhunderts erbaut worden, sollte die Gemeindemitglie-
der der Upper West Side anscheinend jedoch in ein nordeuro-
päisches Dorf im 14. oder 15. Jahrhundert zurückversetzen.
Gleich vor dem Fenster verloren die fächerförmigen Blätter
eines gesunden Ginkgobaums ihre sommerlich grüne Farbe.
Als ich eingetreten war, war im Hintergrund leise eine Auf-
Vier letzten Liedern erklungen, und als Billy
nun den CD-Spieler ausschaltete, fragte ich mich, ob Jamie
und er die Lieder zufällig gehört hatten oder ob einer von
ihnen mein Kommen zum Anlass genommen hatte, diese
dramatisch elegische, atemberaubend emotionale Musik auf-
zulegen, geschrieben von einem alten Mann am Ende seines
Lebens.
»Sein Lieblings Instrument ist die weibliche Stimme«, sagte
ich.
»Oder zwei«, sagte Billy. »Am liebsten ließ er zwei Frauen
zusammen singen. Am Ende vom Rosenkavalier. Am Ende
von Arabella. In der Ägyptischen Helena.«
»Sie kennen sich aus mit Strauss.«
»Na ja, auch mein Lieblingsinstrument ist die weibliche
Stimme.«
Damit wollte er seiner Frau schmeicheln, doch ich tat, als
hätte ich es nicht gemerkt. »Komponieren Sie auch?« fragte
ich ihn.
»Nein, nein«, sagte Billy. »Ich hab mit dem Schreiben genug
zu tun.«
»Tja, in meinem Haus im Wald«, sagte ich, »ist es auch nicht
friedlicher als hier.«
»Wir wollen nur für ein Jahr tauschen«, sagte Billy.
»Darf ich fragen, warum?«
»Es war Jamies Idee«, antwortete er und klang nicht so
fügsam, wie ich ihn eingeschätzt hatte.
Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, Jamie zu verhö-
ren, und so sah ich sie nur an. Sie hatte eine starke sinnliche
Ausstrahlung – vielleicht war sie darauf bedacht, schlank zu
bleiben, damit diese Ausstrahlung nicht noch stärker wurde.
Oder vielleicht, um sie im Gegenteil zu unterstreichen, denn
ihre Brüste waren nicht die einer unterernährten Frau. Sie
trug Jeans, ein tief ausgeschnittenes, spitzenbesetztes Ober-
teil aus Seide, das aussah wie ein Unterhemd – und, wie ich
bei genauerem Hinsehen feststellte, tatsächlich ein Unter-
hemd war –, und darüber eine lange Jacke mit einem breiten
gerippten Saum sowie einem ebenfalls gerippten Gürtel, den
sie lose um die schmale Taille geschlungen hatte. Es war ein
Kleidungsstück, das, verglichen mit dem von Amy Bellette
zum Kleid umgewandelten Krankenhausnachthemd, am an-
deren Ende der Skala weiblicher Garderobe stand, in einem
blassen, sanften Hellbraun, aus dicker, weicher Kaschmirwolle
gewebt. Die Jacke mochte gut und gern tausend Dollar
gekostet haben, und Jamie sah darin lässig aus, lässig und ver-
führerisch, als trüge sie einen Kimono. Sie sprach jedoch leise
und rasch, wie hochkomplizierte Menschen es oft tun, beson-
ders wenn sie unter Druck stehen.
»Warum wollen Sie nach New York?« war ihre Antwort auf
meinen Blick.
»Ich habe hier eine kranke Freundin«, sagte ich.
Ich hatte noch immer keine klare Vorstellung davon, was ich
in ihrer Wohnung tat, was ich mir wünschte. Wollte ich meine
Lebensumstände verändern? Wie eigentlich? Wollte ich, wenn
ich arbeitete, vor meinem Fenster eine viktoriani-sche Kopie
einer mittelalterlichen Kirche sehen anstatt meine riesigen
Ahornbäume und unregelmäßigen Steinmauern? Wollte ich
Autos sehen, wenn ich hinunter auf die Straße blickte, anstatt
Hirsche und Kühe und wilde Truthähne, die meinen Wald
bevölkerten?
»Sie hat einen Gehirntumor«, erklärte ich, lediglich aus
dem Bedürfnis heraus, etwas zu sagen. Etwas zu ihr zu sa-
gen.
»Tja, wir wollen weg«, sagte Jamie, »weil ich keine Lust habe,
im Namen Allahs umgebracht zu werden.«
»Ist das nicht ziemlich unwahrscheinlich?« fragte ich. »In
der West 71st?«
»Diese Stadt steht in ihren kranken Hirnen ganz oben auf
der Liste. Bin Laden träumt nur vom Bösen, und dieses Böse
nennt er ›New York‹.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte ich. »Ich lese keine Zeitun-
gen. Schon seit Jahren nicht mehr. Die New York Review habe
ich mir nur wegen der Kleinanzeigen gekauft. Ich habe keine
Ahnung, was in der Welt geschieht.«
»Aber Sie wissen von der Wahl«, sagte Billy.
»Praktisch nichts«, antwortete ich. »In der Provinzstadt, in
der ich lebe, reden die Leute nicht offen über Politik, schon gar
nicht, wenn ein Außenstehender wie ich dabei ist. Und den
Fernseher schalte ich nicht oft ein. Nein, ich habe keine
Ahnung.«
»Sie haben den Krieg nicht verfolgt?«
»Nein.«
»Sie wissen nichts von Bushs Lügen?«
»Nein.«
»Wenn ich an Ihre Bücher denke«, sagte Billy, »fallt es mir
schwer, das zu glauben.«
»Ich habe meine Dienstzeit als aufgebrachter Liberaler
und empörter Bürger abgeleistet«, sagte ich, scheinbar an ihn
gewandt, während ich in Wirklichkeit abermals zu ihr sprach,
und zwar aus einem Motiv heraus, das ich, als ich begann,
nicht einmal selbst kannte, aus einer Sehnsucht, von deren
Stärke ich gehofft hatte, sie sei dahingeschwunden. Die Kraft,
die mich im Alter von einundsiebzig Jahren aufs neue antrieb,
die Kraft, die mich überhaupt zum Urologen nach New York
hatte fahren lassen, gewann in Gegenwart von Jamie Logan
und ihrer Tausend-Dollar-Jacke über einem tief ausgeschnit-
tenen Mieder rasch an Stärke. »Ich will keine Meinung zum
Ausdruck bringen, ich will mich nicht zu ›den anstehenden
Fragen‹ äußern – ich will nicht mal wissen, wie sie lauten. Ich
habe kein Interesse daran, etwas zu wissen, und das, woran ich
kein Interesse habe, tilge ich aus meinem Leben. Darum lebe
ich dort, wo ich lebe. Darum wollen Sie dort leben, wo ich
lebe.«
»Jamie will das«, sagte Billy.
»Stimmt. Ich habe die ganze Zeit Angst«, sagte sie. »Viel-
leicht hilft eine neue Perspektive.« Sie hielt inne, nicht weil sie
es für besser hielt, ihre Ängste gegenüber jemandem zu
verbergen, der daran interessiert war, sein Haus in sicherer
ländlicher Abgeschiedenheit gegen eine potentiell gefährdete
New Yorker Wohnung zu tauschen, sondern weil Billy sie an-
sah, als versuchte sie bewusst, ihn in meiner Gegenwart zu
provozieren. Wenn seine Beziehung zu ihr von Verehrung ge-
prägt war, so doch nicht ausschließlich von Verehrung. Es war
immerhin eine Ehe, und er konnte auch von seiner wunderba-
ren Ehefrau auf die Probe gestellt werden.
»Verlassen denn auch andere die Stadt«, fragte ich Jamie,
»weil sie Angst vor einem terroristischen Angriff haben?«
»Andere sprechen jedenfalls davon«, gab Billy zu.
»Einige sind auch weggezogen«, warf Jamie ein.
»Leute, die Sie kennen?« fragte ich.
»Nein«, sagte Billy mit Nachdruck. »Wir sind die ersten.«
Mit einem nicht übermäßig großzügigen Lächeln, mit
einer Miene, die ich, fasziniert von ihr (so rasch bezwungen,
wie es Billy in meiner Vorstellung gewesen war, wenn auch
aus Gründen, die damit zu tun hatten, dass ich mich, im Ge-
gensatz zu ihm, am anderen Ende der Erfahrung befand, an
jenem Ende, hinter dem die Auslöschung wartet), als die einer
Verführerin – einer spöttisch distanzierten Verführerin – deu-
tete, sagte Jamie: »Ich bin gern die erste.«
»Tja, wenn Sie mein Haus haben wollen«, sagte ich, »können
Sie es haben. Warten Sie, ich zeichne Ihnen den Grundriss
auf.«

Als ich wieder im Hotel war, telefonierte ich mit Rob Massey,
einem Tischler, der seit zehn Jahren mein Hausmeister ist, und
mit seiner Frau Belinda, die in dieser Zeit einmal wöchentlich
zum Putzen kommt und die Einkäufe erledigt, wenn ich keine
Lust habe, die zwölf Kilometer nach Athena zu fahren. Ich
diktierte ihnen eine Liste von Dingen, die sie einpacken und
nach New York bringen sollten, und erzählte ihnen von dem
jungen Ehepaar, das in der nächsten Woche in mein Haus
ziehen und für ein Jahr dort wohnen würde.
»Ich hoffe, das hat nichts mit Ihrer Gesundheit zu tun«,
sagte Rob. Als vor neun Jahren die Prostataoperation vor-
genommen worden war, hatte Rob mich nach Boston und an-
schließend vom Krankenhaus nach Hause gefahren, und Be-
linda hatte für mich gekocht und mir in den unangenehmen
Wochen der Genesung mit der Behutsamkeit und dem Ein-
fühlungsvermögen, die ein Kranker braucht, geholfen. Seit-
her war ich nicht mehr im Krankenhaus gewesen und hatte
nichts Schlimmeres als eine Erkältung gehabt, doch sie waren
ein freundliches, kinderloses Ehepaar in mittleren Jahren –
ein drahtiger, scharfsinniger, sympathischer Mann und seine
vollbusige, gesellige, unerhört tüchtige Frau –, und seit der
Operation hatten sie meine kleinsten Bedürfnisse behandelt,
als wären diese von größter Bedeutung. Hätte ich eigene Kin-
der gehabt, die verfolgten, wie ich alt wurde, so hätte ich nicht
besser versorgt sein können – und möglicherweise wesent-
lich schlechter. Beide hatten noch nie ein Wort von dem ge-
lesen, was ich geschrieben hatte, doch wann immer sie mei-
nen Namen oder mein Foto in einer Zeitung oder Zeitschrift
entdeckten, schnitt Belinda den Artikel aus und brachte ihn
mir. Dann bedankte ich mich, gestand, dass ich ihn noch nicht
kannte, und um jede unabsichtliche Kränkung dieser war-
men, großherzigen Frau zu vermeiden, die überzeugt war,
dass ich diese Ausschnitte in etwas aufbewahrte, was sie
als mein »Album« bezeichnete, zerriss ich ihn später unge-
lesen in winzig kleine, umdentifizierbare Fetzen, die ich in
die Mülltonne warf. Auch das hatte ich aus meinem Leben
getilgt.
An meinem siebzigsten Geburtstag hatte Belinda zum
Abendessen in meinem Haus Hirschsteaks und Rotkohl für
uns drei zubereitet. Das Fleisch – Rob hatte den Hirsch im
Wald hinter meinem Grundstück erlegt – schmeckte wun-
derbar, und ebenso wunderbar waren die freundliche Groß-
herzigkeit und warme Zuneigung dieser beiden Freunde. Sie
prosteten mir mit Champagner zu und schenkten mir einen
dunkelbraunen Pullover aus Lammwolle, den sie in Athena
gekauft hatten; dann baten sie mich, eine kleine Rede darüber
zu halten, wie es war, siebzig zu sein. Nachdem ich ihren
Pullover angezogen hatte, erhob ich mich von meinem Platz
am Kopf der Tafel und sagte: »Es wird eine kurze Rede sein.
Stellen Sie sich das Jahr 4000 vor.« Sie lächelten, als wäre ich
im Begriff, einen Witz zu erzählen, und so fügte ich hinzu:
»Nein, nein. Stellen Sie es sich vor. Ganz im Ernst. In allen
Dimensionen und allen Aspekten. Nehmen Sie sich ein biss-
chen Zeit.« Nach einigen Augenblicken ernsten Schweigens
sagte ich leise: »So ist es, wenn man siebzig ist«, und setzte
mich wieder.
Rob Massey war der ideale Hausmeister, von dem jeder
träumt, Belinda die ideale Putzfrau, die jeder will. Ich hatte
zwar nicht mehr Larry Hollis, der über mich wachte, wohl aber
diese beiden, und die Zeit, die ich dem Schreiben widmen
konnte, ja sogar das Schreiben selbst, verdankte ich zum Teil
der Tatsache, dass sie sich so gut um alles kümmerten. Und
nun wollte ich mich von ihnen trennen.
»Nein, mit meiner Gesundheit ist alles in Ordnung. Aber ich
habe hier einiges zu tun, und darum haben wir die Woh-
nungen getauscht. Ich bleibe in Kontakt mit Ihnen, und wenn
Sie mich über irgend etwas benachrichtigen wollen, rufen Sie
mich per R-Gespräch an.«
Rob antwortete gutmütig: »R-Gespräche führt seit zwanzig
Jahren kein Mensch mehr.«
»Tatsächlich? Na ja, Sie wissen schon, was ich meine. Ich
werde den Leuten sagen, dass Belinda einmal wöchentlich
zum Putzen kommt und dass sie sich an Sie wenden sollen,
wenn irgend etwas im Haus zu tun ist. Ich werde Sie weiter-
hin bezahlen, außer für Dinge, die Jamie Logan oder Billy
Davidoff für sich selbst erledigt haben wollen – das können sie
dann mit Ihnen aushandeln.« Ich verspürte einen überra-
schenden Stich, als ich Jamies Namen aussprach und daran
dachte, dass ich nicht nur Rob und Belinda, sondern auch sie
verlor – und diesen Verlust auch noch selbst einfädelte. Es
war, als würde ich das verlieren, was mir auf der Welt am lieb-
sten war.
Ich sagte ihnen, sobald ich in die Wohnung in der West
71st Street gezogen sei, sollten sie mir gemeinsam die Sachen,
die ich noch benötigte, bringen, und anschließend solle einer
von ihnen meinen Wagen zurückfahren und in ihrer Garage
unterstellen – und übrigens solle er in meiner Abwesenheit
bhin und wieder bewegt werden. Ich hatte zwei Monate zu-
vor ein Buch beendet und noch kein neues begonnen, daher
waren keine Manuskripte oder Notizbücher zu transportie-
ren. Hätte ich bereits an einem neuen Buch gearbeitet, so
hätte ich diesen Ortswechsel vermutlich nicht in Erwägung
gezogen, und wenn, dann hätte ich das Manuskript gewiss
keinem anderen anvertraut. Und außerdem: Wäre ich aus ir-
gendeinem Grund in mein Haus am Wald zurückgekehrt,
dann wäre ich, das wusste ich genau, nicht wieder nach New
York gefahren, und zwar nicht aus Jamies Gründen, nicht
weil ich Angst vor einem terroristischen Angriff hatte, son-
dern weil sich alles Nötige dort befand, wo ich war: die un-
unterbrochene Ruhe, die ich mittlerweile zum Schreiben
brauchte, die Bücher, die meinen Interessen dienten, und eine
Umgebung, in der ich besser als anderswo mein seelisches
Gleichgewicht bewahren und mich fit genug halten konnte,
um so lange wie möglich zu arbeiten. In der Stadt würde ich
nur etwas finden, was ich, wie ich beschlossen hatte, nicht
mehr brauchte: das Hier und Jetzt.
Hier und Jetzt.
Damals und Jetzt.
Der Anfang und das Ende des Jetzt.
Das waren die Zeilen, die ich auf den Zettel kritzelte, auf
dem ich zuvor Amy Bellettes Namen und die Telefonnummer
meiner neuen New Yorker Wohnung notiert hatte. Titel für
irgend etwas. Vielleicht für dieses Buch. Oder sollte ich ganz
unverblümt sein und es Ein Mann in Windeln nennen? Ein
Buch über einen, der weiß, wohin er zu gehen hat, um seine
Qual zu erleben, und dann dorthin geht.

Am nächsten Morgen rief mich die Sprechstundenhilfe des


Urologen an und fragte, ob alles in Ordnung sei und ob ich
Unregelmäßigkeiten festgestellt hätte: Fieber, Schmerzen, ir-
gend etwas Ungewöhnliches. Ich sagte, es gehe mir gut, die
Inkontinenz sei jedoch, soweit ich das sagen könne, unverän-
dert. Auf ihre ruhige, tröstliche Art riet sie mir, Geduld zu ha-
ben und weiter darauf zu warten, dass eine Verbesserung ein-
trat – das sei durchaus nicht unwahrscheinlich und in manchen
Fällen erst Wochen nach der Behandlung der Fall. Sie erin-
nerte mich auch daran, dass gelegentlich ein zweiter oder so-
gar dritter Eingriff nötig sei, um die gewünschte Wirkung zu
erzielen, und dass man sich ohne Bedenken drei Monate hin-
tereinander einmal monatlich dieser Prozedur unterziehen
könne. »Es ist gut möglich, dass es durch die Verengung des
Blasenmunds gelungen ist, das Tröpfeln zu vermindern oder
ganz abzustellen. Bitte rufen Sie uns an und schildern Sie dem
Doktor möglichst genau Ihren Zustand. Ganz gleich, was
passiert – rufen Sie uns innerhalb einer Woche noch einmal
an. Tun Sie uns den Gefallen, Mr. Zuckerman, bitte.«
Ich verspürte den übermächtigen Wunsch, die seichte,
blödsinnige Phantasie von meiner Regeneration über Bord zu
werfen, meinen Wagen aus der Garage um die Ecke zu holen
und schleunigst nach Hause zu fahren, wo ich meine Gedan-
ken wieder dorthin lenken konnte, wohin sie gehörten, näm-
lich auf die alles verändernden Anforderungen der Schrift-
stellerei, die keine Traumtänze duldet. Was du nicht hast,
musst du entbehren – du bist einundsiebzig, finde dich da-
mit ab. Die Zeiten prahlerischer Überheblichkeit sind vor-
bei. Von etwas anderem zu träumen ist lächerlich. Es war
nicht nötig, irgend etwas über Amy Bellette oder Jamie Logan
herauszufinden, und ebensowenig war es nötig, etwas über
mich selbst herauszufinden. Auch das war nur lächerlich. Das
Drama der Selbsterforschung war längst abgeschlossen. Ich
hatte in all den Jahren nicht wie ein Kind gelebt und wusste
über dieses Thema mehr, als ich wissen musste. Bis weit über
die Sechzig hinaus hatte ich den Blick nicht abgewendet, den
Dingen den Rücken gekehrt und mich mit etwas anderem be-
schäftigt. Ich hatte mich bemüht, keine Furcht zu zeigen,
doch was immer noch zu erledigen war, konnte erledigt wer-
den, ohne dass ich mich mit Al Qaida, Terrorismus, dem
Krieg im Irak und der möglichen Wiederwahl von George W.
Bush beschäftigte. Es war nicht ratsam, sich dieser empörten,
hochemotionalen Krisenhysterie auszusetzen – in der Zeit des
Vietnamkriegs war ich für meine persönliche Form dieses
Gemütszustands nur zu empfänglich gewesen –, und wenn
ich wieder in die Stadt zog, würde es nicht lange dauern, bis
sie mich erfasste, sie und die nicht unbedingt erhellende
Geschwätzigkeit, mit der sie einherging und die einen, wenn
man eine ganze Nacht in der Leere dieser Erregtheit ver-
bracht hatte, innerlich kochen lassen konnte wie einen Ver-
rückten, dumm und hoffnungslos, und gewiss hatte das auch
zu Jamie Logans Entschluss beigetragen, die Flucht zu er-
greifen.
Oder hatte das, was in den vergangenen Jahren geschehen
war, ausgereicht, um sie mit einem zweiten schrecklichen An-
griff rechnen zu lassen, der sie und Billy und Tausende ande-
rer auslöschen würde? Ich konnte nicht beurteilen, ob sie die
richtigen Schlüsse gezogen hatte, ob sie einfach durch die Si-
tuation halb wahnsinnig vor Angst war (wie ihr vernunftori-
entierter, geduldiger junger Ehemann anscheinend glaubte),
ob ihre Annahme durch Bin Laden bestätigt werden würde
oder ob ich dadurch, dass ich in der Stadt blieb, eine Kata-
strophe auf mich herabbeschwören würde, die weit schlimmer
war als die Verwirrung, die Rip Van Winkle überkommen
hatte. Ich, der ich einst auf alles mögliche sofort reagiert hatte,
um dann aber während der vergangenen zehn Jahre ein Leben
in ereignisarmer Einsamkeit zu führen, hatte mir abgewöhnt,
jedem Impuls nachzugeben, der mir durch den Kopf schoss,
und doch hatte ich vor nur wenigen Tagen einen spontanen
Entschluss gefasst, der sich vielleicht als die gedankenloseste
Entscheidung meines ganzen Lebens erweisen würde.

Das Telefon in meinem Hotelzimmer lautete. Der Mann am


anderen Ende sagte, er sei ein Freund von Jamie Logan und
Billy Davidoff. Er kenne Jamie aus Harvard, wo sie zwei
Jahre vor ihm studiert habe. Freier Journalist. Richard Kli-
man. Artikel über literarische und kulturelle Themen. Für die
Sonntagsbeilage der Times, für Vanity Fair, New York und
Esquire. Ob ich heute Zeit hätte? Ob er mich zum Mittagessen
einladen könne?
»Was wollen Sie?« fragte ich.
»Ich schreibe über einen alten Bekannten von Ihnen.«
Ich hatte wenig Geduld mit Journalisten – sofern ich über-
haupt je Geduld mit ihnen gehabt hatte –, und es gefiel mir
nicht, dass er meinen Aufenthaltsort so mühelos herausge-
funden hatte, denn das berührte einen der Umstände, die mich
ursprünglich aus New York vertrieben hatten.
Ohne weitere Erklärungen legte ich auf. Innerhalb von
Sekunden läutete das Telefon abermals. »Unser Gespräch ist
unterbrochen worden«, sagte Kliman.
»Ich habe es unterbrochen.«
»Mr. Zuckerman, ich schreibe eine Biographie über E. I.
Lonoff. Ich habe Jamie um Ihre Nummer gebeten, weil ich
weiß, dass Sie Lonoff in den fünfziger Jahren kennengelernt
und mit ihm korrespondiert haben. Ich weiß auch, dass Sie als
junger Schriftsteller ein großer Bewunderer von Lonoff waren.
Ich bin jetzt ein paar Jahre alter, als Sie es damals waren. Ich
bin nicht das literarische Wunderkind, das Sie waren – das ist
mein erstes Buch, und es ist kein Roman. Aber will nicht mehr
und nicht weniger erreichen als Sie. Ich weiß, was ich nicht
bin, aber ich weiß auch, was ich bin. Ich werde mein Bestes
geben. Wenn Sie Jamie anrufen und meine Referenzen
überprüfen wollen –«
Nein, ich wollte Jamie anrufen und sie fragen, warum sie Mr.
Kliman meine Telefonnummer gegeben hatte.
»Das Letzte, was Lonoff wollte, war ein Biograph«, sagte ich.
»Er hatte nicht den Ehrgeiz, zum Gegenstand von Gesprächen
zu werden. Oder von Büchern. Er wollte anonym bleiben – ein
harmloser Wunsch, der für die meisten automatisch in
Erfüllung geht und ganz leicht zu respektieren ist. Sehen Sie,
er ist seit über vierzig Jahren tot. Niemand liest seine Bücher.
Niemand erinnert sich an ihn. Man weiß so gut wie nichts über
ihn. Jede Biographie müsste weitgehend imaginär sein – mit
anderen Worten, ein Zerrbild.«
»Aber Sie haben ihn gelesen«, erwiderte Kliman. »Sie ha-
ben sogar sein Werk erwähnt, als Sie damals, in meinem zwei-
ten Studienjahr, mit ein paar Studenten in der Signet Society
zu Mittag gegessen haben. Sie haben uns gesagt, welche seiner
Erzählungen wir lesen sollten. Ich war dabei. Jamie war Mit-
glied der Signet Society und hatte mich eingeladen, auch zu
kommen. Erinnern Sie sich an die Signet Society? Es ist eine
künstlerisch orientierte Studentenvereinigung, und wir haben
gemeinsam an einem großen Tisch zu Mittag gegessen und
sind danach in den Salon gegangen – erinnern Sie sich? Am
Abend davor hatten Sie in der Memorial Hall aus Ihrem Werk
gelesen, und eine der Studentinnen hatte Sie eingeladen, und
so sind Sie am nächsten Tag vor Ihrer Abreise zum Mit-
tagessen gekommen.«
»Nein, ich erinnere mich nicht«, sagte ich, obwohl ich
mich sehr wohl erinnerte – an die Lesung, weil es meine letzte
vor der Prostataoperation gewesen war, die letzte überhaupt,
und sogar an das Essen, als Kliman es erwähnte, weil mir
gegenüber eine dunkelhaarige Studentin gesessen und mich
die ganze Zeit angesehen hatte. Das musste Jamie Logan mit
Zwanzig gewesen sein. In der West 71 st Street hatte sie so ge-
tan, als wären wir uns noch nie begegnet, doch das stimmte
nicht, und damals war sie mir aufgefallen. Was war an ihr so
ungewöhnlich gewesen? Nur die Tatsache, dass sie die Hüb-
scheste von allen gewesen war? Das wäre natürlich möglich –
das und die selbstsichere Zurückhaltung, auf die ihr gelassenes
Schweigen hindeutete, das jedoch ebensogut ein Zeichen dafür
hätte sein können, dass sie damals zu schüchtern war, um den
Mund aufzumachen, wenn auch nicht so schüchtern, um mich
anzustarren und nichts dagegen zu haben, ihrerseits von mir
angestarrt zu werden.
»Und Sie interessieren sich noch immer für ihn«, sagte
Kliman. »Das weiß ich, weil Sie neulich die gebundene Scrib-
ner-Ausgabe seiner Erzählungen gekauft haben. Bei Strand.
Eine Freundin von mir arbeitet bei Strand und hat es mir er-
zählt. Sie war ganz aufgeregt, weil sie Sie dort gesehen hatte.«
»Eine taktisch sehr ungeschickte Bemerkung gegenüber
jemandem, der ein zurückgezogenes Leben führt, Kliman.«
»Ich bin kein Taktiker. Ich bin ein Enthusiast.«
»Wie alt sind Sie?«
»Achtundzwanzig«, sagte er.
»Was soll das alles überhaupt?«
»Was mich motiviert? Ich würde sagen, der Forschergeist.
Meine Neugier treibt mich voran, Mr. Zuckerman. Das ist
nicht unbedingt etwas, was einen beliebt macht. Bei Ihnen
zum Beispiel hat es mich bereits unbeliebt gemacht. Aber um
Ihre Frage zu beantworten: Das ist mein stärkster Antrieb.«
War er naiv unausstehlich oder unausstehlich naiv – oder
bloß jung oder bloß gerissen? »Stärker als der Antrieb, Kar-
riere zu machen?« fragte ich. »Für Furore zu sorgen?«
»Ja, Sir. Lonoff ist mir ein Rätsel. Ich versuche, hinter sein
Geheimnis zu kommen. Ich will ihm Gerechtigkeit zuteil
werden lassen, und ich dachte, Sie könnten mir dabei helfen.
Es ist wichtig, mit Leuten zu sprechen, die ihn gekannt ha-
ben. Glücklicherweise sind einige noch am Leben. Ich brau-
che Leute, die meine Theorie über ihn stützen oder, wenn sie
es für angebracht halten, in Frage stellen. Lonoff hat sich ver-
steckt, nicht nur als Mensch, sondern auch als Schriftsteller.
Das war unabdingbar für die Entfaltung seines Genies. Die
Wunde und der Bogen. Er hat ein großes Geheimnis aus sei-
nen frühen Jahren bewahrt. Es ist ein Zufall, dass er in dersel-
ben Gegend wie Hawthorne gelebt hat, aber es gibt Menschen,
die behaupten, dass auch Nathaniel Hawthorne ein großes
Geheimnis hatte, und zwar eines, das einige Ähnlichkeit mit
Lonoffs aufwies. Sie wissen, worauf ich anspiele.«
»Nein, ich habe keine Ahnung.«
»Hawthornes Sohn schrieb, Melville sei in späteren Jahren
überzeugt gewesen, dass Hawthorne sein Leben lang ›ein gro-
ßes Geheimnis verborgen‹ habe. Tja, und ich bin mehr als
überzeugt, dass für Lonoff dasselbe gilt. Es würde vieles er-
klären. Unter anderem sein Werk.«
»Warum sollte sein Werk erklärt werden müssen?«
»Weil ihn, wie Sie schon sagten, niemand liest.«
»Genaugenommen liest niemand irgend jemanden. Ande-
rerseits hat die breite Öffentlichkeit, wie ich Ihnen ja nicht zu
sagen brauche, einen riesigen Appetit auf Geheimnisse. Was
biographische ›Erklärungen‹ betrifft, so macht es die Dinge im
allgemeinen nur schlimmer, wenn man Komponenten hin-
zufügt, die es gar nicht gibt und die, wenn es sie gäbe, keinen
ästhetischen Unterschied machen würden.«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, sagte er, offenbar
entschlossen, meine Worte an sich abperlen zu lassen, »aber
ich kann nicht so zynisch sein und gute Arbeit abliefern. Das
Verschwinden von Lonoffs Werk ist ein kultureller Skandal.
Einer von vielen, aber einer, den ich vielleicht ansprechen
kann.«
»Und darum«, sagte ich, »haben Sie es auf sich genommen,
diesen Skandal zu beenden, indem Sie das große Geheimnis
aus seiner Jugend enthüllen, das alles erklärt. Ich nehme an, es
ist sexueller Natur.«
Trocken erwiderte er: »Das ist sehr scharfsinnig, Sir.«
Normalerweise hätte ich abermals aufgelegt, doch nun
war ich der Neugierige: Ich war neugierig, wie weit er in
seiner Entschlossenheit und Selbstgefälligkeit gehen würde.
Seine Stimme klang nicht eigentlich streitlustig, doch ihre
Unbeirrbarkeit machte deutlich, dass er bereit war, mit mir die
Klinge zu kreuzen. Zu meiner Überraschung erinnerte er mich
flüchtig an mich selbst in seinem Alter, als ahmte er die Art
nach, wie ich damals vorangestürmt war (oder, wie es mir
inzwischen wahrscheinlicher erschien, als machte er sich dar-
über lustig). Da war sie, die taktlose Strenge des tatkräftigen
jungen Mannes, der nicht den leisesten Zweifel an der Klar-
heit seiner Gedanken hat, der blind ist vor Selbstvertrauen,
überzeugt, genau das zu wissen, worauf es ankommt. Das
rücksichtslose Durchsetzen dessen, was man für notwendig
hält. Der Impuls, jedes Hindernis zu vernichten. Diese groß-
artige Zeit, in der man sich fortwährend in Szene setzt, vor
nichts zurückschreckt und immer recht hat. Alles ist ein Ziel,
man befindet sich ständig im Angriff, und nur man selbst ist
im Recht.
Der unverwundbare Junge, der sich für einen Mann hält und
darauf brennt, eine große Rolle zu spielen. Nun, sollte er sie
spielen. Er würde schon sehen.
»Ich wollte, Sie wären nicht so dagegen«, sagte er, klang
aber nicht so, als würde ihm das etwas ausmachen. »Ich
wollte, sie würden mir Gelegenheit geben, Ihnen zu erklären,
welche Bedeutung in meinen Augen seiner persönlichen Ge-
schichte zukommt und wie sie sich auf seine Arbeit ausge-
wirkt hat, nachdem er Hope verlassen hatte und mit Amy
Bellette zusammen war.«
Die Worte »nachdem er Hope verlassen hatte« machten
mich wütend. Ich verstand ihn – die kompromisslose Hart-
näckigkeit, die Unverblümtheit, der unausrottbare Virus der
Überlegenheit (er würde so freundlich sein, mir etwas zu er-
klären) –, doch das bedeutete nicht, dass ich ihm vertraute.
Was konnte er, abgesehen von Klatsch und Gerüchten, über
die Zeit wissen, »nachdem er Hope verlassen hatte«?
»Auch das muss nicht erklärt werden«, sagte ich.
»Eine gründlich dokumentierte kritische Biographie
könnte sehr dazu beitragen, Lonoff wiederauferstehen zu las-
sen und ihm zu seinem angestammten Platz in der Literatur
des zwanzigsten Jahrhunderts zu verhelfen. Aber seine Kinder
weigern sich, mit mir zu reden, seine Frau ist der älteste
Alzheimer-Patient in Amerika und kann nicht mit mir reden,
und Amy Bellette beantwortet meine Briefe nicht mehr. Auch
Sie haben meine Briefe nicht beantwortet.«
»Ich kann mich an keine erinnern.«
»Ich habe sie an Ihren Verlag geschickt, weil ich dachte, das
sei die beste Methode, jemanden zu kontaktieren, von dem
man weiß, dass er auf seine Privatsphäre so großen Wert legt
wie Sie. Die Briefe kamen zurück, mit einem Aufkleber
versehen, auf dem stand: ›Zurück an Absender – unverlangte
Sendungen werden nicht mehr angenommene«
»Das ist ein Service, den alle Verlage anbieten. Das habe ich
übrigens von Lonoff gelernt. Als ich so alt war wie Sie.«
»Dieser Aufkleber, den Sie verwendeten – ist das Lonoffs
Sprache? Seine Formulierung?«
Es war tatsächlich Lonoffs Formulierung – ich hätte sie nicht
verbessern können –, doch ich schwieg.
»Ich habe eine Menge über Miss Bellette herausgefunden
und würde es gern verifizieren. Ich brauche eine glaubwür-
dige Quelle, und Sie sind glaubwürdig. Stehen Sie in Kontakt
mit ihr?«
»Nein.«
»Sie lebt in Manhattan und arbeitet als Übersetzerin. Sie
hat einen Gehirntumor, und wenn er wächst, bevor ich Gele-
genheit habe, noch einmal mit ihr zu sprechen, wird alles, was
sie weiß, verloren sein. Sie könnte mir mehr erzählen als jeder
andere.«
»Warum sollte sie das tun?«
»Ich weiß, alte Männer hassen junge Männer. Das versteht
sich von selbst.«
So beiläufig, dieses kryptische Aufblitzen von Weisheit.
Ist der Kampf zwischen den Generationen etwas, über das er
gelesen hat, oder hat ihm jemand davon erzählt, oder ist es et-
was, mit dem er eigene Erfahrungen gemacht hat, oder kam
die Erkenntnis plötzlich und unerwartet? »Ich versuche nur,
verantwortungsvoll zu sein«, fügte Kliman hinzu, und jetzt
war es das Wort »verantwortungsvoll«, das mich wütend
machte.
»Ist nicht Amy Bellette der Grund, warum Sie in New York
sind?« fragte er. »Das haben Sie doch zu Billy und Jamie
gesagt: dass Sie hier sind, weil Sie sich um eine Freundin küm-
mern wollen, die Krebs hat.«
»Wenn das Gespräch das nächste Mal unterbrochen wird«,
sagte ich, »rufen Sie lieber nicht zurück.«
Fünfzehn Minuten später rief Billy an und entschuldigte
sich für seine und Jamies Indiskretion. Er habe nicht gewusst,
dass unsere Unterhaltung vertraulich gewesen sei, und es tue
ihm leid, wenn er und seine Frau mir Ungelegenheiten be-
reitet hätten. Bei Kliman, der ihn soeben angerufen habe, um
ihm zu sagen, wie schlecht das Gespräch mit mir verlaufen
sei, handele es sich um einen Freund von Jamie aus College-
zeiten, mit dem sie noch immer befreundet sei, und sie habe
sich nichts Böses gedacht, als sie ihm gesagt habe, wer sich auf
ihre Anzeige gemeldet habe. Billy sagte, weder er noch Jamie
hätten vorhergesehen, dass ich Vorbehalte haben würde, mit
dem Biographen von E. I. Lonoff zu sprechen, einem Autor,
den ich, wie sie alle wüssten, bewunderte – und das sei, wie er
jetzt sehe, ein Fehler gewesen. Er versicherte mir, sie würden
die getroffene Vereinbarung für sich behalten, ich müsse mir
aber der Tatsache bewusst sein, dass es, sobald ich in ihre
Wohnung gezogen sei, nicht lange dauern werde, bis sich un-
ter ihren Freunden und Bekannten herumgesprochen habe,
wer jetzt dort wohne, und dasselbe gelte umgekehrt für mein
Haus ...
Er war höflich und gewissenhaft, was er sagte, hatte Hand
und Fuß, und so erwiderte ich: »Nicht so schlimm.« Natürlich
war Kliman ein Freund von Jamie gewesen. Ein weiterer
Grund, warum ich ihn nicht ausstehen konnte. Der Grund.
»Richard kann ziemlich aufdringlich sein«, sagte Billy.
»Aber«, fuhr er fort, »wir möchten uns dafür entschuldigen,
dass wir ihm gesagt haben, in welchem Hotel Sie abgestiegen
sind. Das war gedankenlos.«
»Nicht so schlimm«, wiederholte ich und sagte mir in Ge-
danken abermals, ich solle in den Wagen steigen und nach
Hause fahren. New York war voller Leute, die vom »For-
schergeist« getrieben wurden, und nicht alle besaßen das da-
zugehörige Ethos. Sollte ich die Wohnung in der West 71st
Street – sowie das Telefon – übernehmen, so würde ich mich
zwangsläufig in Lebensumstände begeben, deren ich über-
drüssig war und die zu bewältigen mir, wie ich soeben de-
monstriert hatte, die Finesse fehlte. Nicht dass meine Neugier
nicht geweckt worden wäre durch das, was Kliman über Lo-
noff gesagt hatte. Nicht dass ich nicht überrascht gewesen
wäre, dass ich – ein unglaublicher Zufall – Lonoffs Amy nach
beinahe fünfzig Jahren wiedergesehen hatte, dass ich ihr vom
Krankenhaus zu jenem Schnellimbiss gefolgt war und dass
Kliman mich dann angerufen, mir von Amys Gehirntumor
erzählt und versucht hatte, mich mit seinen vertraulichen In-
formationen über Lonoffs an Hawthorne gemahnendes »Ge-
heimnis« aus der Reserve zu locken. Für mich, der ich das
Leben in der Abgeschiedenheit kultiviert, mich Wiederho-
lungen unterworfen und an die Monotonie ausgeliefert hatte,
der ich alles aus meinem Leben verbannt hatte, was mir nicht
unerlässlich erschien (vorgeblich im Dienste meines Werks,
wahrscheinlicher aber, um ein Versagen zu kaschieren), war
es, als würde ich mit einem seltenen astronomischen Ereignis
konfrontiert, als hätte eine Sonnenfinsternis stattgefunden,
und zwar so, wie sie sich in vorwissenschaftlichen Zeiten er-
eignet hatte, nämlich ohne dass die Menschen etwas davon
geahnt hatten.
Ich war spontan in eine neue Zukunft eingetreten und
doch, ohne es zu wollen, in die Vergangenheit zurückgekehrt –
eine rückwärts gerichtete Flugbahn, die nicht so ungewöhn-
lich, aber dennoch irgendwie unheimlich war.
»Wir möchten Sie einladen, die Wahlnacht bei uns zu ver-
bringen«, sagte Billy. »Es werden nur Jamie und ich dasein.
Wir werden zu Hause sitzen und die Auszählung verfolgen.
Wir können gemeinsam zu Abend essen, und danach bleiben
Sie, so lange Sie wollen. Tun Sie uns doch den Gefallen.«
»Dienstag abend?«
Er lachte. »Ja, noch immer der erste Dienstag nach dem er-
sten Montag im November.«
»Ich werde kommen«, sagte ich. »Ich nehme Ihre Einladung
an.« Dabei dachte ich nicht an die Präsidentschafts wähl,
sondern an Billys Frau und Klimans ehemalige Freundin und
an die Lust, die ich einer Frau auch dann nicht mehr bereiten
könnte, wenn sich die Gelegenheit dazu ergäbe. Alte Männer
hassen junge Männer? Junge Männer erfüllen sie mit Neid und
Hass? Warum auch nicht? Die Absurditäten drangen von
allen Seiten auf mich ein, und mein Herz schlug mit verrück-
ter Ungeduld, als könnte die medizinische Behandlung, die
meine Inkontinenz mildern sollte, irgend etwas gegen meine
Impotenz bewirken, was sie natürlich nicht konnte – als hätte
sich, ganz gleich, wie sexuell ungeübt und unfähig ich nach
elfjähriger Abwesenheit sein mochte, der durch die Begegnung
mit Jamie geweckte Trieb mit wildem Ungestüm als die
eigentliche Lebenskraft zurückgemeldet. Als gäbe es in der
Gegenwart dieser jungen Frau Hoffnung.

Durch eine einzige kurze Begegnung mit Billy und Jamie war
ich nicht nur wieder eingetaucht in eine Welt literarisch ehr-
geiziger Jugend, die mich nicht mehr interessierte, sondern
hatte mich auch für die Irritationen, die Reize, die Versuchun-
gen und die Gefahren des gegenwärtigen Augenblicks geöffnet.
In meinem Fall ging damals, als ich beschlossen hatte, die
Stadt für immer zu verlassen, die spezifische Gefahr – die Ge-
fahr eines Angriffs auf mein Leben – nicht vom islamischen
Terrorismus aus, sondern von mehreren Morddrohungen,
die, wie das FBI festgestellt hatte, von einer einzigen Person
stammten. Jede einzelne dieser Drohungen stand auf einer
Postkarte, die irgendwo im Norden von New Jersey abge-
stempelt worden war, der Gegend, in der ich aufgewachsen
war. Es war nie zweimal derselbe Ort, doch das abgebildete
Motiv war jedesmal der damalige Papst, Johannes Paul II, der
die Menge auf dem Petersplatz segnete, kniend betete oder in
brokatverziertem weißem Ornat Audienz gewährte. Auf der
ersten Karte stand:

Liebe Judensau, wir gehören zu einer neuen inter-


nationalen Organisation zur Bekämpfung der rassisti-
schen, ekelhaften Philosophie des ZIONISMUS. Als
einer der jüdischen Parasiten, die »gojische« Länder
und ihre Einwohner aussaugen, bist du als Ziel ausge-
wählt worden. Da du in Jew York wohnst, ist unsere
»Abteilung« mit der »Ausführung« beauftragt wor-
den. Dies ist die erste Warnung.

Der Text der zweiten Karte mit dem Bild Johannes Pauls war
mit dem der ersten identisch, nur dass der letzte Satz lautete:
»D IE S I ST DI E ZW EI T E W A R NU NG , JU D E !«
Ich hatte auch früher schon Schmäh- oder Drohbriefe er-
halten, aber niemals mehr als zwei oder drei pro Jahr, und in
den meisten Jahren gar keine. Außerdem hatten mich auf den
Straßen von New York immer wieder Fremde angesprochen
und mir unangenehme Diskussionen aufgedrängt, weil ich in
einem Roman etwas geschrieben hatte, was sie faszinierte
oder wütend machte oder sie faszinierte, weil es sie wütend
machte, oder wütend machte, weil es sie faszinierte. Mehr als
einmal war ich zum Opfer solcher beunruhigenden Auf-
dringlichkeiten geworden, weil meine Bücher Menschen, die
von Erdichtetem leicht zu Phantasien verleitet wurden, zu ge-
wissen Auffassungen anregten. Doch nun wurde ich zum Ziel
erklärt: Monatelang erhielt ich diese Postkarten Woche für
Woche, und zur gleichen Zeit bekam ein im Mittleren Westen
lebender Kritiker, der eins meiner Bücher in der New York
Times Book Review äußerst lobend rezensiert hatte, ebenfalls
eine Postkarte mit dem Bild des Papstes. Diese war an das
College adressiert, an dem er unterrichtete, und zwar an die
»Abteilung für Speichelleckerei und Englisch«. Keine Anrede,
bloß dies, in winzigen Buchstaben:

Nur ein billiger kleiner Schmalspur-Arschkriecher von


einem Scheiß-»Professor für Englisch« kann sich so
weit erniedrigen, den neuesten Haufen Scheiße dieser
Judensau als »das Beste und Lohnendste, was er je
hervorgebracht hat« zu bezeichnen. Wie schade, dass
Abschaum wie du die Gehirne junger Menschen unge-
straft verschmutzen darf. Eine Salve aus einer AK-47.
Das würde die höhere Bildung in Amerika wieder zu
dem machen, was sie mal war. Oder jedenfalls dazu
beitragen.

Mein New Yorker Anwalt stellte den Kontakt zum FBI her. In
meiner Wohnung in der East 91st Street erhielt ich Besuch
von einer Agentin namens M. J. Sweeney, einer kleinen, mun-
teren, aus den Südstaaten stammenden Frau von Anfang Vier-
zig, die die Postkarten an sich nahm (um sie, zusammen mit
der, die der Kritiker erhalten hatte, zur Untersuchung und
Analyse nach Washington zu schicken) und mir sagte, welche
Vorsichtsmaßnahmen ich treffen sollte, als würde sie mir die
Grundregeln eines mir unbekannten Sports oder Spiels erklä-
ren. Ich sollte ein Gebäude erst verlassen, wenn ich mich da-
von überzeugt hatte, dass weder gegenüber noch rechts und
links verdächtig wirkende Personen zu sehen waren. Wenn
auf der Straße jemand auf mich zukam, sollte ich nicht auf
sein Gesicht, sondern auf seine Hände achten, für den Fall,
dass er nach einer Waffe griff. Sie gab mir noch mehr solcher
Ratschläge, die ich auch befolgte, obwohl ich nicht sehr über-
zeugt war, dass sie einen wirksamen Schutz gegen jemanden
darstellten, der entschlossen war, mich niederzuschießen.
Die Bezeichnung »AK-47«, die auf der an den Rezensenten
adressierten Postkarte gestanden hatte, tauchte nun auch in
den an mich gerichteten Botschaften auf. Es gab Wochen, in
denen die Nachricht lediglich aus den mit schwarzem Filz-
stift geschriebenen fünf Zentimeter hohen Buchstaben und
Ziffern »AK-47« bestand.
Jedesmal, wenn wieder eine Postkarte eintraf, telefonierte
ich mit M.J. Ich fotokopierte beide Seiten der Karte, bevor
ich sie in einen Umschlag steckte und an die Agentin schickte.
Als ich sie eines Tages anrief und ihr sagte, mein neuestes
Buch sei für einen Preis nominiert worden und man habe mich
zur Preisverleihung in einem Hotel in Manhattan einge-
laden, fragte sie: »Wie sind die Sicherheitsmaßnahmen?« »Ich
nehme an, dass es so gut wie keine gibt.« »Hat die Öffentlich-
keit Zutritt?« »Sie hat jedenfalls nicht keinen Zutritt«, sagte
ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der hinein-
will, auf ernsthafte Schwierigkeiten stößt. Ich schätze, es wer-
den an die tausend Leute dasein.« »Na, dann passen Sie gut
auf sich auf«, sagte sie. »Das hört sich an, als würden Sie mir
abraten, hinzugehen.« »Ich kann nicht für das FBI spre-
chen«, sagte M.J. »Das FBI kann Ihnen in dieser Sache nicht
raten.« »Sollte ich den Preis erhalten, muss ich auf die Bühne
gehen, um ihn entgegenzunehmen. Da wäre ich ein leichtes
Ziel, oder?« »Wenn ich Ihre Freundin wäre«, antwortete sie,
»würde ich sagen: Ja.« »Wenn Sie meine Freundin wären, was
würden Sie mir dann raten?« »Bedeutet es Ihnen viel, dorthin
zu gehen?« »Nein, es bedeutet mir nichts.« »Also, wenn ich
diejenige wäre, der es nichts bedeutet«, sagte M.J., »und ich
hätte über zwanzig Morddrohungen bekommen, würde ich
nicht mal in die Nähe dieses Hotels gehen.«
Am nächsten Tag mietete ich einen Wagen und fuhr in den
Westen von Massachusetts, Innerhalb von achtundvier-
zig Stunden kaufte ich ein Haus mit zwei großen Räumen –
in dem einen gab es einen offenen Kamin, in dem anderen
einen Holzofen –, zwischen denen sich eine kleine Küche
befand; durch ihr Fenster sah man einen Hain aus knorrigen
alten Apfelbäumen, einen recht großen, zum Schwimmen ge-
eigneten ovalen Teich und eine hohe, vom Sturm beschädigte
Weide. Die zwölf Morgen Land, die zum Haus gehörten,
grenzten an einen malerischen, von Wasservögeln bevölker-
ten Sumpf. Am Haus führte in einiger Entfernung ein Feld-
weg vorbei, auf dem man nach vier bis fünf Kilometern eine
Asphaltstraße erreichte – nach Athena ging es dann durch
viele Kurven noch weitere sieben bis acht Kilometer zu Tal.
In Athena hatte E. I. Lonoff unterrichtet, als ich ihn, seine
Frau und Amy Bellette 1956 kennengelernt hatte. Das Haus
der Lonoffs, 1790 erbaut, war in der Familie seiner Frau von
einer Generation an die nächste weitergegeben worden, und
man konnte es von dem Haus, das ich soeben gekauft hatte,
mit dem Wagen in zehn Minuten erreichen. In diese Gegend
hatte Lonoff sich zurückgezogen, und deshalb suchte ich in-
stinktiv ebenfalls dort Zuflucht – deshalb, und weil ich da-
mals dreiundzwanzig gewesen war und diese Begegnung nie
vergessen hatte.
In der Armee hatte ich gelernt, mit einem Gewehr umzu-
gehen, und so kaufte ich mir in einem Waffengeschäft eine
.22er und verbrachte ein paar Nachmittage damit, im Wald zu
schießen, bis ich wieder einigermaßen treffsicher war. Das
Gewehr und die Munition bewahrte ich im Schrank neben
meinem Bett auf. Ich ließ eine Alarmanlage mit einer direkten
Verbindung zur nächsten Station der Staatspolizei einbauen
und eine Außenbeleuchtung an den Ecken des Hausdachs in-
stallieren, damit das Grundstück nicht im Dunkeln lag, wenn
ich abends nach Hause zurückkehrte. Dann rief ich M.J. an
und erzählte ihr von meinen Maßnahmen. »Vielleicht bin ich
hier draußen gefährdeter, aber bis jetzt fühle ich mich sicherer
und habe weniger Angst als in der Stadt. Ich werde meine
Stadtwohnung noch behalten, aber vorerst bleibe ich hier
draußen, jedenfalls so lange, bis ich keine Drohungen mehr
bekomme.« »Weiß irgend jemand, wo Sie sind?« »Bislang nur
Sie. Ich lasse mir die Post an eine andere Adresse nachschik-
ken.« »Tja«, sagte M.J., »das wäre nicht meine erste Empfeh-
lung gewesen, aber Sie müssen natürlich tun, was Ihnen das
größte Gefühl der Sicherheit gibt.« »Ich werde immer wieder
mal in der Stadt sein, aber hier draußen wohnen.« »Viel
Glück«, sagte sie und fügte hinzu, dass sie meine Akte nun an
das FBI-Büro in Boston werde schicken müssen. Nachdem
sie sich verabschiedet und aufgelegt hatte, wälzte ich mich die
ganze Nacht unruhig im Bett herum und dachte über das
nach, was ich getan hatte, denn ich war überzeugt, dass es
M.J. Sweeney gewesen war, die in der ganzen Zeit, in der ich
die Drohungen erhalten hatte, zwischen mir und der AK-47
des Absenders gestanden hatte.
Auch als schließlich keine Morddrohungen mehr kamen,
blieb ich in meinem Haus auf dem Land. Es war inzwischen zu
meinem Zuhause geworden, und ich lebte dort elf Jahre lang,
schrieb Bücher, hielt mich fit, bekam Krebs, unterzog mich
einer radikalen Therapie und wurde, ohne es zu wissen oder zu
registrieren, mit jedem Tag alter. Die Gewohnheit, allein zu
sein, ohne darunter zu leiden, hatte von mir Besitz ergriffen,
und mit ihr kamen die Freuden, niemandem Rechenschaft
schuldig und frei zu sein – paradoxerweise frei vor allem von
mir selbst. Ich widmete mich tagelang ausschließlich meiner
Arbeit und genoss den Luxus der Zufriedenheit. Einsamkeit,
bittere Einsamkeit war selten und konnte mit Hilfe von
Strategien abgewehrt werden: Überfiel sie mich tagsüber, so
verließ ich den Schreibtisch und machte einen langen
Spaziergang durch den Wald oder am Fluss entlang, kam sie in
der Nacht, dann legte ich das Buch, das ich las, beiseite und
hörte mir etwas an, was meine ganze Aufmerksamkeit
erforderte, beispielsweise ein Quartett von Bartók. So gewann
ich meine Stabilität zurück und machte die Einsamkeit
erträglich. Alles in allem war ein Dasein ohne die
Notwendigkeit, eine Rolle zu spielen, weit besser als eines mit
den Spannungen und Aufregungen, den Konflikten, der Sinn-
losigkeit und dem Abscheu, welche, wenn man altert, die viel-
fältigen Beziehungen, aus denen ein reiches, erfülltes Leben
besteht, ganz und gar nicht erstrebenswert erscheinen lassen.
Ich hielt mich von alldem fern, weil ich mir im Lauf der Jahre
eine Lebensweise zu eigen gemacht hatte, die ich (und nicht
nur ich) für unmöglich gehalten hätte, und darauf war ich
stolz. Ich hatte New York aus Angst verlassen, doch indem ich
Schicht um Schicht meines Lebens abtrug, fand ich in meiner
Abgeschiedenheit eine Art von Freiheit, die mir meist sehr
gefiel.
Ich hatte die Tyrannei meiner Intensität abgeschüttelt –
aber indem ich über ein Jahrzehnt lang für mich allein gelebt
hatte, war ich vielleicht auch nur ihrer strengsten Form er-
legen.

Am letzten Tag im Juni 2004 kehrte die Bezeichnung


»AK-47« zurück, um mich zu erschrecken. Ich weiß, dass es
der 30. Juni war, weil an diesem Tag die weiblichen Schnapp-
schildkröten die Teiche und Wasserlöcher in diesem Teil Neu-
englands verlassen, um eine offene, sandige Stelle zu finden,
wo sie eine Mulde graben und darin ihre Eier ablegen. Es sind
starke, langsame Tiere, große Schildkröten mit dreißig Zenti-
meter langen, am Rand gezackten Panzern und langen, mit
dicken Schuppen besetzten Schwänzen. Sie tauchen in Scharen
am südlichen Ende von Athena auf und überqueren die
zweispurige Straße, die in die Stadt führt. Autofahrer warten
geduldig minutenlang, um keine von ihnen zu überfahren,
wenn sie aus dem dichten Wald kriechen, in dessen Marschen
und Tümpeln sie leben, und viele Einheimische haben es sich,
wie ich, zur Gewohnheit gemacht, nicht nur anzuhalten, son-
dern auch auf dem Seitenstreifen der Straße zu parken und
der Parade dieser selten gesehenen Reptilien zuzusehen, die
sich auf kurzen, starken, schuppigen Beinen und prähisto-
risch wirkenden Klauen Zentimeter für Zentimeter vorwärts
schieben.
Jedes Jahr hört man so ziemlich dieselben Witze, dasselbe
Gelächter, dieselben Äußerungen der Verwunderung und er-
fährt von pädagogisch gesinnten Eltern, die mit ihren Kin-
dern gekommen sind, um ihnen das Spektakel zu zeigen, wie-
viel die Schildkröten wiegen, wie lang ihre Hälse sind, wie
stark sie zubeißen können, wieviel Eier sie legen und wie alt
sie werden. Dann steigt man wieder in seinen Wagen und fährt
in die Stadt, um etwas zu erledigen, so wie auch ich es an
diesem sonnigen Tag tat, vier Monate bevor ich nach New
York fuhr, um mich über die Kollagen-Behandlung beraten zu
lassen.
Ich parkte schräg vor der Grünanlage im Zentrum und
traf einige Geschäftsinhaber, die ich persönlich kannte und
die aus ihren Läden getreten waren, um die Sonne zu ge-
nießen. Wir standen da und unterhielten uns über Neben-
sächlichkeiten, in der freundlichen Grundstimmung von
Menschen, die über alles nur das Beste denken – ein Herren-
ausstatter, ein Spirituosenhändler und ein Schriftsteller –, und
wir verströmten die Zufriedenheit von Amerikanern, die sicher
und außerhalb der Reichweite der nervenaufreibenden Welt
lebten.
Nachdem ich die Straße überquert hatte, ging ich zum
Haushaltswarengeschäft, und jemand, der mir entgegenkam,
sagte, als er auf gleicher Höhe mit mir war: »AK-47.« Ich fuhr
herum und erkannte an dem breiten Rücken und den ein-
wärtsgerichteten Füßen sogleich, wer es war: der Maler, den
ich im Sommer zuvor beauftragt hatte, die Fassade meines
Hauses zu streichen, und dem ich, weil er jeden zweiten Tag
nicht erschienen war – und, wenn er aufgetaucht war, nur
zwei, drei Stunden gearbeitet hatte –, den Auftrag hatte ent-
ziehen müssen, obwohl die Arbeit nicht einmal zur Hälfte er-
ledigt war. Die Rechnung, die er mir geschickt hatte, war so
exorbitant, dass ich sie, anstatt mich mit ihm herumzustrei-
ten – wir hatten am Telefon oder im direkten Gespräch bei-
nahe täglich lautstarke Auseinandersetzungen über seine Ar-
beitsstunden oder sein Nichterscheinen gehabt –, an meinen
örtlichen Rechtsanwalt weitergeleitet hatte. Der Name des
Mannes war Buddy Barnes, und ich hatte, leider zu spät, er-
fahren, dass er einer von Athenas notorischen Alkoholikern
war. Der Aufkleber auf seinem Wagen – CHARLTON HESTON
IST MEIN PRÄSIDENT – hatte mir nie besonders gefallen, aber ich
hatte nicht viel darauf gegeben, denn obwohl der legendäre
Filmstar es auch als Präsident der rücksichtslos unver-
antwortlichen National Rifle Association zu Berühmtheit ge-
bracht hatte, war er, als ich Buddy den Auftrag gab, schon
weitgehend dement, und so war mir dieser Aufkleber eher
dumm und harmlos erschienen.
Ich war natürlich verblüfft über das, was ich auf der Straße
gehört hatte, so verblüfft, dass ich, anstatt kurz nachzuden-
ken, wie ich darauf reagieren könnte oder ob ich überhaupt
darauf reagieren sollte, quer über den Rasen zu der Stelle
rannte, wo Buddys Pick-up geparkt war. Er war gerade einge-
stiegen, und ich rief seinen Namen und schlug mit der Faust
auf den Kotflügel, bis er das Fenster herunterkurbelte. »Was
haben Sie gerade zu mir gesagt?« fragte ich ihn. Buddy war
ein Mann von Mitte Vierzig mit groben Manieren und hatte
ein rosiges und, trotz des schütteren blonden Barts auf Ober-
lippe und Kinn, beinahe engelsgleiches Gesicht. »Ich hab mit
Ihnen nichts zu bereden«, erwiderte er mit seiner hohen,
näselnden Stimme. »Was haben Sie zu mir gesagt, Barnes?«
»Herr-gott«, sagte er und verdrehte die Augen. »Antworten
Sie mir. Antworten Sie mir, Barnes. Warum haben Sie das ge-
sagt?« »Sie hören anscheinend Stimmen, Sie Spinner«, sagte
er, legte den Rückwärtsgang ein, setzte aus der Parklücke und
fuhr davon, wobei er wie ein Teenager die Reifen quietschen
ließ.
Nach einer Weile kam ich zu dem Schluss, dass der Zwi-
schenfall nicht die dramatische Bedeutung besaß, die ich ihm
zunächst beigemessen hatte. Ja, er hatte »AK-47« gesagt, und
ja, ich war mir dessen so sicher, dass ich, sobald ich wieder zu
Hause war, das New Yorker Büro des FBI anrief und M.J.
Sweeney zu sprechen verlangte, nur um zu erfahren, dass sie
vor zwei Jahren ausgeschieden sei. Ich rief mir ins Gedächtnis
zurück, dass ich diese Postkarten Monate vor meinem Um-
zug erhalten hatte, lange bevor jemand wie Buddy Barnes
überhaupt von meiner Existenz wußte. Barnes konnte sie mir
unmöglich geschickt haben, zumal sie im Norden von New
Jersey, mehr als hundertfünfzig Kilometer südlich von Athena,
abgestempelt gewesen waren. Dass er mich ausgerechnet mit
dem Begriff gequält hatte, mit dem ich etwa elf Jahre zuvor per
Post gequält worden war, konnte nur ein äußerst seltsamer
Zufall sein.
Dennoch öffnete ich zum erstenmal, seit ich die .22er
gekauft und im Wald Schießübungen veranstaltet hatte, die
Schachtel mit der Munition und legte die Waffe, anstatt sie, wie
in all den Jahren zuvor, ungeladen im Schlafzimmerschrank
aufzubewahren, geladen auf den Boden neben meinem Bett.
Und dabei blieb es, bis ich nach New York aufbrach, obgleich
ich mich irgendwann fragte, ob Buddy vielleicht gar nichts ge-
sagt hatte, und zu dem Schluss kam, dass ich an diesem wun-
derschönen Frühsommermorgen, nachdem ich mich an dem
Anblick der Schnappschildkröten ergötzt hatte, die mühsam
über die Straße gekrochen waren, um ihre Eier abzulegen, eine
überaus lebensechte auditorische Halluzination gehabt hatte,
aus Gründen, die-mir jedenfalls-unerklärlich waren.

