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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . rr
5. Politische Herrschaftsmodi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . r 7 r
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
9
Vorwort
II
Die sechs Abschnitte können jeweils paarweise zusammengefaßt Kritik aufrollen soll, so wie sie unvermittelt nicht im Theorieraum
werden und bilden dann drei unterschiedliche Teile. Die beiden er- der Soziologie, sondern in der alltäglichen Realität auftritt. Zu-
sten Abschnitte behandeln die Frage des Verhältnisses von Soziolo- gleich soll dieser Rahmen aber auch das nötige Instrumentarium
gie und Sozialkritik. Sie sucht die Soziologie seit ihren Ursprün- zur Eindämmung der Spannung zwischen kritischer Soziologie
gen heim. Soll die nach dem Modell der (Natur-)Wissenschaften und Soziologie der Kritik liefern. Er verfolgt damit ein Ziel der Pa-
konstituierte, wesentlich deskriptiv ausgerichtete Soziologie in den zifizierung. Ausgangspunkt dieses Rahmens ist das Postulat (eine
Dienst einer Kritik der Gesellschaft gestellt werden, was voraus- Art geistiges Experiment), wonach der Aufbau des sozialen Lebens
setzt, letztere aus einer normativen Perspektive in den Blick zu neh- einer radikalen Ungewißheit hinsichtlich der Frage zu trotzen hat,
men - und wenn ja, wie muß die Soziologie dabei vorgehen, um wie es um das, was ist, bestellt ist. Im Mittelpunkt stehen hier die
Deskription und Kritik kompatibel zu machen? Führt die Ausrich- Institutionen, betrachtet zunächst in ihren semantischen Funktio-
tung an der Kritik zwangsläufig zu einer Beschädigung der Integri- nen als Instrumente zur Konstruktion der Realität vermittels von
tät der Soziologie und zur Abkehr von deren wissenschaftlichem Operationen der Qualifizierung von Wesen - Personen und Objek-
Projekt - oder ist vielmehr anzuerkennen, daß die kritische Aus- ten - und der Definition von Prüfungsformaten. Die Möglichkeit
richtung gleichsam den Endzweck oder einen der Endzwecke der der Kritik erwächst aus einem innerhalb der Institutionen selbst
Soziologie darstellt, die abgelöst von den Sorgen und Anliegen der sich stellenden Widerspruch - hier beschrieben als hermeneuti-
Personen, aus denen die Gesellschaft besteht, eine leere, sinnlose scher Widerspruch. Die Kritik gerät damit in ihrer dialogischen
Beschäftigung wäre? Derartige Fragen sind im Lauf der Geschich- Beziehung zu den Institutionen in den Blick, gegen die sie auftritt.
te der Soziologie immer wieder aufgetaucht und haben einen Rat- Sie kann sich bekunden, indem sie entweder aufzeigt, daß die Prü-
tenschwanz weiterer Gegensatzpaare wie etwa Tatsachen vs. Werte, fungen so, wie sie durchgeführt werden (das heißt als Fallbeispiele
Ideologie vs. Wissenschaft, Determinismus vs. Autonomie, Struktur oder, wie es in der analytischen Philosophie heißt, als token), nicht
vs. Handeln, Makro- vs. Mikroansätze, Erklären vs. Deuten bzw. mit ihrem Format (oder ihrem Typus) übereinstimmen, oder in-
Verstehen usw. mitgeschleift. dem sie in der Welt Beispiele und Fälle aufspießt, die mit der eta-
Nach einer raschen Darstellung der Begriffe, die zum Beschreiben blierten Realität nicht übereinstimmen und die damit die Realität
der Struktur der kritischen Theorien in den Sozialwissenschaften der Realität in Frage zu stellen und deren Konturen zu verändern
dienlich sind, im ersten Abschnitt (der als eine Art Einführung erlauben. Das begriffliche Gerüst dieser Analysen liefert die Unter-
gelesen werden kann), beschäftige ich mich im zweiten mit dem scheidung zwischen Realität und Welt.
Vergleich zweier Programme, zu denen ich zu verschiedenen Zeit- Die Abschnitte 5 und 6, die den dritten Teil bilden, sind direkter
punkten meines beruflich-akademischen Werdegangs einen Bei- auf aktuelle politische Probleme ausgerichtet. Abschnitt 5 stellt
trag zu liefern versucht habe: zum einen dem der kritischen Sozio- einige summarische, der Kennzeichnung unterschiedlicher Herr-
logie der 197oer Jahre, vor allem in der ihr in Frankreich durch schaftsmodi gewidmete Anwendungen des in den vorhergehenden
Pierre Bourdieu verliehenen Gestalt; zum anderen dem der prag- Abschnitten skizzierten Analyserahmens dar. Der Begriff der Herr-
matischen Soziologie der Kritik, das von einigen von uns innerhalb schaft - in dem Sinne, wie er im vorliegenden Abriß verwendet
der >Groupe de sociologie politique et morale< an der Ecole des wird- verweist auf historische Situationen, in denen die Arbeit der
hautes etudes en sciences sociales (EHESS) in den 1980-9oer Jah- Kritik sich je nach politischem Kontext und mehr oder minder of-
ren entwickelt wurde, und zwar in Opposition zum ersten Pro- fen oder verschleiert erheblichen Behinderungen ausgesetzt sieht. In
gramm und gleichzeitig mit dem Ziel, an dessen grundlegender diesem Abschnitt geht es insbesondere um einen - als management-
Intention festzuhalten. In diesem Abschnitt findet sich denn auch konform zu bestimmenden - Herrschaftsmodus, der im Begriff ist,
eine wechselseitige Kritik der beiden Programme unter dem leiten- sich in den westlichen demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften
den Gesichtspunkt ihres jeweiligen Beitrags zur Sozialkritik. festzusetzen. Absicht des Abschnitts 6 (als provisorischer Schluß les-
In den Abschnitten 3 und 4, lesbar als ein zweiter Teil, sind die Um- bar) ist es, einige der Wege anzudeuten, die die Kritik heute einschla-
risse eines Analyserahmens dargelegt, der aufs neue die Frage der gen könnte, um sich in Richtung Emanzipation zu orientieren.
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Abschließend sei ergänzt, daß die Frage der Kritik und die Proble- 1. Die Struktur der kritischen Theorien
me, die sich aus dem Verhältnis von Soziologie und Kritik ergeben,
denen ich seit langen Jahren einen Großteil meiner Arbeit gewid-
met habe, mich nicht nur aufgrund ihrer theoretischen Attraktivi- Macht oder Herrschaft.
tät gefangengenommen haben. Sie haben für mich und sicher all- Gesellschaft oder soziale Ordnung
gemeiner für die Soziologen meiner Generation, die in den Jahren
vor dem Mai 68 oder wenig später begonnen haben, sich mit die- Bei meinen Überlegungen zu den kritischen Soziologien gehe ich
sem Fach zu beschäftigen, nahezu biographischen Charakter. Wir vom Begriff der sozialen Herrschaft aus, einem polemischen Be-
sind durch Perioden hindurchgegangen, in denen die Gesellschaft griff insofern, als er eine Hauptachse der kritischen Theorien dar-
von machtvollen kritischen Bewegungen beherrscht war, dann wie- gestellt hat, zugleich aber von anderen soziologischen Strömungen
derum durch Perioden, die von ihrem Abebben markiert waren. häufig verworfen wurde, zumindest in dem Maße, wie der Termi-
Vielleicht stehen wir heute am Beginn einer Epoche, die deren nus »Herrschaft« nicht nur benutzt wird, um unterschiedliche For-
Rückkehr erleben wird. 2 Diese großgeschichtliche Entwicklung men der Indienstnahme von Macht zugunsten einer Politik gleich
muß sich zwangsläufig auch auf die kleine Geschichte der Soziolo- welcher Art zu bezeichnen - wie etwa Webers »Herrschaftsfor-
gie auswirken. men« -, sondern herangezogen wird, um Machtäußerungen zu
identifizieren und zu verurteilen, die als mißbräuchlich und über-
trieben erachtet werden. Wie im weiteren zu sehen sein wird, hat
ihn die kritische Soziologie ausgiebig in dieser Bedeutung verwen-
det, die pragmatische Soziologie der Kritik ihn dagegen schlicht
ignoriert. Erwarten Sie bitte keine begriffsgeschichtlichen Erläute-
rungen - dazu fehlt mir hier der Raum und zudem überstiege dies
leider auch meine Kompetenzen. Ich möchte mich nur auf diesen
problematischen Begriff stützen, um damit versuchsweise das Ver-
hältnis von Soziologie und Kritik zu klären und zu untersuchen,
inwieweit beide in Kompromißbildungen zusammenfinden könn-
2 Am Rande seiner mediävistischen Arbeiten hat der Historiker Jeröme Baschet der ten, die freilich nie ohne Spannungen sind.
zapatistischen Bewegung eine Schrift gewidmet (La rebellion zapatiste, Paris:
Ein erstes Merkmal der Herrschaftssoziologien beruht darin, daß
Flammarion 2002), in deren Einleitung er eine wenn nicht erwiesene, so doch ver-
führerische Periodeneinteilung vorschlägt, die durch Zyklen der Rebellion und sie ein synthetisches Objekt in dem Sinne prägen, daß es sich direk-
der Rückkehr zur Ordnung gekennzeichnet ist. Ihm zufolge ging ein im ersten ter Beobachtung entzieht und seine Offenlegung notwendig über
Drittel des 20. Jahrhunderts begonnener Zyklus sozialer Kämpfe um 1972 bis eine Rekonstruktion durch den Analysierenden erfolgt. Der Sozio-
1974 zu Ende (ein nach Baschet weitaus relevanterer Einschnitt als der häufiger logie sind einzig Machtverhältnisse beobachtbar. Für die Stan-
genannte von 1989 bis 1991). Darin bilden die 68er Bewegungen einen Höhe-
punkt, denen eine »Trendwende« folgt, geprägt durch ein »stärker das Kapital dardsoziologie geht der Bezug auf Macht mit der Identifizierung
begünstigendes Kräfteverhältnis« und einen Niedergang von Reflexion und kriti- von Asymmetrien einher, die allerdings unterschiedlich, partiell,
schem Handeln. Seit 1994 und vor allem 2000 setzt, so unser Autor, eine neue lokal und transitorisch sind. Unterschiedliche Quellen und Orte
Wende ein - mit dem Zapatismus als einer ihrer ersten Manifestationen-, mit der der Macht generieren ein Netzwerk, innerhalb dessen die Macht-
»kritisches Denken und Handeln« erneut einen Aufschwung erfahren (S. 15 ff.).
Ähnliche Gedanken, hier auf die Frage der sozialen Klassen, ihrer Formen und
formen sich verfangen, widersprechen und sogar wechselseitig
ihres Mobilisierungsgrads bezogen, finden sich bei dem Soziologen Louis Chau- neutralisieren können. Die Tatsache der Machtausübung oder der
vel (siehe namentlich Les classes moyennes a la derive, Paris: Seuil 2006): Einer Machtunterwerfung ist den Akteuren bzw. Handelnden durchaus
durch beträchtliche soziale Errungenschaften gekennzeichneten Periode großer bewußt, so wie die Machtverhältnisse einem Beobachter in der Re-
Konfliktintensität (zwischen 1890 und 1970) sei eine weniger konfliktträchtige
Periode gefolgt, die zu einem Verlust jener Errungenschaften geführt und neuen
gel wahrnehmbar sind. Macht kann somit leicht zum Gegenstand
Konfliktformen den Weg gewiesen habe. empirischer Soziologie werden, zum einen deshalb, weil die so-
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zialen Beziehungen von zumindest in bestimmten Situationen un- etwas zu tun, wie sie sich in einem hierarchischen Verhältnis durch
schwer beobachtbaren Machtverhältnissen durchdrungen sind, einen Befehl äußert, jenen Manövern oder, noch schwieriger durch-
zum anderen, weil die Machtverhältnisse vielfach vorgängigen schaubar, den in einer Umwelt verwurzelten sozialen Bedingungen
Formaten eingeschrieben sind, die in Form von Bräuchen Bestand gegenüber, die einen Akteur mit dazu bringen, etwas für einen an-
gewinnen oder ihren Niederschlag in Texten, etwa juristischen deren zu tun, als ob er es von sich aus und für sich selbst tun würde.
Schriften oder anderen Regelungen, finden. Wie Max Weber ge- Alles hat mithin den Anschein, als ob die Akteure die ihnen aufer-
zeigt hat, tendiert Macht zur eigenen Rationalisierung gleich wel- legte Herrschaft nicht nur ohne ihr Wissen erleiden, sondern zu-
cher Art insofern, als ihre Strukturen und ihre Ausübung zumin- weilen selbst zu ihrer Ausübung beitragen würden.
dest formell Erfordernissen der Recht(ertigung unterworfen sind, Die Theorien der Herrschaft sind dementsprechend auf ein Ob-
was ihnen eine gewisse Widerstandsfähigkeit verleiht. Denn unter jekt angewiesen, das gegenüber dem der hier der Kürze wegen
Verweis auf diese Erfordernisse können Inhaber von Macht diese als Standardsoziologien gekennzeichneten leicht verschoben ist.
als »legitim« reklamieren und damit jene, die sie in Frage stellen, Diese Verschiebung ergibt sich aus unterschiedlichen Formen der
zu einer weiteren Abstraktionsleistung, einer Verallgemeinerung, Totalisierung. In ihrer empirischen Variante kann die Soziologie un-
zwingen, nämlich die Grundsätze selbst, auf die jene Machtinha- terschiedliche Dimensionen des sozialen Lebens (und unterschied-
ber sich berufen; der Kritik zu unterwerfen. 1 Umgekehrt bedeutet liche Machtformen) beschreiben, ohne sie in den integrierenden
die Bezeichnung einer Macht als »arbiträr«, daß sie sich unmög- Blick einer kohärenten Totalität nehmen zu müssen; sie kann im
lich durch den Bezug auf ein vorgängiges Format bemessen läßt, Gegenteil sogar versuchen, die Besonderheit jeder Dimension her-
das ihrer Ausübung gewisse Konstanz verleiht, womit zugleich die vortreten zu lassen. Demgegenüber enthüllen die Herrschaftstheo-
Schwierigkeiten, ihr gegenüber vorhersagbare Erwartungen aus- rien die Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Dimensionen
zubilden, hervorgehoben werden, mit denen die ihr Unterworfe- und lassen sie als ein System sichtbar werden. Objekt der Sozio-
nen konfrontiert sind. Weil sie sich zugleich zur Geltung bringen logie sind Gesellschaften, gleichgültig wie sie identifiziert werden
und sich rechtfertigen muß, spricht Macht von Macht. (man könnte zeigen, daß es häufig auf Nationalstaaten hinaus-
Für Herrschaft gilt dies nicht. Die kritischen Theorien der Herr- läuft, wie es z.B. eindeutig bei Durkheim 3 der Fall ist); die Theorien
schaft postulieren das Vorhandensein tiefgreifender, dauerhaf- der Herrschaft konstruieren dagegen unter Rückgriff auf die so-
ter Asymmetrien, die zwar in 'unterschiedlichen Kontexten unter- ziologischen Beschreibungen eine andere Art Objekt - wir wollen
schiedliche Aspekte annehmen, sich aber zugleich fortwährend sie soziale Ordnungen nennen. Erst wenn dieses Objekt konstitu-
reduplizieren und am Ende die Realität in ihrer Gesamtheit koloni- iert ist, kann eine Herangehensweise an die kritisch als Totalität
sieren. Diese Theorien übernehmen die Perspektive der Totalität. 2 betrachtete Gesellschaft postuliert4 und ein Herrschaftsmodus in
Es gibt überall Beherrschte und Herrschende, seien letztere nun seiner Gesamtheit beschrieben werden - und erst dann können
identifiziert als herrschende Klasse, als herrschender Gender oder auch die dieser Ordnung immanenten Widersprüche identifiziert
auch als herrschende Ethnie. Das, worum es geht, ist nicht nur
3 Über die Art und Weise, wie die werdende Soziologie das Wort »Gesellschaft« in
nicht unmittelbar beobachtbar, sondern entzieht sich meistens
seiner Bedeutung veränderte, indem sie es Ende des 17.Jahrhunderts von seiner
auch noch dem Bewußtsein der Akteure. Herrschaft muß ver- alten Bedeutung (»die gute Gesellschaft«) ablöst und damit ein Kollektiv bezeich-
schleiert werden. Sie spricht nicht von sich selbst und versteckt sich net, von dem ohne Bezug auf die es bildenden Individuen gesprochen werden
in Dispositiven, deren sichtbare Machtformen lediglich die ober- kann, sowie dazu, wie sich zwischen diesen Kollektiven und den auf dem Territo-
rium eines Nationalstaates anzutreffenden Populationen eine stillschweigende
flächlichste Dimension darstellen. So steht etwa die Forderung,
Äquivalenz herstellt, vgl. Robert Nisbet, La tradition sociologique, Paris: PUF
1984 (1966), und Peter Wagner, Liberte et discipline. Les deux crises de la moder-
1 Vgl. Luc Boltanski und Laurent Thevenot, Über die Rechtfertigung. Eine Soziolo- nite, Paris: Metailie 1996 (1994).
gie der kritischen Urteilskraft. Aus dem Französischen von Andreas Pfeuffer, 4 Über die Genese dieser grundlegenden Position, insbesondere in der von Max
Hamburg: Hamburger Edition 2007. Horkheimer im Kern der Kritischen Theorie verankerten Form, vgl. Rolf Wig-
2 Vgl. Bruno Karsenti, »L'experience structurale«, Gradhiva, 2005, Nr. 2, S. 89- gershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politi-
107. sche Bedeutung, München: Hanser 1986, S. 202ff.
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werden, an denen die Kritik sich festmachen kann. Widersprüche bewesen befassen (weshalb die Sozialwissenschaften von den Wis-
unterscheiden sich vom Disparaten in der Tat nur innerhalb eines senschaften vom Menschen zu unterscheiden sind). Die unter die-
einheitlichen Rahmens. 5 Die Ersetzung der sozialen Beziehungen - sem Aspekt betrachteten Menschen begnügen sich nicht damit,
als angeblich aus der empirischen Beobachtung erwachsendes Ob- lediglich zu agieren oder auf die Handlungen der anderen zu rea-
jekt - durch die soziale Ordnung - ein erkennbar konstruiertes gieren, vielmehr denken sie über die eigenen Handlungen oder die
Objekt - macht Stärke und Schwäche der kritischen Herrschafts- der anderen nach und beurteilen sie, und zwar häufig nach gut und
theorien aus. Sind sie doch immer als illusorisch denunzierbar, das böse, mithin moralisch. Dieses reflexive Vermögen läßt sie auch
heißt als realitätsferne Beschreibungen, als bloßer Ausdruck einer auf Repräsentationen ihrer Eigenschaften oder Handlungen von
Realitätsverwerfung, die lediglich auf partikularen (und anfecht- seiten der anderen, einschließlich der Soziologie und der kritischen
baren) Gesichtspunkten oder auf dem Verlangen (und Ressenti- Theorien, reagieren.7
ment) derer beruhen, die jene Realität verurteilen. 6 Die von den Akteuren im Laufe ihrer Alltagsverrichtungen formu-
lierten moralischen Urteile sind häufig in die Form kritischer
Bewertungen gekleidet. Moralisches Handeln ist in erster Linie
Moral, Kritik und Reflexivität kritisches Handeln. Die den Erstsemestern gelehrte soziologische
Doxa (häufig unter Rückgriff auf eine vulgarisierte Variante der
Gegenüber den sogenannten Naturwissenschaften zeichnen die Weberschen Wissenschaftstheorie) besteht wesentlich darin, eine
Sozialwissenschaften sich spezifisch dadurch aus, daß sie sich mit strenge (wenn auch nicht immer klare) Unterscheidung vorzuneh-
Menschen nicht als biologischen, sondern als reflektierenden Le- men zwischen einerseits kritischen, auf »Moral« oder »Kultur«
gestützten Urteilen, die von sogenannten »gewöhnlichen«, von
5 Dieser globalisierenden Perspektive stellt sich in gewisser Weise die Foucaultsche Alltagspersonen geäußert werden und zu den legitimen Objekten
Methode der Analyse der Mikro-Mächte und ihrer Verästelungen entgegen. der deskriptiven Beschreibung gehören sollen, und zum anderen
Allerdings blieben letztere ohne die Totalisierungspotenzen, die im Begriff der
den (als »Werturteile« bezeichneten) kritischen Urteilen des Sozio-
Episteme stecken, verstreut und irrelevant.
6 Der kritische und systematische Charakter der Herrschaftstheorien und deren logen selbst, die ausgeschlossen sein sollen (Werturteilsfreiheit).
stiiridiger Anspruch, über die Ursachen der Unzufriedenheit der Akteure m~hr zu Diese Unterscheidung stützt sich auf Webers Trennung von Tatsa-
wissen als diese selbst, hat ihre Gegner vielfach dazu verleitet, sie mit einer Art chen und Werten. 8 Zu ihrer Beschreibung der der Kritik unterwor-
von Wahnsinn gleichzusetzen. Diese Analogie wurde insbesondere in bezug auf
eine Pathologie vorgeschlagen, deren Beschreibung übrigens etwa zeitgleich mit 7 Umgekehrt lassen sich sogenannte »natürliche« Objekte durch das Fehlen sol-
der Entwicklung der kritischen Theorien und, allgemeiner, der Sozialwissen- cher Reflexivität charakterisieren und insbesondre durch ihre Gleichgültigkeit
schaften einsetzte, nämlich der Paranoia. Explizit wurde dieser Vergleich von den gegenüber den Vorstellungen, die man sich von ihnen macht, und den Beschrei-
beiden Psychiatern vorgenommen, denen in Frankreich die ersten Beschreibun- bungen ihrer Seinsweisen durch Alltagsmenschen oder wissenschaftlich ermäch-
gen dieser nosologischen Kategorie zu verdanken sind: den Ärzten Serieux und tigte Experten. - Diese Vorstellungen und Beschreibungen können sich zwar -
Capgras. Sie vergleichen den »Paranoiker« mit einem »Soziologen«. Wie der Pa- insbesondere im Fall der Tiere - auf ihr Verhalten auswirken, aber doch nur auf
ranoiker überall ein Komplott wittert, so der kritische Soziologe überall Herr- indirekte Weise, insofern sie das Handeln der Menschen ihnen gegenüber verän-
schaft, sogar in den Fällen, wo die Akteure - also diejenigen, die er der Ausübung dern, was umgekehrt wieder dazu führen kann, daß sie ihr Verhalten verändern
von Herrschaft verdächtigt, wie diejenigen, die sie zu seinem Leidwesen erlei- (vgl. dazu Ian Hacking, Was heißt »soziale Konstruktion«? Zur Konjunktur einer
den - gar nichts Anormales bemerken. Wie unsere Ärzte schreiben, » besteht kein Kampfvokabel in den Wissenschaften. Aus dem Amerikanischen von Joachim
grundlegender Unterschied zwischen einem verbissenen Prozeßsüchtigen, die Wie- Schulte, Frankfurt am Main: Fischer 1999 ).
dergutmachung einer tatsächlichen oder angeblichen Rechtsverletzung zu erhal- 8 Uns liegt der Gedanke fern, diese Unterscheidung zu verwerfen, die heutigen tags
ten, und diesem oder jenem Sucher des Steins des Weisen [... ]oder diesem und häufig hochnäsig als »vereinfachend« abgetan wird, obwohl doch anerkannt
jenem träumenden Soziologen, der mit Inbrunst seine Theorien propagiert und werden muß, daß sie ein Moment (früher hätte man von »epistemologischem
sie in der Realität durchzusetzen sucht. [... ]Wo andere nur Zufall oder Koinzi- Einschnitt« gesprochen) anzeigt, hinter das die Sozialwissenschaften nicht zu-
denz sehen, vermag er dank seiner alles durchdringenden Klarsicht Wahrheit und rückfallen dürfen, sofern sie sich nicht aufgeben wollen - und dies auch dann,
die geheimen Beziehungen der Dinge zu entwirren« (Paul Serieux und Joseph wenn - wie im weiteren dargelegt werden soll - dieser Unterscheidung etwas
Capgras, »Delire de revendication«, in: Paul Bercherie (Hg.), Presentation des Unmögliches anhaftet. Was die - bereits endlos diskutierten - Fragen nach dem
classiques de la paranoi'a, Paris: Navarin-Seuil 1982, S. 100-105). eher nietzscheanischen oder eher neukantianischen Ursprung dieser Untersehei-
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fenen Realität stützen sich die kritischen Herrschaftstheorien not- paratistischen Forderung nach Gleichstellung aller vorhandenen
wendig auf die deskriptiven Sozialwissenschaften. Doch anders als moralischen Ideale in allen bekannten Gesellschaften widersprä-
die dem absoluten Neutralitätsgebot sich verpflichtenden sozio- che). Deshalb unterscheiden sich die kritischen Herrschaftstheo-
logischen Beschreibungen enthalten die kritischen Theorien kriti- rien eindeutig von jenen zahlreichen Denkbewegungen, die unter
sche Urteile über die soziale Ordnung, die der Analysierende in Rekurs auf moralische und/oder religiöse Forderungen radikale
eigener Verantwortung fällt, womit er den Anspruch auf Neutrali- Kritiken entworfen und ihren Anhängern einen totalen Wandel
tät aufgibt. ihrer Lebensweise abverlangt haben (so das Urchristentum, der
Manichäismus, die millenaristischen Sekten usw.).
Auf der anderen Seite sind die kritischen Herrschaftstheorien keine
Alltagskritik und metakritische Positionen am Himmel der Metaphysik hängenden abstrakten Instrumente.
Zu ihrer Selbstdefinition gehört auch das Vorhandensein einer
Ihre Anlehnung an den Wahrheitsdiskurs der Sozialwissenschaften konkreten Beziehung zu einem Ensemble von Personen (definiert
vermittelt den kritischen Herrschaftstheorien zwar eine gewisse als Publikum, Klasse, Gruppe, Gender usw.). Im Gegensatz zur
Solidität in der Beschreibung der hinterfragten Realität, erschwert »traditionellen Theorie« zielt die »kritische Theorie« 9 auf Reflexi-
aber auch das ihnen wesentliche kritische Vorgehen selbst und vität. Sie kann, ja muß- so Raymond Geuss - sich der Frustratio-
stellt sie vor ein Dilemma. nen der Akteure annehmen, sie explizit im Aufbau ihrer Theorie
Denn auf der einen Seite sind ihnen Urteile untersagt, die unmittel- derart berücksichtigen, daß deren Verhältnis zur sozialen Realität
bar auf jene von der Alltagskritik nur zu häufig verwendeten Hilfs- und damit diese soziale Realität selbst im Sinne von Emanzipation
mittel rekurrieren: die geistigen und/oder moralischen Ressourcen verändert wird. 10 Folgerichtig sollen durch die von jenen Theorien
mit lokalem Charakter. Die metakritischen Theorien können das ermöglichte Art Kritik in einem direkten Bezug zu den Sorgen und
bestehende Gemeinwesen [cite] weder dadurch beurteilen, daß sie Anliegen der Akteure, und das heißt auch zu den Alltagskritiken,
es mit dem Gottesstaat vergleichen, noch dadurch, daß sie auf ein Aspekte der Realität enthüllt werden können. Die kritischen Theo-
säkularisiertes, aber spezifisches moralisches Ideal zurückgreifen, rien speisen sich aus diesen Alltagskritiken, auch wenn sie sie an-
das der metakritische Theoretiker gleichsam naiv bei seiner Be- ders verarbeiten und reformulieren, wie sie auch zwangsläufig dar-
(und Ver- )urteilung der bestehenden Gesellschaft übernimmt, so auf zurückkommen müssen, da ihr Ziel darin besteht, die Realität
als handele es sich nicht um eine moralische Konzeption unter unannehmbar zu machen 11 und damit die von ihnen angesproche-
anderen, sondern um das moralische Ideal an sich (was der kom- nen Personen für Handlungen zu gewinnen, die die Realitätskon-
turen grundlegend verändern. Die Vorstellung einer nicht an der
Erfahrung eines Kollektivs angelehnten, gleichsam für sich, will
dung bei Max Weber anbelangt, so überlassen wir sie den Fachleuten für die heißen: für niemanden bestehenden kritischen Theorie ist haltlos.
Geschichte unserer Disziplin (eine gut dokumentierte Zusammenfassung dieser
Debatten finden sich im Artikel von Laurent Fleury, » Max Weber sur !es traces de
Kritische Theorien unterliegen durch diese doppelte Anforderung
Nietzsche?«, Revue fran~aise de sociologie, Bd. 46, 2005, Nr. 4, S. 807-839). strukturell einem starken Zwang. Sie müssen sich auf der einen
Nach Meinung des diesbezüglich leider mangelhaft informierten Autors des vor- Seite normative Ansatzpunkte vorgeben, die ausreichend autonom
liegenden Essays hat die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten ver- sind gegenüber jenen partikularen moralischen Corpora, die von
mutlich ihren Ursprung in Nietzsches Perspektivismus, der allerdings durch den
bereits identifizierten religiösen o~er politischen Ansätzen aus ge-
neukantianischen Rationalismus derart verfeinert wurde, daß die Soziologie
Anspruch auf einen Platz unter den Wissenschaften erheben konnte. Die schließ-
lich durchgesetzte - ehrlich gesagt, etwas gekünstelte - Lösung basiert bekannt- 9 Max Horkheimer, »Traditionelle und kritische Theorie«, in: Kritische Theorie.
lich auf der Unterscheidung von »Werturteil« und »Wertebeziehung«. Obwohl Eine Dokumentation, Frankfurt am Main: Fischer 1968, S. r37-r9r.
die »Zwecke« und »Werte« nicht wissenschaftlich zu begründen sind, kann die ro Raymond Geuss, The Idea of a Critical Theory. Habermas and the Frankfurt
Beweisführung, ist ein bestimmter Typ von Bezugswert einmal festgelegt, im School, Cambridge: Cambridge UP r98r.
Rahmen der übernommenen Perspektive mit den Methoden des Rationalismus r r Luc Boltanski, Rendre la realite inacceptable. A propos de » La production de
»objektiv« durchgeführt werden, um so »Tatsachen« herauszupräparieren. l'ideologie dominante«, Paris: Demopolis 2008.
