de/article/sozialgeschichte-der-religion-a142051
Religiöser Wandel
Religiöser Wandel in der Neuzeit wird überwiegend mit den Begriffen Säkularisierung,
Konfessionalisierung und Assimilation erfasst. Säkularisierung will Ziemann nicht mehr als
einen unumkehrbaren Verweltlichungsprozess, der zum Bedeutungsverlust der Religion führt,
verstanden wissen. Abendmahlsbeteiligung, Kirchenbesuch und andere statistische
Indikatoren hält er nicht für stichhaltig. Durch Organisationsbildung sei es den Kirchen noch
bis in die 1960er Jahre gelungen, die Masse ihrer Gläubigen zu binden. (S. 32-56) Die
konfessionelle Aufspaltung der Kirchen im Gefolge der Reformation war nach Heinz
Schilling und Wolfgang Reinhard auch in sozial- und politikgeschichtlicher Hinsicht
folgenreich. Die territoriale Durchsetzung der jeweiligen Konfession war mit
Formalisierungs-, Zentralisierungs-, Bürokratisierungs- und Disziplinierungsprozessen
verbunden und beförderte die Etablierung moderner Staatlichkeit. Ziemann wendet ein, dass
eine enge Verquickung von Konfessionalisierung und Staatsbildung nur für das Heilige
Römische Reich plausibel ist, wo der Augsburger Religionsfrieden (1555) den Landesherren
das „ius reformandi“ zusprach. Visitationsberichte und Sendgerichte, die Hauptquellen der
Konfessionalisierungsforschung, sollten weniger auf die obrigkeitlich erwünschten
Normierungen als auf die tatsächlichen konfessionellen Verhaltensmuster der Gläubigen
untersucht werden. (S. 56-76) Schließlich fragt Ziemann an Hand des Verhältnisses von
Judentum und Protestantismus nach der Tauglichkeit des Assimilationsbegriffs. Zwar hätten
sich die Juden im 19. Jahrhundert protestantischen Wertvorstellungen angenähert. Dies sei
aber im Zuge der Verbürgerlichung (Simone Lässig) oder der Herausbildung einer „situativen
Ethnizität“ (Till van Rhaden) geschehen und nicht in Form eines Aufgehens in der
Mehrheitsgesellschaft. Insgesamt betrachtet hält Ziemann an der soziologisch geprägten
Begrifflichkeit des religiösen Wandels fest, kritisiert aber ihre Neigung zu teleologischen
Perspektiven und möchte sie für eine Betrachtungsweise „von unten“ öffnen. Zu Recht wahrt
der Autor Distanz gegenüber den modischen aber analytisch schwachen Begriffen aus der
Kulturanthropologie (Erfahrung, Mentalität, Diskurs), die nur Innenperspektiven spiegeln
können.
Religiöse Vergesellschaftung
Ziemann greift drei wichtige Prozesse religiöser Vergesellschaftung heraus: das Verhältnis
zwischen Klerus und Laien, Religion und Geschlecht (allerdings weitgehend reduziert auf die
These von der Feminisierung der Religion) sowie Medien religiöser Kommunikation seit der
Erfindung des Buchdrucks. Dagegen bleibt in diesem Kapitel die Dimension vertikaler
sozialer Ungleichheit weitgehend ausgespart. Standes-, klassen- und schichtspezifische
Frömmigkeitsformen und Einstellungen zur Religion kommen ebenso wenig vor wie die für
das 19. und 20. Jahrhundert so wichtige religiöse Milieubildung. In einem Buch, das den
Anspruch erhebt, Sozialgeschichte zu schreiben, ist das ein eklatanter Mangel, der durch den
Bedeutungsverlust der historischen Sozialstrukturanalyse in der Geschichtswissenschaft zu
erklären aber nicht zu entschuldigen ist.