An der Inkontinenz hatte sich durch die Kollagen-Behand-


lung nichts geändert, und als ich am Tag der Präsidentschafts-
wahl in der urologischen Abteilung des Krankenhauses an-
rief, um es der Sprechstundenhilfe mitzuteilen, schlug sie vor,
ich solle einen Termin für eine zweite Behandlung in einem
Monat vereinbaren. Falls es in der Zwischenzeit zu einer Ver-
besserung kam, konnte ich den Termin immer noch absagen,
falls nicht, würde man die Behandlung wiederholen. »Und
wenn die auch nicht wirkt?« »Dann machen wir es ein drit-
tes Mal, aber nicht durch die Harnröhre«, erklärte sie mir,
»sondern durch die Narbe der Prostataoperation. Das ist nur
eine Punktion. Mit örtlicher Betäubung. Schmerzlos.« »Und
wenn die dritte Behandlung auch nichts bringt?« fragte ich.
»Ach, das ist noch lange hin, Mr. Zuckerman. Wir machen
einen Schritt nach dem anderen. Lassen Sie den Mut nicht sin-
ken. Es wird schon besser werden.«
Als wäre die Inkontinenz noch nicht entwürdigend ge-
nug, musste man sich auch noch wie ein widerspenstiger
Achtjähriger behandeln lassen, der sich sträubte, seinen Le-
bertran zu nehmen. Aber so ist es eben, wenn ein älterer
Patient sich weigert, die unvermeidlichen Leiden hinzuneh-
men und folgsam dem Grab entgegenzuschlurfen: Ärzte und
Schwestern haben es mit einem Kind zu tun, das mit sanften
Worten überredet werden muss, in seiner aussichtslosen Si-
tuation noch ein wenig durchzuhalten. Das jedenfalls dachte
ich, als ich den Hörer auflegte, jeden Stolzes beraubt und im
Wissen um die Begrenztheit meiner Kraft – ein Mann an dem
Punkt, wo er scheitert, ganz gleich, ob er Widerstand leistet
oder sich fügt.
Was überraschte mich in den ersten Tagen am meisten,
wenn ich durch die Stadt spazierte? Das Offensichtlichste: die
Mobiltelefone. Auf dem Berg, wo ich gelebt hatte, gab es noch
keinen Empfang, und unten in Athena, das mit Antennen ver-
sorgt war, hatte ich auf den Straßen nur selten Menschen gese-
hen, die ungehemmt in ihr Handy sprachen. Ich erinnerte
mich an ein New York, in dem die einzigen, die den Broadway
entlanggingen und dabei scheinbar Selbstgespräche führten,
verrückt waren. Was war in diesen zehn Jahren passiert, dass
es plötzlich so viel zu sagen gab, dass so vieles derart dringend
war und sogleich gesagt werden musste? Wo ich auch ging und
stand, kam mir jemand entgegen, der in ein Telefon sprach,
und hinter mir war ebenfalls jemand, der telefonierte. In den
Wagen telefonierten die Fahrer. Wenn ich mir ein Taxi nahm,
hing der Chauffeur am Telefon. Als ein Mensch, der oft tage-
lang mit niemandem sprach, fragte ich mich, was es gewesen
sein mochte, das die Leute zuvor aufrechterhalten hatte und
nun zusammengebrochen war, so dass sie lieber pausenlos in
ein Telefon sprachen, als unüberwacht und für den Augenblick
allein durch die Straßen zu gehen, die Umgebung mit ihren
animalischen Sinnen wahrzunehmen und die zahllosen
Gedanken zu denken, zu denen das Treiben in einer Stadt an-
regt. In meinen Augen ließ all dieses Telefonieren die Straßen
komisch und die Menschen lächerlich erscheinen, doch zu-
gleich war es wie eine wirkliche Tragödie. Wenn die Erfah-
rung des Getrenntseins ausgelöscht wird, muss das dramati-
sche Konsequenzen haben. Worin werden sie bestehen? Wenn
man weiß, dass man den anderen jederzeit erreichen kann, und
ihn dann doch nicht erreicht, wird man ungeduldig – unge-
duldig und wütend wie ein dummer kleiner Gott. Ich hatte
mich damit abgefunden, dass Stille schon längst aus Restau-
rants, Aufzügen und Baseballstadien verschwunden war – aber
dass die ungeheure Einsamkeit der Menschen diese gren-
zenlose Sehnsucht erzeugte, gehört zu werden, gepaart mit der
Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, dass alles, was man
sagte, unentwegt belauscht wurde ... Nun, ich hatte den
größten Teil meines Lebens in einer Zeit zugebracht, in der es
Telefonzeilen gab, deren Türen man schließen konnte, und
war beeindruckt von der Öffentlichkeit, in der diese Tele-
fongespräche stattfanden. Mir kam die Idee zu einer Ge-
schichte, in der Manhattan sich in ein sinistres Gemeinwe-
sen verwandelt hat, in dem jeder den anderen bespitzelt, in
dem jeder von dem Menschen am anderen Ende der Verbin-
dung aufgespürt werden kann, in dem jeder ständig irgend-
welche anderen Leute anruft, ganz gleich, wo er sich gerade
befindet, und in dem all diese Telefonierer glauben, ein
Höchstmaß an Freiheit zu genießen. Ich wusste, dass ich mich,
indem ich mir ein solches Szenario ausmalte, zu einem jener
verschrobenen Menschen machte, die seit den Anfängen der
Industrialisierung überzeugt waren, Maschinen seien le-
bensfeindlich. Dennoch konnte ich nicht anders: Ich verstand
nicht, wie irgend jemand glauben konnte, er lebe ein men-
schenwürdiges Leben, wenn er die Hälfte seiner Wachzeit
damit verbrachte, herumzulaufen und in ein Telefon zu spre-
chen. Nein, diese Apparate waren der Reflexion und Selbst-
besinnung wohl kaum förderlich.
Und außerdem fielen mir die jungen Frauen auf. Es war
unvermeidlich. In New York war es noch immer warm, und die
Frauen waren auf eine Weise gekleidet, die ich nicht igno-
rieren konnte, sosehr ich mich auch dagegen wehrte, von
ebenjenen Begierden erregt zu werden, die ich durch mein
Leben in der Abgeschiedenheit eines Naturschutzgebietes
bewusst zum Schweigen gebracht hatte. Von meinen Ausflü-
gen nach Athena wusste ich, wie viel College-Studentinnen
von sich zeigten, ohne Scham oder Angst zu empfinden, doch
so recht verblüfft war ich erst, als ich in die Großstadt kam, wo
die Zahl der Frauen verfielfacht und die Altersspanne größer
war und ich neiderfüllt begriff, dass die Frauen, die sich so
kleideten, nicht bloß betrachtet werden wollten, nein, diese
provokative Zurschaustellung war der Beginn der Entschleie-
rung. Aber vielleicht empfand das auch nur jemand wie ich.
Vielleicht verstand ich das alles ganz falsch, vielleicht war dies
eben die Art, wie man sich jetzt kleidete, wie T-Shirts jetzt
aussahen, wie die Kleider für Frauen jetzt geschnitten waren,
und vielleicht waren die Frauen, die in engen Blusen und
knappen Shorts und mit nackten Bauchen herumliefen und
den Eindruck erweckten, als waren sie zu haben, in Wirklich-
keit gar nicht zu haben – und zwar nicht bloß für mich nicht.
Doch Jamie Logan war es, die mich am meisten verwirrte.
Seit Jahren, möglicherweise seit jenem Tag, an dem ich ihr im
Speisesaal einer Studentenvereinigung in Harvard gegenüber-
gesessen hatte, war ich einer so unwiderstehlichen jungen Frau
nicht mehr so nah gewesen. Und erst als wir den Woh-
nungstausch vereinbart hatten und ich wieder in meinem Ho-
telzimmer war und mich bei dem Gedanken ertappte, wie
schön es doch wäre, wenn es nicht zu diesem Tausch käme –
wenn Billy Davidoff dort bliebe, wo er bleiben wollte, näm-
lich in der Wohnung gegenüber der lutherischen Kirche in der
West 7ist Street, während Jamie ihrer Angst vor einem terro-
ristischen Gewaltakt entfliehen und mich in die friedlichen
Berkshires begleiten würde –, wurde mir bewusst, wie sehr sie
mich verwirrt hatte. Sie übte eine gewaltige Anziehungskraft
auf mich aus, auf den Geist meines Begehrens. Diese Frau war
in mir gewesen, bevor sie überhaupt in mein Leben getreten
war.
Der Urologe, der den Krebs diagnostiziert hatte, als ich
zweiundsechzig gewesen war, hatte bedauernd gesagt: »Ich
weiß, dass es kein Trost ist, aber Sie sind nicht der einzige –
diese Krankheit hat in Amerika epidemische Züge angenom-
men. Viele andere kämpfen denselben Kampf wie Sie. In
Ihrem Fall ist es besonders schade, dass ich die Diagnose jetzt
und nicht in zehn Jahren stellen musste« – womit er meinte,
dass die Impotenz infolge der Entfernung der Prostata zehn
Jahre später vielleicht einen kleineren Verlust bedeutet hätte.
Und so hatte ich mich darangemacht, diesen Verlust so klein
wie möglich zu halten, indem ich mich bemühte, so zu tun,
als hatte das Begehren auf natürliche Weise nachgelassen – bis
zu dem Tag, an dem ich kaum eine Stunde lang in Gesellschaft
einer schönen, privilegierten, intelligenten, selbstbewussten,
lässig wirkenden, in ihrer Angst verführerisch verletzlichen
Dreißigjährigen war und die bittere Hilflosigkeit eines der
Lächerlichkeit preisgegebenen alten Mannes empfand, der
nichts so sehr ersehnte, wie wieder vollständig zu sein.
2 Gebannt

AUF DEM WEG VON MEINEM HOTEL zur West 71th Street
ging ich in ein Spirituosengeschäft und kaufte zwei Flaschen
Wein für meine Gastgeber, dann setzte ich meinen Weg fort,
um mir das Ergebnis dieses Wahlkampfs anzusehen, von dem
ich, zum erstenmal seit 1940, als Willkie von Roosevelt ge-
schlagen worden war und ich begonnen hatte, Wahlkämpfe zu
verfolgen, so gut wie nichts wusste.
Ich war mein Leben lang ein eifriger Wähler gewesen, der
den Republikanern niemals eine Stimme gegeben hatte. Als
Student hatte ich für Stevenson geworben, und meine jugend-
lichen Erwartungen hatten schwere Rückschläge erlitten, als
Eisenhower ihn 52 und 56 vernichtend geschlagen hatte; und
ich hatte meinen Augen nicht trauen wollen, als ich sah, dass
ein so durch und durch pathologischer, offensichtlich betrü-
gerischer und bösartiger Mensch wie Nixon 1968 Humphrey
besiegte und dass in den achtziger Jahren ein von sich selbst
eingenommener Holzkopf von unübertrefflicher Hohlheit,
dessen abgedroschene Phrasen und absolute Blindheit für alle
komplexen historischen Zusammenhänge zum Gegenstand
nationaler Verehrung wurden, als »großer Kommunikator«
gefeiert wurde und bei beiden Wahlen Erdrutschsiege ein-
fuhr. Und gab es je einen Wahlkampf wie den von Gore gegen
Bush, der auf so niederträchtige Weise entschieden wurde, auf
eine Art, die perfekt geeignet war, die letzten verschämten
Reste der Naivität gesetzestreuer Bürger zu beseitigen? Ich
hatte mich kaum je aus parteipolitischen Kämpfen herausge-
halten, doch nachdem ich beinahe ein Dreivierteljahrhundert
lang von amerikanischer Politik in Bann geschlagen worden
war, hatte ich nun beschlossen, mich nicht mehr alle vier
Jahre von den Gefühlen eines Kindes überwältigen zu las-
sen – von den Gefühlen eines Kindes und dem Schmerz eines
Erwachsenen. Jedenfalls nicht, solange ich mich in meinem
Häuschen vergraben konnte, wo es mir gelang, in Amerika zu
sein, ohne mich von Amerika vereinnahmen zu lassen. Ich
schrieb Bücher und befasste mich noch einmal, ein letztes
Mal, mit den ersten großen Schriftstellern, die ich gelesen
hatte – der ganze Rest, der einst so wichtig gewesen war, hatte
seine Bedeutung vollkommen verloren, und ich hatte gut die
Hälfte, wenn nicht sogar mehr, der politischen Werte und
Ziele, die mein Leben bestimmt hatten, über Bord geworfen.
Nach dem 11. September hatte ich all den Widersprüchen den
Rücken gekehrt. Denn sonst, hatte ich mir gesagt, wirst du der
typische verrückte Leserbriefschreiber, der Dorfnörgler, an
dem sich das Syndrom in seiner ganzen Lächerlichkeit
manifestiert: Du wirst beim Lesen der Zeitung schäumen und
wüten, du wirst dich, wenn du abends mit Freunden telefo-
nierst, lautstark über das bösartige Profitdenken ereifern, für
das der authentische Patriotismus der verwundeten Nation
von einem schwachköpfigen König ausgenutzt werden wird –
und das in einer Republik: ein König in einem freien Land,
trotz all der Slogans von Freiheit, mit denen amerikanische
Kinder aufwachsen. Die gnadenlose Verachtung, die einen
gewissenhaften Bürger in der Zeit von George W. Bushs Prä-
sidentschaft auszeichnete, war nichts für jemanden, der ein
starkes Interesse daran entwickelt hatte, als einigermaßen
gelassener Mensch zu überleben – und so begann ich, den
beständigen Wunsch, etwas herauszufinden, nach und nach
abzutöten. Ich kündigte Zeitschriftenabonnements, hörte auf,
die Times zu lesen, und kaufte nicht einmal mehr hin und
wieder eine Ausgabe des Boston Globe, wenn ich hinunter zum
Lebensmittelgeschäft fuhr. Die einzige Zeitung, die ich
regelmäßig las, war der Berkshire Eagle, eine lokale Wochen-
zeitung. Im Fernsehen sah ich mir nur Baseballspiele an, im
Radio hörte ich lediglich Musik, und damit hatte es sich.
Zu meiner Überraschung brauchte ich bloß einige Wo-
chen, um mit der eingefleischten Gewohnheit zu brechen, die
den größten Teil meines nicht auf das Schreiben gerichteten
Denkens geprägt hatte, und mich ganz und gar wohl dabei zu
fühlen, dass ich nicht wusste, was in der Welt geschah. Ich
hatte mein Land aus meinen Gedanken ausgeschlossen und
war meinerseits von allen erotischen Kontakten mit Frauen
ausgeschlossen – infolge einer Kriegsneurose verloren für die
Welt der Liebe. Ich hatte einen Verweis erteilt. Ich hatte mein
Leben und meine Zeit hinter mir gelassen. Oder konzentrierte
mich vielleicht nur auf das Wesentliche. Mein Häuschen hätte
ebensogut auf hoher See dahintreiben können, anstatt in
vierhundert Meter Hohe an einem Feldweg in Massachusetts
zu stehen, eine dreistündige Autofahrt westlich von Boston
und etwa ebensoweit nördlich von New York.

Als ich eintraf, war der Fernseher eingeschaltet, und Billy ver-
sicherte mir, die Wahl sei gelaufen – er stehe in Kontakt mit
einem Freund im Hauptquartier der Demokratischen Partei,
und deren Umfragen zeigten, dass Kerry all die Bundesstaa-
ten gewonnen habe, die er brauche. Billy nahm dankend den
Wein entgegen und sagte, Jamie sei ausgegangen, um etwas zu
essen zu kaufen, und werde gleich wieder zurück sein. Wieder
war er überschwenglich liebenswürdig und verströmte eine
joviale Sanftheit, als läge Autorität ihm noch fern, als würde
sie ihm vielleicht immer fernliegen. Ist er ein Relikt, dachte
ich, oder gibt es sie noch immer, diese jüdischen Jungen aus
der Mittelschicht, durchdrungen von der familientypischen
Empathie, die einen, trotz der unvergleichlichen Befriedi-
gung, die sie durch ihre Geborgenheit vermittelt, den Boshei-
ten seitens weniger freundlicher Menschen schutzlos auslie-
fert? Besonders im literarischen Milieu von Manhattan hätte
ich etwas anderes erwartet als diese von Sanftheit erfüllten
braunen Augen und die vollen, engelsgleichen Wangen, die
ihn zwar nicht wie einen behüteten kleinen Jungen, aber doch
wie einen großzügigen jungen Mann wirken ließen, gänzlich
außerstande, zu verletzen oder verächtlich zu lachen oder
auch nur die kleinste Verantwortung abzulehnen. Ich nahm
an, dass Jamie jemand war, dem die nette Selbstlosigkeit
dieses Mannes, dessen Worte und Gesten ausnahmslos von
seinem Anstand kündeten, nicht annähernd gewachsen war.
Die vertrauensvolle Unschuld, die Milde, das mitfühlende
Verständnis – was für eine Einladung an einen Schurken, der
es darauf anlegte, die Frau zu verführen, deren Untreue für
diesen Mann unvorstellbar war.
Das Telefon läutete, als Billy im Begriff war, eine der
Weinflaschen zu öffnen, und er reichte sie mir, damit ich sie
entkorkte, während er zum Hörer griff und fragte: »Was
s Neues?« Nach einer Sekunde sah er mich an und sagte:
»New Hampshire ist sicher.« Und dann, an den Freund am an-
deren Ende der Leitung gerichtet: »Und Washington, D.C.?«
s acht zu eins für Kerry. Das ist
die Entscheidung – die Schwarzen sind massenhaft zur Wahl
gegangen. Okay, sehr gut«, sagte Billy in den Hörer und
wandte sich, nachdem er aufgelegt hatte, strahlend mir zu.
»Wir leben also doch in einer liberalen Demokratie.« Und
damit wir auf die zunehmende freudige Erregung anstoßen
konnten, schenkte er zwei große Gläser Wein ein. »Diese
Kerle hätten das Land zugrunde gerichtet«, sagte er, »wenn sie
ein zweites Mal gewonnen hätten. Wir hatten ja schon
s überlebt, aber der hier
schlägt alles. Ernsthafte kognitive Defizite. Dogmatisch. Ein
unglaublich beschränkter Dummkopf, der im Begriff war,
etwas sehr Großes zu zerstören. In Macbeth gibt es eine Zeile,
die ihn perfekt beschreibt. Wir lesen uns laut vor, Jamie und
ich. Im Augenblick die Tragödien. Die Stelle ist im dritten Akt,
in der Szene mit Hekate und den Hexen. ›Ein verkehrter
Sohn‹, sagt Hekate, ›trotzig und voll Übermut.‹ Das ist George
Bush in sieben Worten. Es ist alles so ekelhaft. Wenn Sie für
Ihre Kinder und für Gott sind, müssen Sie die Republikaner
wählen – dabei sind diejenigen, die am meisten verarscht
werden, genau diejenigen, die ihn unterstützen. Es ist schon
erstaunlich, dass diese Leute es bei der letzten Wahl geschafft
haben. Und entsetzlich, sich auszumalen, was sie in einer
zweiten Amtszeit gemacht hätten. Das sind schreckliche, böse
Menschen. Aber ihre Arroganz und ihre Lügen haben sie
schließlich doch zu Fall gebracht.«
Mir gingen eigene Gedanken durch den Kopf, und ich ließ
ihn noch ein paar Minuten lang zusehen, wahrend die ersten
Ergebnisse eintrafen, bevor ich ihn fragte: »Wie haben Sie und
Jamie sich eigentlich kennengelernt?«
»Wie durch ein Wunder.«
»Sie haben zusammen studiert.«
Er lächelte überaus freundlich, während er doch, angesichts
meiner Gedanken, besser daran getan hätte, den Dolch zu
zücken, der Duncans Schicksal besiegelte. »Das macht das
Wunder nicht kleiner«, sagte er.
Ich erkannte, dass ich mich nicht aus Angst vor Entdek-
kung zu zügeln brauchte. Offenbar vermochte Billy sich
nicht einmal ansatzweise vorzustehen, dass ein Mann meines
Alters ihn nach seiner jungen Frau fragte, weil er an nichts
anderes mehr denken konnte. Mein Alter führte ihn in die Irre,
und meine Berühmtheit ebenfalls. Wie könnte er einem
Schriftsteller, dessen Werke er in der Highschool gelesen
hatte, so überaus niedrige Beweggründe unterstellen? Es war,
als säße ihm Henry Wadsworth Longfellow gegenüber. Wie
konnte der Verfasser von »Das Lied von Hiawatha« ein un-
züchtiges Interesse an Jamie haben?
Vorsichtshalber galt meine nächste Frage seiner Person.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Familie«, sagte ich.
»Tja, ich bin der einzige in meiner Familie, der liest, aber das
heißt nichts; es sind gute Menschen. Seit inzwischen vier
Generationen in Philadelphia. Mein Urgroßvater hat das Fa-
milienunternehmen gegründet. Er stammte aus Odessa und
hieß Sam. Seine Kunden nannten ihn Onkel Sam, den Regen-
schirmmann. Er hat Schirme hergestellt und repariert. Mein
Großvater hat ins Koffergeschäft expandiert. In den zehner
und zwanziger Jahren fuhr alle Welt mit der Eisenbahn, und
plötzlich brauchte jeder einen Koffer. Und es gab Schiffs-
reisen, transatlantische Schiffsreisen. Es war die Zeit der
Schrankkoffer – Sie wissen schon, diese großen, schweren
Dinger, die man auf lange Reisen mitnahm und wie einen
Schrank öffnete, mit Schubladen und Kleiderbügeln.«
»Ja, die kenne ich«, sagte ich. »Und auch die kleineren, die
horizontal aufgeklappt wurden wie schwarze Piratentruhen. So
einen hatte ich, als ich aufs College ging. Fast jeder hatte so
einen. Diese Koffer waren aus Holz und hatten an den Ecken
Metallbeschläge, und die teureren hatten Bänder aus verzier-
tem Metall, und die Schlösser waren aus Messing und derart
solide, dass sie ein Erdbeben überstanden hätten. So einen
Koffer schickte man per Bahnexpress. Man fuhr damit zum
Bahnhof und gab ihn am Gepäckschalter ab. Der Mann in der
Penn Station in Newark trug damals noch einen grünen Au-
genschirm und hatte sich seinen Bleistift hinters Ohr ge-
klemmt. Er wog den Koffer, denn die Gebühr wurde nach
Gewicht berechnet, und dann gingen die Unterhosen und
Socken auf die Reise.«
»Ja, und in jeder Stadt gab es ein Koffergeschäft, und in
den Warenhäusern gab es Abteilungen, wo man Gepäck-
stücke kaufen konnte. Erst die Stewardessen haben die Ein-
stellung der Amerikaner zu ihrem Gepäck verändert«, sagte
Billy. »Das war in den fünfziger Jahren. Auf einmal sah man,
dass Koffer leicht und chic sein konnten. Ungefähr zu der
Zeit stieg mein Vater ins Geschäft ein, modernisierte den
Laden und änderte den Namen in ›Davidoffs elegantes Ge-
päcks Bis dahin hatte die Firma ›Samuel Davidoff und
Söhne‹ geheißen. Damals kamen auch die ersten Koffer mit
Rädern auf – und das ist, stark gekürzt, die Geschichte der
Gepäckbranche. Die vollständige Version umfasst etwa tau-
send Seiten.«
»Sie schreiben die Geschichte des Familiengeschäfts?«
Er nickte, er zuckte mit den Schultern, er seufzte. »Und
der Familie. Jedenfalls versuche ich es. Ich bin ja sozusagen im
Laden aufgewachsen. Ich habe von meinem Großvater tausend
Geschichten gehört. Jedesmal, wenn ich ihn besuche, schreibe
ich wieder ein Notizbuch voll. Ich hab genug Geschichten für
ein ganzes Leben. Aber e s? Ich
meine, wie man sie erzählt.«
»Und Jamie? Wie ist sie aufgewachsen?«
Er begann zu erzählen, wobei er sich lang und breit über
ihre Leistungen ausließ: von Kinkaid, der exklusiven Privat-
schule in Houston, die sie als Jahrgangs beste abgeschlossen
hatte, von ihrer steilen akademischen Karriere in Harvard, wo
sie den Abschluss mit summa cum laude gemacht hatte, von
River Oaks, dem vornehmen Viertel von Houston, wo ihre
Familie lebte, vom Houston Country Club, wo sie Tennis ge-
spielt hatte und geschwommen und gegen ihren Willen beim
Debütantinnenball in die Gesellschaft eingeführt worden war,
von ihrer spießigen Mutter, der sie es so gern recht machen
wollte, und ihrem schwierigen Vater, dem sie es nie recht
machen konnte, von ihren Lieblingsplätzen, die sie Billy ge-
zeigt hatte, als sie zum ersten Mal gemeinsam nach Houston
gefahren waren, um mit der Familie Weihnachten zu feiern,
von den Orten, wo sie als kleines Mädchen gespielt hatte und
die er hatte sehen wollen, und von der bedrohlichen Schönheit
der hässlichen Bayous, der Altwasser von Houston, bei Son-
nenaufgang und wie Jamie mit ihrer wilden älteren Schwester,
die, wie er sagte, das Wort wie die alten Einwohner von Hou-
ston »Buy-ohs« aussprach, trotzig in dem trüben Wasser ge-
schwommen war.
Ich hatte ihn lediglich gebeten, mir von ihr zu erzählen,
doch was ich bekommen hatte, war eine Rede, die zur feier-
lichen Einweihung eines großen Gebäudes gepasst hätte. An
dieser ausgeprägt zärtlichen Darbietung war nichts Sonder-
bares – ein bis über beide Ohren verliebter Mann kann, wenn
die Frau seines Herzens in Buffalo aufgewachsen ist, diesen
Ort in ein Xanadu verwandeln –, doch die Begeisterung für
Jamie und ihre Kindheit in Texas war derart ungebremst, dass
es war, als erzählte er mir von einer Frau, die er sich im Ge-
fängnis erträumt hatte. Oder von der Jamie, die ich mir im
Gefängnis erträumt hatte. Es war so, wie es bei vollendeter
männlicher Hingabe zu sein hatte: Die Verehrung für seine
Frau war seine stärkste Bindung an das Leben.
Als er mir von der Strecke erzählte, die sie gemeinsam
joggten, wenn sie Jamies Familie besuchten, wurde er regel-
recht elegisch:
»River Oaks – das ist das Viertel, in dem Jamies Eltern
wohnen – ist völlig untypisch für Houston. Ein altes Viertel
mit alten Häusern, obwohl auch ein paar schöne abgerissen
worden sind, um Platz für Fertighäuser zu machen. Es ist
eines der wenigen Viertel in Houston, wo man noch ein Ge-
fühl für die Vergangenheit hat. Schöne Häuser, alte Eichen,
Magnolien, ein paar Kiefern. Riesige, gutgepflegte Gärten.
Gärtnerkolonnen. Alles Mexikaner. Donnerstags und freitags
stehen an den Straßen dicht an dicht die Pick-ups der
Gartenbaufirmen, und Armeen von Arbeitern schneiden und
schnippeln und mähen und pflanzen für das Wochenende, für
die Partys und Feiern, die dann stattfinden. Wir joggen immer
durch den älteren Teil von River Oaks, wo die Ölfamilien seit
zwei, drei Generationen ihre riesigen Grundstücke haben, an
den älteren Häusern vorbei und an einer ziemlich befahrenen
Straße entlang, und dann kommen wir an ein Altwasser, das
von River Oaks durch einen Park verläuft, in dem man kilo-
meterlang bis fast zur Innenstadt joggen kann. Oder am
Bayou entlang und wieder zurück. Kurz nach Sonnenaufgang
ist es noch kühl, und die Gegend ist wunderschön. Der ru-
hige, diskrete Teil von River Oaks, wo die Leute nicht mit
ihrem Reichtum angeben und ihre vielen Mercedes-Limousi-
nen vor ihren neuen, protzigen Häusern parken, ist wirklich
schön. Es gibt dort einen Rosengarten, der uns besonders ge-
fällt und um den die Anwohner sich gemeinschaftlich küm-
mern. Ich liebe es, morgens mit Jamie an diesem Rosengarten
vorbeizujoggen. Einige der alten Anwesen grenzen an das
Wasser, und wenn man zum Bayou will, um daran entlangzu-
laufen, muss man River Oaks verlassen. Und dann ist da noch
der Rest von Houston. River Oaks ist eine Insel, ein wohlha-
bender Rückzugsort, wo sich gleich zu gleich gesellt, das alte
Geld und das neue Geld, die Familien an der Spitze des Ka-
stensystems von Houston, und der Rest der Stadt ist größten-
teils bloß heiß und feucht und flach und hässlich: Tätowier-
studios neben Bürohäusern, Geschäfte für Joggingschuhe
neben baufälligen Mietskasernen, alles irgendwie zusammen-
gewürfelt. Das Schönste in der Stadt ist in meinen Augen der
alte Friedhof mit den alten immergrünen Eichen, wo ein paar
von Jamies Vorfahren beerdigt sind, gleich neben den Bayous,
beinahe in der Innenstadt.«
»Ist das Geld in Jamies Familie alt oder neu?« fragte ich
Billy.
»Alt. Das alte Geld kommt aus dem Ölgeschäft, das neue
aus selbständiger Arbeit.«
»Und wie alt ist das alte Geld?«
»Ach, nicht so alt, denn Houston ist relativ jung. Es
stammt aus der Zeit der Ölmagnaten, wann immer das war.
Jamies Großvater war einer von ihnen.«
»Und wie reagierte das alte Houstoner Geld auf die Tatsa-
che, dass Sie Jude sind?« fragte ich.
»Ihre Eltern waren nicht begeistert. Die Mutter hat nur
geweint. Aber der Vater hat den Vogel abgeschossen. Als
Jamie sie besuchte und ihnen sagte, dass wir uns verlobt hät-
ten, stützte er den Kopf in die Hände, und das tat er von da
an jedesmal, wenn mein Name fiel. Sie schrieb ihm E-Mails
von der Ostküste, die er drei, vier Wochen lang nicht be-
antwortete, mit voller Absicht. Sie sah einmal pro Stunde
nach, aber er antwortete ihr nicht. Ein wirklich fieser Tyrann,
dieser Typ. Die Karikatur eines Vaters. Egoistisch. Gedan-
kenlos. Cholerisch. Vollkommen irrational. Dominierend.
Giftig. Ein durch und durch widerwärtiger, ungehobelter
Scheißkerl. Das muss man sich vorstellen: Indem er ihr nicht
antwortet, versucht er, seine eigene Tochter zu brechen, nutzt
bewusst und mit voller Überzeugung den Anstand seiner
Tochter aus, um ihr das Gefühl zu geben, im Unrecht zu sein.
Will sie kleinkriegen. Und mich natürlich auch. Wir waren
einander noch gar nicht begegnet, und doch wollte er mir weh
tun. Und wer hätte mir je absichtlich weh tun wollen? Meines
Wissens niemand, Mr. Zuckerman. Aber dieser brutale Kerl
glaubt, völlig selbstverständlich das Recht zu haben, dem
Mann weh tun zu dürfen, den seine Tochter zufällig liebt!
Jamie ist eine gute Tochter, eine sehr gute Tochter – sie hat
sich alle Mühe gegeben, diesen Menschen zu lieben, der im-
mer im Unrecht war, sie hat sich bemüht, sosehr sie nur
konnte, obwohl sie es gehasst hat, wie er ihre Mutter herum-
kommandiert hat, obwohl ihr seine politischen Ansichten
und seine arroganten rechten Freunde zuwider waren. Ein-
mal hat er ihr nach dreiwöchigem Schweigen eine E-Mail ge-
schickt, die nur aus einem Satz bestand: ›Ich liebe dich, mein
Schatz, aber ich kann diesen Mann nicht akzeptieren.‹ Aber
Jamie hat Mumm, sie hat Mumm und Würde, und obwohl ihr
Alter auf dem Geldsack saß und – nicht mal besonders zart –
angedeutet hatte, dass er ihr, sollte sie tatsächlich einen Juden
heiraten, den Hahn zudrehen würde, hat sie nicht nachgege-
ben. Sie hat durchgehalten, und schließlich stand dieses bi-
gotte Arschloch vor der Wahl, entweder seine Feindseligkeit
hinunterzuschlucken und sich mit mir abzufinden oder sein
geliebtes Summa-cum-laude-Töchterchen zu verlieren. Eine
schwächere Fünfundzwanzigjährige, eine, die nicht Jamies Mut
und Selbständigkeit besitzt, hätte kapituliert. Aber Jamie ist
nicht schwach. Jamie ist nicht verzogen, sie verstellt sich nicht,
sie hat Ehrgefühl und würde sich nie und nimmer in etwas
fügen, was ihr gegen den Strich geht. Jamie ist die Beste. Sie
hat zu mir gesagt: ›Ich liebe dich, und ich will dich, und ich
werde nicht die Sklavin seines Geldes sein.‹ Sie hat ihm
praktisch gesagt, er soll sein Geld nehmen und es sich sonst-
wohin schieben, und so hat sie schließlich ihn kleingekriegt.
Ach, Mr. Zuckerman, es war so schon zu sehen, wie Jamie
durchgehalten hat. Obwohl man hätte meinen sollen, dass ihr
Vater sich bis zu dem Zeitpunkt, als sie mich kennengelernt
hat, daran gewöhnt haben sollte. Mit ›daran‹ meine ich Jamie
und Juden. Der Country Club dort unten nimmt inzwischen
auch Juden auf. Zu Zeiten ihres Großvaters wäre das undenk-
bar gewesen, auch vor fünfzehn Jahren noch, in der Generation
ihrer Eltern. Das ist alles noch ziemlich neu. Dass Juden
und Schwarze in Kinkaid aufgenommen werden. Alles noch
relativneu. Jamies Klassenkameradinnen waren jüdische Mäd-
chen. Sie können sich vorstellen, was dieser Choleriker davon
hielt. Aber sie waren intelligent und talentiert und versuchten
nicht, das zu verbergen, nur um sich beliebt zu machen. Eine
von Jamies Freundinnen hatte einen Bruder – Nelson Speil-
s School besuchte, die andere renom-
mierte Privatschule in Houston –, und der war zwei Jahre lang
ihr Freund, bis er, in dem Jahr bevor sie in Kinkaid ihren Ab-
schluss machte, nach Princeton ging. Jamie war eine sehr flei-
ßige Schülerin in einem behüteten Umfeld, wo gesellschaft-
liche Anerkennung das Allerwichtigste ist. Es ist eine Schule,
wo die Footballmannschaft die Schönheitskönigin für die all-
jährliche Versammlung der Ehemaligen wählt und sich kein
Mädchen mit einem Jungen sehen lassen darf, der auf eine
staatliche Schule geht – s
sein. Die Jungen auf der Kinkaid fahren Broncos und gehen auf
die Jagd und sehen sich Sportsendungen an, alle wollen auf
die University of Texas und trinken wie verrückt, und die
Eltern drücken bei diesen Besäufnissen beide Augen zu.«
»Sie wissen eine Menge über ihre Schule. Sie wissen auch
eine Menge über ihre Heimatstadt.«
»Ich bin fasziniert«, sagte er und lachte. »Bin ich wirklich.
Ich bin Jamies Herkunft hilflos ausgeliefert.«
»Und mit anderen Freundinnen, die Sie früher hatten, ist
Ihnen das nicht passiert?«
»Nein, nie.«
»Tja«, sagte ich, »als Heiratsgrund ist das wahrscheinlich
nicht der schlechteste.«
»Ach«, sagte er scherzend, »es gibt schon noch ein paar
andere.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich.
»Ich bin die ganze Zeit stolz auf sie. Wissen Sie, was sie
vor vier Jahren gemacht hat, als Jessie, die wilde ältere Schwe-
ster, im Endstadium der Charcot-Krankheit war? Sie hat ihre
Sachen gepackt, ist nach Houston geflogen und hat Jessie bis
zu ihrem Tod gepflegt. Ist fünf schreckliche, elende Monate
Tag und Nacht bei ihr gewesen, während ich hier in New
York war. Es ist eine furchtbare Krankheit. Normalerweise
kriegt man sie erst mit über fünfzig, aber Jessie war erst drei-
ßig, als ihre Hände und Füße plötzlich schwächer wurden
und die Diagnose gestellt wurde. Im Verlauf der Krankheit
werden alle motorischen Nervenbahnen zerstört, aber weil das
Gehirn davon ausgespart bleibt, ist der Patient sich der
Tatsache, dass er ein lebender Leichnam ist, vollkommen be-
wusst. Als es zu Ende ging, konnte Jessie nur noch die Lider
bewegen, und so hat sie dann mit Jamie kommuniziert: durch
Zwinkern. Fünf Monate lang ist Jamie nicht von ihrer Seite
gewichen. Nachts hat sie in Jessies Zimmer geschlafen. Die
Mutter war schon kurz nach der Diagnose zusammengebro-
chen und zu nichts zu gebrauchen, und der Vater blieb sich
von Anfang bis Ende treu: Er wollte nichts mit einer Tochter
zu tun haben, die ihm Ungclegenheiten bereitete, indem sie
eine tödliche Krankheit bekommen hatte. Er kümmerte sich
nicht um sie, und nach einer Weile wollte er nicht mal mehr
ihr Zimmer betreten, um sie mit väterlichen Worten zu trö-
sten, geschweige denn sie zu berühren oder ihr einen Kuss zu
geben. Er verdiente einfach weiter Geld, als wäre zu Hause al-
les in schönster Ordnung, während seine sechsundzwanzig-
jährige jüngere Tochter seiner vierunddreißigjährigen älteren
Tochter beim Sterben half. Aber an dem Abend, bevor das ge-
schah, an dem Abend, bevor Jessica schließlich ihrer Krankheit
erlag, saß er mit Jamie in der Küche, wo ein Dienstmädchen
ihnen etwas zu essen machte, und brach mit einemmal
zusammen. In der Küche brach er endlich zusammen und be-
gann zu weinen wie ein Kind. Er klammerte sich an Jamie, und
wissen Sie, was er zu ihr sagte? ›Wenn es doch mich treffen
würde anstatt Jessie!‹ Und wissen Sie, was Jamie ihm ge-
antwortet hat? ›Ja, wenn es doch dich treffen würde.‹ Das ist
die Frau, in die ich mich verliebt habe. Das ist die Frau, die ich
geheiratet habe. Das ist Jamie.«

Als Jamie mit den Tüten voller Lebensmittel durch die Tür
trat, sagte sie: »Auf der Straße hat mir jemand gesagt, dass
Ohio nicht so gut aussieht.«
»Ich hab gerade mit Nick gesprochen«, sagte Billy. »Kerry
wird Ohio gewinnen.«
Sie wandte sich zu mir. »Ich weiß nicht, was ich mache,
wenn Bush wiedergewählt wird. Es wäre das Ende einer
bestimmten Art von politischem Leben. Diese Leute richten
ihre ganze Intoleranz gegen eine liberale Gesellschaft. Die
Werte des Liberalismus werden weiter in ihr Gegenteil ver-
kehrt. Das wird schrecklich. Ich glaube nicht, dass ich damit
leben kann.«
Während sie dies atemlos sagte, hatte Billy ihr die Tüten
abgenommen und war in die Küche gegangen, um die Sachen
einzuräumen.
»Wir haben von unseren Vätern ein sehr anpassungsfähi-
ges System geerbt«, sagte ich. »Es ist erstaunlich, wieviel wir
verkraften.«
Sie schien meinen Versuch, sie zu trösten, herablassend zu
finden und reagierte auf diesen eingebildeten Affront
beinahe bissig. »Haben Sie jemals eine Wahl wie diese erlebt?
Eine von solcher Tragweite?«
»Ja, einige. Diesen Wahlkampf habe ich nicht verfolgt.«
»Nicht?«
»Das habe ich Ihnen neulich abend schon gesagt: Um solche
Dinge kümmere ich mich nicht.«
»Dann ist es Ihnen also egal, wer gewinnt.« Sie bedachte
mich mit einem strengen Blick der Missbilligung für meine
gewollte Unwissenheit.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Das sind schreckliche, böse Menschen«, sagte sie – die-
selben Worte, die ihr Mann benutzt hatte. »Ich kenne sie. Ich
bin unter ihnen aufgewachsen. Es wäre nicht bloß schade,
wenn sie gewinnen würden – es könnte sich als Tragödie er-
weisen. Die Hinwendung nach rechts, die dieses Land erlebt,
ist der Versuch, politische Institutionen durch Moral zu erset-
zen – durch ihre Moral. Sex und Gott. Fremdenfeindlichkeit.
Eine Kultur totaler Intoleranz ...«
Sie war zu erregt von der bedrohlichen Welt, in der sie
lebte, um sich zu bremsen oder mir gegenüber, aus welchem
Grund auch immer, wirklich höflich zu sein, und so hörte ich
ihr zu, ohne noch einmal den törichten Versuch zu unterneh-
men, mich auf die ritterliche Suche nach dem Heiligen Gral
ihrer Aufmerksamkeit zu machen. Der Anblick ihres schlan-
ken, vollbusigen Körpers und des Vorhangs aus schwarzem
Haar gefiel mir nicht weniger als an dem Abend, an dem ich
mir die Wohnung angesehen hatte. Als sie vom Einkaufen
nach Hause gekommen war, hatte sie ein weinrotes engge-
schnittenes Kordjackett getragen, das sie, wie ihre flachen
dunkelbraunen Stiefel, ausgezogen hatte, nachdem Billy mit
den Tüten in der Küche verschwunden war. Darunter trug sie
einen gerippten schwarzen Rollkragenpullover aus Kasch-
mirwolle, der so eng saß wie die dunklen Jeans, deren Beine
etwas ausgestellt waren, vermutlich wegen der Stiefel. Dann
hatte sie ein Paar flache Slipper angezogen, die wie Ballett-
schuhe aussahen. Obgleich ihre Berechnung subtil war,
wirkte Jamie nicht, als verfolgte sie mit der Art, wie sie sich
kleidete, unbedingt unschuldige Ziele oder als mangelte es ihr
an Vertrauen in ihr Vermögen, männliche Bewunderung zu
wecken. Kümmerte es sie einen Deut, ob ich so beeindruckt
war wie andere? Wenn nicht, warum hatte sie sich dann so
verführerisch gekleidet, da sie doch nur einkaufen und den
Ausgang der Wahl im Fernsehen verfolgen wollte? Vielleicht
hätte aber auch jeder andere unbekannte Gast sie bewo-
gen, etwas Attraktives anzuziehen. Wie auch immer, dem
Zauber ihrer Erscheinung entsprach der ihrer Stimme, die,
obwohl sie schnell sprach, warm und melodisch klang, selbst
wenn sie sich aufregte, und eine Menge Texas oder ihres
Teils von Texas enthielt: Die Vokale waren entspannt, die
Diphthonge klangen weich, und sie zog die Worte mit einer
gewissen Trägheit zusammen, so dass jedes sich mit dem
folgenden verband. Es war nicht jenes ins Ohr stechende Nä-
seln, nicht der Wildwest-Akzent, den George W Bush kulti-
vierte, sondern vielmehr die gehobene texanische Sprech-
weise, die mehr an die alten Südstaaten erinnerte und die sein
aus dem Norden stammender Vater sich zugelegt hatte. Es lag
eine gewisse Vornehmheit darin, ganz gewiss aus Jamie Lo-
gans Mund. Vielleicht war es einfach der Akzent, den man in
den besseren Vierteln von River Oaks und in der Kinkaid
School sprach.
Ich war ebenso froh wie Billy, dass sie nach Hause gekom-
men war. Es spielte keine Rolle, ob ihre Kleidung etwas mit
meinem Besuch zu tun hatte oder nicht. Die Entschiedenheit,
mit der sie keine weitere Notiz von mir nahm, hatte etwas
enorm Erregendes. Es gibt keine Situation, aus der Vernarrt-
heit keinen Gewinn zieht. Bei Jamies Anblick durchfuhr
mich ein Ruck – ich ließ sie in meine Augen ein, wie ein
Schwertschlucker ein Schwert schluckt.
»Du wirst nicht am Boden zerstört sein. Du wirst auf den
Straßen tanzen«, sagte Billy, als wollte er ein krankes Kind
trösten.
»Nein«, erwiderte sie, »nein, dieses Land ist eine Zuflucht
der Unwissenheit. Ich muss es wissen – ich stamme von daher,
wo sie ihren Ursprung hat. Bush spricht genau den unwissen-
den Kern der Bevölkerung an. Amerika ist ein sehr rückstän-
diges Land, die Leute lassen sich so leicht an der Nase herum-
führen, und er ist genau wie ein Jahrmarktschreier ...« Sie hatte
wohl seit Monaten ihre düsteren, wütenden Gedanken laut
ausgesprochen und verstummte nun für einen Augenblick,
und ich fragte mich, ob sie jemand war, der gar nicht wusste,
wie man etwas unernst sagte, oder ob diese Wahl alles andere
überschattete und ich im Augenblick keine Vorstellung davon
haben konnte, wie Jamie war, wenn nichts sie bedrängte, und
ich fragte mich auch, ob ihre Reaktion auf die große Welt je
anders als schmerzlich intensiv war.
Wir setzten uns mit den Tellern, dem Besteck und den Lei-
nenservietten, die Billy ausgeteilt hatte, an den Couchtisch,
nahmen das Essen von den Servierplatten und ließen, wäh-
rend wir meine beiden mitgebrachten Flaschen Wein leerten,
den Bildschirm nicht aus den Augen, wo die ausgezählten
Ergebnisse Bundesstaat für Bundesstaat aufgelistet wurden.
Kurz nach zehn wurden Nicks Anrufe aus dem Hauptquar-
tier der Demokratischen Partei weniger optimistisch, und um
Viertel vor elf klang er offenbar regelrecht niedergeschlagen.
»Die Umfragen geben ein falsches Bild«, sagte Billy, nachdem
er aufgelegt hatte. »In Ohio sieht es nicht gut aus, und er wird
Iowa und New Mexico verlieren. Florida hat er schon
verloren.«
Das wussten wir bereits aus dem Fernsehen, doch Jamie
traute den Tabellen im Wahlstudio nicht, und so brachte erst
dieser Anruf sie, die schon ein wenig betrunken war, zum
Weinen. »Das ist jetzt also die Nacht, bevor alles noch schlim-
mer wird! Ich weiß nicht, was ich denken soll!« Und ich
dachte: Irgendwann wird sie kapitulieren, aber bis dahin wird
die große Schwierigkeit darin bestehen, die Illusionen zu
vertreiben. Bis dahin wird sie schmerzerfüllt um sich schla-
gen oder sich verstecken wie ein verletztes Tier. In meinem
Haus. In diesen Kleidern. In keinen Kleidern. In meinem
Bett, neben Billy, nackt.
»Ich weiß nicht, was ich denken soll!« rief sie abermals.
»Jetzt kann sie nichts mehr aufhalten, nur noch Al Qaida.«
»Schatz«, sagte Billy sanft, »wir wissen ja noch gar nicht,
s ab.«
»Ach, die Welt ist so dumm«, rief Jamie mit Tränen in den
Augen. »Letztes Mal sah es so aus, als wäre es einfach bloß
Pech gewesen. Da war Florida, und da war Nader. Aber das
s nicht glauben! Es ist
unglaublich! Ich werde eine Abtreibung machen lassen, egal,
ob ich schwanger bin oder nicht. Lasst abtreiben, solange ihr
noch dürft!«
Als sie diesen bitteren Witz machte, sah sie mich an, ohne
Antipathie jetzt – sie sah mich an wie jemanden, den man ge-
rade aus einem brennenden Haus oder einem Unfallwagen
gerettet hat, als wäre man als unbeteiligter Beobachter im-
stande, etwas zu sagen, was diese alles verändernde Kata-
strophe erklären könnte. Doch das, was mir einfiel, wäre ihr
wahrscheinlich nur wie Gewäsch erschienen. Ich dachte
daran, noch einmal zu sagen: Es ist erstaunlich, wieviel wir
verkraften. Ich dachte daran zu sagen: Wenn man in Amerika
so denkt wie Sie, wird man in neun von zehn Fällen scheitern.
Ich dachte daran zu sagen: Das ist schlimm, aber nicht so
schlimm, wie nach der Bombardierung von Pearl Harbor auf-
zuwachen. Es ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie am
Morgen nach Kennedys Ermordung aufzuwachen. Es ist
schlimm, aber nicht so schlimm, wie am Morgen nach der
Ermordung von Martin Luther King aufzuwachen. Es ist
schlimm, aber nicht so schlimm, wie am Morgen nach der Er-
schießung der Studenten an der Kent State University aufzu-
wachen. Ich dachte daran zu sagen: Wir alle haben so etwas
durchmachen müssen. Doch ich sagte nichts. Sie wollte ohne-
hin keine Worte. Sie wollte Mord. Sie wollte am Morgen nach
der Ermordung von George Bush aufwachen.
Es war Billy, der sagte: »Irgend etwas wird ihr Untergang
sein, Schatz. Terror wird ihr Untergang sein.«
»Ach, wozu damit leben?« sagte Jamie, und ihre Verzweif-
lung war so groß, ihre Verletzlichkeit lag so dicht unter der
Oberfläche, dass sie zu schluchzen begann.
Ihre beiden Handys begannen zu läuten: Grausam ent-
täuschte Freunde riefen an, viele von ihnen ebenfalls in Trä-
nen. Das letzte Mal hatte es, wie Jamie gesagt hatte, so aus-
gesehen, als wäre es einfach bloß Pech gewesen, doch dies war
der zweite schwere Wahlschock für ihren Idealismus, und nun
dämmerte ihnen die unbarmherzige Erkenntnis, dass sie dieses
Land nicht durch bloße Willenskraft in das Bollwerk eines
Rooseveltschen Liberalismus zurückverwandeln konnten, das
es vierzig Jahre vor ihrer Geburt gewesen war. Trotz ihrer
Intelligenz, ihrer Artikuliertheit, ihres Savoir-faire und jamies
Vertrautheit mit dem reichen republikanischen Amerika und
der Unwissenheit, wie man sie in Texas fand, hatten sie keine
Ahnung, welcher Art die Menschen waren, die die große Masse
der Amerikaner ausmachten, und ebensowenig war ihnen
zuvor so deutlich bewusst gewesen, dass es nicht die
Gebildeten wie sie selbst waren, die den Kurs des Landes
bestimmten, sondern die vielen Millionen, die anders waren
als sie, deren Lebenswelt sie nicht kannten und die Bush ein
zweites Mal Gelegenheit gegeben hatten, »etwas sehr Großes
zu zerstören«, wie Billy es ausgedrückt hatte.
Ich saß da, in meinem künftigen Zuhause, wo ich bald jeden
Morgen erwachen würde, und hörte den beiden zu, die bald
jeden Morgen in meinem Haus erwachen würden, einem Ort,
wo man, wenn man wollte, die Wut darüber, wieviel
schlimmer alles war, als man gedacht hatte, und den Kummer
darüber, wie tief das Land gesunken war, auslöschen und, so-
fern man jung, hoffnungsvoll, engagiert und noch immer in
seine Erwartungen verliebt war, lernen konnte, wie man auf-
hörte, sich über Amerika im Jahr 2004 Sorgen zu machen, wie
man lebte, anstatt ständig in Wut über Dummheit und Ver-
dorbenheit zu geraten, wo man lernen konnte, in Büchern,
Musik, seinem Partner, seinem Garten Erfüllung zu finden.
Ich sah diesen beiden zu und verstand ohne große Mühe,
warum Menschen in ihrem Alter und mit ihrem Engagement
vor diesem grausamen Liebhaber, in den ihr Land sich ver-
wandelt hatte, fliehen wollten.
»Terrorismus?« rief Jamie in ihr Telefon. »Aber alle Staa-
ten, die davon betroffen waren, alle Staaten, wo irgendwas
passiert ist oder wo Menschen lebten, die getötet worden
sind, haben für Kerry gestimmt! New York, New Jersey,
Washington, D.C., Maryland, Pennsylvania – keiner davon
ist an Bush gegangen! Sieh dir die Staaten östlich des Mis-
sissippi an – es sind die Nordstaaten gegen die Südstaaten.
Dieselbe Trennung. Bush hat in den alten Südstaaten ge-
wonnen!«
»Willst du wissen, wo der nächste ekelhafte Krieg stattfin-
den wird?« fragte Billy seinen Gesprächspartner. »Sie brau-
chen einen Sieg. Sie brauchen einen schönen, glatten Sieg
ohne irgendeine schmutzige Besatzung. Tja, und die Gele-
genheit dazu liegt hundertfünfzig Kilometer vor der Küste
von Florida. Sie werden Castro mit Al Qaida in Verbindung
bringen und Kuba den Krieg erklären. Die provisorische Re-
gierung sitzt ja schon in Miami. Die Besitz Verhältnisse sind
s ab. In ihrem
Krieg gegen die Ungläubigen kommt als nächstes Kuba dran.
Wer soll sie schon aufhalten? Sie brauchen Al Qaida ja nicht
s nur auf noch mehr Gewalt abgesehen, und
Kuba ist für sich schon kriminell genug. Die Leute, die ihn ge-
wählt haben, werden begeistert sein. Die letzten Kommunisten
werden ins Meer getrieben.«
Ich blieb lange genug, um noch zu hören, wie sie mit ihren
Eltern telefonierten. Sie waren inzwischen so erschöpft, dass
sie sich nur noch wünschten, sie hätten Eltern, bei denen sie
ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnten und getröstet
wurden. Sie waren pflichtbewusste Kinder, und als der Au-
genblick gekommen war, riefen sie an, wie es sich gehörte,
doch Jamies Eltern waren, wie ich von Billys Schilderung des
Houston, in dem Jamie aufgewachsen war, wusste, Mitglieder
im selben Country Club wie George Bush senior, und so be-
mühte Jamie sich umsonst, nicht zu vergessen, dass sie eine
verheiratete Frau war, die beinahe zweitausend Kilometer von
dem Ort entfernt lebte, wo sie als privilegiertes Mädchen von
erzkonservativen Texanern indoktriniert worden war, allen
voran von ihrem Vater, den sie vor allem wegen seiner
unerträglichen Gleichgültigkeit gegenüber ihrer sterbenden
Schwester verachtete und dem sie sich offen und hartnäckig
widersetzt hatte, indem sie gegen seinen Willen einen Juden
geheiratet und ihn herausgefordert hatte, sie zu enterben.
Sie war inzwischen weit mehr als eine schöne Frau, die Ich
betrachtete. Ihre Stimme verriet, wie mitgenommen sie war,
nicht zuletzt dadurch, dass ihre Eltern zu den Menschen ge-
hörten, die ihr liberales Gewissen nicht ertragen konnte, und
doch war sie ihre Tochter und hielt es offenbar für wichtig,
ihnen von ihrem Kummer zu erzählen. Jamies Stimme kündete
sowohl von der starken Verbindung zwischen ihr und ihren
Eltern als auch von ihrem heftigen Kampf dagegen. Man
konnte hören, was es sie gekostet hatte, sich zu einem neuen
Menschen zu machen, und was es ihr gebracht hatte.
Billys Eltern in Philadelphia waren ihm keineswegs ent-
fremdet, sie waren nicht seine Gegner oder Objekte seiner
Verachtung, sondern standen ihm offensichtlich sehr nahe.
Dennoch schüttelte er, als er den Hörer aufgelegt hatte, den
Kopf und musste sein halbvolles Glas Wein austrinken, bevor
er etwas sagen konnte. Sein sanftes Gesicht konnte über die
Ernüchterung und Erniedrigung nicht hinwegtäuschen, und
sein empfindsames Herz, das stets offen war für die Gefühle
anderer, ließ nicht zu, dass er seinem Widerwillen Luft
machte, was den Schmerz ein wenig gelindert hätte. Ein emp-
findsames Herz war nicht das, was dieser Augenblick erfor-
derte, und Billy war ratlos. »Mein Vater hat Bush gewählt«,
sagte er so entgeistert, als hätte er soeben erfahren, dass sein
Vater eine Bank ausgeraubt hatte. »Meine Mutter hat es mir
gesagt. Als ich sie fragte, warum, sagte sie: ›Israel.‹ Sie hatte
ihm eingeschärft, Kerry zu wählen, und dann kommt er aus
der Kabine und sagt: › s für Israel getan.‹ Meine Mut-
ter hat gesagt: ›Ich hätte ihn umbringen können. Er glaubt
noch immer, dass sie irgendwelche Massenvernichtungswaf-
fen finden.«

Als ich wieder im Hotel war, schrieb ich diese kleine Szene:

ER Sie haben mir gar nicht gesagt, dass wir uns schon mal be-
gegnet sind.
SIE Ich dachte, es wäre nicht weiter wichtig. Ich dachte, Sie
würden sich nicht erinnern.
ER Ich dachte, Sie würden sich nicht erinnern.
SIE Nein, ich erinnere mich.
ER Wissen Sie noch, wo das war?
SIE In der Signet Society.
ER Genau. Erinnern Sie sich an den Tag?
SIE Ja, sehr gut. Ich war Mitglied der Signet Society, aber ich
bin nicht oft zum Mittagessen dorthin gegangen. Eine
Freundin hatte mich angerufen und gesagt, sie hätte Sie für
den nächsten Tag zum Mittagessen eingeladen, aber sie
wüsste nicht, ob Sie erscheinen würden, obwohl Sie
zugesagt hätten, und ich sollte doch auch kommen. Also bin
ich hingegangen. Ich habe Richard mitgenommen, und
dann hatte ich das Glück, an Ihrem Tisch zu sitzen und
nicht an dem nebenan. Ich hab mich hingesetzt, und dann
kamen Sie und haben sich an den Tisch gesetzt, und ich
habe Sie während des ganzen Mittagessens angesehen.
ER Sie haben nichts gesagt, sondern mich nur angestarrt.
SIE (lacht entschuldigend) Tut mir leid, dass ich so aufdringlich
war.
ER Ich habe zurückgestarrt. Und zwar nicht nur in Selbstver-
teidigung. Erinnern Sie sich daran?
SIE Ich dachte, das hätte ich mir nur eingebildet. Ich konnte
nicht glauben, dass ich tatsächlich eine Reaktion hervor-
rufen würde. Ich konnte nicht glauben, dass Sie Notiz von
mir nehmen würden. Ich dachte, Sie wären unnahbar. Sie
erinnern sich wirklich, dass Sie mir gegenübersaßen?
ER Es ist ja erst zehn Jahre her.
SIE Zehn Jahre sind eine lange Zeit, um sich an jemanden zu
erinnern, mit dem man gar nicht gesprochen hat. Welchen
Eindruck habe ich auf Sie gemacht?
ER Ich wusste nicht, ob Sie schüchtern waren oder bloß eine
heiter-gelassene Zurückhaltung besaßen.
SIE Beides.
ER Waren Sie am Abend zuvor bei der Lesung?
SIE Ja. Ich weiß noch, dass wir uns nach dem Mittagessen auf
die Ledersofas im Wohnzimmer gesetzt haben. Ungefähr
die Hälfte von uns ist geblieben. Ich dachte: Was für eine
unangenehme Situation muss das für diesen Mann sein. Wir
alle drängen uns um ihn und warten darauf, dass er etwas
sagt, damit wir nach Hause gehen und es in unser Tagebuch
schreiben können.
ER Und sind Sie nach Hause gegangen und haben etwas in Ihr
Tagebuch geschrieben?
SIE Ich muss mal nachsehen. Das könnte ich tun. Wenn Sie
wollen, könnte ich nachsehen. Ich bewahre alle meine Ta-
gebücher auf. Wie fanden Sie damals diesen Tag?
ER Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn damals fand. Eine sol-
che Bitte war jedenfalls nichts Ungewöhnliches. Mei-
stens fragte man mich, ob ich eine Seminarsitzung leiten
würde. Das tat ich dann, und anschließend fuhr ich nach
Hause. Warum haben Sie es neulich, bei unserer Begeg-
nung, nicht erwähnt?
SIE Warum sollte ich erwähnen, dass ich Sie bei einem Mit-
tagessen angestarrt habe? Ich weiß nicht – ich wollte es
nicht geheimhalten. Wir tauschen die Wohnungen. Ich
habe keinen Grund gesehen, darüber zu sprechen, dass
ich im College mal in einem Hörsaal gesessen und Sie an-
gestarrt habe. Warum waren Sie damals einverstanden,
mit einem Haufen Studenten im Vorstudium zu Mittag zu
essen?
ER Wahrscheinlich habe ich gedacht, es könnte interessant
sein. Am Abend zuvor hatte ich nur eine Stunde ge-
lesen und ein paar Fragen beantwortet. Ich hatte nur die
Leute kennengelernt, die mich eingeladen hatten. Mit
Ausnahme von Ihnen kann ich mich an nichts und nie-
manden erinnern.
SIE (lacht) Flirten Sie mit mir?
ER Ja.
SIE Das kommt mir so unwahrscheinlich vor, ich kann es fast
nicht glauben.
ER Das sollten Sie aber. Es ist ganz und gar nicht unwahr-
scheinlich.