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bildet, von Einzelgruppen als solche in Anschlag gebracht und zur oder minder tut (in bezug auf Marcuse in Zweifel und Einmi-
Munitionierung ihrer kritischen Stellungnahmen verwendet wer- schung), darin nichts weiter sehen als Hirngespinste entwurzelter
den. Ohne diese Distanzierung würden die Gegner der kritischen Intellektueller, die abgeschnitten sind von jenem Realitätssinn, den
Theorien (und selbst die ihnen zunächst Wohlgesinnten) sie un- die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft vermittelt, und die da-
weigerlich auf diese Positionen festlegen und deren lokalen, mit mit auch das Verlangen, sie handelnd zu verändern, aufgegeben
partikularen Interessen verbundenen Charakter brandmarken. Sie haben. 13
tauchten damit wieder ein in das Meer der mit den Beziehungen Das den Herrschaftstheorien inhärente kritische Urteil steht mit-
zwischen Gruppen einhergehenden Alltagskritiken, die die Textur hin in komplexer Beziehung zu den von den Personen im Alltagsle-
des alltäglichen politischen Lebens im weitesten Sinne des Wortes ben formulierten Urteilen: Es geht nie in ihnen auf, bringt ihnen
bilden. Auf der anderen Seite müssen sie auf diese Alltagskritiken jedoch eine mehr oder minder starke Aufmerksamkeit entgegen,
zugehen, so als würden sie ihnen selbst entspringen und sie gleich- die je nachdem von Ablehnung (die von den Akteuren geäußerten
sam selbst aufklären. Sie müssen die Akteure dazu bringen, wieder- Urteile entspringen vor allem moralischen Illusionen) bis zu par-
zuerkennen, was sie gewissermaßen bereits kennen, freilich ohne es tieller Berücksichtigung reichen kann (in diesen Alltagskritiken ist
zu wissen, um zu realisieren, woraus die Realität besteht, und kraft etwas angelegt, das den Weg zur Großen Kritik eröffnet). Die Un-
dieser Enthüllung Distanz zu beziehen gegenüber dieser Realität, terscheidung zwischen den aus eigener Erfahrung erwachsenden
so als wäre es möglich, sich ihr zu entziehen, aus ihr auszusteigen fragmentarischen Urteilen der Akteure und der systematischen
und die Möglichkeit von Aktionen zu ihrer Veränderung ins Auge Kritik einer bestehenden sozialen Ordnung aber wird auf jeden
zu fassen. Ist diese zweite Voraussetzung nicht erfüllt, können die Fall aufrechterhalten.
kritischen Theorien verworfen und in den Bereich der »Utopien« 12 Aus diesem Grund bezeichnen wir die kritischen Herrschaftstheo-
verwiesen werden, oder man kann, wie es Michael Walzer mehr rien als Metakritik. Ihre an der Kritik einer in ihrer Globalität ge-
faßten sozialen Ordnung ausgerichtete Position unterscheidet die
12 Angemerkt sei hier, daß die »Güter an sich« (nach einer Formulierung Nicolas
Metakritik von punktuellen kritischen Interventionen, die von ei-
Dodiers in Ler,;:ons politiques de l'epidemie de Sida, Paris: Editions de l'EHESS
2003, S. 19 ), auf denen das kritische Unternehmen gründet, nicht notwendiger- ner wissenschaftlichen Expertise ausgehend die eine oder andere
weise klar definiert werden müssen. Noch weniger müssen die g,enauen Umri,sse Dimension der sozialen Beziehungen mit dem Ziel ihrer Wieder-
der kommenden Gesellschaft entworfen werden, wenn diese Güter befriedigt herstellung oder Verbesserung in Frage stellen, ohne dabei denJhh-
wären. Genau darin unterscheiden sich kritische Theorien von rJtopien. Da
men zu problematisieren, der sie umfaßt. Zugleich sind die meta-
diese sich nur auf moralische Forderungen stützen, können sie sich vom Reali-
tätsprinzip lösen. Umgekehrt können die kritischen Theorien aufgrund der Tat- kritischen Positionen aber auch zu unterscheiden von den vielfälti-
sache, daß sie sich einerseits auf den von den Sozialwissenschaften übernomme- gen kritischen Stellungnahmen, wie gewöhnliche Personen sie im
nen Wahrheitsdiskurs, andererseits auf normative Orientierungen stützen müs- Verlauf politischer Aktionen und/oder Auseinandersetzungen im
sen - eine riskante Position, und gerade das ist interessant an ihnen -, die An-
Alltag äußern, das heißt der Anprangerung von Personen, Einrich-
sicht vertreten, daß die Realität nicht hinreichend Anhaltspunkte bereithält, um
präzise anzugeben, wie die einmal von den sie behindernden Entfremdungen schreiben, zugleich aber unmöglich ist, vorauszusagen, welche Werte sich aus
befreite Gesellschaft aussehen wird, noch um die der Kritik zugrundeliegenden dieser Revolution ergeben werden (siehe Bernard Yack, The Longing for Total
Güter klar zu identifizieren. Sie können sich so in Teilen der Rechtfertigung ent- Revolution. Philosophie Sources of Social Discontent from Rousseau to Marx
ziehen, zumindest in deren ethischen Dimensionen. In diesem Punkt kann man and Nietzsche, Princeton: Princeton UP 1986).
dem Werk Bernard Yacks über die Ursprünge des Begriffs »Entfremdung« fol- 13 Walzers Kapitel über Herbert Marcuse endet mit folgenden Worten: »Marcuse
gen. Bei ihrem Versuch, das Scheitern der Französischen Revolution zu verste- (wählte) die Gesellschaft frei, die er von innen kritisieren wollte. Aber im ameri-
hen und zu erklären, geht es den von ihm so genannten »Linkskantianern « kanischen Leben gab es zu viel, was ihn schaudern ließ. Er entschloß sich zu blei-
darum, herauszufinden, was jenseits politischer Bedingungen die Menschen in ben, hielt aber immer Abstand, und sein Werk legt erneut die Vermutung nahe,
einer Lage verwurzeln läßt, die es ihnen nicht erlaubt, zu vollkommenem Mensch- daß Distanz der Feind kritischer Durchdringung ist. In den Kämpfen des Intel-
sein zu gelangen. Sie kommen dabei zu der Überzeugung, daß der Zustand der lekts kann man, wie in jedem anderen Kampf, letztlich nur auf heimischem
Realität in einem Maße von den Bedingungen entfernt ist, die das völlige Eintre- Boden gewinnen« (Zweifel und Einmischung: Gesellschaftskritik im 20.Jahr-
ten der Humanität begünstigen, daß es von dieser Feststellung aus zwar legitim hundert. Aus dem Amerikanischen von Anita Ehlers und Hans-Horst Hen-
ist, sich der Kritik zu widmen und die »totale Revolution« auf ihre Fahnen zu schen, Frankfurt am Main: Fischer 1991, S. 259 f.).
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tungen oder Ereignissen, die unter Verweis auf besondere Situatio- die Rationalität der Organisationen zu erhöhen und deren Pro-
nen oder Kontexte als ungerecht gekennzeichnet werden. Spre- duktivität zu steigern, was die Soziologie zwangsläufig dem Man-
chen wir im Verlauf unserer Ausführungen von Kritik, beziehen agement unterwirft; zum zweiten die Kosten zu beschränken, in
wir uns genau auf diese sozial verwurzelten und kontextabhängi- diesem Fall die einer profitorientierten Unternehmenspolitik im
gen Formen der Kritik, behalten uns dagegen den Begriff der Meta- Wege stehenden sogenannten >Humankosten<. Im zweiten Fall soll
kritik zur Bezeichnung jener theoretischen Konstruktionen vor, die die Soziologie mithelfen bei der Einführung sogenannter »palliati-
auf Enthüllung von Unterdrückung, Ausbeutung und Herrschaft ver Behandlungsformen« (wie man es in der Medizin nennt), das
in ,ihren allgemeinsten Dimensionen und unterschiedlichsten Reali- heißt entweder Formen von »Sozialpolitik« entwerfen oder aber
sierungsweisen abzielen. Rechtfertigungen liefern für jene, die sie vor Ort praktisch umset-
zen, also die »Sozialarbeiter«, und damit deren MoraJ stärken.
Doch in dem einen wie dem anderen Fall können - besser wohl:
Einfache und komplexe Außenposition sollen - diese sich auf die Soziologie berufenden Expertenarbeiten
realisiert werden ohne Hinterfragung des allgemeinen Rahmens,
Den beiden hier idealtypisch umrissenen Verfahren - der soziolo- von dem die zu berücksichtigenden »Variablen« abhängen.
gischen Beschreibung der Gesellschaft und der Kritik einer sozia- Von der Expertise machen sich die Sozialwissenschaften dadurch
len Ordnung - ist der Anspruch gemeinsam, eine Außen-Position frei und definieren sich als solche, daß sie die Möglichkeit eines
einzunehmen. Es handelt sich aber nicht um dieselbe. Im Fall der Beschreibungsprojekts postulieren, das in Gestalt einer - vielfach
Beschreibung sprechen wir von einfacher, im Fall der sich auf me- auf vergleichende Verfahren sich berufenden und eine Außenposi-
takritische Theorien stützenden Werturteile von komplexer Außen- tion einnehmenden - allgemeinen Sozialanthropologie auftritt. Im
position. Fall der Ethnologie wie der Geschichte wird die Übernahme einer
Das Vorhaben, die Gesellschaft zum Objekt zu erheben und die Außenposition begünstigt durch die Distanz zwischen Beobachter
Komponenten des sozialen Lebens oder, wenn man will, seinen und Objekt, die in dem einen Fall geographisch, im anderen Fall
Rahmen zu beschreiben, rekurriert auf jenes Gedankenexperi- zeitlich ist. Da hier die Tendenz zur Außenposition gewissermaßen
ment, sich außerhalb des Rahmens zu stellen, um ihn als ganzen in vom Willen des Beobachters unabhängigen Zwängen entspringt,
Augenschein zu nehmen. Denn von innen läßt sich ein Rahmen konnte sie weitgehend unausgesprochen bleiben.
nicht erfassen. Von innen gesehen, verschwimmt der Rahmen mit Eine derartige Außenposition einzunehmen ist im Fall der Soziolo-
der Realität in ihrer gebieterischen Notwendigkeit. Diese Inge- gie, die sich auf ganz allgemeiner Ebene als Geschichte der Gegen-
nieurs-Perspektive nehmen nicht selten Soziologen ein, wenn sie wart begreifen läßt, mit der Konsequenz, daß der Beobachter selbst
sich in den Dienst des Leitungspersonals großer Organisationen Teil des zu Beschreibenden ist, alles andere als selbstverständlich.
(seien es Privatunternehmen oder Staatseinrichtungen) stellen und Daß diese Möglichkeit selbst problematisch ist, führt gleichsam
auf dessen Probleme und Fragen eingehen. Diese Position ist die dazu, daß das übergehen zur Außenperspektive sich seiner selbst
der Expertise. Dem Experten wird die Untersuchung der proble- bewußt wird. Dieses imaginäre Heraustreten aus dem Dickicht des
matischen Beziehungen zwischen Elementen (z.B. Anteil der Frau- Realen setzt in einer ersten Phase voraus, die Realität ihres Cha-
en im Arbeitsprozeß und Geburtenrate) abverlangt, die vorgängig rakters der stillschweigenden Notwendigkeit zu entkleiden und so
bereits in einer vom Leitungspersonal benutzten ökonomisch-ad- zu tun, als sei sie arbiträr (als könnte sie anders sein als sie ist oder
ministrativen deskriptiven Sprache formatiert sind. sogar überhaupt nicht sein), um sie dann, in einer zweiten Phase,
Der Großteil der heute weltweit sich zur Soziologie zählenden Pro- wieder mit der ihr zunächst abgesprochenen Notwendigkeit zu
dukte setzt sich aus derartigen Arbeiten zusammen, einer Nachfra- versehen, freilich einer, die durch jene Verschiebung einen reflexi-
geform entsprechend, die sich in den 3oer bis 4oer Jahren des letz- ven und globalen Charakter in dem Sinne gewonnen hat, daß die
ten Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entwickelt hat. Ihnen lokal identifizierten Formen von Notwendigkeit auf ein Univer-
sind zwei - im übrigen sich ergänzende - Ziele gesetzt: zum ersten sum von Möglichkeiten bezogen werden. In der Soziologie ist die
Möglichkeit einer Außenpositionierung gebunden an die Existenz aus, besitzt auch Herrschaft einen notwendigen Charakter. Eine
eines strukturierten Forschungszusammenhangs, also der Entwick- Ausbeutung, die sich nicht auf die eine oder andere Form von Herr-
lung und Umsetzung von Forschungsprotokollen und -anleitungen, schaft stützte, ist schwer vorstellbar. (Warum sollten sich Men-
deren strikte Befolgung den Soziologen zwingt, von den eigenen schen ausbeuten lassen, wenn sie nicht beherrscht wären?)
(bewußten wie unbewußten) Wünschen Abstand zu nehmen. Nur Hier muß dennoch hervorgehoben werden, daß der Begriff der
so können die deskriptiven Sozialwissenschaften den Anspruch Herrschaft nicht strikt ökonomisch orientiert ist, sondern gewis-
geltend machen, einen Wahrheitsdiskurs zu führen. Ergänzen wir: sermaßen semantisch. Er zielt auf das Feld der Bestimmung des-
Der mit einer Beschreibung, die gegenüber der deskriptiv erfaßten sen, was ist, das heißt auf jenes, in dem sich die Beziehung zwi-
Gesellschaft einen mehr oder minder exterritorialen Standpunkt schen dem herstellt, was, unter Rückgriff auf Wittgenstein, als
einnimmt, einhergehende Wahrheitsanspruch verleiht jedweder Symbol(armen und als Sachverhalte zu bezeichnen wäre. In einem
Form von Sozialwissenschaft (selbst, wenn auch in höchst einge- stärker juristisch orientierten Sprachgebrauch ließe sich auch
schränktem Maß, der Expertise) eine kritische Spitze. Denn läge sagen, die Kritik der Herrschaft betreffe die Einführung von Qua-
der substantielle Gehalt ihres Gegenstands stets allen offen vor lifizierungen, das heißt (wie später noch im einzelnen dargestellt)
Augen, hätten die Sozialwissenschaften schlicht keinen Daseins- jener Verfahren, die zugleich die Eigenschaften bzw. Merkmale der
grund. In diesem Sinne - so ließe sich sagen - ist die Soziologie Wesen festlegen und deren Wert. Gemeinhin stützt sich die Qualifi-
selbst schon in ihrer Konzeption zumindest potentiell kritisch. zierung auf Formate oder Typen, die häufig mit Deskriptionen
Im Fall der Herrschaftstheorien ist die die Kritik fundierende Au- und/oder Definitionen verbunden sind, die ihrerseits in vielfälti-
ßenposition insoweit als komplex zu bezeichnen, als sie auf zwei ger Gestalt gesammelt sind (etwa als Regelungen, Kodierungen,
unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist. Auf einer ersten hat sie Gebräuche, Rituale, Erzählungen, emblematische Beispiele usw.).
sich mit den nötigen Daten auszustatten, um sich ein konkretes Diese Formate verkörpern Klassifizierungen (insbesondere solche,
Bild von der der Kritik zu unterziehenden sozialen Ordnung zu mit denen sich Personen auf Gruppen oder Kategorien aufteilen
machen. Eine metakritische Theorie bedarf notwendig einer de- lassen) und verknüpfen sie mit Regeln, die den Zugang zu Gütern
skriptiven Soziologie oder Anthropologie als Stütze. Zugleich muß und deren Gebrauch zwingend festlegen. Damit spielen sie bei
sie sich aber auch, um Kritik sein zu können, jene Mittel vorgeben Ausbildung und Stabilisierung von Asymmetrien eine tragende
- was mehr oder minder explizit geschehen kann-, mit denen sie Rolle.
ein Werturteil über die deskriptiv erfaßte soziale Ordnung abzuge- Die metakritischen Herrschaftstheorien bringen diese Asymme-
ben vermag. trien unter einem besonderen Gesichtspunkt zur Sprache, nämlich
dem der Verkennung dieser Ausbeutung, deren Opfer die Akteure
sind, durch sie selbst, und vor allem einer Verkennung der sozialen
Die semantische Dimension einer Kritik der Herrschaft. Bedingungen, die diese Ausbeutung ermöglichen, und folglich
Herrschaft versus Ausbeutung auch der Mittel, anhand deren sie diese beenden könnten. Aus die-
sem Grund präsentieren sie sich auch gleichzeitig als Macht-, Aus-
Die metakritischen Herrschaftstheorien sind häufig an Theorien beutungs- und Erkenntnistheorien. Sie stoßen damit auf das
der Ausbeutung gekoppelt. Der Begriff Ausbeutung ist ökono- höchst heikle Problem der Beziehung zwischen der Erkenntnis der
misch orientiert: er verweist auf die Art und Weise, wie eine Min- sozialen Realität der reflexiv in der Praxis involvierten Alltagsak-
derheit aus - möglicherweise sehr unterschiedlich gearteten - Dif- teure und der Erkenntnis der sozialen Realität von einer Reflexivi-
ferenzen Profit zieht zuungunsten der Mehrheit. In den Herr- tät aus, die sich auf Formen und Instrumente der Totalisierung 14
schaftstheorien wird der Bezug auf Ausbeutung zur Pointierung
14 Zu den von der Soziologie verwendeten verschiedenen Formen von Totalisie-
dessen verwendet, wozu Herrschaft 4frtnt (als ob eine gleichsam
rung siehe Nicolas Dodier und Isabelle Baszanger, »Totalisation et alterite dans
reine, nur in sich begründete Herrschaft schwer denkbar wäre). l'enquete ethnographique«, Revue franfaise de sociologie, Bd. 38, 1997, Nr. r,
Auf der anderen Seite, das heißt von einer Kritik der Ausbeutung S.37-66.
stützt - ein Problem, das den Kern der Spannungen bildet, de- pologie zu schlagen (die unterschiedlich stark explizit gemacht
iieii die Möglichkeit einer Sozialwissenschaft abgerungen werden werden kann). Dabei wird die Fähigkeit der Menschen, in Gesell-
muß. schaft zu leben, gebunden an Eigenschaften und Kompetenzen, die
(je nach Anthropologie unterschiedlich spezifiziert) allen Menschen
Einige Beispiele für einen Kompromiß eigen sind: Rationalität; die Fähigkeit, Güter zu tauschen; die Fähig-
zwischen Soziologie und Sozialkritik keit, zu kommunizieren und sich dabei Erfordernissen der Relevanz
zu unterwerfen; die Einfühlung in das Leiden der Anderen; Aner-
Würden die soziologischen Traditionen, in denen in unterschied- kennung usw. Die Kritik wird hier darin bestehen aufzuzeigen, in-
lichem Ausmaß eine Dimension der Kritik zum Tragen kommt, wiefern die bestehende soziale Ordnung allen oder bestimmten Mit-
unter dem Aspekt der beiden erwähnten Zwänge neu gesichtet, gliedern nicht gestattet, die für ihr Menschsein konstitutiven Po-
dann ließen sich gewiß die zentralen Kompromisse ausmachen, die tentialitäten im vollen Umfang zu verwirklichen. Einen Großteil
eingegangen wurden, um das Erfordernis der deskriptiven Neutra- ihrer kritischen Kraft gewinnen diese Konstruktionen daraus, daß
lität (einfache Äußerlichkeit bzw. Außenposition) und die Suche sie auf ein allen gemeinsames Menschsein setzen und damit An-
nach Ansatzpunkten für Kritik (komplexe Äußerlichkeit bzw. Au- sprüche auf Gleichbehandlung aller Mitglieder einer Gesellschaft
ßenposition) zusammenzubringen. Da dies auf alle-theoretischen enthalten. Eine befriedigende Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne
Korpora zutrifft, die als solche dem Erfordernis einer - zumindest Rest, und die bestehende soziale Ordnung kann kritisiert werden,
relativen - inneren Kohärenz genügen müssen, auch wenn sie zu- insofern sie eine mehr oder weniger große Anzahl von Mitgliedern
gleich von einer strukturellen Spannung durchzogen sind, dürften ausschließt, unterdrückt, mißachtet usw. oder, einfacher, insofern
der denkbaren Möglichkeiten nicht unendlich viele sein. Ohne sie sie an der Verwirklichung dessen hindert, wozu sie als mensch-
Anspruch auf Vollständigkeit und höchst schematisch, nur in der liche Wesen imstande sind.
Absicht, diverse Arrangements sichtbar zu machen, zu denen die Allerdings ist eine solche Konstruktion mit zwei heiklen Problemen
Soziologie greift, um sich mit der Kritik zu verbinden, seien hier konfrontiert. Das erste besteht darin, daß entweder jeder Unter-
einige der Kompromißformen angeführt, die anscheinend am häu- schied kritisiert wird - was den Anschein mangelnden Realitäts be-
figsten entwickelt wurden und in denen sich mehrere der im fol~ wußtseins erwecken und damit nicht sehr überzeugend erscheinen
genden erwähnten Möglichkeiten vereinen. 15 mag - oder aber von einer übernommenen philosophischen An-
Ein erstes Ensemble von Möglichkeiten besteht darin, soziologi- thropologie aus die Unterscheidung zwischen akzeptablen und
schen und normativen Nutzen aus einer philosophischen Anthro- nicht-akzeptablen Unterschieden gerechtfertigt wird. Das zweite
Problem liegt darin, daß die die Kritik abstützende philosophische
r 5 Ich habe in diesem Abschnitt darauf verzichtet, diese Schemata mit Namen in Anthropologie ausreichend solide und allgemein sein muß, um Kri-
Verbindung zu bringen, wozu mich die hier eingenommene mehr oder min- tiken zu widerstehen, die sie auf eine spezifische moralische oder
der strukturalistische Optik ermächtigt. Denn im einzelnen anzugeben, wie die
religiöse Tradition zuzuschneiden suchen (wie im Fall des Vorwurfs
Kompromisse zwischen einfacher und komplexer Äußerlichkeit bzw. Außenpo-
sition jeweils von den Verfassern der großen Werke, die zu den Klassikern der des Ethnozentrismus), zugleich aber auch ausreichend präzise, um
Soziologie zählen, erstellt wurden, hätte mich gezwungen, entweder übertrie- in unterschiedlichen Formen geäußert zu werden und so die An-
ben schematisch und notgedrungen ungenau und ungerecht zu sein oder mich prangerung spezifischer sozialer Ordnungen zu ermöglichen. Hin-
auf endlose Analysen und Einzelheiten einzulassen, die diese kurze Passage zu zugefügt sei, daß diese Art normative Stütze entweder als zeitlos,
einem dicken Band hätte anschwellen lassen. Der Leser mag deshalb diese Seiten
ein wenig wie ein Kind lesen, dem es Spaß macht, Rätsel zu lösen, oder wie ein ahistorisch behandelt wird, oder aber als geschichtlich, was den
Erwachsener, der hinter den Figuren eines Schlüsselromans die wirklichen Per- Weg zu einem Evolutionismus oder einem Progressismus eröffnet,
sonen zu entziffern sucht. Um dem Leser bei diesem Spiel dennoch eine kleine aber auch den von den Sozialwissenschaften ausgehenden Legiti-
Hilfe an die Hand zu geben, seien hier einige der Eigennamen genannt, an die ich mationsdruck erhöht, insofern der Rückgriff auf eine Geschichts-
beim Schreiben gedacht habe: Habermas, Honneth, Durkheim, Dewey, Pareto,
Weber und natürlich eine Reihe von Autoren, die sich in unterschiedlichen Gra-
philosophie erforderlich wird, die mit den von den Historikern ge-
den auf den Marxismus berufen. lieferten Langzeitbeschreibungen kompatibel ist.
28 29
Ein weit~1:es Ensemble an Möglichkeiten, die auf der Ebene der Kri- Eine dritte Anwendungsart kritischer Verfahren, auf die die So-
tik zwar minder anspruchsvoll sind als die soeben genannten, aber ziologie zurückgreifen kann, ohne an den sich selbst als »Wissen-
den spezifischen Möglichkeiten der soziologischen Beschreibung schaft« auferlegten deskriptiven Ansprüchen Abstriche vorzuneh-
besser entsprechen, besteht darin, die normative Position, auf der men, besteht darin, sich der moralischen Erwartungen, die die Ak-
die Kritik einer bestimmten sozialen Ordnung beruht, der Beschrei- teure in ihrem Alltagshandeln zeigen, anzunehmen und sie normativ
bung dieser Ordnung selbst zu entnehmen und damit einer gleich- derart zu wenden, daß sie von einem bei den Akteuren existierenden
sam als transzendental gesetzten normativen Anthropologie gerin- moralischen Sinn zeugen. Im Gegensatz zu den Interpretationen
geres Gewicht beizulegen. Ein erster aus diesem Schema sich erge- des Handelns in wesentlich opportunistischen Begriffen ist letzte-
bender Modus könnte darin bestehen, auf die Differenz von offiziell rem eine hinreichende Permanenz und Robustheit zuschreib bar, so
und offiziös zu setzen. In diesem Fall wird man daran gehen zu zei- daß die Soziologie zu seiner Modellbildung schreiten kann. In die-
gen, daß das von dieser Ordnung beanspruchte Ideal den tatsächlich sem Fall wird die metakritische Orientierung erarbeitet durch das
erbrachten Leistungen und damit der wirklichen Lage aller oder ei- Sammeln und die Synthetisierung der von »den Personen selbst«
niger ihrer Mitglieder nicht entspricht. Hauptziel der Kritik wird im Verlauf ihrer Alltagsverrichtungen entwickelten Kritiken. Aus-
dann der Sachverhalt sein, daß die betreffende Ordnung faktisch gangspunkt sind insbesondere die Momente von Disput und Aus-
nicht konform ist mit den Werten, die sie sich im Prinzip gibt. einandersetzung, in denen die Akteure ihre moralischen Ansprü-
Ein zweiter Modus eröffnet den Weg einer Kritik des Rechts von che zum Ausdruck bringen, wie auch die kollektiven Interaktio-
einer Analyse des Zustands der Sitten und Gebräuche aus. Ein be- nen, in deren Verlauf jene Akteure sich auf Experimente einlassen
stimmter Zustand der sozialen Ordnung kann dann - in Durk- und unter Einsatz ihrer »praktischen Kreativität« das Soziale »per-
heims Worten- als »pathologisch« kritisiert werden, wenn den in formativ« verwandeln. Eine der Schwierigkeiten dieser Position ist
einer institutionalisierten (in modernen Gesellschaften meistens nun wiederum, eine Kritik zu entwickeln, die die Anschuldigung
»legalen«) Form gesetzten Regeln, deren Übertretung mit Strafe entkräften kann, nichts anderes zum Ausdruck zu bringen als den
geahndet wird, in den »dem Sozialen immanenten« Zwangsnor- besonderen Standpunkt der Einzelgruppe(n) von Akteuren, die
men, die als solche von den Akteuren anerkannt oder sogar ver- Objekt der Beobachtung waren. Deshalb wird sich diese metakriti-
innerlicht sind, nichts (mehr) entspricht. Diese kritische Position sche Position auch weniger auf eine substantielle denn eine pro-
gewinnt noch an Schlagkraft, wenn sie einen Kompromiß mit einer zedurale Normativität stützen. Ihr Hauptziel wird sein, Umrisse
historischen Perspektive eingehen kann und die Analyse den Auf- einer sozialen Ordnung zu entwerfen, in der unterschiedliche Stand-
weis erbringen will, daß das Recht unverändert geblieben ist, wäh- punkte geäußert, verglichen und mittels Experimenten verwirk-
rend die Sitten und Gebräuche sich gewandelt (oder entwickelt) licht werden können. Umgekehrt wird eine soziale Ordnung der
haben, so daß die Rechtsverhältnisse gegenüber dem Zustand der Kritik verfallen, in der solche Experimente durch den Einsatzauto-
Sitten und Gebräuche zurückbleiben. ritärer Macht behindert werden.
In diesen beiden ersten Modalitäten der internen Kritik ist der (mög- Den hier schematisch angedeuteten metakritischen Positionen ist
licherweise implizit bleibende) normative Ansatzpunkt eine trans- gemeinsam, daß sie moralische Urteile verkörpern, und dies unab-
parente und authentische Gesellschaft. Eine gute Gesellschaft ist hängig davon, ob ihnen eine Anthropologie zugrunde liegt oder sie
eine, in der alle und nicht zuletzt die politischen Eliten an der aus der kritisierten sozialen Ordnung hervorgegangen sind. Es gibt
Macht dazu beitragen, die offiziell in Anspruch genommenen - jedoch noch einen weiteren zur Kritik führenden Weg: Dieser blen-
und namentlich die rechtlich fixierten - Ideale wirksam umzuset- det die moralischen Bezüge aus (oder gibt dies wenigstens vor) und
zen, und/oder in der die rechtlichen Normen, auf die sich die staat- baut wesentlich auf die Aufdeckung immanenter Widersprüche,
lichen Sanktionen stützen, auf legaler Ebene das »kollektive Be- sei es einer bestimmten sozialen Ordnung, sei es eines umfassende-
wußtsein« und damit die moralischen Normen widerspiegeln, die ren Komplexes sozialer Ordnungen. In diesem Fall steht der Sozio-
innerhalb der sozialen Ordnung von allen Mitgliedern - oder de- loge nicht für die Kritik ein, wie es der Alltagsmensch tut, wenn
ren Mehrheit - anerkannt werden. er den Zustand der Realität von Werten aus beurteilt. Die Kritik
30 3r
erwächst aus der Feststellung (oder der Vorhersage), wonach die dun&en aufzuklären und/oder als »unverantwortlich« eil}geschätzte
betreffende Ordnung keinen Bestand haben wird, da sie in sich politische Entscheidungen zu kritisieren, unverantwortlich aller-
selbst nicht über die notwendigen Mittel verfügt, diese Widersprü- dings nur in dem Sinne, als diejenigen, die diese Entscheidungen
che zu lösen, was mehr oder weniger eine historische Perspektive getroffen haben, sich deren Folgen nicht klar vor Augen führen
voraussetzt. wollten und folglich unredlich gehandelt haben.
Um diese Möglichkeit voll auszuschöpfen, muß die Beschreibung Eine zweite, radikalere Option verknüpft die Soziologie mit der
und historisch-soziologische Analyse der fraglichen Fälle so weit Aufrechterhaltung der Ordnung. Der Soziologe macht es sich in
vorangetrieben werden, daß jene Widersprüche identifiziert, ihre diesem Fall zur Aufgabe, die politischen Handlungen und Einstel-
Entstehung nachvollzogen, ihre weitere Entwicklung aufgeklärt lungen zu kritisieren, die die Ordnung schwächen, die Autorität
und vor allem ihre Verbindung mit den Konflikten dargelegt wer- untergraben und die Werte verschwimmen lassen, die den Mitglie-
den kann, die zwischen Gruppen oder Klassen vorliegen, in de- dern als moralische (usw.) »Bezugspunkte« dienen, was dazu füh-
nen diese Widersprüche verkörpert sind. Einer der gemeinsamen ren kann, daß die Soziologie in den Dienst der Verstärkung der
Punkte der Konstruktionen, die auf einer derartigen metakriti- Staatsautorität, das heißt in den Dienst eines autoritären Staats
schen Position beruhen, liegt nämlich in der Zurückweisung der gestellt wird - und dies unter Aspekten, die, mögen sie auch eher
Vorstellung eines gemeinsamen Guts oder selbst der eines Raums, nach »rechts« als nach »links« tendieren, durchaus als »kritische«
in dem gegensätzliche Standpunkte artikuliert werden können; bezeichnefwerden sollten.
statt dessen herrscht hier die Vorstellung von Kampf, Macht, Herr- Bei den zahlreichen kritischen Soziologen, die sich in unterschied-
schaft und divergierenden Kräfteverhältnissen zwischen antagoni- lichem Maße auf die marxistische Tradition berufen, dürften die
stischen Gruppen. Auf dieser Grundlage können sich verschiedene Fragen von Wahrheit, Macht und Ausbeutung am deutlichsten in
kritische Orientierungen ausbilden, die sich danach unterscheiden, ihrem Zusammenhang zur Sprache kommen. Dieser Zusammen-
ob jene Kämpfe vor allem negativ betrachtet werden, insofern sie hang wird mit einem zentralen Widerspruch verknüpft, der Tren-
die Zerstörung nicht nur einer bestimmten, sondern jeder sozialen nung zwischen rein »geistiger« Tätigkeit und praktisch-produkti-
Ordnung nach sich ziehen, oder positiv, insofern sie die Entstehung ver Aktivität. Diese Trennung nun wird in ein Kausalverhältnis
neuer Möglichkeiten und die dialektische Aufhebung der Wider- gesetzt zur Ausbildung von sozialen Klassen, das heißt zur Ent-
sprüche, deren Erscheinungsform sie sind, ermöglichen. wicklung der Ausbeutung und der übermäßigen Inanspruchnah-
Im ersten Fall werden diese Widersprüche und Antagonismen mit me der Macht durch bestimmte Gruppen (die herrschenden Klas-
Werte- (oder/und Interessen- )Konflikten in Zusammenhang ge- sen) zuungunsten anderer Gruppen (der beherrschten Klassen).
bracht, die ihrem Wesen nach als im allgemeinen unlösbar gelten, Auf dex_J;_bene einer Soziologie der Erkenntnis ermöglichen es diese
sei es, weil es angeblich keinen höherstehenden Wert gibt, dem sie kritischen Positionen, den Vorrang anzuprangern, der rein theore-
sich unterordnen lassen, sei es, weil keine historische Dialektik in tisch entwickelten Spekulationen- »ideologischen« in dem Sinne,
Betracht gezogen wird. Möglichkeiten eines Kompromisses zwi- als sie von herrschenden Interessen aus über die Realität sprechen -
schen Soziologie und Kritik sind unter diesen Umständen sehr be- gegenüber solchen Weisen des Zugangs zur Erkenntnis eingeräumt
grenzt und verteilen sich wesentlich auf zwei Optionen. Bei der wird, die angeblich auf den Grund der Dinge vorstoßen, weil sie
einen wird auf die Diskrepanz zwischen soziologischer Analyse unmittelbar aus der Praxis in ihren produktiven Dimensionen er-
und politischem Handeln abgehoben und auf ihre nicht nur unter- wachsen.
schiedlichen, sondern weitgehend inkompatiblen inneren Logiken. Gegenüber den Soziologien, die-häufig in der Tradition von Hob-
Als »Wissenschaftler« will der Soziologe den Sinn erfassen, den die bes - Kampf und Widerspruch in den Vordergrund rücken, zeich-
Akteure dem Geschehen geben, und wahrscheinliche Kausalketten nen sich auf Emanzipation ausgerichtete kritische Soziologien
nachzeichnen; als Mann der Tat trifft der »Politiker« Entscheidun- dadurch aus, daß sie zwei Arten soziologischer Beschreibung mit-
gen. Der Soziologe kann nichts weiter tun als den Politiker über die einander kompatibel zu machen suchen. Die erste entschleiert die
wahrscheinlichen Folgen der verschiedenen möglichen Entschei- gesellschaftlichen Kräfte und Instanzen der Ausbeutung und Herr-
33
schaft und stellen damit die Gewalt ins Zentrum des gesellschaft- stands von Kräfteverhältnissen erheblich unterscheidet, und rich-
lichen Lebens. Aber dies reicht für die Entwicklung einer metakri- tet die Analyse stärker an Soziologien des Handelns aus, die die
tischen Position nicht aus. Denn zwar gehört es zum Wesen einer Intentionalität der Akteure berücksichtigen und deren Fähigkeit,
jeden Gesellschaft, Gewalt und Herrschaft auszulösen, doch diese ihre wahren Interessen und Wünsche zu realisieren (im doppelten
von der wissenschaftlichen Soziologie ans Licht gebrachte Tatsa- Wortsinn von erkennen und verwirklichen), neue Interpretationen
che allein gibt noch keinen praktischen Ansatzpunkt für eine radi- der Realität zu entwickeln und sie in den Dienst einer kritischen
kale Kritik. Der Beseitigung einer sozialen Ordnung, in der Herr- Tätigkeit zu stellen. Die Verknüpfung dieser beiden Arten soziolo-
schaft ausgeübt wird, wird zwangsläufig der Aufbau einer anderen gischer Beschreibung ist alles andere als unproblematisch, und dies
sozialen Ordnung folgen, in der es andere, aber nicht weniger aus Gründen, die in der Folge noch erhellt werden sollen.
