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Die "neue Kulturgeschichte"


Zwischen Innovation und mangelnder Selbstkritik
06.09.2009
Thomas Gräfe

Cover Tschopp/ Weber, Grundfragen - WBG

Rezension zu: Silvia Serena Tschopp/ Wolfgang E. J. Weber, Grundfragen der


Kulturgeschichte, Darmstadt 2007.

Die Kulturgeschichte gilt zurzeit als innovativste Teildisziplin der Geschichtswissenschaft.


Der Boom der neuen Kulturgeschichte seit den 1980er Jahren hat eine kaum noch
überschaubare Vielfalt an Methoden und Themen für die Forschung erschlossen. Wolfgang
Weber und Silvia S. Tschopp ist es gelungen, die amorphe Gestalt der Disziplin in einer
Einführung in die Kulturgeschichte zu bündeln.

Wie neu ist die Kulturgeschichte?

Nach einem knappen allgemeinen Überblick von Wolfgang Weber befasst sich Silvia S.
Tschopp mit den Forschungskontorversen innerhalb der Kulturgeschichte. In den Abschnitten
über Kulturbegriff, Methoden und Quellen wird vor allem die Vielfalt der Disziplin deutlich,
deren kleinster gemeinsamer Nenner allein in der Betonung autonomer Sinnstiftung
gegenüber struktureller Determiniertheit menschlicher Existenz gesehen werden kann. Leider
konzentriert sich die Autorin zu stark auf den wissenschaftlichen Diskurs der letzten 30 Jahre.
Tschopp befasst sich zwar auch mit älteren Traditionen der Kulturgeschichte seit der
Aufklärung, doch endet ihre Darstellung mit dem Lamprechtstreit und setzt erst wieder mit
dem Aufkommen der neuen Kulturgeschichte in den 1980er Jahren ein. Diese enorme
zeitliche Lücke macht es, erstens, unmöglich, nach Kontinuitäten zwischen alter und neuer
Kulturgeschichte zu fragen. Zweitens fallen die völkischen Blüten der Disziplin unter den
Tisch, die zwischen Erstem Weltkrieg und NS- Zeit üppig wucherten und es der
Kulturgeschichte später schwer machten, in der Bundesrepublik wieder Fuß zu fassen.
Außerdem muss sich Tschopp vorwerfen lassen, dass sie theoretisch- methodischen Fragen
ungleich größeres Gewicht einräumt als der Vorstellung konkreter kulturhistorischer
Forschungsergebnisse. So ist die Auseinandersetzung mit den provokanten Thesen Hayden
Whites zum poetischen Charakter der Geschichtsschreibung zwar sehr aufschlussreich, wirkt
aber in einem Kapitel über die Quellen der Kulturgeschichte deplaziert. Die Abschnitte über

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die diversen turns der Kulturgeschichte sind übertheoretisiert und eröffnen kaum Einblicke
in die historiographische Praxis.

Die neue Kulturgeschichte auf dem Weg zur Leitdisziplin?

Obwohl sie vereinzelt auch auf Defizite verweisen, sehen Weber und Tschopp die neue
Kulturgeschichte auf dem Weg zu einer Leitdisziplin der Geschichtswissenschaft. (S. 82) Es
fällt schwer, diesen Optimismus zu teilen. Manche Verdienste sind in der Tat unbestreitbar:
Erstens die Betonung der Geschichtsmächtigkeit des Irrationalen, die es beispielsweise
erlaubt, Mythen und Gefühle zu historisieren. Zweitens die Erkenntnis, dass Großgruppen wie
Rasse, Klasse, Nation und Geschlecht über Diskurse und soziale Praktiken aktiv konstruiert
werden und daher als sozialstatistische Größen oder gar anthropologische Konstanten
unzureichend beschrieben sind. Drittens hat die neue Kulturgeschichte der Geschichte neue
Nachbarwissenschaften wie Ethnologie, Anthropologie, Sprach- und Literaturwissenschaft
beschert, von deren hermeneutischen Kompetenzen Historiker profitieren können.