Ich ging zu Bett, las diese Szene vor dem Einschlafen noch
einmal durch und dachte: Wenn es etwas gibt, was unnötig
war, dann dies. Jetzt geht sie dir überhaupt nicht mehr aus
dem Kopf.

In New York war der nächste Tag schrecklich: Viele zornige


Menschen liefen mit ungläubigen, verdrossenen Gesichtern
herum. Es war ruhig, der Verkehr war so schwach, dass man
ihn im Central Park, wo ich mich mit Kliman auf einer Bank
unweit des Metropolitan Museum verabredet hatte, kaum
hörte. Ich war gegen Mitternacht von der West 71st Street ins
Hotel zurückgekehrt und hatte auf dem Anrufbeantworter
eine Nachricht von ihm vorgefunden. Es wäre leicht gewesen,
sie zu ignorieren, und das hatte ich auch tun wollen, bis ich
dann, im Bann dieses spontanen Rückfalls in alte Muster –
und beflügelt von der Aussicht auf ein Treffen mit Amy
Bellette, deren Adresse ich wahrscheinlich von ihm erfahren
könnte – Kliman am nächsten Morgen unter der Nummer
anrief, die er hinterlassen hatte, obgleich ich am Tag zuvor
zwei Telefongespräche mit ihm abrupt beendet hatte.
»Caligula hat gewonnen«, meldete er sich. Er hatte offen-
bar einen anderen Anruf erwartet. Nach einer Sekunde sagte
ich: »So sieht es aus, aber hier ist Zuckerman.« »Es ist ein
schwarzer Tag, Mr. Zuckerman. Ich koche schon den ganzen
Tag vor mich hin. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das
passieren würde. Die Leute haben für moralische Werte ge-
stimmt? Was für Werte sollen das sein? Dass wir mit Lügen in
einen Krieg geführt worden sind? Diese Idiotie! Diese Idio-
tie! Der Oberste Gerichtshof. Rehnquist kann morgen schon
tot sein, und dann ernennt Bush Clarence Thomas zum
Obersten Richter. Er wird zwei, drei, vielleicht sogar vier
neue Richter berufen – es ist nicht auszudenken!«
»Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen, wegen eines
Treffens.«
»Tatsächlich?« fragte er. »Ich habe kein Auge zugetan.
Niemand, den ich kenne, hat ein Auge zugetan. Ein Freund
von mir, der in der Bibliothek an der 42nd Street arbeitet, hat
mich angerufen und mir erzählt, dass auf den Stufen Leute
sitzen und weinen.«
Mit den vom Horror der Politik ausgelösten theatra-
lischen Emotionen war ich wohlvertraut. Von der Wandlung
des Friedenskandidaten Lyndon Johnson zum Vietnam-
kriegsfalken im Jahr 1965 bis zum Rücktritt des um ein Haar
abgesetzten Richard Nixon im Jahr 1974 gehörten sie zum
Standardrepertoire praktisch aller meiner Bekannten. Man ist
niedergeschmettert und wütend und ein bisschen hysterisch,
oder man ist schadenfroh und hat zum erstenmal in zehn
Jahren recht behalten, und die einzige Linderung besteht
darin, Theater zu spielen. Doch ich war jetzt nur noch ein
unbeteiligter Zuschauer. Ich wirkte nicht mit bei diesem öf-
fentlichen Drama; das öffentliche Drama bewirkte bei mir
nichts.
»Religion!« rief Kliman. »Warum sehen die nicht in eine
Kristallkugel, um die Wahrheit zu erkennen? Mal ange-
nommen, die Theorie der Evolution erweist sich als falsch,
mal angenommen, Darwin war tatsächlich verrückt – könnte
er auch nur halb so verrückt gewesen sein wie das, was die
Bibel über die Entstehung des Menschen sagt? Diese Leute
glauben nicht an Wissen. Sie glauben genauso nicht an Wis-
sen, wie ich nicht an Glauben glaube. Am liebsten würde ich
rausgehen«, sagte Kliman, »und eine lange Rede halten.«
»Würde nichts ändern«, sagte ich.
»Sie haben mehr Erfahrung als ich. Was würde etwas än-
dern?«
s.«
»Sie sind nicht senil«, sagte Kliman.
s vergessen.«
»Alles?« fragte er und gab mir einen kleinen Einblick in die
mögliche Beziehung, die er aufbauen und sich zunutze
machen wollte: der junge Mann, der den älteren Mann um sei-
nen weisen Rat bittet.
»Alles«, antwortete ich wahrheitsgemäß – als wäre ich auf
sein Spiel hereingefallen.

Kliman joggte um das Oval der weiten Rasenfläche und


winkte mir zu, als ich mich der Bank im Central Park näherte,
wo wir uns treffen wollten. Ich wartete auf ihn und dachte,
dass ich, seit ich den ersten Fehler begangen hatte, indem ich
nach New York gekommen war, um mich der Kollagen-Be-
handlung zu unterziehen, die Dinge nicht mehr durchdachte,
sondern in Richtung einer Erneuerung taumelte, von der ich
nicht mal geahnt hatte, dass ich mich auch nur ansatzweise
danach sehnte. Mit einundsiebzig die grundsätzliche Ge-
schlossenheit eines Lebens aufzubrechen und die Muster der
Berechenbarkeit zu verändern – gibt es einen sichereren Weg
zu Desorientierung und Frustration, ja sogar zum Zusam-
menbruch?
Kliman sagte: »Ich musste diese Idioten aus dem Kopf be-
kommen und dachte, Joggen wäre genau das Richtige. Hat
aber nicht funktioniert.«
Er war kern freundlicher, pausbäckiger Billy, sondern wog
mehr als hundert Kilo und war über eins neunzig groß, ein
agiler, beeindruckender junger Mann mit dichtem dunklem
Haar und fahlgrauen Augen, so bemerkenswert, wie fahl-
graue Augen es bei einem Angehörigen der menschlichen
Spezies immer sind. Ein Prachtexemplar von einem Fullback,
dazu geschaffen, die gegnerischen Reihen zu durchbrechen.
Mein erster (unzuverlässiger) Eindruck war der von einem
Mann, der das Opfer einer generellen Verwirrung war – mit
achtundzwanzig bereits gedemütigt durch die mangelnde Be-
reitschaft der Welt, sich seiner Kraft und Schönheit und den
dringenden persönlichen Bedürfnissen, denen sie dienten,
bereitwillig zu unterwerfen. Das war es, was aus seinem Ge-
sicht sprach: die wütende Erkenntnis eines unerwarteten,
gänzlich lächerlichen Widerstands. Er war für Jamie als Lieb-
haber gewiss ganz anders gewesen als der junge Mann, den sie
geheiratet hatte. Wo Billy den sanften, geschmeidigen Takt
eines zuvorkommenden Bruders besaß, hatte Kliman viel von
einem Schläger. So war es mir vorgekommen, als er mich an-
gerufen hatte, und so stellte er sich auch jetzt dar: Selbstbe-
herrschung war nicht seine Stärke. Nur zu bald erwies sich,
dass es auch nicht die meine war.
In Joggingshorts, Laufschuhen und durchgeschwitztem
Sweatshirt setzte er sich niedergeschlagen neben mich und
stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände.
Völlig verschwitzt präsentierte er sich jemandem, dem in
seinem ersten beruflichen Projekt eine Schlüsselrolle zukam
und den er unbedingt für sich gewinnen wollte. Na ja, wenig-
stens ist er authentisch, dachte ich, was immer er sonst noch
sein mag, und wenn er ein Opportunist ist, dann jedenfalls
nicht ganz der glatte, nur an sich selbst interessierte Opportu-
nist, den ich mir nach unserem ersten Telefongespräch vorge-
stellt hatte.
Er war noch nicht fertig damit, seine Ansichten über die
Wahl vor mir auszubreiten. »Wie sollen wir mit der grotesken
Tatsache leben, dass eine rechte Regierung, getrieben von un-
ersättlicher Gier, getragen von krassen Lügen und angeführt
von einem privilegierten Dummkopf, Amerikas infantilen
Vorstellungen von Moral entspricht? Wie soll man sich vor
einer so bodenlosen Dummheit schützen?«
Seine Generation hatte das College vor sechs bis acht Jah-
ren verlassen, dachte ich, und so nahm Kerrys Niederlage
gegen Bush einen wichtigen Platz unter den historischen
Schocks ein, die die Denkweise dieser jungen Amerikaner
prägen würden, so wie Vietnam das Bild der Generation ihrer
Eltern bestimmt hatte, so wie die Erwartungen meiner Eltern
und ihrer Freunde von der Wirtschaftskrise und dem Zwei-
ten Weltkrieg geformt worden waren. Die kaum verhüllten
Tricks, die Bush zu seiner ersten Präsidentschaft verholfen
hatten, die terroristischen Angriffe von 2001 und die unaus-
löschliche Erinnerung an die wie Puppen wirkenden Men-
schen, die aus den oberen Stockwerken der Türme gesprun-
gen waren, und jetzt dies: ein zweiter Triumph des »Dumm-
kopfs«, den sie ebenso wegen seiner geistigen Beschränktheit
verachteten wie wegen seiner berechnenden Märchen von
atomarer Bedrohung – all das war Bestandteil einer gemeinsa-
men Erfahrung, die sie sowohl von ihren jüngeren Brüdern
und Schwestern als auch von Angehörigen meiner Generation
unterschied. Für sie war das, was George W Bush installiert
hatte, keine Regierung, sondern ein Regime, das mit Hilfe
juristischer Kniffe an die Macht gekommen war. Sie hatten
2004 ihre Bürgerrechte zurückerobern wollen, doch zu ihrem
Entsetzen war ihnen das nicht gelungen, und gegen elf Uhr am
gestrigen Abend hatte sie das Gefühl überkommen, dass sie
nicht nur abermals verloren hatten, sondern, schlimmer noch,
auch wieder betrogen worden waren.
»Sie wollten mir von Lonoffs unverzeihlichem Geheimnis
erzählen«, sagte ich.
»Ich habe nie etwas von ›unverzeihlich‹ gesagt.«
»Das klang aber an.«
»Wissen Sie über seine Kindheit Bescheid?« fragte er.
»Wissen Sie etwas über die Umstände, unter denen er aufge-
wachsen ist? Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie nichts
von dem, was ich Ihnen erzähle, weitersagen werden?«
Ich lehnte mich zurück und brach zum erstenmal, seit ich
nach New York zurückgekehrt war, in lautes Gelächter aus.
»Sie wollen das sorgfältig bewahrte und offenbar peinliche
›große Geheimnis‹ dieses auf seine Privatsphäre so sehr be-
dachten Mannes in die Welt hinausposaunen und verlangen
von mir Verschwiegenheit? Sie sind im Begriff, ein Buch zu
schreiben, das die Würde, auf die er so großen Wert legte, die
ihm alles bedeutete und über die er allein zu bestimmen hatte,
zerstören wird, und fragen mich, ob Sie sich auf mich verlassen
können?«
»Das entwickelt sich jetzt genauso wie unser Telefonge-
spräch. Sie gehen mit jemandem, den Sie nicht mal kennen,
hart ins Gericht.«
Aber ich kenne dich doch, dachte ich. Du bist jung und
siehst gut aus, und nichts gibt dir so viel Selbstvertrauen wie
deine Verschlagenheit. Du hast einen Hang zur Verschlagen-
heit. Das ist eines der Rechte, die du besitzt: jemandem zu
schaden, wenn du es willst. Und genaugenommen ist es nicht
einmal ein Schaden, den du anrichtest – es ist lediglich die
Ausübung eines Rechts, das nur ein Dummkopf ausschlagen
würde. Ich kenne dich: Du strebst nach der Anerkennung der
Erwachsenen, die du insgeheim in den Schmutz ziehen willst.
Darin liegt eine verschlagene Lust – und auch eine Sicherheit.
Rings um das große Oval des Rasens waren einige Fuß-
gänger unterwegs: Frauen, die Kinderwagen schoben, alte,
von schwarzen Pflegern gestützte Leute und in der Ferne
zwei Jogger, die ich zunächst für Billy und Jamie hielt.
Ich hätte ebensogut als Fünfzehnjähriger dort auf der
Bank sitzen können, in Gedanken einzig und allein mit dem
neuen Mädchen beschäftigt, das die Lehrerin auf den Platz
neben mir gesetzt hatte.
»Lonoff hat eine Mitgliedschaft im Institute of Arts and
Letters abgelehnt«, sagte Kliman. »Er hat es abgelehnt, sich
an einer Biographie für Zeitgenössische Autoren zu beteili-
gen. Er hat in seinem ganzen Leben kein einziges Interview
gegeben, er ist kein einziges Mal öffentlich aufgetreten. Er hat
alles getan, um da draußen in der tiefsten Provinz so unsicht-
bar wie möglich zu bleiben. Warum?«
»Weil er das beschauliche Leben jedem anderen vorzog.
Lonoff hat geschrieben. Lonoff hat unterrichtet. Abends hat er
gelesen. Er hatte eine Frau und drei Kinder, er lebte in einer
wunderschönen, unberührten Umgebung, in einem hübschen
Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert mit vielen offenen
Kaminen. Er hatte ein bescheidenes Einkommen, das ihm
vollkommen ausreichte. Ordnung. Sicherheit. Stabilität. Was
wollte er mehr?«
»Sich verstecken. Warum sonst hätte er sich sein Leben
lang diese Zügel anlegen sollen? Er hat sich ohne Unterlass
bewacht – man sieht es in seinem Leben, man sieht es in sei-
nem Werk. Er hat sich diese Selbstbeschränkungen auferlegt,
weil er in ständiger Furcht vor einer Enthüllung gelebt hat.«
»Und Sie wollen ihm den Gefallen tun, sein Geheimnis zu
enthüllen«, sagte ich.
Es trat ein kurzer Augenblick der Verstimmung ein, in dem
er nach einem Grund suchte, warum er mich für meine
Weigerung, mich von seiner Beredsamkeit einwickeln zu las-
sen, nicht ins Gesicht schlagen sollte. Ich konnte mich gut
an solche Momente erinnern, denn ich hatte sie als junger Li-
terat erlebt, als ich in seinem Alter und neu in New York ge-
wesen war: Damals hatten mich Autoren und Kritiker in den
Vierzigern und Fünfzigern behandelt, als wüsste ich nichts
über irgend etwas, als könnte ich gar nichts wissen, es sei
denn ein wenig über Sex, und dies war ein Wissen, das sie im
Grunde albern und nebensächlich fanden, auch wenn sie
selbst natürlich fortwährend Spielbälle ihrer eigenen Begier-
den waren. Aber was die Gesellschaft, Politik, Geschichte,
Kultur, »Ideen« betraf ... »Sie verstehen nicht mal, was ich
meine, wenn ich sage, dass Sie nicht verstehen«, sagte einer
von ihnen zu mir und wedelte mir dabei mit dem Finger vor
dem Gesicht herum. Das waren meine berühmten Vorbilder,
die intellektuell herausragenden amerikanischen Söhne jüdi-
scher Einwanderer, die Söhne von Anstreichern, Metzgern
und Schneidern, die damals ihre große Zeit hatten, die Par-
tisan Review herausgaben und für Commentary, den New
Leader und Dissent schrieben, reizbare Rivalen, die einander
scharf im Auge behielten und schwer an der Bürde trugen, von
ungebildeten, jiddischsprechenden Eltern abzustammen,
deren Beschränktheit und kulturelle Unbedarftheit sie zu
gleichen, erdrückenden Teilen mit Zorn und Zärtlichkeit er-
füllten. Wenn ich es wagte, den Mund aufzumachen, befahlen
diese Alteren mir sogleich voller Verachtung, zu schweigen,
denn sie waren überzeugt, dass ich nichts wissen konnte, und
zwar weil ich zu jung war und zu viele »Vorteile« genossen
hätte – Vorteile, die nur in der Einbildung dieser Menschen
existierten, deren Neugier eigenartigerweise niemals jeman-
dem galt, der jünger war als sie selbst, es sei denn, dieser
Jemand war sehr viel jünger, weiblich und gutaussehend. Erst
in späteren Jahren, schwer mitgenommen (und finanziell
ruiniert) von Ehekriegen, geschlagen mit Altersleiden und
schwierigen Kindern, wurden einige von ihnen mir gegenüber
nachsichtiger, freundeten sich mit mir an und taten nicht
mehr alles ab, was ich zu sagen hatte.
»Die Sache ist: Es fällt mir schwer, mit Ihnen darüber zu
sprechen«, sagte Kliman schließlich. »Sie gehen auf mich los,
wenn ich Sie frage, ob ich Ihnen etwas anvertrauen kann –
aber was glauben Sie, warum ich Sie das überhaupt frage?«
»Kliman, warum vergessen Sie nicht einfach, was Sie glau-
ben, herausgefunden zu haben? Niemand erinnert sich, wer
Lonoff eigentlich war. Was soll das alles?«
»Was es soll? Von Rechts wegen müsste er in der Library of
America vertreten sein. Singer ist mit drei Bänden von Erzäh-
lungen dabei. Warum nicht auch E. I. Lonoff?«
»Sie wollen also Lonoffs Ruf als Schriftsteller wiederher-
stellen, indem Sie seinen Ruf als Mensch zerstören. Sie wollen
das Genie des Genies durch das Geheimnis des Genies erset-
zen. Rehabilitation durch Schande.«
Als er nach einer weiteren wütenden Pause antwortete,
sprach er zu mir wie zu einem Kind, das etwas zum x-tenmal
nicht verstanden hat. »Sein Ruf wird keinen Schaden erlei-
den«, erklärte er mir, »wenn das Buch so geschrieben ist, wie
ich es schreiben will.«
»Es spielt keine Rolle, wie Sie es schreiben. Der Skandal wird
dafür sorgen, dass sein Ruf ruiniert ist. Sie werden ihm nicht
zu seinem verdienten Platz verhelfen – Sie werden ihn von
seinem Platz vertreiben. Und um was geht es überhaupt? Ist
jemandem etwas ›Ungehöriges‹ eingefallen, das Lonoff vor
fünfzig Jahren getan hat? Schändliche Enthüllungen über
einen weiteren verachtenswerten weißen Mann?«
»Warum müssen Sie das, was ich vorhabe, unbedingt tri-
vialisieren? Warum müssen Sie etwas, von dem Sie noch gar
nichts wissen, herabsetzen?«
»Weil das Schnüffeln auf der Suche nach Schmutz, das sich
als Forschung ausgibt, so ziemlich das Mieseste ist, was es im
Literaturbetrieb gibt.«
»Und das wilde Schnüffeln, das sich als Schriftstellerei
ausgibt?«
»Wollen Sie damit mich charakterisieren?«
»Ich will damit Literatur charakterisieren. Auch die Lite-
ratur fördert die Neugier. Sie sagt, dass das öffentliche Leben
nicht das wirkliche Leben ist. Sie sagt, dass hinter dem Bild,
das man der Öffentlichkeit präsentiert, noch etwas anderes
ist – nennen wir es die Wahrheit des Ichs. Ich tue nichts an-
deres als Sie. Als das, was jeder denkende Mensch tut. Das
Leben fördert die Neugier.«
Wir waren gleichzeitig aufgestanden. Zweifeilos hätte ich
mich schnell entfernen sollen von diesen fahlgrauen Augen,
die jetzt infolge unserer beiderseitigen Antipathie unheimlich
funkelten. Ich spürte, dass die Einlage in meiner Plastikunter-
hose schwer war und keinen Urin mehr aufsaugen konnte
und dass es an der Zeit war, schleunigst ins Hotel zurückzu-
kehren und mich zu waschen und umzuziehen. Zweifellos
hätte ich kein Wort mehr sagen sollen. Warum sonst hatte ich
elf Jahre lang weitab von anderen Menschen gelebt, wenn
nicht, um kein Wort zusätzlich zu denen zu äußern, die in
meinen Büchern standen? Warum sonst hatte ich aufgehört,
Zeitungen zu lesen, Nachrichten zu hören und fernzusehen,
wenn nicht, um nichts von alldem zu erfahren, was mir zuwi-
der war und was ich nicht ändern konnte ? Aus freien Stücken
lebte ich an einem Ort, wo Enttäuschungen mich nicht mehr
hinunterziehen konnten. Doch ich konnte nicht anders. Ich
war zurück, ich war in Fahrt, und nichts hätte mich mehr in-
spirieren können als das Risiko, das ich einging, denn Kliman
war nicht nur dreiundvierzig Jahre jünger als ich, ein schwerer,
muskulöser Mann in Joggingkleidung, sondern auch wütend,
auf ebenden Widerstand getroffen zu sein, den er nicht
ertragen konnte.
»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihr
Vorhaben scheitern zu lassen«, sagte ich. »Ich werde alles tun,
was in meiner Macht steht, um zu verhindern, dass ein Buch
von Ihnen über E.I. Lonoff irgendwo erscheint. Kein Buch,
kein Artikel, nichts. Kein Wort, Kliman. Ich weiß nicht, wel-
ches große Geheimnis Sie entdeckt haben, aber es wird nie ans
Licht des Tages kommen. Ich kann verhindern, dass das,
was Sie schreiben wollen, veröffentlicht wird, und ich werde
es verhindern, koste es, was es wolle.«
Zurück im Drama, zurück im Augenblick, zurück im Tu-
mult der Ereignisse! Als ich bemerkte, dass ich meine Stimme
hob, hielt ich mich nicht zurück. In der Welt zu sein ist mit
Schmerz verbunden, aber auch mit Entschlossenheit. Wann
hatte ich zuletzt die Erregung erlebt, die man verspürt, wenn
man jemandem den Kampf ansagt? Lass sie raus, die Inten-
sität. Die Freude an der Konfrontation. Der belebende Atem
der altvertrauten Streitlust lockte mich, die längst abgelegte
Rolle wieder anzunehmen – sowohl Kliman als auch Jamie
hatten die Männlichkeit in mir wieder erweckt, die Männlich-
keit des Geistes und der Seele und des Begehrens und der Ab-
sicht und der Sehnsucht, wieder unter Menschen zu sein, wie-
der zu kämpfen, wieder eine Frau zu haben und wieder die
Freude an der eigenen Kraft zu spüren. Es war alles wieder
da – der männliche Mann war wieder zum Leben erweckt!
Nur dass es keine Männlichkeit gab, sondern lediglich den
kurzen Augenblick der Erwartung. Und da das so ist, dachte
ich, kann ich mir nur eine blutige Nase holen, wenn ich mich
auf einen Kampf mit der Jugend einlasse und all die Gefahren
herausfordere, die damit verbunden sind. Als ein Mann mei-
nes Alters, der sich zu sehr auf einen Mann seines Alters ein-
lässt, kann ich nur ein großes, verunstaltetes Ziel für diesen
unwissenden jungen Mann sein, der voll im Saft steht und bis
an die Zähne mit Zeit bewaffnet ist. »Ich warne Sie, Kliman:
Lassen Sie Lonoff in Ruhe.«
Die Leute, die um das Oval spazierten, musterten uns im
Vorbeigehen. Manche blieben kurz stehen, offenbar besorgt,
dieser ältere Mann und sein junges Gegenüber könnten gleich
– höchstwahrscheinlich aufgrund eines Streits über den Aus-
gang der Wahl – mit Fäusten aufeinander losgehen, und sie
würden zu Zeugen eines ungleichen Kampfes werden.
»Sie riechen«, schrie er mich an, »Sie stinken! Kriechen Sie
doch wieder in Ihr Loch und sterben Sie!« Mit lockeren, ge-
schmeidigen Bewegungen trabte er athletisch davon und rief
über seine muskulöse Schulter zurück: »Sie sterben, alter
Mann, und bald werden Sie tot sein! Sie riechen nach Verwe-
sung! Sie riechen wie der Tod!«
Aber was wusste ein Subjekt wie Kliman schon vom Ge-
ruch des Todes? Ich roch nur nach Urin.

Ich war nur wegen dem, was die Behandlung verheißen hatte,
nach New York gekommen. Ich war wegen einer Besserung
gekommen. Indem ich dem Wunsch nachgegeben hatte, etwas
Verlorenes wiederzugewinnen – einem Wunsch, den ich besser
schon vor langer Zeit aufgegeben hätte –, war ich nun leichte
Beute für den Glauben, ich könnte irgendwie wieder so
leistungsfähig sein wie der Mann, der ich einmal war. Die
Lösung lag auf der Hand: In der Zeit, die ich brauchte, um ins
Hotel zurückzukehren, zu duschen und mich umzuziehen,
kam ich zu dem Entschluss, den Plan, die Wohnungen zu tau-
schen, aufzugeben und sofort den Heimweg anzutreten.
Als ich anrief, meldete sich Jamie. Ich sagte, ich müsse mit
ihr und Billy sprechen, und sie antwortete: »Aber Billy ist
nicht da. Er ist vor zwei Stunden losgefahren, um sich Ihr Haus
anzusehen. Er müsste jetzt bald bei Ihrem Hausmeister
sein, um die Schlüssel abzuholen. Er wollte mich anrufen, so-
bald er daist.«
Ich wusste jedoch nichts von einer Verabredung, nach der
Billy sich das Haus ansehen und Rob ihm den Schlüssel geben
sollte, damit er hineingehen konnte. Wann hätten wir sie tref-
fen sollen? Nicht gestern abend. Eher am Abend davor. Den-
noch konnte ich mich nicht daran erinnern.
Allein in meinem Hotelzimmer und ohne Jamies Gesicht
vor mir, spürte ich, dass ich wütend errötete, obwohl ich in
den vergangenen Jahren tatsächlich Probleme gehabt hatte,
mich an Kleinigkeiten zu erinnern. Um dem zu begegnen,
hatte ich begonnen, neben meinem Tageskalender ein Schul-
heft – eine jener Kladden mit schwarzweiß marmoriertem
Einband und auf der Innenseite des hinteren Deckels abge-
druckten Multiplikationstabellen – zu führen, in dem ich zu
erledigende Dinge, geschriebene und empfangene Briefe und,
in Stichworten, den Inhalt meiner Telefongespräche notierte.
Ohne dieses Aufgabenbuch konnte ich (wie sich soeben wieder
erwiesen hatte) nur zu leicht vergessen, mit wem und worüber
ich gestern noch gesprochen hatte oder was jemand für mich
am nächsten Tag erledigen sollte. Ich hatte vor drei Jahren
damit angefangen, als ich bemerkte, dass mein bis dahin
zuverlässiges Gedächtnis Lücken aufwies. Damals war ein
Irrtum nicht mehr als ein kleines Ärgernis, doch ich hatte
erkannt, dass die Vergesslichkeit voranschritt und dass, sollte
mein Erinnerungsvermögen sich im selben Tempo verschlech-
tern wie in diesen ersten Jahren, meine Fähigkeit, etwas zu
schreiben, bald ernsthaft beeinträchtigt sein würde. Was sollte
ich tun, wenn ich eines Morgens eine am Vortag geschriebene
Seite lesen würde, ohne mich zu erinnern, dass ich sie
geschrieben hatte? Was sollte aus mir werden, wenn ich die
Beziehung zu dem, was ich schrieb, verlor, wenn ich weder ein
Buch schreiben noch eines lesen konnte? Was würde ohne
mein Werk von mir bleiben?
Ich ließ Jamie nicht merken, dass ich nicht wusste, wovon sie
sprach, dass ich begonnen hatte, in einer Welt voller Löcher zu
leben, und dass mein Geist – von dem Augenblick an, in dem
ich wie eine außerirdische Spezies nach New York gekommen
war, ein Fremder in dieser Welt, in der alle anderen lebten –
zwischen Obsession und Vergesslichkeit hin und her schwang.
Es ist, als wäre ein Schalter umgelegt worden, dachte ich, als
würde eine Verbindung nach der anderen gekappt. »Wenn es
irgendwelche Fragen gibt«, sagte ich, »soll er mich anrufen.
Aber Rob kennt das Haus besser als ich, und Billy wird sehr
gut zurechtkommen.«
Ich fragte mich, ob das vielleicht genau die Worte waren, die
ich gesagt hatte, als wir übereingekommen waren, dass Billy
das Haus in Augenschein nehmen würde.
Es war nicht der rechte Zeitpunkt, um zu erklären, dass
ich meine Meinung geändert hatte. Ich würde warten müssen,
bis Billy zurück war. Möglicherweise fand er mein kleines
Haus ja ungeeignet – dann würde sich der Plan ohne weitere
Schwierigkeiten in Luft auflösen.
»Ich hatte angenommen, dass Sie ihn begleiten würden.
Zumal Sie ja ein bisschen angeschlagen sind.«
»Ich bin gerade mitten in einer Erzählung«, sagte sie, doch
ich glaubte nicht, dass das der Grund war, warum sie in New
York geblieben war. Der wahre Grund war Kliman. Sie war es
doch, die nach Massachusetts ziehen wollte – hätte sie dann
nicht auch diejenige sein sollen, die sich das Haus ansah?
Nein, sie war geblieben, weil sie sich mit Kliman treffen
wollte.
»Und wie gefällt Ihnen Ihr Amerika jetzt«, fragte sie mich,
»am ersten Tag der Wiederkunft?«
»Der Schmerz wird vergehen«, antwortete ich.
»Aber Bush nicht. Cheney nicht. Rumsfeld nicht. Wolfo-
witz nicht. Und diese Rice ebenfalls nicht. Der Krieg wird
nicht vergehen. Die Arroganz wird nicht vergehen. Dieser
sinnlose, idiotische Krieg! Und bald werden sie den nächsten
sinnlosen, idiotischen Krieg vom Zaun brechen. Und dann
noch einen und noch einen, bis alle Welt uns in die Luft spren-
gen will.«
»Tja, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Sie in meinem
Haus in die Luft sprengt, ist ziemlich klein«, sagte ich, ob-
gleich ich sie angerufen hatte, um die Vereinbarung zu wi-
derrufen, die ihr diesen sicheren Hafen bot. Doch ich wollte
nicht, dass das Telefongespräch endete. Sie brauchte gar nichts
Einladendes oder Aufreizendes zu sagen – der bloße Klang
ihrer Stimme in meinem Ohr vermittelte mir ein angenehmes
Gefühl, wie ich es seit Jahren nicht verspürt hatte.
»Ich habe mich mit Ihrem Freund getroffen«, sagte ich.
»Sie haben meinen Freund gründlich verwirrt.«
»Woher wissen Sie das? Es ist keine zehn Minuten her.«
»Er hat mich vom Park aus angerufen.«
»Als Kind hab ich mal gesehen, wie ein ehrgeiziger
Schwimmer im Meer ertrunken ist«, sagte ich. »Niemand
hatte bemerkt, dass er in Schwierigkeiten war, bis es schließ-
lich zu spät war. Mit einem Handy hätte er, wie Kliman, Hilfe
holen können, als er spürte, dass die Strömung ihn hinaus-
zog.«
»Was haben Sie gegen ihn? Warum machen Sie ihn schlecht?
Was wissen Sie überhaupt über ihn?« fragte Jamie. »Er verehrt
Sie, Mr. Zuckerman.«
»Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, dass sein Eifer eher in
die andere Richtung geht.«
»Für ihn war es ein wichtiges Gespräch«, sagte sie. »In
letzter Zeit gibt es in seinem Leben nichts Wichtigeres als
Lonoff. Er will, dass ein Autor wiederentdeckt wird, den er
überragend findet und dessen Werk in Vergessenheit geraten
ist.«
»Die Frage ist das Wie.«
»Richard ist ein ernsthafter Mensch.«
»Warum nehmen Sie ihn in Schutz?«
»Ich ›nehme ihn in Schutz‹, weil ich ihn kenne.«
Ich malte mir lieber nicht allzu farbig aus, warum sie sich so
für diesen ernsthaften Menschen einsetzte, der auf dem
College ihr Freund gewesen war und mit dem sie (wie ich mir
nur zu gut vorstellen konnte) eine sexuelle Beziehung hatte,
auch jetzt noch, nachdem sie den ihr so ergebenen Billy
geheiratet hatte ... der übrigens nicht da war, der in diesem
Augenblick hundertfünfzig Kilometer nördlich von New York
unterwegs war, während seine Frau allein in ihrer ge-
meinsamen Wohnung gegenüber der Kirche saß und sich über
Bushs Wiederwahl grämte.
Meine Torheit, aus den genannten Gründen nach New York
zu fahren – und dann zu denken, ich sollte für ein ganzes
Jahr dort bleiben –, hätte nicht besser abgerundet werden
können als durch den Versuch, Jamie zu sehen, bevor Billy
zurückkehrte.
»Dann wissen Sie also, worum es bei dem Skandal geht«,
sagte ich.
»Bei welchem Skandal?«
»Beim Lonoff-Skandal. Hat Kliman Ihnen nicht davon er-
zählt?«
»Selbstverständlich nicht.«
»Aber natürlich hat er das – Ihnen zuallererst. Er hat sich
damit gebrüstet, was er allein weiß, und gesagt, wie überaus
nützlich seine Entdeckung sein wird.«
Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, es abzustreiten.
»Sie kennen die ganze Geschichte«, sagte ich.
»Wenn Sie sie nicht von Richard hören wollten, warum
wollen Sie sie dann von mir hören?«
»Darf ich vorbeikommen?«
»Wann?«
»Jetzt.«
Ich war regelrecht benommen, als sie leise sagte: »Wenn Sie
wollen.«
Ich packte meine Sachen, um New York zu verlassen.
Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was ich in den
kommenden Wochen zu Hause erledigen müsste, und dachte
an die Erleichterung, die mit der Wiederaufnahme meiner
täglichen Routine und dem Verzicht auf weitere Behand-
lungen verbunden wäre. Nie wieder würde ich mich in eine
Situation begeben, in der es schmerzlicher Reue und dem mit
ihr verbundenen Wunsch nach Wiedergutmachung erlaubt
wäre, meinen nächsten Schritt zu bestimmen. Dann machte
ich mich auf den Weg zur West 71st Street und gab sogleich
der Rigorosität einer verzweifelten Vernarrtheit nach, die ga-
rantiert alles andere als harmlos wäre für jemanden, der zwi-
schen den Beinen einen tröpfelnden Hahn aus verschrumpel-
tem Fleisch hatte, wo früher das voll funktionsfähige, mit
einem gesunden Blasenschließmuskel versehene Genital eines
kräftigen erwachsenen Mannes gewesen war. Das einst steife
Fortpflanzungsorgan war jetzt wie ein Rohr, das man ir-
gendwo aus einem Feld ragen sieht, ein Stück Rohr ohne je-
den Nutzen, aus dem hin und wieder ein wenig Wasser tröp-
felt oder plätschert, bis es eines Tages jemandem einfällt, den
Hahn bis zum Anschlag zuzudrehen, damit das verdammte
Ding endlich aufhört.

Sie hatte jede Zeile gelesen, die in der New York Times über die
Wahl stand. Die Seiten lagen auf dem verschlungenen gold-
orangeroten Muster des weichen, abgetretenen Perserteppichs,
und ihr Gesicht verriet echtes Unglück.
»Zu schade, dass Billy heute nicht hier sein kann«, sagte
ich. »Es ist nicht gut, mit so großer Enttäuschung allein zu
sein.«
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Wir dachten, wir
würden etwas zu feiern haben.«
Während ich auf dem Weg hierher gewesen war, hatte
sie Kaffee gekocht, und nun saßen wir in zwei mit schwar-
zem Leder bezogenen Eames-Sesseln einander gegenüber
am Fenster und tranken ihn schweigend. Drückten schwei-
gend unsere Unsicherheit aus. Nahmen schweigend die Un-
vorhersehbarkeit dessen hin, was geschehen würde. Verbargen
schweigend unsere Verwirrung. Bei meinen früheren Besu-
chen hatte ich nicht bemerkt, dass es zwei orangerote Katzen
gab. Eine von ihnen sprang jetzt elegant auf Jamies Schoß,
legte sich hin und ließ sich streicheln, während ich, weiterhin
schweigend, zusah. Die andere Katze erschien von irgend-
woher, legte sich auf Jamies nackte Füße und erzeugte (in mir)
die angenehme Illusion, dass das Schnurren, das bald darauf
zu hören war, nicht von der Katze stammte, sondern von den
Füßen. Die eine hatte ein langes Fell, die andere war kurzhaa-
rig, und ihr Anblick verblüffte mich. Sie sahen aus, wie die
beiden Kätzchen, die Larry Hollis mir geschenkt hatte, in-
zwischen aussehen würden, wenn ich sie länger als drei Tage
behalten hätte.
Obwohl Jamie ein verblasstes blaues Sweatshirt und eine
weite graue Trainingshose trug, war ich nicht weniger ge-
bannt von ihrer Schönheit. Und wir waren allein, und da-
her kam ich mir keineswegs vor wie jemand, der imstande
war, Ehrfurcht einzuflößen, sondern fühlte mich infolge der
Macht, die sie über mich hatte, meines ganzen Status beraubt,
um so mehr, als sie durch Kerrys Niederlage und die schreck-
liche Ungewissheit, die diese heraufbeschwor, so bedrückt
war.
Ganz im Einklang mit dem wilden Schwanken meiner
Gemütsverfassung in New York fragte ich mich nun, was das
Verfassen von Lonoffs Biographie mit mir zu tun haben
könnte. Nach meinem Besuch in seinem Haus im Jahr 1956
war ich nie wieder in seiner Gegenwart gewesen, und der
Brief, den ich ihm danach geschrieben hatte, war unbeant-
wortet geblieben, so dass der Traum, den ich womöglich
träumte – der Traum von einer Beziehung, in der er der Mei-
ster und ich sein Schüler war –, unverwirklicht hatte bleiben
müssen. Was eine Biographie oder einen Biographen betraf,
so besaß ich weder Lonoff noch seinen Erben gegenüber
irgendeine Verantwortung. Meine Reaktion auf Kliman und
seine Andeutungen von einem dunklen »Geheimnis« war zum
einen darauf zurückzuführen, dass ich Amy Bellette nach so
vielen Jahren wiedergesehen hatte, und zwar gebrechlich und
entstellt, vertrieben aus dem Haus ihres eigenen Körpers, und
zum anderen auf die Tatsache, dass ich danach seine Bücher
gekauft und im Hotel noch einmal gelesen hatte. Ware ich zu
Hause geblieben und hätte unvermutet einen Brief von
irgendeinem Kliman oder seinesgleichen erhalten, so hätte ich
gar nicht darauf reagiert, geschweige denn ihm gedroht, ihn
praktisch zu vernichten, sollte er es wagen, sein Projekt
weiterzuverfolgen. Auf sich allein gestellt, würde Kliman bei
seinem grandiosen Vorhaben vermutlich scheitern; für ihn war
die bislang größte Ermunterung wahrscheinlich nicht der
Zuspruch eines Literaturagenten oder Lektors gewesen,
sondern mein vehementer Widerstand. Und nun saß ich hier
bei Jamie und brach unser Schweigen mit der Frage: »Mit wem
habe ich es zu tun? Können Sie mir das sagen? Wer ist dieser
junge Mann?«
Argwöhnisch fragte sie: »Was wollen Sie wissen?«
»Wie kommt er zu der Annahme, dass er dieser Aufgabe
gewachsen ist? Kennen Sie ihn schon lange?«
»Seit er achtzehn war. Seit seinem ersten Jahr an der Uni.
Seit zehn Jahren.«
»Woher stammt er?«
»Aus Los Angeles. Sein Vater ist Anwalt. Ein Medien-
anwalt, berüchtigt für seine Aggressivität. Seine Mutter ist
ganz anders. Sie ist Professorin, für Ägyptologie, glaube ich,
an der UCLA. Sie meditiert jeden Morgen für zwei oder drei
Stunden und behauptet, dass sie an guten Tagen gegen Ende
der Meditation eine grüne Lichtkugel vor sich schweben lassen
kann.«
»Wie haben Sie sie kennengelernt?«
»Durch ihn natürlich. Sie haben ihn und seine Freunde zum
Essen eingeladen, wenn sie ihn besuchten. Und wenn meine
Eltern mich besucht haben, war er unter den Freunden, die
mit uns zum Abendessen gingen.«
»Dann ist er also in einer Akademikerfamilie aufgewach-
sen.«
»Er ist mit einem starrsinnigen, aggressiven Vater und einer
intellektuellen, stillen Mutter aufgewachsen. Er ist klug. Sehr
klug. Sehr scharfsinnig. Er hat seine eigene Aggressivität, was
Sie offenbar vor den Kopf gestoßen hat. Aber er ist kein
Dummkopf. Ich sehe keinen Grund, warum er nicht imstande
sein sollte, ein Buch zu schreiben – es sei denn den, der für alle
gilt.«
»Und der wäre?«
»Dass es schwer ist.«
Sie bemühte sich, mich merken zu lassen, dass sie nicht
mehr sagte, als sie sagte, sie bemühte sich, mich mit ihrer
Unbeeindruckbarkeit zu beeindrucken, und war entschlossen,
nicht nachzugeben, sondern lediglich zu antworten. Sie wollte
auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als wäre sie infolge des
großen Unterschieds in Alter und Status eine leichte Gegnerin.
Obwohl sie offensichtlich zufrieden war mit der Wirkung, die
sie auf Männer hatte, war ihr anscheinend noch nicht bewusst,
dass sie bereits triumphiert hatte und ich der leichte Gegner
war.
»Wie war er zu Ihnen?« fragte ich.
»Wann?«
»Als Sie zusammen waren.«
»Es war eine wunderbare Zeit. Wir hatten ähnlich starr-
sinnige Vater, mit denen wir uns auseinandersetzen mussten,
und darum jede Menge schöne Katastrophengeschichten, die
wir uns erzählen konnten. So sind wir uns sehr schnell sehr
nahe gekommen: Es waren herrliche Geschichten voller Komik
und Schrecken. Richard ist robust und energisch und will
immer irgendwas Neues ausprobieren, und er ist furchtlos. Er
hält nichts zurück. Er ist abenteuerlustig, und er ist furchtlos,
und er ist frei.«
»Übertreiben Sie nicht ein bisschen?«
»Ich beantworte nur wahrheitsgemäß Ihre Fragen.«
»Furchtlos im Hinblick worauf, wenn ich fragen darf?«
»Im Hinblick auf Ablehnung. Auf Missbilligung. Er ist
nicht so eingeschränkt wie andere Menschen, wenn es darum
geht, in welchen Gruppen sie sich wohl fühlen. Er hat nichts
Zögerndes an sich. Er ist eine einzige Abfolge entschlossener
Taten.«
»Und mit seinem Vater, der für seine Aggressivität berüchtigt
ist, kommt er gut aus?«
»Ach, ich glaube, sie streiten sich oft. Sie sind beide kämp-
ferische Männer, und darum kämpfen sie. Aber es ist wohl
nicht so ernst, wie wenn ich mit meiner Mutter streiten würde.
Sie telefonieren miteinander und geraten in einen wüsten
Streit, und am nächsten Tag telefonieren sie wieder, und es ist,
als wäre nichts gewesen. So sind sie eben.«
»Erzählen Sie mir mehr.«
»Was wollen Sie denn noch wissen?«
»Alles, was Sie mir nicht sagen.« Eigentlich wollte ich na-
türlich nur von ihrem Leben hören. »Haben Sie ihn je in Los
Angeles besucht?«
»Ja.«
»Und?«
»Sie leben in einem großen Haus in Beverly Hills. Meiner
Meinung nach ist es extrem hässlich. Es ist groß und prot-
zig. Kein bisschen gemütlich. Seine Mutter sammelt ... Ich
glaube, man nennt das alte Kunst: Skulpturen, kleine Ob-
jekte. Es gibt Vitrinen und Wandnischen, die viel zu groß sind
für das, was darin steht – wie alles dort viel zu groß ist. Es ist
ein Ort ohne jede Wärme. Zu viele Säulen. Zuviel Marmor.
Im Garten ein riesiger Swimmingpool. Der Garten selbst
extrem gestaltet. Manikürt. Das ist nicht Richards Welt. Er ist
im Nordosten aufs College gegangen. Dann ist er nach New
York gegangen. Er hat sich dafür entschieden, in New York zu
leben und in der Welt der Literatur zu arbeiten und nicht
superreich zu werden und in einem Marmorpalast in L. A. zu
wohnen und seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass
er anderen die Hölle heiß macht. Er hätte zwar das Zeug
dazu – das hat er von seinem Vater gelernt –, aber es ist nicht
das, was er will.«
»Sind seine Eltern noch zusammen?«
»Ja, es ist schockierend. Ich weiß nicht, was sie gemeinsam
haben. Sie meditiert und arbeitet dann den ganzen Tag. Er ar-
beitet ebenfalls den ganzen Tag. Sie bewohnen dasselbe Haus,
und damit hat es sich wohl. Ich habe nie erlebt, dass sie über
irgendwas miteinander geredet hätten.«
»Ist er mit ihnen in Kontakt?«
»Ich nehme es an. Er spricht nicht über sie.«
»Er würde seine Eltern nicht am Wahlabend anrufen.«
»Ich glaube nicht. Allerdings bin ich sicher, dass es we-
sentlich angenehmer wäre, am Wahlabend mit ihnen zu spre-
chen als mit meinen Eltern. Es sind gute L. A.-Liberale.«
»Und seine Freunde in New York?«
Sie seufzte – das erste Anzeichen von Ungeduld und Ver-
ärgerung. Bis dahin war sie betont distanziert und die Ruhe
selbst. »Er ist viel mit ein paar Leuten zusammen, die er im
Fitnesscenter kennengelernt hat. Lauter Akademiker, wahr-
scheinlich zwischen fünfundzwanzig und vierzig. Sie spielen
Basketball, und er verbringt viel Zeit mit ihnen. Anwälte. Me-
dienleute. Ein paar von unseren gemeinsamen Freunden aus
der Collegezeit arbeiten für Zeitschriften und in Verlagen. Ein
guter Freund von ihm hat eine Firma für Videospiele ge-
gründet.«
»Ich finde, mit dem sollte er sich zusammentun. Ich finde, er
sollte Videospiele verkaufen. Soll er dort furchtlos sein. Denn
er denkt, dies ist ein Spiel. Er denkt, ›Lonoff‹ ist der Name
eines Spiels.«
»Sie haben unrecht«, sagte sie und milderte diese harsche
Äußerung mit einem raschen Lächeln. »Sie sehen in ihm
jemanden wie seinen Vater, diesen Menschen, der immer alle
einschüchtern will, dabei hat er viel mehr von seiner Mutter.
Er ist ein Intellektueller. Er ist nachdenklich. Er hat zwar au-
ßerordentlich viel Energie. Er ist dynamisch und aufregend
und stark und widerspenstig und manchmal furchterregend,
aber er ist kein gedankenloser Opportunist, der nur auf seinen
eigenen Vorteil aus ist.«
»Ich hätte gesagt, dass er genau das ist.«
»Welcher Opportunist will die literarische Biographie
eines Schriftstellers schreiben, der inzwischen praktisch ver-
gessen ist? Wenn er ein Opportunist wäre, würde er in die
Fußstapfen seines Vaters treten. Er würde keine Biographie
über einen Schriftsteller schreiben, von dem niemand unter
fünfzig je gehört hat.«
»Sie preisen ihn an. Sie idealisieren ihn.«
»Ganz und gar nicht. Ich kenne ihn um einiges besser als Sie,
und ich versuche, Sie zu korrigieren. Sie brauchen jemanden,
der Sie korrigiert.«
»Er meint es nicht ehrlich. Er besitzt keine Besonnenheit.
Er besteht nur aus Dreistigkeit, Trotz und Frivolität. Ich sehe
keinen Ernst.«
»Er besitzt vielleicht nicht die Zurückhaltung oder die Fi-
nesse, die andere Leute haben, aber er ist nicht ohne Beson-
nenheit.«
»Und Integrität. Ist er angekränkelt von Integrität? Ich
glaube, dass das Ränkeschmieden ihm nicht fernliegt. Gibt es
bei ihm irgendwo ein kleines bisschen Integrität?«
»Sie beschreiben ihn nicht, Mr. Zuckerman, sie karikieren
ihn. Es stimmt zwar, dass er nicht immer versteht, warum er
sich nicht so benehmen sollte, wie er sich benimmt. Aber er
hat seine Prinzipien. Sehen Sie, Richard ist nicht allem – er
lebt in einer Welt voller Aufsteiger, in der man sich wie ein
Versager fühlt, wenn man nicht ebenfalls aufsteigt. In einer
Welt, in der es nur um Reputation geht. Sie sind ein älterer
Mensch, der gerade in die Stadt zurückgekehrt ist, und Sie
wissen nicht, wie es ist, heutzutage jung zu sein. Sie sind aus
den fünfziger Jahren, er ist aus der Gegenwart. Sie sind Na-
than Zuckerman. Es ist wahrscheinlich lange her, dass Sie
Kontakt mit Menschen hatten, die noch nicht fest in ihrem
beruflichen Leben verankert sind. Sie wissen nicht, wie es ist,
wenn man in einer Welt, in der Reputation alles bedeutet,
seine Reputation noch nicht gefestigt hat. Aber wenn Sie in
dieser Welt voller Aufsteiger kein Zen-Meister sind, wenn Sie
ein Teil dieser Welt sind und nach Anerkennung streben, sind
Sie deswegen dann der böse Feind? Ich gebe zu, dass Richard
vielleicht nicht der tiefgründigste Mensch ist, den ich kenne,
aber es gibt keinen Grund, warum er in seiner Erfahrungswelt
damit rechnen sollte, dass das entschlossene Streben nach dem,
was er anstrebt, für irgend jemanden anstößig sein könnte.«
»Was seine Tiefgründigkeit angeht, würde ich sagen, dass
er nicht halb so tiefgründig ist wie Ihr Mann. Und dass Ihr
Mann nicht annähernd ein solcher Aufsteiger wie Kliman ist
und sich dennoch nicht als Versager fühlt.«
»Er fühlt sich aber auch nicht als Erfolgsmensch. Trotzdem
haben Sie im Grunde recht.«
»Sie sind eine glückliche Frau.«
»Sehr glücklich. Ich liebe meinen Mann sehr.«
Diese makellose Zurschaustellung von Selbstsicherheit
hatte innerhalb von zehn Minuten nichts anderes bewirkt, als
mein Begehren nach ihr zu vertiefen und sie zu dem mit Ab-
stand größten Problem meines Lebens zu machen. Die Wucht
der sexuellen Anziehungskraft lässt keinen Raum für Resi-
gnation – nur für die Gier des Begehrens.
»Aber Sie werden mir sicher zustimmen, wenn ich sage,
dass Kliman zumindest ein sehr unsympathischer Mensch
ist.«
»Keineswegs«, erwiderte sie.
»Und das Geheimnis? Sein Streben, das Geheimnis zu
enthüllen? Lonoffs großes Geheimnis?«
Ohne das rhythmische Streicheln der Katze zu unterbre-
chen, sagte sie: »Inzest.«
»Und woher weiß Kliman davon?«
»Er hat schriftliche Beweise. Er hat irgendwelche Leute
kontaktiert. Das ist alles, was ich weiß.«
»Aber ich war bei Lonoff. Ich habe ihn kennengelernt. Ich
habe alles gelesen, was er geschrieben hat, mehr als einmal.
Ich kann das unmöglich glauben.«
Mit einem Flüstern der Überlegenheit sagte sie: »So etwas ist
immer unmöglich zu glauben.«
»Es ist Unsinn«, beharrte ich. »Inzest mit wem?«
»Mk einer Halbschwester«, sagte Jamie.
»Wie Lord Byron und Augusta.«
»Ganz und gar nicht wie sie«, widersprach sie – scharf
diesmal – und machte sich daran, ihre (oder Klimans) pro-
funde Vertrautheit mit diesem Thema zu demonstrieren.
»Byron und seine Halbschwester kannten sich als Kinder
kaum. Sie wurden erst als Erwachsene ein Paar, als sie bereits
Mutter von drei Kindern war. Die einzige Parallele ist, dass
Lonoffs Halbschwester ebenfalls älter war als er. Sie stammte
aus der ersten Ehe des Vaters. Ihre Mutter war gestorben, als
sie noch klein war, der Vater hatte schnell wieder geheiratet,
und dann wurde Lonoff geboren, als sie drei Jahre alt war. Sie
sind zusammen aufgewachsen, als Bruder und Schwester.«
»Drei Jahre alt. Das heißt, dass sie 1898 geboren wurde. Sie
muss längst tot sein.«
»Sie hatte Kinder. Ihr jüngster Sohn lebt noch. Er muss
jetzt über achtzig sein. Er lebt in Israel. Nachdem ihr Ver-
hältnis entdeckt wurde, ging sie nach Palästina. Die Eltern
gingen mit ihr dorthin, um der Schande zu entfliehen. Lonoff
blieb zurück und schlug sich allein durch. Er war damals
siebzehn.«
Was ich von Lonoffs Herkunft wusste, stimmte nur bis
zu einem gewissen Punkt mit dieser Geschichte überein.
Die jüdischen Eltern waren aus Russland nach Boston emi-
griert, hatten die amerikanische Gesellschaft jedoch nach
und nach als abstoßend materialistisch empfunden und waren,
als Lonoff siebzehn gewesen war, nach Palästina ausge-
wandert, das damals noch nicht unter Mandatsherrschaft
stand. Es stimmte, dass Lonoff in Amerika geblieben war, al-
lerdings nicht, weil er als ein auf Irrwege geratener Missetäter
zurückgelassen worden wäre; vielmehr war er ein beinahe er-
wachsener amerikanischer Junge, der lieber ein amerikanisch
sprechender Amerikaner als ein hebräisch sprechender Palä-
stina-Jude werden wollte. Ich hatte nie ein Wort von einer
Schwester oder überhaupt von Geschwistern gehört, aber da er
verhindern wollte, dass sein Werk auf oberflächliche Weise
als Spiegel seines Lebens fehlinterpretiert wurde, hatte Lo-
noff niemandem – außer vielleicht seiner Frau Hope oder
Amy – mehr als äußerst rudimentäre Fakten seiner Biogra-
phie preisgegeben.
»Und wann hat dieses Verhältnis begonnen?« fragte ich.
»Als er vierzehn war.«
»Wer hat Kliman davon erzählt? Der Sohn in Israel?«
»Das hätte Richard Ihnen gesagt, wenn Sie ihn gelassen
hätten«, sagte Jamie. »Er hätte Ihnen das alles selbst erzählt.
Er hätte all Ihre Fragen beantwortet.«
»Und es wem außer mir erzählt? Wem außer Ihnen?«
»Ich kann nicht erkennen, was für ein Verbrechen es wäre,
wenn er es jedem erzählen würde, dem er es erzählen will. Sie
wollten, dass ich es Ihnen erzähle. Deswegen haben Sie mich
angerufen und sind hergekommen. Habe ich jetzt ein Verbre-
chen begangen? Es tut mir leid, wenn Sie den Gedanken, dass
Lonoff eine inzestuöse Beziehung hatte, quälend finden. Es
fällt mir schwer zu glauben, dass es einem Mann, der Bücher
geschrieben hat wie Sie, lieber wäre, wenn Lonoff zu einem
Heiligen verklärt würde.«
»Zwischen leichtfertigen Anschuldigungen und Verklä-
rung zum Heiligen ist ein großer Unterschied. Kliman kann
unmöglich irgendeine intime Beziehung beweisen, die, wie er
behauptet, vor fast hundert Jahren bestanden hat.«
»Richard ist nicht leichtfertig. Ich habe Ihnen doch gesagt: Er
ist abenteuerlustig. Er hat eine Schwäche für waghalsige
Unternehmungen. Was ist daran so falsch?«
Waghalsige Unternehmungen. Darauf war ich auch versessen
gewesen.
Ich sagte: »Hat Kliman mit dem Sohn in Israel, mit Lonoffs
Neffen, gesprochen?«
»Mehrere Male.«
»Und der bestätigt die Geschichte. Hat ihm Aufzeichnungen
übergeben, aus denen hervorgeht, wie oft die beiden mit-
einander geschlafen haben. Ich nehme an, der junge Lonoff hat
darüber Buch geführt.«
»Der Sohn bestreitet natürlich alles. Das letzte Mal, als die
beiden miteinander gesprochen haben, hat er gedroht, nach
Amerika zu kommen und eine Klage einzureichen, wenn Ri-
chard diese Dinge über seine Mutter publik machen würde.«
»Und Kliman behauptet, dass dieser Neffe aus Gründen
lügt, die auf der Hand liegen, oder die Wahrheit einfach nicht
kennt – welche Mutter würde ihrem Sohn schon ein solches
Geheimnis offenbaren? Sehen Sie, Kliman kann gar nicht ge-
nug wissen, um zu irgendwelchen Schlüssen über eine inze-
stuöse Beziehung zu kommen. Es gibt zwei Arten von ›so ist es
mcht‹: Die eine enthüllt, wie es ist – das nennt man Fiktion –,
die andere aber bestätigt nur, dass es nicht so ist – das ist bei
Kliman der Fall.«
Jaimie erhob sich abrupt, so dass die eine Katze von ihrem
Schoß glitt und die andere, die auf ihren Füßen gelegen hatte,
aufsprang. »Ich habe nicht das Gefühl, dass dieses Gespräch in
eine Richtung geht, die irgendwie hilfreich wäre. Ich hätte
mich nicht einmischen sollen. Ich hätte Sie nicht einladen sol-
len, um an Richards Stelle zu versuchen, Sie zu überzeugen.
Ich habe brav dagesessen und Ihre Fragen beantwortet. Ich
habe Ihren herabsetzenden Worten kein einziges Mal wider-
sprochen. Ich habe Ihnen aufrichtig geantwortet und bin die
ganze Zeit respektvoll, wenn nicht gar unterwürfig gewesen. Es
tut mir leid, wenn irgend etwas, was ich gesagt habe, oder die
Art, wie ich es gesagt habe, Sie verärgert hat. Aber offenbar
habe ich Sie verärgert, auch wenn das nicht meine Absicht
war.«
Auch ich hatte mich erhoben und stand nur eine Armlänge
von ihr entfernt. Ich sagte: »Ich bin es, der Sie verärgert hat.
Vor allem durch die Herabsetzung.« Es wäre der richtige
Augenblick gewesen, um ihr mitzuteilen, dass unsere Verein-
barung hinfällig war. Doch ich konnte sie in Gedanken nur
dann realistisch vor mir sehen, wenn die Vereinbarung weiter-
hin galt und ich mein Haus gegen ihre Wohnung tauschte.
Dann würde sie inmitten meiner und ich inmitten ihrer Dinge
leben. Gab es ein lächerlicheres Motiv, das überstürzt ver-
einbarte Arrangement aufrechtzuerhalten, das ich so gern be-
enden wollte? Ich war mir über die Fadenscheinigkeit der
Gründe, die ich hervorkramte, um meine Lebensumstände
drastisch zu verändern, durchaus im klaren, und dennoch
schien alles, was geschah, ohne Rücksicht auf meine Verfas-
sung und mein Bewusstsein zu geschehen.
Das Telefon läutete. Es war Billy. Sie hörte lange zu, bevor sie
ihm sagte, ich sei zufällig gerade bei ihr. Offenbar fragte er sie
nach dem Grund, denn sie sagte: »Er wollte sich die Wohnung
noch einmal ansehen. Ich führe ihn gerade herum.«
Ja, Kliman war ihr Liebhaber. Sie war so sehr daran gewöhnt,
Billy anzulügen, um ihr Verhältnis mit Kliman zu verbergen,
dass sie ihn jetzt im Hinblick auf meine Anwesenheit
angelogen hatte. Und zuvor, am Telefon, hatte sie mir eben-
falls die Unwahrheit gesagt, als es um Kliman gegangen war.
Entweder das – oder ich war derart geblendet von ihrer Aus-
strahlung, dass meine Gedanken so dicht um die eine Sache
kreisten wie schon seit Jahren nicht mehr. Hatte sie ihren jun-
gen Ehemann vielleicht einfach deshalb angelogen, weil es
einfacher war, als die Wahrheit zu sagen, während ich neben
ihr stand und sie so weit voneinander entfernt waren?
Alles, was Jamie tat oder sagte – selbst ihr harmloses Ge-
plauder mit Billy am Telefon –, bewirkte in mir eine unver-
hältnismäßige Reaktion. Ich war dauerhaft aus dem Gleich-
gewicht gebracht. Ich fand keine Ruhe. Es war, als sähe ich
zum erstenmal in meinem Leben eine junge Frau. Oder zum
letztenmal. Es war jedenfalls allesbeherrschend.
Ich ging, ohne es zu wagen, sie zu berühren. Ohne es zu
wagen, ihr Gesicht zu berühren, obgleich es die ganze Zeit,
während ich sie, wie sie sagte, herabgesetzt hatte, in Reich-
weite gewesen war. Ohne es zu wagen, ihr langes Haar zu be-
rühren, das in meiner Reichweite gewesen war. Ohne es zu
wagen, meine Hand auf ihre Hüfte zu legen. Ohne es zu wa-
gen, sie darauf hinzuweisen, dass wir uns bereits früher be-
gegnet waren. Ohne es zu wagen, die Worte auszusprechen,
die ein so verstümmelter Mann wie ich zu einer begehrens-
werten, vierzig Jahre jüngeren Frau sagen konnte, Worte, mit
denen er sich nicht unmöglich machte, weil er der Versuchung
einer Wonne nachgegeben hatte, die er nicht genießen konnte,
und einer Lust, die längst tot war. Auch ohne dass zwischen
uns mehr stattgefunden hatte als dieses unangenehme kleine
Gespräch über Kliman, Lonoff und den Vorwurf einer inze-
stuösen Beziehung, war es schon schlimm genug.
Mit Einundsiebzig erfuhr ich, was geistige Verwirrung ist. Ein
Beweis dafür, dass das Abenteuer der Selbsterfahrung noch
nicht vorüber war. Ein Beweis dafür, dass das Drama, das man
normalerweise mit der Jugend bei ihrem Eintritt in die Welt
der Erwachsenen verbindet – mit Heranwachsenden, mit
jungen Männern wie dem standhaften jungen Kapitän in der
Schattenlinie –, auch die Alten erschrecken und über sie
hereinbrechen kann (die eingeschlossen, die sich resolut gegen
alle Arten von Drama gewappnet haben), selbst wenn ihre
Lebensumstände auf ihren baldigen Abgang hindeuten.
Vielleicht macht man die größten Entdeckungen erst zu-
letzt.