Herrschaftskräfte geben wird. Soll Kritik möglich sein, muß_,s:l.Jese
erste (pessimistische) Beschreibung mit einer zweiten (optimi?ti-
schen) verbunden sein, die, unter Rückgriff auf geschichtlich ge- Die Verschränkung von Soziologie und Kritik
wachsene Formen des Befreiungsprojekts der Aufklärung, die Ab-
folge der soziaien Ordnungen auf die Emanzipation hin ausrichtet, Die vorangegangenen Seiten deuteten bereits an, daß die Unter-
was den Rekurs nicht nur auf eine Geschichtsphilosophie, sondern scheidung zwischen meta-kritischer und soziologischer Orientie-
mehr oder weniger auch auf eine philosophische Anthropologie rung analytischer Natur ist. In der Praxis der Soziologen über-
voraussetzt, die der Idee von Befreiung einen Inhalt gibt. schneiden sich die beiden Projekte fortwährend. Diese Unterschei-
Die Spannung zwischen diesen beiden Arten soziologischer Be- dung hat unseres Erachtens nach aber doch den Vorteil, eine der
schreibung bildet bekanntermaßen ein besonderes Problem, mit zentralen Spannungen in den Blick zu rücken, die der Tätigkeit der
dem jene auf die Tradition der Arbeiterbewegung sich berufenden Soziologen und vielleicht aller Sozialwissenschaftler innewohnen.
Konstruktionen konfrontiert sind. Denn die Beschreibung in Be- Diese Spannung kann mehr oder minder manifest sein. Am sicht-
griffen von Kräften und Kräfteverhältnissen muß sich der der posi- barsten ist sie im Fall jener Soziologien, die am radikalsten das Ziel
tivistischen Wissenschaft entlehnten Terminologie kausaler Abhän- der Kritik zu dem ihren machen: der kritischen Soziologien. Doch
gigkeitsverhältnisse bedienen und entsprechend auf die Stärke der selbst in Soziologien, die ihre kritische Dimension nicht in den Vor-
Unterdrückungsmechanismen und darauf abheben, wie die Unter- dergrund rücken, ist diese Spannung stets vorhanden, zumindest
- drückten sie immer schon vorfinden und wie sie sie passiv erleiden; gewissermaßen latent. Sie dürfte sich nicht eindrücklicher äußern
oder auch, um ihre Entfremdung zu erklären, auf die Tatsache, daß als in dem gleichermaßen lobenswerten - weil wirklichem Streben
sie so weit gehen, sich die (sogenannten) Werte, vermittels deren nach Wissenschaftlichkeit entsprechenden - wie pathetischen - weil
sie unterdrückt werden, in Gestalt von Ideologien anzueignen und zwangsläufig zum Scheitern verurteilten - Versuch, zu den soge-
zu verinnerlichen. Demgegenüber muß die Beschreibung im Sinne nannten positiven Wissenschaften aufzuschließen, und zwar zu
einer fortschrittlichen Entwicklung hin zu Emanzipation - einer dem, was an ihnen am kontingentesten und anfechtbarsten ist. Ich
Entwicklung, die nicht auf linearer und unabwendbarer Evolution denke hier weniger an die notwendige Genauigkeit bei den Beob-
beruht, sondern auf dem Handeln revoltierender, aber mit Ver- achtungen als namentlich an die äußeren Merkmale, die ihre dis-
nunft und Gründen ausgestatteter Menschen- auf die Autonomie kursive Aufbereitung begleiten: die Häufung äußerlicher Zeichen
der Menschenwesen setzen, die unter bestimmten historischen Be- unpersönlichen Schreibens (das »wir« oder das »man« an Stelle des
dingungen in der Lage sind, sich ihrer Entfremdung bewußt zu »ich«); die Flut an Bezugnahmen auf weitere unbekannte Forscher,
werden und sich gegen die sie beherrschenden Kräfte aufzulehnen. über die man ansonsten nichts weiter wissen will und deren ver-
Diese zweite Beweisführung, die zur Konstruktion einer metakriti- streute Forschungsarbeiten nur durch einen Namen identifiziert
schen Position notwendig ist, ist zwar mit einer soziologischen Be- werden, samt Erscheinungsdatum und Seitenzahl, wenn man sich
schreibung durchaus nicht unvereinbar, erfordert aber den Einsatz besonders präzise geben will, das Ganze eingeschmolzen in die
von Mitteln, die sich von denen der bloßen Beschreibung des Zu- Grabstele der Parenthese; bisweilen auch die Manie der Quantifi-
34 35
zierung, sichtbar werdend an der ostentativen Häufung von Zif- wenn sie sie rechtfertigen müssen. Die Soziologie wäre eine selt-
fern und Tabellen; oder auch die »spitzfindigen« Kontroversen, die same Tätigkeit, untersagte sie sich aus falsch verstandener Scham
sich am letzten, vorgeblich den Unterschied ums Ganze ausmachen- oder Animosität eine Praxis, die in einem solchen Ausmaß zur Be-
den Argument polarisieren, was erspart, die häufig im dunkeln stimmung ihres Objekts beiträgt. Je mehr sie die soziale Welt auf
belassenen gemeinsamen Prämissen zu hinterfragen, usw. Kurz- Distanz hielte, gleichsam um sie von außen zu beherrschen, desto
um, alle diese Manover, dazu bestimmt, den Diskurs in das organi- sicherer brächte sie selbst sich um ihr soziales Fundament.
sche Gewebe eines Korpus (die »scientific community«) oder in ein
»weltweit« verzweigtes Netzwerk einzuführen, so als genüge die
Zerstörung des Werks zugunsten eines aus der Summierung einer
Vielzahl partieller Interventionen erwachsenden Automaten, um
die Gefahr des Parteilichen zu bannen, das heißt das Phantom der
Kritik zu vertreiben.
Dabei genügt ein prüfender Blick auf die Geschichte unserer Dis-
ziplinen, um zu erkennen, daß die metakritischen Theorien sich
gleichzeitig mit den deskriptiven Sozialwissenschaften entwickeln,
auf deren Beiträge jene zurückgreifen, und daß diese beiden Arten
von Projekten bei aller partiellen Unvereinbarkeit doch eng mit-
einander verbunden sind. Dies heißt aber auch, daß die metakri-
tischen Theorien die Möglichkeit einer einfachen Außenposition
anerkennen müssen. Wie es denn auch fraglich ist, ob sie so einfach
auf jeden Anspruch auf Unparteilichkeit verzichten können - wie
zuweilen Intellektuelle zu glauben scheinen, die sich Hals über
Kopf in politische Kämpfe stürzen wollen. Es bleibt bestehen, daß
die Abhängigkeit der Kritik von der Soziologie mit der Abhängig-
keit der Soziologie von der Kritik korreliert. Denn die soziologi-
schen Beschreibungen sind bereits konzeptionell auf jenen Ge-
brauch ausgerichtet, den die metakritischen Theorien von ihnen
machen. In diesem Gebrauch liegt weitgehend auch ihre haupt-
sächliche Rechtfertigung. Wer interessierte sich schon für eine um
sich selbst kreisende »l'art pour l'art«-Soziologie, die, sich in im-
mer ausgefeilteren, kleinmustrigeren Beschreibungen erschöpfend,
keinen anderen Zweck als den der eigenen Vervollkommnung als
Wissensdisziplin im Auge hätte? Und selbst angenommen, Gegen-
stand dieser Disziplin wäre lediglich die Art und Weise, in der die
Menschen kraft ihrer reflexiven Tätigkeit Kollektive bilden und
auflösen: worin bestünde denn dann eigentlich der Inhalt dieses
»Wissens«? Die Prozesse, vermittels deren die Akteure des sozialen
Lebens die Ensembles, deren Teil sie selbst sind, konstituieren, auf
Dauer stellen und/oder unterminieren, sind weitgehend selbst mit
der Möglichkeit der Kritik verbunden, nicht nur dann, wenn sie
die bestehenden Ordnungen in Frage stellen, sondern auch dann,
37
Kritische Soziologie und
2. allem der doppelte Beitrag von Max Weber und Marx, auf den
pragmatische Soziologie der Kritik zurückgegriffen wurde. Nicht verwunderlich also, daß man im
Werk Pierre Bourdieus auf das Spannungsverhältnis trifft zwischen
einem Ansatz, in dem einerseits die Faktenbeschreibung und Ana-
Ich möchte nun mittels des gerade skizzierten Schemas prüfen, auf lyse der in den verschiedenen Gesellschaften beobachtbaren Mo-
welche Weise sich soziologische Beschreibung und Sozialkritik im dalitäten der Herrschaft (die »Herrschaftsweisen«) im Zentrum
Rahmen der beiden anfangs erwähnten Programme, der kritischen steht, und andererseits einer Hinterfragung der Herrschaft, die im
Soziologie und der pragmatischen Soziologie der Kritik, verknüpft Geist der marxistisch inspirierten Strömungen auf Emanzipation
haben. zielt. Doch anders als in den meisten sich auf den Marxismus beru-
fenden Strömungen fußt das emanzipatorische Unternehmen bei
Die kritische Soziologie Pierre Bourdieu (möglicherweise unter dem Einfluß von Durkheim)
wesentlich auf der Praxis der Soziologie selber. In diesem Fall ist
Die zweite Hälfte der 196oer und die 197oer Jahre in Frankreich die Soziologie also zugleich Instrument zur Beschreibung der Herr-
waren gekennzeichnet durch die Entwicklung verschiedener, häu- schaft und Instrument zur Emanzipation von Herrschaft.
fig marxistisch inspirierter kritischer Strömungen und nicht zu- Die Übernahme dieser doppelten Ausrichtung läßt die Spannung
letzt durch Bewegungen, die sich auf das Erbe der Frankfurter innerhalb des Projekts einer kritischen Soziologie besonders scharf
Schule beriefen. In diesem Kontext bestand die Originalität der hervortreten. Denn sie betrifft unmittelbar die Verklammerung ei-
von Pierre Bourdieu und seinem Team umgesetzten kritischen So- ner Soziologie, die zwar zahlreiche Elemente der Phänomenologie
ziologie der Herrschaft darin, sich von den vor allem philosophi- und der intersubjektiven Ansätze in sich aufgenommen hat, sich
schen Ansätzen abzukoppeln und sich einer als »Metier« oder zugleich aber doch weitgehend selbst definiert unter Bezug auf
»Handwerk« verstandenen soziologischen Praxis zu verschreiben, Objektivitäts- und Wertfreiheitsansprüche, mit Sozialkritik. Die
die konzeptuelle Neuschöpfung und empirische Feldforschung Frage ist, worauf diese sich begründen kann. Da sie sich ebenso
aufs engste verknüpfte. 1 Die kritische Soziologie Pierre Bourdieus weigert, ihre Position durch Moral oder Werte zu begründen (dies
dürfte den bislang waghalsigsten Versuch darstellen, in ein und als Moralismus anprangert) wie durch einen Quasi-Evolutionis-
derselben theoretischen Konstruktion die die soziologische Praxis mus, der die Entwicklung der auf Demokratie sich berufenden
anleitenden rigiden Anforderungen und radikal kritische Positio- kapitalistischen Nationalstaaten zu einem Ideal erhebt, zu dem das
nen zu vereinen. So finden sich denn auch in diesem Werk die mei- Ende der Geschichte sich zwangsläufig hinbewegt (wie bei be-
sten der durch die Verknüpfung von Soziologie und Kritik aufge- stimmten auf Talcott Parsons 2 oder Seymor Martin Lipset sich
worfenen Probleme. berufenden Strömungen, die Bourdieu schonungslos kritisierte),
Der ursprünglich von Pierre Bourdieu entworfene Rahmen zur In- aber auch nicht auf eine Geschichtsphilosophie marxistischer Pro-
tegration von Soziologie und Kritik versteht sich in der Kontinui- venienz (die Abfolge von Produktionsweisen und die Verschärfung
tät der »Klassiker« und umfaßt Elemente aus der Soziologie Durk- der Widersprüche) rekurriert, ist die bourdieusche kritische So-
heims, dem Pragmatismus G. H. Meads, der phänomenologisch ziologie gezwungen, »laterale Möglichkeiten« geltend zu machen,
inspirierten Soziologie von Alfred Schütz und der Kulturanthro- ohne daß sie indes versuchte, deren Inhalt genauer anzugeben.
pologie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ihrerseits
von Ethnologie und Psychoanalyse geprägt wurde. Hinsichtlich
der Herrschaftsproblematik im eigentlichen Sinn aber war es vor
r Pierre Bourdieu, Jean-Claude Passeron und Jean-Claude Chamboredon, Soziolo-
gie als Beruf Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkennt-
nis. übersetzt von Hella Beister, Reinhard Blomert und Bernd Schwibs, Berlin/ 2 Vgl. William Buxton, Talcott Parsons and the Capitalist Nation-State, Toronto:
New York: Walter de Gruyter 1991. University of Toronto Press 19 8 5.
39
Die mit dem Einsatz des Herrschaftsbegriffs rene und geschilderte physische Gewalt in Richtung auf symboli-
aufgeworfenen Probleme sche Gewalt (einen Zentralbegriff der Soziologie Pierre Bourdieus)
erweitert wird, ohne daß diese häufig als solche erlebt würde.
Wie der Herrschaftsbegriff in der kritischen Soziologie Pierre Bour- Um zu erklären, wie und warum die Akteure unwissentlich be-
dieus eingesetzt wird, soll hier- aus Zeitgründen - nicht im einzel- herrscht werden, muß die Theorie den blindmachenden Illusionen
nen entwickelt, vielmehr als bekannt vorausgesetzt werden. 3 Hier ein großes Gewicht beilegen und zugleich auf den Begriff des Un-
sollen nur in geraffter Form die Einwände vergegenwärtigt wer- bewußten rekurrieren. Eine erste Konsequenz daraus ist, daß die
den, die uns vor mehr als zwanzig Jahren veranlaßt haben, gegen- Akteure häufig als Getäuschte, Hintergangene oder als »cultural
über der kritischen Soziologie auf Distanz zu gehen und uns der d°:pes« (Harold Garfinkel) behandelt und ihre kritischen Fähig-
Frage der Kritik auf anderem Wege zu nähern: dem einer pragmati- keiten unterschätzt oder ignoriert werden. Eine weitere Konse-
schen Soziologie der Kritik. Sie soll etwas später in ihren Haupt- quenz ist, daß den einstellungsspezifischen Eigenschaften der Ak-
linien dargestellt werden. teure unverhältnismäßig mehr Bedeutung beigemessen wird als
Die für uns durch die spezifische Verwendungsweise des Herr- den aus ihrer jeweiligen Situation erwachsenden und daß versucht
schaftsbegriffs in der kritischen Soziologie aufgeworfenen Proble- wird, nahezu alle ihre Verhaltensweisen durch die Verinnerlichung
me ergeben sich aus dessen gleichermaßen zu dominantem wie zu herrschender Normen, vor allem im Erziehungsprozeß, zu erklä-
vagem Charakter. Sein extensiver Einsatz führt dazu, nahezu alle ren. Diese nimmt die Form einer Inkorporierung an, einer Ein-
Beziehungen zwischen Akteuren, von den explizit hierarchischen schreibung dieser Normen in den Körper, Gewohnheiten gleich.
bis zu den persönlichsten, in ihrer vertikalen Dimension in den Mit diesem Prozeß wird die Reproduktion der Strukturen erklär-
Blick zu nehmen. Was nun der Soziologe unter kritischer Perspek- bar. Zugleich aber werden, wie bereits erwähnt, die Situationen
tive als Herrschaftsbeziehung ausweist, muß von den Akteuren zugunsten der Dispositionen bzw. Einstellungen oder der Struk-
gleichzeitig nicht zwangsläufig als solche vorgestellt noch selbst turen vernachlässigt. Nun können die Situationen gleichermaßen
erlebt werden, sie können sich durch eine solche Beschreibung so- von den Akteuren, die in ihrem Alltagsleben ständig darin ver-
gar angegriffen fühlen (wenn Sie als Soziologe etwa einem frisch strickt sind, wie vom Soziologen beobachtet und beschrieben wer-
Verliebten erklären wollten, seine Leidenschaft für die Angebetete den; doch nur letzterer kann zur Erkenntnis der Strukturen vor-
sei faktisch nur Produkt des sozialen Herrschaftseffekts, den sie dringen. Denn um sie aufzudecken, bedarf es des Einsatzes von
aufgrund ihrer Herkunft aus einer höheren Klasse ausübe, dürf- Instrumenten makrosozialer Natur, insbesondere solcher der Sta-
ten Sie einige Probleme bekommen, Ihren Standpunkt plausibel zu tistik, die auf der Konstruktion von Kategorien, von Nomenklatu-
machen). Diese Ausweitung des Herrschaftsbegriffs führt im wei- ren und einer Metrologie beruhen. Das heißt aber auch daß derar-
teren auch zu einer Ausweitung des Gewalt-Begriffs, wobei die von tiges Instrumentarium auf das Vorhandensein von Rechenzentren
den Akteuren selbst zumindest vielfach genau als Gewalt erfah- angewiesen ist, die in der Regel nationalstaatlichen oder zwischen-
3 Werke, die Pierre Bourdieus Soziologie darzustellen, zuweilen auch zu kritisieren staatlichen Organisationen unterstehen. Die Folge ist, wie von zahl-
suchen, gibt es in großer Zahl. Sie alle hier zu zitieren sprengte den Rahmen. Hier reichen Arbeiten in den letzten 30 Jahren belegt, daß diese makro-
nur einige Hinweise auf französische Literatur: Alain Accardo und Philippe Cor- s?zi~len Instrumente wie die Kategorien und Metrologien, auf die
cuff, La sociologie de Bourdieu, Bordeaux: Le Mascaret 1989; Bernard Lahire sie s1eh stützen, selbst als Produkte sozialer Aktivität, insbeson-
(Hg.), Le travail sociologique de Pierre Bourdieu. Dettes et critiques, Paris: La
Decouverte 1999; Philippe Corcuff, Bourdieu autrement. Fragilites d'un socio-
dere aber staatlicher Aktivität anzusehen sind, was sie in die dop-
logue de combat, Paris: Textuel 2003; Pierre Encreve und Rose-Marie Lagrave pelte, zum mindesten verzwickte Lage versetzt, Instrumente gesell-
(Hg.), Travailler avec Bourdieu, Paris: Flammarion 2003; Jacques Bouveresse schaftlicher Erkenntnis und Objekte dieser Erkenntnis zu sein.4
und Denis Roche (Hg.), La liberte par la connaissance. Pierre Bourdieu (I9 3 0-
2002), Paris: Odile Jacob 2004; Patrick Champagne und Olivier Christin, Pierre 4 Hier ist allerdings darauf hinzuweisen, daß die von Pierre Bourdieu oder in sei-
Bourdieu. Mouvement d'une pensee, Paris: Bordas 2004. Ein nicht uninteressan- nem Umkreis in den 7oer Jahren durchgeführten Arbeiten zwar einen höchst
ter kritischer Punkt wird entfaltet in Jeffrey C. Alexander, Fin de siecle Social intensiven Gebrauch von diesen kognitiven Hilfsmitteln - und zumal den sozio-
Theory: Relativism, Reduction and the Problem ofReason, London: Verso 199 5. professionellen Kategorien - gemacht haben, zugleich aber auch Forschungsar-
Eine dritte Konsequenz ist schließlich, daß eine Kluft errichtet Sozialwissenschaften stammende Erklärungs- und Sprachmuster
wird zwischen düpierten Akteuren und einem Soziologen, der - zu übernehmen und sie in ihren alltäglichen Interaktionen (zumal
einigen Formulierungen zufolge sogar als einziger- in der Lage ist, bei ihren Disputen) einzusetzen. 5
ihnen die Wahrheit über ihre soziale Lage zu enthüllen. Dies führt Andererseits kann man durchaus der Meinung sein, daß mit diesem
zwangsläufig zur Überschätzung der Macht der Soziologie als Wis- Paradigma das Handeln und damit die Dispute und Auseinander-
senschaft, des einzigen Fundaments, auf dem der Soziologe seinen setzungen, in die die Akteure eintreten, nicht umfassend erläutert
Anspruch aufzubauen vermag, mehr über die Personen zu wissen werden. Denn der Versuch der Aufrechterhaltung der Schnittstelle
als diese selbst über sich. Die Soziologie wird so tendenziell mit zwischen kartographischer Deskription und interaktionistischen
dem maßlosen Vermögen ausgestattet, zentral die Wahrheit über Beschreibungen scheint dazu zu führen, daß letztere überdetermi-
die soziale Welt auszusprechen - was sie unweigerlich in Konkur- niert werden, indem das Verhalten der Akteure zu schnell in Ab-
renz bringt zu anderen Disziplinen mit gleichen imperialistischen hängigkeit von Einstellungen und Dispositionen interpretiert wird,
Ansprüchen. Die wesentliche Folge aber ist, daß das kritische Un- die von strukturalen Beschreibungen aus identifiziert werden, Ein-
ternehmen zerrissen wird zwischen einerseits der Versuchung, auf stellungen, die sich unabhängig von der Situation mehr oder min-
alle Wissens- und Erkenntnisformen die Aufdeckung der ihnen zu- der gleich manifestieren sollen (was sich in der Wahl des Begriffs
grundeliegenden »Ideologien« auszudehnen, andererseits der Not- Handlungsträger [agent] statt Handelnder bzw. Akteur [acteur] nie-
wendigkeit, einen geschützten Bereich, den der Wissenschaft, als derschlägt). Durch das Beharren auf den zirkulären Beziehungen
festen Ausgangs- und Stützpunkt für diese Operation aufrechtzu- zwischen den tieferliegenden Strukturen und den inkorporierten
erhalten. Schließlich sei noch ergänzt, daß die Verschärfung der Einstellungen und Dispositionen gerät so die Ungewißheit aus dem
Kluft zwischen soziologischer Wissenschaft und Alltagswissen da- Blick, mit der die Akteure in Situationen, in denen sie handeln müs-
zu führt, daß die durch die gesellschaftliche Verbreitung der sozio- sen, konfrontiert sind. Tatsächlich aber gewinnt der Handlungsbe-
logischen Diskurse und deren Wiederaneignung/Reinterpretation griff nur Sinn vor dem Hintergrund von Ungewißheit oder zu-
durch die Akteure ausgelösten Effekte nicht angemessen einge- mindest doch in bezug auf eine Vielzahl möglicher Optionen. 6 In
schätzt werden - was für eine Soziologie, die sich explizit auf Re- Zusammenhängen, in denen vorab alles schon »gelaufen« scheint,
flexivität beruft, doch recht fragwürdig ist. Derartige Rückwir- verliert der Handlungsbegriff tendenziell jeglichen Sinn. Dies gilt
kungen der Soziologie auf die soziale Welt sind aufgrund vor allem
5 Luc Boltanski und Laurent Thevenot, »Finding ones' way in social space: a study
der gewachsenen Bedeutung der Sekundar- und universitären Aus-
based on games«, Social Science Information, Bd. 22, 198 3, Nr. 4-5, S.631-680.
bildung (von der Rolle der Medien einmal ganz zu schweigen) Mit dieser Arbeit, basierend auf experimentellen Verfahren, in denen die Klassifi-
innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaften von höchster Trag- kationsfähigkeiten sogenannter »Alltagsmenschen« zum Einsatz kamen, waren
weite - werden die Akteure dadurch doch dazu gebracht, aus den die Reflexivitätseffekte zutage gebracht worden, die durch die sozioprofessionel-
len Kategorien des INSEE [Institut national de la statistique et des etudes econo-
beiten zu den sozialen Bedingungen ihrer Entwicklung und ihres Gebrauchs initi- miques: Staatliches Institut zur statistischen Erfassung und Auswertung wirt-
iert haben. Diese doppelte Perspektive dürfte viel der zweifachen disziplinären schaftlicher und sozialer Daten] ausgelöst wurden und sicher auch durch die
Verwurzelung Pierre Bourdieus zu verdanken haben, nämlich in der Soziologie intensive und zugleich diffus - im politischen Diskurs wie in Literatur oder Film
und in der Sozialanthropologie. (Siehe insbesondere Pierre Bourdieu und Luc usw. -vorhandene Vorstellung einer sozialen Welt, in der die Aufteilung in soziale
Boltanski, »Titel und Stelle. Zum Verhältnis von Bildung und Beschäftigung«, in: Klassen als selbstverständlich, ja als übermächtig angesehen wurde. Es wäre in-
Pierre Bourdieu, Luc Boltanski, Monique de Saint Martin und Pascale Maldidier, teressant, heute, zwanzig Jahre später, eine vergleichbare Studie zu erstellen, um
Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht. Aus dem Französischen herauszubekommen, ob das Zurückweichen der sozialen Klassen lediglich ober-
übersetzt von Helmut Köhler, Beate Krais, Achim Leschinsky und Gottfried Pfef- flächlich den offiziellen Bereich der zumal medial vermittelten Repräsentation
fer, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 89-n5; Luc Bol- tangiert oder ob es sich tiefer im kognitiven Apparat der Menschen festgesetzt
tanski, »Taxinomies populaires, taxinomies savantes: !es objets de consomma- hat. (Vgl. auch dazu Alain Desrosieres, La politique des grands nombres, Paris:
tion et leur classement«, Revue frani;aise de sociologie, Bd. n, 1970, Nr. 3, S. 99- La Decouverte 1993, und Alain Desrosieres und Laurent Thevenot, Les catego-
n8; Alain Desrosieres, »Elements pour l'histoire des nomenclatures socio-pro- ries socio-professionnelles, Paris: La Decouverte 1988.)
fessionnelles«, in: Joelle Affichard (Hg.), Pour une histoire de la statistique, Bd. 2, 6 Zu Geschichte und Grundlagen der soziologischen Handlungstheorie vgl. Hans
Paris: INSEE-Economica 1987, S. 3 5-56). Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
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in erster Linie für die Auseinandersetzungen: nicht nur deren Aus- Das Programm der pragmatischen Soziologie der Kritik
gang, auch die von den verschiedenen Protagonisten angeführten
Sachverhalte und deren Interpretation umgibt Ungewißheit. Aus Das Programm einer pragmatischen Soziologie der Kritik, in den
den gleichen Gründen ist innerhalb jenes Paradigmas sowohl der r98oer Jahren von Soziologen entworfen, die mehrheitlich zunächst
Wandel selbst wie auch die Rolle der Kritik bei den Wandlungspro- im Rahmen des Bourdieuschen Paradigmas gearbeitet hatten, nahm
zessen schwer erklärbar. sich zum Ziel, unter Vermeidung der bereits erwähnten Schwierig-
Weitere Probleme ergeben sich an der Verbindungsstelle zweier Ver- keiten, die Frage der Kritik neu aufzuwerfen.7 Verworfen wurde
wendungsweisen der Soziologie: als Instrument der Beschreibung dabei nicht zuletzt die Asymmetrie zwischen dem durch die Wei-
und als Waffe der Kritik. Auf der einen Seite wird Herrschaft - in hen der Wissenschaft aufgeklärten Soziologen und den in den
einer Weberschen Perspektive - beschrieben als ein Sachverhalt, Sphären der Illusion versunkenen gewöhnlichen bzw. Alltagsmen-
der in unterschiedlichsten Ausprägungen in den meisten bekann- schen - eine Asymmetrie, die uns die Feldforschung nicht zu bestä-
ten Gesellschaften nachweisbar ist. Auf der anderen Seite wird die tigen schien und die zudem das Risiko in sich barg, durch eine neue
innerhalb einer sozialen Ordnung aufgedeckte Herrschaft einer Art platonischen Idealismus (der an die Stelle des philosophischen
Kritik ähnlich der marxistisch inspirierten oder zumindest emanzi- Weisen tretende allwissende Soziologe mit dem Ehrgeiz, die Gesell-
patorisch ausgerichteten unterworfen, was einen normativen An- schaft zu führen) vereinnahmt zu werden (wie es Jacques Ranciere
satzpunkt voraussetzt. Doch gerade das Beharren auf der Sozial- polemisch in Le philosophe et ses pauvres 8 [Der Philosoph und sei-
wissenschaft als einzigem Weg zur Wahrheit (eine von den meisten ne Armen] ausgemalt hat).
kritischen Autoren im Frankreich der r96oer bis r97oer Jahre bei Was am Paradigma der kritischen Soziologie in Frage gestellt wur-
ihrem Versuch, sich von der akademisch noch übermächtigen de, bezog sich primär auf seine deskriptive, also genuin soziologi-
idealistischen Philosophie zu befreien, bezogene Position) hinter- sche Dimension und nicht auf seine kritischen Aspekte (was der
treibt den Rückgriff auf die meisten - bereits oben erwähnten - Fall gewesen wäre, hätte der vorgenommenen Verschiebung der
normativen Ressourcen, die ein metakritisches Projekt abstützen Blickrichtung eine politische Kehre zum Konservatismus oder auch,
könnten. So wird insbesondere der Bezug auf eine philosophische wie bei zahlreichen französischen Intellektuellen an der Wende zu
Anthropologie ausgeklammert, die doch einen der Ansatzpunkte den r98oer Jahren, ein Umschwenken vom Marxismus zum Neo-
darstellt, auf die metakritische Unternehmen am häufigsten zurück- liberalismus zugrunde gelegen). Wir wollten die Verankerung in
greifen. Deshalb wird das Kritik-Projekt aber noch nicht aufge- einer rigorosen empirischen Soziologie, in der uns ein grundlegen-
geben. So finden sich die kritischen Stellungnahmen, auf die aus der Beitrag der in diesem Paradigma entfalteten Arbeit zu liegen
Angst, den Anforderungen der Wissenschaft nicht zu genügen, nur schien, fortsetzen, ja verstärken und so angemessenere Beschrei-
schwer explizit eingegangen werden kann, gleichsam in die Be- bungen des situationsgebundenen Handelns der Akteure bieten.
schreibung verwoben, und zwar weitgehend anhand rhetorischer Dazu hielten wir es für notwendig, einen allzu machtvollen Erklä-
Mittel, die beim Leser Empörung auszulösen vermögen. Man kann rungsapparat auszuklammern, dessen mechanische Anwendung
sich zugleich fragen, inwieweit diese Beschreibungen selbst nicht die Daten zu erdrücken drohte (so als wüßte der Soziologe immer
schon durch jene rhetorischen Verfahren überdeterminiert sind, schon im voraus, was er entdecken sollte),9 und statt dessen ge-
was - zumindest in Maßen - hätte verhindert werden können, wä- wissermaßen naiv uns anzuschauen, was die Akteure tun, wie sie
ren die durch die Verknüpfung von deskriptiven Orientierungen
7 Erste vergleichende Studien von kritischer Soziologie und pragmatischer Soziolo-
und normativen Zielsetzungen aufgeworfenen Probleme explizit gie der Kritik stammen von Thomas Benatouil (»Critique et pragmatique en socio-
berücksichtigt worden. logie«, Anna/es ESC, Bd. 54, 1999, Nr. 2, S. 281-317) und Philippe Corcuff (Les
nouvelles sociologies, Paris: Armand Colin 1999 ).