Politische Religionen
In Anlehnung an Eric Voegelin und Emilio Gentile hat es sich eingebürgert, die totalitären
Regime des 20. Jahrhunderts (italienischer Faschismus, Drittes Reich, Sowjetunion unter
Stalin) als politische Religionen zu beschreiben. Mit Ausnahme der völkischen Bewegung
und der Deutschen Christen hält Ziemann das für „begrifflich verfehlt“ (S. 156). Die Regime
hätten religiöse Symbolik und Semantik in ihren Inszenierungen zur Massenmobilisierung
genutzt, aber keine religiösen Botschaften im engeren Sinne vermittelt. Ziemanns Kritik ist
insofern berechtigt, als hier ein extrem weiter und schwammiger Religionsbegriff verwendet
http://suite101.de/article/sozialgeschichte-der-religion-a142051
wird. Andererseits ist es den totalitären Regimen aber in der Tat gelungen, eine fatale
Heilserwartung zu generieren, die vor allem bei der Rechtfertigung exzessiver Gewalt eine
entscheidende Rolle spielte. („Erlösung durch Vernichtung“)
Fazit
Ziemann gelingt es in seiner Einführung, die wichtigsten Begriffe, Methoden, Fragestellungen
und Themen einer modernisierten Religionsgeschichte anschaulich vorzustellen, auch wenn
die inhaltliche Schwerpunktsetzung nicht immer nachvollziehbar ist. Die wichtigste Botschaft
des Buches ist, dass Religion nicht nur gesellschaftlichem Wandel unterliegt, sondern selbst
zu ihm beiträgt. Diese determinismusfreie Perspektive unterscheidet die Sozialgeschichte der
Religion von der Kirchengeschichte und der Religionssoziologie.
http://suite101.de/article/was-ist-sozialgeschichte-a7304
http://suite101.de/article/diktaturen-im-vergleich-a91835
„Religion [ist] wieder en vogue.“ (S. 7) Der vorzustellende Band zur „Sozialgeschichte der
Religion“ bedarf nicht vieler Worte, um für sich und sein Anliegen zu werben: Wie selten
zuvor werden religiöse Phänomene und Ereignisse selbst im weitgehend entkirchlichten
Westeuropa wahrgenommen und diskutiert. Neben diesen neuen Formen der „public religion“
aber wird ein weiterer Trend ebenfalls überdeutlich: Zumindest in dieser Weltreligion ist der
Verlust von Bindung an die traditionellen Formen von organisierter Religion unübersehbar
und scheint zudem unumkehrbar. Die feuilletonistische Formel von der „Wiederkehr der
Götter“, mit der die verstärkte öffentliche Präsenz der Religion beschrieben wird, kleistert so
die widersprüchlichen Phänomene eher mit einem einheitlichen Etikett zu, als dass sie diese
tatsächlich luzide beschreibt und analytisch erklärt. Klarer sähe man schon dann, wenn man
konsequent zwischen einem Sprechen aus dem Glauben heraus und einem Sprechen über
religiöse Gehalte und Praktiken unterschiede. Ein Teil dieses neuen Interesses an der Religion
ist deren breite wissenschaftliche Thematisierung. Was jahrzehntelang in mancher Disziplin
als wenig attraktives Thema galt, rückt nun seit geraumer Zeit wieder stärker in den Fokus –
eine Tendenz, die nicht zuletzt durch die Vielzahl von Forschungsverbünden illustriert wird,
die sich dieses Themas in allen möglichen Zugriffen annehmen.
Die dabei zu beobachtende methodische und konzeptionelle Pluralität ist sicher zu begrüßen,
gilt dem Autor aber auch als Grund zu der Befürchtung, dass „Religion wiederum […] nur als
ein abgeleitetes Phänomen behandelt wird, das andere Probleme erhellt, aber nicht in seiner
eigenen Wertigkeit als relevant erscheint.“(S. 8) Dem hält Benjamin Ziemann seine
Perspektive entgegen und wirbt für die Religion als „Thema einer erneuerten
Sozialgeschichte“. Diese profiliert er vor allem aus zwei Richtungen: Einerseits grenzt er sie
von einem theologisch-kirchenhistorischen Zugriff ab, welchen er durch eine
„heilsgeschichtliche Perspektive“, „konfessionelle Separierung“ und enge „methodische
Grenzen“ (S. 13-16) charakterisiert sieht. Dann verortet er seinen sozialgeschichtlichen
Ansatz in der um die Jahrtausendwende so heftig geführten Diskussion zwischen Vertretern
der klassischen Sozialgeschichte Bielefelder Provenienz einerseits und Anhängern einer
(neuen) Kulturgeschichte. Ziemanns Ansatz bleibt vermittelnd: „Sinn/Symbol“ ließe sich, so
eine von Ziemanns Schlussfolgerungen, den Strukturen nicht als Ableitung gegenüberstellen,
sondern bilde selbst eine „symbolbezogene Kommunikation“, die ihrerseits strukturbildend
wirke (S. 23). Auch in der Diskussion um den Beitrag der Begriffs- und der Kulturgeschichte
wie auch eines systemtheoretischen, vor allem an Luhmann orientierten Ansatzes beansprucht
er, die polemische Gegenüberstellung zu überwinden und einen pragmatischen Zugriff zu
http://suite101.de/article/sozialgeschichte-der-religion-a142051
Die Probe aufs Exempel der Hinführung des ersten Kapitels bieten die Kapitel zwei und drei,
in denen er luzide – in der Regel aber mit größerer Konzentration auf die Zeit bis
einschließlich des 19. Jahrhunderts als auf das nachfolgende Säkulum – zunächst drei
„Prozesse religiösen Wandels“ untersucht: die Säkularisierung als Funktionsveränderung von
Religion, wobei er einen weiten Bogen schlägt, Max Webers These von der „Entzauberung
der Welt“ ebenso luzide diskutiert wie die empirische Aussagekraft von Kirchenstatistiken
oder den Analysegewinn des Konzeptes funktionaler Differenzierung; mit der
Konfessionalisierung erwiesen sich die Religionen als wichtiger und aktiver Motor
gesellschaftlicher Transformation, dezidiert nicht als ein Moment, das mit zunehmender
Modernisierung einfach verdrängt worden wäre; die „Organisationsbildung“ von Religion, die
sich auf diese Weise als eine von den jeweiligen sozialen Vor-Ort-Bedingungen unabhängige
Größe mit meist schriftlich fixierten Erwartungen an die Mitgliederrollen institutionalisierte.