SITUATION: Der junge Ehemann ist fort, der nette, zuvor-


kommende Ehemann, der sie anbetet. Es ist November 2004.
Sie ist verängstigt und verzweifelt wegen des Ausgangs der
Wahl, wegen Al Qaida, wegen ihrer Affäre mit einem ehema-
ligen Kommilitonen, der zu ihrem Freundeskreis gehört und
sie noch immer liebt-, wegen »waghalsiger Unternehmungen«
von der Art, die sie mit ihrer Heirat hinter sich lassen wollte.
Sie trägt die Jacke aus weichem Kaschmir, ein blasses, sanftes
Hellbraun. Die weiten Ärmel sind angeschnitten und reichen
bis zu den Handgelenken. Der Schnitt erinnert an einen Ki-
mono oder vielmehr an eine Hausjacke für Herren aus dem
späten 19. Jahrhundert. Am Hals und bis zum unteren Rand
verläuft ein breiter gerippter Streifen, der wie ein Schalkragen
wirkt, obwohl die Jacke kragenlos ist. Sie liegt glatt an ihrem
Körper an und wird tief auf der Hüfte von einem ebenfalls ge-
rippten, zu einem losen Knoten geschlungenen Bindegürtel
zusammengehalten. Die Jacke ist bis zur Taille offen und gibt
den Blick auf einen langen, schmalen Streifen ihres im übrigen
verhüllten Körpers frei. Weil sie so locker sitzt, ist der Körper
größtenteils verborgen. Dennoch sieht er, dass sie schlank ist:
Nur eine schlanke Frau kann in einem so weiten Kleidungs-
stück attraktiv aussehen. Es erinnert ihn an einen extrem kur-
zen Bademantel, und daher gibt er sich, obwohl von ihrem
Körper so wenig zu erkennen ist, der Phantasie hin, er sei in
ihrem Schlafzimmer und werde bald mehr von ihr zu sehen
bekommen. Die Frau, die ein solches Stück trägt, muss wohl-
habend sein (um sich etwas so Teures leisten zu können) und
großen Wert auf sinnliche Genüsse legen (denn sie hat Geld für
ein Kleidungsstück ausgegeben, das fast ausschließlich dazu
dient, sich im häuslichen Bereich der Muße hinzugeben).

Bei der Aufführung müssen an geeigneter Stelle kleine Pausen


entstehen, denn beide halten hin und wieder inne, um nach-
zudenken, bevor sie eine Frage beantworten.
MUSIK: Vier letzte Lieder. Wegen der Tiefgründig-
keit, die nicht durch Komplexität, sondern durch Klarheit und
Schlichtheit erzeugt wird. Wegen der Reinheit der Empfin-
dungen üher Tod, Abschied und Verlust. Wegen der langen
melodischen Linie, die sich darin entfaltet, und der Frauen-
stimme, die sich zu immer größeren Höhen aufschwingt. We-
gen der Ruhe und Gefasstheit und Eleganz und der großen
Schönheit dieser Melodieführung. Wegen der Art, wie man in
den großartigen Bogen des Kummers hineingezogen wird.
Der Komponist lässt alle Masken fallen und steht, mit zwei-
undachtzig Jahren, nackt vor einem. Und man zerfließt.

SIE Ich verstehe, warum Sie nach New York zurückkehren. Aber
warum sind Sie überhaupt fortgegangen?
ER Weil ich eine Reihe von Morddrohungen bekommen habe.
Postkarten mit Morddrohungen auf der einen und einem Bild
des Papstes auf der anderen Seite. Ich bin damals zum FBI
gegangen, und die haben mir gesagt, was ich tun soll.
SIE Hat man den Absender je ermittelt?
ER Nein, nie. Aber ich bin geblieben, wo ich war.
SIE Dann ... schicken irgendwelche Verrückten also Morddro-
hungen an Schriftsteller. Davor hat man uns auf der Uni nicht
gewarnt.
ER Na ja, auch wenn man nur die letzten Jahre betrachtet, bin ich
nicht der erste, der Morddrohungen erhalten hat. Der
berühmteste Fall ist der von Salman Rushdie.
SIE Das stimmt. Natürlich.
ER Ich will meine Situation nicht mit seiner vergleichen.
Aber lassen wir Salman Rushdie mal beiseite – ich kann
mir nicht vorstellen, dass ich der einzige bin, dem das pas-
siert ist. Es stellt sich die Frage, ob die Drohung aufgrund
dessen ausgestoßen wird, was der Schriftsteller geschrie-
ben hat, oder ob es Leute gibt, die einfach von einem be-
stimmten Namen in Rage versetzt werden und Impulsen
gehorchen, die uns anderen fremd sind. Sie haben viel-
leicht bloß ein Foto in einer Zeitung gesehen. Stellen Sie
sich vor, was passieren konnte, wenn so ein Mensch eines
der Bücher aufschlägt, die Sie geschrieben haben. Für ihn
sind Ihre Worte etwas Bösartiges, das ihn in einen über-
mächtigen Bann schlägt. Selbst zivilisierte Menschen wer-
fen mal ein Buch, das ihnen nicht gefällt, quer durchs
Zimmer. Für weniger beherrschte Leute ist es nur ein
kleiner Schritt zum Laden einer Pistole. Oder sie steigern
sich in einen echten Hass auf das hinein, was sie in einem
sehen – denken Sie an die Motive der Terroristen, die das
World Trade Center angegriffen haben. Es gibt dort drau-
ßen jede Menge Hass.
SIE Ja, der Hass ist da – er ist grenzenlos und verrückt.
ER Und er macht Ihnen schreckliche Angst.
SIE Das stimmt. Ich bin fix und fertig – immerzu nervös und
ängstlich. Und dann ist da auch noch die Scham, die man
empfindet, wenn man sich so fühlt. Zu Hause bin ich
schweigsam und narzisstisch und besessen von Gedanken an
meine eigene Sicherheit, und das, was ich schreibe, ist
schrecklich.
ER Hatten Sie immer schon Angst vor dem Hass ?
SIE Nein, das ist neu. Ich habe alles Vertrauen verloren. Man
hat jetzt nicht mehr bloß Feinde – auch die Menschen, die
einen beschützen sollen, sind zu Feinden geworden. Die
Menschen, die sich um einen kümmern sollen, sind zu
Feinden geworden. Nicht Al Qaida jagt mir Angst ein, sondern
meine eigene Regierung.
ER Al Qaida jagt Ihnen keine Angst ein? Sie haben keine Angst
vor Terroristen?
SIE Doch. Aber die tiefersitzende Angst ist die vor den Men- schen,
die auf meiner Seite stehen sollten. Da draußen in
der Welt wird es immer Feinde geben, aber ... Als Sie sich
an das FBI gewandt haben – wenn Sie an einem gewissen
Punkt das Gefühl gehabt hätten, dass das FBI Sie nicht
vor der Person, die Ihnen Morddrohungen geschickt hat,
beschützt, sondern dass es vielmehr das FBI ist, von dem
Gefahr für Sie ausgeht, dann hätte das dem Terror eine
ganz neue Dimension gegeben. Und das ist der Grund,
warum ich eine solche Angst habe.
ER Und Sie glauben, dass Sie diese Angst dort, wo ich lebe,
nicht haben werden?
SIE Ich glaube, das Leben dort wird meine begründeteren
Ängste mindern, indem es den Aspekt physischer Gefahr
beseitigt, und das wird mich ein wenig beruhigen, glaube
ich. Ich glaube nicht, dass es meine Wut beseitigen wird –
die Wut auf meine Regierung –, aber im Augenblick stehe ich so
unter Spannung, dass ich zu nichts fähig bin. Ich weiß nicht mal
ansatzweisc, was ich tun soll, und darum muss ich einfach
fortgehen. Darf ich Sie etwas fragen? (Sie lacht schon im voraus
höflich über ihre Vermessenheit.)
ER Natürlich.
SIE Glauben Sie, dass Sie auch ohne diese Morddrohungen
fortgegangen wären? Glauben Sie, dass Sie an einem be-
stimmten Punkt so oder so gegangen wären?
ER Ich weiß es wirklich nicht. Ich war allein. Ich war ungebunden.
Ich kann meine Arbeit überallhin mitnehmen. Ich hatte ein
Alter erreicht, in dem ich mich nicht mehr auf gewisse Arten
von Beziehungen einlassen wollte.
SIE Wie alt waren Sie, als Sie gegangen sind?
ER Sechzig. Das erscheint Ihnen jetzt sehr alt.
SIE Ja. Das stimmt.
ER Wie alt sind Ihre Eltern?
SIE Meine Mutter ist fünfundsechzig, mein Vater ist achtund-
sechzig.
ER Als ich fortging, war ich nur wenig jünger als Ihre Mutter.
SIE Das war etwas anderes als das, was wir jetzt vorhaben. Billy
findet das alles nicht so gut. Auch nicht das, was es über mich
offenbart hat.
ER Nun, er kann ja auch dort schreiben.
SIE Ich glaube, es wird uns beiden guttun, und das wird er mit der
Zeit schon erkennen. Er ist ohnehin anpassungsfähiger als ich.
ER Gibt es etwas, was Sie nicht gern zurücklassen? Was Ihnen
fehlen wird?
SIE Ein paar Freunde. Aber es ist auch ganz gut, mal eine Zeitlang
ohne sie zu sein.
ER Haben Sie einen Liebhaber?
SIE Warum fragen Sie mich das?
ER Wegen der Art, wie Sie gesagt haben, dass es ein paar Freunde
gibt, die Ihnen fehlen werden.
SIE Nein. Ja.
ER Sie haben also einen Liebhaber. Wie lange sind Sie verhei-ratet?
SIE Fünf Jahre. Wir waren jung.
ER Weiß Billy, dass Sie einen Geliebten haben?
SIE Nein, nein, er weiß nichts.
ER Kennt er ihn?
SIE Ja.
ER Was hält Ihr Geliebter davon, dass Sie fortgehen? Weiß er es
überhaupt? Macht es ihn wütend?
SIE Er weiß es noch nicht.
ER Sie haben es ihm nicht gesagt?
SIE Nein.
ER Sagen Sie die Wahrheit?
SIE Ja.
ER Warum sagen Sie die Wahrheit?
SIE Irgend etwas an Ihnen flößt mir Vertrauen ein. Ich habe
Ihre Bücher gelesen. Sie sind nicht so leicht zu schockie-
ren. Nach dem, was ich von Ihnen gelesen habe, stelle ich
mir vor, dass Sie eher ein neugieriger Mensch sind als einer,
der schnelle Urteile fällt. Ich glaube, es ist mit einer
gewissen Lust verbunden, Gegenstand der Neugier eines
neugierigen Menschen zu sein.
ER Versuchen Sie, mich eifersüchtig zu machen?
SIE (lacht) Nein. Sind Sie denn eifersüchtig?
ER Ja.
SIE (etwas verblüfft) Tatsächlich? Auf meinen Liebhaber?
ER Ja.
SIE Wie kann das sein?
ER Erscheint Ihnen das so unmöglich?
SIE ES kommt mir sehr seltsam vor.
ER Wirklich?
SIE Wirklich.
ER Sie wissen gar nicht, wie attraktiv Sie sind.
SIE Warum sind Sie heute hergekommen?
ER Um mit Ihnen allein zu sein.
SIE Ich verstehe.
ER Ja, um mit Ihnen allein zu sein.
SIE Warum wollen Sie mit mir allein sein?
ER Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen ?
SIE Ich habe Ihnen auch die Wahrheit gesagt.
ER Weil es mich erregt, mit Ihnen allein zu sein.
SIE Gut. Ich glaube, es erregt mich ebenfalls, mit Ihnen allein
zu sein. Vielleicht aus anderen Gründen. Wir könnten
wahrscheinlich beide ein bisschen Erregung vertragen.
ER Sorgt denn Ihr Liebhaber nicht für Erregung?
SIE Ich kenne ihn schon sehr lange. Dass er mein Liebhaber
geworden ist, hat sich erst vor relativ kurzer Zeit entwik-
kelt. Da gibt es nichts Neues.
ER Er war schon auf dem College Ihr Liebhaber.
SIE Aber dann viele Jahre lang nicht mehr. Und jetzt entwickelt die
Beziehung sich rückwärts. Die Leidenschaft ist längst vorbei.
Wir sind auf dem absteigenden Ast.
ER Ihr Liebhaber ist also nicht mehr aufregend. Und Ihre Ehe
ebenfalls nicht. Haben Sie erwartet, dass Ihre Ehe aufregend
sein würde?
SIE (lackt) Ja.
ER Wirklich?
SIE Ja.
ER Hat man Ihnen in Harvard irgend etwas beigebracht?
SIE (lacht abermals leise) Als wir geheiratet haben, waren wir sehr
verliebt, und die Aussicht auf die Zukunft, die Aussicht darauf,
eine gemeinsame Zukunft zu haben, erschien uns wunderbar.
Zu heiraten erschien uns wie das größte Abenteuer. Wie das
Neueste, was wir tun konnten. Wie der große nächste Schritt.
(Sie hält inne.) Sind Sie froh, dass Sie fortgegangen sind? Sind
Sie froh über das, was Sie getan haben?
ER Vor ein paar Wochen hätte ich Ihnen eine andere Antwort
gegeben. Noch vor ein paar Stunden hätte ich Ihnen eine andere
Antwort gegeben.
SIE Durch was hat sich die Antwort verändert?
ER Dadurch, dass ich eine junge Frau wie Sie kennengelernt
habe.
SIE Was interessiert Sie so sehr an mir?
ER Ihre Jugend und Ihre Schönheit. Dass wir so schnell ins Gespräch
gekommen sind. Die erotische Stimmung, die Sie mit Worten
erzeugen.
SIE New York ist voll von schönen jungen Frauen.
ER Ich bin seit Jahren ohne die Gesellschaft einer Frau und
all dessen, was dazugehört. Dies ist eine überraschende
Wendung, die mir nicht unbedingt guttut. Jemand – ich
weiß nicht mehr, wer – hat mal geschrieben: »Eine große
Liebe, die spät im Leben kommt, steht allem anderen im
Weg.«
SIE Große Liebe? Könnten Sie das bitte etwas genauer er-
klären?
ER Es ist eine Krankheit. Ein Fieber. Eine Art Hypnose. Ich
kann es nur erklären, indem ich sage, dass ich mit Ihnen
allein in einem Zimmer sein will. Ich will in Ihrem Bann
sein.
SIE Das freut mich. Es freut mich, dass Sie bekommen haben, was
Sie wollen. Das ist gut.
ER Es ist herzzerreißend.
SIE Warum?
ER Was glauben Sie? Sie sind Schriftstellerin. Sie wollen Schrift-
stellerin sein. Warum würde ein Einundsiebzigjähriger sagen,
dass es herzzerreißend ist?
SIE (taktvoll) Weil Sie wieder all diese Gefühle haben, aber nicht
imstande sind, den nächsten Schritt zu tun.
ER Genau.
SIE Aber es ist eine gewisse Lust dabei, nicht?
ER Eine Lust, die mir das Herz zerreißt.
SIE (hat etwas gelernt) Hmmm. (Nach einer langen Pause, mit
gespielter Theatralik.) Ach, was kann man da tun?
ER Haben Sie einen Vorschlag?
SIE Nein, ich habe keine Ahnung, was man da tun könnte. Ich gehe
fort, weil ich keine Ahnung habe, was ich gegen irgend etwas
tun könnte.
ER Sie machen den Eindruck, als wären Sie die ganze Zeit den
Tränen nahe.
SIE (lacht) Tja, aber ich kann Ihnen sagen: Weinen hilft nicht.
ER (lacht ebenfalls, schweigt aber. Dieser Flirt ist eine Höllenqual, der
Mann in ihm steht in Flammen.)
SIE Waren Sie heute schon draußen? Die ganze Stadt ist den
Tränen nahe. Ja, ja, ich bin den Tränen nahe. Für mich ist
das alles sehr bedeutsam, das können Sie sich ja vorstel-
len. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich gestern
abend gefühlt habe, als –
ER Ich war hier. Ich habe es gesehen. Haben Sie bemerkt, dass ich
da war?
SIE Und Sie haben offenbar bemerkt, dass ich da war. Aber
irgend etwas hat Sie gepackt, bevor Sie mich kennenge-
lernt haben. Und zwar nicht ich. Sie haben beschlossen,
sich unsere Wohnung anzusehen. Irgend etwas hat Sie
gepackt – was war es? Diese Morddrohungen erklären in
meinen Augen nicht diese extreme Wendung, die Sie
Ihrem Leben gegeben haben. Auch wenn Sie noch so oft
erklären, dass Sie Schriftsteller sind und diese Morddro-
hungen erhalten haben – Sie haben Ihrem Leben eine ex-
treme Wendung gegeben, indem Sie fortgegangen sind
und so gelebt haben, wie Sie es in den vergangenen Jahren
getan haben. Ich denke immer wieder darüber nach. Was
war der wahre Grund? Es gab also diese Postkarten. Na
und? Die Postkarten waren ein Vorwand. Wenn es nur
die Postkarten gewesen wären, hätten Sie für ein Jahr
fortgehen und Kontakt zu Freunden und Frauen halten
können, und nach und nach wären keine Postkarten mehr
gekommen, und Sie hätten wieder zurückkehren können.
Aber ein Mann, der sich zurückzieht, der sich so abschot-
tet, wie Sie es getan haben, muss einen viel gewichtigeren
Grund haben. Man gibt sein Leben nicht wegen eines
willkürlichen, äußerlichen Grundes wie einer Mord-
drohung auf.
ER Was könnte denn der eigentliche Grund sein?
SIE Einem Schmerz entkommen zu wollen.
ER Was für einen Schmerz meinen Sie?
SIE Den Schmerz, anwesend zu sein.
ER Beschreiben Sie jetzt nicht sich selbst?
SIE Vielleicht. Der Schmerz, im gegenwärtigen Augenblick anwes-
end zu sein. Ja, man könnte sagen, das erklärt recht
genau den extremen Schritt, den ich tun will. Aber bei
Ihnen ging es nicht bloß um den gegenwärtigen Augen-
blick. Es ging darum, überhaupt anwesend zu sein. Es
ging darum, in der Gegenwart von irgend etwas anwesend zu
sein.
ER Haben Sie mal den Roman Die Schattenlinie gelesen?
SIE Von Conrad? Nein. Ein Freund hat mir davon erzählt, aber ich
habe das Buch nie gelesen.
ER Der erste Satz lautet: »Nur junge Menschen kennen sol-
che Augenblicke.« Es sind Augenblicke, die Conrad als
»unbesonnen« bezeichnet. Auf den ersten Seiten bereitet
er den Boden für seine Geschichte. »Unbesonnene Au-
genblicke« – eine Aussage, die nur aus diesen beiden
Wörtern besteht. Dann fährt er fort: »Ich meine Augen-
blicke, in welchen junge Menschen geneigt sind, etwas
Unbesonnenes zu tun, etwa Hals über Kopf zu heiraten
oder einen Posten grundlos zu kündigen.« So heißt es da.
Aber diese unbesonnenen Augenblicke gibt es nicht nur
in der Jugend. Dass ich gestern abend hierhergekom-
men bin, war unbesonnen. Dass ich es gewagt habe, hier-
her zurückzukehren, war ebenfalls unbesonnen. Auch
im Alter gibt es unbesonnene Augenblicke. Meine erste
Unbesonnenheit war fortzugehen, meine zweite war zu-
rückzukehren.
SIE Billy denkt, dass er einem unbesonnenen Augenblick von mir
nachgibt und ich, wenn er das nicht täte, in Angst und
Depression versinken würde. Aber er denkt, dass es ein
unbesonnener Augenblick ist. Ich habe mich nie als einen
verzweifelten Menschen betrachtet. Ich will nicht denken, dass
ich etwas Verzweifeltes tue.
ER Ich glaube, es wird Ihnen dort gefallen. Sie werden mir feh-
len.
SIE Na ja, es ist Ihr Haus. Sie können jederzeit kommen.
Wenn Sie etwas vergessen haben, kommen Sie einfach vorbei.
Wir könnten zusammen zu Mittag essen.
ER Sie könnten etwas vergessen haben und nach New York
kommen.
SIE Klar.
ER Gut. Sie sind weniger kurz angebunden zu mir als gestern
abend. Die Tatsache, dass ich mir Bushs Lügen nicht an-
gehört habe, macht mich ja noch nicht zu einem Gegner.
STE War ich gemein?
ER Ich hatte das Gefühl, dass Sie mich nicht mochten. Aber
vielleicht habe ich Sie eingeschüchtert.
SIE Natürlich haben Sie das. Auf dem College habe ich all
Ihre Bücher gelesen und seither alle, die Sie später geschrieben
haben. Da oben, in der Abgeschiedenheit der Berkshires, war es
Ihnen vielleicht nicht bewusst, aber es gibt viele, Leute in
meinem Alter oder älter (lacht) oder jünger, für die Sie eine
wichtige Funktion erfüllen. Wir bewundern Sie.
ER Tja, ich habe mich seit vielen Jahren nicht mehr im Spiegel der
Öffentlichkeit betrachtet. Davon weiß ich nichts.
SIE Ich habe es Ihnen gerade gesagt.
ER Ich weiß es trotzdem nicht. Aber es ist sehr schön zu hören, dass
Sie mich bewundern, denn ich habe Sie schon nach kurzer Zeit
bewundert.
SIE (überrascht) Sie haben mich schon nach kurzer Zeit bewundert?
Warum?
ER Ich sage es nicht gern, aber »eines Tages werden Sie es ver-
stehen«. (Sie lacht.)
ER Ihr Postmodernen lacht oft.
SIE Ich lache, weil ich vieles komisch finde.
ER Lachen Sie über mich?
SIE Ich lache über die Situation. Sie reden mit mir, als wären
Sie mein Vater. Eines Tages werde ich es verstehen. Liegt
die Freude darin, es zu tun, oder nur darin, es getan zu
haben? Ich spreche vom Schreiben. Und ich wechsle das
Thema.
ER Sie liegt darin, es zu tun. Die Freude daran, es getan zu ha-
ben, wahrt nicht lange. Man spürt Freude, wenn man
den Stoß Papier in der Hand hält, und dann noch einmal,
wenn das erste Exemplar eintrifft. Ich nehme es hundert-
mal in die Hand und lege es wieder weg. Wenn ich esse,
liegt es neben meinem Teller. Manchmal nehme ich es mit
ins Bett.
SIE Das kenne ich. Als meine erste Geschichte veröffentlicht
wurde, habe ich den New Yorker unter mein Kopfkissen
gelegt.
ER Sie sind eine überaus bezaubernde junge Frau.
SIE Danke, danke.
ER Darum lebe ich auf dem Land.
SIE Ich verstehe.
ER Es ist ein bisschen schmerzlich für mich, nach New York
zurückzukehren, und auch das hier ist ein bisschen
schmerzlich. Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.
SIE Gut. Vielleicht können wir uns noch einmal allein treffen und
miteinander sprechen.
ER Das würde mir den Rest geben, meine Freundin.
SIE Ich wäre gern Ihre Freundin.
ER Warum?
SIE Weil ich niemanden wie Sie habe.
ER Sie kennen mich nicht.
SIE Das stimmt. Ich habe sonst keine Interaktionen wie diese.
ER Müssen Sie dieses Wort gebrauchen? Sie sind doch Schrift-
stellerin – streichen Sie das Wort »Interaktion« aus Ihrem
Wortschatz.
SIE (lacht) Ich habe keine Gespräche wie dieses. Ich komme nicht in
Situationen wie diese.
ER Ich wollte Sie nicht korrigieren. Das geht mich nichts an.
Entschuldigen Sie.
SIE Ich verstehe Sie schon. Wenn Sie sich mk mir treffen und sich
mit mir unterhalten wollen – meine Nummer ist Ihre Nummer.
Sie können mich jederzeit anrufen.
ER Es ist, als hätte ich nicht auf eine Anzeige aus der Rubrik
»Wohnungstausch« reagiert, sondern auf eine aus der
Rubrik »Bekanntschaften«. »Höchst attraktive, sehr ge-
bildete junge Frau (weiß, verheiratet) hat noch Termine
für intime Gespräche frei ...« Ich habe mehr gefunden als
eine neue Wohnung, nicht wahr?
SIE Vielleicht eine Freundin.
ER Aber dies ist keine Freundschaft, wie ich sie haben kann.
SIE Was können Sie denn haben?
ER Wie es aussieht, nicht viel. Mir ist Wertvolles genommen
worden, und das hat mich in eine unangenehme Lage ge-
bracht, aus der ich nicht durch harte Arbeit und so weiter
herausfinden kann. Verstehen Sie, was ich meine?
SIE Nein, ich verstehe nicht ganz. Meinen Sie, dass Sie alter
geworden sind? Oder sprechen Sie von etwas Bestimm-
tem?
ER (lacht) Ich glaube, ich meine, dass ich älter geworden bin.
SIE Jetzt verstehe ich.
ER Es zerreißt mir noch das Herz, also gehe ich jetzt besser.
Ich werde meinem Verlangen widerstehen und nicht versuchen,
Sie zu küssen.
SIE Okay.
ER Es würde uns nicht weiterbringen.
SIE Sie haben recht. Ich bin froh, dass Sie vorbeigekommen sind.
Sehr froh.
ER Sind Sie eine Verführerin?
SIE Nein, nein, absolut nicht.
ER Sie haben einen Mann, Sie haben einen Liebhaber, und jetzt
wollen Sie mich als Freund. Sammeln Sie Männer? Oder
sammeln Männer Sie?
SIE (lacht) Ich glaube, ich habe Männer gesammelt, und Männer
haben mich gesammelt.
ER Sie sind erst dreißig. Haben Sie viele Männer gesammelt?
SIE Ich weiß nicht, was Sie mit »viele« meinen. (Lacht wieder.)
ER Ich meine, seit Sie das College verlassen haben. In der Zeit
zwischen der Abschlussfeier und diesem Nachmittag, der damit
endet, dass Sie mich mit Ihrer Verführungskraft gesammelt
haben ... Aber Sie benehmen sich jetzt kindisch, als besäßen Sie
diese Kraft nicht. Hat Ihnen nie jemand gesagt, dass Sie sie
besitzen?
SIE Doch. Ich habe nur gelacht, weil ich, wenn Sie sich zu den
gesammelten Männern zählen, nicht wüsste, wie ich die
Männer, die ich angeblich gesammelt habe, zählen sollte.
ER Sie haben mich gesammelt.
SIE Und trotzdem wollen Sie mich nicht mehr anrufen. Und Sie
wollen mich nicht küssen. Vielleicht werden wir einander gar
nicht mehr sehen, außer bei der Schlüsselübergabe, wenn mein
Mann dabei ist. Ich verstehe nicht, wie ich Sie gesammelt haben
soll.
ER Für einen Mann wie mich ist eine Begegnung wie diese
überwältigend.
SIE Das will ich nicht. Es tut mir leid, wenn ich Sie überwäl-
tigt habe.
ER Schade, dass ich Sie nicht überwältigen konnte.
SIE Sie haben mir eine Freude gemacht.
ER Wie gesagt: das hier zerreißt mir noch das Herz, und darum
muss ich jetzt gehen.
SIE Danke, dass Sie gekommen sind.

(Auf der Straße, als er zu Fuß zurück zum Hotel geht und an
die soeben erlebte Szene denkt – und wenn er sich vorkommt
wie ein Schauspieler, der von einer Probe für ein noch nie öf-
fentlich gezeigtes Stück kommt, dann weil diese Frau ihm wie
eine Schauspielerin erscheint, wie eine mit überaus viel Intui-
tion begabte, intelligente junge Schauspielerin, die gut zuhört,
vollkommen konzentriert ist und ruhig antwortet –, fühlt er
sich an die Szene in Ein Puppenheim erinnert, in der der ster-
bende, unglücklich liebende, gebildete Dr. Rank von Torvald
Helmers schöner Frau, der verwöhnten, flatterhaften jungen
Nora, aufgefordert wird, sich für einen Augenblick zu ihr zu
gesellen. Das Tageslicht schwindet, der Raum erscheint klei-
ner, auf der Straße fahren ein, zwei Droschken vorbei, die
Stadt tritt in den Hintergrund, während die direkte Umge-
bung der beiden dunkler wird und näher rückt. Sie nehmen
sich Zeit füreinander, sie hören einander gut zu. Die Szene ist
so aufgeladen mit Sexualität, aber auch so traurig. Beide sind
sehr mit ihrer jeweiligen Vergangenheit beschäftigt, doch keiner
weiß viel über die des anderen. Das langsame Tempo, das
häufige Schweigen und was es zu enthalten scheint. Beide sind
verzweifelt, wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen
Gründen. Für ihn ist es jedoch die letzte verzweifelte Szene,
ganz gewiss mit dieser schlauen, begabten Schauspielerin, die
sich als hoffnungsvolle Schriftstellerin ausgibt. Eine Szene,
mit der das Stück Er und Sie beginnt, ein Stück über Begehren
und Versuchung, über Koketterie und Qual – nicht enden
wollende Qual –, eine Improvisation, die man am besten
einen gnädigen Tod sterben lassen sollte. Es gibt eine Erzäh-
lung von Tschechow mit dem Titel »Er und Sie«. Er kann sich
nur an den Titel erinnern, nicht an den Inhalt [vielleicht gibt
es diese Erzählung auch gar nicht], doch er kennt den Wort-
laut des Schlüsselsatzes in dem Brief in dem der noch junge
Tschechow Ratschläge über das Schreiben von Erzählun-
gen erteilt hat. Er hat diesen Brief eines sehr bewunderten
Schriftstellers, den er mit Mitte Zwanzig gelesen hat, noch
deutlich vor Augen, während ihm gestern getroffene Verab-
redungen vollkommen entfallen sind. »Der Schwerpunkt«,
schrieb Tschechow 1886, »sollte in zwei Personen liegen: ihm
und ihr.« Das sollte er. Das hat er. Zum allerletztenmal.)

Meine Tasche stand halb gepackt auf der Kommode, wo ich


sie hatte stehenlassen, als ich zur West 71st Street geeilt war.
Am Telefonapparat blinkte ein Licht und zeigte an, dass je-
mand eine Nachricht für mich hinterlassen hatte. Ich wusste
jedoch nicht, wer es gewesen war, denn sobald ich in mein
Zimmer zurückgekehrt war, hatte ich mich an den zu kleinen
Tisch an dem Fenster mit Ausblick auf den Verkehr auf der
53rd Street gesetzt und, wieder einmal auf Hotelbriefpapier
und so schnell ich konnte, den Dialog mit Jamie aufgeschrie-
ben, der gar nicht stattgefunden hatte. Als Gedächtnisstütze
war in meinem Aufgabenbuch festgehalten, was ich tat und
was ich tun sollte, aber dieser ungesprochene Dialog hielt nur
fest, was nicht getan worden war, und stützte nichts, erleich-
terte nichts, erreichte nichts, und doch war es mir, wie in der
Wahlnacht, schrecklich notwendig erschienen, in dem Au-
genblick, in dem ich durch die Tür trat, dieses Gespräch auf-
zuschreiben – die Gespräche, die wir nicht führen, sind noch
bewegender als die anderen, die wir führen, und das imaginäre
SIE ist fester in der Mitte von Jamies Wesen verankert, als es
das tatsächliche »Sie« je sein wird.
Aber ist der Schmerzquotient nicht schon erschreckend
genug ohne die fiktionale Verstärkung, ohne die künstliche
Intensität von Dingen, die im wirklichen Leben flüchtig und
manchmal sogar unbemerkt sind? Bei manchen nicht. Für
sehr, sehr wenige Menschen stellt diese zögernd aus dem
Nichts erscheinende Verstärkung die einzige Sicherheit dar,
und das Ungelebte, die ausformulierte und zu Papier ge-
brachte Mutmaßung, ist das Leben, das letztlich am schwer-
sten wiegt.
3 Amys Gehirn

ALS ICH SCHLIESSLICH zum Telefon griff und die Nachricht


abhörte, vernahm ich dieselbe Stimme wie am Donnerstag
zuvor, als ich das Krankenhaus verlassen hatte: die jugend-
liche Stimme der gealterten Amy Bellette. »Nathan Zucker-
man«, sagte sie, »dass Sie unter dieser Nummer zu erreichen
sind, habe ich der Nachricht entnommen, die mir eine grässli-
che Nervensäge namens Richard Kliman in den Briefkasten
geworfen hat. Ich weiß nicht, ob Sie sich die Mühe machen
werden, zu antworten, und ob Sie sich überhaupt an mich er-
innern. Wir haben uns 1956 in Massachusetts kennengelernt.
Im Winter. Ich hatte am Athena College bei E. I. Lonoff stu-
diert und arbeitete damals in Cambridge. Sie waren ein junger
Schriftsteller und wohnten in der Quahsay Colony, und wir
beide waren in jener Nacht Lonoffs Gaste. Es herrschte dichtes
Schneetreiben an diesem Abend in den Berkshires. Das ist jetzt
sehr lange her, und ich könnte es verstehen, wenn Sie mich
nicht zurückrufen würden.« Es folgte ihre Nummer, und dann
hatte sie aufgelegt.
Wieder einmal dachte ich nicht nach, nicht einmal über
Klimans Motive, die mir rätselhaft waren – was versprach er
sich davon, Amy und mich zusammenzubringen? Doch ich
machte mir weder Gedanken über Kliman noch darüber, was
diese gebrechliche alte Frau, die entweder rekonvaleszent war
oder dem Tod durch einen Hirntumor entgegensah, bewogen
haben mochte, mich anzurufen, nachdem sie von Kliman er-
fahren hatte, dass ich in der Stadt war. Ich fragte mich auch
nicht, warum es so leicht war, mich zu einer Reaktion zu be-
wegen, wo ich doch nur den irregeleiteten Versuch, meine
Lebensumstände zu verbessern, beenden und nach Hause zu-
rückkehren wollte, um ein Dasein fortzusetzen, das mehr war
als die Summe meiner Gebrechen.
Ich wählte ihre Nummer, als wäre es ein Code, der die Fülle
wiederherstellen würde, die wir alle einst genossen hatten; ich
wählte sie, als wäre das Zurückdrehen der Lebenszeit so
normal und gewöhnlich wie das Einstellen der Schaltuhr eines
Küchenherds. Ich spürte wieder meinen Herzschlag, nicht weil
ich wusste, dass ich gleich in Jamie Logans Gegenwart sein
würde, sondern weil ich vor meinem geistigen Auge Amys
schwarzes Haar, ihre dunklen Augen und den zuversichtlichen
Gesichtsausdruck sah, den sie 1956 gehabt hatte, weil ich mich
an ihre Gewandtheit, ihren Charme und ihren raschen,
beweglichen Geist erinnerte, der von Lonoff und der Literatur
erfüllt gewesen war.
Während das Telefon am anderen Ende der Leitung läutete,
dachte ich daran, wie ich sie in jenem Schnellimbiss be-
obachtet hatte, als unter dem ausgeblichenen Regenhut ihr
entstellter Schädel und die Verschrungen durch das Schicksal
zum Vorschein gekommen waren. Zu spät, hatte ich gedacht,
war aufgestanden, hatte meinen Kaffee bezahlt und war ge-
gangen, ohne sie anzusprechen. Überlass sie ihrer inneren
Stärke.
Ich befand mich in einem gewöhnlichen, nichtssagenden,
unpersönlichen Hilton-Zimmer, doch meine Entschlossen-
heit, sie zu erreichen, hatte mich um fast fünfzig Jahre zu-
rückversetzt in eine Zeit, als der Anblick einer exotischen
jungen Frau mit ausländischem Akzent einem unerfahrenen
Jungen wie mir wie die Antwort auf alle Fragen erschienen
war. Ich wählte ihre Nummer und war dabei ein gespaltener
Mensch, nicht mehr und nicht weniger intakt als jeder andere,
ich war der Grünschnabel, den sie 1956 kennengelernt hatte,
und zugleich der unwahrscheinliche Beobachter (mit der un-
vorhersehbaren Biographie), zu dem sich dieser Grünschnabel
bis zum Jahr 2004 entwickelt hatte. Doch ich war nie weniger
frei gewesen von diesem jungen Mann und seinem Gewirr aus
unschuldigem Idealismus, frühreifem Ernst, begeisterungs-
fähiger Neugier und ausschweifendem, noch lächerlich unge-
stilltem Verlangen als jetzt, da ich darauf wartete, dass sie sich
meldete. Und als sie es tat, wusste ich nicht, wen ich mir am
anderen Ende der Leitung vorstellen sollte: die damalige oder
die jetzige Amy. Ihre Stimme übermittelte die strahlende
Frische eines jungen Mädchens, das im Begriff ist zu tanzen,
doch der mit dem Skalpell bearbeitete Schädel war ein so
düsteres Bild, dass ich es nicht unterdrücken konnte.
»Ich habe Sie in einem Schnellimbiss an der Ecke Madison
und 96th gesehen«, sagte Amy, »aber ich habe mich nicht ge-
traut, Sie anzusprechen. Sie sind ein so bedeutender Mensch
geworden.«
»Bin ich das? Da, wo ich lebe, bin ich nicht bedeutend.
Wie geht es Ihnen, Amy?« fragte ich und erwähnte mit kei-
nem Wort, wie bestürzt ich über die Brutalität der Verände-
rung, die sie durchgemacht hatte, gewesen war, so bestürzt,
dass ich mich meinerseits nicht getraut hatte, sie anzuspre-
chen. »Ich erinnere mich sehr gut an den Abend, an dem wir
uns kennengelernt haben. Jenen Abend 1956, als es so sehr ge-
schneit hat. Dass Lonoff bei seinem Tod noch mit seiner Frau
verheiratet war, habe ich erst aus den Nachrufen erfahren. Ich
dachte, er hätte Sie geheiratet.«
»Wir haben nie geheiratet. Er konnte nicht. Aber das machte
nichts. Wir waren vier Jahre zusammen, die meiste Zeit in
Cambridge. Wir haben ein Jahr in Europa gelebt, dann sind wir
zurückgekehrt, er hat geschrieben und geschrieben und ein
bisschen unterrichtet, und dann ist er krank geworden und
gestorben.«
»Er hat an einem Roman geschrieben«, sagte ich.
»Er war Ende Fünfzig und schrieb an seinem ersten Roman.
Hätte die Leukämie ihn nicht umgebracht, dann hätte es der
Roman getan.«
»Warum?«
»Wegen des Themas. Als Primo Levi sich umgebracht hat,
haben alle gesagt, er hätte es getan, weil er in Auschwitz gewe-
sen war. Ich glaube aber, er hat es getan, weil er über Ausch-
witz geschrieben hat. Es war die Mühsal dieses letzten Buches,
die Tatsache, dass er all das Grauen in dieser Klarheit wieder
vor sich gesehen hat. Jeden Morgen aufzustehen, um an
diesem Buch zu schreiben, hätte jeden umgebracht.«
Sie sprach von Levis Die Untergegangenen und die Geret-
teten.
»Manny hat sich genauso gequält.« Noch nie hatte ich ihn
Manny genannt. 1956 war ich Nathan, sie war Amy, und er und
Hope waren Mr. und Mrs. Lonoff.
»Es ist einiges zusammengekommen, was ihn unglücklich
gemacht hat.«
»Dann waren es also schwere Zeiten für Sie«, sagte ich,
»obwohl Sie beide hatten, was Sie wollten.«
»Es waren schwere Zeiten, weil ich jung genug war zu
denken, dass es das war, was auch er wollte. Er wusste, dass es
nicht mehr war als das, was er zu wollen glaubte. Sobald er sie
los war und endlich mit mir zusammenlebte, veränderte sich
alles: Er war düster, er war distanziert, er war reizbar. Er hatte
Gewissensbisse, und es war schrecklich. Als wir in Oslo lebten,
gab es Nächte, da lag ich reglos neben ihm, starr vor Wut.
Manchmal habe ich gebetet, er möge im Schlaf sterben. Dann
wurde er krank, und unser Leben war wieder idyllisch. So wie
damals, als ich noch seine Studentin war. Ja«, sagte sie und
unterstrich die Tatsache, die sie nicht verbergen wollte, »so
war es: Angesichts von Widrigkeiten war unsere Beziehung
eigenartig beseligend, aber wenn es keine Hindernisse gab,
waren wir unglücklich.«
»So etwas gibt es«, sagte ich und dachte: Beseligung. Ich
erinnere mich an Beseligung. Sie hat einen hohen Preis.
»So etwas gibt es«, sagte sie, »aber es ist erschreckend.«
»Nein. Ganz und gar nicht. Bitte erzählen Sie weiter.«
»Die letzten Wochen waren grauenhaft: Er war verwirrt und
schlief die meiste Zeit. Manchmal machte er Geräusche und
fuchtelte mit den Händen in der Luft, aber was er dabei sagte,
war nicht zu verstehen. Ein paar Tage vor seinem Tod hatte er
einen gewaltigen Wutanfall. Wir waren im Badezimmer. Ich
kniete vor ihm und wechselte ihm die Windel. ›Das ist wie
eine von diesen Schikanen, die Neulinge in den Stu-
dentenverbindungen über sich ergehen lassen müssen‹, rief er.
›Verschwinde!‹ Und dann schlug er mich. Er hatte in seinem
ganzen Leben nie jemanden geschlagen. Ich kann Ihnen nicht
sagen, wie froh ich war. Er hatte noch genug Kraft, um mich
zu schlagen. Er wird nicht sterben! Er wird nicht sterben!
Vorher war er tagelang kaum bei Bewusstsein gewesen. Oder
er hatte halluziniert. ›Ich liege auf dem Boden‹, hatte er vom
Bett aus gerufen. ›Heb mich auf, ich liege auf dem Boden.‹
Der Arzt kam und gab ihm Morphium. Und dann, eines
Morgens, sprach er. Er sagte: ›Das Ende ist so unermesslich, es
hat seine eigene Poesie. Es erfordert praktisch keine Rhetorik.
Man muss es einfach nur benennen.‹ Ich weiß nicht, ob er
jemanden zitierte, ob er sich an irgend etwas erinnerte, was er
gelesen hatte, oder ob das seine eigenen Abschiedsworte
waren. Ich konnte ihn nicht fragen. Es spielte keine Rolle. Ich
stützte nur seinen Kopf und wiederholte es für ihn. Ich konnte
nicht mehr an mich halten. Ich weinte furchtbar. Aber ich
sagte es: ›Das Ende ist so unermesslich, es hat seine eigene
Poesie. Es erfordert praktisch keine Rhetorik. Man muss es
einfach nur benennend Und Manny nickte, so gut er konnte.
Ich habe seither immer wieder nach diesem Zitat gesucht,
Nathan, aber ich konnte es nirgends finden. Wer hat das
gesagt, wer hat das geschrieben? ›Das Ende ist so unermess-
lich ...‹«
»Es klingt nach ihm. Das ist seine Ästhetik, auf den Punkt
gebracht.«
»Und er hat noch mehr gesagt. Ich musste mein Ohr an
seinen Mund legen, um ihn zu verstehen. Kaum hörbar sagte
er: ›Ich will rasiert werden. Und ich will einen Haarschnitt,
Ich will gereinigt sein.‹ Ich trieb einen Friseur auf. Er
brauchte über eine Stunde, weil Manny nicht den Kopf heben
konnte. Danach brachte ich den Mann zur Tür und gab ihm
zwanzig Dollar. Als ich wieder ans Bett trat, war Manny tot.
Tot, aber gereinigt.« Hier brach sie ab, wenn auch nur für
einen Augenblick, und ich konnte ohnehin nichts sagen. Ich
hatte gewusst, dass er gestorben war, und jetzt wusste ich
auch, wie er gestorben war, und obwohl ich ihm nur das eine
Mal begegnet war, empfand ich es dennoch als Schock.
»Immerhin hatte ich sie, diese vier Jahre mit ihm, und ich bin
froh darüber«, sagte sie, »über jeden Tag und jede Nacht dieser
vier Jahre. Ich habe seine Halbglatze unter der Leselampe
glänzen sehen, ich habe gesehen, wie er jeden Abend nach
dem Essen dort saß und sorgfältig etwas unterstrich, was er
gerade gelesen hatte, und wie er über etwas nachdachte und
einen Satz in seinem Notizblock mit der Spiralheftung
notierte, und ich habe gedacht: So einen Mann gibt es nur
einmal.«
Eine Frau, die sich fünfzig Jahre lang an diese vier Jahre
erinnerte – ein ganzes Leben, definiert durch diese kurze Zeit.
»Ich muss Ihnen sagen«, begann ich, »dass dieser Kliman mir
ebenfalls penetrant zusetzt.«
»Das dachte ich mir, als er mir Ihre Telefonnummer gab. Er
will die Biographie schreiben, und ich hatte doch gehofft, dass
niemand sie schreiben würde. Eine Biographie, Nathan. Ich
will das nicht. Das wäre, als müsste er zum zweitenmal
sterben. So etwas gießt ein Leben in Beton und bringt es noch
einmal zu einem Ende. Die Biographie ist wie ein Patent auf
das Leben – und wer ist dieser Junge, dass er ein solches Patent
halten könnte? Wer ist er, dass er sich zu Mannys Richter
aufschwingt? Wer ist er, dass er ihn für immer im Kopf der
Leute verankern will? Kommt er Ihnen nicht auch extrem
oberflächlich vor?«
»Es spielt gar keine Rolle, wie er mir vorkommt oder was
er überhaupt ist. Entscheidend ist, dass Sie es nicht wollen.
Was können Sie tun, um ihn zu stoppen?«
»Ich?« Sie lachte matt. »Nichts. Die Manuskripte der Er-
zählungen liegen in Harvard. Er kann sie sich ansehen, jeder
kann das, obwohl ... Als ich das letzte Mal nachgefragt habe,
wurde mir gesagt, dass kein Mensch sie in den letzten sechs-
unddreißig Jahren sehen wollte. Glücklicherweise scheint
niemand bereit zu sein, mit Kliman zu reden, jedenfalls nie-
mand, den ich kenne. Und ich bin es ganz gewiss auch nicht,
nicht noch einmal. Aber das wird ihn nicht aufhalten. Er kann
sich alles aus den Fingern saugen, und niemand hat das Recht,
es ihm zu verbieten. Die Toten kann man nicht verleumden.
Und wenn er die Lebenden verleumdet, wenn er die Tatsachen
so manipuliert, dass sie ihm ins Konzept passen, wer hat die
Mittel, ihn oder den Verlag, dem er seinen Müll verkauft, zu
verklagen?«
»Lonoffs Kinder. Was ist mit denen?«
»Das ist eine Geschichte, die ich Ihnen ein andermal
erzählen muss. Sie haben nie viel von dem ehrfurchtsvollen
jungen Ding gehalten, das sich den berühmten alten Mann
geschnappt hat. Oder von dem berühmten alten Mann, der für
dieses ehrfurchtsvolle junge Ding seine alternde Ehefrau
verlassen hat. Er hätte sie übrigens nie verlassen, wenn Hope
die Dinge nicht forciert hätte, aber die Kinder hätten es lieber
gesehen, wenn er bis zum Tod durch Ersticken bei ihrer Mut-
ter geblieben wäre. Seine Zähigkeit, seine Askese, seine Lei-
stung – es war, als hätte man ihn ausersehen, den Mount
Everest zu bezwingen, doch als er auf dem Gipfel stand, bekam
er keine Luft mehr. Die Tochter hat mich am meisten ver-
achtet. Eine Person von makelloser Tugendhaftigkeit – sie
kleidet sich in Sackleinen und liest nichts als Thoreau. Ich
könnte mit ihr fertig werden, aber ich habe nie gelernt, mich
von diesen moralischen Übermenschen nicht beleidigt zu
fühlen. Die haben mich immer entweder verhöhnt oder ge-
schnitten. Diese guten Frauen der toleranten, liberalen Do-
zenten in Cambridge, Massachusetts, Anfang der sechziger
Jahre, als eins der Lieblingsspiele der Professorengattinnen
›moralische Entrüstung‹ hieß. ›Du regst dich über etwas voll-
kommen Nebensächliches viel zu sehr auf‹, hat Manny im-
mer gesagt. Manny war ein Meister darin, alles auf unpersön-
liche Art zu betrachten, aber ich habe das nie gelernt, nicht
einmal von dem Mann, der mich gelehrt hat zu lesen, zu
schreiben, zu denken und zu erkennen, was des Wissens wert
war und was nicht. ›Hör auf, dich so einschüchtern zu las-
sen. Das sind lächerliche Menschen, Figuren aus der Läster-
schule.‹ Er war es, der die Frau unseres erlauchten Dekans
Lady Sneerwell genannt hat. Wenn wir in Cambridge zu einer
Abendgesellschaft gingen, war das für mich manchmal uner-
träglich. Darum wollte ich, dass wir ins Ausland gingen.«
»Und für ihn war es nicht unerträglich.«
»Ihn störten solche Dinge nicht. In Gesellschaft konnte er
sich über die allgemeinen Vorurteile einfach hinwegsetzen. Er
hatte die nötige Statur. Aber ich war nur das hübsche Mäd-
chen, das in Athena seine Studentin gewesen war. Als Kind
hatte ich natürlich Schlimmeres erlebt, weit Schlimmeres, aber
damals hatte ich eine Familie, die mich beschützte.«
»Was ist aus Hope geworden?« fragte ich.
»Sie ist in Boston in einer Art Heim. Sie hat Alzheimer«,
sagte Amy und bestätigte damit das, was Kliman mir erzählt
hatte. »Inzwischen ist sie über hundert.«
»Vielleicht könnte ich mich mit Ihnen treffen«, sagte ich.
»Darf ich Sie zum Essen einladen? Würde es Ihnen morgen
abend passen?«
Ihr leichtes, angenehm klingendes Lachen strafte das, was sie
sagte, Lügen. »Ach, ich bin nicht mehr die junge Frau, die Sie
an dem Abend damals angeschmachtet haben. Am nächsten
Morgen, als das Theater losging – erinnern Sie sich an das
hysterische Theater, das Hope veranstaltet hat, als sie so tat,
als würde sie davonlaufen, damit er mit mir allein sein konnte?
An dem Morgen – erinnern Sie sich – haben Sie zu mir gesagt,
ich hätte ›eine gewisse Ähnlichkeit mit Anne Frank‹.«
»Ich erinnere mich.«
»Ich habe eine Hirnoperation hinter mir, Nathan. Sie werden
nicht mit einem jungen naiven Mädchen essen gehen.«
»Ich bin auch nicht mehr das, was ich mal war. Aber
Sie klingen noch genauso verführerisch wie früher. Ich habe
nie erfahren, was für einen Akzent Sie haben, woher Sie
eigentlich stammen. Es muss wohl Oslo sein. Dort haben Sie
Schlimmeres erlebt: als jüdisches Mädchen in Oslo zu der Zeit,
als die Nazis dort waren.«
»Jetzt klingen Sie wie ein Biograph.«
»Der Feind des Biographen. Das Hindernis, das sich ihm
in den Weg stellt. Dieser junge Kerl würde alles so falsch dar-
stellen, dass es sogar Mannys schlimmste Befürchtungen
übersteigen würde. Ich werde Ihnen helfen«, sagte ich, »wo
immer ich kann.« Was zweifellos das war, was sie zu hören ge-
hofft hatte, als sie beschlossen hatte, mich anzurufen.
Also trafen wir eine Verabredung für den nächsten Abend,
ohne die Enthüllung, die Kliman zu einer literarischen Kar-
riere verhelfen sollte, mit einem einzigen Wort zu erwähnen.
Und doch hatten wir so viel gesagt. Zwei Menschen,
dachte ich, die sich nur einmal begegnet sind, und sie kom-
men gleich auf den Punkt und sind überhaupt nicht vorsichtig
in dem, was sie sagen. Das war durchaus aufregend, verriet
aber auch, dass sie vermutlich ebenso allein war wie ich. Oder
vielleicht gab es so etwas wie eine unmittelbare Vertrautheit
zwischen zwei vollkommen fremden Menschen, gerade weil
sie sich vorher schon einmal begegnet waren. Vorher? Bevor
das alles geschehen war.