8 Jacques Ranciere, Le philosophe et ses pauvres, Paris: Flammarion 2007 (1983 ).
9 In einigen Aspekten deckte sich diese Kritik mit der Sartres an den französischen
Marxisten, der im übrigen Bourdieu zustimmte. Siehe Jean-Pa~\ Sartre, Marxis-
mus und Existentialismus. Versuch einer Methodik. Deutsche Ubersetzung von
44 45
die Absichten der anderen interpretieren, wie sie ihre Sache argu- Dieses Programm hat sich Ressourcen zunutze gemacht, die unter-
mentativ vertreten, usw. Um es kurz zu machen: unsere Bewegung schiedlich stark vom Pragmatismus inspirierte Strömungen vorga-
bestand darin, von der kritischen Orientierung wieder mehr in ben. Gemeinsam war diesen durchaus recht unterschiedliche Wege
Richtung auf eine adäquatere Beschreibung umzuschwenken-was einschlagenden Strömungen, daß sie die Aufmerksamkeit des So-
einmal mehr den instabilen Charakter der soziologischen Kon- ziologen wieder von einer kartographischen Beschreibung der vor-
struktionen unter Beweis stellt, die die Frage der Kritik in den Vor- handenen Welt abzogen und auf die in Situationen handelnden
dergrund heben, vielleicht aber auch den der Soziologie allgemein Akteure als die zentralen performativen Wirkkräfte des Sozialen
mit dem ihr innewohnenden Spannungsverhältnis zwischen Be- lenkten. Dabei konnte es sich um unmittelbar an den amerikani-
schreibungsanforderungen und normativer Orientierung. schen Pragmatismus angelehnte Strömungen handeln wie den In-
Das Projekt einer kritischen Soziologie haben wir dennoch nicht teraktionismus oder, in geringerem Grad, die Ethnomethodologie.
aufgegeben. Die Aufmerksamkeit, die wir der vergleichenden Be- Doch auch solche Strömungen sind zu erwähnen, die, innerhalb
schreibung des Tuns und Treibens der Akteure entgegenbrachten, des intellektuellen Kontextes Frankreichs verankert, Teile der prag-
hatte den Charakter einer - Sie gestatten mir diese von Böhm- matistischen Hinterlassenschaft aufgriffen, häufig auf einem kom-
Bawerk stammende Wirtschaftsmetapher-» Umwegproduktion «. plizierten, z.B. über das Werk von Gilles Deleuze verlaufenden Weg
Wir glaubten, vermittels dieses» Umwegs« auf längere Sicht besser (wie etwa Bruno Latour). Es konnte sich schließlich auch um Strö-
in der Lage zu sein, die Kritik wieder in Gang zu bringen, wenn mungen handeln, die, ohne direkte Anbindung an den Pragmatis-
wir sie solide mit der gesellschaftlichen Realität verschnürten. In mus, die Aufmerksamkeit des Soziologen auf die Sprache und die
einem intellektuellen und politischen Kontext - dem der 19 8oer Interpretationsarbeit lenkten, die der Akteur in einer gegebenen Si-
Jahre-, der geprägt war durch den relativen Bedeutungsschwund tuation zu leisten hat: die analytische Philosophie, der späte Witt-
der einzig die vertikale Dimension und die Opakheit des entfrem- genstein oder Paul Ricceurs Bemühen, analytische Philosophie und
deten Bewußtseins der Akteure betonenden Paradigmen - und Phänomenologie zusammenzuführen.
zwar zugunsten jener Paradigmen, die den Blick mehr auf die hori- Aus dieser disparaten Palette wurden besonders jene Strömungen
zontalen Beziehungen (insbesondere durch Netzwerkanalysen) so- nutzbringend herangezogen, die sich auf die Linguistik beziehen,
wie auf Modalitäten des Handelns, verstanden als Ausdruck stra- zum einen also die linguistische Pragmatik mit ihrer Fokussierung
tegischer Motivationen und rationaler Entscheidungen, richteten-, auf die Indexikalität und situationsspezifische Sinnbildung, zum
schien es uns nämlich notwendig, die Überzeugungskraft der Kri- anderen die generative Linguistik, der vor allem der Begriff der
tik zu konsolidieren. Kompetenz - auf offen gesagt wenig orthodoxe Weise - entlehnt
Die in die Tat umgesetzte Strategie lautete: Zurück zu den Sachen wurde. Sie war hilfreich bei der Bezeichnung der generativen Sche-
selbst. Im Fall der Kritik bedeutet Zurück zu den Sachen selbst nun mata, die als vorhanden vorausgesetzt werden müssen, will man
aber: an erster Stelle Situationen beobachten, beschreiben und in- die Fähigkeit der Akteure, situationsspezifisch akzeptable Kritiken
terpretieren, in denen Personen sich ans Kritisieren machen, das oder Rechtfertigungen hervorzubringen, also deren Gerechtigkeits-
heißt Dispute bzw. Auseinandersetzungen. Die vorgenommene Ver- sinn oder moralisches Gespür erklären. Dem Geist des Pragmatis-
schiebung der Blickrichtung hat sich also in einer Reihe von Feldfor- mus darf mithin zugeschrieben werden, wie die Soziologie der Kri-
schungen niedergeschlagen, und zwar unter Rückgriff auf Metho- tik das Neubeschreiben der sozialen Welt angegangen ist, nämlich
den der ethnologischen Beobachtung und am Gegenstand von Aus- als Szene eines Prozesses,10 in dessen Verlauf Akteure in Situatio-
einandersetzungen in Situationen, die den diversesten Bereichen nen der Ungewißheit Erhebungen vornehmen, ihre Interpretatio-
der Objektivität entstammen. Freilich hätte es diesem Perspektiven- nen des Vorfallenden in Berichten niederlegen, Qualifizierungen
wechsel in der Feldforschung an Kohärenz gefehlt, wäre er nicht mit entwickeln und sich Prüfungen unterziehen.
einem Umbau des theoretischen Rahmens einhergegangen. ro Luc Boltanski und Elisabeth Claverie, »Du monde social en tant que scene d'un
H. Schmitt, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1964, insbesondere »Das Problem proces«, in: Luc Boltanski, Elisabeth Claverie, Nicolas Offenstadt und Stephane
der Vermittlung und der Hilfswissenschaften«, S. 32ff. Van Damme, Affaires, scandales et grandes causes, Paris: Stock 2007, S. 3 9 5-4 5 2.
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Wie aus der Bezugnahme auf die generative Grammatik hervor- tung dieses Programms beteiligten jüngeren Soziologen (Cyril Le-
geht, bewahrte dieses Programm noch Züge des Objektivismus und mieux) zu sagen: da die Außenstandpunkte, auf die sich die kriti-
in einigen seiner Aspekte eine strukturalistische Orientierung, al- schen Soziologen berufen, nie vollkommen außen sind, sollte die
lerdings nicht in Richtung einer sozialen Morphologie kartogra- Möglichkeit einer komplexeren Innenposition erkundet werden,
phischen Stils, sondern einer Modellierung der kognitiven und de- die neben dem Heraustreten aus dem Rahmen und seiner Kritik ein
ontischen Ausstattung, das heißt der Kompetenzen. Deren Exi- drittes Moment einschließt: die Integration dessen, was die Kritik
stenz muß vorausgesetzt werden, will man verstehen, wie es den von außen noch dem Rahmen verdankt, den sie kritisiert.11
Akteuren gelingt - trotz oder, um genauer zu sein, gerade vermit- Verbunden mit diesem Programm wurden Feldforschungen zu Aus-
tels ihrer Dispute und Auseinandersetzungen -, ihre Handlungen einandersetzungen in den diversesten Bereichen unternommen:
zu koordinieren und ihre Interpretationen zur Konvergenz zu brin- Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz und in den Betrieben; 12 in
gen. Ja, wir waren sogar jenen Strömungen gegenüber feindlich gesundheitspolitischen Kontexten 13 (in bezug besonders auf die
eingestellt, die - wie die >interpretative Anthropologie< a la Geertz- Aids-Epidemie 14 ); in der Welt der Medien; 15 in Banken; 16 in Aus-
damals betonten, dem Beobachter sei es unmöglich, von den Deu- schüssen zur Bewertung und Auswahl kultureller Güter, 17 zur Per-
tungskategorien zu abstrahieren, die er seiner Verwurzelung in ei- sonalrekrutierung18 oder zur Verteilung privater oder öffentlicher
ner spezifischen Epoche und Kultur verdankt; unsere Gegnerschaft Güter; in Schuleinrichtungen; 19 in Stadtverwaltungen. 20 Oder auch
galt schließlich auch den Strömungen, die (wie gewisse rigide Vari- Auseinandersetzungen innerhalb von Instanzen zum Produktlabe-
anten der Ethnomethodologie) letztlich nur die Ressourcen berück- ling21 oder zur Festlegung von Umweltnormen. 22 Ja selbst inner-
sichtigen, über die die Akteure im lokalen Kontext verfügen.
In der Logik dieses Projekts hat die Soziologie die zentrale Auf- 11 Diese Bemerkung von Cyril Lemieux wurde durch die Lektüre einer früheren
gabe, die in der sozialen Welt eingesetzten Methoden zum Knüp- Fassung dieses Textes ausgelöst.
12 Philippe Chateauraynaud, La faute professionnelle. Une sociologie des conflits
fen und Lösen von Bindungen zu explizieren, zu klären und, wenn
de responsabilite, Paris: Metailie 1991. Nicolas Dodier, Les hommes et !es ma-
möglich, modellhaft darzustellen. In diesem Sinne wird die Sozio-
chines, Paris: Metailie 199 5. Philippe Corcuff, »Securite et expertise psycholo-
logie wie eine Disziplin sekundären Rangs behandelt, die ein wenig gique dans !es chemins de fer«, in: Luc Boltanski und Laurent Thevenot (Hg.),
wie die Linguistik in einem bestimmten, dem Erfordernis von Ord- Justesse et justice dans le travail, Paris: PUF 1989, S. 307-318.
nung und Klarheit unterworfenen Format eine Kompetenz vor- 13 Nicolas Dodier, L'expertise medicale, Paris: Metailie 1993.
14 Michael Pollak, Les homosexuels et le sida. Sociologie d'une epidemie, Paris:
weist, die die der Akteure selbst ist, auch wenn diese sich ihrer
Metailie 19 8 8.
nicht voll bewußt sein müssen, wenn sie sie ausüben. Die Sozio- 1 5 Cyril Lemieux, Mauvaise Presse. Une sociologie comprehensive du travail me-
logie hat dann ihr Ziel erreicht, wenn sie ein zufriedenstellendes diatique et de ses critiques, Paris: Metailie 2000.
Bild der sozialen Kompetenzen der Akteure erstellt. Die Form von 16 Damien de Blic, »Le scandale financier du siede, <;a ne vous interesse pas? Dif-
Wahrheit, die sie zu erreichen sucht, steht dementsprechend der ficile mobilisation autour du Credit Lyonnais«, Politix, Bd. 13, 2000, Nr. 52,
Akzeptabilität im Sinne der Linguistik nahe.
s. 157-181.
17 Nathalie Heinich, L'art en conflit, Paris: La Decouverte 2002.
Auf der Ebene der metakritischen Orientierung - die später ein- 18 Fran<;ois Eymard-Duvernay und Emmanuelle Marchal, Fa,;ons de recruter: le
gehender untersucht werden soll - ging die Intention dahin, aus jugement des competences sur le marche du travail, Paris: Metailie 1997.
der Beschreibung selbst eine Normativität hervortreten zu lassen. 19 Jean-Louis Derouet, Ecole et justice, Paris: Metailie 1992.
20 Claudette Lafaye, »Situations tendues et sens ordinaire de Ja justice au sein
Die Arbeit richtete sich zunächst auf die Klärung der normativen d'une administration municipale«, Revue fran,;aise de sociologie, Bd. 31, 1990,
Positionen, auf die die Akteure sich beim Kritisieren oder aber Nr. 2, S. 199-22 3.
beim Rechtfertigen angesichts einer Kritik stützen können. Auf 21 Pierre Boisard und Marie-Therese Letablier, »Un compromis d'innovation entre
der Sammlung und expliziten Darstellung der von den Akteuren tradition et standardisation dans l'industrie laitiere«, in: L. Boltanski und L.
Thevenot, Justesse et justice dans le travail, a. a. 0., S. 13 5-208.
in den alltäglichen Lebensumständen entwickelten Kritik aufbau- 22 Claudette Lafaye und Laurent Thevenot, » Une justification ecologique? Con-
end, sollte zugleich auch die Möglichkeit eines metakritischen Pro- flits dans l'amenagement de Ja nature«, Revue fran,;aise de sociologie, Bd. 34,
jekts eröffnet werden. Um es in den Worten eines an der Ausarbei- 1993, Nr.4, S.493-524.
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halb einer dem Anschein nach derart monolithischen Institution der kritischen Soziologie entlehnt waren. Sie machten ihre Forde-
wie der katholischen Kirche zur Frage, ob die Jungfrau Maria rungen geltend, prangerten Ungerechtigkeiten an, trugen Belege
wirklich bosnischen Hirten erschienen war oder nicht. 23 zur Begründung ihrer Klagepunkte zusammen oder schmiedeten
Ein weiterer Programmpunkt betraf »Affären« (in Frankreich zu- Argumente, um sich gegenüber Kritiken zu rechtfertigen, denen sie
meist auf das Modell der »Dreyfus-Affäre« bezogen), das heißt Aus- selbst ausgesetzt waren. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen
einandersetzungen je nach Fall mehr oder minder umfänglichen erscheint die soziale Welt weniger als Ort einer passiv und unbe-
und langwierigen Charakters, in deren Verlauf ein Konflikt in die wußt erlittenen Herrschaft denn als Raum, der durch eine Vielzahl
Öffentlichkeit getragen wird. Ein ursprünglich lokales Problem von Auseinandersetzungen, Kritiken, Unstimmigkeiten und Versu-
weitet sich aus und nimmt allgemeinen Charakter an. Im Gegen- chen, lokal eine wie immer zerbrechliche Übereinkunft wiederher-
satz zum Skandal, 24 der eine allgemeine Empörung auslösen kann, zustellen, durchzogen ist.
führt die Affäre zur Bildung gegensätzlicher Clans, weil sie stets die In enger Verbindung mit den Feldforschungen wurde theoretisch
Möglichkeit enthält, daß die Anklage umgedreht wird: Die Vertei- daran gearbeitet, die Aktivität der Akteure und die im Verlauf der
digung eines einzelnen, der von der Staatsmacht eines Verbrechens Auseinandersetzungen eingesetzten Kompetenzen modellhaft dar-
angeklagt wird, wird von einem Kollektiv übernommen, das zu zei- zustellen. In besonderem Maße wurde dabei der Gerechtigkeits-
gen versucht, daß jener eigentlich ein Opfer ist, womit die Anklage sinn hervorgehoben. In Über die Rechtfertigung haben Laurent
nun gegen die Ankläger gewendet wird. Die unterschiedlichen Par- Thevenot und ich ein Modell der Kompetenzen zu konstruieren
teien suchen jetzt die größtmögliche Anzahl an Akteuren für ihre versucht, das es den Akteuren erlaubt, Kritik vorzutragen oder sich
Sache zu gewinnen. Hat die Affäre Erfolg (wenn man das so sagen gegenüber Kritik zu rechtfertigen. Ohne dieses Modell der Unge-
darf), dringt sie tendenziell in die verschiedenen Sektoren der Ge- rechtigkeit hier im Detail vorstellen zu wollen -was zu weit führen
sellschaft ein und durchbricht die Grenzen zwischen den verschie- würde-, möchte ich doch einige für den Fortgang meiner Ausfüh-
denen Welten der Politik, der Intellektuellen und der Ökonomie. rungen relevante Elemente anführen.
Mehrere miteinander unvereinbare Erzählungen treten in Konflikt Über die Rechtfertigung handelt von öffentlichen Situationen des
zueinander, was bis zur Auflösung ein Moment der Unsicherheit Streits oder der Auseinandersetzung, in denen das Handeln auf
darüber nährt, »was wirklich geschehen ist«. Kritik stößt. In derartigen Situationen könne.n die von den Han-
Die in diesen Arbeiten sichtbar werdenden Akteure [acteurs] un- delnden formulierten Kritiken wie auch die darauf gelieferten
terschieden sich erheblich von den in der kritischen Herrschaftsso- Rechtfertigungen nicht wie leere Worte behandelt werden; viel-
ziologie figurierenden Handlungsträgern [agents]. Sie waren stets mehr müssen sie sich auf in gewisser Weise stichfeste Urteilsprinzi-
aktiv und nicht passiv. Sie waren unverblümt kritisch, und zwar pien stützen. Bei der Frage der Gerechtigkeit geht es dabei vor al-
kritisch fast wie die kritischen Soziologen, indem sie fortwährend lem um die gleiche Verteilung materieller oder symbolischer Güter
die - häufig auf deren soziale Position zurückgeführten - Absich- (wie Titel oder Rechtspositionen) zwischen verschiedenen Perso-
ten und versteckten Schwächen ihrer Gegner aufdeckten, wozu sie nen. Doch wie in der aristotelischen Auffassung der Gerechtigkeit
durch Erziehung und Medien vermittelte Schemata einsetzten, die kann die angestrebte Gleichheit nicht im Sinne einer arithmeti-
schen Gleichung konzipiert werden, sondern nur so, daß darin
2 3 Elisabeth Claverie, Les guerres de la Vierge. Une anthropologie des apparitions,
der relative Wert der präsenten, beteiligten Wesen berücksichtigt
Paris: Gallimard 2003.
24 Vgl. vor allem Luc Boltanski, »La denonciation publique«, in: Luc Boltanski,
wird.
L'amour et la justice comme competences. Trois essais de sociologie de l'action, Um in derartigen Streitfällen Gerechtigkeit geltend zu machen,
Paris: Metailie 1990, S. 255-366. Elisabeth Claverie, »Proces, affaire, cause. müssen Instrumente (von uns Äquivalenzprinzipien genannt) ak-
Voltaire et l'innovation critique«, Politix, Bd. 7, 1994, Nr. 26, S. 76-86, und Eli- tiviert werden, mit denen sich unter einem bestimmten, noch zu
sabeth Claverie, »La naissance d'une forme politique: l'affaire du chevalier
de La Barre«, in: Philippe Roussin (Hg.), Critique et affaires de blaspheme a
spezifizierenden Gesichtspunkt der relative Wert der in die Ausein-
l'epoque des Lumieres, Paris: Honore Champion 1998. Siehe auch Luc Bol- andersetzung verstrickten Wesen oder, um auf unser Vokabular
tanski, »Une etude en noir« (in Vorbereitung). zurückzugreifen, deren Größe bzw. Wertigkeit beurteilen läßt. Ge-
50
stützt auf Felderhebungen, haben wir sechs in den verschiedenen Objektregistern verknüpft, deren Zuordnung und innere Kohärenz
alltagspraktischen Situationen wirksame Prinzipien von Größe Relevanzbereiche hervortreten lassen. 27
identifiziert. Diese Prinzipien wurden nun ausgehend von klassi- Mit der industriellen Größe z.B., die an der Effizienz erkennbar
schen politischen Philosophien formalisiert. Tatsächlich läßt sich wird, sind Meßinstrumente und Berechnungsmittel verknüpft, mit
auf der Grundlage jedes dieser Prinzipien eine Form von Gemein- denen sich die Effizienz eines Objekts oder einer Person bewerten
wohl entfalten, die wir cite, Gemeinwesen, genannt haben. 25 Die- läßt (etwa Standardnormen, Tests, Buchungsmodi usw.). Ähnlich
sen verschiedenen Größenprinzipien liegt eine gemeinsame Struk- sind mit der familienweltlichen Größe, die die Personen nicht
tur oder, wenn man will, Grammatik zugrunde. Letztere beruht allein in Abhängigkeit von ihrer Stellung in der Verwandtschaft,
auf einer Konstruktion, mit der sich die Spannung zwischen zwei sondern, allgemeiner, von ihrer Stellung in persönlichen Abhängig-
Formen von Zwang mildern läßt: einem Gleichheitszwang (den keitsbanden (eine im absolutistischen Europa vorherrschende Grö-
wir Anspruch auf gemeinsames Menschsein genannt haben) und ße) entsprechend bewertet, Dispositive, Werte und Objekte ver-
einem Ordnungszwang: in einer bestimmten Situation stehen prin- knüpft (etwa Familienfeste, Ehrerweisungen, testamentarische Ver-
zipiell gleiche, weil ihr gemeinsames Menschsein teilende Personen fügungen usw.), deren Gesamtgefüge ebenfalls einen Relevanzbe-
in hierarchisierten oder asymmetrischen Positionen zueinander. reich ausmacht, auf den beim Versuch, Prüfungen einzurichten und
Zur Abschwächung dieser Spannung bedarf das Modell zusätz-
licher Zwänge, zumal eines, der es untersagt, Personen einen be- 2 7 Im Gemeinwesen der Inspiration ist die Größe jene des Heiligen, der in den Gna-
denstand erhoben wird, oder die des Künstlers, den die Inspiration überkommt.
stimmten Grad an Größe definitiv zuzusprechen, ihn so zu behan-
Sie enthüllt sich in dem asketisch aufbereiteten Körper, dessen inspirationsge-
deln, als sei er ihnen essentiell. nährte Manifestationen (Heiligkeit, Kreativität, künstlerischer Sinn, Authenti-
Mit diesem Modell soll nicht nur den Argumenten Rechnung ge- zität ... ) die bevorzugte Ausdrucksform darstellen. - Im familienweltlichen
tragen werden, die die Personen im Verlauf ihrer Auseinanderset- Gemeinwesen hängt die Größe der Personen ab von ihrer hierarchischen Stel-
zungen ausbreiten, sondern auch den Mitteln, die sie bei dem Ver- lung innerhalb einer Kette persönlicher Abhängigkeiten. In einer auf einem fa-
milienweltlichen Modell basierenden Unterordnungsformel ist das politische
such, die Auseinandersetzung zu beenden und wieder Einigung Band zwischen den Wesen konzipiert im Sinne einer Generalisierung des Tra-
herzustellen, einsetzen - und zwar gewaltlos und unter Rückgriff dition und Nähe verknüpfenden Generationenbandes. Der »Große« ist der
auf die Realität. Wir haben diese Mittel Realitätsprüfungen ge- Ältere, der Vorfahre, der Vater, dem man Achtung und Treue schuldet und der
nannt.26 Wir gingen nämlich davon aus, daß Personen ihre Ansprü- Schutz und Unterstützung gewährt. - Im Gemeinwesen des Renommees hängt
die Größe lediglich von der Meinung der anderen ab, das heißt von der Anzahl
che einer Realitätsprüfung unterziehen, indem sie sie situationsge- derer, die Vertrauen und Wertschätzung gewähren. - Der »Große« des staats-
bunden mit materiellen wie symbolischen Objekten konfrontieren. bürgerlichen Gemeinwesens ist der Repräsentant eines Kollektivs, dessen allge-
Jedes den verschiedenen identifizierten Äquivalenz- oder Gerechtig- meinen Willen er zum Ausdruck bringt. - Im Gemeinwesen des Handels ist der
keitsprinzipien entsprechende Gemeinwesen ist auf diese Weise mit »Große« jener, der sich bereichert, indem er auf einem durch Konkurrenz ge-
prägten Markt sehr begehrte Waren anbietet. Er weiß »die Gelegenheit beim
Schopfe zu packen«. - Im industriellen Gemeinwesen schließlich basiert die
2 5 In Über die Rechtfertigung sind sechs Gemeinwesen identifiziert worden: das Größe auf Effizienz und legt einen Maßstab für berufsspezifische Kapazitäten
Gemeinwesen der Inspiration, das familienweltliche Gemeinwesen, das fest.
Gemeinwesen des Renommees, das staatsbürgerliche Gemeinwesen, das Jedes dieser Rechtfertigungsregime beruht auf einem je unterschiedlichen Be-
Gemeinwesen des Handels und das industrielle Gemeinwesen. Weitere im Ent- wertungsprinzip, das die Wesen unter einem bestimmten Aspekt betrachtet (das
stehen begriffene Gemeinwesen sind exploratorisch untersucht worden, darun- heißt auch, damit andere Qualifikationstypen ausschließt) und dadurch zwi-
ter das Gemeinwesen der Ökologie (C. Lafaye und L. Thevenot, »Une justifica- schen diesen eine Ordnung herzustellen erlaubt. Äquivalenzprinzip heißt es des-
tion ecologique? Conflits dans l'amenagement de Ja nature«, a. a. 0.) und das halb, weil es den Bezug auf eine allgemeine Äquivalenzform (ein Richtmaß) vor-
projektbasierte Gemeinwesen (Luc Boltanski und Eve Chiapello, Der neue aussetzt, ohne die der Vergleich zwischen den Wesen nicht möglich wäre. Man
Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003 ). kann also sagen: Unter diesem oder jenem Aspekt (zum Beispiel der Effizienz
26 Der Begriff der Prüfung taucht im Werk Bruno Latours auf (z.B. Pasteur: paix et innerhalb eines industriellen Gemeinwesens) haben sich die einer Prüfung unter-
guerre entre /es microbes, Paris: La Decouverte 2001 [1984]). Er wurde hier zogenen Personen als mit mehr oder weniger Wert versehen erwiesen. Als Größe
etwas abgewandelt, um ihn auf die Frage des Urteils und der Legitimität anzu- bezeichnen wir den Wert, der einer Person unter einem spezifischen Aspekt zu-
wenden. geschrieben wird, wenn er aus einem legitimen Verfahren hervorgeht.
52 53
die Größe von Personen zu beurteilen, zurückgegriffen werden zumeist implizit oder kaschiert - Kräfte in Betracht zieht, die nicht
kann. in den Bereich desjenigen Gemeinwesens fallen, dem diese Prüfung
Allerdings sind diese Gemeinwesen weitgehend inkompatibel und prinzipiell eingeschrieben ist. Natürlich ist jede Prüfung in be-
können deshalb, obwohl alle in einer komplexen Gesellschaft wirk- stimmter Hinsicht eine Kraftprobe. Doch eine gerechte Prüfung
sam, in ein und derselben Situation nicht gleichzeitig eingesetzt · ist zunächst eine, die etwas Spezifisches prüft (das Vermögen, ein
werden, es sei denn, es wird ein freilich immer zerbrechlicher Kom- Kunstwerk zu schaffen, ein liebender Vater zu sein, ein schwieriges
promiß hergestellt. Wir haben in diesem Rahmen die Kritiken ana- Programmierproblem zu lösen, den Gewinn des Unternehmens zu
lysiert, die die Akteure im Verlauf von Auseinandersetzungen for- fördern, bei dem man angestellt ist, usw.), das heißt es ist eine, bei
mulieren. In diesen Kritiken werden die Modalitäten hinterfragt, der die geprüfte Kraft bzw. Stärke spezifiziert ist. Umgekehrt läßt
in denen in einer bestimmten Situation geurteilt wird, indem ent- sich eine reine Kraftprobe, die sich dadurch dem Bereich der
weder eine von den Größen der anderen Teilnehmer abweichende Gerechtigkeit entzieht, als eine Prüfung definieren, bei der die Be-
Größe angeführt oder aber gezeigt wird, daß das Urteil faktisch teiligten zu jedwedem Mittel der Kraft oder Stärke greifen, um
nicht auf den offiziell anerkannten Grundsätzen beruht, sondern über die Kontrahenten zu triumphieren. 29
auf anderen und stillschweigend unterstellten. Hinzugefügt sei schließlich, daß diese Prüfungen in unterschied-
Nehmen wir zum Beispiel die Infragestellung des Schulexamens in lichen Graden institutionalisiert sind: das reicht von umständebe-
dem Sinne, daß es, allerdings implizit und kaschiert, die soziale dingten, lokalen Prüfungen, deren ungerechter Charakter schwer
Herkunft der Schüler berücksichtige, deren »gute Manieren« und zu objektivieren ist (die Beschwerde kann, sobald sie formuliert ist,
»Distinktion«. Diese Infragestellung lieferte der kritischen Sozio- auf Leugnen stoßen), bis zu Prüfungen, die aufgrund der Tatsache,
logie in Frankreich in den 196oer und 197oer Jahren ein wesent- daß sie entscheidende Punkte betreffen und deshalb mit starker
liches Element. 28 In den Begriffen des gerade in groben Zügen skiz- Kritik konfrontiert werden, einer Institutionalisierungsarbeit un-
zierten Modells kann die Art der inkriminierten Examenssituation terliegen, zumal vermittels des Rechts und anderer Regelungsfor-
deshalb als ungerecht beschrieben werden, weil sie eine der indu- men, die Verfahren und das festlegen, was man ein Prüfungsfor-
striellen Ordnung zugehörige Prüfung (das Examen soll anhand mat nennen könnte (wir werden später darauf zurückkommen).
standardisierter Verfahren die Effektivität der Schüler prüfen, die Dies betrifft namentlich jene Prüfungen, die bei der Ernennung von
Problemen eines bestimmten Typs ausgesetzt sind) durch die Be- Vertretern und politischen Verantwortlichen sowie bei der Auswahl
rücksichtigung von Formen der Größe korrumpiert, die in einer von Personen für höhere Positionen oder begehrte Vorteile bzw.
Prüfung familienweltlicher Ordnung durchaus zulässig sind, den Vergünstigungen eine bedeutsame Rolle spielen (Schulprüfungen,
korrekten Ablauf der schulischen Prüfung aber verfälschen. Eine Auswahlprüfungen am Arbeitsplatz, Prüfungen zur Erlangung so-
mögliche Antwort auf eine solche Infragestellung kann dann im zialer Rechte usw.). Daraus folgt, daß die Kritik zweifach ausge-
Versuch bestehen, die Prüfung reiner zu gestalten, also zu verhin- richtet sein kann: zum einen auf die Art und Weise, wie eine Prü-
dern, daß Größen, die in den familienweltlichen Beziehungen fung lokal umgesetzt wird - um dann zu zeigen, daß in ihrem
durchaus legitim sind, sich hier manifestieren, und die Prüfung Ablauf nicht die geltenden Verfahren eingehalten wurden; zum
zum Beispiel anonymer ablaufen zu lassen. anderen auf das Prüfungsformat selbst - um nachzuweisen, daß
In der Tat gilt in der Logik dieses Modells des alltagspraktischen sein Aufbau nicht alle an der Prüfung beteiligten Faktoren zu kon-
Gerechtigkeitssinns eine Prüfung dann als ungerecht, wenn sie - trollieren gestattet, was manchen Bewerbern ungerechtfertigte
Vorteile verschaffen kann.