In ähnlich versierter Weise handelt der Autor in Kapitel drei „Dimensionen religiöser
Vergesellschaftung“ ab, wenn er Forschungsergebnisse zu Professionalisierungsprozessen im
Bereich der Religion, zu „Religion und Geschlecht“ wie auch zu „Medien religiöser
Kommunikation“ darstellt. Im letztgenannten Kapitel wäre aber eine stärkere Differenzierung
von Selbst- und Fremdbild der Religionsgemeinschaften angeraten gewesen: Insbesondere im
20. Jahrhundert waren die vielfältigen Kanäle öffentlicher Kommunikation nicht mehr nur
„Verbreitungsmedien“ für die Religionsgemeinschaften, wie es Ziemann anmerkt und mit
seiner Konzentration auf Billy Graham und ähnliche Phänomene nahe legt. Vielmehr
veränderten sich die etablierten Religionsgemeinschaften wegen des medial bedingten
gesellschaftlichen Wandels wie auch wegen des Bildes von Religion, welches von nicht-
konfessionsgebundenen Medien gezeichnet wurde.[1] Knapp fällt Ziemanns Skizze zur weit
verzweigten Diskussion um die „politischen Religionen“ und „Ersatzreligionen“ des 20.
Jahrhunderts aus. Aus seiner sozialgeschichtlichen Perspektive billigt er den Protagonisten
dieses Forschungsfeldes wenig analytische Substanz zu und verweist diese auf die erst
begonnene Analyse möglicher „Überschneidungen und Dissonanzen zwischen Luthertum und
Nationalsozialismus“ – ein Feld, das aber den Kern der Frage nach „politischer Religion“
wohl nicht mehr trifft.
Auch wenn der Band das im Untertitel angedeutete Vorhaben, „von der Reformation bis in
die Gegenwart“ zu reichen, nicht einlöst, sondern für das 20. Jahrhundert generell dünner
bleibt, gibt er wichtige Hinweise für eine weitere Ausrichtung der wissenschaftlichen
Erforschung von Religion: Dabei benennt er beispielsweise den Wandel von der Religion als
Moment der vormodernen „Anwesenheitsgesellschaft“ (Rudolf Schlögl) hin zu einem Modell,
das sich an Mitgliederrollen in der modernen Organisationsgesellschaft orientiert. Die in der
Frühneuzeit liegenden „Anfänge dieser Verschiebung hin zu einer neuen sozialen
Konfiguration des Religiösen sollten noch schärfer herausgearbeitet werden“(S. 159). Ebenso,
http://suite101.de/article/sozialgeschichte-der-religion-a142051
so könnte erweitert werden, ließen sich Chancen und Kosten des neuen, zwischen den Polen
Organisation und Interaktion oszillierenden Modells auch unter den Bedingungen der
Nachmoderne verfolgen. Besonders Erfolg versprechend ist auch die von Ziemann
angemahnte Analyse von „Umbauten im religiösen Code“, die als Spur zur Erforschung des
religiösen Angebots in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verfolgen wäre.
Das vorliegende Buch ist dezidiert als eine Einführungsdarstellung konzipiert. Diesen
Anspruch löst es durch seine klare Strukturierung und durch eine ebenso anschauliche wie
analytisch treffende Sprache in besonderer Weise ein. Es ist eine wertvolle Ergänzung zu den
gängigen Einführungen in die Religionssoziologie, da es viele der unter Soziologen
gehandelten Erklärungsmuster mit Blick auf historisch-empirische Forschungen abklopft und
in ein für Historikerinnen und Historiker anregendes Licht stellt