Ich gab mir fünfzehn Minuten für den Weg vom Hotel zu
dem Restaurant, wo ich mich um sieben Uhr mit Amy treffen
wollte. Tony begrüßte mich und führte mich zu meinem Tisch.
»Nach all den Jahren«, sagte er fröhlich und schob mir den
Stuhl heran.
»Sie werden mich jetzt wieder öfter zu sehen bekommen,
Tony. Ich bleibe für eine Weile in der Stadt.«
»Wie schon für Sie«, sagte er. »Nach dem n. September sind
ein paar von unseren Stammgästen mit ihren Kindern nach
Long Island gezogen oder aufs Land oder nach Vermont – sie
sind einfach weggezogen, in alle möglichen Richtungen. Ich
respektiere das natürlich, aber es war trotzdem reine Panik. Es
hat sich dann schnell wieder gelegt, aber ich muss ehrlich
sagen: Wir haben nach dieser Sache einige wunderbare Gäste
verloren. Sind Sie allein, Mr. Zuckerman?«
»Ich erwarte noch jemanden«, sagte ich.
Doch sie kam nicht. Ich hatte ihre Telefonnummer nicht
mitgenommen und konnte nicht anrufen, um sie zu fragen,
ob alles in Ordnung sei. Ich dachte, sie schäme sich vielleicht
zu sehr, sich mir als geschwächte alte Frau mit einem halb
rasierten Schädel und einer entstellenden Narbe zu zeigen.
Vielleicht hatte sie es sich aber auch einfach anders überlegt,
vielleicht wollte sie mich nicht mehr bewegen, bei Kliman zu
intervenieren, und mir auch nicht – wie sie es hätte tun müs-
sen – jene angeblichen Episoden aus Lonoffs Jugend enthüllen,
deren Veröffentlichung sie, als Bewahrerin des Andenkens
dieses derart auf seine Privatsphäre bedachten Mannes, so sehr
fürchtete.
Ich wartete über eine Stunde und bestellte, weil es mir
möglich erschien, dass sie noch kommen würde, in dieser Zeit
nichts als ein Glas Wein – und dann fiel mir ein, dass dies
nicht das Restaurant war, in dem wir uns verabredet hatten.
Ich war ganz automatisch zu Pierlu s gegangen, in der
Gewissheit, dass ich diesen Ort vorgeschlagen hatte, und jetzt
konnte ich mich nicht erinnern, ob ich Amy gebeten hatte, ein
Lokal ihrer Wahl vorzuschlagen. Wenn ich das getan hatte, so
konnte ich mich jedenfalls nicht erinnern, für welches sie sich
entschieden hatte. Der Gedanke, dass sie die ganze Zeit dort
gesessen und gedacht hatte, ich hätte sie wegen der Art, wie
sie sich selbst beschrieben hatte, versetzt, ließ mich die Treppe
hinunter zum Telefon eilen. Ich rief mein Hotel an und hörte
meinen Anrufbeantworter ab. Es gab eine Nachricht: »Ich
habe eine Stunde gewartet, dann bin ich gegangen. Ich ver-
stehe.«
Am Vormittag war ich in einem Drugstore gewesen und
hatte ein paar Toilettenartikel gekauft, die ich vergessen hatte,
nach New York mitzunehmen. An der Kasse hatte ich die
Verkäuferin gefragt: »Könnten Sie das bitte in eine Schachtel
packen?« Sie hatte mich ausdruckslos angesehen und geant-
wortet: »Wir haben keine Schachteln.« »Ich meine, in eine
Tüte, bitte.« Ein winziger Fehler, der mich dennoch beunru-
higte. Solche Versprecher unterliefen mir inzwischen beinahe
täglich, und trotz der Einträge, die ich gewissenhaft in mein
Aufgabenbuch schrieb, trotz aller Bemühungen, mich auf das,
was ich tat oder tun wollte, zu konzentrieren, vergaß ich
häufig etwas. Wenn ich telefonierte, bemerkte ich, dass wohl-
meinende Menschen manchmal versuchten, den angefangenen
Satz oder Gedanken für mich zu Ende zu führen, bevor mir
überhaupt bewusst wurde, dass ich gezögert oder auf der
Suche nach dem richtigen Wort innegehalten hatte. Andere
gingen großzügig über meine Fehler hinweg, wenn ich (wie
erst neulich gegenüber meiner Haushaltshilfe Belinda) neue
Wortschöpfungen wie »schwerempfunden« anstatt »tiefemp-
funden« von mir gab, wenn ich in Athena einen Bekannten mit
dem falschen Namen ansprach oder wenn der Name der
Person, mit der ich mich unterhielt, mir mit einemmal entfal-
len war und ich angestrengt nachdenken musste, bis ich ihn
wieder parat hatte. All diese bemühte Konzentration schien
wenig gegen eine Entwicklung zu bewirken, die sich nicht so
sehr wie ein langsames Nachlassen des Gedächtnisses als viel-
mehr wie ein jäher Rutsch in die Besinnungslosigkeit anfühlte,
als wohnte in meinem Kopf etwas Diabolisches, das eigene
Ziele verfolgte – der Kobold der Amnesie, der Dämon des
Vergessens, gegen dessen Zerstörungskraft ich nicht ankam –,
als würde diese Wesenheit solche Ausfälle einzig und allein
einsetzen, um das Vergnügen zu genießen, mir bei meinem
Verfall zuzusehen, als wäre es ihr hämisches Endziel, je-
manden, dessen Scharfsinn als Schriftsteller auf Erinnerung
und verbaler Präzision beruhte, in einen belanglosen Men-
schen zu verwandeln.
(Das ist auch der Grund, warum ich, ganz gegen meine Ge-
wohnheit, so schnell arbeite, wie ich nur kann, solange ich
dazu noch imstande bin, wobei ich, gerade wegen der geisti-
gen Widrigkeiten, denen ich zu entgehen suche, nicht an-
nähernd so rasch vorankomme, wie ich sollte. Die einzige
Gewissheit, die ich noch habe, ist, dass dies vermutlich mein
letzter Versuch sein wird, tastend nach Worten zu suchen, die
sich zu den Sätzen und Absätzen eines Buches zusammen-
fügen. Denn dies ist nun ein permanentes Tasten, ein Tasten,
welches weit über das bemühte Tasten nach Geläufigkeit
hinausgeht, aus dem das Schreiben im Grunde besteht. Im
letzten Jahr der Arbeit an dem Roman, den ich kürzlich an
meinen Verlag geschickt habe, musste ich feststellen, dass ich
täglich gegen drohende Zusammenhanglosigkeit anzukämp-
fen hatte. Als ich schließlich fertig war – das heißt, als ich
nach vier Durchgängen einfach nicht mehr konnte –, ver-
mochte ich nicht zu sagen, ob meine Aufnahmefähigkeit bei
der Lektüre des Manuskripts durch einen verwirrten Geist
beeinträchtigt war oder ob mein Eindruck richtig gewesen war
und das Manuskript den verwirrten Geist widerspiegelte. Ich
schickte das fertige Manuskript wie immer an meinen
aufmerksamsten Leser, der vor ewigen Zeiten ein Kommili-
tone an der University of Chicago gewesen war und auf des-
sen Intuition ich mich hundertprozentig verlasse. Als er mich
anrief, um mir sein Urteil mitzuteilen, spürte ich, dass er die
mir vertraute Freimütigkeit abgelegt hatte und sich aus
Freundlichkeit verstellte, indem er erklärte, er sei kein geeig-
neter Leser für dieses Buch und könne leider nichts Brauch-
bares darüber sagen, denn der Protagonist, dem ich im großen
und ganzen mit Sympathie gegenüberstand, sei ihm so fremd,
dass er nicht imstande sei, genug Interesse für ihn aufzubrin-
gen, um mir von Nutzen zu sein.
Ich drängte ihn nicht, ich war nicht einmal verwirrt. Ich
verstand die Taktik, mit deren Hilfe er seine Gedanken ver-
barg, doch angesichts der Tatsache, dass ich die kritischen Fä-
higkeiten meines Freundes sehr gut kannte und wusste, dass
sein Urteil stets gerechtfertigt war, hätte ich extrem naiv sein
müssen, um mich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
Nach der Lektüre der vierten Fassung war er zu dem Schluss
gekommen, dass die tiefgreifenden Korrekturen, die ihm vor-
schwebten, enorm hohe Anforderungen an das stellen wür-
den, was von meinen Fähigkeiten geblieben war, und so hielt
er es, anstatt den Vorschlag zu machen, ich solle eine fünfte
Überarbeitung vornehmen, für das Beste, die Schuld bei einer
nichtexistenten eigenen Beschränkung wie ebenjenem Man-
gel an Sympathie für den Protagonisten zu suchen und nicht
bei dem, was mir, wie er wohl glaubte, inzwischen fehlte.
Wenn ich seine Reaktion richtig gedeutet hatte und sein Ein-
druck, wie ich zu wissen glaubte, auf schmerzliche Weise
meinem eigenen entsprach – was sollte ich dann mit einem
Buch tun, an dem ich beinahe drei Jahre gearbeitet hatte und
das ich für ebenso abgeschlossen wie unbefriedigend hielt? In
einer derart misslichen Situation hatte ich mich noch nie be-
funden – bisher war es mir immer gelungen, genug Energie
und Einfallsreichtum zu mobilisieren, um den Kampf bis zu
einem entscheidenden Ende fortzusetzen –, und ich dachte
daran, was zwei amerikanische Schriftsteller ersten Ranges
getan hatten, als sie ein Nachlassen ihrer Fähigkeiten gespürt
oder in ihrem Buch eine Unvollkommenheit bemerkt hatten,
die sich jeder Korrektur hartnäckig widersetzte. Ich konnte
tun, was Hemingway getan hatte – und zwar nicht erst gegen
Ende seines Lebens, als seine monumentale Kraft, seine Rast-
losigkeit, seine Freude an gewalttätigen Konflikten verdrängt
wurden von körperlichen Schmerzen, alkoholbedingtem
Verfall, geistiger Erschöpfung und depressiven Selbstmord-
gedanken, sondern in seiner großen Zeit, als seine Stärke
grenzenlos war, als er vor Streitlust strotzte und die überra-
gende Bedeutung seiner Prosa in aller Welt anerkannt war: Ich
konnte das Manuskript in die Schublade legen, um es ent-
weder später zu überarbeiten oder aber für immer unveröf-
fentlicht zu lassen. Oder ich konnte tun, was Fauikner getan
hatte, und es zur Veröffentlichung an den Verlag weiterleiten,
damit das Buch, an dem ich so mühsam gearbeitet hatte und
das ich nicht weiter verbessern konnte, die Leser in dem Zu-
stand erreichte, in dem es sich befand, und ihnen die Freude
bereitete, die es zu bereiten vermochte.
Wie jeder andere brauchte ich eine Strategie, die es mir er-
möglichte, diesen Zustand zu ertragen und weiterzumachen,
und schließlich entschied ich mich, mochte es sich als gut oder
schlecht, als falsch oder richtig erweisen, für die zweite
Variante, auch wenn ich nur halb daran glaubte, dass dies
meine Fähigkeit, in die Dämmerung meines Talentes voran-
zuschreiten, ohne allzuviel Schande auf mich zu häufen, noch
am wenigsten beeinträchtigen würde. Und das war, bevor der
Kampf so schwer wurde, wie er es jetzt ist, und der Verfall bis
zu einem Stadium fortgeschritten war, wo nicht einmal der
schwächste Schutz davor zu finden ist, wo es nicht mehr
darum geht, dass ich mich nach ein, zwei Tagen nicht an die
Einzelheiten des vorigen Kapitels erinnern kann, sondern,
so unwahrscheinlich es auch klingt, nach wenigen Minuten
schon nicht mehr weiß, was auf der vorangegangenen Seite
steht.
Als ich schließlich in New York ärztliche Hilfe zu suchen
beschloss, war nicht nur mein Penis undicht, der Funktions-
verlust betraf nicht nur den Blasenschließmuskel, und ich
konnte nicht mehr hoffen, dass die nächste Krise, die mich
verändern würde, sich auf einen körperlichen Ausfall
beschränken würde. Diesmal würde es um meine geistigen
Fähigkeiten gehen, und diesmal gab mir meine Ahnung eine
kurze Vorwarnzeit, wenn auch, soweit ich wusste, nicht viel
mehr als das.)

Ich entschuldigte mich bei Tony, verließ das Restaurant, ohne


etwas gegessen zu haben, und kehrte in mein Hotel zurück.
In meinem Zimmer konnte ich Amys Telefonnummer jedoch
nirgends finden. Ich war sicher, dass ich sie auf einem Zettel
notiert hatte, der auf dem Nachttisch hätte liegen sollen, doch
er war weder dort noch auf dem Bett oder auf dem Schreib-
tisch. Er lag auch nicht auf dem Teppich, den ich mit den Fin-
gern einer Hand abtastete, während ich auf Knien langsam
durch das Zimmer rutschte. Ich sah unter dem Bett nach, doch
auch dort war der Zettel nicht. Ich griff in die Taschen aller
Kleidungsstücke, die ich mitgenommen hatte, auch in die
derer, die ich gar nicht getragen hatte. Systematisch suchte ich
das ganze Zimmer ab, einschließlich der Orte, wo der Zettel
unmöglich sein konnte, wie zum Beispiel in der Minibar, bis
mir schließlich der Gedanke kam, meine Brieftasche her-
vorzuholen – und da war er, wo er die ganze Zeit gewesen war.
s mitzunehmen.
Ich hatte lediglich vergessen, dass ich ihn mitgenommen hatte.
Das Lämpchen am Telefonapparat blinkte. Ich dachte, es
handele sich vielleicht um eine zweite, längere Nachricht von
Amy, nahm den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr. Es war Billy
Davidoff, der von meinem eigenen Haus aus angerufen hatte.
»Nathan Zuckerman, es ist ein wunderbares Haus. Klein
zwar, aber für uns genau das richtige. Ich habe Fotos ge-
macht – ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Jamie wird be-
geistert sein von dem Haus, vom Teich, vom Sumpf auf der
anderen Seite des Weges – von allem, der ganzen Umgebung.
Und Rob Massey ist ein Juwel. Wir sollten die Formalitäten
so schnell wie möglich erledigen. Wir werden ein Dokument
aufsetzen, in dem alles Nötige festgehalten ist. Rob hat gesagt,
er fährt Ihre Sachen nach New York, wenn Sie sich erst mal
eingerichtet haben, aber falls es etwas gibt, was Sie gleich
brauchen, kann ich es Ihnen heute abend mitbringen. Wenn
Sie zurückrufen wollen – ich bin noch ungefähr eine Stunde
hier. Wir besprechen dann später alles. Und danke. Hier
draußen zu leben wird eine große Hilfe sein.«
Für Jamie, meinte er. Alles für Jamie. So viel Hingabe, und
so viel Freude daran, sie ihr zu widmen. Was will Billy? Das,
was Jamie will. Was nimmt den aufmerksamen Billy gefan-
gen? Jamie! Jamie! Die entzückende Jamie! Sollte dieser an-
betungsvolle Einklang gegen alle Wahrscheinlichkeit niemals
nachlassen: glückliches Paar! Doch sollte sie eines Tages seine
Aufmerksamkeiten zurückweisen, ihm den Konsens aufkün-
digen, seiner Leidenschaft widerstehen: armer, verletzlicher,
zermürbter Mann! Er wird nie einen Tag verbringen, ohne
fünfzigmal an sie zu denken. Sie wird all ihre Nachfolgerin-
nen immer turmhoch überragen. Er wird an sie denken, bis er
stirbt. Er wird an sie denken, während er stirbt.
Es war halb neun. Wenn Billy noch eine Stunde dort blei-
ben wollte, würde er erst gegen zwölf in der West 71st Street
sein. Ich konnte Jamie unter dem Vorwand anrufen, ich wolle
einen Termin für den Wohnungstausch vereinbaren, auf den
ich gar nicht mehr aus war. Ich konnte sie anrufen und die
Wahrheit sagen: »Ich will Sie sehen – der Gedanke, Sie nicht
mehr zu sehen, ist unerträglich.« Bis Mitternacht würde diese
junge Frau, in deren Gesellschaft ich mich erst drei kurze Male
befunden hatte, mit ihren Katzen zu Hause sitzen – oder mit
den Katren und Kliman.
Brich dieses Experiment in Selbstquälerei ab. Hol deinen
Wagen und verschwinde. Deine große Erkundung ist vorbei.
Die zweite Nachricht war von Kliman. Er fragte, ob ich mit
Amy Bellette sprechen würde: Sie habe ihm vor der Operation
Zusagen gemacht, die sie jetzt nicht einhalten wolle. Er habe
eine Kopie der ersten Hälfte des Manuskripts von Lonoffs
Roman, und niemandem sei gedient, wenn man ihm
verweigere, auch den Rest zu lesen, was sie ihm vor zwei Mo-
naten auch zugesagt habe. Sie habe ihm Familienfotos von
Lonoff gegeben. Sie habe ihm ihren Segen gegeben. »Wenn
Sie können, Mr. Zuckerman, dann helfen Sie mir bitte. Sie ist
ein vollkommen anderer Mensch geworden. Das liegt an der
Operation. Es ist so viel Gewebe entfernt worden, dass große
Schäden entstanden sind. Sie hat jetzt ein gewaltiges mentales
Defizit, das vorher nicht da war. Aber vielleicht hört sie ja
auf Sie.«
Kliman? Nicht zu glauben. Sie riechen, Sie riechen, alter
Mann, und dann ruft er mich an, ohne sich auch nur zu ent-
schuldigen, und bittet mich um Hilfe? Nachdem ich ihm ge-
sagt habe, dass ich alles tun werde, um ihn zu vernichten? Ist
er so verwegen manipulativ oder einfach so unorganisiert?
Oder ist Kliman einer dieser Menschen, die sich an jemanden
hängen, den sie nicht loslassen können? Einer von denen, die
man nicht loswird, ganz gleich, was man sagt? Ganz gleich,
was man tut – sie versuchen immer weiter, einen dazu zu brin-
gen, dass man ihnen gibt, was sie haben wollen. Und ganz
gleich, was sie tun, ganz gleich, was für entsetzliche Dinge sie
sagen – es ist ihre lebenslange Gewohnheit, nie zu erkennen,
dass sie unwiderruflich eine Linie überschritten haben. Ja, ein
großer, maskuliner, attraktiver junger Mann, der erfüllt ist von
der Sicherheit, die ihm sein gutes Aussehen verleiht, der
andere bedenkenlos beleidigt und dann angelaufen kommt, als
wäre nichts geschehen.
Oder hatte es einen weiteren Kontakt zwischen uns gege-
ben, den ich vergessen hatte? Aber wann? »Vielleicht hört sie
ja auf Sie.« Wie kommt er auf den Gedanken, Amy Bellette
könnte auf mich hören, wenn er doch weiß, dass wir uns nur
einmal begegnet sind? Und weiß er das überhaupt? Soweit
Kliman unterrichtet ist, sind wir uns nie begegnet. Es sei
denn, ich habe es ihm gesagt. Vielleicht hat sie es ihm gesagt.
Sie muss es ihm gesagt haben – sie muss ihm auch dies gesagt
haben!
Ich legte den Zettel mit Amys Nummer neben das Telefon
und wählte. Als sie sich meldete, sagte ich zu ihr ungefähr
die Worte, die ich zu Jamie Logan hatte sagen wollen. »Ich
möchte Sie sehen. Ich möchte Sie jetzt sehen, sofort.«
»Wo waren Sie?« fragte sie.
»Im falschen Restaurant. Es tut mir leid. Sagen Sie mir
Ihre Adresse. Ich möchte mit Ihnen reden.«
»Meine Wohnung ist schrecklich«, sagte sie.
»Sagen Sie mir, wo Sie wohnen, bitte.«
Sie nannte die Adresse, und ich nahm mir ein Taxi zur
1st Avenue, denn ich musste herausfinden, ob es stimmte, was
man über Lonoff sagte. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich
wusste es selbst nicht. Nicht einmal die Tatsache, dass mein
Vorhaben unsinnig war, konnte mich davon abbringen. Nichts
Unsinniges konnte mich von irgend etwas abbringen. Ein
alternder Mann, der seine Schlachten hinter sich hat und der
plötzlich den Drang verspürt... den Drang wonach ? War eine
Fahrt auf dem Karussell der Leidenschaften nicht genug
gewesen? War eine Begegnung mit dem Unerforschlichen
nicht genug gewesen? Noch einmal zurück in die Veränder-
lichkeit?

Es war nicht so schlimm, wie ich es mir auf dem Weg dorthin
vorgestellt hatte; dennoch schien es kaum gerecht, dass eine
solche Frau, die Gefährtin eines brillanten Schriftstellers,
dieses Gebäude ihr Zuhause nennen sollte. Im Erdgeschoss
befanden sich ein Spaghetti-Imbiss und eine irische Bar, und
weder die Haustür noch die Innentür, die zum Treppenhaus
führte, verfügten über ein Schloss. Stark verbeulte Mülltonnen
standen in der dunklen Nische unter der ersten Treppe. Als ich
auf den Klingelknopf neben der Reihe von Briefkästen drückte,
bemerkte ich, daß einer der Kästen kein Schloss hatte und
seine Tür offenstand. Ich war mir nicht sicher, ob die Klingel
funktionierte, und überrascht, von oben Amys Stimme zu
hören: »Vorsicht, ein paar Stufen sind lose.«
Einige an der Decke befestigte nackte Glühbirnen be-
leuchteten das Treppenhaus ausreichend, doch die Kor-
ridore lagen im Dunkeln. Der Geruch hier im Inneren des
Hauses mochte vom Urin von Katzen oder Ratten oder beiden
stammen.
Sie wartete am Treppenabsatz im zweiten Stock. Der zur
Hälfte rasierte Schädel und der graue Zopf waren das erste,
was ich von dieser alten Frau sah, die in einem langen, form-
losen zitronengelben Kleid, das eigentlich Fröhlichkeit signa-
lisieren sollte, noch bemitleidenswerter wirkte als in dem
zum Straßenkleid umgearbeiteten Krankenhausnachthemd.
Wie sie aussah, schien ihr jedoch gleichgültig zu sein, und sie
freute sich geradezu kindlich, mich zu sehen. Sie streckte mir
die Hand hin, doch ich konnte nicht umhin, sie auf beide
Wangen zu küssen, ein Vergnügen, für das ich 1956 große
Anstrengungen unternommen hätte. Alles an diesen Küssen
erschien mir wie ein Wunder – das größte war, dass sie, ihrem
äußeren Erscheinungsbild zum Trotz, keine Schwindlerin,
sondern tatsächlich sie selbst war. Dass sie all diese Torturen
überstanden hatte und mich in dieser heruntergekommenen
Umgebung willkommen hieß, war ein großes Wunder, und es
wollte mir scheinen, als wäre mein Besuch, als wäre diese
Vollendung einer Begegnung mit einer jungen Frau, die vor
beinahe fünfzig Jahren eine so große Anziehungskraft auf
mich ausgeübt hatte, mein mir selbst unbekannter Grund
gewesen, nach New York zu fahren, der Grund, warum ich
hierhergekommen war und überstürzt beschlossen hatte zu
bleiben. Dass ich nach so langer Zeit zurückgekehrt war,
nachdem ich an Krebs erkrankt war und sie an Krebs er-
krankt war und sich unsere schlauen jungen Gehirne ein we-
nig abgenutzt hatten – vielleicht war das der Grund, warum
ich fast zitterte und warum sie ein langes gelbes Kleid angezo-
gen hatte, das, wenn überhaupt jemals, vor einem halben
Jahrhundert Mode gewesen war. Wir brauchten beide so sehr
diese Gestalt aus unserer Vergangenheit. Zeit – die Macht und
die Kraft der Zeit – und dieses alte gelbe Kleid über ihrem
wehrlosen, vom Tod überschatteten Körper! Und wenn ich
mich nun umdrehte und Lonoff die Treppe hinaufkommen
sah? Was würde ich zu ihm sagen? »Ich bewundere Sie noch
immer«? »Ich habe gerade Ihre Erzählungen noch einmal ge-
lesen«? »In Ihrer Gegenwart werde ich wieder zum Jungen«?
Und er würde sagen – ich konnte ihn geradezu hören: »Küm-
mern Sie sich um sie. Die Vorstellung, dass sie leiden muss, ist
unerträglich.« Als Toter war er korpulenter als zu Lebzeiten.
Er hatte im Grab zugenommen. »Soviel ich weiß«, sagte er und
nahm rasch einen freundlich-sarkastischen Ton an, »sind
Sie kein so hervorragender Liebhaber mehr. Das macht es
wahrscheinlich leichter.«
»Körperliche Ausfälle«, antwortete ich, »machen nichts
leichter. Ich werde tun, was ich kann.« Ich hatte in meiner
Brieftasche einige hundert Dollar, die ich ihr geben konnte,
und im Hotel würde ich einen Scheck ausstellen, den ich am
nächsten Morgen absenden konnte. Ich musste nur daran
denken, mich beim Abschied davon zu überzeugen, dass der
schadhafte Briefkasten nicht ihr gehörte. Wenn doch, würde
ich andere Wege finden, ihr Geld zukommen zu lassen.
»Danke«, sagte Lonoff, als ich dem gelben Kleid in die
langgezogene, schmale Wohnung folgte, in der zwei Räume –
ein Arbeitszimmer und dahinter, zugänglich durch einen von
einem Bogen überwölbten Durchgang, die Küche – fenster-
los waren. Nach vorn hinaus, über dem Verkehr auf der 1st
Avenue und der Imbiss-Stube, war ein kleines Wohnzimmer
mit zwei vergitterten Fenstern, nach hinten hinaus war ein
noch kleinerer Raum mit nur einem vergitterten Fenster, ge-
rade groß genug für ein schmales Bett und einen Nachttisch.
Drei Fenster. In Lonoffs Haus in den Berkshires musste es zwei
Dutzend Fenster gegeben haben, die man nie hatte besonders
sichern müssen.
Das Schlafzimmerfenster ging auf einen Luftschacht und
eine winzige Gasse, in der die Mülltonnen des Spaghettilokals
standen. Ich stellte fest, dass sich die Toilette in einer klei-
derschrankgroßen Kammer hinter einer Tür neben der Spüle
befand. Eine eher kleine Badewanne stand auf Klauenfüßen
in der Küche, zentimetergenau eingepasst zwischen Herd
und Kühlschrank. Da es nach vorn hinaus laut war wegen der
Busse, Lastwagen und Autos auf der ist Avenue und nach
hinten hinaus wegen des unablässigen Lärms, der aus der
Imbissküche drang, deren Hintertür zur Belüftung tagein,
tagaus offenstand, setzten wir uns in Amys relativ ruhiges
Arbeitszimmer, zwischen Papierstapel und Bücher, welche
die Regale an den Wänden füllten und sich rings um den mit
einer Resopalplatte versehenen Küchentisch türmten, der als
Arbeitstisch diente. Die Lampe darauf gab das einzige Licht
in diesem Raum – es war eine hohe, bauchige, halbdurch-
sichtige braune Flasche, die mit einer Glühbirnenfassung und
einem gefältelten, wie ein breitkrempiger Sonnenhut wirken-
den Schirm versehen war. Zuletzt hatte ich sie vor achtund-
vierzig Jahren gesehen: Es war Lonoffs hässliche Schreib-
tischlampe. Ich entdeckte noch ein anderes Relikt aus seinem
Arbeitszimmer: den stumpf braunen, mit Rosshaar gepolster-
ten großen Sessel, in dem im Lauf der Jahrzehnte nicht nur
sein schwerer Körper, sondern, wie mir schien, auch seine
Gedanken und die Konturen seines Stoizismus ihren Ab-
druck hinterlassen hatten, den abgenutzten Sessel, in dem er
gesessen und mich mit ganz simplen Fragen über meine ju-
gendlichen Ziele eingeschüchtert hatte. Ich dachte: »Was? Sie
hier?«, und erinnerte mich, dass diese Worte in Eliots »Little
Gidding« vorkommen, an der Stelle, wo der Dichter vor Mor-
gengrauen durch die Straßen geht und den »vielgestaltigen
Geist« trifft, der ihm verrät, welche Schmerzen ihn erwarten:
»Denn die Worte des vergangenen Jahres gehören zur Sprache
des vergangenen Jahres / Und die Worte des nächsten Jahres
harren einer anderen Stimme.« Wie beginnt Eliots Geist?
Sardonisch. »Lasst mich enthüllen, welche Geschenke das
Alter bereithält.« Das Alter bereithält. Das Alter bereithält.
Weiter weiß ich es nicht. Es folgt eine schreckliche Prophe-
zeiung, an die ich mich nicht erinnere. Wenn ich zu Hause
bin, werde ich es nachschlagen.
Stumm teilte ich Lonoff einen Gedanken mit, der mir eben
erst gekommen war: »Sie sind nicht mehr über dreißig Jahre
älter als ich. Ich bin jetzt zehn Jahre älter als Sie.«
»Haben Sie etwas gegessen?« fragte Amy.
»Ich habe keinen Hunger«, antwortete ich. »Ich bin zu
überwältigt, in Ihrer Gesellschaft zu sein.« Eine so abwegige
Vorstellung überfiel mich und nahm mich derart gefangen,
dass dies alles war, was ich hervorbringen konnte. Wie unge-
nau und erratisch mein Gedächtnis in letzter Zeit auch sein
mochte – meine Erinnerung an Amy Bellette, die ich nur ein-
mal und vor langer Zeit getroffen hatte, war noch immer leb-
haft und geprägt von dem Gefühl, das ich 1956 gehabt hatte:
dass sie ein außerordentlich bedeutender Mensch sei. Damals
war ich so weit gegangen, ein detailliertes Szenario zu entwik-
keln, das ihre Person mit den schrecklichen Einzelheiten der
Biographie von Anne Frank verknüpfte, einer Anne Frank al-
lerdings, die Europa und den Zweiten Weltkrieg überlebt,
einen anderen Namen angenommen und sich selbst als ver-
waiste, aus Holland stammende Studentin in Neuengland neu
erfunden hatte, als Schülerin und dann als Geliebte E.I. Lo-
noffs, dem sie – nachdem sie allein nach Manhattan gefahren
war, um sich die erste Bühnenversion von Das Tagebuch der
Anne Frank anzusehen – ihre wahre Identität anvertraut
hatte. Natürlich wurde ich nicht mehr von den Motiven ge-
trieben, die mich als jungen Mann veranlasst hatten, diese
extravagante Fiktion weiter auszuführen. Die Gefühle, die
meine Phantasie mit Mitte Zwanzig in diese Richtung geleitet
hatten, waren zusammen mit den moralischen Forderungen,
welche die Eminenzen der jüdischen Gemeinde an mich ge-
stellt hatten, längst verschwunden. Ihre Verurteilung meiner
ersten veröffentlichten Erzählungen als schlimme Manife-
stationen »jüdischen Selbsthasses« hatten mich geschmerzt,
trotz der erbitternden Selbstgerechtigkeit ihrer jüdischen
Selbstverliebtheit, gegen die ich mit all meinem Abscheu an-
gekämpft hatte – unter anderem, indem ich in meiner Phan-
tasie Lonoffs Amy in die Märtyrerin Anne Frank verwandelt
hatte, die ich mir, nur wenig ironisch, als meine Braut vorge-
stellt hatte. Als die muntere, jugendliche jüdische Heilige
wurde Amy zu meinem fiktionalen Bollwerk gegen die ver-
nichtende Kritik.
»Möchten Sie etwas trinken?« fragte sie mich. »Ein Bier?«
Ich hätte gern etwas Stärkeres getrunken, doch weil Alko-
hol meine mentalen Ausfälle verstärkte, beschränkte ich mich
inzwischen auf ein Glas Wein zum Essen. »Nein, danke. Ha-
ben Sie etwas gegessen?«
»Ich esse nicht mehr viel.« Nicht mehr. Das war eine
Wortkombination, die auch ich oft gebrauchte.
»Geht es Ihnen gut?« fragte ich.
»Es ging mir gut. Monatelang. Aber jetzt habe ich erfahren,
dass das verdammte Ding zurückgekehrt ist. So geht es: Das
Schicksal schleicht sich von hinten an, und eines Tages springt
es hervor und ruft: ›Buh!‹ Als ich den ersten Tumor hatte und
noch gar nichts davon wusste, habe ich Dinge getan, die ich
lieber nicht wiederholen möchte. Den Hund meines Nachbarn
getreten. Es war so ein kleiner Köter, der im Treppenhaus im-
mer gekläfft und nach den Schuhen der Leute geschnappt hat,
eine richtige Nervensäge, die man eigentlich gar nicht rauslas-
sen sollte, und eines Tages hab ich ihm einen ordentlichen
Tritt verpasst. Ich habe Leserbriefe an die New York Times ge-
schrieben. Ich hatte einen Anfall in der Leihbücherei und bin
vollkommen durchgedreht. Ich bin hingegangen, um mir eine
Ausstellung über E. E. Cummings anzusehen. Als ich als Stu-
dentin nach New York kam, habe ich seine Gedichte geliebt.
›Ich singe von Olaf, froh und groß.‹ Als ich die Ausstellung
verließ, sah ich, dass an den Wänden des Korridors eine noch
viel größere, viel dramatischere Ausstellung mit dem Titel
›Meilensteine moderner Literatur‹ eingerichtet war. Große
gerahmte Porträts hingen über Vitrinen, in denen Erstaus-
gaben in ihren Original-Schutzumschlägen ausgestellt waren,
und das Ganze war nichts als politisch idiotisch korrekter
Mist. Normalerweise wäre ich einfach weitergegangen und
hätte mich auf dem Heimweg, in der U-Bahn, mit Manny
darüber unterhalten. Er war der Inbegriff von Takt – von Takt,
Witz und Geduld. Menschliche Dummheit konnte ihn nie
überraschen. Selbst als Toter spendet er mir so viel Trost.«
»Nach vierzig Jahren? Gab es in diesen vierzig Jahren keinen
anderen Menschen, der für Sie so wichtig geworden ist, dass er
Sie trösten könnte?«
»Hätte es so jemanden geben können?«
»Hätte es nicht so jemanden geben können?«
»Nach ihm?«
»Als er starb, waren Sie dreißig. Dass Ihr ganzes Leben
von einer einzigen Episode bestimmt wurde ... Sie waren
noch jung.« Ich verbot mir zu sagen: »Wurde alles, was da-
nach kam, von diesen wenigen Jahren erdrückt?«, denn die
Antwort lag mittlerweile auf der Hand. Ja, alles, jede Kleinig-
keit.
»Unwichtig«, lautete ihre Antwort auf das, was ich gesagt
hatte.
»Was haben Sie denn danach getan?«
»Getan? Was für ein Wort. Getan. Ich habe Bücher über-
setzt – aus dem Englischen ins Norwegische, aus dem Norwe-
gischen ins Englische, aus dem Schwedischen ins Englische,
aus dem Englischen ins Schwedische. Das habe ich getan.
Aber die meiste Zeit habe ich mich treiben lassen. Ich habe
mich immerzu treiben lassen, und jetzt bin ich fünfundsieb-
zig. So bin ich fünfundsiebzig geworden: indem ich mich
habe treiben lassen. Aber Sie haben sich nicht treiben lassen.
Ihr Leben war wie ein abgeschossener Pfeil. Sie haben gear-
beitet.«
»Und so bin ich einundsiebzig geworden. Man erreicht
das Ende, so oder so, als Pfeil oder als Treibgut. Sind Sie nie
mit jemand anderem zu dieser Villa in Florenz zurückge-
kehrt?«
»Woher wissen Sie von der Villa in Florenz?«
»Weil er mir an jenem Abend davon erzählt hat. Ganz ab-
strakt, als wäre es etwas, über das er flüchtig nachgedacht
hatte. Und dann«, gestand ich, »habe ich Sie beide belauscht.
Ich habe mir an dem Abend erlaubt, ein Gespräch zwischen
ihm und Ihnen zu belauschen.«
»Wie haben Sie das gemacht?«
»Ich schlief in dem Zimmer unter Ihnen. Sie erinnern sich
sicher nicht daran. Er hatte mir in seinem Arbeitszimmer ein
Bett gemacht. Ich stellte mich auf den Schreibtisch und legte
das Ohr an die Decke. Sie haben gesagt: ›Ach, Manny, wir
könnten in Florenz so glücklich sein.‹«
Dieses Geständnis machte sie äußerst fröhlich. »Ach je, was
waren Sie für ein böser Junge. Was noch? Was haben Sie noch
gehört? Einen Zeugen zu haben für etwas, was so lange her ist
– was für ein Geschenk! Sagen Sie mir, was Sie noch gehört
haben, Sie böser Junge! Sagen Sie mir alles!«
Sagen Sie es mir, forderte sie mich auf, erzählen Sie mir
von diesem intimen Augenblick mit diesem unersetzlichen
Mann, den ich liebe und der tot ist, erzählen Sie es mir an dem
Tag, an dem ich erfahren habe, dass der Tumor zurückgekehrt
ist, der mich meinem eigenen Tod entgegenschleudert, und zu
dessen Feier ich mein gelbes Kleid angezogen habe!
»Ich wollte, das könnte ich«, sagte ich. »Aber ich erinnere
mich an nur wenig mehr. Ich erinnere mich an Florenz, weil er
mit mir darüber gesprochen hatte: über die Villa in Florenz
und die junge Frau, mit der er dorthin fahren und die sein Le-
ben wieder schön und neu machen würde.«
»›Schön und neu‹ – das hat er gesagt?«
»Ich glaube, ja. Sind Sie je nach Florenz gefahren?«
»Wir zwei? Nein, nie. Ich bin allein dorthin gefahren.
Nachdem er gestorben war, bin ich dorthin gefahren und für
eine Weile geblieben. Ich habe die Blumen für seine Vase ge-
schnitten. Ich habe Tagebuch geführt. Ich habe Spaziergänge
gemacht. Ich habe einen Wagen gemietet und bin in der
Gegend herumgefahren. Ein paar Jahre lang habe ich mir in
jedem Juni ein Zimmer in einer pensione gemietet, habe meine
Übersetzung mitgenommen und all die rituellen Dinge ge-
tan.«
»Und Sie haben es nie gewagt, das mit jemand anderem zu
tun.«
»Warum hätte ich das tun sollen?«
»Wie kann man so lange in der Erinnerung leben?«
»So war es nie. Ich spreche die ganze Zeit mit ihm.«
»Und er mit Ihnen?«
»Aber ja. Wir haben die missliche Tatsache, dass er tot ist,
erfolgreich umschifft. Jetzt sind wir völlig anders als alle an-
deren und einander so ähnlich.«
Diese Worte hatten eine so große emotionale Wucht, dass
ich Amy prüfend betrachtete, um zu sehen, ob sie gesagt
hatte, was sie hatte sagen wollen, ob sie diese übersteigerte
Formulierung absichtlich gewählt hatte oder ob sozusagen
das lädierte Gehirn gesprochen hatte. Ich sah nur einen Men-
schen, der von niemandem beschützt wurde. Ich sah nur das,
was Kliman sah.
»Was würde er von Ihren Lebensumständen halten?«
fragte ich. »Hätte er nicht gewollt, dass Sie jemand anderen
finden? Was hätte er davon gehalten, dass Sie all diese Jahre
allein gelebt haben?« Dann fügte ich hinzu: »Was sagt er
dazu?«
»Er verliert nie ein Wort darüber.«
»Wie findet er es, dass Sie hier, in dieser Wohnung leben?«
»Ach, damit befassen wir uns gar nicht.«
»Womit dann?«
»Mit den Büchern, die ich lese. Wir sprechen über Bü-
cher.«
»Über nichts anderes?«
Ȇber Dinge, die geschehen. Ich habe ihm von der Sache in
der Leihbücherei erzählt.«
»Und was hat er gesagt?«
»Was er immer sagt. Er hat gelacht. Er hat gesagt: ›Du
nimmst solche Sachen zu ernst.‹«
»Was sagt er über den Hirntumor?«
»Dass ich keine Angst haben soll. Es ist nicht gut, aber ich
soll keine Angst haben.«
»Und Sie glauben, was er sagt?«
»Wenn wir miteinander sprechen, spüre ich eine Zeitlang
keine Schmerzen mehr.«
»Nur Liebe.«
»Ja. Absolut.«
»Und was haben Sie ihm über die Sache in der Leihbücherei
gesagt? Erzählen Sie mir, wie es weiterging.«
»Ach, ich bin diesen Korridor hinauf- und hinuntergestürmt
und habe schäumend vor Wut die Fotos dieser Schriftsteller
angestarrt, von denen es heißt, sie hätten die Meilensteine
moderner Literatur gesetzt. Ich bin außer mich geraten, ich
habe angefangen zu schreien. Zwei Wachleute kamen und
beförderten mich in Null Komma nichts vor die Tür.
Wahrscheinlich dachten sie, ich wäre eine Verrückte, die sich
von der Straße hierher verirrt hatte. Ich habe das auch ge-
dacht: eine verrückte, böse Frau mit bösen Gedanken. Da-
mals habe ich angefangen, sehr schnell zu reden. Das tue ich
noch immer. Sogar wenn ich allein bin. Ich hatte noch nichts
von dem Tumor erfahren, müssen Sie wissen. Das habe ich
schon gesagt. Aber er war bereits da, hinten in meinem Kopf,
und krempelte mich um. Mein Leben lang konnte ich mich
immer, wenn ich nicht mehr weiterwusste, fragen: Was würde
Manny jetzt tun? Was würde Manny in dieser lächerlichen
Situation tun? Er hat mich mein Leben lang geführt. Ich
habe einen großen Mann geliebt. Das vergeht nicht. Doch
dann kam der Tumor, und das unentwegte Getöse hat ihn
übertönt.«
»Sie haben Geräusche gehört?«
»Nein, ich hätte sagen sollen: die Wolke. Es ist eine Wolke.
Man hat eine Gewitterwolke im Kopf.«
»Was war dieser politisch idiotisch korrekte Mist?«
Sie lachte, das Gesicht mit seinen feinen Falten und ohne
einen Rest der Schönheit, die es einst beherrscht hatte, lachte,
doch wegen des zur Hälfte rasierten Schädels mit dem nach-
wachsenden Flaum und der dämonischen Narbe war dieses
Lachen mit einer falschen Bedeutung unterlegt. »Sie können es
sich vorstellen. Gertrudc Stein war vertreten, aber nicht Er-
nest Hemingway. Edna St. Vincent Millay, aber nicht William
Carlos Williams oder Wallace Stevens oder Robert Lowell.
Blödsinnig. Es hat in den Colleges angefangen, und jetzt findet
man es überall. Richard Wright, Ralph Ellison und Toni
Morrison, aber nicht Faulkner.«
»Was haben Sie geschrien?« fragte ich.
»Ich habe geschrien: ›Wo ist E.I. Lonoff? Wie könnt ihr es
wagen, E. I. Lonoff wegzulassen?‹ Ich hatte sagen wollen: ›Wie
könnt ihr es wagen, William Faulkner wegzulassen?‹, aber der
Name, der aus meinem Mund kam, war der von Manny, Es ha-
ben sich ziemlich viele Schaulustige versammelt.«
»Und wie haben Sie herausgefunden, dass Sie einen Tumor
hatten?«
»Ich bekam Kopfschmerzen. So schlimm, dass ich mich
übergeben musste. Sie werden mir helfen, diesen Kliman los-
zuwerden, ja?«
»Ich werde es versuchen.«
»Dieses Ding ist wieder da. Habe ich Ihnen das schon
gesagt?«
»Ja«, sagte ich.
»Jemand muss Manny vor diesem Mann beschützen.
Jede Biographie, die er schreibt, wird nichts weiter sein als
das hinausposaunte Ressentiment eines zweitklassigen Men-
schen. Nietzsches Prophezeiung wird sich bewahrheiten: die
Kunst – getötet vom Ressentiment. Bevor ich von dem Tumor
wusste, hat Kliman mich besucht. Das war kurz nach dem Fi-
asko in der Leihbücherei. Ich redete damals schon ununter-
brochen. Ich habe ihm Tee angeboten, und er war so adrett
und schien – meinem Tumor schien es so – brillant über Man-
nys Erzählungen zu sprechen. Für meinen Tumor war er ein
reiner Liebhaber der Literatur, ein ernsthafter, in Harvard
ausgebildeter junger Mann, der nichts weiter wollte, als Man-
nys Reputation wiederherzustellen. Mein Tumor fand Kli-
man gewinnend.«
»Tja, Sie hätten den Hund gewinnend finden und Kliman
einen Fußtritt verpassen sollen. Wie ist es zu der Diagnose ge-
kommen?« fragte ich.
»Ich habe das Bewusstsein verloren. Eines Tages habe ich
den Wasserkessel aufgesetzt und das Gas angestellt, und das
nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich in der
Notaufnahme des Lenox Hill Hospital lag und zwei Polizi-
sten neben mir standen. Der Hausmeister hatte das Gas gero-
chen und mich dort gefunden« – sie zeigte auf die Küche mit
der Badewanne hinter uns –, »auf dem Boden. Sie dachten, ich
hätte mich umbringen wollen. Das machte mich wütend.
Alles machte mich wütend. Und dabei war ich doch früher ein
süßes, nettes Mädchen, nicht?«
»Sie wirkten auf mich sehr wohlerzogen.«
s richtig gegeben.«
s auf sie gewartet
hatte, kam mir der Gedanke, dass nicht ich im falschen Re-
staurant gewesen war, sondern Amy. Der Tumor, der zurück-
kehrte, krempelte sie abermals um – der Tumor, der zurück-
kehrte und einen Geisteszustand erzeugte, der es anscheinend
nicht zuließ, dass seine Rückkehr ihr angst machte. Zweimal
hatte sie mir gesagt, er sei zurück, und zwar nicht so, als wäre
sie am Abend eines folgenschweren Tages angelangt, sondern
einfach so, als spräche sie über einen Scheck, der geplatzt war,
weil sie ihr Konto überzogen hatte.
Wir saßen mehrere Minuten schweigend da, dann sagte sie
in die Stille hinein: »Ich habe seine Schuhe.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich habe schließlich seine Kleider weggeworfen, aber von
den Schuhen konnte ich mich nicht trennen.«
»Wo sind sie?«
»Im Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer.«
»Darf ich sie sehen?« fragte ich, allerdings nur, weil sie
offenbar wollte, dass ich das fragte.
»Möchten Sie es denn?«
»Ja.«
Das Schlafzimmer war winzig, und die Tür des Kleider-
schranks ließ sich nur ein Stück weit öffnen und stieß dann
gegen eine Seite des Bettes. Im Schrank hing eine ausgefranste
Schnur, und als Amy daran zog, ging eine schwache Glüh-
birne an. Das erste, was mir zwischen den etwa einem Dut-
zend Kleidungsstücken auffiel, war das zum Kleid geänderte
Krankenhausnachthemd. Dann sah ich Lonoffs Schuhe, die
auf dem Boden aufgereiht waren. Vier Paar, die allesamt mit
den Spitzen nach vorn zeigten, allesamt schwarz, allesamt
lange getragen. Vier Paar Schuhe eines Toten.
»Sie sind genau so, wie er sie zurückgelassen hat«, sagte
sie.
»Sie sehen sie jeden Tag«, sagte ich.
»Jeden Morgen. Jeden Abend. Manchmal öfter.«
»Ist es denn nie unheimlich, sie da stehen zu sehen?«
»Im Gegenteil. Was könnte tröstlicher sein als seine
Schuhe?«
»Er hatte keine braunen Schuhe?« fragte ich.
»Er hat nie braune Schuhe getragen.«
»Ziehen Sie sie auch mal an?« fragte ich. »Stehen Sie
manchmal in seinen Schuhen?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Das wäre nur menschlich. So ist das Leben.«
»Diese Schuhe sind mein Schatz«, sagte sie.
»Ich würde sie ebenfalls hüten wie einen Schatz.«
»Möchten Sie ein Paar haben, Nathan?«
»Sie haben sie schon so lange. Sie sollten sie nicht auf-
geben.«
»Ich würde sie nicht aufgeben. Ich würde sie weitergeben.
Ich will nicht, dass alles verloren ist, wenn ich an diesem Tu-
mor sterbe.«
»Sie sollten sie behalten. Man weiß nie, wie die Dinge sich
entwickeln. Vielleicht werden Sie noch Jahre hier sein und sie
ansehen.«
»Diesmal werde ich wahrscheinlich sterben, Nathan.«
»Behalten Sie die Schuhe, Amy, alle. Bewahren Sie sie hier für
ihn auf.«
Sie zog an der Schnur und löschte das Licht, dann schloss
sie den Schrank, und wir gingen durch die Küche zurück in ihr
Arbeitszimmer. Ich fühlte mich so erschöpft, als wäre ich
fünfzehn Kilometer gerannt.
»Erinnern Sie sich daran, was Sie mit Kliman besprochen
haben?« fragte ich jetzt, nachdem ich die Schuhe gesehen
hatte. »Erinnern Sie sich, was Sie zu ihm gesagt haben?«
»Ich glaube nicht, dass ich ihm überhaupt etwas gesagt
habe.«
»Nichts über Manny, nichts über sich selbst?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht genau.«
»Haben Sie ihm etwas gegeben?«
»Warum? Hat er das gesagt?«
»Er sagt, er hat eine Fotokopie des halben Manuskripts von
Mannys Roman. Er sagt, Sie hätten ihm den zweiten Teil
versprochen.«
»Das hätte ich niemals getan. Das könnte ich gar nicht.«
»Vielleicht hat der Tumor es getan?«
»Oje. O Gott. O nein.«
Auf dem Tisch lagen ein paar lose Blätter, und in ihrer
Aufregung schob sie sie hin und her. »Gehören die zu dem
Manuskript?« fragte ich.
»Nein.«
»Ist der Roman hier?«
»Das Original liegt in einem Schließfach in Boston, aber
ich habe eine Kopie davon hier.«
»Er konnte ihn wegen des Themas nicht schreiben.«
Sie sah mich beunruhigt an. »Woher wissen Sie das?«
»Sie haben es mir erzählt.«
»Habe ich das? Ich weiß nicht mehr, was ich tue. Ich weiß
nicht mehr, was geschieht. Ich wollte, man würde mich mit
diesem Buch in Ruhe lassen.« Sie sah die Blätter in ihrer Hand
an und sagte mit einem heiteren Lachen: »Das ist ein brillanter
Leserbrief an die Times. Er ist so brillant, dass sie ihn nicht
gedruckt haben. Ach, es ist mir egal.«
»Wann haben Sie ihn geschrieben?« fragte ich.
»Vor ein paar Tagen. Vor einer Woche. Sie haben einen Ar-
tikel über Hemingway gebracht. Vor einem Jahr vielleicht.
Vielleicht auch vor fünf Jahren. Ich weiß es nicht. Ich habe den
Artikel irgendwo. Ich hatte ihn ausgeschnitten, und vor ein
paar Tagen ist er mir abends in die Hände gefallen, und ich
habe mich so aufgeregt, dass ich mich hingesetzt und diesen
Brief geschrieben habe. Ein Reporter ist nach Michigan ge-
fahren und hat versucht, die realen Vorbilder für die Figuren in
Hemingways Kurzgeschichten zu finden. Also habe ich ihnen
geschrieben, was ich davon halte.«
»Sicht ziemlich lang aus für einen Leserbrief.«
»Ich hab auch schon längere geschrieben.«
»Darf ich ihn lesen?« fragte ich.
»Ach, es sind bloß die Ergüsse einer verrückten alten Frau.
Der Auswuchs einer Wucherung.« Abrupt ging sie in die Kü-
che, um den Wasserkessel aufzusetzen und uns etwas zu essen
zu machen. Ich blieb allein mit dem Brief. Er war mit Kugel-
schreiber geschrieben. Anfangs dachte ich, sie hätte ihn nicht
an einem Abend, sondern im Verlauf mehrerer Tage, Wochen
oder Monate geschrieben, denn die Farbe der Mine wechselte
auf jeder Seite einige Male. Doch dann kam ich zu dem
Schluss, dass sie ihn tatsächlich in einem Stück geschrieben
hatte – als Reaktion auf einen vielleicht fünf Jahre alten Arti-
kel – und dass die verschiedenen Farben der Minen nur die
Allgegenwart ihrer Verwirrtheit bezeugten. Doch die Sätze
waren zusammenhängend, und ihre Gedankengänge waren
alles andere als Auswüchse einer Wucherung in ihrem Gehirn.

Sehr geehrte Damen und Herren!


Es gab einmal eine Zeit, da intelligente Menschen die
Literatur zum Denken nutzten. Diese Zeit geht nun zu
Ende. In der Sowjetunion und ihren osteuropäischen
Satellitenstaaten waren es in den Jahrzehnten des Kalten
Krieges die ernstzunehmenden Schriftsteller, die von der
Literatur ausgeschlossen wurden; in Amerika ist heute
die Literatur von der Liste der Dinge ausgeschlossen, die
einen ernstzunehmenden Einfluss auf die Wahrnehmung
des Lebens haben. Der vorherrschende Gebrauch, den die
Feuilletons der Intelligenzblätter und die Universitätsins-
titute von der Literatur machen, steht in so destruktivem
Gegensatz sowohl zu den Zielen der erzählenden
Literatur als auch zu dem Gewinn, den ein unbefangener
Leser aus ihr ziehen kann, dass es besser wäre, wenn die
Öffentlichkeit aufhörte, irgendeinen Gebrauch von der
Literatur zu machen.
Mit dem Kulturjournalismus Ihrer Zeitung verhält
es sich so: Je mehr es davon gibt, desto schlechter wird
er. Sobald man sich auf die ideologischen Vereinfa-
chungen und den biographischen Reduktionismus des
Kulturjournalismus einlässt, ist das Wesen des Kunst-
werks verloren. Ihr Kulturjournalismus ist nichts weiter
als Boulevardzeitungsgeschwätz, das im Gewand des
Interesses für »die Künste« auftritt, und alles, was dieser
Journalismus zu seinem Gegenstand macht, wird in etwas
verwandelt, was es nicht ist. Wie heißt der Prominente,
wie hoch ist der Preis, was macht den Skandal aus?
Welcher Vergehen hat sich der Schriftsteller schuldig
gemacht, und zwar nicht im Hinblick auf die
Anforderungen literarischer Ästhetik, sondern im
Hinblick auf seine Tochter, seinen Sohn, seine Mutter,
seinen Vater, seine Partnerin, seine Geliebte, seinen
Freund, seinen Verleger, sein Haustier? Ohne den Hauch
einer Ahnung, welche Gebote die schriftstellerische
Phantasie notwendigerweise übertreten muss, wirft sich
der Kultur Journalismus unentwegt auf pseudoethische
Fragen: »Hat der Schriftsteller das Recht zu bla-bla-bla?«
Diese Art von Journalismus ist übermäßig empfindlich,
wenn es um die Verletzung der Privatsphäre geht, wie sie
in der Literatur seit Jahrtausenden üblich ist, enthüllt
zugleich aber manisch und gänzlich unfiktionalisiert,
wessen Privatsphäre wie verletzt worden ist. Mit
Entsetzen sieht man, welchen Stellenwert das Feuilleton
der Privatsphäre beimisst, sobald es um erzählende
Literatur geht.
Hemingways frühe Storys spielen in Michigan, auf
der oberen Halbinsel, und so macht sich einer Ihrer
Kulturjournalisten auf den Weg dorthin und findet die
Namen der Einheimischen heraus, die angeblich die
Vorbilder von Figuren in diesen Geschichten waren.
Und welche Überraschung: Sie oder ihre Nachkom-
men sind der Meinung, dass sie bei Ernest Hemingway
schlecht weggekommen sind. Diese Gefühle, so unge-
rechtfertigt oder kindisch oder durch und durch einge-
bildet sie auch sein mögen, werden ernster genommen
als die Geschichten selbst, weil es für den Kulturjour-
nalisten leichter ist, über diese Gefühle zu schreiben
als über die Storys. Die Integrität des Informanten
steht nie in Frage – wohl aber die des Schriftstellers.
Der Schriftsteller arbeitet jahrelang allein, gibt sich ganz
und gar dem Schreiben hin, denkt über jeden Satz
zweiundsechzigmal nach und hat doch keinerlei über-
geordnetes literarisches Bewusstsein, Verständnis oder
Ziel. Alles, was der Schriftsteller akribisch aufbaut, Satz
für Satz und Detail für Detail, ist nichts als Täuschung
und Lüge. Der Schriftsteller hat keinerlei literarisches
Motiv. Sein Interesse, die Wirklichkeit abzubilden,
geht gegen null. Seine Motive sind immer persönlicher
und grundsätzlich niedriger Natur.
Dieses Wissen ist ein Trost, denn es beweist, dass
die Schriftsteller nicht nur uns anderen keineswegs so
überlegen sind, wie sie immer vorgeben – nein, sie sind
schlechter als wir anderen. Diese schrecklichen Ge-
nies!
Die Tatsache, dass ernstzunehmende erzählende
Literatur sich der Paraphrasierung und Beschreibung
entzieht – und daher Nachdenken erfordert –, ist dem
Kulturjournalisten ein Dorn im Auge. Lediglich ihre
imaginierten Quellen darf man ernst nehmen, nur diese
Fiktion, die Fiktion des faulen Journalisten. Das Origi-
näre der Phantasie, die jenen frühen Hemingway-Sto-
rys zugrunde liegt feiner Phantasie, die auf wenigen
Seiten das Genre der Kurzgeschichte und die amerika-
nische Prosa von Grund auf verändert hat), ist dem
Kulturjournalisten, der in seinen eigenen Artikeln un-
sere ehrlichen englischen Worte in Unsinn verwandelt,
unbegreiflich. Wenn man ihn auffordern würde: »Sieh
nur ins Innere der Geschichte«, wüsste er nichts zu sa-
gen. Phantasie? Es gibt keine Phantasie. Literatur? Es
gibt keine Literatur. All die herausragenden Passagen –
und selbst die nicht so herausragenden Passagen –
verschwinden, und das einzige, was bleibt, sind diese
Menschen, deren Gefühle verletzt sind, denn Heming-
way hatte ihnen etwas angetan. Hatte Hemingway das
Recht ...? Hat irgendein Schriftsteller das Recht ...?
Sensationshaschender Kulturvandalismus, der sich als
Eintreten einer verantwortungsvollen Zeitung für »die
Künste« tarnt.
Wenn ich soviel Macht hätte wie Stalin, würde
ich sie nicht darauf verschwenden, Schriftsteller zum
Schweigen zu bringen. Ich würde jene zum Schweigen
bringen, die über Schriftsteller schreiben. Ich würde
alle öffentlichen Diskussionen über Literatur in Zei-
tungen, Zeitschriften und gelehrten Journalen verbie-
ten. Ich würde jedweden Unterricht über Literatur in
allen Grundschulen, höheren Schulen und Universitä-
ten des Landes verbieten. Ich würde Lesezirkel und
einschlägige Internet-Chatrooms verbieten und die
Geheimpolizei in die Buchhandlungen schicken, um
zu verhindern, dass Buchhändler mit den Kunden und
die Kunden untereinander über Bücher sprechen. Ich
würde dafür sorgen, dass die Leser mit den Büchern al-
lein sind, damit sie ohne fremde Hilfe einen Sinn darin
finden. Das würde ich tun, für so viele Jahrhunderte,
wie nötig sind, um die Gesellschaft von dem Gift Ihres
Unsinns zu reinigen.
Amy Bellette

Hätte ich diese Seiten gelesen, ohne Amy zu kennen, so hätte


ich die Argumente wörtlich genommen und den Ausbruch
nicht ohne Sympathie betrachtet, auch wenn die Tatsache,
dass ich mich außerhalb dessen bewegte, was Amy als »Kul-
turjournalismus« bezeichnete, es mir ersparte, darüber nach-
zudenken oder wie Amy dagegen zu wüten – was eine nicht
geringzuschätzende Wohltat war. Unter den waltenden Um-
ständen jedoch schien die Erklärung für die Zielrichtung des
Briefs und des Interesses, das er in mir weckte, in einigen Sät-
zen im zweiten Absatz zu liegen, die ich noch einmal las,
während Amy in der Küche einen Imbiss aus Tee, Toast und
Marmelade bereitete. »Welcher Vergehen hat sich der Schrift-
steller schuldig gemacht, und zwar nicht im Hinblick auf die
Anforderungen literarischer Ästhetik, sondern im Hinblick
auf seine Tochter, seinen Sohn, seine Mutter, seinen Vater,
seine Partnerin, seine Geliebte, seinen Freund, seinen Ver-
leger, sein Haustier?« War es möglich, dass »Halbschwester«
in dieser Aufzählung nicht vorkam, weil Amy sich des Ur-
sprungs ihrer Empörung nicht ganz bewusst war? Oder
kannte sie den Ursprung sehr wohl und hatte sorgfältig darauf
geachtet, dass der Tumor das Wort »Halbschwester« nicht
womöglich heimlich in diesen Brief schmuggelte?
Ich hatte den Eindruck, dass dieser Brief an die Times in
erster Linie mit Richard Kliman zu tun hatte.
Als Amy mit einem Tablett, auf dem unser Imbiss stand, aus
der Küche kam, sagte ich: »Und welche Note hat Manny Ihnen
für diese gutdurchdachten, bissigen Sätze gegeben?«
»Er hat mir keine Note gegeben.«
»Warum nicht?«
»Weil ich sie nicht geschrieben habe.«
»Wer dann?«
»Er hat sie geschrieben.«
»Tatsächlich? Vorhin haben Sie gesagt, es sei der Brief einer
verrückten alten Frau.«
»Das stimmte nicht ganz.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat ihn mir diktiert. Es sind seine Worte. Er hat gesagt:
›Wir Menschen, die lesen und schreiben, sind am Ende – wir
sind Geister, die das Ende des Zeitalters der Literatur erleben.
Schreib das auf.‹ Und das habe ich getan.«