28 Siehe Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron, Die Illusion der Chancengleich-
heit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frank-
reichs. Übersetzung von Barbara und Robert Picht, bearbeitet von lrmgard
Hartig, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1971; Pierre Bourdieu und Jean-Claude
Passeron, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt. Aus dem Fran-
zösischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. 29 L. Boltanski und E. Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, a. a. 0.
54 55
Läßt sich von der Soziologie der Kritik aus Kritik üben? zialen Welt und jener besteht, die den moralischen Erwartungen
der Personen entspräche. Tatsächlich wird es dem Soziologen durch
Inwieweit, so wollen wir jetzt fragen, vermag diese Soziologie der Übernahme des Gesichtspunkts des Akteurs möglich, einen nor-
Kritik - innerhalb dessen umgesetzt, was Nicolas Dodier »das mativen Blick auf die Welt zu werfen, ohne daß dieser Blick durch
Laboratorium der Gemeinwesen« genannt hat 30 - zu einem neuen persönliche Optionen (gebunden z.B. an eine spezifische kulturelle
Aufschwung der kritischen Soziologie beizutragen? Wie bereits Zugehörigkeit, ein politisches oder religiöses Engagement) oder
gesehen, setzt eine solche Verknüpfung die Möglichkeit voraus, durch den Rückgriff auf eine inhaltliche Moralphilosophie (wie
innerhalb der begrifflichen Architektur selbst eine normative Dif- den Utilitarismus) geleitet ist.
ferenz einzuführen. Der Rahmen der pragmatischen Soziologie der Mit dem - auf Erhebungen fußenden - Modell des Gerechtigkeits-
Kritik bietet dafür in der Tat eine Möglichkeit. Sie kann dabei auf sinns lassen sich zwar bestimmte kritische Operationen durchfüh-
mehrere - weiter oben erwähnte - Formulierungen aus verschie- ren, die bereits von den Akteuren selbst geleistet werden, indem
denen soziologischen Traditionen zurückgreifen: Zum einen auf z.B. bestimmte Prüfungen in Zweifel gezogen werden und gezeigt
von der amerikanischen pragmatischen Soziologie (z.B. dem Er- wird, daß sie in Urteile münden, die nicht nur auf der Bewertung
1
fahrungsbegriff bei Dewey31 ), zum anderen auf von der Durk- der ihrem offiziellen Format explizit innewohnenden Kräfte beru-
heimschen Moralsoziologie entwickelte Positionen, bei denen die hen, sondern auch auf der impliziten Berücksichtigung angrenzen-
Normativität im Kollektiv verwurzelt wird, und schließlich auf be- der Kräfte - woraus zwangsläufig Ungerechtigkeit folgt. Nehmen
stimmte Positionen, die die kommunitaristisch inspirierte angel- wir einmal Prüfungen im Zusammenhang mit einer Stellensuche.
sächsische Moralphilosophie bezogen hat. Hier ist insbesondere Die Kritik wird sich bemühen zu zeigen, daß sie durch implizite Be-
an Michael Walzer zu denken, der der Kritik eine große Bedeutung rücksichtigung nicht valider sozialer Eigenschaften systematisch
zumißt, diese allerdings insoweit in den Blick nimmt, als sie die von verzerrt werden, so etwa, wenn Diskriminierungen angeprangert
einem Kollektiv anerkannten Werte zugrunde legt. Als gültig er- werden, die bestimmte Kandidaten ins Hintertreffen geraten las-
scheint sie diesem Autor dann, wenn sie zum Protest gegen Hand- sen (Frauen, Personen, deren Nachnamen einen maghrebinischen
lungen führt, die innerhalb einer bestehenden Gruppe und in deren Ursprung verraten, als schwul identifizierte Personen, ältere Perso-
Namen vollzogen wurden, und zwar mit dem Argument, sie ver- nen usw.). Man kann auch - ein weiteres Beispiel - nachweisen,
letzten Werte, denen die Mitglieder dieser Gruppe selbst verpflich- daß die Forderung nach neuerlicher Prüfung selten erfüllt wird,
tet seien. 32 und den Sachverhalt kritisieren, daß Begünstigungen aufgrund
Von einer pragmatischen Soziologie der Kritik aus bestünde die einer bestandenen Prüfung häufig der begünstigten Person ein für
metakritische Position also darin, sich den Gesichtspunkt der Ak- allemal zugeschrieben werden, wie dies auch - negativ - für jene
teure zunutze zu machen, das heißt sich auf ihren moralischen Sinn gilt, die gescheitert sind. Dies ist in Frankreich der Fall, wenn nicht
und insbesondere ihr Alltagsgespür für Gerechtigkeit zu stützen, wieder auszugleichende Folgen positiver wie negativer Art jener
um die Kluft sichtbar zu machen, die zwischen der gegebenen so- Wettbewerbsprüfungen [concours] angeprangert werden, die den
Zugang zu den prestigereichen Hochschulen [Grandes ecoles] oder
30 Nicolas Dodier, »L'espace et le mouvement du sens critique«, Anna/es HSS, zum gehobenen Dienst in bestimmten staatlichen Organen, aber
Bd. 60, 2005, Nr. 1, S. 7-31. auch zu Spitzenpositionen in Großunternehmen eröffnen. Der Ein-
3 1 Zu den Beziehungen zwischen dem Erfahrungsbegriff bei Dewey und bestimm- druck aber, daß derartige kritische Aktionen, wie legitim und ge-
ten Aspekten der pragmatischen Soziologie der Kritik, siehe Joan Stavo-De-
bauge und Danny Trom, »Le pragmatisme et son public al'epreuve du terrain«, sellschaftlich nützlich auch immer, unzulänglich sind, um die Am-
in: Bruno Karsenti und Louis Quere (Hg.), La croyance et l'enquete. Aux bitionen einer kritischen Soziologie zu erfüllen, ist freilich nicht
sources du pragmatisme, Raisons pratiques, Nr. 15, Paris: Editions de l'EHESS von der Hand zu weisen. Mehrere Probleme stellen sich.
2004, s. 19 5-226. Ein erstes Problem hängt damit zusammen, wie die divergierenden
3 2 Michael Walzer, Kritik und Gemeinsinn: Drei Wege der Gesellschaftskritik. Aus
dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Otto Kallscheuer, Berlin:
Positionen der einzelnen Akteure, besonders im Verlauf einer Aus-
Rotbuch Verlag 1990. einandersetzung, interpretiert werden sollen. In Über die Rechtfer-
57
tigung bestand die Lösung in der Konstruktion eines Modells, in Die Hauptschwierigkeit, auf die ein solcher Ansatz zur Abstützung
dem sich alle Hilfsmittel integrieren lassen, die die Akteure bei metakritischer Ambitionen stößt, ist freilich folgende: Die sozia-
ihren Kritiken oder Rechtfertigungen vorbringen können. Gerade len Akteure, deren Auseinandersetzungen der Soziologe beobach-
dadurch steht diese Option mit mehr oder minder strukturalisti- tet, sind Realisten. Sie fordern nicht das Unmögliche. Eine Stüt-
schen Positionen in Verbindung. Doch vertretbar ist diese Lösung ze findet ihr Realitätssinn in der Art und Weise, wie sie sich ihrer
nur unter Bezugnahme auf zwei Rahmen, einen mehr universali- sozialen Umwelt bemächtigen. Den gerechten oder ungerechten,
stischen und einen mehr kulturalistischen. Der universalistische privilegierten oder unterprivilegierten Charakter ihrer Lage schät-
Rahmen ist explizit verworfen, da die Gemeinwesen als historische zen sie ein, indem sie ihr Leben mit dem ihnen nahestehender Per-
Gebilde behandelt werden. Der kulturalistische Rahmen wieder- sonen vergleichen - einem Arbeitskollegen, einem Studienkolle-
um erfährt eine Verschiebung: von der Kultur im Sinne der Anthro- · gen, dessen berufliche Karriere die ihre übertroffen hat usw. Oder
pologie hin zur Politik. Die normativen Fundamente, auf denen sie messen ihre Situation an der ihrer Eltern oder ihre gegenwärtige
Kritik und Rechtfertigung gründen, sind mit in der sozialen Reali- Situation an der einer vergangenen Epoche usw.
tät verankerten Dispositiven verbunden, von denen angenommen Wenn sie dies tun, ziehen die Alltagsmenschen zumindest im ge-
wird, daß sie Produkte der politischen Geschichte einer Gesell- wohnten Ablauf des sozialen Lebens nur selten den allgemeinen
schaft sind, so daß Variationen in den Profilen der verschiedenen Rahmen in Zweifel, in dem die Situationen eingefügt sind, die von
Gemeinwesen, vor allem in ihrem Binnengefüge, innerhalb unter- ihrer Seite aus Empörung und Protest auslösen, das heißt die Ge-
schiedlicher Nationalstaaten feststellbar werden. 33 Die angenom- samtheit der Prüfungsformate und eingeführten Qualifizierungen.
mene Option kann also angefochten werden, z.B. von einem kom- Dies sicher deshalb, weil ihnen mangels Hilfsmitteln zu einer to-
m unitaristischen Standpunkt aus. Dann hieße der Vorwurf, sie talisierenden Sicht die Umrisse dieses allgemeinen Ensembles von
überschätze die Integration der verschiedenen Akteure und Grup- Prüfungen und deren Effekte häufig entgehen. Vor allem aber des-
pen innerhalb eines staatlichen Rahmens. Innerhalb ein und dem- halb, weil die Akteure implizit wissen, daß die an eingebürgerte
selben Nationalstaat können mehr oder weniger integrierte Grup- Formate angelehnten Prüfungen stärker sind als sie selbst; so daß
pen nebeneinander bestehen, mit der Folge, daß einige unter ihnen, es schierer Wahnsinn wäre, für sich selbst grundlegende Verände-
zumindest in Situationen, in denen sie unter sich sind, ganz be- rungen ihres Lebens zu fordern, die einen radikalen Umbau dieses
sondere Formen von Normativität aufrechterhalten (was z.B. der Rahmens voraussetzten. Die Akteure nehmen, zumindest im Ver-
Multikulturalismus sich zu eigen zu machen sucht). Unter Rück- lauf ihrer Alltagsverrichtungen, die Realität durchaus ernst - wie
griff auf den Herrschaftsgedanken wiederum kann vorgebracht auch den realen Charakter der Realitätsprüfung. Der Kellner weiß
werden, daß die ins System der Gemeinwesen integrierten norma- implizit, daß es für ihn keinen Sinn hätte, die Tatsache als unge-
tiven Bezugspunkte lediglich Positionen verallgemeinern und allen recht zu beurteilen, daß er kein Professor ist, weil ihm bewußt
aufzwingen, die den Werten und Interessen herrschender Grup- ist, daß er, auf die Probe gestellt, unfähig wäre, beispielsweise die
pen34 (herrschende Klasse, Kolonisatoren usw.) entsprechen. Anforderungen eines Trigonometrie-Examens zu bestehen (es sei
denn, er hätte das entsprechende Studium absolviert und wäre im
3 3 Michele Lamont und Laurent Thevenot, Rethinking Comparative Cultural Besitz der erforderlichen Diplome und könnte nun dagegen prote-
Sociology. Repertoires of Evaluation in France and the United States, Cam- stieren, wegen einer Diskriminierung - etwa weil er schwarz ist
bridge: Cambridge UP 2000.
34 Ein klassisches und höchst dramatisches Beispiel für die Neuinterpretation
oder nicht das richtige Geschlecht hat oder aufgrund seiner sexuel-
volkstümlicher Praktiken durch die Eliten an der Macht zeigen historische len Ausrichtung usw. - eliminiert worden zu sein).
Arbeiten zur großen Krise der Hexerei, die sich Ende des 16. und in der ersten Im übrigen könnte man sich fragen, ob dieses Modell des Gerech-
Hälfte des 17. Jahrhunderts in einigen Teilen Europas (Lothringen, Deutsch- tigkeitssinns, basierend auf Erhebungen aus den r98oer Jahren,
land, Schweiz usw.) abspielte. Bei den herrschenden Eliten handelte es sich in
einer meritokratischen Konzeption der Gerechtigkeit nicht einen
diesem Fall um kirchliche Autoritäten. In der Folge von Denunziationen, denen
lokale Konflikte zugrunde liegen, werden sie dazu gebracht, Handlungen als niken der Krankenpflege gehören (siehe Robin Briggs, Witches and Neighbours,
Verbrechen gegen die Religion zu kennzeichnen, die zu den traditionellen Tech- London: Fontana Press 1996).
59
zu breiten Raum gibt - und zwar aufgrund seiner kontextuellen Der Eindruck bleibt jedenfalls, daß selbst im utopischen Fall ei-
Abhängigkeit von einem historischen Moment, der gekennzeich- ner Gesellschaft, in der das Verhältnis zwischen Realitätsprüfun-
net war durch das Scheitern jener in den vorhergehenden Jahrzehn- gen und Realität vollkommen in Übereinstimmung gebracht wäre,
ten in Gang gesetzten Bemühungen um Bestätigung und Anerken- die soziale Welt doch immer noch Zielscheibe von Kritik sein könn-
nung einer kollektiven Auffassung von Gerechtigkeit, verstanden te - jedenfalls jener, die als radikale Kritik in dem Sinne zu bezeich-
als soziale Gerechtigkeit. nen wäre, als sie unter Rekurs auf eine komplexe Außenperspek-
Eine gerechte Gesellschaft im meritokratischen Sinn wäre eine, tive nicht nur die Möglichkeit einer Kritik der - korrekten oder
in der jeder Akteur eine seinen persönlichen Fähigkeiten gemäße inkorrekten - Art und Weise ei:öffnen würde, wie die Realitätsprü-
Stelle innehätte, weil Realitätsprüfungen und überprüfte Realität fungen ins Werk gesetzt werden, sondern vielmehr die einer Kritik
in vollkommener Deckung wären. Unter diesen Umständen hätte der Realität selbst.
nicht nur die Kritik der Prüfungen keinen Daseinsgrund mehr, die
Prüfungen selbst nähmen die Gestalt einfacher Routine an und ver-
lören fortschreitend ihren Nutzen. 35 Nun läßt alles darauf schlie- Der Realitätsgrad der Realität
ßen, daß eine Gesellschaft dieses Typs nicht nur nie existiert hat,
sondern daß sie aus mehreren Gründen vermutlich auch nie zu ver- Zu fragen ist also, unter welchen Bedingungen eine metakritische
wirklichen ist. Einer der Gründe hängt mit den Fähigkeiten jedes Position, die die von den Akteuren selbst entwickelten Kritiken
einzelnen zusammen, die, instabil und verborgen, die Prüfung zum Ausgangspunkt nimmt, sich für die Erarbeitung einer Kri-
gerade aufdecken soll. Da die Prüfungen nicht unablässig wieder- tik der Realität als hilfreich erweisen kann. Und die Antwort lau-
holt werden können, wäre die Tendenz sicher groß, diese Poten- tet: dann, wenn die Akteure selbst oder zumindest einige unter
zen im tiefsten Innern der Akteure festzumachen, das heißt in ih- ihnen die dem Gerechtigkeitssinn innewohnenden Verfahren des
rem biologischen Substrat. Eine sich meritokratisch verstehende Vergleichs ihrer Lage mit der der anderen unterschiedlich angehen.
Gesellschaft entgeht schwerlich der Bedrohung durch irgendeine Während aus einer meritokratischen Optik dieser Vergleich un-
Form von Rassismus oder zumindest von biologisierendem Natu- schwer die Form einer individuellen Konkurrenz annimmt, bei der
ralismus. Ein zweiter Grund ist, daß sich unmöglich Prüfungsfor- die Unterschiede zu denjenigen, die denselben Prüfungen ausge-
mate konzipieren lassen, mit denen jede lokal realisierte Prüfung setzt sind, das heißt notwendigerweise auch zu den Akteuren, die
derart eingerichtet werden kann, daß der Aspekt, unter dem die sich zumindest unter bestimmten Aspekten relativ nahestehen, am
Person bewertet werden soll, einerseits begrenzt wird, andererseits stärksten hervorgekehrt werden, werden aus einer auf soziale Ge-
die Kontexteffekte völlig neutralisiert werden. Woraus folgt, daß rechtigkeit gerichteten Perspektive jene Vergleiche favorisiert, die
die Realisierung wahrhaft »gerechter« Prüfungen unter merito- die lagespezifischen Ähnlichkeiten betonen. Parallel dazu wird der
kratischer Perspektive die Einführung eines je besonderen Prü- Gerechtigkeitssinn kollektive Ungerechtigkeiten in den Blick neh-
fungsformats für jede einzelne Prüfung voraussetzte, der eine Ein- men und die Ausbildung eines Sinns für die Totalität begünstigen,
zelperson in einer je besonderen Situation unterworfen wird, mit was die Möglichkeit eröffnet, zwischen besonderen Situationen,
der offensichtlichen Konsequenz, daß den Prüfungen jede Ver- von denen die Akteure eine unmittelbare Erfahrung besitzen, und
gleichsfähigkeit genommen und ihnen damit jedes Vermögen zur den umgreifenderen sozialen Ordnungen, die nur mittels politi-
Rechtfertigung sozialer Hierarchien entzogen wäre. Womit sie scher Konstruktionen zugänglich sind, hin und her zu wechseln.
auch jeden Nutzen verloren hätten. Damit ist zugleich aber auch gesagt, daß die realistische Selbstbe-
schränkung der Proteste, die wir bisher besonders berücksichtigt
3 5 Das Thema ist bereits in den 5oer Jahren von Michael Young in seiner Sozio- haben, nicht auf dem immer gleichen Niveau erfolgt. Sie variiert
Science-fiction Es lebe die Ungleichheit. Auf dem Wege zur Meritokratie (aus
dem Englischen von Hans Th. Asbeck, Düsseldorf: Econ 1991; eine neue überar- zunächst einmal je nachdem, wie stark es der sozialen Realität
beitete Ausgabe erschien 1994 bei Transaction Publishers, London) entwickelt gelingt, den Glauben an ihre Widerstandskraft zu erhalten und bei
worden. den Akteuren das Gefühl zu verinnerlichen, daß die Veränderung
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der Prüfungsformate nicht in ihrer Macht steht. Kurz gesagt: Die der Situationen, deren Zwängen sie ausgesetzt sind, ihre Isolierung
Realität ist widerstandsfähig oder behauptet sich - wie Alain Des- durchbrechen können. Bei aller Verschiedenheit dieser Situatio-
rosieres es nannte - erstens dann, wenn die Instrumente zur Totali- nen, in denen sich Akteure mit ihrerseits unterschiedlichen Eigen-
sierung und Repräsentation dessen, was für das Kollektiv tatsäch- schaften befinden, ermöglichen sie doch den Vergleich oder die
lich oder angeblich relevant ist, imstande zu sein scheinen, das Feld Annäherung. Diese Instrumente, egal ob es sich um solche handelt,
der aktuellen und sogar virtuellen Ereignisse vollständig abzudek- mit denen bis zu den Prüfungsformaten (das heißt konkret bis zu
ken. Und zweitens dann, wenn es ihnen gelingt, das Eintretende den Regelungen, die in unterschiedlichen Graden juristisch fixiert
und vielleicht vor allem das künftig Mögliche als ein Netzwerk von worden sind) vorgedrungen werden kann, oder um solche, die ei-
Kausalbeziehungen zwischen Entitäten und Kräften zu beschrei- nen Vergleich der prüfungsspezifischen Bedingungen begünstigen,
ben, die ihrerseits mittels eines Kategorisierungsinstrumentariums sind zwangsläufig Konstruktionen, die selbst die Perspektive der
identifiziert und stabilisiert werden, das mit quantifizierenden Ver- Totalität einnehmen.
fahren kompatibel ist. Die Selbstbeschränkung der Proteste ist von daher am stärksten in
Diese - verwaltungstechnischen, buchhalterischen, statistischen jenen atomisierten sozialen Situationen, in denen jeder nur auf
oder politischen-Instrumente, die vor allem (aber nicht ausschließ- seine eigenen Kräfte bauen kann, und wird geringer in solchen
lich) in den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften der Ver- Perioden, in denen kollektives Handeln möglich wird, nicht zuletzt
fügungsmacht des Staates (oder zwischenstaatlicher Organisatio- in Ausnahmesituationen, in Revolutionen und Aufständen. Ge-
nen) unterstehen, ermöglichen es, die Realität um einen Zentral- kennzeichnet sind diese historischen Situationen durch die sich
wert herum zu organisieren, nämlich dem Mangel, und zugleich unaufhaltsam fortsetzende Auflösung der Zwänge des sozialen Le-
deren Repräsentation durch den Bezug auf Notwendigkeit zu bens; eine Auflösung, die das Feld der Möglichkeiten öffnet und
überdeterminieren. Die Realität ist widerstandsfähig oder behaup- damit Erwartungen und Aspirationen freisetzt, die bislang, weil
tet sich, solange im öffentlichen Raum kein Ereignis auftaucht, das verdrängt oder als unzulässig, ja irrsinnig eingeschätzt, nicht ge-
die prästabilierte Harmonie zwischen Realität und inszenierter hört worden waren. Derartige Forderungen würden, in normalen
Realität zu durchbrechen vermag; sei es, daß ein solches Ereignis Situationen durch isolierte Einzelne geäußert, die nur im eigenen
nicht stattfinden kann, sei es, daß es unsichtbar bleibt. Daher kann Namen sprechen und sich nur auf sich selbst berufen, als reiner
die Erfahrung des Mangels, die jeder tagtäglich machen kann, und Wahnsinn im durchaus psychiatrischen Sinn erscheinen. Sie hätten
insbesondere die der Zwänge, an denen sich die Wünsche eines alle Aussicht, als Symptome eines Realitätsverlustes interpretiert
jeden brechen, unmittelbar auf die Realität bezogen werden, die zu werden, der ja das Symptom des Wahnsinns darstellt.
durch jene die Ordnung garantierenden Instrumente konstruiert Eine unserer früheren Studien galt der öffentlichen Anprangerung
wird, und zwar in der Vorstellung ebenso wie im Faktischen und von Ungerechtigkeiten insbesondere durch Leserbriefe. Eine Be-
im Bereich der Kausalitäten, deren Auswirkungen jeder, der ihren fragtengruppe ohne besondere psychiatrische Kenntnisse wurde
Zwängen unterliegt, auf seiner je eigenen Stufe spüren kann. Auf- gebeten, eine repräsentative Auswahl von 300 Briefen an die Tages-
rechterhalten wird die Realität der Realität also durch die »Seriali- zeitung Le Monde zu lesen, in denen eine erlittene Ungerechtigkeit
tät«, »die Ohnmacht als Verbindung zwischen den Gliedern der aufgeführt wurde, und den Geisteszustand der Autoren zusammen-
Serie«. 36 fassend zu bewerten (die Noten reichten von r als Ausdruck für gei-
Aus denselben Gründen wird aber die Möglichkeit, in die Realität stig völlig gesund bis zu ro als Ausdruck völliger geistiger Verwir-
eine Art Spielraum einzuführen, ebenfalls davon abhängen, in wel- rung). Mit dieser Arbeit ließ sich so etwas wie eine Grammatik der
chem Umfang den Akteuren praktische Dispositive und kognitive Normalität entwerfen. Zum einen brachte sie zutage, welche emi-
Hilfsmittel zur Verfügung stehen, mit denen sie, durch Vergleich nente Rolle der gewöhnliche Sinn für Normalität bei den Urteilen
spielt, mit denen die Menschen im Alltag konfrontiert sind, insbe-.
3 6 Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Bd. I: Theorie der gesell-
sondere (wie auch hier) dann, wenn sie zu Protestaktionen schrei-
schaftlichen Praxis. Deutsch von Traugott König, Reinbek b. Hamburg: Ro-
wohlt 1967, S. 29 5.
ten und ihren Anliegen öffentliche Anerkennung zu verschaffen
suchen. Diese Studie zeigte andererseits, daß die Aussichten der- Frage und dem bereits angeführten Sinn für die Normalität als
artiger Proteste gegen erlittenes Unrecht, als normal (wenn nicht Bekundung des Realitätssinns verwiesen. Die Art, wie die Reali-
sogar als gerechtfertigt) aufgenommen zu werden, in starkem Maß tät sich jedem einzelnen darbietet, macht verständlich, warum der
davon abhingen, wie weit es ihren Urhebern gelang, sich auf glaub- Grad der Akzeptanz einer öffentlichen Anprangerung von Unge-
würdige Weise mit einem Kollektiv (etwa einer Vereinigung zur rechtigkeit oder einer Forderung sehr niedrig ist, wenn sie von
Verteidigung der Freiheiten oder Menschenrechte) zu verbünden, einer einzelnen Person geäußert werden (dieser dabei sogar drohen
das ihre Klage bekräftigen und unterstützen konnte. 37 kann, als verrückt eingestuft zu werden), dagegen zunimmt, so-
Hier ist kurz zu präzisieren, was wir unter »Kollektiv« verstehen. bald die Anprangerung oder die Forderung von anderen zu den
Natürlich kann man die Ansicht vertreten, wie es die vom Indivi- ihren gemacht werden, diese sogar Evidenzcharakter gewinnen
duum ausgehenden Soziologien schon immer tun (in Frankreich können, wenn sich der Eindruck durchgesetzt zu haben scheint, es
etwa Raymond Boudon mit dem »methodologischen Individualis- sei richtig, ihnen die Kennzeichnung als »kollektiv« zuzusprechen.
mus«), Kollektive (Gruppen, Klassen, Nationen, Ethnien usw.) zu Tatsächlich scheint der Gehalt der Realität für den je einzelnen ei-
Subjekten von Tätigkeitswörtern zu erheben - etwa einem Kollek- nen unsicheren Charakter aufzuweisen. 38 Die Beziehung zur Rea-
tiv die Möglichkeit zuzuschreiben, einen Willen zu haben, zu kal- lität ähnelt in dieser Hinsicht der, die Rene Girard zufolge der
kulieren, Strategien umzusetzen, Erreichtes einzuschätzen, Regeln einzelne zu seinem eigenen Wunsch bzw. Begehren unterhält. 39 Der
anzuwenden usw. -sei mißbräuchlich und zweifelhaft, würden da- einzelne erkennt die Realität (oder erkennt das, was in seiner Er-
mit doch diese körperlosen Entitäten wie Personen behandelt. Von fahrung der Realität entspringt) nur, weil andere sie ihm als solche
diesem Standpunkt aus dürfen Gemeinschaften zur Erklärung so- bezeichnen. Die Realität leidet gewissermaßen an innerer Fragili-
zialer Phänomene nicht herangezogen werden; derartige Gemein- tät, so daß die Realität der Realität unaufhörlich bestärkt werden
schaften sind ihm Fiktionen. Daß so verstandene Gemeinschaften muß, um bestehen zu bleiben. Auf einen derartigen Prozeß muß
und Kollektive im allgemeinen Fiktionen sind, ist unbestritten. wohl verwiesen werden, will man die Rolle verstehen, die der Be-
Schwieriger wird es, wenn man sich die Tatsache vor Augen hält, zug auf Kollektive nicht für den Soziologen, wohl aber für die
daß beileibe nicht nur die Soziologen sich auf Gemeinschaften (oder Akteure selbst spielt. Später wird erkennbar werden, inwieweit
Kollektive) beziehen, sie vielmehr bei ihrem Versuch der Theore- diese radikale Ungewißheit notwendig ist zum Verständnis dessen,
tisierung der Gesellschaft lediglich auf einen Konstruktionstypus was gemeinhin Institution genannt wird, und welche in unseren
zurückgreifen, der von den Akteuren selbst in ihrem sozialen Ver- Augen zentrale Rolle sie im Ablauf des gesellschaftlichen Lebens
halten ständig angewandt wird. Es dürfte schwerfallen, Gesell- spielt, notwendig ist diese Ungewißheit aber auch zur Identifizie-
schaften zu finden, in denen es diese Art und Weise, die Reflexivität rung der Widersprüche, die die Institution in sich birgt (und die
gesellschaftlichen Handelns zu konstruieren, nicht gibt. Woraus dem Gesellschaftlichen insgesamt einen paradoxen und fragilen
folgt, daß eine Soziologie, die modellhaft darstellen will, wie so- Charakter verleiht).
ziale Akteure Gesellschaft produzieren, durchaus der Auffassung
sein kann, daß die Gemeinschaften (oder, im allgemeinen, die Kol-
lektive) Fiktionen darstellen, wenn sie nur (an)erkennt, daß diese Immer dieselben, die ...
Fiktionen einen offenkundig notwendigen Charakter haben und
allein schon aus diesem Grund einen Platz in der soziologischen Das Beispiel der Anprangerungen von Ungerechtigkeit fortsetzend,
Theorie finden müssen. (Wir werden dieses Thema anläßlich der ließe sich sagen, daß der Umfang, in dem der Realitätssinn sich auf
Frage der Institutionen wieder aufgreifen und weiter zu klären ver-
suchen.) 3 8 Was die heute weitgehend vergessene Sozialpsychologie der r94oer und r9 5oer
Vorab sei aber schon auf den Zusammenhang zwischen dieser Jahre zu einem ihrer Lieblingsthemen gemacht hatte. Siehe z.B. Eleanor Mac-
coby, Theodor Newcomb und Eugene Hartley (Hg.), Readings in Social Psy-
chology, New York: Holt, Rinehart & Winston 1952.
37 Siehe L. Boltanski, » La denonciation publique des injustices«, a. a. 0.
39 Rene Girard, Mensonge romantique et verite romanesque, Paris: Grasset r96r.
die Urteile über die von den Akteuren geäußerten Ansprüche und wie sie aus dem Common sense entsteht, lautet: Warum sind es
Forderungen auswirkt, weitgehend davon abhängt, inwieweit die- immer dieselben, die alle oder doch die meisten Prüfungen gleich
se Forderungen sich als individuelle oder sogar nur lokale darstel- welcher Art bestehen, und umgekehrt: Warum sind es immer die-
len bzw., was auf dasselbe hinausläuft, so interpretiert werden, selben, die bei allen oder fast allen Prüfungen schlecht abschneiden
oder aber als kollektive und mit dem berechtigten Anspruch auf all- (in der Sprache von Über die Rechtfertigung: die Kleinen)? Daß
gemeine Geltung. Zunehmende Verallgemeinerung ist mithin eine diese Frage dem Gerechtigkeitssinn der Akteure fremd wäre, kann
notwendige Bedingung für den Erfolg öffentlichen Protests, vor- kaum behauptet werden. Andernfalls sperrte sie sich völlig einer
ausgesetzt, sie erfolgt auf glaubwürdige Weise. pragmatischen Soziologie der Kritik. Sie stellt sich darin allerdings
Deshalb sind Situationen, die wir hier, in aller Kürze, als revolu- anders, je nach Verfassung des sozialen Instrumentariums, zumal
tionäre bezeichnen wollen, auch so günstig für die Ausweitung der Klassifikationsformen, die zur Verfügung stehen, um kollek-
von Protestaktionen, die ihrerseits aus dem Schwächerwerden tive Entitäten zu konstruieren und sie einer Totalität einzuschrei-
der Zwänge resultiert, die der Realitätssinn in normalen Situatio- ben und so Begriffe wie Herrschaft und Ausbeutung sinnhaft wer-
nen gegenüber Forderungen ausübt. In solchen historischen Situa- den zu lassen.
tionen, die durch Kollektivierung individueller Klagen und Be- Gut sichtbar wird dies beim Vergleich zweier entgegengesetzt ver-
schwerden gekennzeichnet sind, ist die Aufmerksamkeit für Unter- laufender Bewegungen, von denen die französische Gesellschaft
schiedliches sicher nicht aufgehoben, wohl aber verschoben von (und sicher allgemeiner die westlichen Gesellschaften) in den letz-
individuellen Unterschieden im Nahbereich auf Unterschiede im ten dreißig Jahren heimgesucht wurden: zum einen die Individuali-
Fernbereich, die Kollektive oder Gruppen trennen. Allerdings darf sierung der Beziehung zur Arbeit und zum anderen die Kollektivie-
nicht unterschlagen werden, daß dieser Prozeß pathologisch wer- rung der Genderbeziehung. Ohne hier in die Einzelheiten zu gehen,
den kann, wenn globale kategoriale Unterschiede von außen her- läßt sich doch zeigen, wie das Zugehörigkeitsgefühl zu einer gesell-
angetragen und nicht aus der Erfahrung der Akteure geschöpft schaftlichen Gruppe und vor allem zu einer sozialen Klasse, das
werden. Dann besteht die Gefahr, daß diese Akteure sie auf das Anfang der Soer Jahre noch sehr ausgeprägt war, bei den Akteuren
räumlich Nahe projizieren, um jenen Unterschieden konkretere einherging mit der Verinnerlichung von Klassifikations formen, die
Gestalt zu geben, und andere Akteure, die auf lokaler Ebene leicht der jeweiligen Stellung in den Herrschaftsverhältnissen Rechnung
höhere Vorteile als sie selbst genießen, als Vertreter jener externen trug. Hier ist insbesondere an ein Verwaltungsinstrument des als
und schädlichen Kräfte identifizieren, vor denen sie gewarnt wor- Organisator auftretenden Staates zu denken - die sozioprofessio-
den waren - mit der möglichen Folge, daß der Prozeß des Verglei- nellen Kategorien-, das etwa zwischen Mitte der 3oer und Mitte
chens und Annäherns sich umkehrt und in einen Mechanismus der der 5oer Jahre in der Folge von Protestbewegungen eingerichtet
Zersplitterung und des brutalen Kampfes aller gegen alle ausartet. worden war. Über vielfältige Vermittlungsstufen (Tarifverträge,
In diesem Sinne entarten Revolutionen, wenn sie von Avantgar- Umfrageinstitute, Rentensysteme usw.), prägten diese Klassifika-
den monopolisiert werden, die auf Räume konkreter Lebenspraxis tionen sich rasch den kognitiven Dispositiven der Akteure ein, mit
dogmatische Instrumente der Identifikation und Kategorisierung denen diese sich im sozialen Raum verorten, die anderen und sich
projizieren. 40 selbst identifizieren. 41 Bekanntlich hat sich dieses Zugehörigkeits-
In Situationen jedoch, in denen der Prozeß des Vergleichens in der gefühl zu Kollektiven erheblich abgeschwächt und ist vor allem
Erfahrung der Akteure wurzelt, entwickelt er sich dann, wenn die auch orientierungslos geworden, und zwar in den letzten 20 Jah-
Frage, warum der Wert einer betreffenden Person in der Prüfung ren, einer Periode also, die doch gerade durch anwachsende
anerkannt wurde und ob dies denn rechtens sei, ersetzt wird durch Ungleichheiten und sinkende soziale Mobilität, das heißt durch
eine andere, die von Beginn an eine kollektive Wendung nimmt.