Andere vermeintliche Verdienste sind da schon fragwürdiger: Die Rede von der Überwindung
des Eurozentrismus mutet seltsam an, wenn man bedenkt, dass so etwas wie eine europäische
Geschichtsschreibung noch in den Anfängen steckt. Auch die geräuschvolle Zurückweisung
der Modernisierungstheorie kann kaum als Errungenschaft gelten. Sie ist bestenfalls auf den
Kopf gestellt worden, in Form kulturpessimistischer Aufklärungs- und Modernisierungskritik,
ganz so wie es schon die alte Kulturgeschichte zur Zeit des Fin de Siècle getan hat. Hierzu
gesellen sich vier grundsätzliche Kritikpunkte:

Kritikfähigkeit oder postmoderner Dogmatismus?

Allzu voreilig hält die neue Kulturgeschichte ihren Gegnern ökonomistischen oder
biologistischen Determinismus und Reduktionismus vor, während sie gegenüber ihren
eigenen Prämissen jegliche kritische Distanz vermissen lässt. Insbesondere der radikale
Konstruktivismus, der an Foucault geschulte Kulturpessimismus und die naive Idealisierung
vormoderner und nichtwestlicher Lebenswelten werden wie unantastbare Heiligtümer gehütet.
Das postmoderne Lebensgefühl der ersten Generation neuer Kulturhistoriker ist bereits selbst
wieder historisierungsbedürftig.

Akteurszentrierung oder Eigengesetzlichkeit von Diskursen und Praktiken?

Die neue Kulturgeschichte war in den 1980er Jahren angetreten, gegenüber der anonymen
Strukturgeschichte konkrete Menschen wieder in den Fokus historischer Forschung zu
bringen. Tschopps Einschätzung, dass sie diesem Anspruch gerecht geworden sei, kann man
nicht unwidersprochen stehen lassen. Bezeichnenderweise haben sich Alltags- und
Mentalitätsgeschichte innerhalb der Kulturgeschichte nicht durchgesetzt und sind mittlerweile
in die Sozialgeschichte zurückgewandert. Stattdessen wurde die Eigengesetzlichkeit
kultureller Zuschreibungsmechanismen in Text, Bild, Körper und Raum verabsolutiert, ohne
sie an sozialgeschichtliche hard facts und Intentionen historischer Akteure zurück zu
binden. Indem sie alles in Diskursen und symbolischen Praktiken auflöst, löst die neue
Kulturgeschichte auch den Menschen als handelndes Subjekt der Geschichte auf.

Kontroversität oder relativierender Pluralismus?

Die neue Kulturgeschichte rühmt sich ihres methodischen und thematischen Pluralismus.
Doch durch die Ablehnung strukturfunktionalistischer Erklärungsansätze und die Ersetzung
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der Frage nach dem warum durch die Frage nach dem wie hat sie die Kontroversität der
Geschichtswissenschaft eher stillgelegt als befördert.

Synthese oder Nischendasein?

Die Fähigkeit zur Synthese, die Leitbegriffe wie Politik und Gesellschaft in Ansätzen zu einer
histoire totale bereits unter Beweis stellen konnten, fehlt der neuen Kulturgeschichte .
Erstens liegt dies an der nicht überwundenen Ubiquität des Kulturbegriffs. Zweitens hat sich
die neue Kulturgeschichte um Themen und Teildisziplinen herausgebildet, die (teils zu
Recht, teils zu Unrecht) nach wie vor als exotisch gelten. Drittens fehlt der neuen
Kulturgeschichte durch ihre Selbstverpflichtung auf Konstruktivismus und
Dekonstruktivismus schlicht das methodische Handwerkszeug, historische
Meistererzählungen hervorzubringen.

Fazit

Neben diesen innerfachlichen Defiziten verfügt die neue Kulturgeschichte zudem nicht über
die thematische und methodische Stringenz, um die Funktionen einer Leitdisziplin so
konsequent ausfüllen zu können, wie es für lange Zeit die Politikgeschichte und für kürzere
Zeit die Sozialgeschichte getan haben. Es ist auch gar nicht wünschenswert, den durch die
neue Kulturgeschichte selbst erkämpften Forschungs- und Methodenpluralismus durch
Dogmatisierungen und Kanonisierungen wieder rückgängig zu machen.

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