Bis lange nach Mitternacht saß ich bei ihr und hörte ihr zu. Ich
sagte wenig, hörte viel, schenkte dem meisten Glauben und
vermochte einen Sinn darin zu erkennen. Soweit ich es
beurteilen konnte, machte sie kein einziges Mal den Versuch,
mich bewusst in die Irre zu führen. Die rasche Enthüllung
eines so gewaltigen Vorrats an Informationen führte jedoch
dazu, dass die Erzählstränge ihrer zahlreichen Geschichten
unentwirrbar miteinander verwoben wurden und man manch-
mal den Eindruck haben konnte, sie sei ihrem Tumor ganz
und gar ausgeliefert. Oder dass der Tumor die normalerweise
von Hemmungen und Konventionen aufgestellten Hinder-
nisse einfach umstürzte. Oder dass sie einfach eine schreck-
lich kranke und einsame Frau war, die nach jahrelangem Ver-
zicht das Interesse eines Mannes genoss, eine Frau, die vor
fünf Jahrzehnten vier kostbare Jahre mit einem brillanten ge-
liebten Mann verbracht hatte, dessen Integrität – in ihren Au-
gen das, was seine Majestät als Mann und als Schriftsteller
ausmachte – jetzt von der Zerstörung durch das unerklärliche
»Ressentiment eines zweitklassigen Menschen«, dem selbst-
ernannten Biographen dieses geliebten Mannes, bedroht war.
Vielleicht kündete der Schwall ihrer Worte lediglich davon,
wie alt und tief ihr Leiden war und wie lange sie nun schon
ohne ihn sein musste.
Es war eigenartig zu sehen, wie ihr Geist zusammen-
gepresst wurde und sich zugleich weitete. Und bisweilen
beunruhigende Fehlleistungen lieferte, wie zum Beispiel, als
sie mich nach mehreren Stunden des Erzählens plötzlich
erschöpft ansah und, vielleicht mit mehr Witz, als oberfläch-
lich zu erkennen war, fragte: »Waren wir eigentlich je verhei-
ratet?«
Ich lachte und sagte: »Ich glaube nicht. Ich habe allerdings
daran gedacht.«
»Dass wir heiraten könnten?«
»Ja. Als junger Mann, als wir uns bei Lonoff kennenge-
lernt hatten. Ich dachte, es müsste wunderbar sein, mit Ihnen
verheiratet zu sein. Sie waren einzigartig.«
»Ja, das war ich, nicht?«
»Sie wirkten gezähmt und wohlerzogen, aber Sie waren ganz
offensichtlich ungewöhnlich.«
»Ich hatte kerne Ahnung, was ich tat.«
»Damals?«
»Damals, jetzt, immer. Ich hatte keine Ahnung, auf wel-
ches Risiko ich mich mit diesem Mann einließ, der so viel
älter war als ich. Aber er war unwiderstehlich. Er war einzig-
artig. Ich war so stolz darauf, seine Liebe geweckt zu haben.
Wie war mir das gelungen? Ich war so stolz darauf, keine
Angst vor ihm zu haben. Und dabei war ich unentwegt starr
vor Angst: Ich hatte Angst vor Hope und dem, was sie tun
könnte, ich hatte Angst vor dem, was ich ihr antat. Und ich
hatte keine Vorstellung von der Verletzung, die ich ihm zu-
fügte. Ich hätte tatsächlich Sie heiraten sollen. Aber Hope
beendete das eheliche Zusammenleben, und ich lief mit E.I.
Lonoff davon. Ich war zu naiv, um überhaupt etwas zu be-
greifen, ich dachte, ich ginge ein großes, kühnes weibliches
Risiko ein, und so kehrte ich in meine Kindheit zurück, Na-
than. In Wahrheit habe ich sie nie verlassen. Ich werde als
Kind sterben.«
Als Kind, weil sie mit einem so viel älteren Mann zusam-
mengewesen war? Weil sie in seinem Schatten geblieben war
und immer bewundernd zu ihm aufgesehen hatte? Warum war
diese herzzerreißende Verbindung, die gewiss so viele ihrer
Illusionen zerstört hatte, eine Kraft, die sie in ihrer Kindheit
festhielt? »Was aber nicht bedeutet, dass Sie kindisch waren«,
sagte ich.
»Nein, das bedeutet es nicht.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, wenn Sie sagen, Sie
seien ein Kind.«
»Dann muss ich es Ihnen erklären, nicht?«
Und so wurde die sagenhafte Biographie, mit der ich sie
1956 ausgestattet hatte, durch die wahre ersetzt, die zwar we-
niger von der moralischen Bedeutung aufgebläht war, welche
meine Erfindung damals für mich gehabt hatte, jedoch fak-
tisch nicht so weit von ihr entfernt war. Es konnte auch gar
nicht anders sein, denn dies alles war auf demselben geschun-
denen Kontinent geschehen, und es war einer Angehörigen
derselben geschundenen Generation widerfahren, die zu den-
selben geschundenen Feinden der Herrenrasse gehörte. Dass
sie sich aus den Zusammenhängen herauslöste, in die ich sie
gestellt hatte, bedeutete nicht, dass sie dem Schicksal entgan-
gen war, das ihrer Familie nicht weniger grausam mitgespielt
hatte als den Franks. Dies war eine Katastrophe, deren Di-
mensionen nicht verkleinert und von keiner Phantasie rück-
gängig gemacht werden konnte, und die Erinnerung daran
vermochte auch der Tumor erst mit Amys Tod auszulöschen.
So erfuhr ich, dass Amy nicht aus den Niederlanden
stammte, wo ich sie in dem verschlossenen, später in eine Ge-
denkstätte umgewandelten Dachboden eines Lagerhauses an
einer Amsterdamer Gracht versteckt hatte, sondern aus Nor-
wegen – aus Norwegen, aus Schweden, aus Neuengland, aus
New York, womit ich sagen will: Mittlerweile stammte sie
von nirgendwo, wie so viele jüdische Kinder ihrer Zeit, die
nicht in Amerika, sondern in Europa geboren und im Zweiten
Weltkrieg wie durch ein Wunder dem Tod entgangen waren,
obgleich sie ihre Jugend in der Zeit durchlebt hatten, in
der Hitler erwachsen gewesen war. Auf diese Weise erfuhr ich
von den näheren Umständen dieses Leids, das so, wie es
sich abgespielt hat, unfehlbar nicht nur Zorn, sondern auch
eine gewisse Ungläubigkeit hervorruft. Jedenfalls beim Zu-
hörer. Bei der Erzählerin war keine Aufwallung zu bemerken.
Und gewiss keine Ungläubigkeit. Je tiefer sie in das Unglück
ihrer Kindheit vordrang, desto trügerisch nüchterner wurde
sie. Als könnte dieser Verlust je aufhören, auf ihrer Seele zu
lasten.
»Meine Großmutter stammte aus Litauen. Die Familie
meines Vaters kam aus Polen.«
»Wie sind sie ausgerechnet in Oslo gelandet?«
»Meine Großeltern waren unterwegs von Litauen nach
Amerika. Als sie nach Oslo kamen, wurden sie aufgehalten,
und mein Großvater musste dort bleiben. Amerikanische
Konsularbeamte ließen ihn nicht Weiterreisen, sie stellten ihm
nicht die nötigen Papiere aus. Meine Mutter und mein Onkel
wurden in Oslo geboren. Mein Vater war in Amerika gewesen,
für ihn war es beinahe so etwas wie ein Abenteuer, in das man
sich als junger Mensch stürzt. Er war auf dem Weg zurück
nach Polen, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Damals war er
gerade in England, und er wollte nicht zurückkehren und zur
Armee eingezogen werden. Also ging er nach Norwegen. 1915.
Und dort lernte er meine Mutter kennen. Juden hatten sich in
Norwegen nicht niederlassen dürfen. Aber es gab einen
bekannten norwegischen Schriftsteller, der sich für die Juden
einsetzte, und so hatte man ab 1905 Juden ins Land gelassen.
1915 haben meine Eltern geheiratet. Wir waren fünf Kinder,
vier Brüder und ich.«
»Und alle wurden gerettet«, sagte ich hoffnungsvoll, »Ihre
Mutter, Ihr Vater, Ihre vier Brüder?«
»Meine Mutter nicht und mein Vater nicht und auch nicht
mein ältester Bruder.«
Also fragte ich: »Was ist geschehen?«
»Als 1940 die Deutschen kamen, taten sie erst einmal gar
nichts. Alles schien ganz normal. Aber im Oktober 1942 wur-
den alle jüdischen Männer über achtzehn verhaftet.«
»Von den Deutschen oder den Norwegern?«
»Die Deutschen gaben die Befehle, aber die Ausführenden
waren die Quislinge, die norwegischen Nazis. Um fünf Uhr
morgens standen sie vor unserer Tür. Meine Mutter sagte:
›Ach, ich dachte, Sie wären die Leute von der Ambulanz. Ich
habe gerade angerufen. Mein Mann hat einen Herzanfall. Er
liegt im Bett. Sie dürfen ihn nicht anrühren.« Und die kleine-
ren Kinder weinten.«
»Sie hatte diese Geschichte erfunden?« fragte ich.
»Ja. Meine Mutter war sehr schlau. Sie bat und flehte, und
schließlich sagten sie: ›Na gut, wir kommen um zehn wieder
und sehen nach, ob er weg ist.‹ Also rief sie den Arzt an und
ließ meinen Vater ins Krankenhaus einweisen. Im Kranken-
haus machte er den Plan, nach Schweden zu fliehen, aber er
hatte Angst, sie würden kommen und uns verhaften, wenn
sie herausfanden, dass er geflohen war. Und so wartete er bei-
nahe einen Monat, und eines Morgens kam ein Anruf vom
Krankenhaus, die Gestapo sei da. Sogar am Telefon konnte
man das Geschrei im Hintergrund hören. Wir wohnten nicht
weit vom Krankenhaus entfernt, und so rannten meine Mut-
ter, meine Brüder und ich dorthin. Ich war dreizehn. Mein
Vater lag auf einer Trage. Wir flehten sie an, ihn nicht mitzu-
nehmen.«
»War er krank?«
»Nein, aber das hätte ohnehin keine Rolle gespielt. Sie
nahmen ihn mit. Wir gingen nach Hause. Es war November,
und wir packten warme Kleider für ihn zusammen und gin-
gen zum Nazi-Hauptquartier. Wir versuchten, mit Leuten zu
sprechen, wir weinten, wir sagten, er sei krank und habe nichts
anzuziehen außer dem Krankenhausnachthemd, aber es half
nichts. Wir sagten, wir würden nach Hause gehen und am
nächsten Tag wiederkommen, aber sie sagten: ›Ihr könnt nicht
gehen, ihr seid verhaftet.‹ Meine Mutter protestierte. Meine
Mutter war stark. Sie sagte: ›Wir sind Norweger wie alle
anderen – Sie dürfen uns nicht verhaften.‹ Es gab ein langes
Hin und Her, aber nach einer Weile durften wir gehen.
Draußen war es dunkel. Überall war es schwarz. Meine Mutter
sagte, wir könnten nicht nach Hause gehen – sie war sicher,
dass sie am nächsten Morgen kommen und uns mitnehmen
würden.
Da waren wir also, auf der dunklen Straße, und genau in
diesem Augenblick gab es Fliegeralarm. In der allgemeinen
Verwirrung verschwand einer meiner älteren Brüder, und
mein ältester Bruder, der gerade geheiratet hatte, ging zur
Familie seiner Frau, um sich zu verstecken. So waren nur
noch meine Mutter, meine beiden jüngeren Brüder und ich
übrig. Als der Fliegeralarm vorüber war, sagte ich zu meiner
Mutter: ›Die Frau in dem Blumengeschäft ist immer so nett
zu mir. Und ich weiß, dass sie nicht für die Nazis ist.‹ Meine
Mutter sagte, ich solle sie anrufen. Wir suchten eine Telefon-
zelle, und ich rief sie an und fragte: ›Können wir vorbeikom-
men und ein bisschen feiern?‹ Sie verstand, was ich meinte,
und sagte ja. ›Aber seid vorsichtig, wenn ihr kommt‹, sagte sie.
Also gingen wir zu ihr, und sie ließ uns bleiben. Aber wir
durften nicht auf und ab gehen, wir mussten die ganze Zeit
zusammengedrängt auf dem Sofa sitzen. Sie war mit den
Nachbarn befreundet, die auf derselben Etage wohnten, und
ging am nächsten Morgen zu ihnen. Die Nachbarn hatten
Verbindungen zur Widerstandsbewegung. Es waren Norweger,
keine Juden, der Mann war Taxifahrer und sagte uns, alle
Juden würden zusammengetrieben und deportiert. Am näch-
sten Abend kam er mit zwei anderen Männern, die meine
beiden jüngeren Brüder mitnahmen, sie waren damals elf und
zwölf. Sie sagten, wir anderen müssten noch warten, sie
würden uns später abholen. Damit waren meine Mutter und
ich gemeint. Doch als sie zurückkamen, sagten sie, es sei nicht
möglich, uns gemeinsam mitzunehmen. Ich fragte meine
Mutter: ›Wenn ich jetzt mitgehe, kommst du dann nach?‹ Und
sie sagte: ›Natürlich. Ich werde dich nie im Stich lassen.«
Irgendwann erfuhr ich, dass sie später am Abend mit einem
Taxi abgeholt worden war, von bewaffneten Widerstands-
kämpfern, die auf dem Weg aus Oslo hinaus noch eine andere
Frau und einen jungen, Mutter und Sohn, mitnahmen. Meine
Mutter kannte sie dem Namen nach. Die jüdische Gemeinde in
Oslo war klein. Die meisten Juden kannten einander. Jedenfalls
verließen sie Oslo, und man hat nie wieder etwas von ihnen
gehört. Inzwischen wurde ich in einen Zug gesetzt. Im Zug war
ein Nazi-Offizier mit einer Hakenkreuz-Armbinde. Man sagte
mir, er werde mir beim Aussteigen einen Wink geben, und ich
solle ihm dann folgen. Ich war sicher, dass das eine Falle war.
In der Nähe der schwedischen Grenze stieg er aus, und ich
stieg ebenfalls aus und wurde einem anderen Mann
übergeben. Wir gingen zu Fuß weiter. Durch den Wald. Wir
liefen und Hefen. Derjenige, der einen führt, kennt die
versteckten Markierungen an den Bäumen. Es war ein langer
Marsch, acht bis zehn Kilometer. Wir gingen über die Grenze
nach Schweden. Durch den Wald und dann durch Ackerland.
Und mein Bruder, der in der Nacht, als es Fliegeralarm ge-
geben hatte, von uns getrennt worden war, erwartete mich. Er
hatte befürchtet, seine ganze Familie verloren zu haben. Dann
waren meine beiden jüngeren Brüder aufgetaucht und
schließlich ich. Aber das war alles. Wir warteten auf meine
Mutter und meinen verheirateten Bruder, aber sie kamen
nicht.«
Als sie geendet hatte, sagte ich: »Jetzt verstehe ich.«
»Sagen Sie mir bitte: Was verstehen Sie?«
»Bei den meisten Leuten ist es so: Wenn sie sagen, sie hät-
ten ihre Kindheit nie verlassen, meinen sie, dass sie unschul-
dig wie ein Kind geblieben sind und dass ihr Leben immer
schön war. Aber wenn Sie sagen, Sie hätten Ihre Kindheit nie
verlassen, meinen Sie, dass Sie in dieser schrecklichen Ge-
schichte geblieben sind – Ihr ganzes Leben war und blieb eine
schreckliche Geschichte. Sie meinen, dass Sie in Ihrer Jugend
so viel Schmerz auszuhalten hatten, dass Sie irgendwie immer
dort geblieben sind.«
»So ungefähr«, sagte sie.

Es war spät, als ich ins Hotel zurückkehrte, doch ich


schrieb sogleich alles auf, an das ich mich erinnern konnte:
über Amys Flucht aus dem besetzten Norwegen ins neutrale
Schweden, über die Jahre mit Lonoff und den Roman, den er
nicht zu Ende geschrieben hatte, als sie in Cambridge, dann in
Oslo und dann wieder in Cambridge gelebt hatten, wo er ge-
storben war. Drei oder vier Jahre zuvor hätte ich mir den
Großteil ihres Monologs tagelang merken können – mein
Gedächtnis war seit meiner frühesten Kindheit eine starke
Stütze und für einen, der aus beruflichen Gründen alles auf-
schreiben musste, der nötige Ballast gewesen. Jetzt aber, nicht
einmal eine Stunde nachdem ich Amy verlassen hatte, musste
ich geduldig darauf warten, dass sich Erinnerungen einstell-
ten, um dann Stück für Stück und so gut es ging das zu-
sammenzufügen, was sie mir anvertraut hatte. Anfangs war es
ein Kampf, und oft fühlte ich mich hilflos und fragte mich,
warum ich unbedingt etwas versuchen wollte, zu dem ich of-
fenbar nicht mehr imstande war. Doch sie und ihr Schicksal
hatten mich so sehr bewegt, dass ich nicht davon ablassen
konnte, ich war zu sehr daran gewöhnt, alles niederzuschrei-
ben, um mich nun von dieser Pflicht zu befreien, und zu ab-
hängig von dieser Kraft, die meinen Geist leitete und ihn zu
einem Teil von mir machte. Um drei Uhr morgens hatte ich
auf fünfzehn beidseitig beschriebenen Bögen Hotelbriefpapier
alles aufgeschrieben, an das ich mich erinnerte, und mich beim
Schreiben nicht nur gefragt, welche dieser Geschichten sie
Kliman erzählt haben mochte und wie er, der ausschließlich
eigene Ziele verfolgte, diese Geschichten verdrehen, entstellen,
missverstehen und falsch deuten würde, sondern auch, wie
man sie von ihm befreien könnte, bevor er sie benutzte, um
alles in Lug und Trug zu verwandeln. Und nicht zuletzt hatte
ich mich gefragt, welche dieser Geschichten sie selbst
abgewandelt, verdreht, entstellt, missverstanden und falsch
gedeutet hatte.
»Er fing an, ganz anders zu schreiben als sonst«, hatte
sie mir gesagt. »Vorher hatte er immer versucht, möglichst
viel wegzulassen, aber auf einmal ging es darum, möglichst
viel hineinzubringen. Er betrachtete seinen lakonischen Stil
als Hindernis, und trotzdem hasste er das, was er da schrieb.
Er sagte: ›Es ist langweilig. Es ist endlos. Es ist formlos. Plan-
los.« Ich sagte: ›Es folgt einem Plan, auf den du keinen Ein-
fhiss hast. Es wird seinen eigenen Plan entwickeln.« ›Wann?
Wenn ich tot bin?« Er wurde so bitter und verletzend – als
Mann und auch als Schriftsteller, er war so vollkommen ver-
ändert. Aber er musste dem Aufruhr in seinem Leben einen
Sinn verleihen, und so schrieb er an seinem Roman, kam wo-
chenlang nicht voran und sagte: ›Ich kann das nie veröffent-
lichen. Niemand braucht dieses Buch. Meine Kinder hassen
mich auch so schon genug.« Und immer war ich sicher, dass er
es bereute, mit mir zusammenzusein. Meinetwegen hatte
Hope ihn hinausgeworfen. Meinetwegen hatten seine Kinder
sich gegen ihn gestellt. Ich hätte niemals bleiben sollen. Aber
wie hätte ich gehen können, wenn es doch das war, was ich
mir so lange gewünscht hatte? Er hat mir sogar gesagt, ich
solle gehen. Aber ich konnte nicht. Allein hätte er nicht über-
lebt. Und dann hat er ja auch nicht überlebt.«
Der Höhepunkt des Abends war die inständige Bitte, die
Amy an mich richtete, als wir an der Tür standen und ich im
Begriff war zu gehen. Zuvor hatte ich sie um einen Briefum-
schlag gebeten und alles Bargeld hineingetan, das ich bei mir
hatte, bis auf die paar Dollar, die ich für das Taxi zum Hotel
brauchen würde. Ich glaubte, so würde es ihr leichter fallen,
das Geld anzunehmen. Ich gab ihr den Umschlag und sagte:
»Nehmen Sie das. In ein paar Tagen schicke ich Ihnen einen
Scheck. Ich möchte, dass Sie ihn einlösen.« Auf den Um-
schlag hatte ich meine Adresse und Telefonnummer in den
Berkshires geschrieben. »Ich weiß nicht, was ich gegen Kli-
man ausrichten kann, aber ich bin in der Lage, Ihnen finan-
ziell zu helfen, und das möchte ich tun. Manny Lonoff hat
mich wie einen Mann behandelt, als ich nichts weiter war als
ein Junge, der ein paar Kurzgeschichten veröffentlicht hatte.
Seine Einladung war tausendmal mehr wert als das, was in
diesem Umschlag ist.«
Sie versuchte nicht, das Geschenk abzulehnen, wie ich es
erwartet hatte, sondern streckte einfach die Hand aus und
nahm den Umschlag, und dann begann sie zum erstenmal zu
weinen. »Nathan«, sagte sie, »wollen Sie nicht Mannys Bio-
graph sein?«
»Ach, Amy. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Ich
bin kein Biograph. Ich bin Romanschriftsteller.«
»Aber ist dieser schreckliche Kliman denn ein Biograph?
Er ist ein Hochstapler. Er wird alles und jeden beschmutzen
und das als die Wahrheit ausgeben. Er will Mannys Integrität
zerstören – ohne das eigentlich zu wollen. Aber so macht man
das heute eben: Man gibt den Autor der öffentlichen Miss-
billigung preis. Man stellt die endgültige Abrechnung über
jeden einzelnen Fehltritt zusammen. Rufmord – damit erwer-
ben sich diese kleinen Niemande heutzutage ihre jämmer-
liche Reputation. Die Werte, Verpflichtungen, Tugenden,
Regeln, die jemand hat, sind nichts als Fassade, nichts als Tar-
nung für den ekelhaften Schleim, der sich darunter verbirgt.
Liegt es an den besonderen Fähigkeiten dieser Leute, dass
man so fasziniert ist von ihren Fehlern? Ist es eine Art Heu-
chelei, dass sie aus Fleisch und Blut bestehen? Ach, Nathan,
ich hatte diesen verdammten Tumor, und ich habe manches
falsch eingeschätzt. Ich habe mir mit diesem Menschen Feh-
ler erlaubt, die trotz dieses Tumors unverzeihlich sind. Und
jetzt werde ich ihn nicht mehr los. Manny wird ihn nicht
mehr los. Es wird nicht mehr so sein, dass es einst einen
freien, einzigartigen Geist gab, der durch die Welt zog und
den Namen E. I. Lonoff trug – nein, man wird alles nur noch
aus dem Blickwinkel Klimans betrachten. Er wird alle Bü-
cher, die Manny geschrieben hat, abtun, jedes wunderbare
Wort, das er je geschrieben hat, und niemand wird die leiseste
Ahnung davon haben, was dieser Mann war und wie schwer
er gearbeitet hat und wie präzise er war und wofür und
warum er geschrieben hat. Statt dessen wird dieser Kerl einen
Mann, der so überaus aufrecht und pflichtgetreu und selbst-
kritisch war, der nur starke Werke schaffen wollte, die der
Zeit standhalten, in jemanden verwandeln, der nichts weiter
war als ein Paria. Das wird die Summe von Mannys Leistun-
gen auf dieser Erde sein – das einzige Fragment seiner Per-
sönlichkeit, an das man sich erinnern wird! Das man ver-
unglimpfen wird! Darunter wird alles andere begraben sein!«
Sie konnte nur den Inzest meinen.
»Soll ich noch etwas bleiben?« fragte ich. »Darf ich noch
einmal hereinkommen?« Wir kehrten in ihr Arbeitszimmer
zurück, wo sie sich an den Schreibtisch setzte und mich ver-
blüffte, indem sie geradeheraus – und ohne eine einzige Träne
zu vergießen – sagte: »Manny hatte eine inzestuöse Beziehung
mit seiner Schwester.«
»Wie lange?«
»Drei Jahre.«
»Wie konnten sie das drei Jahre lang geheimhalten?«
»Ich weiß es nicht. Mit der Raffinesse, die Liebende ha-
ben. Mit Glück. Sie haben die Beziehung mit derselben Erre-
gung verborgen gehalten, mit der sie sie begonnen hatten. Sie
war nicht mit Qualen verbunden. Ich habe mich in ihn ver-
liebt – warum nicht auch seine Schwester? Ich war seine Stu-
dentin, nicht mal halb so alt wie er – und er ließ es geschehen.
Tja, und auch das hat er eben geschehen lassen.«
Das also war das Thema seines Romans, den er nicht
schreiben konnte, der Grund, warum er ihn nicht schreiben
konnte und warum er gesagt hatte, dass er ihn nie würde ver-
öffentlichen können. Solange er mit Hope verheiratet ge-
wesen sei, sagte Amy, habe er nie auch nur mit einem Wort
erwähnt, dass er eine Schwester gehabt habe, geschweige denn
auch nur ein einziges Wort über ihrer beider verbotene
jugendliche Lust geschrieben. Und nachdem sie von einem
Freund der Familie ertappt worden seien und sich der Skandal
unter ihren Nachbarn in Roxbury herumgesprochen habe, sei
Frieda von den Eltern schleunigst weggebracht worden, um
mit ihnen ein neues Leben in der moralisch einwandfreien
Atmosphäre der Pioniergesellschaft im zionistischen Palästina
zu beginnen. Manny sei als der Schuldige betrachtet worden,
man habe ihn als Dämon bezeichnet, als Verführer der
Schwester, als Urheber der Schande, die über die Familie
gekommen sei, und ihn ausgestoßen, ihn in Boston zurück-
gelassen, wo er, mit siebzehn Jahren, sehen sollte, wie er zu-
rechtkam. Wenn er in der Ehe mit Hope geblieben wäre, hätte
er weiterhin seine brillanten elliptischen Kurzgeschichten ge-
schrieben und nie auch nur ansatzweisc den Versuch unter-
nommen, die verborgene Schande zu enthüllen. »Aber als er
zum zweitenmal aus seiner Familie ausgestoßen wurde, weil
er mit einer jüngeren Frau zusammenlebte«, erklärte Amy,
»und das Chaos Mannys Disziplin zum zweitenmal auf die
Probe stellte, brach alles ein. Als seine Familie ihn in Boston
zurückließ, war er erst siebzehn und hatte keinen Penny in
der Tasche. Er war ein Verbannter. Doch so grausam diese
Verbannung auch war – er war stark und überlebte und
machte sich zu jemandem, der alles andere als ein Verbannter
war. Aber beim zweitenmal, als seine Familie sich von ihm ab-
kehrte, war er über fünfzig, und von diesem Schlag hat er sich
nicht mehr erholt.«
»Das ist das, was er über sein Leben als Siebzehnjähriger
geschrieben hat«, sagte ich, »aber nicht das, was er Ihnen dar-
über erzählt hat.«
Meine Bemerkung verwirrte sie. »Warum sollte ich Sie
anlügen?«
»Ich frage mich nur, ob Sie vielleicht etwas durcheinan-
derbringen. Sie sagen, dass er Ihnen das alles selbst erzählt hat
und dass Sie es wussten, bevor er mit der Arbeit an dem Buch
begann.«
»Ich habe es erst erfahren, als das Buch ihn allmählich in den
Wahnsinn trieb. Nein, vorher wusste ich nichts davon.
Niemand aus seinem Erwachsenenleben wusste davon.«
»Dann verstehe ich nicht, warum er es Ihnen erzählt hat,
warum er nicht einfach gesagt hat: ›Es treibt mich zum Wahn-
sinn, weil es etwas ist, was ich nicht ergründen kann. Es treibt
mich zum Wahnsinn, weil ich mich bemühe, mir etwas vorzu-
stellen, was ich mir nicht vorstellen kann.‹ Er hat versucht,
einer Aufgabe gerecht zu werden, der er nicht gewachsen war.
Er hat sich nicht vorgestellt, was er getan hatte, sondern
etwas, was er niemals tun konnte. Und damit war er nicht der
erste.«
»Ich weiß, was er zu mir gesagt hat, Nathan.«
»Bestimmt? Beschreiben Sie die Umstände, unter denen er
Ihnen gesagt hat, dass das Buch, das er schrieb, im Gegensatz
zu allem anderen, was er bis dahin zu Papier gebracht hatte,
ganz und gar auf seiner eigenen Geschichte beruhte. Rufen Sie
sich den Augenblick und den Ort ins Gedächtnis zurück.
Erinnern Sie sich an die Worte, die gesagt wurden.«
»Das alles ist hundert Jahre her. Wie soll ich mich daran
erinnern?«
»Aber wenn dies sein größtes Geheimnis war und wenn es so
lange an ihm genagt hatte – ja selbst wenn es so lange unter-
drückt gewesen war –, dann muss das Aussprechen dieses Ge-
heimnisses so etwas gewesen sein wie die Beichte, die Raskol-
nikow bei Sonja ablegt. Nach all den Jahren, in denen er über
die Verstoßung durch seine Familie geschwiegen hatte, muss
seine Beichte etwas Unvergessliches gewesen sein. Sagen Sie es
mir also. Sagen Sie mir, wie diese Beichte war.«
»Warum greifen Sie mich so an?«
»Amy, niemand greift Sie an, und ganz gewiss nicht
ich. Hören Sie mir zu«, sagte ich, und als ich mich diesmal
setzte, nahm ich mit Bedacht in Lonoffs Sessel Platz (»Was?
Sie hier?«), um zu ihr zu sprechen. »Die Quelle für Mannys
Inzestgeschichte war nicht sein eigenes Leben. Es war das Le-
ben von Nathaniel Hawthorne.«
»Was?« rief sie, als hätte ich sie aus tiefem Schlaf geweckt.
»Habe ich da was verpasst? Wer spricht hier von Haw-
thorne?«
»Ich. Mit gutem Grund.«
»Sie bringen mich ganz durcheinander.«
»Das ist nicht meine Absicht. Hören Sie zu. Ich werde Sie
nicht durcheinanderbringen. Ich will Ihnen alles erklären.«
»Ach, das würde meinem Tumor sehr gefallen.«
»Hören Sie bitte zu«, sagte ich. »Ich kann Mannys Biogra-
phie nicht schreiben, wohl aber die Biographie dieses Buches.
Und Sie könnten es ebenfalls. Und wir werden es jetzt ge-
meinsam tun. Sie wissen, wie beweglich der Geist eines
Schriftstellers ist. Er setzt alles in Bewegung. Er verschiebt
alles, lässt es hierhin und dorthin gleiten. Wie es zu dem Plan
für dieses Buch kam, liegt auf der Hand. Manny war überaus
vertraut mit dem Leben anderer Schriftsteller, besonders der
Schriftsteller aus Neuengland, in deren Heimat er mit Hope
über dreißig Jahre lang gelebt hatte. Ware er hundert Jahre
früher in den Berkshires zur Welt gekommen und aufgewach-
sen, dann wären Hawthorne und Melville seine Nachbarn ge-
wesen. Er hatte ihre Werke studiert. Er hatte ihre Briefe so oft
gelesen, dass er ganze Passagen auswendig konnte. Natürlich
wusste er, was Melville über seinen Freund Hawthorne gesagt
hatte. Dass Hawthorne ein ›großes Geheimnis‹ mit sich
herumtrug. Und er wusste, wie gewisse von der herrschenden
Lehrmeinung abweichende Literaturwissenschaftler diese
Aussage sowie andere Bemerkungen gedeutet haben, die Fa-
milienangehörige und Freunde über Hawthornes Verschwie-
genheit gemacht haben. Manny wusste von den schlauen, ge-
lehrten, unbeweisbaren Vermutungen über Hawthorne und
seine Schwester Elizabeth, und so hat er sich, als er nach einer
Geschichte suchte, die seine eigene unwahrscheinliche Ent-
wicklung beinhalten sollte – die ihm die Möglichkeit geben
sollte, diese überraschenden neuen Gefühle zu untersuchen,
die ihn, wie Sie sagen, in einen Mann verwandelt hatten, der so
ganz anders war als bisher –, diese Vermutungen über
Hawthorne und seine schöne, bezaubernde ältere Schwester
zu eigen gemacht. Für ihn, den gänzlich unautobiogra-
phischen, jedoch mit dem Genie zur vollkommenen Anver-
wandlung gesegneten Schriftsteller, war diese Entscheidung
praktisch unvermeidlich. Sie räumte die Hindernisse aus dem
Weg und gestattete es ihm, das Persönliche hinter sich zu las-
sen. Ein Roman war für ihn nie reine Abbildung von Wirk-
lichkeit. Es war ein unablässiges Erproben der erzählerischen
Form. Er dachte: Ich werde dies zu meiner Wirklichkeit
machen.«
Während ich meinerseits in sehr ähnlichen Bahnen dachte:
Ich werde dies zu meiner, zu Amys, zu Klimans, zu jedermanns
Wirklichkeit machen. Und das tat ich dann im Verlauf der
nächsten Stunde, indem ich meine Theorie so glanzvoll
vertrat, dass ich selbst daran glaubte.
4 Mein Gehirn

ER Warum heiratet eine Frau wie Sie mit Vier- oder Fünf-
undzwanzig? Zu meiner Zeit wäre es selbstverständlich
gewesen, dass Sie in diesem Alter schon ein Kind gehabt
hätten, vielleicht auch schon mit Zweiundzwanzig. Aber
heute ... Sagen Sie mir ... Ich kenne mich nicht mehr aus.
Ich war lange fort.
SIE Tja, abgesehen von dem offensichtlichen Grund, dass
ich jemanden kennengelernt habe, in den ich mich verliebt
habe und der sich bis über beide Ohren in mich verliebt
hat, jemanden, der ... Jedenfalls, abgesehen von all den
Gründen, die auf der Hand liegen, gab es eben auch den
entgegengesetzten Grund: weil so etwas zu meiner Zeit
niemand tat. Als Sie so alt waren wie ich, war es vielleicht
ganz normal, aber ich war die einzige von allen in meinem
College-Jahrgang, die einzige in meinem Freundeskreis,
die nach dem Abschluss in Harvard nach New York ge-
zogen ist und die (lacht) ... die mit Fünfundzwanzig
geheiratet hat. Es kam uns vor wie ein wildes Abenteuer
auf das wir uns gemeinsam eingelassen haben.
ER (ein wenig ungläubig) Ist das wahr?
SIE Aber ja. (Lacht wieder.) Warum sollte ich denn lügen?
ER Was haben Ihre Freunde dazu gesagt?
SIE Die Leute waren... Niemand war schockiert. Alle haben
sich gefreut. Aber ich war die erste. Die erste, die es ge-
wagt hat, sich häuslich niederzulassen. Ich bin gern die
erste.
ER Trotzdem haben Sie keine Kinder.
SIE Nein, noch nicht. Nicht jetzt jedenfalls. Ich glaube, bevor
das passiert, wollen wir beide beruflich noch ein bisschen
gefestigter sein.
ER Als Schriftsteller.
SIE Ja. Ja. Das steht ja zum Teil auchhinter dem Plan, aufs Land
zu gehen. Wir wollen arbeiten und nochmals arbeiten.
ER Im Gegensatz zu?
SIE Im Gegensatz zu arbeiten und hierzusein und in einer
Stadtwohnung eingesperrt zu sein und ständig überein-
anderzustolpern und ständig unsere Freunde zu sehen. Ich
bin in letzter Zeit so nervös. Ich kann nicht stillsitzen. Ich
kann nicht arbeiten. Ich kann gar nichts. Und darum
glaube ich, wenn wir damit zurechtkommen, habe ich
vielleicht bessere Chancen, etwas zu schaffen.
ER Aber warum haben Sie sich diesen jungen Mann als Ehe-
mann ausgesucht? Ist er der aufregendste Mensch, den Sie
finden konnten? Sie wollten ein Abenteuer, haben Sie ge-
sagt. Ich habe ihn kennengelernt. Ich mag ihn, er war mir
gegenüber in den vergangenen vierundzwanzig Stunden
extrem aufmerksam und rücksichtsvoll, aber ich würde
sagen, dass Kliman eher ein Abenteuer ist. Er war Ihr
Liebhaber auf dem College, nicht?
SIE Eine Ehe mit Richard Kliman wäre unmöglich. Er steht
ständig unter Strom. Seine Stärken liegen auf anderen Ge-
bieten. Warum Billy? Er ist intelligent, er war interessant,
wir konnten stundenlang reden, er hat mich nicht gelang-
weilt. Er ist nett, und man scheint allgemein zu glauben,
dass ein netter Mensch nicht interessant sein kann. Ich
weiß natürlich, was er nicht ist: Er ist nicht leidenschaft -
lich, er ist kein Vulkan. Aber wer will schon einen Vulkan?
Er kann sanft sein, er kann charmant sein, und er betet
mich an. Er betet mich absolut an.
ER Und beten Sie ihn ebenfalls an?
SIE Ich liebe ihn sehr. Aber er betet mich auf eine andere
Weise an. Er zieht für ein Jahr nach Massachusetts, weil
ich dorthin will. Er will nicht dorthin. Ich würde das wohl
nicht für ihn tun.
ER Aber Ihnen gehört das Geld. Natürlich tut er es für Sie. Sie
leben beide von Ihrem Geld, oder?
SIE (erschrocken über seine Unverblümtheit) Wie kommen Sie
darauf?
ER Na ja, Sie haben eine Geschichte im New Yorker veröffent-
licht, und von ihm ist bis jetzt noch gar nichts in einer
Publikumszeitschrift erschienen. Wer bezahlt die Miete?
Ihre Familie.
SIE Aber es ist jetzt mein Geld. Es kommt von meiner Fa-
milie, aber es ist jetzt mein Geld.
ER Dann lebt er also von Ihrem Geld.
SIE Wollen Sie damit sagen, dass er deswegen mit mir nach
Massachusetts geht?
ER Nein, nein. Ich will damit sagen, dass er Ihnen in einem
wichtigen Punkt verpflichtet ist.
SIE Wahrscheinlich.
ER Empfinden Sie nicht eine gewisse Überlegenheit, weil Sie
Geld haben und er nicht?
SIE Wahrscheinlich schon. Viele Männer würden sich in einer
solchen Situation sehr unwohl fühlen.
ER Und viele würden sich sehr wohl fühlen.
SIE Ja, viele würden das sehr genießen. (Lacht.) Aber er ge-
hört weder zu der einen noch zu der anderen Sorte.
ER Ist es viel Geld?
SIE Geld ist kein Problem.
ER Da haben Sie ja Glück.
SIE (beinahe verwundert, als wäre sie jedesmal erstaunt, wenn
es ihr einfällt) Ja. Großes Glück.
ER Ist es Ölgeld?
SIE Ja.
ER Ist Ihr Vater ein Freund von George Bushs Vater?
SIE Sie sind nicht befreundet. Bush senior ist etwas älter als
mein Vater. Sie haben geschäftlich miteinander zu tun.
(Mit Nachdruck.) Sie sind nicht befreundet.
ER Aber ihre Eltern haben ihn gewählt.
SIE (lacht) Wenn nur Bushs Freunde für ihn gestimmt hätten,
würde es uns viel bessergehen. Oder etwa nicht? Das ist
eine ganz bestimmte Welt. Sie leben in ein und derselben
Welt. Mein Vater – und (sie macht ein Geständnis) das-
selbe gilt wahrscheinlich auch für mich – hat dieselben
finanziellen Interessen wie Bush und sein Vater. Aber sie
sind nicht befreundet, das würde ich nicht sagen.
ER Sie haben keinen gesellschaftlichen Umgang?
SIE Sie begegnen sich vielleicht mal auf einer Party.
ER Und im Country Club?
SIE Ja. Im Houston Country Club.
ER Ist das ein Club, wo nur reinblütige weiße Christen auf-
genommen werden?
SIE Ja. Reinblütige weiße christliche Familien aus dem neun-
zehnten Jahrhundert. Das alte Houston. Es finden eine
Menge Debütantinnenbälle dort statt. Die Mädchen wer-
den im Club in die Gesellschaft eingeführt. Ein Rausch in
Weiß. Und alles tanzt, trinkt und kotzt.
ER Sind Sie als Mädchen dort schwimmen gegangen?
SIE In den Sommern war ich jeden Tag dort, um zu schwim-
men oder Tennis zu spielen, außer montags, wenn der
Club geschlossen war. Meine Freundin und ich haben
dem australischen Tennistrainer geholfen, indem wir die
Bälle aufgesammelt haben, wenn er Stunden gab. Ich war
vierzehn. Meine Freundin war zwei Jahre älter als ich und
viel durchtriebener, und sie hat mit ihm geschlafen. Der
Trainerassistent war der hübsche Sohn eines Clubmit-
glieds. Er war Kapitän der Tennismannschaft von Tulane.
Ich hab nicht mit ihm geschlafen, aber sonst haben wir
nichts ausgelassen. Ein kalter Fisch. Es hat keinen Spaß
gemacht. Teenagersex ist schrecklich. Man versteht gar
nichts, und die meiste Zeit versucht man herauszukrie-
gen, ob man überhaupt dazu imstande ist, und es ist ein-
fach nur unerfreulich. Einmal hab ich gekotzt, Gott sei
Dank auf ihn, als er mir seinen Schwanz zu tief in die
Kehle geschoben hat.
ER Und dabei waren Sie noch ein Mädchen.
SIE Waren die Mädchen in den vierziger Jahren anders?
ER Ganz anders. Louisa May Alcott hätte sich in meiner
Highschool sehr wohl gefühlt. Sind Sie in die Gesellschaft
eingeführt worden? Waren Sie eine Debütantin?
SIE Ach, jetzt erforschen Sie meine schmutzigen Geheim-
nisse. (Lacht ausgelassen.) Ja, ja, ja. Ich war eine Debütan-
tin. Es war schrecklich. Ich habe jede Sekunde gehasst.
Meiner Mutter war es so wichtig. Wir haben uns immer
gestritten. Meine ganze Schulzeit hindurch haben wir uns
gestritten. Ab s für sie getan. (Sie lacht jetzt lei-
ser – das Spektrum ihres Lachens ist bemerkenswert und
auch ein weiteres Anzeichen dafür, wie wohl sie sich in
ihrer Haut fühlt.) Und sie hat das zu würdigen gewusst.
Ja. Es war wahrscheinlich richtig. Als ich dann aufs Col -
lege ging, sagte meine Mutter, die in Savannah geboren
ist: »Sei nett zu diesen Mädchen von der Ostküste, Jamie
Hallie.«
ER Und haben Sie sich in Harvard den anderen Debütantin-
nen angeschlossen?
SIE In Harvard verrät man nicht, dass man Debütantin war.
ER Nein?
SIE Nein. Darüber spricht man nicht. Man behält sein
schmutziges Geheimnis für sich. (Beide lachen.)
ER Aber Sie haben sich in Harvard mit anderen reichen
Töchtern angefreundet.
SIE Mit einigen.
ER Und? Wie war das?
SIE Was wollen Sie wissen?
ER Ich weiß gar nichts. Ich war in einer anderen Zeit auf
einer anderen Universität.
SIE Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich da erzählen soll.
Wir waren Freundinnen.
ER Waren sie wie Billy – interessant und nie langweilig?
SIE Nein. Sie waren hübsch, sehr gut angezogen, sehr über-
legen. Oder jedenfalls dachten sie – wir – das.
ER Wem überlegen?
SIE Diesen nicht so gut angezogenen Mädchen aus Wiscon-
sin mit den dünnen Haaren, die so gut in den Naturwis-
senschaften waren. (Lacht.)
ER Und worin waren Sie gut? Wie sind Sie auf den Gedanken
gekommen, dass Sie Schriftstellerin werden wollen?
SIE Das wollte ich schon ziemlich früh. Ich glaube, schon auf
der Highschool. Ich habe schwer dafür gearbeitet.
ER Sind Sie gut?
SIE Ich hoffe es. Ich fand mich immer ziemlich gut. Ich habe
bisher nur nicht sehr viel Glück gehabt.
ER Die Geschichte im New Yorker.
SIE s geschafft, aber
dann (eine ausladende Geste) – wusch ...
ER Wie lange ist das her?
SIE Fünf Jahre. Es war eine wunderbare Zeit. Ich habe gehei-
ratet. Meine erste Geschichte erschien im New Yorker.
Aber jetzt habe ich das Selbstvertrauen verloren und kann
mich nicht mehr konzentrieren. Sie wissen ja, dass Kon-
zentration entscheidend oder jedenfalls sehr wichtig ist.
Das treibt mich zur Verzweiflung, und das wiederum
bewirkt, dass ich mich noch weniger konzentrieren kann
und mein Selbstvertrauen noch mehr verliere. Ich habe
das Gefühl, ein Mensch zu sein, der nichts mehr zustande
bringt.
ER Darum sprechen Sie mit mir.
SIE Wie bringen Sie diese beiden Dinge in Zusammenhang?
ER Vielleicht haben Sie das Selbstvertrauen gar nicht so sehr
verloren, wie Sie denken. Sie machen jedenfalls nicht den
Eindruck, als hätten Sie kein Selbstvertrauen.
SIE Nicht, wenn es um Männer geht. Nicht, wenn es um Men-
schen im allgemeinen geht. Aber wenn ich vor meinem
Computer sitze, habe ich immer weniger Selbstvertrauen.
ER Und wenn Sie in meinem Haus sitzen, neben dem Sumpf,
und Ihnen nur das Schilf und der Reiher vor dem Fenster
Gesellschaft leisten ...
SIE Ja, das spielt bei diesem Plan eine Rolle. Dort gibt es
keine Männer, keine Menschen, keine Partys. Ich werde
das, was ich brauche, nicht aus einer dieser Quellen
schöpfen können, und ich werde, wie zu hoffen ist, nicht
so überarbeitet sein, ich werde, wie zu hoffen ist, nicht so
abgespannt sein, ich werde, wie zu hoffen ist, nicht mehr
mit den Nerven am Ende sein, und ich glaube –
ER Sie über strapazieren die Wendung »wie zu hoffen ist«.
SIE (lacht und sagt – zu seiner Überraschung – schüchtern)
Tatsächlich? Tue ich das?
ER »Hoffentlich« wäre völlig ausreichend. Sie könnten auch
»mit etwas Glück« sagen. In alten Zeiten, als man wohl-
erzogenen Mädchen noch nicht seinen Penis in den Ra-
chen schob, hörte man »wie zu hoffen ist« so gut wie nie.
Das eher gewöhnliche »hoffnungsfroh« wurde manchmal
anstelle von »in Hoffnung auf« gebraucht, aber das war
dann auch schon alles – damals, als ich so alt war wie Sie
und Schriftsteller werden wollte.
SIE Tun Sie das nicht. Das haben Sie gestern auch schon ge-
s nicht noch mal.
ER Ich habe nur Ihren Stil ein wenig korrigiert.
SIE Ich weiß. Tun Sie das nicht. Wenn Sie reden wollen, dann
lassen Sie uns reden. Sollte ich Ihnen je etwas zu lesen ge-
ben, was ich geschrieben habe und von dem ich möchte,
dass Sie es lesen, können Sie meinen Stil gern korrigieren.
Aber wenn wir uns unterhalten, ist das kein Examen.
Wenn ich anfange zu denken, es ist ein Examen, kann ich
nicht mehr frei sprechen. Also tun Sie das bitte nicht.
(Sie hält inne.) Aber es stimmt: Der Gedanke ist, dass ich,
wenn ich mein Selbstvertrauen nicht mehr aus den ge-
sellschaftlichen Kontakten schöpfe, mehr Energie in die
Arbeit stecken werde, und dann wird mein Selbst-
vertrauen, wie zu hoffen ist, wieder zurückkehren. Hören
Sie auf, mich auszulachen.
ER Ich lache, weil Sie, die Sie sich diesen Mädchen aus Wis-
consin mit den dünnen Haaren so überlegen gefühlt ha-
ben, sich nicht korrigieren. Weil Sie sich nicht korrigieren
wollen.
SIE Weil ich meinem Gedankengang gefolgt bin und nicht
daran gedacht habe, ob Sie mit mir und meiner Wortwahl
einverstanden sind oder nicht.
ER Was glauben Sie, warum ich das tue?
SIE Um Ihre Überlegenheit zu demonstrieren?
ER Mit »wie zu hoffen ist«? Wie dumm von mir.
SIE Ja (lacht), wie dumm von Ihnen.
ER Ich schätze, ich habe Angst vor Ihnen.
SIE (lange Pause) Ich habe ein wenig Angst vor Ihnen.
ER Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass ich
Angst vor Ihnen haben könnte?
SIE Nein, ich habe nie gedacht, dass Sie Angst vor mir haben
könnten. Mir ist wohl der Gedanke gekommen, dass Sie
sich an mir freuen, dass Sie gern in meiner Gesellschaft
sind, aber nie, dass Sie Angst vor mir haben könnten.
ER Habe ich aber.
SIE Warum?
ER Was glauben Sie? Sie schreiben. Wie zu hoffen ist.
SIE (lacht) Sie doch auch. (Hält inne.) Die einzigen Gründe,
die mir einfallen, sind, dass ich jung bin, dass ich eine
Frau bin, dass ich gut aussehe. Aber ich werde nicht im-
mer jung sein, und dann wird die Tatsache, dass ich eine
Frau bin, nicht mehr so wichtig sein, und was das gute
Aussehen betrifft – was hat das damit zu tun? Aber viel-
leicht gibt es andere Gründe, von denen ich nichts weiß.
Was glauben Sie?
ER Ich hatte noch keine Gelegenheit, es herauszufinden.
SIE Wenn Ihnen irgendwelche anderen Gründe einfallen,
würde ich sie gern erfahren. Wenn Sie auch bloß die drei
s mir nicht zu
sagen. Aber wenn Ihnen andere einfallen, würden Sie mir
sehr helfen, indem Sie sie mir verraten.
ER Sie verströmen Selbstvertrauen. Die Art, wie Sie dasitzen,
die Arme über dem Kopf gekreuzt, wie Sie Ihr Haar mit
den Händen hochhalten, damit ich sehe, dass Sie so nicht
weniger schön sind. All das verrät Ihre Haltung. Sie ver-
strömen Selbstvertrauen, wenn Sie lächeln. Sie verströmen
Selbstvertrauen mit Ihrer Gestalt, mit Ihrem Körper. Ihr
Körper muss Ihnen Selbstvertrauen geben.
SIE Das tut er. Aber er wird mir kein Selbstvertrauen gegen-
über dem Sumpf und dem Reiher geben. Dort muss ich
mein Selbstvertrauen hier drinnen finden. (Sie neigt den
Kopf.)
ER In Ihrem Kopf, nicht in Ihren Brüsten.
SIE Ja.
ER Geben Ihre Brüste Ihnen Selbstvertrauen?
SIE Ja.
ER Erzählen Sie mir mehr davon.
SIE Davon, dass meine Brüste mir Selbstvertrauen geben? Ich
weiß, dass ich etwas habe, was anderen Menschen gefällt,
auf das andere Menschen neidisch sind, das andere Men-
schen begehren. Das Vertrauen darauf, dass man begehrt
wird – das ist Selbstvertrauen. Dass man Anklang findet,
einen guten Ruf genießt, dass andere sich nach einem seh -
nen – wenn man das weiß, hat man Selbstvertrauen. Ich
weiß, dass ich alles, was mit diesen –
ER Mit Ihren Brüsten.
SIE – mit meinen Brüsten zu tun hat, gut kann.
ER Sie sind ein Original, Jamie. Von Ihnen gibt es nicht eine
Million Kopien.
SIE Man findet heraus, was die Leute wollen, man findet her-
aus, was die Leute beeindruckt, und wenn man ihnen dann
etwas gibt, was sie beeindruckt, dann kriegt man, was
man will.
ER Und was beeindruckt mich? Was will ich? Oder wollen
Sie mich etwa nicht beeindrucken?
SIE Oh, ich mochte Sie sehr gern beeindrucken. Ich sehe zu
Ihnen auf. Sie sind für mich ein großes Rätsel, müssen Sie
wissen. Sie faszinieren mich sehr.
ER Wieso fasziniere ich Sie?
SIE Weil außer dem Reiher vor Ihrem Fenster niemand etwas
über Sie weiß. Über berühmte Menschen weiß jeder alles –
jedenfalls denkt man das. Aber Sie – Sie haben diese
Bücher geschrieben, die Sie in einer bestimmten Gruppe
von Leuten berühmt gemacht haben. Sie sind kein Tom
Cruise. (Lacht.)
ER Wer ist Tom Cruise?
SIE Jemand, der so berühmt ist, dass Sie nicht mal wissen,
wer er ist. Das ist Tom Cruise. Wer tagein, tagaus all die
Klatschillustrierten liest, weiß natürlich gar nichts über
diese berühmten Menschen, aber er könnte sich einbilden,
alles über sie zu wissen. Doch niemand kann sich
einbilden, irgend etwas über Sie zu wissen.
ER Jedesmal, wenn ich ein Buch veröffentliche, denken die
Leute, dass sie alles über mich wissen.
SIE Das sind Idioten. In Wirklichkeit sind Sie ein Rätsel.
ER Sie wollen ein Rätsel beeindrucken.
SIE Ja. Ja, ich will Sie beeindrucken. Womit kann ich Sie
beeindrucken?
ER Ihre Brüste beeindrucken mich.
SIE Sagen Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß.
ER Alles an Ihnen beeindruckt mich.
SIE Was noch?
ER Ihr Intellekt. Ich weiß, dass das etwas ist, was man nach
den heutigen Regeln sagen muss, aber ich halte mich nicht
an die heutigen Regeln.
SIE Stimmt es, dass mein Intellekt Sie beeindruckt, oder
stimmt es nicht?
ER Soweit schon.
SIE Noch etwas?
ER Ihre Schönheit. Ihr Charme. Ihre Eleganz. Ihre Freimüt-
igkeit.
SIE s.
ER Billy hat es.
SIE Das stimmt.
ER Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass Billy Sie anbetet?
Wie sieht diese Anbetung aus?
SIEWenn wir in Texas sind, will er sehen, wo ich als Kind ge -
spielt habe. Er will auf der Schaukel sitzen, auf der mein
Kindermädchen mich hat schaukeln lassen, und die Wip-
pe, auf der sie und ich gesessen haben, als ich vier war. Er
hat sich von mir Kinkaid zeigen lassen, meine Schule, da -
mit er das Klassenzimmer der dritten Klasse besichtigen
konnte, wo wir Butter gemacht haben, und das der vier-
ten Klasse, wo wir ein Experiment mit einer Petrischale
gemacht haben. Ich bin mit ihm in die Schulbibliothek
gegangen, weil ich im Club der Bibliothek war, in den nur
die besten Schüler aufgenommen wurden, und dort hat er
am Fenster gestanden und das üppig begrünte Schulge-
lände betrachtet, als wäre er ein romantischer Dichter, der
einen Regenbogen sieht. Er wollte das große Spielfeld se -
hen, wo ich in der vierten Klasse beim Stelzenlaufen mit-
gemacht habe, und damals war alles geschmückt wie bei
einem mittelalterlichen Turnier, mit roten und goldfar-
benen Flaggen überall, so dass ich ganz aufgeregt war
und drei Meter nach dem Start hingefallen bin, obwohl
ich doch eigentlich die Schnellste war und hätte gewin-
nen sollen. Wir mussten vom Haus meiner Eltern in Ri-
ver Oaks zur Schule fahren, damit er die Vorgärten und
Bäume und Büsche und Häuser sehen konnte, an denen
unser Chauffeur auf den acht Kilometern nach Kinkaid
vorbeigefahren ist. In Houston joggt er nur auf der
Strecke, die ich mir mit fünfzehn ausgesucht hatte. Be i
Billy nimmt das kein Ende. Meine Ichheit ist sein ma-
gnetischer Pol. Wenn ich träume, dass ich mit jemandem
Sex habe – diese Träume, die jeder mal hat, ganz gleich,
ob Mann oder Frau –, dann ist er eifersüchtig auf meine
Träume. Wenn ich aufs Klo gehe, ist er eifersüchtig auf
das Klo. Er ist eifersüchtig auf meine Zahnbürste. Er ist
eifersüchtig auf meine Haarspange. Er ist eifersüchtig auf
meine Unterwäsche. In der Tasche jeder Hose, die er hat,
sind Stücke meiner Unterwäsche. Ich finde sie, wenn ich
seine Sachen in die Reinigung bringe. Reicht das oder
wollen Sie noch mehr hören?
ER Dann heißt Anbetung, dass er nicht nur Sie liebt, sondern
Ihr ganzes Leben.
SIE Ja, mein Leben ist für ihn ein einziges Wunder. Ich höre
von ihm nur Worte schwärmerischer Liebe. Wenn ich
mich an- oder ausziehe, ist es, als stünde ich an einem
Fenster, an das er sein Gesicht drückt.
ER Er findet Ihre Kurven nicht weniger faszinierend als die
Wippe.
SIE Wenn ich, von hinten beleuchtet, im Schlafzimmer stehe,
preist er meine Silhouette. Wenn ich in der Küche Kaffee
koche und nichts weiter anhabe als eine Unterhose,
kommt er von hinten, streichelt meine Brüste, knabbert
an meinen Ohren und zitiert Keats: »Ein Seufzer heißt:
›Ja‹, ein Seufzer heißt: ›Nein‹, / Ein Seufzer: › s
nicht ertragen!‹
n? / Sollen den Biss in den Apfel wir wagen?«
ER Also, wenn Billy aus dem Gedächtnis ein Liebesgedicht
von Keats zitieren kann, ist er ein seltener Vertreter seiner
Generation.
SIE Das tut er. Das ist er. Er zitiert für mich Verse von Keats.
ER letztem Brief?
Als er ihn schrieb, war er fünf Jahre jünger als Sie und
schwerkrank. Wenige Monate später war er tot. »Ich
habe das Gefühl, als wäre mein wirkliches Leben vorbei«,
schrieb er, »und als würde ich eine postume Existenz
fristen.«
SIE Nein, seine Briefe kenne ich nicht. Und postume Existen-
zen sind mir noch nicht untergekommen.
ER Sagen Sie mir: Wie findet das Objekt dieser Anbetung die
Kraft, sie zu ertragen?
SIE Ach (lacht zärtlich), ich weiß, was sich gehört.
ER All diese sexuelle Aufmerksamkeit ist auf Sie gerichtet,
und dennoch sind Sie rastlos und verzweifelt.
SIE Wir haben viel Sex. Aber für den einen Partner ist Sex
nicht immer so unglaublich aufregend wie für den ande-
ren. Das ist oft nur am Anfang einer Beziehung so.
ER Ich erinnere mich.
SIE Wann hatten Sie zuletzt eine Affäre mit einer Frau?
ER Als Sie eine Debütantin waren.
SIE War es schwer, so lange darauf zu verzichten? Haben Sie
seitdem keinen Sex mehr gehabt?
ER Nein.
SIE War das schwer?
ER Ab einem gewissen Punkt ist alles schwer.
SIE Ich meine: besonders schwer. (Ihre Stimmen sind jetzt
sehr leise – wenn draußen ein Wagen vorbeifährt, kann man
sie kaum verstehen.)
ER E S gehört zu den Dingen, die besonders schwer sind.
SIE Warum? Ich weiß, dass Sie auf dem Land leben, am Ende
der Welt, aber es muss doch ... Sie haben gesagt, dass es in
der Nähe ein College gibt. Ich weiß, wie alt Sie sind, aber
dort muss es doch Studentinnen geben, die Ihre Bücher
gelesen haben und die sehr beeindruckt wären. Warum?
Warum haben Sie beschlossen, nicht nur das Stadtleben,
sondern auch das aufzugeben?
ER Es hat beschlossen, mich aufzugeben.
SIE Wie meinen Sie das?
ER So, wie ich es gesagt habe.
SIE Das verstehe ich nicht.
ER Das können Sie nicht verstehen.
SIE Nur, wenn Sie es mir nicht erklären. Würden Sie den
Entschluss, auch das aufzugeben, nicht rückgängig ma-
chen?
ER Ich mache ihn ja rückgängig. Deswegen bin ich immer
noch hier.
SIE Tja ... Ich bin geschmeichelt. Wenn es stimmt, dass es
Jahre her ist, bin ich überaus geschmeichelt.
ER Jamie. Jamie Logan. Jamie Hallie Logan. Sprechen Sie
irgendwelche Fremdsprachen, Jamie?
SIE Nicht gut.
ER Sie sprechen ein gutes Englisch. Ihr texanischer Akzent
gefällt mir.
SIE (lacht) Als ich aufs College gegangen bin, habe ich mir
große Mühe gegeben, ihn abzulegen.
ER Tatsächlich?
SIE Ja.
ER Ich habe gedacht, Sie hätten ihn betont.
SIE Es war dasselbe, wie niemandem zu verraten, dass ich
eine Debütantin gewesen war. Wie niemandem zu
verraten,dass ich in demselben Country Club war wie
George Bush senior und junior.
ER Aber Sie haben ihn noch.
SIE Aber ich bemühe mich, ihn zu unterdrücken. Ich spreche
ihn nur, wenn ich ironisch sein will. Als ich nach Harvard
ging, war er noch ganz intakt, aber ich habe ihn bald
abgelegt.
ER Schade.
SIE Ich kannte dort niemanden. Ich war achtzehn und zog
in das Studentinnenheim ein, und als ich das erstemal
den Mund aufmachte, dachten alle, ich sei die letzte Hin-
terwäldlerin. Von da an habe ich meinen texanischen Ak-
zent unterdrückt. Im Vergleich zu den meisten anderen
Studienanfängern dort war ich wirklich sehr naiv. Und im
Vergleich zu den Studenten, die aus Manhattan stamm-
ten, war ich tatsächlich die letzte Hinterwäldlerin. Sie
waren regelrecht beängstigend. Heute hört man meinen
Akzent, weil ich mit den Nerven fertig bin. Vielleicht ist
er ein bisschen ausgeprägter als sonst. Wenn ich mit den
Nerven fertig bin, kommt er deutlicher heraus.
ER Sie lassen keinen Trick aus. Sie finden immer eine Er-
klärung.
SIE Na ja, ich kenne mich eben. Ganz gut. Glaube ich.
ER Das waren drei Behauptungen: Ich kenne mich eben. Ganz
gut. Glaube ich.
SIE Wissen Sie, wer so schreibt? Conrad.
ER In Dreiergruppen.
SIE Ja. Conrads Dreiergruppen. Sind Ihnen die aufgefallen?
(Sie zeigt ihm ein Taschenbuch, das unter einer Zeitschrift
auf der Glasplatte des Couchtisches gelegen hat.) Ich habe
mir Die Schattenlinie gekauft. Sie haben das Buch er-
wähnt, und ich bin zu Barnes and Noble gegangen und
hab es mir gekauft. Sie haben die Passage neulich genau
richtig zitiert. Sie haben ein gutes Gedächtnis.
ER Für Bücher, nur für Bücher. Und Sie verlieren keine Zeit.
SIE Hören Sie sich das an. Die Triaden, das Drama der Tria-
den. Hier, auf Seite 35 – er hat gerade sein erstes Kom-
mando bekommen und ist überglücklich. »Ich schwebte
die Treppe hinunter. Ich schwebte durch das große, be-
eindruckende Portal. Ich schwebte davon.« Oder auf
Seite 47, noch immer in Ekstase: »Ich dachte an mein un-
bekanntes Schiff. Es war Vergnügen genug, Qual genug,
Beschäftigung genug.« Auf Seite 53 beschreibt er das
Meer: »Eine immense Weite, die keinen Eindruck trägt,
keine Erinnerungen bewahrt, kein Leben verzeichnet.«
Er macht das die ganze Zeit, verstärkt gegen Ende. Seite
131: »Aber ich werde Ihnen sagen, Captain Giles, wie
ich mich fühle. Ich fühle mich alt. Und ich muss alt
sein.« Seite 130: »Er sah aus wie eine verängstigte, heraus-
geputzte Vogelscheuche, auf das Heck eines vom Tod
gezeichneten Schiffs gesetzt, um die Seevögel von den
Leichen fernzuhalten.« Seite 129: »Das Leben war eine
Wohltat für ihn – dieses gefährliche, schwere Leben –,
und er war sehr beunruhigt über sich selbst.« Seite 125:
»Mr. Burns rang die Hände und stieß plötzlich einen
Schrei aus.« Und dann – eins: »Wie soll das Schiff ohne
Besatzung in den Hafen einlaufen?« Im nächsten Ab-
schnitt – zwei: »Und ich konnte es ihm nicht sagen.« Und
dann, im nächsten Abschnitt – drei: »Nun, es geschah
etwa vierzig Stunden später.« Und dann noch einmal von
vorn, noch immer auf Seite 125: »Die letzte Nacht werde
ich nie vergessen – dunkel, windig, sternklar. Ich steuer-
te.« Der Abschnitt geht weiter, und der nächste beginnt:
»Und ich steuerte ...«
ER (Alles dient dem Flirt, auch die Zitate von Conrad.) Lesen
Sie mir den ganzen Abschnitt vor.
SIE »Und ich steuerte, zu müde, um Angst zu empfinden, zu
müde, um zusammenhängende Gedanken zu denken. Ich
erlebte Augenblicke grimmigen Jubels, und dann sank
mein Herz bei dem Gedanken an die Back am anderen
Ende des dunklen Decks, die voller fiebernder Männer
war – von denen einige im Sterben lagen. Durch meine
Schuld. Doch ich schob das beiseite. Die Reue musste
warten. Ich musste steuern.« Ich könnte noch mehr vor-
lesen. (Sie legt das Buch beiseite.) Ich mag es, Ihnen vor-
zulesen. Billy lässt sich nicht gern vorlesen.
ER Steuern. Ich musste steuern. Haben Sie noch mehr von
Conrad gelesen?
SIE Früher. Eine ganze Menge.
ER Was hat Ihnen am besten gefallen?
SIE Haben Sie mal die Erzählung »Jugend« gelesen? Wun-
derbar.
ER »Taifun«?
SIE Großartig.
ER Als Sie noch dort unten in Texas waren und im Bikini
mit all den anderen Millionärstöchtern im Country Club
am Swimmingpool gelegen haben – haben Sie da gele-
sen?
SIE Seltsam, dass Sie mich das fragen.
ER Waren Sie die einzige, die gelesen hat?
SIE Ja. Ich war die einzige. Als ich noch jünger war, als ich
noch richtig jung war, gab es einen Punkt, wo es wirklich
lächerlich war. Eines Tages wurde ich beim Lesen ertappt,
und es war so peinlich, dass ich damit aufhörte. Ich ver-
steckte mein Buch in einem Teenager-Magazin, damit
niemand sehen konnte, was ich las. Aber das ließ ich dann
bleiben. Dabei ertappt zu werden war so viel peinlicher,
als einfach ein Buch zu lesen, dass ich schließlich damit
aufhörte.
ER Welche Bücher haben Sie denn in diesem Magazin ver-
steckt?
SIE Als ich ertappt wurde, war ich dreizehn, und das Buch
war Lady Chatterley. Die anderen machten sich darüber
lustig, aber wenn sie es mal gelesen hätten, wäre ihnen
aufgegangen, dass es viel pikanter war als diese Teenager-
Magazine.
ER Hat Lady Chatterley Ihnen gefallen?
SIE Lawrence gefiel mir sehr. Aber Lady Chatterley war nicht
mein Lieblingsbuch. Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht,
aber ich habe es damals nicht ganz verstanden. Anna
Karenina habe ich mit Fünfzehn gelesen. Zum Glück habe
ich es später noch einmal gelesen. Ich habe schon immer
Bücher gelesen, für die ich noch nicht bereit war. (Lacht.)
Aber das hat mir nicht geschadet. Ja, das ist eine gute
Frage: Was habe ich mit Vierzehn gelesen? Hardy. Ich
habe Hardy gelesen.
ER Welche Bücher?
SIE Ich erinnere mich an Urhervilles. Ich er-
innere mich an ... Wie heißt das andere? Es ist komisch.
Nicht Herzen im Aufruhr. Wie heißt das andere?
ER Sie meinen das, in dem der Rötelhändler vorkommt? Am
grünen Rand der Welt?
SIE Ja. Am grünen Rand der Welt.
ER E S gibt noch ein anderes, in dem ein Rötelhändler vor-
kommt. Wie heißt es noch? Mit einer Heldin, einer tragi-
schen Heldin. Ach, mein Gedächtnis. (Doch sie hört die
drei Worte seiner Klage nicht – sie ist zu sehr damit be-
schäftigt, sich an ihr vierzehntes Lebensjahr zu erinnern.
Und das tut sie mit solcher Leichtigkeit.)
SIE Sturmhöhe. Ach, Sturmhöhe habe ich geliebt. Da war ich
noch etwas jünger, vielleicht zwölf oder dreizehn. Ich bin
durch Jane Eyre darauf gekommen.
ER Und jetzt Männer.
SIE (mit einem kleinen, mittlerweile vertrauten Gähnen) Ist das
ein Einstellungsgespräch?
ER Ja. Das ist ein Einstellungsgespräch.
SIE Und welcher Job wartet auf mich?
ER Der Job, den Mann, der Sie anbetet, zu verlassen und mit
einem Mann zusammenzuleben, dem Sie vorlesen kön--
nen.
SIE Sie müssen verrückt sein.
ER Das stimmt, aber was macht das schon? Dass ich hier bin,
ist verrückt. Dass ich in New York bin, ist verrückt. Der
Grund, warum ich nach New York gekommen bin, war
verrückt. Hier zu sitzen und mit Ihnen zu reden ist ver-
rückt. Hier zu sitzen und nicht imstande zu sein, Sie zu
verlassen, ist verrückt. Ich kann Sie heute nicht verlassen,
und ich konnte Sie gestern nicht verlassen, und darum
führe ich ein Einstellungsgespräch mit Ihnen, um zu
klären, ob Sie geeignet sind, Ihren jungen Ehemann zu
verlassen und eine postume Existenz mit einem Einund-
siebzigjährigen zu fristen. Lassen Sie uns weitermachen.
Lassen Sie uns weitermachen mit dem Einstellungsge-
spräch. Erzählen Sie mir von Männern.
SIE (leise jetzt und beinahe wie in Trance) Was wollen Sie
wissen?
ER (ebenso leise) Ich will vor Eifersucht sterben. Erzählen Sie
mir von allen Männern, mit denen Sie zusammengewesen
sind. Sie haben mir von dem Jungen erzählt, der Kapitän
der Tennismannschaft von Tulane war und Ihnen, als Sie
vierzehn waren, seinen Schwanz so tief in die Kehle ge-
schoben hat, dass Sie ihn vollgekotzt haben. Und obwohl
es schon recht schwer war, mir das anzuhören, will ich an-
scheinend noch mehr hören. Ja, erzählen Sie mir mehr.
Erzählen Sie mir alles.
SIE Tja, mein erster Mann. Mein erster Liebhaber. Er war
mein Lehrer. Auf der Highschool. Im letzten Schuljahr.
Er war vierundzwanzig. Und er war ... Er hat mich ver-
führt.
E R Wie alt waren Sie da ?
SIE Das war drei Jahre später. Ich war siebzehn.
ER Und zwischen vierzehn und siebzehn ist nichts passiert?
SIE Doch, es gab ein paar jugendliche Ausrutscher.
ER Alles Ausrutscher? Nichts Aufregendes?
SIE Doch, manche waren aufregend. Es war aufregend, als ein
Erwachsener im altehrwürdigen Houston Country Club
mir das T-Shirt hochzog und an meinen Brustwarzen
saugte. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich hab es nie-
mandem erzählt. Ich habe darauf gewartet, dass er es noch
einmal tun würde. Aber er hatte wohl zuviel Angst, denn
als ich ihn das nächste Mal sah, tat er, als wäre nichts
geschehen. Er war ein Freund meiner älteren Schwester.
Anfang Dreißig. Er hatte sich gerade mit der schönsten
Freundin meiner Schwester verlobt. Ich hab so geweint.
Ich dachte, dass er mich links liegen ließ, weil irgend et-
was mit mir nicht stimmte.
ER Wie alt waren Sie da?
SIE Das war noch früher. Ich war dreizehn.
ER Erzählen Sie weiter. Ihr Lehrer.
SIE Er war ein ganz eigenständiger Mensch. Er hat nicht ver-
sucht, irgend jemanden zu beeindrucken. (Lacht.) Aber er
war eben auch kein Schüler. Er war älter. Das war be-
eindruckend genug.
ER Für Sie war er wahrscheinlich viel älter. Sagen Sie mir: Er-
scheint ein Vierundzwanzigjähriger einem siebzehnjäh-
rigen Mädchen älter, als ein Einundsiebzigjähriger einer
dreißigjährigen Frau erscheint? Findet ein dreizehnjähri-
ges Mädchen einen Dreißigjährigen älter als eine dreißig-
jährige Frau einen Einundsiebzigjährigen? Früher oder
später müssen wir über diese Frage sprechen.
SIE (nach einer langen Pause) Ja, dieser Lehrer erschien mir
viel, viel alter. Er stammte aus Maine. Das war für mich
so exotisch. Wunderbar exotisch. Er war nicht aus Texas,
und er hatte kein Geld. Darum arbeitete er ja auch als
Lehrer. Er war ein begeisterter Lehrer. Nach dem College
hatte er zwei Jahre lang an dem Programm »Unterricht
für Amerika« teilgenommen. Wofür man ja kein Geld be-
kommt.
ER Was ist »Unterricht für Amerika«?
SIE Oje, Sie sind wirklich nicht auf dem laufenden. Es ist ein
Programm, bei dem College-Absolventen zwei Jahre um-
sonst an den ärmsten Schulen unterrichten, Schüler aus
den »unterprivilegierten« Schichten.
ER Das Wort »unterprivilegiert« gefällt Ihnen nicht.
SIE (lacht laut) Nein, es gefällt mir nicht.
ER Warum?
SIE Was heißt das? Unterprivilegiert. Entweder man hat ein
Privileg oder man hat es nicht. Wenn man unterprivile-
giert ist, hat man ein Privileg eben nicht. Ein Privileg ist
an und für sich etwas, das einen über das Mittelmaß hin-
aushebt. Ich hasse dieses Wort.
ER Sie dagegen waren sehr privilegiert. Man könnte sagen:
überprivilegiert.
SIE Na gut. Ist das die Strafe dafür, dass ich nicht Louisa May
Alcott bin? Dass ich mit Vierzehn dem Kapitän der Ten-
nismannschaft einen geblasen habe ? Dass ich es mit Drei-
zehn erregend fand, als ein Mann an meinen Brustwarzen
gesaugt hat?
ER Ich habe nur gefragt, ob das vielleicht der Grund ist,
warum Ihnen dieses Wort so auf die Nerven geht.
SIE Ich finde, es ist einfach ein schlechtes Wort. Schlechtes
Englisch. Wie »wie zu hoffen ist«.
ER Sie bezaubern diesen Mann zu Tode. Sie foltern und be-
zaubern ihn.
SIE Indem ich ihm von meiner ersten Liebe erzähle? Wollen
Sie zu Tode bezaubert werden?
ER Ja.
SIE Ein schöner Tod. Jedenfalls – das ist also »Unterricht für
Amerika«: Entwicklungshilfe im eigenen Land. Das hatte
er gemacht, dieser junge Idealist, aber er hatte noch einige
Schulden aus seiner Studienzeit zu bezahlen und wollte
nicht aufhören zu unterrichten, um in irgendeiner Bank
zu arbeiten, und so ging er an eine reiche Schule in Hou-
ston, die ein ordentliches Gehalt zahlte. Das war alles,
was er da tat – es hatte nichts mit diesem gesellschaft-
lichen Engagement zu tun. Und er war von der Schule
vollkommen unbeeindruckt. Eigentlich war er sogar
regelrecht abgestoßen. Auf dem Parkplatz standen die
BMW der Schüler und die Wagen der Lehrer – das waren
Hondas und so –, und dann war da sein Wagen: eine
zwölf Jahre alte Rostlaube mit Nummernschildern aus
Maine. Eine der hinteren Türen war mit einem Seil zu-
gebunden, weil der Griff fehlte. Ein ganz und gar eigen-
ständiger Mensch – anders als alle, die ich bis dahin ken-
nengelernt hatte. Er kümmerte sich kein bisschen um das
Kastensystem an der Kinkaid. Er war mein Geschichts-
lehrer. Unsere Klasse war die einzige in der Schule, in der
es eine Arbeitsgruppe für aktuelle politische Ereignisse
gab.
ER Wie fing es an?
SIE Wie es anfing? Ich ging einmal die Woche in seine
Sprechstunde. Er eröffnete mir eine Gedankenwelt, von
der ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Ich ging also
zu ihm, und wir redeten und redeten und redeten, und ich
hatte ein so starkes Gefühl für ihn, und trotz dieser frü-
hen Erfahrungen, die Sie so erstaunlich finden – und die
heutzutage, ob Sie es wissen oder nicht, praktisch jede
macht –, war ich ja immer noch ein Mädchen, nur ein
Mädchen, und hatte keine Ahnung, dass es sexuelle Ge-
fühle waren. (Lächelt.) Aber er wusste es. Es war wun-
derbar. Das war also mein erster Mann.
ER Wie lange hat es gedauert?
SIE Das ganze Jahr. Als ich aufs College ging, wollten wir zu-
sammenbleiben. Und ich war am Boden zerstört, als es
nicht so kam. Das ganze erste Semester hab ich geweint
und geweint. Aber ich war ja keine dreizehn mehr. Dies-
mal hab ich mich am eigenen Schopf herausgezogen. Ich
habe Kommilitoninnen und ihre Freunde kennengelernt
und mich wieder auf die Beine gestellt. Ich hab Spaß ge -
habt. Ja, ich bin aufs College gegangen, und er hat mich
nicht mehr angerufen, und ich hatte trotzdem Spaß.
ER Der junge Idealist hatte wahrscheinlich eine andere Sieb-
zehnjährige.
SIE Sie mögen ihn genausowenig wie den Tennisspieler.
ER Für eine Frau, die vom Kindergarten bis zur zwölften
Klasse auf der Kinkaid School war, dürfte das nicht so
schwer zu begreifen sein.
SIE Ein Jahr später, als ich schließlich darüber hinweg war,
hat er mir einen Brief geschrieben. Er schrieb, er habe das
getan, weil er gedacht habe, es sei das Beste für mich, und
außerdem sei er so durcheinander gewesen ... Aber Sie
haben wahrscheinlich recht.
ER Ich glaube, mehr von diesen Geschichten halte ich nicht
aus.
SIE Warum nicht? (Ein leichtes Lachen.) Ich habe Ihnen doch
erst eine erzählt.
ER Sie haben mir drei erzählt. Aber ich verstehe, worauf es
hinausläuft. Sie waren schon sehr früh sehr attraktiv.
SIE Überrascht Sie das?
ER Nein, es bringt mich um.
SIE Warum?
ER Ach, Jamie.
SIE Wollen Sie es nicht sagen?
ER Was sagen?
SIE Warum es Sie umbringt.
ER Weil ich verrückt nach Ihnen bin.
SIE Das wollte ich nur mal hören.
ER (nach einer langen Pause, in der hauptsächlich er es ist, der
Schmerz empfindet – hei ihr überwiegt die Neugier) So.
Damit wäre das Einstellungsgespräch zur Klärung der
Frage, ob Sie für den Job der Frau-die-ihren-Mann-ver-
lässt-um-mit-einem-viel-älteren-Mann-zusammen-zu-sein
geeignet sind, beendet. Ich werde Sie anrufen.
SIE Sie rufen mich an?
ER Ich werde Sie anrufen und Ihnen sagen, wie Sie abge-
schnitten haben.
SIE Okay.
ER Sind Sie frei für den Job?
SIE Wenn er mir angeboten wird, muss ich mir überlegen, ob
sich mein Leben so gestalten lässt, dass ich ihn gut erledi -
gen kann. Und dann bin ich diejenige, die Sie anruft.
ER Das ist nicht fair. Ich habe meine Autorität verloren.
SIE Und wie fühlt sich das an?
ER Ich bin mit so viel Autorität hierhergekommen. Und ich
gehe ohne jede Autorität.
SIE Fühlt es sich gut an?
ER Ein Mann, den alles verwirrt, was er einst so gut kannte,
ist jetzt obendrein ein verlorener Mann. Ich gehe.
SIE Solange Sie mit mir allein sind, wird es nie besser werden.
ER Das kann es auch nicht.
SIE Je besser es wird, desto schlimmer wird es.
ER So sieht es aus. Ja.
(Er steht auf und geht. Als er draußen ist, auf der Eingangstreppe
des Hauses, und hinübersieht zu der Kirche, fällt ihm etwas ein:
Die Rückkehr – der Titel des Romans von Hardy, in dem der
Rötelhändler vorkommt. Er hat ein gutes Gedächtnis für Bücher?
Nein, nicht einmal für Bücher. Erst jetzt erinnert er sich an den
Namen der tragischen Heldin, den Namen, der ihn immer so
fasziniert hat: Eustacia Vye. Er tritt nicht auf die Straße und muss
sich beherrschen, nicht umzukehren, auf den Klingelknopf zu
drücken und ihr zu sagen: »Die Rückkehr, Eustacia Vye«, um so
Gelegenheit zu haben, wieder zu ihr hinaufzugehen und mit ihr
allein zu sein. Sie werden sich nie küssen, er wird sie nie berühren,
nichts: Dies ist seine letzte Liebesszene. Sein Gedächtnis hat ihn
nur einmal im Stich gelassen. Während des ganzen Gesprächs nur
einmal. Zweimal: als sie ihn gefragt hat, wie lange er schon allein
sei. Oder hat sie diese Frage am Tag zuvor gestellt? Oder etwa gar
nicht? Nun, sie braucht von seiner Vergesslichkeit nicht mehr zu
wissen als das, was sie bis jetzt erlebt hat. Sie werden sich also nie
küssen, und er wird sie nie berühren –na und? Er nimmt das
schwer? Na und? Seine letzte Liebesszene? Wenn es so sein soll. Er
schiebt es beiseite. Die Reue muss warten.)
5 Unbesonnene Augenblicke