4 I Siehe Luc Boltanski, Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen Grup-
Diese Frage, die bewußt naiv gestellt werden kann, das heißt so, pe. Aus dem Französischen von Hella Beister, Frankfurt am Main: Campus
40 Ich beziehe mich hier auf eine Arbeit von Natalia Suarez über das Alltagsleben 1990, sowie A. Desrosieres und L. Thevenot, Les categories socio-profession-
in Bürgerkriegssituationen in Kolumbien (im Druck). nelles, a. a. 0.
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Verstärkung der Klassenschranken geprägt ist. Ohne deren unmit- fach, muß diese Vorstellung doch die unleugbare Hürde der indi-
telbare Folge zu sein, schließt diese Tendenz sich doch sehr eng der viduellen Unterschiede und Besonderheiten überwinden. Sie muß
Zerschlagung der semantischen Instrumente zur Identifizierung durch den Nachweis von Äquivalenzen überwunden werden, die
und Klassifizierung der sozialen Gruppen und Antagonismen an, die Personen unter einem als präferentiell ausgewiesenen Aspekt
die auf Druck der Arbeiterbewegung42 hin geschaffen und zum Teil vergleichbar macht - womit wiederum andere mögliche Aspek-
ins Regierungsinstrumentarium des Staates integriert worden wa- te, unter denen verschiedene Personen gruppiert werden könnten,
ren.43 Das Ungerechtigkeitsgefühl ist deshalb nicht verschwunden, tendenziell ausgeblendet und als sekundäre behandelt werden.
hat sich lange aber als eine Art Ressentiment bemerkbar gemacht, Ich habe dies vor einigen Jahren anhand der zwischen Mitte der
als eine Art Stimmung oder innere Unruhe, die schwer zu objekti- 3oer und Mitte der 5oer Jahre des letzten Jahrhunderts erfolgten
vieren waren, da Instrumente fehlten, mit denen sich verschiede- Herausbildung der Kategorie der Führungskräfte [cadres] zu zei-
nen Bereichen zugehörige Prüfungen ungleich und unterschiedlich gen versucht (mit der Absicht, eine Alternative zu dem Naturalis-
unterprivilegierten Akteuren hätten zuordnen lassen. mus oder Substantialismus aufzubauen, der die Art und Weise
Während desselben Zeitraums sind andererseits die aus der männ- kennzeichnet, mit der der strukturalistische Marxismus damals
lichen Herrschaft erwachsenden Ungleichheiten zwischen den Ge- die Frage der gesellschaftlichen Klassen aufwarf). 44 In dieser Studie
schlechtern zwar nicht verschwunden, konnten aber von Kollek- war ich im Detail der erheblichen - sowohl kognitiven, politischen
tiven problematisiert und zum Ausgangspunkt spezifischer For- wie institutionellen - Arbeit gefolgt, die mit der Entwicklung die-
derungen und Kämpfe erhoben werden. Diese Verlagerung wäre ser Kategorie einhergegangen war, einer Kategorie, die vor den
nicht möglich gewesen ohne die von der feministischen Bewegung 3oer Jahren unverständlich gewesen wäre und deren Existenz ab
vorangetriebene Entwicklung einer Semantik, von der aus die von den 6oer Jahren doch als unbestreitbar evident gelten sollte (bis sie
den Frauen im allgemeinen erlittene Unterdrückung (so etwa die dann in den 9oer Jahren wieder in Zweifel gezogen wurde). Die
sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, die in den Gewerkschafts- Studie wies aber auch nach, wie andere Modi möglicher Grup-
arenen lange Zeit weder gehört noch überhaupt zur Sprache ge- pierung, die auf anderen Äquivalenzprinzipien beruhten, in dersel-
bracht werden konnte) beschreibbar wurde, womit die Brücke ben Periode geprüft worden waren, ohne daß es ihnen gelungen
zwischen der einzelnen Erfahrung einer Frau und der Lage der wäre, dauerhaft und glaubwürdig Gestalt zu gewinnen (wie in
Frau in ihrer Allgemeinheit geschlagen werden konnte. Frankreich zum Beispiel die Kategorie der »Mittelklasse«, die es,
In den erwähnten Beispielen ist nun die Frage der richtigen bzw. zumindest bis vor kurzem, nie zu institutioneller Anerkennung
gerechten Bewertung der individuellen Verdienste und der gerech- brachte).
ten Verteilung der materiellen und symbolischen Güter auf die In- Bleiben wir beim Beispiel der sozialen Klassen. In bestimmter Hin-
dividuen entsprechend ihren Verdiensten durch eine andere Frage sicht ist völlig richtig, darin nur Fiktionen zu sehen. Nur zu deut-
ersetzt worden, nämlich: Was meint eigentlich dieselben, und wie lich schlägt der fiktionale Charakter bei einer substantiellen De-
muß die Beweisführung erfolgen, damit aufgedeckt wird, daß im- finition von Klassen durch, so als wären die Kategorien, die die
mer für dieselben die Realität zufriedenstellend ist und für ande- Kategorisierungsarbeit sichtbar werden läßt, in alle Ewigkeit im
re, die in dieser ungünstigen Hinsicht ebenfalls dieselben sind, die verdinglichten Gewebe des Sozialen eingebunden. 45 Diese Verding-
Realität immer hart? In den Kern der Kritik die Vorstellung von lichung setzt in erster Linie auf quasi juristische Verfahren der
Klasse, von sozialer Klasse (aber auch von Geschlecht/Gender, Definition und Klassifikation und läßt eine Reihe von Problemen
von ethnischer Klasse usw.) auf Dauer festzusetzen, ist nicht ein- hervortreten, die lediglich Artefakte darstellen, wie etwa das Ge-
nerationen von Soziologen marxistischer Provenienz beschäfti-
42 Siehe L. Boltanski und E. Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, a. a. 0., gende Thema der »Klassengrenzen«. Unter einem anderen Aspekt
S. 3 3 8-3 76.
4 3 Alain Desrosieres, » L'Etat et la formation des classes sociales. Quelques particu- 44 L. Boltanski, Die Führungskräfte, a. a. 0.
larites frarn;aises«, in: Alain Desrosieres, Gouverner par les nombres, Bd. II, 4 5 P. Bourdieu und L. Boltanski, »Titel und Stelle. Zum Verhältnis von Bildung und
Paris: Mines-ParisTech 2008, S. 293-304. Beschäftigung«, a. a. 0.
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wird der Bezug auf die sozialen Klassen aber auch als notwendiges de Ideologien gibt, deren Funktion es nicht zuletzt ist, Ungleichhei-
Pendant einer sozialen Ordnung sichtbar, die die geregelte Kon- ten zugleich kleinzureden und zu rechtfertigen, läßt sich doch zei-
kurrenz zwischen einzelnen zu ihrem obersten Wert erhebt. 46 In- gen, daß diese Konstruktionen in erster Linie auf die Disziplinie-
dem sie sich das (unrealisierbare) Ideal einer gerechten Verteilung rung der herrschenden Klasse selbst abzielen, deren Angehörige,
der individuellen Fähigkeiten vorgibt, überprüft sie die Realität zumal wenn sie jene das Kind von dem autonomen und verant-
selbst, formatiert sie anhand von Realitätsprüfungen. Letztere pas- wortlichen Erwachsenen trennende Schwelle erreichen, ebenfalls
sen zusammen, in dem Sinne, daß eine Schwäche in einer bestimm- mit der Spannung zwischen einem egalitären Ideal und einer mas-
ten Hinsicht, die durch einen bestimmten Typ von Prüfung sank- siv ungleichen Faktizität konfrontiert werden.47 Die gesellschaft-
tioniert wird, mit großer Wahrscheinlichkeit die Art und Weise liche Funktion der herrschenden Ideologien besteht also wesent-
beeinflußt, in der die Akteure anderen Arten von Prüfungen trot- lich darin, eine relative Kohäsion zwischen den verschiedenen
zen müssen, die sie vorgeblich unter anderen Gesichtspunktente- Fraktionen dieser Klassen aufrechtzuerhalten und (wie Raymond
sten - dies alles gemäß der nur allzu bekannten Logik der Kumula- Arons Interpretation von Pareto zeigt48 ) das Vertrauen zu stärken,
tion von Benachteiligungen und von Vorteilen. das deren Angehörige in die Wohlbegründetheit ihrer Privilegien
haben können. Was die beherrschten Klassen anbelangt, müssen
allerdings andere Interpretationen entwickelt werden, solche näm-
Die kritische Soziologie als Kritik der Realität lich, die dem Zusammenhang zwischen dem Stand der Dispositive,
die die Festigkeit der Realität mehr oder weniger sicherstellen, und
Wird davon ausgegangen, daß Akteure in der Regel zum einen mit dem Zustand der kollektiven Dispositive Rechnung trägt, auf die
der kognitiven Fähigkeit ausgestattet sind, Vergleiche und Zuord- sich die Akteure stützen können, um sich von der Realität loszurei-
nungen vorzunehmen, in dem Sinne, daß ihnen nicht entgeht, daß ßen, deren Gültigkeit in Zweifel zu ziehen und, vor allem, deren
(immer oder fast immer) dieselben Erfolg haben und dieselben Macht herabzusetzen.
scheitern, und zum anderen über einen die Vorstellung eines ge- Untersucht man die aktuelle Verfassung der kritischen Kräfte in
meinsamen Menschseins beinhaltenden Gerechtigkeitssinn verfü- den kapitalistischen Demokratien, wird dies sehr gut sichtbar. Was
gen, und damit auch über einen Sinn für die grundsätzliche Gleich- der Kritik als kollektivem Unternehmen gegenwärtig fehlt, ist we-
heit der Menschen (auch wenn dieser mit Exklusivitätsansprüchen, niger die kritische Energie, die durchaus bei vielen anzutreffen ist,
nationalistischen oder sogar rassistischen Auffassungen des Kol- als ein Hintergrund, von dem sich die Kritik absetzen und Gestalt
lektivs konfligieren kann), stellt sich die Frage: Warum nehmen sie gewinnen könnte (um mich eines Bildes der Gestaltpsychologie
die Faktizität von Ungleichheiten hin, die so offensichtlich und zu bedienen), so als wäre sie, kaum formuliert, auch schon den
dauerhaft sind, daß selbst eine meritokratische Logik sich mit ihrer Formaten integriert, die die Realität in ihren öffentlichen Dimen-
Verteidigung schwertut? Die marxistische Vorstellung der Ent- sionen gestalten. Entmutigt wird die Kritik durch die Schwierig-
fremdung wieder aufgreifend, hat die kritische Soziologie dieses keit, sich dem zu entziehen, was man-in Anlehnung an eine Meta-
Paradox der offenkundigen Unterwerfung unter die Faktizität der pher Sartres - die Serialität und Viskosität des Realen 49 nennen
Verhältnisse oft dadurch zu interpretieren versucht, daß sie auf die könnte, das heißt seinem Übermaß an Realität, und nicht, wie
Glaubensüberzeugungen und Illusionen der Akteure abhob, deren häufig zu hören, durch ein fehlendes »Projekt« oder eine fehlende
Opfer sie angeblich sind, da sie den herrschenden Ideologien unter- »Alternative« zur gegenwärtigen Situation. Wie die Sozialgeschich-
worfen sind und deren kategoriale Strukturen verinnerlicht haben.
Ohne in Zweifel ziehen zu müssen, daß es so etwas wie herrschen- 4 7 Nicholas Abercrombie und Bryan Turner, »The dominant ideology thesis«, The
British Journal of Sociology, Bd. 29, 1978, Nr. 2, S. 149-170.
46 Siehe Christian Lava!, L'homme economique. Essai sur !es racines du neolibera- 48 Raymond Aron, Hauptströmungen des modernen soziologischen Denkens:
lisme, Paris: Gallimard 2007, sowie Pierre Dardot und Christian Lava!, La nou- Durkheim - Pareto - Weber, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1979, S. 98-175.
velle raison du monde. Essai sur la societe neoliberale, Paris: La Decouverte 49 J.-P. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a. a. 0. ( r. Buch: Von der indivi-
2009. duellen Praxis zum Praktisch-Inerten).
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te der Arbeiterbewegung nachdrücklich zeigt, haben die Revolten· schaft ausübt-, besteht die Frage der Zahl, kritisch gewendet, dar-
der Vergangenheit nie auf eine nach dem literarisch-philosophi- in, sich zu fragen, wie eine kleine Zahl von Menschen ihre Kraft
schen Modell der» Utopie« in allen Einzelheiten ausgepinselte »Al- und Stärke erhöhen kann, indem sie sich so verbünden, daß die
ternative« gewartet, um mit Eklat auszubrechen-im Gegenteil: es Illusion entsteht, sie handelten wie ein einzelner Mensch. Auf die
konnte immer nur von einer Revolte aus so etwas wie eine »Altet- größere Zahl derer bezogen, die die Herrschaft einer kleinen Zahl
native« überhaupt auftauchen, nicht umgekehrt. Freilich ist die erleiden, richtet sich die Frage nun aber nach den Bedingungen, die
Revolte - im Sinne eines Aufstands -, deren recht außergewöhn- die Fragmentierung der Beherrschten begünstigen. Denn wenn
liches Auftreten häufig selbst lediglich eine Reaktion auf einen eine kleine Zahl von Akteuren sich auf eine beherrschende Posi-
staatlichen Ausnahmezustand 50 darstellt, nur ein Mittel unter an- tion hieven kann, weil jeder einzelne seine zwangsläufig begrenzte
deren, um gegenüber der Realität auf Distanz zu gehen oder sie, Kraft und Stärke durch das Bündnis mit den anderen erhöht hat,
wenn man will, zu relativieren. Diese Distanzierung nun wird - folgt daraus, daß die Unterworfenheit der Beherrschten im Fak-
wie im weiteren erläutert werden soll - begünstigt durch die auf tum ihrer Gespaltenheit gründet, die bewirkt, daß jeder einzelne
eine Metakritik der sozialen Ordnung zielenden soziologischen von ihnen lediglich die ihm als isolierten einzelnen gegebene Kraft
Unternehmungen, setzt das Projekt der Infragestellung einer sozia- und Stärke mobilisieren kann. Zugleich stellt die Möglichkeit, ge-
len Ordnung in ihrer Totalität doch die Einnahme eines Stand- gen die Herrschaft zu kämpfen, indem die Beherrschten dazu ge-
punkts abseits der Realität voraus, eines Standpunkts, in bezug auf bracht werden, aus dem Zustand der Fragmentierung in den des
den gern zugestanden sein soll, daß er als solcher aus einer gedank- Kollektivs überzugehen, eines der Hauptziele der Befreiung dar,
lichen Erfahrung oder einem Gedankenexperiment erwächst und die sich die Kritik vorgibt. Auch wenn dieses Unterfangen - wie an
in diesem Sinne durchaus fiktionalen Charakter besitzt. Doch un- der Aufklärung gut sichtbar - in einer ersten Etappe dahin führen
ter Rückgriff auf diesen äußeren Hebel kann die Realität partiell sollte, die Akteure aus ihren überkommenen kollektiven Zugehö-
ihres Notwendigkeitsanspruchs entkleidet und so behandelt wer- rigkeiten zu lösen, nämlich sie als autonome Individuen zu bestim-
den, als sei sie relativ arbiträr. men. Diese erste Bewegung hin zur Autonomie ist freilich mit einer
Aus diesem Grunde kann eine Theorie der Herrschaft auch nicht Theorie der Herrschaft erst dann vereinbar, wenn sie, ohne beim
auf den Bezug auf Kollektive und kollektive Aktionsformen ver- Moment der Individualisierung stehenzubleiben, die Frage auf-
zichten. Denn die Anprangerung von Herrschaft- in ihrer elemen- wirft, wie die Autonomie unter Bedingungen der Ausbildung neu-
tarsten Formel - impliziert immer schon die Frage der Zahl. Von artiger Kollektive erhalten, ja verstärkt werden kann.
Herrschaft einer Person über eine andere zu sprechen wäre - so-
fern die Person dabei als rein individuelle und für sich betrachtet
wird (was in der Realität nie der Fall ist) - absolut sinnlos. Im Lassen sich Kritische Soziologie und Soziologie der Kritik
Zustand einer Monade kann keine Einzelperson - wie bereits von miteinander vereinbaren?
Hob bes postuliert- eine andere Person beherrschen. Die Frage der
Herrschaft zu stellen heißt folglich, sich zu fragen, wie Akteure in Greifen wir abschließend noch einmal die uns leitende Unterschei-
kleiner Zahl in der Lage sind, ihre Macht über Akteure in großer dung zwischen kritischer Soziologie und pragmatischer Soziologie
Zahl dauerhaft zu etablieren, sie durch eine semantische Kontrolle der Kritik auf, unter besonderer Beachtung der Möglichkeiten, die
über die Bestimmung dessen, was ist, zu beherrschen und sie der beide Programme bieten, sich den kritischen Aktivitäten der Ak-
einen oder anderen Form von Ausbeutung zu unterwerfen. Wie am teure anzuschließen und sie zu unterstützen. Und da stehen wir
Beispiel der visuellen Metapher deutlich wird, die Hobbes' Levia- auch schon vor einem Paradox.
than als Frontispiz dient - wo die Gestalt des Herrschers sich aus Unser Haupteinwand gegen die kritische Soziologie ist - kurz ge-
der Summe der Körper zusammensetzt, über die er seine Herr- sagt - ihr abgehobener, totalisierender Charakter und ihre Distanz
50 Giorgio Agamben, Ausnahmezustand. Aus dem Italienischen von Ulrich Mül- gegenüber den von den Akteuren in den Alltagssituationen entfal-
ler-Scholl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. teten kritischen Fähigkeiten. Die pragmatische Soziologie der Kri-
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tik dagegen erkennt die kritischen Fähigkeiten der Akteure wie · merk darauf richten, wie sie die soziale Welt gewissermaßen »per-
auch deren Kreativität beim situationsspezifischen Interpretieren formativ« herstellen. Hier geschieht die Beschreibung »von un-
und Handeln voll an. In der Befolgung dieses Programms wird es ten« und wird sich vor allem Situationen zum Gegenstand neh-
gleichwohl schwierig, alle mit einer metakritischen Orientierung men, da innerhalb dieses Rahmens das Handeln sichtbar wird. Sie
einhergehenden Ambitionen zu erfüllen. Vonseiten der kritischen wird die interaktive und interpretative Kompetenz der Akteure
Soziologie sehen wir uns also mit einer Konstruktion konfrontiert, hervorkehren. Aber bei der Gesamtdarstellung der Effekte dieser
die zwar genuin kritischen Möglichkeiten den Weg eröffnet, sich Handlungen wird sie auf Schwierigkeiten stoßen.
aber blind Strukturen unterworfene Handlungsträger vorgibt und Das Problem ist, daß beide Ansätze, so vertretbar beide auch sind,
die kritischen Fähigkeiten der Akteure ausklammert. Bei der prag- unterschiedliche, nur schwer miteinander kompatible Ergebnisse
matischen Soziologie der Kritik wiederum stoßen wir auf eine hervorbringen. Im ersten Fall wird die Betonung auf die Zwänge
Soziologie, die von den kritischen Aktionen der Akteure zwar wirk- und die auf den Handlungsträgern lastenden Kräfte gelegt. Im
lich Notiz nimmt, aber deren eigene kritische Potentialitäten doch zweiten eher auf die Kreativität und die interpretativen Fähigkei-
recht beschränkt scheinen. ten von Akteuren, die sich nicht nur an ihre Umgebung anpassen,
Dieses Paradox, zu dem uns die Frage nach dem Beitrag der Sozio- sondern sie auch fortwährend verändern.
logie zur Sozialkritik geführt hat, stellt die Soziologie, und zwar Wie kommt es, daß die abgehobenen kritischen Soziologien unge-
ganz allgemein das ihr zur Verfügung stehende Beschreibungs- und achtet ihres geringeren Interesses für die kritischen Fähigkeiten der
Totalisierungsinstrumentarium, vor ein heikles Problem. Denn die Akteure gleichwohl eine höhere kritische Kraft zu entfalten schei-
Beschreibung des Sozialen kann von zwei unterschiedlichen Po- nen als die pragmatischen Soziologien der Kritik, die doch jene
sitionen aus unternommen werden. Zum einen von einer bereits Fähigkeiten anerkennen und ernst nehmen? Dafür mag es zwei zen-
bestehenden sozialen Welt aus. In diesem Fall zielt der Soziologe trale Gründe geben. Zum ersten, daß die abgehobenen Soziologien,
darauf, ein Abbild der sozialen Umwelt zu erstellen, in dem sich indem sie die Perspektive der Totalität einnehmen, den minder privi-
ein neugeborenes Wesen ohne seinen Willen vorfindet. Für diesen legierten Akteuren kollektive Hilfsmittel, zumal Klassifizierungs-
Neuankömmling ist die Gesellschaft bereits da und er findet sich modi, an die Hand geben, die ihnen helfen, den individualisierenden
auf einen bestimmten Platz verwiesen. Aus dieser Perspektive kann meritokratischen Repräsentationen, die zu ihrer Fragmentierung
die Beschreibung von einem abgehobenen Standpunkt aus erfol- und damit zu ihrer Beherrschung beitragen, Paroli zu bieten. Mit
gen, der von den als handelnd (als Akteure) ins Auge gefaßten diesen Klassifizierungsinstrumenten (seien es gesellschaftliche Klas-
menschlichen Personen mehr oder minder abstrahiert. Die Be- sen, Geschlechter/Gender, Ethnien oder Altersklassen), zu deren
schreibung wird zur Kartographie, Metrologie und sozialen Mor- Verbreitung diese Soziologien beitragen, werden die minder privi-
phologie tendieren (sie wird statistisch vorgehen), schließlich zur legierten Akteure in die Lage versetzt, ihre kritischen Fähigkeiten
Geschichte (da die bereits bestehende Welt aus der Vergangenheit · zu erhöhen, um gegen die Kräfte zu kämpfen, die zu ihrer Frag-
hervorgeht). Sie wird also Totalisierungsinstrumente nutzen, die mentierung beitragen, und die Sachverhalte (oder Personen) zu
zur Lenkung der Gesellschaft und zu deren Absicherung (meistens identifizieren, durch die sie beherrscht werden.
im Rahmen von Staaten) erstellt worden sind. Diese Lenkungs- Ein zweiter, weniger einsichtiger Grund liegt darin, daß die abge-
instrumente nun, auf denen die soziale Reflexivität aufruht, wenn hobenen Soziologien dadurch, daß sie deutlich die Perspektive der
sie von oben gesteuert wird, benutzt die Soziologie - wie gesehen - Totalität übernehmen - was ja, wie bereits gesehen, voraussetzt,
als Werkzeuge, während sie unter einem anderen Gesichtspunkt eine äußerliche Position (einfacher Außenstandpunkt) einzuneh-
ihre Gegenstände bilden, da sie selbst zum Zweck der Machtaus- men -, die Möglichkeit einer Relativierung der Realität eröffnen
übung konstruiert wurden. (da die soziale Ordnung in ihrer Totalität zu beschreiben bedingt,
Die zweite Position geht von einer sich entwickelnden sozialen daß man so tut, als gäbe es eine Position, aus der man diese beson-
Welt aus. In diesem Fall wird sich der Soziologe auf Beobachtun- dere soziale Ordnung anderen möglichen Ordnungen gegenüber-
gen über die handelnden Personen stützen und das Hauptaugen- stellen könnte). Relativierung aber ist der erste Schritt zur Kritik.
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Umgekehrt schließt die pragmatische Soziologie gerade dadurch, sierung der sozialen Klassen Rechnung zu tragen, die zum einen
daß sie sich am Nahbereich festmacht und von der Realität ausge- mit der wachsenden Zahl der - legalen oder illegalen - Arbeits-
hen will, wie sie sich den Akteuren und dem Beobachter darstellt, migranten einhergeht, die aus politischen oder wirtschaftlichen
diese tendenziell in ihre Realität ein. Notwendigkeiten gezwungen sind, aus den Ländern der südlichen
Dennoch gehen aus der Gegenüberstellung dieser beiden soziolo- Halbkugel zu fliehen, zum anderen mit der Tendenz eines Teils der
gischen Programme die totalisierenden Soziologien mitnichten als herrschenden Klassen, sich vom nationalen Raum zu lösen; diesem
die einzig kritischen hervor. Das hat mehrere Gründe. Teil haben die Wandlungen des Kapitalismus und die Globalisie-
Ein erstes Problem, auf das diese Soziologien stoßen, berührt ge- rung des Finanzwesens ermöglicht, wieder an eine supranationale
nau die Frage, wo denn eigentlich die abgehobene Position lokali- Existenzweise anzuknüpfen, die durch die Weltkriege des 20. Jahr-
siert ist, von der her die Totalisierung zugleich soziologisch rele- hunderts und den Rückzug der Ökonomien auf die nationalen Ter-
vant und auf der Ebene der Sozialkritik wirksam sein kann. Um es ritorien erschwert worden war. Welche Instanzen es sind, auf die
rasch zu sagen, es kann nicht davon abgesehen werden, daß die- sich die Soziologie bei ihren Versuchen der Totalisierung - und in
se Position in der Vergangenheit mit den verschiedenen National- welchen Formen - stützen soll: diese Frage stellt sich heute in al-
staaten verknüpft war, insbesondere im Fall der sich nach dem ler Schärfe. Ganz zu schweigen davon, wie schwierig es heute für
Zweiten Weltkrieg ausbildenden kritischen Soziologien, die mit Soziologen geworden ist, an Datenmaterial zu gelangen: verfügen
der Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten konfrontiert waren. Diese darüber doch Organisationen, die anders als die wohlfahrtsstaat-
Periode war in den westlichen kapitalistischen Demokratien durch lichen Einrichtungen den Sozialwissenschaften (mit Ausnahme der
verstärkte Nationalisierung der sozialen Klassen geprägt, das heißt Ökonomie) mit höchstem Mißtrauen begegnen. Die Folge ist, daß
nicht nur der Mittelklassen, die sich seit dem r9.Jahrhundert ihre die auf Gerechtigkeit zielende Kritik Mühe hat, nicht nur die Kom-
Beteiligung an den vom Staat unternommenen Anstrengungen zu- plexe zu benennen, innerhalb deren Asymmetrien aufgedeckt wer-
nutze gemacht hatten, um ihre - wie Michael Mann es nannte - den sollen, 52 sondern auch die Wesen, die als relevant berücksich-
»infrastrukturelle Macht« über die Gesellschaft 51 zu erhöhen, son- tigt werden müssen, seien es menschliche oder nicht-menschliche
dern auch der unteren Klassen, die diesem Unternehmen lange Zeit Wesen. 53
ferngestanden hatten, und sogar der herrschenden Klassen, deren Ein noch heikleres Problem stellt das unausgeglichene Bild dar, das
supra- oder transnationalen Charakter im r9. und im ersten Drit- die kritische Soziologie von der Realität - auf der einen Seite den
tel des 20. Jahrhunderts Michael Mann nachdrücklich aufzeigt. Es herrschenden Kräften, auf der anderen den Versuchen der Ak-
waren weitgehend die Organisationen des Nationalstaates und teure, sich ihnen zu entziehen - entwirft. Indem sie die kritischen
zumal die des Wohlfahrtsstaates, die die Datenrahmen lieferten, Fähigkeiten der Akteure unterschätzen und ihnen ein Bild von sich
auf die sich die kritischen Soziologien stützten. Das gilt natürlich vermitteln, das ihre Abhängigkeit, Passivität und ihre Illusionen
für die sozioprofessionellen Kategorien der französischen Statistik- hervorkehrt, üben die abgehobenen Soziologien der Herrschaft
behörde INSEE, ein Instrumentarium, das, mit der Verwaltung des der Tendenz nach einen Effekt der Demoralisierung und gewisser-
Staatshaushalts und der Wirtschaftsplanung verbunden, von der maßen der Vergleichgültigung aus, der, zumal in historischen Kon-
Soziologie zur Beschreibung sozialer Klassen herangezogen wur- texten, in denen die Realität ausgesprochen solide verankert zu
de, zum Teil aber auch für die Arbeitssoziologie von Nutzen war, sein scheint, den Relativismus in Nihilismus und den Realismus in
die in den verstaatlichten Unternehmen ihr bevorzugtes Terrain Fatalismus übergehen lassen kann. Indem sie den Akzent allzusehr
gefunden hatte. Heute steht die Kritik einer ganz anderen Situa- auf den unerbittlichen Charakter der Herrschaft legen, auf deren
tion gegenüber, gekennzeichnet durch das Auseinanderbrechen
der Machtzentren, die diesseits wie jenseits des Nationalstaates 52 Siehe Nancy Fraser, Abnormal Justice (http://www.law.yale.edu/documents/
pdf/Intellectual_Life/ltw_fraser. pdf).
angesiedelt sind. Zugleich hat sie der gegenwärtigen Entnationali-
5 3 Wie es die Wesen sind, in bezug auf die Bruno Latour die Frage nach ihrem Ein-
5 1 Michael Mann, State, War and Capitalism. Studies in Political Sociology, tritt in die Politik stellt. Siehe Bruno Latour, Politiques de la nature, Paris: La
Oxford: Basil Blackwell 1988. Decouverte 1999.