DAS LÄUTEN DES TELEFONS weckte mich. Ich lag vollständig


angekleidet auf dem Bett, die Ausgabe von Die Schattenlinie
mit den Unterstreichungen neben mir. Ich dachte: »Amy, Ja-
mie, Billy, Rob«, doch Kliman stand nicht auf der Liste derer,
die möglicherweise einen Grund gefunden hatten, mich im
Hotel anzurufen. Ich hatte bis beinahe fünf Uhr morgens am
Schreibtisch gesessen und geschrieben und fühlte mich wie
ein Mann nach einer durchzechten Nacht. Ich hatte geträumt,
fiel mir jetzt ein, einen ganz kleinen Traum, erfüllt von kind-
licher Hoffnung. Ich telefoniere mit meiner Mutter. »Ma,
kannst du mir einen Gefallen tun?« Sie lacht über meine Nai-
vität. »Schätzchen, es gibt nichts, was ich nicht für dich tun
würde. Was möchtest du denn?« fragt sie. »Könnten wir nicht
Inzest haben?« »Ach, Nathan«, sagt sie und lacht wieder, »ich
bin ein verfaulender Leichnam. Ich liege im Grab.« »Trotz-
dem möchte ich Inzest mit dir haben. Du bist doch meine
Mutter. Meine einzige Mutter.« »Alles, was du möchtest,
Schätzchen.« Dann steht sie vor mir und ist kein Leichnam
in einem Grab. Ihre Anwesenheit ist aufregend. Sie ist die
ährige Brünette,
die mein Vater geheiratet hat, sie hat die Leichtigkeit eines
jungen Mädchens und die sanfte Stimme, die nie streng ist,
während ich so alt bin wie jetzt – und ich bin derjenige, der
auf ewig in der Erde liegt. Sie nimmt mich an der Hand, als
wäre ich noch immer ein kleiner Junge mit ganz und gar
unschuldigen Zielen und Absichten, und wir verlassen den
Friedhof, um in mein Schlafzimmer zu gehen, und mein
Traum endet damit, dass mein Verlangen zunimmt und der
Raum mit den großen, vorhanglosen Fenstern von Licht
durchflutet wird. Die letzten triumphierenden Worte, die sie
sagt, sind: »Mein Lieber, mein Lieber – Geburt! Geburt!
Geburt!« Gab es je eine zärtlichere, gütigere Mutter?
»Hallo«, sagte Kliman. »Soll ich hier unten warten?«
»Worauf?« »Auf unser gemeinsames Mittagessen.« »Wovon
reden Sie?« »Heute. Um zwölf. Sie haben gesagt, ich könnte
Sie heute um zwölf zum Mittagessen einladen.« »Ich habe
nichts dergleichen gesagt.« »Doch, genau das haben Sie gesagt,
Mr. Zuckerman. Sie wollten, dass ich Ihnen von George
Plimptons Beerdigung erzähle.« »George Plimpton ist tot?«
»Ja. Wir haben darüber gesprochen.« »George ist gestorben?
Wann ist er gestorben?« »Vor etwas über einem Jahr.« »Und
wie alt war er?« »Er war sechsundsiebzig. Er hatte im Schlaf
einen tödlichen Herzanfall.« »Und wann haben Sie mir das
erzählt?« »Am Telefon«, sagte Kliman.
Unnötig zu erwähnen, dass ich mich an dieses Telefonge-
spräch nicht erinnern konnte. Doch dass ich es vergessen hat-
te, erschien mir unmöglich – ebenso unmöglich wie Georges
Tod. Ich hatte George Plimpton in den späten fünfziger Jah-
ren kennengelernt, als ich, nach meiner Entlassung aus der
Armee, nach New York gezogen war und für siebzig Dollar
im Monat in einer Zwei-Zimmer-Souterrainwohnung lebte
und in seiner neuen literarischen Vierteljahresschrift die Er-
zählungen veröffentlichte, die ich in meinen Nächten als Sol-
dat geschrieben hatte; bis dahin waren sie überall, wo ich sie
vorgelegt hatte, abgelehnt worden. Ich war vierundzwanzig,
als George mich zum Mittagessen einlud, damit ich die ande-
ren Redakteure der Paris Review kennenlernte, junge Män-
ner, die meisten Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig, wie er
hauptsächlich aus alten, reichen Familien, die ihre Söhne auf
exklusive Privatschulen und dann nach Harvard geschickt
hatten, das in jenen frühen Nachkriegs jähren nicht anders als
in den vorangegangenen Jahrzehnten im Grunde eine Bastion
der Ausbildung von Nachkommen der gesellschaftlichen
Elite war. Dort hatten sie alle einander kennengelernt, wenn
nicht schon früher, in den Sommerferien, auf Tennisplätzen
oder in den Yachtclubs von Newport oder Southampton oder
Edgartown. Meine Kenntnis ihrer Welt oder der ihrer Eltern
begrenzte sich auf die Romane von Henry James oder Edith
Wharton, die ich als Student an der University of Chicago ge-
lesen hatte, Bücher, die zu bewundern man mich angehalten
hatte, die für mich jedoch ebensowenig mit dem amerika-
nischen Leben zu tun hatten wie Des Pilgers Reise oder Das
verlorene Paradies. Vor einer ersten Begegnung mit George
und seinen Kollegen hatte ich keine Ahnung gehabt, wie sol-
che Leute aussahen oder sprachen; ich hatte lediglich als Kind
Roosevelt im Radio gehört und in der Wochenschau gesehen,
und für ein Kind wie mich, das Kind eines jüdischen Fuß-
pflegers, das sein Diplom auf der Abendschule erworben
hatte, war Roosevelt kein Repräsentant einer bestimmten
Klasse oder Kaste, sondern vielmehr ein einzigartiger Politi-
ker und Staatsmann, ein demokratischer Held, der von der
überwältigenden Mehrheit der amerikanischen Juden und
auch von meiner großen Familie als Segen und Geschenk be-
trachtet wurde. Wäre George ein weniger freimütiger, begab-
ter, intelligenter und eleganter junger Mann gewesen, dann
hätte ich seine außergewöhnliche Sprechweise womöglich als
Zeichen der komischen Aufgeblasenheit eines Snobs gedeutet,
ja, ich hätte sie vielleicht regelrecht grotesk gefunden, denn
seine Aussprache war eindeutig mittelatlantisch, und die
Satzmelodie war die der reichen protestantischen Oberschicht,
die in Boston und New York den Ton angegeben hatte,
während meine Vorfahren sich in den Ghettos Osteuropas
nach dem gerichtet hatten, was die Rabbis sagten. Durch
George bekam ich einen ersten Begriff von Privilegien und den
mit ihnen verbundenen gewaltigen Vorteilen; Anscheinend
musste er nichts und niemandem entfliehen, keinen Makel
verbergen, gegen kein Unrecht ankämpfen, keinen Fehler
kompensieren, keine Schwäche überwinden, kein Hindernis
umgehen – statt dessen machte er den Eindruck, als hätte er
alles mühelos gelernt und stünde allem ohne jede Anstrengung
offen gegenüber. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass ich irgend
etwas ohne die unermüdliche Beharrlichkeit erreichen würde,
die meine Familie mich gelehrt hatte, während George von
Anfang an all das besaß, wofür er automatisch bestimmt war.
Auf den Festen in seiner komfortablen Wohnung in der
East 72nd Street lernte ich praktisch alle anderen jungen
Schriftsteller in New York und einige der berühmten älteren
kennen und betrachtete sehnsüchtig die schlanken, glamou-
rosen jungen Frauen, die sich dort einfanden: amerikanische
Debütantinnen, europäische Fotomodelle und Prinzessin-
nen, deren Familien seit den Versailler Verträgen im Pariser
Exil lebten. Anfangs hatte ich mehr mit den wenigen unbe-
deutenderen Mitarbeitern der Zeitschrift zu tun, deren Pro-
bleme beim Schreiben und in der Liebe eine Unterströmung
von Not verrieten, die ich besser verstehen konnte: Es waren
Menschen wie ich, für die Schwierigkeit den Status eines Got-
tes hatte. Doch ich war dabei, um Georges Mut zu bewundern,
als er in Stülmans schmuddeliger Trainingshalle in der
Eighth Avenue drei kurze, lebhafte Runden gegen Archie
Moore, den damaligen Weltmeister im Halbschwergewicht,
boxte, ein Abenteuer, das ihm eine blutige gebrochene Nase
und genug Material für einen Artikel in Sports Illustrated ein-
trug. Ich war eingeladen, als George in den sechziger Jahren
in der am Südende des Central Park gelegenen Wohnung
eines Freundes zum erstenmal heiratete, und saß mehrere
Sommer hintereinander am Unabhängigkeitstag mit etwa
hundert anderen Gästen am dunklen breiten Strand von Water
Mill, Long Island, wo George ein prächtiges Feuerwerk
entzündete und sich so als junger Draufgänger präsentierte,
obwohl er im übrigen der spielerische, lässige, überaus neu-
gierige Mann von Welt war, Journalist, Herausgeber und gele-
gentlicher Film- oder Fernsehdarsteller. Vor etwas über einem
Jahr (und, wie mir jetzt bewusst wurde, nur wenige Wochen
vor seinem Tod) hatte George mich angerufen und, beinah
e so formell, als würden wir einander gar nicht persönlich ken-
nen, und doch so herzlich, als hätten wir am Tag zuvor mit-
einander zu Abend gegessen – und dies zu einem Zeitpunkt,
als wir uns mindestens zehn Jahre nicht gesehen hatten –,
gefragt, ob ich nicht Lust hätte, nach New York zu kommen
und bei einer Wohltätigkeitsgala zugunsten der Paris Review
eine kleine Eröffnungsrede zu halten. Ich konnte mich sehr
gut an dieses Telefongespräch erinnern, nicht nur wegen der
freundschaftlichen Gefühle, die darin zum Ausdruck gekom-
men waren, sondern auch, weil es mich veranlasst hatte, in
den folgenden Wochen meine Abende damit zu verbringen,
noch einmal seine berühmten Werke des »teilnehmenden
Journalismus« – jene Bücher, in denen er sich dem Geheimnis
seines wie unter einem Zauber stehenden Lebens näherte,
indem er die Malheurs und Misserfolge eines Amateursport-
lers schilderte, der gegen die mächtigen Profis antrat – sowie
die Sammlungen kürzerer Reportagen zu lesen, die er als er
selbst geschrieben hatte, als der weltgewandte, geistreiche,
unangestrengt intelligente Gentleman von aristokratischer
Haltung, der für jeden, der ihn kannte, alles andere als ein
Dilettant war.
Darin zeugten sein Charme (beispielsweise in den Schil-
derungen, wie er mit seiner neunjährigen Tochter zu einem
Footballspiel Harvard gegen Yale oder mit der Dichterin Ma-
rianne Moore ins Yankee Stadium gegangen war), seine lyri-
sche Wortgewalt (beispielsweise in der begeisterten Hymne
an das Feuerwerk) und sein Ernst (beispielsweise in der Grab-
rede auf seinen Vater) von den Qualitäten des eleganten Es-
sayisten, der so gar keine Ähnlichkeit mit dem dilettierenden
George Plimpton aufwies, den er sich für seine Bücher über die
Welt des Sports ausgedacht hatte, wo er, durch seine Un-
fähigkeit wiederholt in die Rolle des unschuldigen Opfers ge-
drängt, ungeheure Anstrengungen unternahm, den Eindruck
eines erniedrigten Menschen zu erwecken, und sich hin und
wieder flüchtig der masochistischen Schmach hinzugeben
vermochte, gründlich den Boden unter den Füßen verloren zu
haben. In seiner Parodie auf Truman Capote, in der dieser im
Stil Hemingways über sein Facelifting schrieb, war er Mark
Twain und seiner vernichtenden Satire auf James Fenimore
Cooper ebenbürtig, wie er überhaupt am subtilsten und be-
sten war, wenn er anderen dabei zusah, wie sie sich töricht be-
nahmen, anstatt so zu tun, als würde er sich selbst bei etwas
Törichtem beobachten. Ja, ich erinnerte mich sehr gut an die
Herzlichkeit unseres Telefongesprächs an jenem Abend und
an die Freude, die ich danach beim erneuten Lesen seiner
Bücher empfunden hatte. Dagegen erinnerte ich mich über-
haupt nicht an ein Gespräch mit Kliman, bei dem wir uns
zum Mittagessen verabredet hatten, um über Georges Tod zu
sprechen.
Und ebensowenig konnte ich glauben, dass George ge-
storben war. Diese Vorstellung erschien mir in jeder Hinsicht
so grotesk, wie George es nicht gewesen war, und passte ganz
und gar nicht zu seinem von Neugier getragenen robusten In-
teresse für »die große Vielfalt des Lebens« – eine Phrase aus
einem Text, in dem er sich frohgemut vorgestellt hatte, er sei
ein afrikanischer Wasservogel, der alles betrachtete, was auf
Flügeln, Tatzen und Hufen, in Federn, Haut und Schuppen an
den rauschenden Fluten erschien. Kliman musste etwas
anderes über George Plimpton gesagt haben, denn hätte mich
jemand gefragt: »Wer von Ihren Zeitgenossen wird als letzter
sterben? Bei welchem von Ihren Zeitgenossen ist es am un-
wahrscheinlichsten, dass er stirbt? Wer von Ihren Zeitge-
nossen wird nicht nur dem Tod entgehen, sondern auch mit
Witz, Genauigkeit und Bescheidenheit über seine amüsierte
Verblüffung angesichts der erreichten Unsterblichkeit schrei-
ben?«, so hätte die einzige mögliche Antwort gelautet:
»George Plimpton.« Wie der vierundneunzigjährige Graf in
In einem anderen Land, mit dem Frederic Henry eine Partie
Billard spielt und zu dem er beim Abschied sagt: »Ich hoffe,
Sie leben ewig«, worauf dieser antwortet: »Das habe ich
schon«, steuerte George Plimpton seit seiner Geburt auf das
ewige Leben zu. George hatte ebensowenig die Absicht zu
sterben wie beispielsweise Tom Sawyer; die Annahme, er sei
unsterblich, ergab sich zwingend daraus, dass er gegen die
größten Sportler angetreten war. Gegen die New York Yankees,
gegen die Detroit Lions, gegen Archie Moore – nur um aus
erster Hand schildern zu können, wie es ist, etwas zu
überleben, das einem weit überlegen ist und vorhat, einen zu
vernichten.
In diesen Büchern steckte natürlich noch mehr, und
George war nie höflicher und aufmerksamer als an jenem
Abend vor vielen Jahren, als ich bei einem Abendessen mit
ihm über seine verborgenen Motive spekulierte. Das Thema
der Klassenzugehörigkeit war in meinen Augen die stärkste
Inspiration für seine außergewöhnlichen Arbeiten über den
Sport, und dafür begab er sich mit großer Zurückhaltung in
Situationen, in denen er so tat, als wäre er aller Vorzüge seiner
Klasse beraubt (mit Ausnahme seiner erstklassigen Manieren,
die er – in einer Welt, die einer guten Herkunft gänzlich ver-
ständnislos, wenn nicht gar feindlich gegenüberstand – ganz
bewusst einsetzte, um ihre Unangebrachtheit herauszustrei-
chen und so eine komische Wirkung zu erzeugen). »Ich« war
sein selbstironisches Double – der Journalist bei der Arbeit –,
befreit von dem privilegierten George, der er so unausweich-
lich, so meisterhaft und so gern war. Ja, seine Vorzüge – ver-
körpert in dem, was er bescheiden als seinen »kosmopoliti-
schen Ostküstenakzent« bezeichnete, obgleich es eher der
Akzent der sich auflösenden herrschenden Klasse der Ost-
küste war – machten ihn zur Zielscheibe der Witze jener
Profisportler, gegen die er als Amateur antrat. Dennoch ver-
suchte er in Paper Lion oder in Out of My League nichts von
dem, was der erste, erstaunlich scharfsichtige »teilnehmende
Journalist« der Moderne – der andere George mit dem Ober-
klassenakzent, dem keiner der überall vorhandenen Klassen-
unterschiede entging, ganz gleich, wie groß oder gering sie
sein mochten – in Down and Out in Paris and London so ge-
wissenhaft beschrieben hatte. Wie Orwell versuchte Plimp-
ton, den Blick auf etwas zu richten, klar und deutlich zu be-
schreiben, was er sah, und darauf, wie es funktionierte, und es
dem Leser verständlich zu machen. Er verrichtete jedoch nicht
die niedrigsten Arbeiten in schmutzigen, heißen Re-
staurantküchen in Paris, er ließ sich nicht in diesen hektischen
Schweineställen zu einem verrohten Sklaven erniedrigen, um
Armut am eigenen Leib zu erfahren, und im Gegensatz zu
Orwell, der anschließend als Landstreicher durch England
gezogen war, wollte er auch nicht sehen, wie es ist, ganz unten
angekommen zu sein. Statt dessen trat er in eine Welt ein, die
nicht weniger glamourös war als seine eigene: die Welt der
herrschenden Klasse der alles überragenden populären Kul-
tur Amerikas, die Welt des Profisports. Down and Out in the
Major Leagues. Down and Out in the NFL. Down and Out in
the NBA. Trotz aller Peinlichkeiten, trotz des Verlusts an
Würde, trotz der Zurschaustellung seiner Unterlegenheit ge-
genüber den Profis gelang es George, seine Wirkung zu stei-
gern, anstatt sie zu beschädigen – ein Kunststück, für das ich
ihn bewunderte und das der eigentliche Grund für meine
Freude an seinen Büchern war. Diese Bücher, in denen laut
Klappentext ein unbeholfener Amateur gegen unüberwind-
liche Profis antrat, beschrieben in Wahrheit, wie ein wohlaus-
gestatteter, ausgezeichnet durchtrainierter Athlet, ein Spröss-
img von Amerikas ältester Elite, so tat, als wäre er ein sport-
licher Dilettant, der sich mit den geradezu übermenschlichen
Angehörigen von Amerikas jüngster Elite maß – den Super-
stars des Sports. In Out of My League geht der lässige Meister
der Selbstbeherrschung sogar so weit, die Lässigkeit des Ball-
jungen der New York Yankees zu bewundern; in Paper Lion
heißt es, er habe als Quarterback der Detroit Lions kaum ge-
wusst, wie man einen Football hält – dabei erinnere ich mich
deutlich an Footballspiele im Garten eines seiner engsten
Freunde in Westchester, bei denen George Pässe mit einer
Präzision warf, wie man sie in jeder Liga nur zu gern gesehen
hätte. Hemingway lag vollkommen falsch, als er Georges
Abenteuer mit Profisportlern als »die dunkle Seite von Walter
Mittys Mond« bezeichnete. Es war vielmehr die leuchtende
Seite eines Lebens als George Plimpton. Er war ein Mann, der
auf einzigartige Weise einer zutiefst befriedigenden Berufung
folgte, indem er seine gewohnte Welt voller glamouröser
Privilegien hinter sich ließ, um an einer neuen Welt voller gla-
mouröser Privilegien teilzuhaben, der einzigen amerikani-
schen Welt, deren Prestige es möglicherweise mit dem auf-
nehmen konnte, was die seine einst besessen hatte. Das war
Georges wahres Genie: seine Fähigkeit, die Klassengrenze
nach unten zu überschreiten und sich, wie er es ausdrückte,
»zum Gespött« zu machen, ohne ein Deklassierter zu sein
wie George Orwell, der als elender Tellerwäscher in Paris und
als hungriger, bettelarmer Penner in London nur mit knapper
Not »in der Gosse« überlebt hatte und für den dieses Leben
eine schreckliche, züchtigende und todernste Deklassierung
gewesen war. George ließ den Glamour hinter sich, ohne sei-
nen Glamour zu verlieren – ja, er vergrößerte ihn, indem er,
scheinbar in der Absicht, sich selbst herabzusetzen, autobio-
graphische Bücher schrieb. Als er zu Archie Moore in den Ring
stieg, verkörperte er den Grundsatz »Noblesse oblige« in
seiner reinsten Form – und überdies in einer Form, die er
selbst erfunden hatte. Wenn jemand zu sich selbst sagt: »Ich
möchte glücklich sein«, könnte er ebensogut sagen: »Ich
möchte George Plimpton sein«: Man erreicht etwas, man ist
produktiv, und das alles ist durchdrungen von Freude und
Leichtigkeit.
Niemand stand mit solcher Lässigkeit auf gutem Fuß mit den
Mächtigen, den Vollkommenen, den Berühmten, niemand
liebte die Erregung, die aus Worten und Taten erwächst, so
sehr wie er, für niemanden war das Leiden, dem wir Sterb-
lichen unterworfen sind, so weit entrückt, niemand hatte so
viele Bewunderer wie George, niemand hatte so viele gute
Eigenschaften wie George, niemand konnte mit jedermann so
leicht und mühelos sprechen wie George ... So ging es immer
weiter, und ich dachte, dass George die Erfahrung des Todes
allenfalls machen würde, wenn er sie für einen Artikel in
Sports Illustrated simulierte.

Ich erhob mich vom Bett, trat an den Schreibtisch, an dem ich
den größten Teil der Nacht gesessen und geschrieben hatte,
blätterte in meiner Kladde zurück, um einen Eintrag zu fin-
den, der sich auf eine Verabredung mit Kliman bezog, und
sagte dabei: »Ich kann nicht mit Ihnen zu Mittag essen.«
»Aber ich habe sie dabei. Ich habe sie mitgebracht. Sie
können darin lesen.«
»Worin lesen?«
»In der ersten Hälfte des Romans. Der ersten Hälfte von
Lonoffs Manuskript.«
»Kein Interesse.«
»Aber Sie haben mir doch gesagt, ich solle es mitbringen.«
»Ich habe nichts dergleichen gesagt. Auf Wiedersehen.«
Das beidseitig mit meinen Notizen über mein Gespräch
mit Amy und dem Dialog aus Er und Sie beschriebene Hotel-
briefpapier – alles, was ich zwischen meiner Rückkehr von
Amys Wohnung und dem Zeitpunkt geschrieben hatte, als ich,
ohne mich auszukleiden, eingeschlafen war, um von meiner
Mutter zu träumen – lag noch auf dem Tisch. In den fünf
Minuten, bevor Kliman abermals anrief, überflog ich die No-
tizen, um zu sehen, was ich zu Amy über Kliman und die
Biographie gesagt hatte. Ich hatte ihr versprochen, ihn davon
abzubringen. Ich hatte ihr eingeredet, Lonoff sei nicht durch
sein eigenes Leben zu diesem Roman inspiriert worden, son-
dern durch höchst zweifelhafte, von Literaturwissenschaft-
lern geäußerte Spekulationen über Nathaniel Hawthornes
Leben. Ich hatte ihr Geld gegeben ... Ich las, was ich gesagt
und getan hatte, doch über meine weiterreichenden Absich-
ten, sofern ich überhaupt welche gehabt hatte, war ich mir
nicht gleich im klaren.
Als Kliman ein zweites Mal aus der Hotelhalle anrief,
fragte ich mich, ob er es gewesen sein könnte, der vor elf
Jahren diese Morddrohungen an mich und den Rezensenten
geschickt hatte. Es war zwar höchst unwahrscheinlich – aber
was, wenn es dennoch so gewesen war? Was, wenn es der bös-
artige Streich eines Erstsemesters mit einem Hang zum Un-
ruhestiften gewesen war, der mich vor zehn Jahren veranlasst
hatte, meinen Wohnort zu wechseln und meine Lebensum-
stände drastisch zu verändern? Wenn das stimmte, war es
lächerlich, und doch war ich, gerade weil es so absurd war,
unwillkürlich überzeugt, dass es stimmte. Dieser Entschluss,
aufs Land zu ziehen und nie mehr in die Stadt zurückzu-
kehren, war absurd – ebenso absurd wie der Gedanke, dass
Richard Kliman mich dazu getrieben hatte.
»Ich bin in ein paar Minuten unten«, sagte ich zu ihm,
»und dann werden wir zu Mittag essen.« Und ich werde all
deine Bemühungen vereiteln. Ich werde dich vernichten.
Das dachte ich, weil ich es tun musste. Ich konnte nicht
bloß darüber reden, ich konnte nicht bloß darüber schreiben –
bevor ich Manhattan verließ und nach Hause zurückkehrte,
musste ich Kliman matt setzen, das war das mindeste. Es war
meine letzte Verpflichtung gegenüber der Literatur.
Wie konnte George tot sein? Immer wieder kehrte ich zu
diesem Gedanken zurück. Dass George vor einem Jahr ge-
storben war, machte alles absurd. Wie hatte das ausgerechnet
ihm passieren können? Und wie hatte mir das, was passiert
war, in diesen vergangenen elf Jahren passieren können?
George nie wiederzusehen – sie alle nie wiederzusehen! Ich
hatte dies wegen dem getan? Ich hatte das wegen jenem getan?
Ich hatte mein Leben durch jenen Zufall, durch jene Person,
durch jenes lachhaft nebensächliche Ereignis definieren las-
sen? Wie absonderlich mir das erschien, und alles nur, weil
George Plimpton ohne mein Wissen gestorben war. Mit ei-
nemmal gab es keine Rechtfertigung mehr für meine Art zu
leben, und George war mein ... Wie heißt das Wort, das ich
suche? Das Gegenteil von »Doppelgänger«. Plötzlich stand
George Plimpton für alles, was ich vergeudet hatte, indem ich
mich so überstürzt aus der Stadt entfernt und auf Lonoffs
Berg zurückgezogen hatte, um dort Asyl vor der großen Viel-
falt des Lebens zu suchen. »Wir leben in unserer Zeit«, sagte
George zu mir, und in seiner unverwechselbaren Stimme
schwang beschwingte Zuversicht mit. »Es ist unsere Mensch-
heit. Wir müssen dazugehören.«

Kliman ging mit mir in einen Coffeeshop an der Sixth Ave-


nue, ein Stück die Straße hinunter, und kaum hatten wir be-
stellt, da begann er, mir vom Trauergottesdienst zu Georges
Ehren zu erzählen. Ich war es gewohnt, meinen Tagesablauf
selbst zu bestimmen und meine Stunden so einzuteilen, wie
ich es für richtig hielt, doch nun saß ich – in Kleidern, die ich
seit beinahe dreißig Stunden trug und, wie mir jetzt bewusst
wurde, mit einer Einlage in meiner Plastikunterhose, die ich
seit dem Vorabend nicht gewechselt hatte – beim Mittagessen
einer unberechenbaren Kraft gegenüber, die es darauf abge-
sehen hatte, mich zu beherrschen. War das vielleicht der
Grund, warum ich mich diesem Sturmangriff ausgesetzt sah,
noch bevor mein Orangensaft serviert war – damit mir vor
Augen geführt wurde, dass ich ihm, im Gegensatz zu meinen
Warnungen und Drohungen, nicht gewachsen und schon gar
nicht überlegen war, dass er unkontrollierbar war und keiner-
lei Hemmungen hatte? Ich dachte: Die Juden können einfach
nicht aufhören, solche Menschen hervorzubringen. Eddie
Cantor. Jerry Lewis. Abbie Hoffman. Lenny Bruce. Der vor
Elan schier platzende Jude, außerstande, zu irgendwem oder
irgendwas eine von Gelassenheit geprägte Beziehung einzu-
gehen. Ich hatte angenommen, dieser Typus sei in Klimans
Generation praktisch nicht mehr vertreten, und der sanfte,
vernünftige Billy Davidoff entspreche eher der gegenwärtigen
Norm – doch es mochte sein, dass Kliman tatsächlich der
letzte Agitator und Affronteur war. Ich hatte mit jemandem
wie ihm schon lange nicht mehr zu tun gehabt. Ich hatte mit
vielem schon lange nicht mehr zu tun gehabt, nicht nur mit
dem Widerstand, den mir lebende Wesen entgegensetzten,
sondern auch mit der Notwendigkeit, immer wieder eine Rolle
verkörpern oder Phantasien von äußerst naiven Lesern
abwehren zu müssen, die diese nach der Lektüre eines Buches
über den Autor haben – eine Mühe, der ich mich ebenfalls
nicht mehr unterzogen hatte. Denn auch ich war früher eine
Art Affronteur gewesen. Ich war der Affronteur gewesen,
dessen Erzählungen George Plimpton publiziert hatte, als alle
anderen sie abgelehnt hatten. Doch jetzt ist alles ganz anders,
dachte ich. Es ist nicht 1959, und George steigt nicht in
Stillmans Trainingshalle in den Ring zu Archie Moore – es ist
2004, und ich steige in einem unbekannten Manhattan in den
Ring zu einem jungen Mann mit Riesenfäusten.
»Es war vor knapp einem Jahr, im November«, sagte
Kliman. »In der Kathedrale St. John the Divine. Eine riesige
Kirche, und bis auf den letzten Platz besetzt. Zweitausend
Leute. Vielleicht auch mehr. Es fängt an mit einer Gospel-
gruppe. George hatte sie irgendwo gesehen und war begei-
stert, und darum waren sie da. Der Vorsänger ein riesengro-
ßer, gutaussehender Schwarzer, der voll auf die Pracht und
den Pomp abfährt, und sobald sie anfangen zu singen, fängt er
an zu rufen: ›Wir haben was zu feiern! Wir haben was zu
feiern!‹ s los – jemand ist
gestorben, und wir haben was zu feiern. ›Wir haben was zu
feiern! Alle sollen es sagen. Los, sagt euren Nachbarn, dass
wir was zu feiern haben!‹ Und all die Weißen fangen an, un-
rhythmisch mit den Köpfen zu nicken, und ich kann Ihnen
sagen: Es sah nicht gut aus für George. Dann hält der Pfarrer
seine Rede, und danach kommen die anderen Redner dran.
Zuerst Georges Schwester, die von dem Museum erzählt, das
er in dem Haus auf Long Island aus seinem Zimmer gemacht
hat, wo er all die Tierfelle und ausgestopften Vögel aufbe-
wahrt hat, und sie erzählt, dass er sich schon als Junge
für solche Dinge begeistert hat, und wie sie das macht, ist
wirklich bemerkenswert. Vollkommen ohne Affekt, mit diesem
seltsamen absoluten Fehlen von Seltsamkeit, das nur die
reinblütigsten altmodischen weißen Ostküstenprotestanten
draufhaben. Dann ein Typ aus Texas namens Victor Emanuel,
ungefähr Mitte Fünfzig, vielleicht ein bisschen älter, eine Ko-
ryphäe für Vogelkunde, er und George dick befreundet, weil
sie sich beide so sehr für Vögel interessieren. Kannte sämtliche
Vögel. Dieser Typ redet sehr schlicht und erzählt, wie er mit
George Vögel beobachtet hat und wie sie gemeinsam Reisen
gemacht haben, um Vögel zu beobachten, und das alles im
Haus des Herrn – obwohl die einzigen, die den Namen des
Herrn in den Mund nehmen, der Pfarrer und die Gospelsän-
ger sind. Alle anderen sagen kein Wort zu diesem Thema,
Mann, als hätte das mit ihnen überhaupt nichts zu tun. Sie
sind bloß zufällig da. Dann Norman Mailer. Überwältigend.
Ich hatte ihn bis dahin nur im Fernsehen gesehen. Der Typ ist
inzwischen achtzig, beide Knie kaputt, geht an zwei Krücken
ohne die er keinen Schritt machen kann, der länger ist als
fünfzehn Zentimeter, aber er weist alle zurück, die ihm auf die
Kanzel helfen wollen, und will nicht mal die Krücken mit-
nehmen. Steigt ganz allein auf diese hohe Kanzel. Alle drük-
ken ihm bei jeder Stufe die Daumen. Der Konquistador ist
da, und das große Drama beginnt. Er mustert die Trauerge-
meinde. Sieht den Mittelgang entlang hinaus auf die Amster-
dam Avenue und quer über die Vereinigten Staaten bis zum
Pazifik. Erinnert mich an Vater Mapple in Moby-Dick. Ich er-
warte eigentlich, dass er ruft: »Schiffskameraden!« und über
die Lehre predigt, die man aus der Geschichte von Jona zu
ziehen hat. Aber nein, auch er spricht sehr schlicht über
George. Das ist nicht mehr der streitsüchtige Mailer von frü-
her, auch wenn jedes Wort von ihm ein echter Mailer ist. Er
spricht über seine Freundschaft mit George, die erst in den
letzten Jahren so richtig aufgeblüht ist, und erzählt uns, wie
die beiden mit ihren Frauen herumgereist sind zu Orten, wo
sie in dem Stück, das sie zusammen geschrieben haben, auf-
getreten sind, und wie eng die Beziehung zwischen den beiden
Paaren dabei geworden ist, und ich denke: Tja, Amerika, es hat
lange gedauert, aber da auf der Kanzel steht Norman Mailer
und singt als Ehemann das Loblied auf die Paarbeziehung.
Fundamentalistische Mistkerle, ihr habt euren Meister
gefunden.«
Er war nicht aufzuhalten. Er hatte sich vorgenommen,
das, was bisher zwischen uns geschehen war, mit einer großen
Darbietung auszulöschen, die einzig und allein dazu diente,
mich zu bezwingen, und sie erfüllte tatsächlich ihren Zweck:
Je bunter diese Zurschaustellung von Klimans Entzücken ge-
riet, desto kleiner fühlte ich mich unwillkürlich. Mailer sucht
nicht mehr Streit und kann kaum noch laufen. Amy ist nicht
mehr schon und hat einen Teil ihres Gehirns eingebüßt. Ich
bin nicht mehr im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, meiner
Männlichkeit und meiner Kontinenz. George Plimpton ist
nicht mehr am Leben. E. I. Lonoff hat nicht mehr sein großes
Geheimnis, wenn es ein solches Geheimnis überhaupt je gab.
Wir alle sind »Nicht-mehrs«, während der erregte Geist von
Richard Kliman glaubt, sein Herz, seine Knie, sein Schädel,
seine Prostata, sein Blasenschließmuskel, sein alles seien un-
zerstörbar, und er und nur er sei nicht der Gnade seiner Zel-
len ausgeliefert. Für Achtundzwanzigjährige ist diese Über-
zeugung keine große Leistung, und gewiss nicht, wenn sie
wissen, dass ihnen Größe winkt. Sie sind keine »Nicht-
mehrs«, die ihre Fähigkeiten verlieren, die die Kontrolle über
sich selbst verlieren, die schändlich enteignet werden, die ge-
zeichnet sind von Entbehrungen und die organische Rebellion
des Körpers gegen die Alten erleben; sie sind die »Noch-
nichts«, die keine Ahnung haben, wie schnell die Dinge sich
ins Gegenteil verkehren können.
Zu seinen Füßen hatte er eine abgewetzte Aktentasche, in
der sich, wie ich annahm, die Hälfte von Lonoffs Manuskript
befand. Vielleicht waren darin auch die Fotos, die Amy ihm
unter dem Einfluss ihres Tumors gegeben hatte. Nein, es
würde nicht einfach sein, Amy aus dieser Sache herauszuzie-
hen. Durch Überredung würde Kliman sich nicht davon ab-
bringen lassen; jeder Versuch in dieser Richtung würde ihn nur
in der Annahme bestärken, bedeutend zu sein. Ich überlegte,
ob ein Anwalt oder Geld oder eine Kombination aus beidem –
eine Drohung mk einem Gerichtsverfahren und ein
anschließendes Angebot – etwas bewirken könnten. Vielleicht
konnte man ihn erpressen. Vielleicht, dachte ich, floh Jamie
gar nicht vor Bin Laden, sondern vor ihm.
SIE Richard, ich bin verheiratet.
ER Das weiß ich. Billy ist der Mann, den man heiratet, und
ich bin der Mann, mit dem man ins Bett geht. Und du
sagst mir ja auch die ganze Zeit, warum. »Er ist so dick.
Der Schaft ist so dick. Und der Kopf ist so schön. Genau,
wie ich ihn mag.«
SIE Lass mich in Ruhe. Du musst mich in Ruhe lassen. Das
muss ein Ende haben.
ER Du willst nicht mehr kommen? Du willst diese intensiven
Gefühle nicht mehr haben? Du willst das nie mehr haben?
SIE Wir werden diese Art von Gespräch nicht mehr füh-
ren. Wir werden miteinander nicht mehr so reden.
ER Willst du kommen? Jetzt?
SIE Nein. Hör auf. Es ist vorbei. Wenn du noch einmal so et-
was zu mir sagst, werden wir nie mehr miteinander reden.
ER Aber ich rede jetzt mit dir. Ich will, dass du an seinem
schönen Kopf saugst.
SIE Geh weg von mir, verdammt! Verlass sofort meine
Wohnung.
ER Der brutale Liebhaber lässt dich kommen, der gehor-
same nicht.
SIE Darüber sprechen wir nicht mehr. Ich bin mit Billy ver-
heiratet. Nicht mit dir. Billy ist mein Mann. Zwischen
dir und mir ist es vorbei. Was du sagst, spielt keine
Rolle mehr.
ER Du wirst dich fügen.
SIE Nein. Du wirst dich fügen. Geh.
ER S O funktioniert das nicht zwischen uns.
SIE So funktioniert es jetzt.
ER Du fügst dich so gern.
SIE s Maul. Hör auf. Hör einfach auf.
ER Ich dachte, du wärst so wortgewandt. Wenn wir unsere
Spiele spielen, bist du es jedenfalls. Du sagst alle mög -
lichen schweinischen Sachen, wenn wir Callgirl und Freier
spielen. Du machst alle möglichen herrlichen Geräusche,
wenn wir »Jamie wird vergewaltigt« spielen. Ist das alles,
s Maul« und »Hör auf«?
SIE Ich sage dir, dass es vorbei ist, und es ist vorbei. Also raus.
ER Ich gehe nicht.
SIE Dann gehe ich eben.
ER Wohin willst du gehen?
SIE Fort.
ER Ach, komm schon, Süße. Du hast die schönste Möse auf
der ganzen Welt. Lass uns seltsame Spiele spielen. Sag
mir ein paar schweinische Sachen.
SIE Geh weg. Verschwinde, jetzt sofort. Billy kommt gleich
nach Hause. Hau ab. Verschwinde aus meiner Wohnung,
oder ich rufe die Polizei.
ER Warte nur, bis die Polizisten dich in diesem Oberteil
und diesen Shorts sehen. Die werden auch nicht mehr
gehen wollen. Du hast die schönste Mose und die
niedrigsten Instinkte.
SIE Egal, was ich sage, du redest immer nur über meine
Mose. Man versucht, jemandem etwas zu sagen, aber er
hört einen gar nicht.
ER Das macht mich an.
SIE Das macht mich wütend. Ich verlasse jetzt dieses Haus.
ER Hier – sieh mal.
SIE Nein!
(Doch er hört nicht auf und so flieht sie hinaus.)
Aufgrund der Tatsache, dass ich Kliman in seiner Selbstver-
liebtheit und Dominanz nicht bremste, und weil er in wichti-
gen Augenblicken meinen Arm, meine Hand, meine Schulter
berührte, um einen Punkt besonders zu betonen, konnten die
Leute in dem Coffeeshop leicht zu dem Schluss kommen,
Kliman sei mein Sohn.
»An jenem Tag wurde man von niemandem enttäuscht«,
sagte er. »Am interessantesten war ein Journalist namens
McDonell. Er sagte so etwas wie: ›Ich bin entschlossen, heiter
zu sein, weil das für mich die einzige Möglichkeit ist, hier
oben zu stehen, ohne zusammenzubrechen.‹ Er erzählte viele
Anekdoten über George. Sprach mit echter Liebe. Ich will
damit nicht behaupten, die anderen hätten nicht mit Liebe
gesprochen. Aber bei McDonell spürte man eine starke männ-
liche Liebe. Und Bewunderung. Und ein Verständnis dafür,
was George wirklich war. Ich glaube, er war derjenige, der die
Geschichte von George und seinem T-Shirt erzählt hat, aber
vielleicht war das auch der Vogeltyp. Jedenfalls, die beiden
fuhren nach Arizona, um einen bestimmten Vogel zu beob-
achten. Sie gingen bei Sonnenuntergang in die Wüste. Das ist
die Zeit, in der man diesen Vogel angeblich zu sehen kriegt.
Aber sie kriegten ihn nicht zu sehen. Plötzlich zog George
sein T-Shirt aus und warf es in die Luft. Und Fledermäuse ka-
men angeflogen und umkreisten das T-Shirt und verfolgten es
bis zum Boden. Also warf George das T-Shirt höher und
höher in die Luft, so hoch er konnte. Und immer mehr Fle-
dermäuse kamen angeflogen und umkreisten das T-Shirt, und
George rief: ›Die denken, es ist eine Riesenmotte!‹ Es hat
mich an den Regenkönig erinnert, an das Ende, wo Hender-
son in Labrador oder Neufundland – ich habe vergessen, wo
es genau war – aus dem Flugzeug steigt und anfängt, auf
dem Eis herumzutanzen, mit all dem Überschwang des afri-
kanischen Regenkönigs, mit dieser seltenen Art von Über-
schwang, wie man ihn mit privilegierten, reichen Ostküsten-
protestanten verbindet, den aber trotzdem nur einer unter
Zehntausend von ihnen besitzt. Und das war Georges Tri-
umph. Das war George. Der überschwengliche Ostküsten-
protestant. Ich wollte, ich könnte mich an mehr von dem
erinnern, was dieser wunderbare Typ gesagt hat, denn er war
derjenige, der die Botschaft rüberbrachte. Aber dann fing die-
ses verdammte Gesinge wieder an. ›Oh, preiset den Herrn!
Preiset den Herrn!‹, und jedesmal, wenn ich hörte ›Preiset den
Herrn‹, sagte ich leise: ›Er ist nicht hier, und alle außer euch
wissen das. Das hier ist der letzte Ort, wo Er sein würde.‹
In dieser Gospeltruppe waren alle Größen und Typen von
schwarzen Frauen vertreten. Die mit den riesigen Hintern
und die Kleinen, Knorrigen mit Halbglatze, die aussehen, als
wären sie hundert Jahre alt, und die eher dünnen, eher langen,
eleganten, hübschen Mädchen, manche von ihnen ziemlich
schüchtern, bei deren Anblick man sich gut vorstellen kann,
wie die Angst durch die Baumwollfelder ging, wenn der
weiße Herr angeritten kam und ein bisschen Spaß haben
wollte. Und die Großen, die zuversichtlich sind, und die Gro-
ßen, die wütend sind, und ungefähr ein halbes Dutzend ge-
schniegelte schwarze Männer, die auch mitsingen, und ich
musste die ganze Zeit an die Sklaverei denken, Mr. Zucker-
man. Ich glaube, ich habe noch nie so viel an die Sklaverei ge-
dacht, wenn ich mit Schwarzen zusammen war. Denn es war
eine derart weiße Gemeinde, für die sie gesungen haben, dass
sie mir vorkamen wie schwarzgeschminkte Weiße. Ich sah in
der Ausstattung dieser Kirche die letzten Reste der Sklaverei.
Hinter ihnen, in der Apsis, war nämlich ein goldenes Kreuz,
groß genug, um King Kong zu kreuzigen. Und ich muss
Ihnen sagen: Die beiden Dinge, die ich an Amerika am mei-
sten hasse, sind die Sklaverei und das Kreuz, und ganz be-
sonders die Art, wie beides miteinander verbunden war und
die Sklavenbesitzer die Tatsache, dass sie Sklaven besaßen, mit
dem gerechtfertigt haben, was Gott ihnen in ihrem heiligen
Buch gesagt hatte. Aber dass ich das so verabscheue, tut hier
nichts zur Sache. Es wurden noch mehr Reden gehalten. Neun
im ganzen.«
Unser Essen war serviert worden, und er hielt für einen
Augenblick inne, um seinen Kaffee halb auszutrinken, doch
ich schwieg, entschlossen, keine Fragen zu stellen und abzu-
warten, was er als nächstes tun würde, um mich zu der Über-
zeugung zu treiben, er sei ein achtundzwanzigjähriger Titan
der Literatur, dem ich mich besser nicht in den Weg stellen
sollte.
»Sie fragen sich, wie ich George kennengelernt habe«,
fuhr er fort. »Ich habe ihn kennengelernt, als er zu einer Party
des Lampoon nach Harvard kam. Er hat mit meiner Freundin
auf einem Tisch getanzt. Er hat sie ausgesucht, weil sie die
Verführerischste war. Er war großartig. Hat eine tolle Rede
gehalten. George Plimpton war ein großer Mann. Die Leute
sagten, er habe es sogar geschafft, elegant zu sterben. Aber das
ist Quatsch. Er hatte einfach nicht die Gelegenheit, dagegen
anzukämpfen. Er war ein Kämpfer. Wenn es tagsüber passiert
wäre, hätte er die Chance gehabt, den Tod zu besiegen. Aber
nachts, im Schlaf? Der Tod hat ihn überrumpelt.«
Mir fiel ein, dass George seine literarischen Freunde für
eines seiner Bücher über das befragt hatte, was er als ihre »To-
desphantasien« bezeichnet hatte. Als ich wieder zu Hause
war und in meiner Bibliothek nachsah, stellte ich fest, dass
es sich um Shadow Box handelte, ein Buch, das mit der
Beschreibung seines Abenteuers mit Archie Moore 1959 be-
ginnt und 1974 in Zaire endet, wohin George gefahren war, um
für Sports Illustrated über den Schwergewichts-Weltmei-
sterschaftskampf zwischen Muhammed Ali und George
Foreman zu berichten. Plimpton war fünfzig, als Shadow Box
1977 erschien, und vermutlich Ende Vierzig, als er dafür re-
cherchierte und es schrieb, und so muss es für ihn ein großer
Spaß gewesen sein, andere Schriftsteller zu fragen, wie sie sich
ihren Tod vorstellten – Szenarien, die nach seiner Schilderung
allesamt komisch oder dramatisch oder bizarr waren. Der
Kolumnist Art Buchwald sagte ihm, er stelle sich vor, dass er
»auf dem Center Court in Wimbledon beim Finale der Män-
ner tot umfallen« werde, »im Alter von dreiundneunzig«.
In der Bar des Kinshasa Intercontinental Hotel erzählte ihm
eine junge Engländerin, die sich als »freiberufliche Dichte-
rin« bezeichnete, es wäre »toll, als Bassistin einer Rock-
gruppe einen tödlichen Stromschlag zu kriegen«. Mailer war
ebenfalls in Kinshasa, um über den Weltmeisterschaftskampf
zu berichten, und schien die Vorstellung am attraktivsten zu
finden, er werde von einem wilden Tier getötet werden – an
Land von einem Löwen, auf See von einem Wal. Was George
selbst betraf, so sah er sich im Yankee Stadium sterben,
»manchmal als Batter, der von einem bösen Mann mit einem
Bart einen auf den Kopf verpasst kriegt, manchmal als Out-
fielder, der gegen eine der Statuen rennt, die früher weit drau-
ßen im Center Held standen«.
Witzig und ungewöhnlich – so stellten sich George und
seine Freunde ihren Tod vor, als sie noch nicht daran glaub-
ten, dass er sie ereilen würde, als das Sterben nicht mehr als
eine Vorstellung war, über die man sich amüsieren konnte.
s ja auch noch!« Doch der Tod von
George Plimpton war weder witzig noch ungewöhnlich. Er
war auch keine Phantasie. George starb nicht in einem ge-
streiften Trikot im Yankee Stadium, sondern im Pyjama im
Schlaf. Er starb wie wir alle: als absoluter Amateur.

Ich konnte ihn nicht ertragen. Ich konnte die Energie und die
glatte Selbstsicherheit dieses protzigen Jungen ebensowenig
ertragen wie seinen Stolz darauf, ein Enthusiast und Ra-
conteur zu sein. Seine erdrückende Unmittelbarkeit – gewiss
hatte George sie ebenfalls nicht ertragen. Doch ich wollte tun,
was immer möglich war, um Kliman davon abzuhalten, Lo-
noffs Biographie zu schreiben. Ich würde gegen den zu- und
abnehmenden Drang ankämpfen, meinen Wagen zu holen und
in die Berkshires zurückzukehren. Ich würde abwarten
müssen, was er als nächstes auffuhr, um, wie er glaubte, seine
Interessen zu fördern. Da ich in den vergangenen Jahren bei-
nahe vergessen hatte, wie man einem Widersacher die Stirn
bietet, ermahnte ich mich, die Raffinesse eines Gegners nicht
zu unterschätzen, nur weil er als nervtötendes Waschweib
daherkam.
Als er die zweite Tasse Kaffee getrunken hatte, sagte er
unvermittelt: »Lonoff und seine Schwester – das ändert doch
alles, nicht?«
Jamie hatte ihm also gesagt, dass sie es mir gesagt hatte.
Eine weitere beunruhigende Facette von ihr. Was sollte ich
davon halten, dass sie als Mittelsperson zwischen Kliman und
mir fungierte? »Das ist Unsinn«, sagte ich.
Er beugte sich hinunter und tätschelte seine Aktentasche.
»Ein Roman ist kein Beweis. Ein Roman ist ein Roman«,
sagte ich und aß weiter.
Lächelnd beugte er sich abermals hinunter, und diesmal
klappte er die Aktentasche auf, entnahm ihr einen flachen
Umschlag, öffnete ihn und schüttelte seinen Inhalt zwischen
unseren Tellern auf den Tisch. Wir saßen am Fenster, und ich
konnte die Passanten auf der Straße sehen. In dem Augen-
blick, als ich aufsah, sprachen sie allesamt in ihr Handy.
Warum erschienen mir diese Apparate wie die Verkörperung
all dessen, dem ich entfliehen musste? Sie waren eine unver-
meidliche technische Entwicklung, und doch führte ihre An-
zahl mir vor Augen, wie weit ich mich von der Gemeinschaft
meiner Zeitgenossen entfernt hatte. Ich gehöre nicht mehr
hierhin, dachte ich. Meine Mitgliedschaft ist erloschen. Geh!
Ich nahm die Fotos in die Hand. Es waren vier vergilbte
Bilder eines hochgewachsenen, mageren Lonoff und eines
hochgewachsenen, mageren Mädchens, bei dem es sich, wie
Kliman mir weismachen wollte, um Lonoffs Halbschwester
Frieda handelte. Auf einem Foto standen sie auf dem Bürger-
steig vor einem nichtssagenden Holzhaus, auf einer Straße, die
in der Sonne zu glühen schien. Frieda trug ein dünnes weißes
Kleid, und ihr Haar war zu langen, schweren Zöpfen
geflochten. Lonoff lehnte an ihrer Schulter und tat, als wäre
er von der Hitze ganz erledigt, und Frieda lächelte breit, ein
Mädchen mit ausgeprägtem Kinn und großen Zähnen, die an
ein robustes Pferd denken ließen. Er war ein gutaussehender
Junge mit dunkler Haartolle und schmalem Gesicht, dessen
Schnitt es ihm ermöglicht hätte, sich als junger Wüstenbe-
wohner, halb Moslem, halb Jude, auszugeben. Auf einem an-
deren Foto sahen die beiden, auf einer Picknickdecke sitzend,
in die Kamera und lachten über etwas Unidentifizierbares in
einer Schale, auf die Lonoff wies. Auf dem dritten waren sie
einige Jahre älter. Lonoff reckte einen Arm in die Luft, und
Frieda, ein wenig stämmiger geworden, tat, als wäre sie ein
mit den Pfoten bettelnder Hund, Lonoff blickte sie streng an
und gab ihr ein Kommando. Auf dem vierten sah sie aus
wie zwanzig und war nicht mehr die Dienerin, die folgsam
die Anweisungen ihres Halbbruders ausführte, sondern eine
große, stattliche, ernste junge Frau; im Vergleich zu ihr wirkte
Lonoff mit Siebzehn geradezu ätherisch und machte nicht
den Eindruck, als könnte ihn irgend etwas anderes als die
harmlose Muse der Jugendwerke in Versuchung führen. Es
ließ sich argumentieren, diese Fotos zeigten nur für einen
sensationslüsternen Menschen wie Kliman etwas Ungewöhn-
liches und man könne aus ihnen vernünftigerweise allenfalls
schließen, dass Halbbruder und Halbschwester einander zu-
getan gewesen waren, dass sie Spaß gehabt und einander ver-
standen hatten und dass sie im ersten Viertel des 20. Jahrhun-
derts gelegentlich von einem Elternteil, einem Nachbarn oder
einem Freund fotografiert worden waren.
»Diese Fotos«, sagte ich. »Das sind ganz normale Fotos.«
»In dem Roman«, sagte er, »schreibt Lonoff, Frieda sei die
Anstifterin gewesen.«
»Es gibt keinen Lonoff und keine Frieda in irgendeinem
Roman.«
»Verschonen Sie mich mit einem Vortrag über die unüber-
windliche Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Das
hier ist etwas, das Lonoff gelebt hat. Es ist eine unter Qualen
entstandene Beichte im Gewand eines Romans.«
»Es sei denn, es ist ein Roman im Gewand einer unter
Qualen entstandenen Beichte.«
»Warum hat ihn das Schreiben dieses Romans dann so
zermürbt?«
»Weil das Schreiben einen Schriftsteller zermürben kann.
Der Primat eines Lebens in der Phantasie kann das und noch
mehr bewirken.«
»Ich habe Ihnen die Bilder gezeigt«, sagte er, als hätte ich
soeben schlüpfrige Fotos gesehen, »und jetzt werde ich Ihnen
das Manuskript zeigen. Vielleicht haben Sie dann nicht mehr
die Stirn zu behaupten, dass die treibende Kraft hinter diesem
Buch die Beschreibung einer Möglichkeit war, die nicht rea-
lisiert worden ist.«
»Hören Sie, Kliman, Sie machen keine gute Figur. Das
ist für einen littèrateur wie Sie sicher keine große Überra-
schung.«
Er zog das Manuskript aus der Aktentasche und legte es
auf die Fotos: zwischen zwei- und dreihundert Seiten, zusam-
mengehalten von einem dicken Gummiband.
Was für eine Katastrophe. Dieser rücksichtslose, ent-
schlossene, schamlose, opportunistische junge Mann, dessen
Methode, sich ein Werk der erzählenden Literatur anzu-
eignen, in krassem Gegensatz zu der Lonoffs stand, war im
Besitz des ersten Teils eines Romans, den Lonoff nie vollendet
hatte, den er für misslungen hielt und den er, hätte er lange
genug gelebt, um ihn zu vollenden, vielleicht nie veröffentlicht
hätte.
»Hat Amy Bellette Ihnen das gegeben? Oder haben Sie es
ihr abgenommen?« fragte ich ihn. »Haben Sie dieser armen
Frau das Manuskript gestohlen?«
Statt einer Antwort schob er es mir zu. »Es ist eine Foto-
kopie. Ich habe sie extra für Sie machen lassen.«
Er hatte es weiterhin darauf abgesehen, mich auf seine
Seite zu ziehen. Ich konnte ihm nützlich sein. Schon allein die
Erwähnung der Tatsache, dass er mir diese Kopie gegeben
hatte, konnte sich als nützlich erweisen. Ich fragte mich, für
wie schwach er mich hielt, und dann fragte ich mich, wie
schwach ich, aHein in meinem kleinen Haus, geworden war.
Warum saß ich überhaupt an diesem Tisch? Nichts von dem,
was, wie er behauptete, zwischen uns stattgefunden hatte,
hatte wirklich stattgefunden – weder das Telefongespräch
noch die Verabredung zum Mittagessen, weder meine Bitte,
mir von Plimptons Beerdigungsfeier zu erzählen, noch die
Bitte, Lonoffs Manuskript zu sehen. Ich erinnerte mich jetzt
genau daran, was wirklich stattgefunden hatte. Sie riechen,
alter Mann, Sie riechen wie der Tod. Und auch ich roch es
wieder, roch den Geruch, der von meinem Schoß aufstieg und
mich stark an den erinnerte, der mir in dem Haus entgegenge-
schlagen war, in dem Amy wohnte – und die ganze Zeit fuhr
der Mann, der mich mit diesen Beleidigungen bedacht hatte,
in aller Seelenruhe fort, sein Sandwich zu essen, nur einen
Meter von dem Platz entfernt, wo ich meins aß. Ich hatte die-
ses Treffen zugelassen und fühlte mich ebenso schutzlos wie
Amy – durchlässig, verwässert und geistig schwächer, als ich es
je für möglich gehalten hätte.
Und Kliman wusste das. Kliman hatte das begünstigt.
Kliman hatte meinen Zustand von Anfang an richtig einge-
schätzt: Wer hätte gedacht, dass Nathan Zuckerman das nicht
aushalten würde? Aber er kann es nicht aushalten, er ist am
Ende, ein winziges, isoliertes Wesen, ein erschöpfter Flücht-
ling vor der rauhen Welt, zermürbt durch Impotenz und in
der schlechtesten Verfassung seines Lebens. Verwirr ihn, lass
nicht nach, auf ihn emzudreschen, und der Tattergreis wird in
sich zusammensacken. Lies mal wieder Baumeister Solness,
Zuckerman: Mach Platz für die Jugend!
Ich sah ihm zu, auf seiner Turmspitze, wie er sich an mich
anschlich, um mich hinunterzustoßen. Und plötzlich war er
für mich nicht mehr eine Person, sondern eine Tür. Wo Kli-
man sitzt, sehe ich eine schwere Holztür. Was bedeutet das?
Wohin führt diese Tür? Was trennt diese Tür? Klarheit und
Verwirrung? Das könnte sein. Ich weiß nie, ob er die Wahrheit
sagt, ob ich etwas vergessen habe oder ob er sich etwas
ausdenkt. Eine Tür, die Klarheit und Verwirrung trennt, die
Amy und Jamie trennt, eine Tür, die zu George Plimptons Tod
führt, eine Tür, die aufschwingt und sich, nur Zentimeter vor
meinem Gesicht, wieder schließt. Ist er noch mehr als diese
Tür? Die Tür ist alles, was ich sehe.
»Mit Ihrer Zustimmung«, sagte er, »könnte ich eine
Menge für Lonoff tun.«
Ich lachte ihn aus. »Sie haben gefühllos die Notlage einer
schwerkranken Frau mit einem Gehirntumor ausgenutzt.
Sie haben ihr dieses Manuskript auf irgendeine Weise ge-
stohlen.«
»Ich habe nichts dergleichen getan.«
»Natürlich haben Sie das. Sie hätte Ihnen nicht bloß die
erste Hälfte gegeben. Wenn Sie Ihnen dieses Buch hätte geben
wollen, hätte sie Ihnen das ganze Manuskript überlassen. Sie
haben gestohlen, was Sie stehlen konnten. Die andere Hälfte
lag nicht offen herum, sie war irgendwo in der Wohnung, wo
sie für Sie unzugänglich war. Natürlich haben Sie es gestoh-
len – wer gibt schon jemandem einen halben Roman? Und
jetzt«, sagte ich, bevor er antworten konnte, »wollen Sie sich
jemandem wie mir aufdrängen?«
Unbeeindruckt sagte er: »Sie können für sich selbst sor-
gen. Sie haben viele Bücher geschrieben. Sie haben genug
Abenteuer erlebt. Und auch Sie können rücksichtslos sein.«
»Das kann ich«, sagte ich und hoffte, dass es noch stimmte.
»George hat von Ihnen immer mit großer Bewunderung
gesprochen, Mr. Zuckerman. Er hat die seelische Kraft be-
wundert, die Ihr Talent befeuert hat. Und ich teile seine Be-
wunderung.«
So schlicht wie möglich sagte ich: »Gut. Dann lassen Sie
Amy in Ruhe und versuchen Sie nicht, auf irgendeine Weise
mit mir in Kontakt zu treten.« Ich legte etwas Geld für das
Essen auf den Tisch und ging zur Tür.
Kliman brauchte nur wenige Sekunden, um seine Sachen
einzusammeln und mir nachzueilen. »Das ist Zensur. Sie
sind doch selbst Schriftsteller, und trotzdem versuchen Sie,
die Veröffentlichung des Werkes eines anderen Schriftstellers
zu blockieren.«
»Dass ich Ihnen bei diesem nichtswürdigen Buch nicht
helfe, bedeutet nicht, dass ich Sie in irgendeiner Weise blok-
kiere. Im Gegenteil – ich mache Ihnen den Weg frei, indem ich
in mein Loch krieche, um zu sterben.«
»Aber es ist nicht nichtswürdig. Und Amy Bellette sagt ja
selbst, dass es diesen Inzest gegeben hat. Sie hat mir ja über-
haupt erst davon erzählt.«
»Amy Bellette hat die Hälfte ihres Gehirns verloren.«
»Nicht, als ich mit ihr gesprochen habe. Das war vor dem
Eingriff. Sie war noch nicht operiert worden. Der Tumor war
noch nicht mal entdeckt worden.«
»Aber er war schon da, oder? Sie hatte den Kopf voller
Krebszellen, oder? Noch nicht entdeckt, ja, aber der Tumor
fraß sich schon durch ihr Gehirn. Ihr Gehirn, Kliman. Sie
hatte Ohnmachtsanfälle, ihr war übel, sie hatte furchtbare
Kopfschmerzen und furchtbare Angst und wusste nicht, was
sie zu irgend jemandem sagte. Zu diesem Zeitpunkt war sie
wirklich nicht Herrin ihrer selbst.«
»Aber es ist doch offensichtlich, dass genau das pas-
siert ist.«
»Offensichtlich ist es nur für Sie.«
»Ich kann das nicht glauben!« rief er, während er mit mir
Schritt hielt und mir das verwirrte Gesicht seiner Wut zeigte.
Er war nicht mehr in der Stimmung, meine Verachtung zu ge-
nießen, und so brach seine Abwehr gegen meine Ablehnung in
sich zusammen, und unter dem anmaßenden Rüpel kam
endlich der erbitterte Bettler zum Vorschein – es sei denn,
auch dies war ein Akt der Verstellung, und ich war nur auser-
sehen, vom Anfang bis zum Ende in dieser Schmierenkomö-
die den alten Trottel zu spielen. »Ausgerechnet Sie! Dieser
Mann hatte einen Penis, Mr. Zuckerman. Und sein Penis hat
die beiden in den Augen ihrer Umgebung drei Jahre lang zu
Verbrechern gemacht. Dann kam der Skandal, und vor dem
hat er sich die nächsten vierzig Jahre versteckt. Und dann
schließlich hat er dieses Buch geschrieben. Dieses Buch, das
sein Meisterwerk ist! Kunst, die aus einem gequälten Gewis-
sen entstanden ist! Der ästhetische Triumph über die Schande!
Er wusste es nicht – er war zu unglücklich und verängstigt,
um es zu erkennen. Und Amy war zu verängstigt von seinem
Unglück, um es zu erkennen. Aber wie können Sie veräng-
stigt sein? Sie, die Sie doch wissen, wie es kommt, dass Men-
schen unersättlich werden! Sie, die Sie doch den nagenden
Hunger nach mehr kennen! Hier ist die Abrechnung eines
großen Schriftstellers mit dem Verbrechen, das ihn jeden Tag
seines Lebens bedroht hat. Lonoffs letzter Kampf mit seinem
Makel. Sein lange aufgeschobener Versuch, das Abstoßende
zuzulassen. Sie kennen das doch. Das Abstoßende zulassen!
Das ist Ihr Verdienst, Mr. Zuckerman. Und sein Verdienst
liegt in diesem Buch. Seine Anstrengung, diese Last zu
schultern, ist zu heldenhaft, als dass Sie sie einfach übergehen
könnten. Dieses Selbstporträt ist nicht schmeichelhaft, glau-
ben Sie mir. Der Junge, der aus einem vierzigjährigen Schlaf
erwacht! Es ist außergewöhnlich. Es ist Lonoffs Scharlach-
roter Buchstabe. Es ist Lolita ohne Quilty und die dämlichen
Witze. Es ist das, was Thomas Mann geschrieben hätte, wenn
er nicht Thomas Mann gewesen wäre. Hören Sie mich an!
Helfen Sie mir! An irgendeinem Punkt müssen Sie diesen In-
zest doch ernst nehmen! Davor die Augen zu verschließen ist
sinnlos und steht Ihnen schlecht zu Gesicht! Ihre Abneigung
gegen mich macht Sie blind für die Wahrheit, Sir! Und die
Wahrheit ist einfach die, dass er das Leben mit Hope aufgeben
und mit Amy durch seine eigene Hölle gehen musste, um die
Leiden des jungen Lonoff zu befreien. Ich beschwöre Sie: Lesen
Sie das erstaunliche Resultat!«
Er war jetzt vor mir, ging mit schnellen Schritten rück-
wärts und stieß mir die Fotokopie des Manuskripts vor die
Brust. Ich blieb stehen, mit hängenden Armen und geschlos-
senem Mund. Ich hätte ihm von Anfang an mit Schweigen be-
gegnen sollen. Ich hätte – dachte ich zum hundertstenmal –
gar nicht erst mein Haus verlassen sollen. Jahrelang war ich
fortgewesen, hatte eine Festung gegen die Eindringlinge er-
richtet, die sich von meinem Werk angezogen fühlten, hatte
mich mit Schichten von Misstrauen geschützt – und doch
war ich jetzt hier und sah in diese schönen Augen mit dem
fanatischen grünlichen Schimmer. Ein Literaturverrückter.
Noch einer. Wie ich, wie Lonoff, wie jeder, dessen größte Lei-
denschaft einem Buch gilt. Warum hatte es nicht der sanfte
Billy Davidoff sein können, der Lonoffs Biographie schreiben
wollte? Warum konnte der zutiefst respektlose, hitzige Kliman
nicht der sanfte Billy und der sanfte Billy nicht der zutiefst
respektlose, hitzige Kliman sein, und warum konnte Jamie
Logan nicht mir gehören anstatt ihnen? Warum hatte ich
Prostatakrebs bekommen müssen? Warum hatte ich diese
Morddrohungen bekommen müssen? Warum musste das
Nachlassen der eigenen Kraft so rasch und grausam sein? Ach,
dieser Wunsch, das, was ist, möge so sein, wie es nicht ist –
und zwar nicht nur auf dem Papier!
Plötzlich erreichte sein Ärger den Höhepunkt, aber an-
statt mir das Manuskript an den Kopf zu werfen, wie ich es
erwartete – ich hob in einer instinktiven Abwehrbewegung
die Arme –, ließ er es nur Zentimeter vor meinen Füßen auf
den New Yorker Bürgersteig fallen und lief über die Straße
davon, wobei er zwischen den vorbeijagenden Wagen hin-
durchflitzte, und ich konnte nur hoffen, zum Zeugen zu wer-
den, wie sie diesen wütenden Möchtegernbiographen über den
Haufen fuhren.
Nachdem ich im Hotel meine uringetränkte Unterhose aus-
gezogen und mich am Waschbecken gewaschen hatte, rief ich
Amy an. Ich wollte wissen, wie Kliman zu dem Manuskript
gekommen war. Ich hatte es in meinem Zimmer. Ich hatte es
aufgehoben und mitgenommen. Ich hatte gewartet, bis Kli-
man außer Sicht gewesen war, und es dann ins Hotel getragen.
Was hätte ich sonst tun sollen? Ich hatte nicht vor, es zu lesen.
Ich konnte mich an diesem Wahnsinn nicht weiter beteiligen.
Ich hatte genug Wahnsinn hinter mich gebracht, als ich
jünger, klarer im Kopf und weit schlauer und wider-
standsfähiger als jetzt gewesen war. Ich wollte nicht wissen,
was Lonoff aus der Geschichte von ihm selbst und seiner
Schwester und ihrer beider großem Fehltritt gemacht hatte,
und ebensowenig wollte ich weiterhin verteidigen, was ich
nach wie vor glaubte: dass es diesen Fehltritt nie gegeben
hatte. Obgleich mich dieser Mann zu Beginn meiner Karriere
sehr fasziniert und ich noch vor ein paar Tagen sämtliche Bü-
cher von ihm gekauft hatte, Bücher, die ich seit Jahrzehnten
besaß, wollte ich das Manuskript loswerden und von Richard
Kliman und allem befreit sein, was ich an ihm nicht ein-
schätzen konnte und was in Gegensatz zu allem stand, was
ich ernst nahm. Selbst wenn seine Ausbrüche allesamt wie
einstudiert wirkten, wie der rücksichtslose, widerwärtige,
kindische Trick eines oberflächlichen Menschen, der vor-
gibt, von Liebe und Ehrfurcht für das geschriebene Wort
erfüllt zu sein, war er, wie mir schien, nicht nur Lonoffs, son-
dern auch meine Nemesis. Sollte ich fortfahren, mich diesem
Hochstapler und der Vitalität, dem Ehrgeiz, dem Behar-
rungsvermögen und der Wut, die ihn trieben, in den Weg zu
stellen, so konnte ich nur unterliegen. Sobald ich mit Amy ge-
sprochen und dafür gesorgt hatte, dass das Manuskript wie-
der in ihre Hände gelangte, würde ich jamie und Billy anru-
fen und ihnen sagen, dass unsere Vereinbarung hinfällig war.
Und ich würde New York verlassen, ohne den Urologen noch
einmal aufzusuchen. Ich besaß nicht die Kraft, die Kliman so
bewunderte, jedenfalls nicht die Kraft für weitere Interven-
tionen. Der Urologe konnte ebensowenig eine Veränderung
bewirken wie ich selbst. Ich mochte mir im Verlauf von vierzig
Jahren den Ruf erworben haben, ein Buch nach dem anderen
schreiben zu können, aber ich hatte dennoch die Grenzen
meiner Leistungsfähigkeit erreicht. Und auch die Grenzen
meiner Fähigkeit, jemanden zu beschützen – und das hatte ich
schon gewusst, als ich nicht mehr imstande gewesen war, mich
selbst auf andere Art zu schützen als durch Verschwinden. Ich
konnte diesen Burschen nicht aufhalten, nicht einmal, indem
ich Amy mitnahm in die Berkshires oder eine Wache vor ihrer
Tür postierte.
Und ich konnte ihn auch nicht davon abhalten, seine im-
pertinente Aufmerksamkeit mir zuzuwenden, sobald er mit
Lonoff fertig war. Wer konnte die Geschichte meines Lebens
vor Richard Kliman schützen, wenn ich tot war? War Lonoff
nicht bloß ein literarischer Trittstein auf dem Weg zu mir?
Und was würde mein »Inzest« sein? Inwieweit würde ich es
versäumt haben, ein idealer Mensch zu sein? Was würde mein
großes, unanständiges Geheimnis sein? Gewiss gab es eines.
Gewiss gab es mehr als eines. Erstaunlich auch, dass einem das
eigene Können und die Leistungen, die man erbracht hat,
zuletzt dadurch vergolten werden, dass sie der Inquisition
eines Biographen ausgeliefert sind. An den Mann, der die
Herrschaft über die Worte hat, der sein Leben lang Geschich-
ten erfunden hat, erinnert man sich nach seinem Tod, wenn
überhaupt, dann nur wegen einer Geschichte, die ein anderer
über ihn erfunden hat, einer Geschichte, in der seine verbor-
gene Verworfenheit enthüllt und mit schonungsloser Ehrlich-
keit, Klarheit und Selbstgewissheit geschildert wird, mit ern-
ster Sorge um die heikelsten Fragen der Moral und mit nicht
geringem Entzücken.
Ich war also der nächste. Warum hatte ich das nicht längst
gemerkt? Wenn ich es nicht schon längst gemerkt hatte.

Amy ging nicht ans Telefon. Ich wählte Jamies und Billys
Nummer. Nach dem ersten Klingeln schaltete sich der Anruf-
beantworter ein. Ich sagte: »Hier ist Nathan Zuckerman. Ich
rufe vom Hotel aus an. Die Nummer ist –«
Jamie nahm den Hörer ab. Ich hätte auflegen sollen. Ich
hätte gar nicht erst anrufen sollen. Ich hätte dies tun und jenes
lassen sollen, und jetzt hätte ich etwas ganz anderes tun sol-
len! Doch sobald ich dem Reiz ihrer Stimme ausgesetzt war,
hatte ich keine Kontrolle mehr über meine Gedanken. An-
statt fortzufahren, mich aus der Katastrophe zu lösen, aus
der Katastrophe, die ich heraufbeschworen hatte, indem ich
glaubte, ich könne meine Lebensumstände – den Umstand,
unwiderruflich verändert zu sein – verändern, tat ich das Ge-
genteil, und meine Gedanken kreisten nicht um das, was ich
war, sondern um das, was ich nicht war: Es waren die Gedan-
ken eines Menschen, der noch immer imstande ist, es mit dem
Leben aufzunehmen.
»Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte ich.
»Ja.«
»Ich möchte hier mit Ihnen sprechen.«
In der Pause, die eintrat, setzte ich mich so gut ich konnte
mit den lächerlichen Worten auseinander, die die Vergangen-
heit mich drängte auszusprechen.
»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, sagte sie.
»Ich hatte gehofft, Sie würden es können.«
»Es ist ein interessanter Gedanke, Mr. Zuckerman, aber
nein.«
Was konnte ich, ein ausgebrannter »Nicht-mehr«, der
weder genug Selbstvertrauen für eine Verführung noch die
Fähigkeit besaß, zur Tat zu schreiten, sagen, um sie umzu-
stimmen? Alles, was ich noch hatte, waren meine Instinkte:
wollen, begehren, haben. Und das dumme Erstarken meiner
Entschlossenheit zu handeln. Endlich zu handeln!
»Kommen Sie in mein Hotel«, sagte ich.
»Ich bin ziemlich verblüfft«, sagte sie. »Mit diesem Anruf
habe ich nicht gerechnet.«
»Ich auch nicht.«
»Warum haben Sie dann angerufen?«
»Seit wir uns in Ihrer Wohnung unterhalten haben, ist irgend
etwas in mich gefahren.«
»Allerdings etwas, das ich, fürchte ich, nicht befriedigen
kann.«
»Bitte kommen Sie.«
»Bitte hören Sie auf. Es braucht nicht viel, mich aus der
Bahn zu werfen. Denken Sie, ich bin streitlustig? Die kratz-
bürstige Jamie? Die aggressive Jamie? Ich bin ein streitlu-
stiges Nervenbündel. Denken Sie, Richard Kliman ist mein
Liebhaber? Denken Sie das immer noch? Dass ich in sexueller
Hinsicht nichts mit ihm zu tun haben will, sollte Ihnen mitt-
lerweile hinreichend klar sein. Sie haben sich eine Frau zu-
sammenphantasiert, die ich nicht bin. Können Sie sich nicht
vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich Billy kennenlernte
und nicht mehr jedesmal angebrüllt wurde, wenn ich mich
nicht jedem Wunsch fügte?«
Was konnte ich sagen, um sie aus der Reserve zu locken?
Was konnte ich sagen, um ein offenes Ohr zu finden?
»Sind Sie allein?« fragte ich.
»Nein.«
»Wer ist bei Ihnen?«
»Richard. Er ist nebenan. Er hat mir erzählt, wie sein Tref-
fen mit Ihnen war. Das ist alles, was wir hier tun. Er erzählt,
ich höre zu. Das ist alles. Der Rest ist Ihre Einbildung. Was
für ein verwundeter Mensch Sie sein müssen, sich so etwas
vorzustellen.«
»Bitte kommen Sie, Jamie.« Von allen sprachlichen Mit-
teln, die mir zu Gebote standen, waren diese Worte die ge-
haltvollsten, auf die ich verfiel, um sie zu wiederholen.
»Ich bin töricht«, sagte sie, »also hören Sie bitte auf.«
Ich sah mich, ich hörte mich, ich betrachtete mich mit an-
gemessener Häme und Verachtung und war abgestoßen vom
Ausmaß meiner Verzweiflung, doch die sexuelle Verbindung
zwischen mir und den Frauen war vor Jahren durch die Pro-
stataoperation so abrupt unterbrochen worden, dass ich jetzt,
im Gespräch mit Jamie, nicht anders konnte, als diese Tatsache
auszublenden und einem Ego zu gehorchen, das ich nicht
mehr besaß.
»Ich habe Sie angerufen«, sagte ich, »um Ihnen etwas ganz
anderes zu sagen. Ich wollte dies gar nicht sagen. Ich dachte,
ich hätte mich von alldem befreit.«
»Ist das überhaupt möglich?« Sie klang, als hätte sie diese
Frage nicht im Hinblick auf mich, sondern im Hinblick auf
sich selbst gestellt.
»Kommen Sie, Jamie. Ich habe das Gefühl, dass Sie mir
etwas beibringen können und dass es für mich noch nicht zu
spät ist, es zu lernen.«
»Das ist eine Täuschung. Das alles ist eine Täuschung.
Nein, ich kann nicht kommen, Mr. Zuckerman.« Und dann
fügte sie, sei es aus Freundlichkeit, sei es, um mich loszu-
werden oder vielleicht auch, weil ein Teil von ihr es wirklich
meinte, hinzu: »Ein andermal«, als könnte ich all die Tage, die
noch vor ihr lagen, in ihrer Nähe bleiben und warten.

Und so floh ich vor den Kräften, die einst meine eigene Kraft
erhalten und meine Stärke gefordert und meine Begeisterung
und Leidenschaft entfacht und meinen Widerstand geweckt
und mich mit dem Bedürfnis erfüllt hatten, alles, sei es groß
oder klein, wichtig zu nehmen und mit Bedeutung zu erfül-
len. Ich blieb nicht, um wie früher zu kämpfen, sondern floh
vor Lonoffs Manuskript, vor all den Gefühlen, die es aufge-
wühlt hatte, vor all den Gefühlen, die es aufwühlen würde,
wenn ich Klimans Randbemerkungen läse und dort auf die
Spuren eines Geistes stieße, der alles zum Nennwert nahm,
auf eine Vulgarität, die jede Äußerung auf vollkommen idioti-
sche Weise mit ihrem Urheber gleichsetzte. Ich war diesem
Kampf nicht gewachsen und wollte keinen Anteil haben an
den damit verbundenen Wirrungen, und daher warf ich das
Manuskript ungelesen – als wäre es das Werk eines Schrift-
stellers, der mir mein Laben lang gleichgültig gewesen war –
in den Papierkorb des Hotelzimmers, setzte mich in meinen
Wagen und war kurz nach Einbruch der Dunkelheit wieder
zu Hause. Auf der Flucht muss man rasch entscheiden, was
man mitnimmt und was nicht, und ich beschloss, nicht nur das
Manuskript zurückzulassen, sondern auch die sechs Bücher
von Lonoff, die ich bei Strand gekauft hatte. Die fünfzig Jahre
alten Exemplare, die ich zu Hause hatte, würden mir für den
Rest meines Lebens reichen.
Der Aufruhr von New York hatte wenig länger als eine
Woche gedauert. Es gibt keinen weltlicheren Ort als New
York, das voller Menschen ist, die, mit ihren Handys tele-
fonierend, in Restaurants gehen, Affären haben, sich um Jobs
bewerben, Zeitungen lesen, mit Leidenschaft politische Über-
zeugungen vertreten, und ich hatte gedacht, ich würde von
dort, wo ich gewesen war, zurückkehren und mich erneut in
all das stürzen, was ich hinter mir gelassen hatte – Liebe,
Verlangen, Auseinandersetzungen, berufliche Konflikte, das
ganze chaotische Vermächtnis der Vergangenheit –, doch statt
dessen war ich, wie in einem zu schnell abgespielten alten
Film, nur für einen ganz kurzen Augenblick hindurchgejagt,
um mich dann wieder daraus zu lösen und nach Hause zu
fahren. Es war nichts weiter geschehen, als dass beinahe etwas
geschehen war, doch ich kehrte zurück wie von einem großen,
bedeutenden Geschehen. Ich hatte im Grunde nichts zu
bewirken versucht, hatte ein paar Tage lang einfach dage-
standen, erfüllt von Frustration, erschüttert von der gnaden-
losen Auseinandersetzung zwischen den Nicht-mehrs und den
Noch-nichts. Das war demütigend genug.
Nun war ich zurück, wo ich für immer der Notwendigkeit
enthoben war, mich mit jemandem zu streiten oder etwas zu
begehren oder jemand zu sein, die Menschen von diesem oder
jenem zu überzeugen und eine Rolle in dem Drama meiner
Zeit zu übernehmen. Kliman würde mit all seiner rohen In-
tensität Lonoffs Geheimnis nachspüren, und Amy Bellette
würde ebenso außerstande sein, ihn davon abzuhalten, wie sie
als Mädchen außerstande gewesen war, die Morde an ihrer
Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder zu verhindern, oder
jetzt dem Tumor, der sie tötete, Einhalt zu gebieten. Ich
würde ihr sogleich einen Scheck schicken und einen weiteren
am Ersten eines jeden Monats, doch sie würde ohnehin inner-
halb eines Jahres sterben. Kliman würde nicht lockerlassen
und durch dieses überflüssige Buch, in dem er Lonoffs angeb-
lichen Fehltritt enthüllt und als Schlüssel zur Erklärung sei-
nes gesamten Werkes darstellte, vielleicht für ein paar Monate
literarische Bedeutung erlangen. Möglicherweise würde es
ihm sogar gelingen, jamie zu gewinnen, sofern sie entnervt
oder verwirrt oder gelangweilt genug war, um Trost bei seiner
abstoßend prahlerischen Pose zu suchen. Und irgendwann
würde ich ebenfalls sterben, wie Amy, wie Plimpton, wie Lo-
noff, wie alle, die ihre Taten vollbracht und ihre Aufgabe er-
füllt hatten und nun auf dem Friedhof lagen, allerdings nicht
ohne mich zuvor an den Tisch am Fenster zu setzen, hinaus-
zusehen in das graue Licht eines November morgens, über
den vom Schnee gepuderten Weg zum stillen, von Wind gerif-
felten Wasser des Sumpfes, das an den Rändern, wo die fau-
lenden, skelettartigen Stengel des rispenlosen Schilfs standen,
bereits überfror, und in meinem sicheren Hafen, wo keiner
dieser New Yorker Menschen mehr zu sehen war – und bevor
mein nachlassendes Gedächtnis mich vollends im Stich ließ –,
die letzte Szene von Er und Sie zu schreiben.
ER Es wird wohl noch zwei Stunden dauern, bis Billy zurück
ist. Warum kommen Sie nicht in mein Hotel? Ich wohne
im Hilton, Zimmer Nummer 1418.
SIE (leise lachend) Als Sie sie verlassen haben, sagten Sie,
dass es Sie umbringt und dass Sie sie nie mehr sehen
wollen.
ER Aber jetzt will ich sie sehen.
SIE Was hat sich verändert?
ER Das Ausmaß der Verzweiflung. Ich bin jetzt verzweifelter.
Und Sie?
SIE Ich ... ich ... ich bin weniger verzweifelt. Warum sind Sie
jetzt verzweifelter?
ER Fragen Sie die Verzweiflung, warum sie verzweifelter ist.
SIE Ich muss ehrlich mit Ihnen sein. Ich glaube, ich weiß,
warum Sie jetzt verzweifelter sind. Ich glaube nicht, dass
es helfen wird, wenn ich Sie in Ihrem Hotelzimmer besu-
che. Richard ist hier. Er ist gekommen und hat mir von
dem Gespräch zwischen Ihnen beiden erzählt. Ich muss
Ihnen sagen, dass Sie meiner Meinung nach einen großen
Fehler machen. Richard versucht nur, seine Arbeit zu tun,
so wie Sie Ihre Arbeit tun. Er ist äußerst verärgert. Und
Sie sind offenbar ebenfalls äußerst verärgert. Sie rufen an
und wollen etwas in Ihr Leben holen, das Sie lieber nicht –
ER Ich lade Sie in mein Hotelzimmer ein. Ich möchte, dass
Sie mich hier, in meinem Hotelzimmer, besuchen. Kliman
ist Ihr Liebhaber.
SIE Nein.
ER Doch.
SIE (mit Nachdruck) Nein.
ER Sie haben es neulich praktisch zugegeben.
SIE Das habe ich nicht. Sie haben mich entweder missverstan-
den oder sich verhört. Sie haben es völlig falsch verstan -
den.
ER Dann können Sie also auch lügen. Gut. Ich bin froh, dass
Sie lügen können.
SIE Wie kommen Sie darauf, dass ich lüge? Wollen Sie be-
haupten, weil ich auf dem College mit ihm zusammen war,
muss er jetzt mein Liebhaber sein ?
ER Ich habe gesagt, ich sei eifersüchtig auf Ihren Liebhaber.
Ich habe ihn für Ihren Liebhaber gehalten. Jetzt sagen Sie
mir, dass er nicht Ihr Liebhaber ist.
SIE Nein, das ist er nicht.
ER Dann ist jemand anders Ihr Liebhaber. Ich weiß nicht, ob
das schlimmer oder besser ist.
SIE Ich möchte nicht über meinen Liebhaber diskutieren.
Wollen Sie mir sagen, dass Sie mein Liebhaber sein wollen?
ER Ja.
SIE Sie wollen, dass ich jetzt zu Ihnen komme. Es ist sechs
Uhr. Ich könnte um halb sieben bei Ihnen sein. Ich kann
um neun mit ein paar Lebensmitteln nach Hause kommen
und sagen, ich hätte noch ein paar Besorgungen gemacht.
Ich müsste also etwas einkaufen. Oder Sie könnten das
jetzt für mich erledigen. Dann könnten wir etwas mehr
Zeit miteinander verbringen.
ER Wann sind Sie hier?
SIE Das rechne ich gerade aus. Sie könnten jetzt die Einkäufe
erledigen. Ich könnte Richard loswerden und mir ein Taxi
nehmen. Ich könnte um halb sieben bei Ihnen sein. Aber
ich müsste um halb neun wieder gehen. Wir hätten also
zwei Stunden. Gefällt Ihnen das?
ER Ja.
SIE Und dann?
ER Dann hätten wir zwei Stunden.
SIE Ich bin heute völlig verrückt. (Lacht.) Sie nutzen den Zu-
stand einer Verrückten aus.
ER Ich ernte die Früchte der Wahl.
SIE (lacht) Ja, das stimmt.
ER Die haben Ohio erobert – ich werde Sie erobern.
SIE Ich könnte heute ein bisschen starke Medizin vertragen.
ER Es gab Zeiten, da bin ich mit starker Medizin hausieren
gegangen.
SIE Das erinnert mich an die Bayous.
ER Was sagen Sie?
SIE Die Bayous in Houston. Wir sind über die Grundstücke
von anderen Leuten dorthin gegangen, haben irgendwo
eine Schaukel gefunden und sind ins Wasser gesprungen.
Wir sind in diesem geheimnisvollen, kakaobraunen Was-
ser geschwommen, in dem viele tote Bäume lagen und das
so trüb war, dass man seine Hand unter Wasser nicht se-
hen konnte. Von den Bäumen hing Moos, und das Wasser
war so schlammig – ich weiß auch nicht, warum ich es ge-
tan habe, höchstens weil es eines der Dinge war, die meine
Eltern mir verboten hätten. Das erste Mal hat meine ältere
Schwester mich mitgenommen. Sie war die Wagemutige,
nicht ich. Es hat sie total verrückt gemacht, dass meine
Mutter so entsetzlich viel Wert auf den äußeren Anschein
gelegt hat. Sie war diejenige, die nicht mal mein strenger
Vater zügeln konnte, geschweige denn meine Mutter. Ich
habe Billy geheiratet. Das Schlimmste an ihm war, dass er
Jude ist.
ER Das ist auch das Schlimmste an mir.
SIE Tatsächlich?
ER Kommen Sie, Jamie. Kommen Sie zu mir.
SIE (rasch und leichthin) Gut. Wo sind Sie noch mal?
ER Im Hilton. Zimmer Nummer 1418.
SIE Und wo ist das Hilton? Ich kenne die New Yorker Hotels
nicht.
ER Das Hilton ist in der Sixth Avenue, zwischen der 53rd und
der 54th Street. Gegenüber vom CBS-Gebäude. Schräg
gegenüber vom Warwick Hotel.
SIE Dieses riesige, nicht besonders schöne Hotel.
ER Genau. Ich wollte eigentlich nur ein paar Tage bleiben.
Ich wollte eine kranke Freundin besuchen.
SIE Ich weiß von Ihrer kranken Freundin. Wir wollen nicht
davon sprechen.
ER Was hat Kliman Ihnen von ihr erzählt? Wissen Sie eigent-
lich, was er dieser Frau antut, die an einem Hirntumor
stirbt?
SIE Er versucht, ihre Geschichte zu erfahren. Oder eigent-
lich nicht mal ihre Geschichte, sondern die eines Men-
schen, den sie geliebt hat und dessen Werk in Vergessen-
heit geraten ist. Dessen Reputation verschwunden ist.
Sehen Sie, Richard ist leider selbst sein ärgster Feind.
Aber Sie sollten sich davon nicht beeinflussen lassen. Er
ist ein energischer, zwanghafter, entschlossener, interes-
sierter Mensch, der sich jetzt mit diesem praktisch unbe-
kannten Schriftsteller befasst, den niemand mehr liest. Er
ist von ihm fasziniert, er ist erregt, er denkt, es gibt da ein
Geheimnis, das nicht einfach skandalös, sondern viel-
mehr lehrreich und interessant ist. Ja, er hat diese ver--
rückte Gier des Biographen. Ja, er hat den rücksichts-
losen Drang, das zu kriegen, was er haben will. Ja, er
würde alles dafür tun. Aber warum nicht – wenn es ihm
ernst ist? Er versucht, diesem Mann zu seinem verdien-
ten Platz in der amerikanischen Literatur zu verhelfen,
und dazu braucht er die Hilfe dieser Frau – damit er
eine Geschichte erzählen kann, die niemandem schadet.
Niemandem. Die Leute, die darin vorkommen, sind seit
vielen Jahren tot.
ER Dieser Mann hat drei Kinder, die noch leben. Was ist mit
denen? Wie würden Sie sich fühlen, wenn so etwas über
Ihren Vater ans Licht käme?
SIE Als Lonoff siebzehn war, hatte er eine Beziehung mit sei-
ner Halbschwester – er war jünger als sie, und als das
anfing, war er vierzehn. Er war der jüngere von beiden, er
war unschuldig. Ich kann darin keine Schande entdecken.
ER Sie sind sehr großzügig. Glauben Sie, Ihre Eltern würden
ebenso großzügig sein, wenn sie von Lonoffs Jugend le-
sen?
SIE Mein Vater und meine Mutter haben am Dienstag George
Bush gewählt. Die Antwort lautet also: Nein. (Lacht.)
Selbst wenn Ihnen an ihrer Zustimmung liegen würde,
hatten Sie nie ein Buch veröffentlicht, das mein Vater oder
meine Mutter nicht mit Wohlwollen betrachtet hätten.
Keines Ihrer Bücher wäre so, wie es ist, je veröffentlicht
worden, mein Freund.
ER Und was ist mit Ihnen? Würden Sie Ihren Vater mit Wohl-
wollen betrachten, wenn so etwas über ihn herauskäme?
SIE Es würde mir nicht leichtfallen.
ER Haben Sie eine Tante?
SIE Nein, ich habe keine Tante. Aber ich habe einen Bruder.
Ich habe keine Kinder. Aber wenn ich welche hätte,
würde ich nicht wollen, dass sie es erfahren würden, wenn
zwischen meinem Bruder und mir etwas gewesen wäre.
Aber ich glaube, es gibt Dinge, die wichtiger sind als –
ER Bitte. Nicht Kunst.
SIE Wofür haben Sie dann Ihr Leben aufgegeben?
ER Ich wusste nicht, dass ich es aufgebe. Ich habe getan, was
ich getan habe, und ich wusste es nicht. Können Sie sich
vorstellen, was die Zeitungen daraus machen werden?
Können Sie sich vorstellen, was die Kritiker daraus ma-
chen werden? Das hat nichts mit Kunst und noch weniger
mit der Wahrheit oder mit Verständnis für einen Fehltritt
zu tun. Es hat etwas mit Sensationslust zu tun. Wäre
Lonoff noch am Leben, es würde ihm leid tun, je ein Wort
geschrieben zu haben.
SIE Er ist tot. Es wird ihm nicht leid tun.
ER Er wird bloß in den Schmutz gezogen werden. Ohne
guten Grund. Er wird übel in den Schmutz gezogen wer-
den von den moralistischen Tugendbolden, den femini-
stischen Predigerinnen, der übelkeiterregenden Überle-
genheit der Läuse der Literatur. Viele der Kritiker, die
eigentlich nette Menschen sind, werden sagen, dass er ein
schweres sexuelles Verbrechen begangen hat. Worüber
lachen Sie jetzt?
SIE Über Ihre Herablassung. Glauben Sie, wenn es die »fe-
ministischen Predigerinnen« nicht gegeben hätte, würde
ich es auch nur in Erwägung ziehen, in zwanzig Minuten
bei Ihnen in Ihrem Hotelzimmer zu sein? Glauben Sie,
ein Mädchen, das so aufgewachsen ist wie ich, hätte den
Mumm, so etwas zu tun? Sie ernten die Früchte der Wahl
und der Feministinnen. George Bush und Betty Friedan.
(Sie spricht mit einemmal wie eine hartgesottene Gang-
sterbraut in einem Film.) Wollen Sie, dass ich vorbei-
komme – wollen Sie das wirklich? Oder wollen Sie sich
lieber mit mir am Telefon über Richard Kliman unter-
halten?
ER Ich glaube Ihnen nicht. Was Kliman betrifft, glaube ich
Ihnen nicht. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.
SIE Gut. Gut. Spielt das eine Rolle für die zwei Stunden, die
wir miteinander verbringen wollen? Sie können mir glau-
ben oder nicht glauben, und wenn Sie mir nicht glauben
und nicht wollen, dass ich komme, dann ist das in Ord-
nung. Wenn Sie mir nicht glauben und wollen, dass ich
komme, ist das auch in Ordnung. Und wenn Sie mir glau-
ben und wollen, dass ich komme, ist das ebenfalls in Ord-
nung. Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen.
ER Sind die dreißigjährigen Frauen heutzutage alle so extrem
selbstsicher, oder sind sie es nur so lange, wie sie die Fas -
sade aufrechterhalten können?
SIE Keins von beiden.
ER Dann gilt das also nur für dreißigjährige Frauen mit lite-
rarischen Ambitionen?
SIE Nein.
ER Oder für die dreißigjährigen Frauen, die in durch Öl reich
gewordenen Houstoner Familien aufgewachsen sind? Die
überprivilegierten jungen Frauen?
SIE Nein, das gut für mich. Sie sprechen mit mir.
ER Ich bete Sie an.
SIE Sie kennen mich nicht.
ER Ich bete Sie an.
SIE Sie fühlen sich sehr stark zu mir hingezogen.
ER Ich bete Sie an.
SIE Sie beten mich nicht an. Das können Sie nicht. Es ist un-
möglich. Diese Worte sind bedeutungslos. Sie kommen
mir vor wie ein Mensch, der auf ein Abenteuer aus war,
ohne es zu wissen. Er, der alle Erfahrungen elf Jahre lang
von sich geschoben hat, der sich gegen alles außer dem
Denken und dem Schreiben abgeschottet hat – er, dessen
Existenz so ganz auf sich selbst bezogen war, hatte keine
Ahnung. Erst als er wieder in der großen Stadt ist, ent-
deckt er, dass er wieder mitten im Leben stehen will und
dass der einzige Weg dorthin durch die unvernünftige,
unbesonnene ... Tja, er ist einem vollkommen unver-
nünftigen Verlangen ausgeliefert. Ich spreche von einem
geradezu unmenschlich disziplinierten, vernunftgesteu-
erten Menschen, der jeden Sinn für Proportion verloren
und sich in eine verzweifelte Geschichte voller unver-
nünftiger Wünsche begeben hat. Aber so ist es eben, wenn
man mitten im Leben steht, nicht? Wenn man sich ein
Leben aufbaut. Sie wissen, dass die Vernunft sich jederzeit
wieder Geltung verschaffen kann – und wenn sie das tut,
sind das Leben und die Instabilität, die zum Leben gehört,
dahin. Jedermanns Schicksal: Instabilität. Das einzige
andere mögliche Motiv, das Sie haben könnten, um zu
sagen, dass Sie mich anbeten, ist, dass Sie im Augenblick
ein Schriftsteller ohne Buch sind. Fangen Sie ein neues
Buch an, steigen Sie richtig ein, und wir werden sehen,
wie sehr Sie Jamie Logan anbeten. Jedenfalls, ich bin
gleich bei Ihnen.
ER Dass Sie zu mir ins Hotel kommen wollen, legt den
Schluss nahe, dass Sie ebenfalls in großen Schwierigkeiten
sind. Unbesonnene Augenblicke. Dies ist Ihrer.
SIE Unbesonnene Augenblicke, die zu unbesonnenen Be-
gegnungen führen. Unbesonnene Augenblicke, die zu ge-
fährlichen Entscheidungen führen. Sie sollten mich nicht
zu eindringlich daran erinnern.
ER Ich glaube, ich kann mich darauf verlassen, dass Sie sich
während der ganzen Taxifahrt hierher selbst daran erin-
nern werden.
SIE Tja, ich habe Ihnen ja gesagt, dass Sie den Ausgang der
Wahl ausnutzen. Also haben Sie recht.
ER Sie überschreiten Conrads Schattenlinie, erst von der
Kindheit in die Reife, dann von der Reife in etwas anderes.
SIE In den Wahnsinn. Ich bin gleich da.
ER Gut. Beeilen Sie sich. Eilen Sie in den Wahnsinn. Runter
mit den Kleidern und hinein in die Bayous. (Er legt auf.)
Ins kakaobraune Wasser, in dem viele tote Bäume liegen.

(Und dann wirft er, in einem Augenblick noch größeren


Wahnsinns – einem Augenblick wahnsinniger Erregung –, all
seine Sachen, bis auf das ungelesene Manuskript und die ge-
lesenen Bücher, in den Koffer und verschwindet, so schnell er
kann. Wie denn auch nicht [wie er es gern ausdrückt]? Er löst
sich auf. Sie ist unterwegs, und er verschwindet. Er ist für
immer fort.)

Zentaur 2008-03-12

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