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noch im unscheinbarsten Interagieren erdrückende Präsenz, auf· me Macht bestimmter herrschender Gruppen gegenüber beherrsch-
die vertikalen zuungunsten der horizontalen Beziehungen (und dies ten Gruppen abzustützen. Ein ähnliches Problem hatte sich bereits
selbst innerhalb kritischer Kollektive), wirken sich die abgehobe- Durkheim gestellt (gedanklich in diesem Punkt durchaus Freud
nen Theorien nicht nur entmutigend auf der politischen Ebene aus, und, wie häufig beobachtet, auch de Saussure nahestehend), als er
sie erweisen sich auch in Hinblick auf die soziologische Beschrei- die Gesellschaft durch den Zwang definierte, den die kollektiven
bung als unbefriedigend. Sie lassen nur schwer unterschiedliche Normen auf die Wünsche und Verhaltensweisen der einzelnen aus-
Grade von Unterdrückung ausmachen und sind wenig hilfreich, üben - Zwänge, deren Übertretung mit kollektiven Sanktionen
um zu verstehen, auf welche Weise Akteure sich Wege zur Befrei- einhergeht-, zugleich aber auch ein normales Funktionieren dieser
ung bahnen können, sei es auch nur dadurch, daß sie bloß lokale Zwänge von einem als »pathologisch« gekennzeichneten zu unter-
Zonen temporärer Autonomie einrichten oder wenn sie ihre Ak- scheiden suchte. Oder das Problem, das sich, uns näherstehend,
tionen so koordinieren, daß die Notwendigkeit einer sozialen Ord- Axel Honneth und seiner Forschungsgruppe stellt, wenn sie vor
nung in Frage gestellt wird. Dabei bietet die Geschichte mehr als allem über eine Neuinterpretation von Lukacs' Verdinglichungs-
ein Beispiel für derartige Konstellationen. Wer überall Herrschaft begriff »Pathologien des Kapitalismus« zu identifizieren versu-
am Werk sieht, spielt denen in die Hände, die Herrschaft nirgends chen.55
sehen wollen. Ergänzt sei abschließend, daß die abgehobenen Herrschaftstheorien
Dieses Problem der Ausweitung, die auch der metakritischen Orien- aus einem Geist der Systematik heraus dazu neigen, alle Asymme-
tierung aufgegeben ist, läßt sich in etwa mit dem vergleichen, das trien auf eine Grundasymmetrie zu reduzieren (je nachdem soziale
sich Herbert Marcuse in Triebstruktur und Gesellschaft stellt, Klassen, Gender, Ethnie usw.), und, allgemeiner, von der gestreuten
wenn er, nachdem er die Freudsche Problematik der Unterdrük- Beschaffenheit der Macht (worauf Foucault den Akzent gelegt hat)
kung auf alle bekannten Gesellschaftsformen ausgeweitet hat, den sowie vom pluralistischen Charakter der im sozialen Leben wirken-
Begriff der zusätzlichen Unterdrückung entwickelt, um damit die den Bewertungs- und Bindungsmodi abzusehen (den wir in Über die
amerikanische Gesellschaft seiner Zeit zu beschreiben und sie Rechtfertigung mittels des Gemeinwesen-Begriffs in einem Modell
einer radikalen Kritik zu unterwerfen. 54 Ähnlich muß der Herr- zu fassen suchten). Dieser letzte Punkt betrifft nicht nur die Gültig-
schaftsbegriff, soll er sinnvoll sein, so konstruiert sein, daß er nicht keit der soziologischen Beschreibung- er widerspricht auch den kri-
völlig deckungsgleich wird mit der Gesamtheit der sozialen Dispo- tischen Erwartungen der Akteure, die in den demokratisch-kapitali-
sitive und zumal, wie wir sehen werden, mit den institutionellen stischen Gesellschaften gelernt haben, Emanzipationsarbeit nicht
Verfahren zur Bestimmung dessen, was ist, die ja dem sozialen mehr mit der Zustimmung zu sich absolut setzenden Weltanschau-
Leben inhärent sind. Also muß man, wie bei Unterdrückung und ungen zu verwechseln, und die sogar jene Art Toleranz gegenüber
zusätzlicher Unterdrückung, imstande sein, eine Unterscheidung dem Widerspruch erworben zu haben scheinen, die den zentralen
zu treffen zwischen einerseits den Zwängen, die, in einer großen Wall gegen Fundamentalismen jedweder Art bildet.
Zahl von Gesellschaften, wenn nicht in allen ausmachbar, sich Das Verhältnis zum Pluralismus und zu seinem Gegenteil, dem Ab-
zwar mit dem Ideal einer absoluten Autonomie des Subjekts oder solutismus, bildet mithin eines der anstößigen Momente in den
der totalen Befreiung des Begehrens nicht decken, aber aufgrund abgehobenen Theorien der Herrschaft. Eine der Pointen dieser kri-
ihres allgemeinen Charakters tendenziell der Kritik entzogen sind tischen Konstruktionen von Herrschaft besteht nämlich in dem
(da zumindest im stillen davon ausgegangen wird, daß es, würden Aufweis, wie innerhalb der in Frage gestellten sozialen Ordnungen
sie fehlen, schlicht überhaupt keine Gesellschaft geben würde), unterschiedliche Bereiche - religiöse Überzeugungen, moralische
und andererseits jenen Formen von Unterdrückung, die sich über und ästhetische Normen, Symbolbestände, Modi der Etablierung
die Alltagszwänge legen und sie parasitär ausnutzen, um die extre- von Wahrheit usw. - sich an einer Zentralachse ausrichten, die sich
54 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag
ebendadurch als herrschende Ideologie bestimmen läßt, die ihrer-
zu Sigmund Freud. Deutsch von Marianne von Eckardt-Jaffe, Frankfurt am 5 5 Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frank-
Main: Suhrkamp 196 5, S. 40-42. furt am Main: Suhrkamp 200 5.
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seits spezifischen Interessen einer Gruppe - sozialen Klasse, natio- Analysen zu folgen, die in der Aufwertung der Ambivalenz ein
nalen oder ethnischen Gruppe, Geschlecht/Gender usw. - ange- Merkmal der kritischen Komplexe ausgemacht haben, die sich in
paßt ist. Diese Anprangerung des Absolutismus sollte nun eigent- den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften etablieren und
lich die kritischen Theorien vor der Versuchung schützen, alle Di- die damit in Gegensatz, ja in Konflikt treten zu anderen - auf ihre
mensionen des sozialen Lebens über den einen Leisten zu schlagen, Weise durchaus auch als kritisch zu bezeichnenden - Tendenzen,
den »in letzter Instanz« als determinierend eingestuften Faktor, die alle Dimensionen des Lebens auf ein präferentielles Verhältnis
und sie auf den Weg zum Pluralismus führen. Doch gerade die Ein- (zu einer Religion, Ethnie, einer Klasse, einem Geschlecht) verkür-
sicht in die Notwendigkeit der Berücksichtigung des Pluralismus zen wollen, das sich in einer substantiell bestimmten und häufig
scheint den abgehobenen Theorien der Herrschaft in der Regel mit einem realen oder virtuellen Territorium verknüpften Gruppe
abzugehen: in ihnen fällt die Anerkennung der Pluralität tenden- verkörpert - Tendenzen, die in diesem Sinne als fundamentalistisch
ziell mit liberalem Individualismus zusammen. zu kennzeichnen sind.
Um heutzutage glaubwürdig zu sein, müßten die an Metakritik Um das abgehobene mit dem pragmatisch orientierten Programm57
orientierten Soziologien der Herrschaft aus den Niederlagen der vereinbar zu machen, ist es mit einer Art Collage nicht getan. Da-
Vergangenheit Lehren ziehen und sich, unter Beachtung der hier für ist eine fortgesetzte genuin soziologische Arbeit auf der Grund-
vorgebrachten Argumente, einen Analyserahmen vorgeben, mit lage gemeinsamer Instrumentarien und eines gemeinsamen Rah-
dem sich die Beiträge jener beiden Programme, des von uns als mens notwendig, mit dem Ziel der Analyse sowohl der sozialen
abgehoben bzw. totalisierend und des als pragmatisch bezeichne- Operationen, die der Realität Konturen verleihen, als auch jener,
ten, integrieren lassen. Vom abgehobenen Programm bewahrte der die sie in Frage stellen wollen. In den folgenden beiden Vorträgen
Rahmen die Möglichkeit, die durch die Option der Außenposition wollen wir sie skizzenhaft entwerfen in der Gegenüberstellung des-
verschafft wird: die Realität in Frage zu stellen und den Beherrsch- sen, was die Institutionen machen, mit dem, was die Kritik macht,
ten ein Instrumentarium an die Hand zu geben, mit dem sie ihrer wenn sie innerhalb der Gesellschaft wirksam werden.
Fragmentierung widerstehen können, indem ihnen ein Gesamtbild
der sozialen Ordnung sowie Äquivalenzprinzipien an die Hand
gegeben werden, mittels deren sie unter sich Zuordnungen und
Vergleiche vornehmen und durch Zusammenschluß in Kollektiven
ihre Stärke erhöhen können. Vom pragmatischen Programm wie-
derum müßte dieser Rahmen zum einen die Aufmerksamkeit für
die Aktivitäten und kritischen Kompetenzen der Akteure, zum an-
deren die Anerkennung der pluralistischen Erwartungen bewah-
ren, die innerhalb der zeitgenössischen demokratisch-kapitalisti-
schen Gesellschaften im kritischen Sinn der Akteure, einschließlich
der am stärksten dominierten, augenscheinlich eine zentrale Bedeu-
tung haben.
So scheinen die Kollektive, zu denen sich zusammenzuschließen kri-
übersetzt von Martin Suhr, Hamburg: Hamburger Edition 200 5, und Malcolm
tische Akteure heute offenbar bereit sind, solche zu sein, die unter Bull, Seeing Things Hidden. Apocalypse, Vision and Totality, London: Verso
einem bestimmten Gesichtspunkt konstituiert wurden, was die 1999.
einzelnen Akteure nicht hindert, sich unter anderen Gesichtspunk- 57 Eine ähnlich intendierte, aber mit teilweise anderen Mitteln betriebene Arbeit
ten anderen Kollektiven anzuschließen. Hier ist den (beispielswei- stammt von Cyril Lemieux. Siehe vor allem: »De Ja theorie de l'habitus a Ja so-
ciologie des epreuves: relire L'experience concentrationnaire«, in: Liora Israel
se von Zygmunt Bauman und von Malcolm Bull entwickelten 56 ) und Daniele Voldman (Hg.), Michael Pollak. De l'identite blessee a une sociolo-
gie des possibles, Paris: Complexe 2008, S. 179-206, und Cyril Lemieux, Le
56 Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. devoir et la gr!ice, Paris: Economica 2009, S. 179-206.
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3. Die Macht der Institutionen um die Mittel geht, mit deren Hilfe gewöhnliche Akteure im so-
zialen Leben, insbesondere dann, wenn sie ausgebeutet oder be-
herrscht werden, auf das Geschehen Einfluß gewinnen können und
Eine der nächstliegenden Schlußfolgerungen, die sich aus der Prü- ihre Ohnmacht zu überwinden versuchen.
fung des unterschiedlichen Verhältnisses von Soziologie und So- In diesem und dem folgenden Abschnitt sollen diese Mittel zumin-
zialkritik - dem Gegenstand des ersten Abschnitts - ziehen lassen, dest in formaler Hinsicht bestimmt werden. Ich möchte mit dem
bestand in der Betonung eines analytischen Unterschieds zwischen Instrumentarium der Soziologie die Frage erörtern, wie es zu inter-
metakritischen Theorien und Kritiken, die man als gewöhnliche pretieren ist, daß es in der sozialen Welt überhaupt so etwas wie
bzw. Alltagskritiken bezeichnen kann. Die metakritischen Theo- Kritik gibt, wobei ich die durchaus realen Beiträge, die die meta-
rien stützen sich auf soziologische Erhebungen; von einem äußeren kritischen Theorien zur Entwicklung noch der alltäglichsten und
Gesichtspunkt her enthüllen und problematisieren sie die Formen gewöhnlichsten Kritik leisten, gewissermaßen ausklammere. Nach
von Herrschaft in einer bestimmten sozialen Ordnung. Kritiken der Möglichkeit von Kritik fragen heißt anerkennen, daß die so-
dagegen werden aus dem Inneren der Gesellschaft heraus vorge- ziale Aktivität nicht ständig kritisch ist und wohl auch nicht sein
bracht, von Akteuren, die in Auseinandersetzungen verwickelt sind. kann. Die kritische Form hebt sich von einem Hintergrund ab,
Auf sehr unterschiedlichen Ebenen der Verallgemeinerung reihen der, weit davon entfernt, kritisch zu sein, sich vielmehr durch eine
sie sich ein in Sequenzen von Kritik und Rechtfertigung. Aber auch Art stillschweigender Zustimmung zur Realität auszeichnet, wie
die Interdependenz beider Kritiksorten war hervorzuheben: Die sie sich beim Verfolgen gewöhnlicher Tätigkeiten zeigt, oder auch
metakritischen Theorien können die Unzufriedenheitsäußerungen durch ein Selbstverständlichnehmen (the world taken as granted),
der Akteure nicht außer acht lassen und setzen sich zum Ziel, das die Soziologie stark betont hat - nicht zuletzt die phänome-
sie zurechtzurücken und ihnen dadurch eine weniger angreifbare nologisch inspirierte Soziologie, z.B. bei Alfred Schütz. Die im fol-
Form zu verleihen; und was die Akteure angeht, so suchen sie häu- genden entwickelte These lautet: Der Prägnanz dieses Hintergrunds
fig in den metakritischen Theorien Material zur Unterstützung ih- können wir nur dann gerecht werden, wenn wir auf die Soziologie
rer Anklagen. der Institutionen zurückgreifen. Die Frage der Kritik scheint mir
Im zweiten Abschnitt wurden insbesondere zwei Programme ge- unauflöslich mit der der Institutionen verbunden, auf der sie fußt.
genübergestellt, die beide mit den Problemen konfrontiert sind, Ich möchte daher jetzt im Hinblick auf eine Soziologie der Kritik
die von der Beziehung zwischen Metakritik und Alltagskritik her- Elemente der Soziologie der Institutionen in Erinnerung rufen.
rühren. Das erste Programm - das der kritischen Soziologie - ba-
siert auf Kompromissen zwischen übergreifenden soziologischen
Beschreibungen und normativen Positionen und setzt sich vor Auf der Suche nach den »Institutionen«
allem zum Ziel, die Akteure über die Herrschaft aufzuklären, der
sie unterworfen sind, ohne es zu wissen, und ihnen Ressourcen zur Vertieft man die Diskussion um die Tragweite der metakritischen
Entwicklung ihrer kritischen Möglichkeiten zu erschließen. Das Herrschaftstheorien, stößt man in der Tat auf ein besonders dorni-
zweite Programm - das der pragmatischen Soziologie der Kritik- ges Problem der Soziologie, auf das, was sie »Institutionen« nennt.
geht umgekehrt von den kritischen Fähigkeiten der Akteure aus Wie John Searle in seinem Werk über die Konstruktion der gesell-
und versucht zunächst, die von der Soziologie gebotenen Möglich- schaftlichen Wirklichkeit bemerkt hat, nimmt dieser Begriff in der
keiten einzusetzen, um jene explizit zu machen. Anschließend und Soziologie eine recht seltsame Stellung ein. 1 Einerseits ist » Insti-
in zweiter Linie zielt es darauf ab, gestützt auf die Modellisierung tution« einer der Grundbegriffe dieser Disziplin. Ihn auszuklam-
dieser Alltagskritiken und des sich in ihnen äußernden Sinns für mern ist fast unmöglich. Er taucht in den meisten soziologischen
Moral und Gerechtigkeit, normative - also metakritische - Posi- Schriften auf, oft nahezu beiläufig, als sei er so unvermeidlich wie
tionen zu entwickeln. Trotz der bedeutenden Unterschiede zwi- r John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Onto-
schen diesen beiden Programmen ist festzuhalten, daß es in beiden logie sozialer Tatsachen, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt r997.
selbstverständlich. Andererseits wird selten versucht, diesen Be- der Begriff Institution jeweils einen unterschiedlichen Platz ein, in
griff zu definieren oder auch nur zu spezifizieren. Er wird benutzt, beiden jedoch ist er eher negativ affiziert, was ihn mehr oder weni-
als verstehe er sich von selbst, und doch je nach Kontext in ziem- ger zu einer Art Kontrastfolie macht. Das Paradigma der kriti-
lich unterschiedlicher Bedeutung. Bald wird Institutionelles mit schen Soziologie erkennt die Existenz von so etwas wie Institutio-
Sozialem fast gleichgesetzt: Kennzeichnend für »soziale Tatsachen« nen zwar an-das hat vor allem mit seiner Abkunft von Durkheim
wäre demnach, daß sie »instituiert« sind, das heißt institutionellen und der Bindung an den Strukturalismus zu tun. In ihren empiri-
Charakter gewonnen haben, und dadurch den »natürlichen« Tat- schen Untersuchungen und gelegentlich auch in ihren theoreti-
sachen entgegengesetzt (das ist weitgehend Durkheims Position schen Darlegungen zeigt sich jedoch die Tendenz, Institutionen vor
und übrigens teilweise auch die Searles 2 ). Bald wiederum wird allem unter dem Aspekt der von ihnen ausgeübten Herrschaft zu
Institution mit dem Staat in seiner rechtlichen (verfassungsmä- beschreiben - eine Tendenz, die in den 6oer und 7oer Jahren übri-
ßigen) Dimension und mit den Dispositiven gleichgesetzt, deren gens von sehr vielen kritischen Autoren in Frankreich geteilt wird.
»Legitimität« in letzter Instanz auf dem Staat beruht; in Hobbes- In diesem Rahmen ist der Begriff Institution also - anders als bei
scher Manier wird die Institution sodann zum Instrument, das Durkheim - negativ besetzt, und man kann sagen, daß die kritische
menschlicher Zügellosigkeit Schranken aufzuerlegen und damit Soziologie zu einem großen Teil Kritik der Institutionen ist. Gera-
Gewalt im Zaum zu halten erlaubt (ein Motiv, das bisweilen in de die Verbindung beider Auffassungen - daß einerseits die All-
Durkheimschen Analysen durchscheint). Bald spricht man von In- gegenwart von Institutionen und ihre zentrale Rolle im sozialen
stitution, wenn man ein empirisches, zur Welt der Dinge gehören-' Leben im Sinne Durkheims anerkannt wird, andererseits aber, und
des Objekt bezeichnen will, etwa ein Gebäude mit einem Gitter ganz im Gegensatz zu Durkheim, Institutionen vor allem als In-
und einem Pförtner, zum Beispiel eine Bank oder den Sitz einer strumente von Herrschaft gesehen werden - trägt dazu bei, die
Gewerkschaft. Bald assoziiert man Instituiertes mit Dauerhaftem Diagnose Herrschaft ins Endlose zu erweitern: Weil es überall In-
und Notwendigem in Gegensatz zu Labilem und Kontingentem stitutionen gibt, gibt es überall Herrschaft.
(Institutionelles steht dann im Gegensatz zu Situations-, Konjunk- Insbesondere in der Form, die das pragmatische Paradigma wäh-
tur- oder Kontextgebundenem). Bald stellt man den Zwang in den rend der letzten zwanzig Jahre in Frankreich angenommen hat,
Vordergrund und sieht den Typus Institution dort gegeben, wo ignoriert es entweder die Institution und die Ordnung der institu-
Menschen völlig eingesperrt leben (Goffmans »totale Institution«), ierten Tatsachen, oder es markiert sie eher negativ- so die kritische
usw. 3 Soziologie. Die aktuellen Strömungen, die oft als pragmatische
In den zwei oben analysierten soziologischen Programmen nimmt Soziologie bezeichnet werden, haben sich in Frankreich zumindest
teilweise in Reaktion auf die strukturalistisch beeinflußte Sozio-
2 John R. Searle, »What is an institution?«, Journal of Institutional Economics, logie der 6oer und 7oer Jahre entwickelt, also auch in Absetzung
Bd. 1, 2005, Nr. 1, S. 1-22.
von den strukturalistischen Interpretationen Durkheims (der sel-
3 Angesichts der Polysemie des Begriffs Institution, die Jacques Revel insbesondere
bei den Historikern feststellt, unterscheidet er mindestens drei Verwendungswei- ber seine Opposition gegenüber dem Pragmatismus bekundet
sen: Die erste definiert Institution als »juristisch-politische Realität: ihr Ort ist die hatte). Die Tendenz zum Ignorieren der Institutionen wird beson-
,Geschichte der Institutionen<«. Die zweite zielt auf »jede Organisation, die regel- ders deutlich, wenn Beschreibungen, die sich auf das pragmatisti-
mäßig, nach expliziten und impliziten Regeln, in der Gesellschaft funktioniert sche Programm berufen, Urteile implizieren, mit denen die
und von der angenommen wird, daß sie einer besonderen, gemeinschaftlichen
Nachfrage entspricht«, wie etwa »Familie, Schule, Krankenhaus, Gewerkschaft«. beschriebenen Objekte stillschweigend hierarchisiert werden. Der
Die dritte schließlich begreift Institution als »jede Form sozialer Organisation, die Vorrang des Pragmatismus gegenüber dem Strukturalismus nimmt
Werte, Normen, Beziehungs- und Verhaltensmodelle bindet« (diese Definition dann fast Züge einer Moral an (die sich oft auf den späten Wittgen-
stützt sich auf Georges Balandiers Vorwort zur französischen Ausgabe von Mary stein beruft). 4 Auf der einen Seite der böse Strukturalismus: makro-
Douglas' Comment pensent !es institutions [Paris, La Decouverte 1989: dt.: Wie
Institutionen denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991]). Vgl. Jacques Revel: 4 Vgl. z.B. Sandra Laugier, »Care et perception«, in: Patricia Paperman und Sandra
»L'institution et le social«, in: Jacques Revel, Un parcours critique. Douze exerci- Laugier (Hg.), Le soucis des autres. Ethique et politique du Care, Raisons pra-
ces d'histoire sociale, Paris: Galaade 2006, S. 8 5-110. tiques, Nr. 16, Paris: Editions de l'EHESS 2005, S. 317-348.
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orientiert, holistisch, totalisierend (wenn nicht totalitär), dem Ge- ben, den Objekten übergeordnet würden, die die empirische Beob-
setzesfetischismus anhängend, das Menschliche an den Menschen achtung konkreter Situationen sammelt.
und die Modalitäten ihrer Verwicklung im Handeln verkennend;
auf der anderen der gute Pragmatismus, den Personen und Situa-
tionen Achtung bezeugend, in denen sie »hier und jetzt« interagie- Die Illusion eines »Commonsense«
ren, in die sie auf der Suche nach einem »Zusammenleben« ihren
Erfindungsgeist, ihre Experimentierfreude und ihren interpreta- Für mich ist der Hauptfehler dieses radikal-pragmatistischen Stand-
torischen Scharfsinn einbringen. Dieser Gegensatz entfaltet sich punkts der, daß er seinen eigenen verheißungsvollen Weg nicht bis
insbesondere im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn von Äuße- zum Ende geht, sondern aus dem Bereich der Beschreibung interak-
rungen, der unter dem Blickwinkel der zweiten Option stets kon- tioneller Segmente ausschert, um eine quasi normative Perspektive
textuell, lokal, situiert, improvisiert ist, niemals unabhängig vom einzunehmen. Der Hauptbeitrag des pragmatistischen Ansatzes in
Sprechakt, was dazu führt, die semantischen Werkzeuge der Insti- der Soziologie besteht nämlich darin, daß er die Ungewißheit, die
tutionen (unter denen die juristischen eine Spitzenstellung einneh- die sozialen Einrichtungen bedroht, und damit die Fragilität der
men) in Frage zu stellen. Realität hervorhebt. Aber er bleibt auf halbem Wege stehen, wenn
In dieser Sicht dient die übrigens nicht sehr häufige Bezugnahme er den Fähigkeiten der Akteure, jene Ungewißheit zu beheben, all-
auf »Institutionelles« meist dazu, die Aufmerksamkeit auf Zwän- zuviel zutraut. In einigen mehr oder weniger von diesem Para-
ge zu lenken, die den Akteuren von außen auferlegt sind und sie digma abgeleiteten Strömungen (wie manchmal bei Goffman oder
daran hindern, ihre Fähigkeiten zum Interpretieren, Verhandeln in ethnomethodologischen Arbeiten) führt dies dazu, die Akteu-
und Reparieren ins Zwielicht geratener Situationen einzusetzen re mit einer Art stillschweigendem Willen zu konstruktiver Zu-
oder ihren Common sense bei der Entwicklung lokaler Lösungen sammenarbeit auszustatten. Man tut so, als ob den in Gesellschaft
für neue Probleme zu nutzen. Von diesen radikal-pragmatistischen lebenden Personen zwangsläufig der Wunsch innewohne, die
theoretischen Positionen aus werden Soziologien in unterschied- sozialen (lokalen) Einrichtungen zu schützen, die bestehenden Bin-
licher Weise angegriffen, die mehr oder weniger festgelegte Seman- dungen aufrechtzuerhalten, das positive Verhältnis zur Realität wie-
tiken geltend machen und sich befleißigen, jene - vor allem - insti- derherzustellen, und macht somit aus dem sozialen Horror vacui
tutionellen Dispositive zu beschreiben, mit denen Entitäten ihre den wichtigsten Impuls des Homo sociologicus. Diese Überschät-
Identität auch dann bewahren können, wenn sie zwischen Situa- zung der Fähigkeiten der Akteure, Sinn zu produzieren oder zu
tionen hin und her pendeln (gleich ob es sich um Akteure zwischen reparieren und - unlösbar damit verbunden - Bindungen herzu-
Ereigniskonjunkturen handle oder um Aussagen zwischen Äuße- stellen oder wiederherzustellen, hat teilweise vielleicht mit der
rungskontexten). Die am häufigsten genannten Angriffspunkte Übertreibung der Reichweite des Commonsense zu tun, der gewis-
sind gewiß der Verdacht auf simplifizierenden Substantialismus sermaßen jedem einzelnen Akteur individuell innewohnen soll.
und infolgedessen auf Idealismus und »Platonismus«. Vorgewor- In unterschiedlichen, auf unterschiedliche theoretische Begründun-
fen wird diesen Soziologien, das subtile Spiel zwischen Dingen und gen verweisenden Formulierungen wird bei vielen soziologischen
ihrer Bezeichnung zu verkennen - das heißt die Logik der Sprache oder sozialanthropologischen Konstruktionen auf so etwas wie
selber. Sie schließen angeblich direkt vom »Substantiv« auf die einen Commonsense rekurriert. Diese Konstruktionen bauen auf
»Substanz« oder behandeln Aussagen, ohne sich um ihre Äuße- das Bestehen einer Gesamtheit gemeinhin geteilter Ansichten, die
rung zu kümmern und verfallen daher in den Irrtum zu glauben, in als Grundlage für die Herstellung von Übereinkünften dient. Eine
unterschiedlichen Zusammenhängen benutzte Wörter ließen auf der Zweideutigkeiten des Begriffs Commonsense besteht darin, daß
die Identität der damit jeweils bezeichneten Dinge schließen. In er bald Sinnesdaten meint, bald »Dispositionen« und »formale
konsequenter Weiterführung dieser Kritiken werden jene Soziolo- Anforderungen« des »rationalen Subjekts«, bald in der Alltags-
gien beschuldigt, naiv an die Existenz ewiger Entitäten (wie »Staat«, sprache lagernde Kategorien, bald wiederum apriorische Voraus-
»soziale Klassen«, »Familie« usw.) zu glauben, die, zu Wesen erho- setzungen, die an die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Tradi-
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tion gebunden sind- mag diese nun eher im Sinne des kulturellen intersubjektiver Beziehung (so die Soziologien phänomenologi-
Erbes gefaßt werden, auf das sich beruft, wer als Angehöriger einer scher Observanz),9 oder sie stellen Kommunikation und Diskus-
bestimmten, als hochstehend bewerteten Kultur gelten will, oder sion in den Vordergrund, die sie als zugleich empirische Wirklich-
im weniger ethnozentrischen Sinn der Kulturanthropologie. 5 In all keit und ethische Anforderungen behandeln. 10
diesen unterschiedlichen Fällen wird das Einverständnis behan- 0 hne in die Diskussion der unterschiedlichen Varianten des Begriffs
delt, als ergäbe es sich von selbst aus der Interaktion, sei es, weil Commonsense einzutreten - das würde uns wahrhaft zu weit füh-
die Teilnehmer ein und dieselbe sinnliche Erfahrung teilen, sei es, ren! -, möchte ich die These wagen, daß er die Soziologie kritischer
weil sie in derselben Weise auf Vernunft rekurrieren, sei es wieder- Operationen behinderte. Hat er doch dazu geführt, jenen Beschrei-
um, weil sie in demselben sprachlichen Universum wurzeln, sei es bungen (und Erklärungen) den Vorrang zu geben, die sich auf den
schließlich auch, weil ihre Vorstellungskraft von denselben Res- äußeren Anschein einer Übereinkunft stützen, und die Ungewißheit
sourcen strukturiert wird. In welcher Optik auch immer, die Mög- und »Unruhe« (wie Laurent Thevenot es nennt) zu minimieren, die
lichkeit einer radikalen Ungewißheit und der von ihr ausgehenden dem sozialen Leben stets insgeheim innewohnen und bei Auseinan-
Unruhe wird in unseren Augen allzu rasch absorbiert. Allgemeiner dersetzungen, in denen Kritik sich entfaltet, offen zutage treten. Es
gesagt: die radikale Unsicherheit in bezug auf das, was es mit dem, wurde sogar die These vertreten (etwa von Laurent Jaffro), daß die
was ist, auf sich hat, nimmt in den Sozialwissenschaften eine eher Berufung auf einen Common sense oft und zumal in Sachen der
zweideutige Stellung ein. Einerseits kann man sagen, daß sie den Moral eine Reaktion darstellte, mit der theoretischen Konzeptionen
Fragen zugrunde liegt, auf die ihre Disziplinen eine Antwort ertei- das Wasser abgegraben werden sollte, die über skeptisches Infrage-
len wollen. Andererseits aber ist festzustellen, daß sie mehr oder stellen oder Relativieren zur Kritik hätten führen können (wie bei-
weniger vernachlässigt und Erklärungen der Vorrang eingeräumt spielsweise der »moralische Realismus«, den Shaftesbury gegen den
wurde, die sich auf die Äußerlichkeiten einer als notwendig unter- radikalisierenden Skeptizismus der cartesianischen Propositionen
stellten Übereinkunft stützen. Unterschiedliche soziologische Strö- entwickelte, oder zweihundert Jahre später die gegen den Idealismus
mungen - die hier nicht im einzelnen überprüft werden können - Hegelscher Observanz gerichteten Positionen George E. Moores). 11
kleiden diese Erklärungen in unterschiedliche Formen. Sie führen
zum Beispiel die Sozialisierung durch Erfahrung im Verlauf der kann, wenn das Grundziel in der Koordinierung von Handlungen besteht. Klas-
frühen Erziehung an (so die kulturalistische Anthropologie), 6 die sisches Beispiel ist das Rechts- oder Linksfahren im Autoverkehr. Verhaltens-
gemeinsame Rationalität (so die mikroökonomischen Modelle, weisen, die in unseren Augen schadlos als »willkürlich« beurteilt werden kön-
nen (wie etwa im Automobilverkehr), bleiben jedoch von solchen zu trennen,
ob biologisch begründet oder nicht),7 Autoemergenzprozesse auf die aus später noch zu klärenden Gründen jede Relevanz zu verlieren scheinen,
der Grundlage wiederholter Interaktionen (so einige Versionen des wenn es nicht gelingt, sie so abzustützen, daß sie eine innere Notwendigkeit und
Konventionalismus), 8 die Konvergenz der Perspektiven vermittels Authentizität erhalten. Um sie zu diskreditieren, werden sie als »konventionell«
gescholten, womit eben ihr »willkürlicher« Charakter herausgestellt werden
5 Vgl. Jean-Claude Gens, »Le partage du sens al'origine de l'humanite«, in: Pierre soll. Dies tritt besonders deutlich in weiter unten behandelten Fällen zutage, in
Guenancia und Jean-Pierre-Sylvestre (Hg.): Le sens commun: the6ries et pra- denen die Einführung einer Konvention erforderlich macht, ein kontinuierliches
tiques, Dijon: Editions universitaires de Dijon 2004, S. 75-89. Ganzes zu unterteilen und Schwellen oder Grenzen herzustellen, deren Verlauf
6 Ihr bemerkenswertestes Beispiel liegt vielleicht in Erik H. Eriksons Kindheit und zu rechtfertigen ist.
Gesellschaft vor (übersetzt von Marianne von Eckardt-Jaffe, Stuttgart: Klett 9 Vgl. z. B. Daniel Cefai, Phenomenologie et sciences sociales. Alfred Schütz.
142005). Naissance d'une anthropologie philosophique, Genf: Droz 1998; Jocelyn Be-
7 Zu einer kritischen Diskussion der ökonomischen Rationalität vom soziologi- noist und Bruno Karsenti (Hg.), Phenomenologie et sociologie, Paris: PUF 2001.
schen Standpunkt aus vgl. Richard Swedberg, Economics and Sociology, Prince- 10 Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt
ton: Princeton UP 1990, und Richard Swedberg, Principles of Economic So- am Main: Suhrkamp 1983.
ciology, Princeton: Princeton UP 2003. II Vgl. Rene Daval, Moore et la philosophie analytique, Paris: PUF 1997, S. 28-31,
8 Vgl. Philippe Batifoulier (Hg.), Theories des conventions, Paris: Economica 2001, und die G. E. Moore gewidmete Sondernummer der Revue de metaphysique et de
und auch die zweite Nummer der Revue economique (L'economie des conven- morale (2006, Nr. 3 ), insbesondere die Beiträge von Christophe Alsaleh ( »Quand
tions, Bd. 40, März 1989, Nr. 2). Bei der Standardform des Konventionalismus est-il valide quand je dis ,je sais,? «) und Elise Domenach (»Scepticisme, sens
besteht der Kerngedanke darin, daß ein Verhalten willkürlich, aber rational sein commun et langage ordinaire chez Moore«).
88
Der Appell an moralischen Realismus, an Supervenienz 12 und Com- Im folgenden werde ich die Evidenz eines Commonsense ausklam-
monsense führt zur Betonung dessen, was für jedermann unstrittig mern, um die Frage nach der Konsistenz der sozialen Welt von
ist. Zum selben Ergebnis gelangen schließlich auch die kulturalisti- einer ursprünglichen Position aus zu stellen, in der radikale Unge-
schen Versionen desselben Paradigmas, wenn sie zu zeigen ver- wißheit herrscht (ein Gedankenexperiment wie der Naturzustand
suchen, daß alles - wenn auch diesmal nicht universell, sondern in der Vertragstheorie, die in Hob bes' Leviathan übrigens das, was
innerhalb einer bestimmten Gruppe, deren Angehörige dieselbe »am Turm zu Babel verlorenging«, mit dem drohenden Krieg al-
kulturelle Prägung teilen - dazu beiträgt, Situationen zu schaffen, ler gegen alle in Verbindung bringt). 15 Diese Ungewißheit ist zu-
in denen sich implizit oder faktisch Übereinkunft einstellt. Dieser gleich semantischer und deontischer Art. Sie betrifft das, was es
Ansatz trägt zwar den Ungewißheit reduzierenden Prozessen Rech- mit dem, was ist, auf sich hat, und, damit unauflöslich verbunden,
nung, tendiert aber dazu, die Bedeutung von Uneinigkeit, Ausein- was wichtig, wertvoll, zu respektieren und besonders zu beachten
andersetzung und damit Ungewißheit zu minimieren, die den Gang ist. Sie liegt auf der Hand, wenn die in einer Auseinandersetzung
des sozialen Lebens ständig bedrohen. befindlichen Akteure sich von den praktischen Bindungen lösen,
Um diesem Absolutismus einer als »Ursprungsphänomen« behan- die ein weitgehend gemeinsames, auf Orientierungspunkte hin ko-
delten Übereinkunft zu entgehen, haben wir übrigens in Über die ordiniertes Handeln aufrechterhielten, dessen Herkunft übrigens
Rechtfertigung versucht, einen pluralistischen Rahmen zu konstru- durchaus fragwürdig ist. Unsere Absicht ist es also, diese ständige
ieren. Dieser Rahmen sollte der Übereinkunft wie der Auseinander- Ungewißheit über das, was ist und Wert hat, ernst zu nehmen. In
setzung, der Zustimmung wie der Kritik gerecht werden, und vor Situationen, in denen allem Anschein nach Ordnung herrscht, in
allem den oft zu beobachtenden heftigen Schwankungen zwischen latenter Form vorhanden, manifestiert sie sich überdeutlich in
diesen Alternativen. In dieser Untersuchung kommt der-von Nietz- den Momenten der Auseinandersetzung - man braucht dazu we-
sche und Weber, in diesem Fall aber vielleicht mehr noch von Vico der auf die Hypothese einer »kollektiven Intentionalität« als ei-
übernommene - pluralistische Blickpunkt um so stärker zur Gel- nes » Urphänomens« (dem John Searle z.B. sogar eine biologische
tung, als der interne Pluralismus, auf dem unser Modell des Un- Grundlage geben will) noch auf die unhaltbaren Postulate des
gerechtigkeitssinns aufbaut, durch einen externen Pluralismus er- methodologischen Individualismus zurückzugreifen. Damit hof-
gänzt wird. Die an Gerechtigkeit orientierte Handlung findet sich fen wir, das Verhältnis von Ordnung und Kritik fassen zu kön-
hier dargestellt als ein Handlungsregister innerhalb einer Pluralität
15 Man beachte, daß Hob bes das Band zwischen radikaler Ungewißheit und Na-
anderer - eine Position, die ich in L'amour et la justice comme
turzustand und das zwischen »fließenden« Bedeutungen und zumindest poten-
competences 13 im Hinblick auf die Liebe skizziert habe und die tieller Gewalt namentlich in jenem Kapitel behandelt, das die Sprache zum
LaurentThevenot später ausführlich entwickelt hat. 14 Und doch ist Gegenstand hat. Diese Themen werden in Zusammenhang mit dem Problem der
aus nahezu zwanzigjährigem Abstand zuzugeben, daß diese plu- Verträge erneut aufgegriffen (vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form
ralistischen Positionen nicht hinreichend nachdrücklich fund auf und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. übersetzt von Walter
Euchner, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 24-31 und 99-109). Nichts-
begrifflicher Ebene vielleicht auch nicht hinreichend deutlich) for- destoweniger griffen die Sozialwissenschaftler sich aus der Hobbesschen Pro-
muliert wurden, um zu verhindern, daß der in Über die Rechtferti- blematik das Thema des Neids heraus, und später das der Unbegrenztheit der
gung erstellte Rahmen übernommen werden konnte, als ließe sich menschlichen Begierden als Quelle von Gewalt, ein Argument, mit dem die Not-
mit ihm ein Zaun um die Realität errichten dergestalt, daß siege- wendigkeit des Staats gerechtfertigt wird. Bei Durkheim spielt es eine wichtige
Rolle innerhalb der Genese des Begriffs Institution (s. z.B. Le socialisme: sa defi-
wissermaßen berechenbar würde. nition, ses debuts, la doctrine saint-simonienne, Paris: PUF 1971 [1928]; vgl.
12 [Dieser Begriff der analytischen Philosophie bezeichnet eine Abhängigkeit zwei- auch: Über soziale Arbeitsteilung. Übersetzung von Ludwig Schmidts, durch-
er (moralischer oder physischer) Eigenschaftstypen, die »supervenient« genannt gesehen von Michael Schmid, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984). Erinnern
werden, wenn (und nur wenn) eine Modifizierung des einen Eigenschaftstypus wir schließlich daran, daß Durkheims Betonung der Notwendigkeit, die Anar-
eine Modifizierung des anderen Typus bedeutet oder mit sich bringt-A. d. Ü.] chie des Begehrens zu zügeln, mit Freudschen Konzeptionen - wie schon oft
13 Vgl. L. Boltanski, L'amouret la justice commecompetences, a.a. 0., S. uo-124. bemerkt - in Einklang steht (vgl. z.B. R. Nisbet, La tradition sociologique,
14 Laurent Thevenot, L'action au pluriel: sociologie des regimes d'engagement, a. a. 0., S. no). Die vorliegende Untersuchung läßt diese klassischen Positionen
Paris: La Decouverte 2006. beiseite und legt den Akzent auf die semantische Rolle der Institutionen.
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nen - ein Verhältnis, das insofern nichts Dialektisches hat, als es in zu dem Unterschied in Analogie setzen, den Franck Knight zwi-
keine Synthese mündet. Wir glauben nämlich einerseits, daß die schen Risiko und Ungewißheit macht. 19 Soweit es in eine Wahr-
Kritik nur in Beziehung auf die Ordnung Sinn hat, die sie in eine scheinlichkeitsrechnung einbezogen werden kann, stellt das Risi-
Krise stürzt, daß aber auch umgekehrt die Dispositive, die so etwas ko eines der im r8.Jahrhundert erfundenen Instrumente zur Kon-
wie die Aufrechterhaltung der Ordnung sichern, ihren ganzen Sinn struktion der Realität dar. Wie Michel Foucault gezeigt hat, steht
nur gewinnen, wenn man erkennt, daß sie sich auf die permanente, es mit dem damals aufkommenden Modus liberalen Regierens in
wenn auch je nach Epochen und Gesellschaften unterschiedliche Verbindung. 20 Da aber nicht jedes Ereignis von der Risikologik
Drohung stützen, die von der Möglichkeit ihrer Kritik ausgeht. zu meistern ist, bleibt jener Teil der Ungewißheit unbekannt, den
Knight »radikal« nennt. Während wir uns vornehmen können die
Realität zu erkennen und zu beschreiben, übersteigt das Vorhaben,
Das Problem der Ungewißheit: Realität und Welt die Welt in ihrer Totalität zu beschreiben, unsere Kräfte. Dennoch
zeigt sich von der Welt gerade dann jedesmal etwas, wenn verbal
Die Frage der Beziehung zwischen dem, was feststeht, und dem, und/oder im Register individuellen oder kollektiven Handelns
was ungewiß ist, kann nicht vollständig entfaltet werden, wenn Ereignisse oder Erfahrungen auftauchen, deren Möglichkeit- oder,
wir auf einer einzigen Ebene, der der Realität, verharren. In einem in der Sprache moderner Regierungstechnik, deren »Wahrschein-
zweidimensionalen Raum unterscheidet die Realität sich nämlich lichkeit« - im Muster der Realität nicht enthalten war.
kaum von dem, was gewissermaßen aus eigener Kraft feststeht, Fügen wir hinzu, daß die Realität meist auf Dauer (oder, wenn man
das heißt von der Ordnung; wie es zu radikalen Formen der Infra- so will, auf die Aufrechterhaltung der Ordnung) ausgerichtet ist.
gestellung dieser Ordnung kommen kann, ist von hier aus gesehen Ihre Elemente werden nämlich durch Prüfungen (die ebendarum
unverständlich. Darauf beruht übrigens der breite Erfolg der So- auch »Realitätsprüfungen« heißen) und durch mehr oder weniger
ziologien, die auf die soziale Konstruktion der Wirklichkeit abhe- instituierte Qualifikationen gestützt, deren Wiederholungsschlei-
ben.16 Diese Rede von der Realität läuft darauf hinaus, ihre Bedeu- fen dazu tendieren, sie zu produzieren und zu reproduzieren. Diese
tung zu relativieren und damit zu suggerieren, daß sie sich von Dauer ist dennoch schwer zu gewährleisten. Die von der Welt auf
einem Hintergrund abhebt, in den sie nicht auflösbar ist.17 Diesen die Realität ausgeübte Macht besteht ebendarin, daß die Welt
Hintergrund nenne ich die Welt, betrachtet als - mit Wittgenstein Gegenstand unaufhörlicher Veränderungen ist - Veränderungen,
gesprochen - »alles, was der Fall ist«. Um diese Unterscheidung die, weit entfernt davon, bloß »sozialer« Art zu sein, sich der Phan-
zwischen Realität und Welt deutlicher zu machen, 18 möchte ich sie tasie am besten in der Logik jener Metamorphosen erschließen, die
uns zum Beispiel Ovids Dichtung zu erfassen hilft, indem sie sie mit
16 Zur Breite der Diskussion über die soziale Konstruktion der Realität in den Göttern bevölkert. Aber die Welt hat nichts Transzendentes. Im
Sozialwissenschaften vgl. I. Hacking, Was heißt soziale Konstruktion? Zur Gegensatz zur Realität, die oft Gegenstand von (vor allem statisti-
Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, a. a. 0. Michel de Far-
ne! und Cyril Lemieux veröffentlichten in der Zeitschrift Enquete (Bd. 6, 2007,
schen) Darstellungen mit dem Anspruch auf überwältigende Auto-
S. 9-28) unter dem Titel »Quel naturalisme pour !es sciences sociales?« eine rität ist, ist sie die Immanenz selbst: das, worin jeder sich befindet,
bemerkenswerte Einführung in den Konstruktivismus und die von ihm aufge- soweit er vom Lebensstrom erfaßt ist, ohne jedoch die darin wur-
worfenen Fragen.
17 In seiner Untersuchung der Begriffe Realität und Wirklichkeit bei Nietzsche der Welt durch die Gesellschaft« abzustecken (Gesellschaft als imaginäre Insti-
stellt Blaise Benoist eine Spannung fest zwischen der als eine Art Fiktion zur Sta- tution. Entwurf einer politischen Philosophie. Aus dem Französischen von
bilisierung der Welt gefaßten Realität und der als unfaßliches und chaotisches Horst Brühmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984).
Werden verstandenen Wirklichkeit, zu der die Erfahrung gleichwohl einen 19 Franck Knight, Risk, Uncertainty, and Profit, Chicago: University of Chicago
Zugang eröffnet (Blaise Benoist, »La realite selon Nietzsche«, Revue philoso- Press 1985 (1921).
phique, Bd. 131, 2006, Nr.4, S.403-420). 20 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium,
18 Auf dem Unterschied zwischen Realität und Welt - obgleich anders und na- Bevölkerung. Vorlesung am College de France 1977-1978. Aus dem Franzö-
mentlich psychoanalytisch begründet - baut auch Cornelius Castoriadis' groß- sischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt am
artiges Unternehmen auf, den Rahmen einer Untersuchung der »Instituierung Main: Suhrkamp 2004.
93
zelnden Erfahrungen unbedingt zu benennen, geschweige denn in tät genug Stoff zum Anprangern und Infragestellen findet, zu ihren
bewußte Handlungen umzusetzen. radikalsten Ausdrucksformen aber erst gelangt, wenn sie Ereig-
Der Unterscheidung zwischen Realität und Welt eignet nichts Me- nisse oder Erfahrungen aus dem Bereich der Welt aufgreift.
ta physisches, sie kann sich unmittelbar mit empirischen Forschun- Ein zweites Argument verleiht der Kritik und den Auseinanderset-
gen verbinden. Sie liegt zum Beispiel meiner Untersuchung über zungen, in denen sie sich äußert, ein besonderes Relief. Es betrifft
Zeugung und Abtreibung von Kindern zugrunde (Soziologie der die Schwierigkeit, zwischen Menschen, die alle - obwohl jeder auf
Abtreibung). In dieser Studie (deren Zusammenfassung ich Ihnen andere Weise - im Strom des Lebens stehen, zu einer Übereinkunft
erspare) stelle ich einerseits immanente (in diesem Fall anthropo- zu gelangen. Diese Schwierigkeit bringe ich - worauf später noch
logische) Widersprüche zwischen verschiedenen Komponenten des eingegangen wird - mit der schlichten Tatsache in Verbindung,
Vorgangs fest, der darin besteht, Menschenwesen hervorzubrin- daß alle Menschen über einen Körper verfügen. Da jedes Indi-
gen, das heißt Neuankömmlinge auf die Welt zu setzen. Diese Wi- · viduum einen Körper hat, ist es zwangsläufig situiert. Und zwar
dersprüche treten selbstverständlich nur dann auf, wenn deren zunächst, wie uns die Wahrnehmungspsychologie lehrt, indem es
Komponenten gedanklich vorweggenommen werden (was wesent- zeitlich und räumlich auf einen Punkt gestellt ist, von dem aus sich
lich Sache der Mütter ist), wodurch sie im Feld der Realität Ge- ihm die Ereignisse darbieten. Aber auch, wie uns die Soziologie
wicht erhalten können. Dies ist aber in dem Maße nahezu unver- und die Ökonomie lehren, insofern es eine soziale Position besetzt
meidlich, wie jene Wesen, sind sie erst einmal auf der Welt, dazu und Interessen hat. Und schließlich, folgt man der Psychoanalyse,
bestimmt sind, mit anderen zusammenzuleben. Folglich drohen auch insofern, als es Wünsche, Triebe, Lust, Ekel verspürt, seinen
jene Widersprüche, die Zeugung immer wieder - zumindest auf eigenen Körper erfährt usw. Daraus folgt, daß jedes Individuum
symbolischer Ebene - scheitern zu lassen. Andererseits ermö~!ich- gegenüber der Welt nur einen Blickpunkt haben kann. Nichts
ten Datenerhebung und Feldforschung, Arrangements bzw. Uber- rechtfertigt a priori zu unterstellen, daß diese Blickpunkte geteilt
einkünfte aufzudecken, die jenen Vorgang unter bestimmten histo- werden oder leicht miteinander in Übereinstimmung zu bringen
rischen Umständen flankieren. Diese Arrangements sind durch sind. Kein Individuum - ich komme gleich im einzelnen darauf
explizite Regeln und implizite Normen strukturiert, die sich in zurück - ist imstande, den anderen, allen anderen, zu sagen, was es
Form von Grammatiken beschreiben lassen (ein bei der pragmati- mit dem, was ist, auf sich hat, und selbst wenn es scheinbar die
schen Soziologie der Kritik beliebter Begriff). Diese Grammatiken Macht dazu hat, fehlt ihm die dazu erforderliche Autorität. Somit
erlauben zwar nicht, über die Widersprüche hinauszugelangen verfügt in der Position, die wir als ursprüngliche vorausgesetzt ha-
(was unmöglich ist), aber doch, sie zu umgehen und zu mildern, so ben, kein Beteiligter über die Ressourcen, die erforderlich wären,
daß sie erträglich werden. Sie spielen damit in etwa die Rolle, die die Ungewißheit zu beheben und die von ihr ausgehende Unruhe
Claude Levi-Strauss den Mythen zuspricht. 21 Nichtsdestoweniger zu zerstreuen. Daraus ergibt sich, daß auch innerhalb dessen, was
sind jene die Realität konstituierenden und organisierenden Ar- man als gemeinsamen Kontext ansehen kann -wenn man ihn ein-
rangements fragil: Die Kritik kann stets in der Welt Begebenheiten zig durch räumliche und zeitliche Koordinaten definiert-, unter-
auftreiben, die ihrer Logik widersprechen und der Entschleierung schiedliche Personen sich noch lange nicht in derselben Situation
ihres »willkürlichen« oder »heuchlerischen« Charakters entgegen- befinden - fassen sie doch das, was geschieht, verschieden auf und
kommen oder auch erlauben, jene Arrangements zu »dekonstruie- machen von den gegebenen Möglichkeiten unterschiedlichen Ge-
ren «, was der Bildung von Arrangements neuen Typs den Weg brauch.
bereitet. Formal ähnliche Prozesse können auf unterschiedlichen Aus all diesen Gründen scheinen mir die Perspektiven pragmati-
Wegen verlaufen, vor allem wenn die entschleierten Widersprüche schen Stils zwar die Charakteristika eines bestimmten Handlungs-
historischen Charakter haben. Für den Augenblick mag es genü- registers (das ich das praktische nenne) gut herauszuarbeiten, aber
gen festzuhalten, daß die Kritik zwar schon im Rahmen der Reali- der ständigen Gefahr nicht genügend Rechnung zu tragen, in die die
21 Vgl. Frederic Keck, Claude Levi-Strauss, une introduction, Paris: La Decouverte Kritik die Dispositive zur Aufrechterhaltung der Ordnung immer
2005, s. 136-143. dann bringt, wenn sie sich der Ungewißheit der Welt annimmt. Da-
94 95
her erscheinen mir solche Ansätze für sich genommen unzurei- nen zeigt sich die Ungewißheit am unmittelbarsten, denn hier lie-
chend, Verfahrensweisen zu identifizieren, durch die so etwas wie fert jeder Protagonist nicht nur eine unterschiedliche Version des-
eine Realität standhält - und das trotz der außerordentlichen sen, was wirklich geschah, sondern auch unterschiedliche Fakten
Schwierigkeit, sich darüber zu einigen, was ist und der Verände- zur Stützung seines Wahrheitsanspruchs. Eine zweite, indirekte
rung unterworfenen Wesen Dauer verleiht. Dies gilt insbesondere Strategie besteht darin, die Ungewißheit gewissermaßen a contra-
für Entitäten, denen eine stabile körperliche Existenz fehlt und rio zu fassen, nämlich ausgehend von den beträchtlichen Mitteln,
über die durch ein Wort und eine Handbewegung Einigung zu die anscheinend erforderlich sind, sie zu beheben oder zumindest
erzielen folglich unmöglich ist. Ganz zu recht können solche En- die von ihr ausgehende Unruhe zu verringern und zu bewirken,
titäten in dieser Hinsicht als inexistente Wesen bezeichnet werden, daß irgend etwas auch nur ein wenig Bestand hat, daß es also über-
wie es beispielsweise Frederic Nef tut. 22 Und doch kann die So- haupt Realität gibt. Dieser zweite Weg setzt die Untersuchung der
ziologie sie schwerlich ignorieren, da ihre Hauptgegenstände - institutionellen Funktion voraus. Aber im einen wie im anderen
Gesellschaften, Kollektive, Gruppen, soziale Klassen, Gender, Al- Fall wird auf die Vorstellung einer impliziten Übereinkunft ver-
tersklassen oder auch Nationen, Heimatländer, Kirchen, Völker, zichtet, die dem Funktionieren des sozialen Lebens irgendwie inne-
Ethnien, politische Parteien usw. - ebenjener Klasse von Entitäten wohne. Statt dessen wird die Auseinandersetzung und mit ihr die
entstammen. Ihre Existenz ist nicht nur deswegen problematisch, Divergenz der Sichtweisen, Interpretationen und Gewohnheiten
weil sie - worauf der methodologische Individualismus insistiert - ins Zentrum der sozialen Beziehungen gerückt, um von dieser Po-
Ensembles bezeichnen, von denen in Wahrheit nur Elemente exi- sition aus die Übereinkunft auf ihren problematischen, fragilen,
stieren: Menschen aus Fleisch und Blut. Sie ist auch und vor allem vielleicht exzeptionellen Charakter zu untersuchen.
deswegen problematisch, weil diese ihrerseits äußerst instabil sind:
ein disparates mixtum compositum aus sterblichen, mithin zum
Verschwinden verurteilten Mitgliedern, scheinbar aus dem Nichts Die Struktur des hier vorgeschlagenen Rahmens
auftauchenden Neuankömmlingen und letztlich Toten, die in vie-
len Gesellschaften, vielleicht in allen, eine außerordentliche aktive Der Versuch, Kritik und Übereinkunft im Rahmen des Problems
Rolle im sozialen Leben spielen (ein Gedanke, an dem Auguste der Ungewißheit neu zu erörtern, beruht auf zwei bedeutsamen
Comte viel lag- Bruno Karsenti hat in seinem Werk über ihn dar- Gegensätzen. Der erste unterscheidet praktische Momente - an
auf hingewiesen). 23 Und dennoch: Indem die Soziologie diesen En- denen den pragmatischen Ansätzen mit ihrem Interesse an Ver-
titäten Kredit gewährt, tut sie nichts anderes als die Akteure selbst, haltensmustern in einem bestimmten Kontext besonders gelegen
die ohne diese nichtexistenten Wesen unfähig sind, sich die Reali- ist-von Momenten der Reflexivität, die den Akteuren Verfahrens-
tät vorzust~llen, in der sie leben, und vor allem unfähig zu dem Ver- weisen abverlangen, die wir als metapragmatisch kennzeichnen.
such, sich dauerhaft aneinander zu binden (eine Unternehmung, Fügen wir sogleich hinzu: In den praktischen Momenten geben
die ihnen derart schwerfällt, daß sie fast immer zum Scheitern ver- sich die Personen alle Mühe, drohende Ungewißheit zu meiden; zu
urteilt ist). diesem Zweck ignorieren sie die unterschiedlichen Interpretatio-
Von diesen Bemerkungen ausgehend zeichnen sich zwei Strategien nen über das Geschehen, vor allem aber verschließen sie die Augen
zur Erfassung der Rolle ab, die die Ungewißheit im sozialen Leben vor abweichendem Verhalten, das Ungewißheitsfaktoren Einlaß
spielt. Eine erste Strategie besteht darin, die Kritik und die Ausein- gewähren könnte.
andersetzungen zu thematisieren, bei denen die Akteure ihre diver- Der zweite Gegensatz betrifft allein das Handlungsregister, das ich
gierenden Sichtweisen miteinander konfrontieren, sofern sie nicht, metapragmatisch nannte. Dieser Gegensatz bezeichnet innerhalb
und wäre es nur verbal, gewalttätig werden. In derartigen Situatio- des zweiten Registers zwei verschiedene Modalitäten metapragma-
22 Frederic Nef, Recherches sur l'ontologie de l'objet, Paris: Vrin 2000.
tischer Interventionen, die auch unterschiedliche Formen anneh-
23 Bruno Karsenti, Politique de l' esprit. Auguste Comte et la naissance des sciences men.
sociales, Paris: Hermann 2006. Die ersten Formen sind jene, mit deren Hilfe aus dem Fluß des Ge-
97
schehens eine Auswahl getroffen und entschieden werden kann, Die praktischen Momente
was ist und als seiend trotz aller Vergänglichkeit festzuhalten ist. In
diesem Fall spreche ich von Dispositiven der Bestätigung, die (wie Um die Modalitäten praktischen Handelns und die Momente, in
ich zu zeigen versuchen werde) zum Zweck haben, durch die Be- denen diese Handlungsformen überwiegen, rasch zu kennzeich-
stätigung, daß das, was ist, tatsächlich IST, Ungewißheit zu besei- nen, stütze ich mich auf Pierre Bourdieus Entwurf einer Theorie
tigen. Ich denke, diese Dispositive unterstützen gleichermaßen, der Praxis, eines seiner ersten Bücher, 25 aber auch auf einige An-
wenn auch auf unterschiedliche Weise, jene Vorannahmen, die man sätze und Ergebnisse der pragmatischen Soziologie.
offiziell nennen könnte, und jene anderen, die sich in Äußerungen Gemeinsame Handlungen, die jenem ersten Register angehören,
des sogenannten Common sense finden, sofern man diesen als bringen Personen zur Erfüllung einer Aufgabe zusammen. Eines
Mindestübereinkunft über das Seiende auffaßt, die ihrerseits in ihrer wichtigen Kennzeichen besteht darin, daß die Beteiligten
praktische Handlungsmodalitäten einbezogen werden kann. handeln, als ob sie mehr oder weniger wüßten, worum es geht -
Die zweiten Formen sind mit Dispositiven verbunden, die sich auf was sie gerade bewerkstelligen - und/oder als ob die anderen oder
Ungewißheitsfaktoren stützen, um durch Hinterfragung der Reali- einige andere, vertrauenswürdige Personen es wüßten (selbst wenn
tät dessen, was sich- sei es in offiziellen Äußerungen, sei es in Aus- die Definition der gemeinsamen Aufgabe recht vag ist). Und auch,
drucksformen des Commonsense - als seiend ausgibt, Unruhe zu als ob alle, mit mehr oder weniger Erfolg, bei der Bewältigung
schüren. In ihrem Fall sprechen wir von kritischen Formen. ihrer Aufgabe konvergieren, kooperieren, sich koordinieren könn-
Diesen beiden Formen und den damit verbundenen Dispositiven ten. Dies läßt sich interpretieren (natürlich von außen her, von
werden im allgemeinen antagonistische Positionen zugeordnet. innen her stellt sich die Frage ja gar nicht) als stillschweigende
Die Weltsicht, die sich von jeder der Positionen aus erschließt, ist Übereinkunft, die verhindern soll, daß Unruhe aufkommt und sie
mit der der anderen inkompatibel, und schwer miteinander zu ver- selbst zum Problem wird. Diese stillschweigende Übereinkunft
einbaren sind auch die entsprechenden soziologischen Konstruk- wurde in der soziologischen Literatur- insbesondere in der phäno-
tionen (auf die Schnelle formuliert: die eine eher pragmatistischer, menologisch orientierten - oft als gemeinsame Auffassung inter-
die andere eher institutionalistischer Observanz). 24 Ich werde trotz- pretiert, daß das, was geschieht, sich von selbst versteht. In diesem
dem versuchen, sie als symmetrische zu behandeln, ihre Beziehun- ersten Register richtet die gemeinsame Handlung sich also in erster
gen zu untersuchen und sie in denselben Rahmen einzubringen. In Linie auf etwas, was »zu tun« ist, auf eine zu erfüllende Aufgabe,
diesem Rahmen sind Bestätigung und Kritik nur in ihrer dialo- und man ist darauf bedacht, »sie durchzustehen«. Das bedeutet
gischen Beziehung sinnhaft erfaßbar. So hat die Bestätigung zum nicht notwendig, ein von vornherein klar bestimmtes »Ziel« zu
Hauptzweck, der Kritik vorzubeugen. Und was die Kritik angeht, erreichen, und noch weniger, einem Plan zu folgen, sondern ledig-
so würde sie alle Anwendbarkeit verlieren und in eine Art Nihilis- lich, das Ende einer Handlungssequenz anzuvisieren, und zwar
mus verfallen, wenn sie ihren Protest gegen bestätigte Aussagen meist bloß deswegen, um zu etwas anderem übergehen zu können.
nicht auf die Erfahrung dessen stützte, was in der Welt geschieht. Die Handlung ist also auf die Zukunft ausgerichtet und übrigens
oft von einem Gefühl mehr oder weniger großer Dringlichkeit be-
gleitet.
Auch wenn es weder einen Plan noch festgelegte Verfahren gibt, ist
die Handlung nicht erratisch. Sie schreibt sich in ein Umfeld ein,
das durch je nach Situation mehr oder weniger markante Signale, 26
24 Vgl. dazu Durkheims Vorlesung über den Pragmatismus (Schriften zur Soziolo-
gie der Erkenntnis. übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt am Main: Suhr- 25 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen
kamp 1987) und Bruno Karsentis erhellende Untersuchung der Durkheimschen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Cordula
Gegenposition zum Pragmatismus (die gewisse Übereinstimmungen nicht aus- Pialoux und Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.
schließt) in La societe en personnes. Etudes durkheimiennes, Paris: Economica 26 Wir haben diesen Begriff Thomas Schelling entlehnt (The Strategy of Conflict,
2006, S. 183-212. New York: Oxford UP 1960).
99
äußere oder innere Orientierungspunkte, festgehalten wird. Diese Abweichungen können gesehen und erkannt werden, ohne daß man
Orientierungspunkte liefern Handhaben zur Koordinierung der davon Notiz nimmt (»seen but not noticed«, wie Goffman sagt).
Handlungen und zu ihrer Ausrichtung auf etwas gemeinsam zu Man tut so, als seien sie nicht relevant. Die in solchen Situationen
Vollbringendes. Seine Interpretation kann bei den Beteiligten übri- herrschende Toleranz ist mit der Frage der Sanktion in Verbindung
gens ziemlich stark variieren, ohne daß dies ihre Beziehungen stö- zu bringen. Toleranz heißt hier: Die Akteure vermeiden es, sich in
ren muß - jedenfalls solange nicht, wie es keiner ausspricht. Die eine Lage zu bringen, in der sie eine Sanktion zu verhängen haben
äußeren Orientierungspunkte sind materielle oder symbolische (oder von einem Dritten zu verlangen haben, daß er es tue). Dies
Dispositive oder Objekte. Die inneren Orientierungspunkte sind gilt zumindest für explizite Sanktionen, denn es kann stillschwei-
Gewohnheiten oder Dispositionen, das heißt den Körpern einbe- gende und diffuse geben: etwa jemandem »einen bösen Blick zu-
schriebene Dispositive (Bourdieu nennt es Habitus). Es kann sich werfen«, »eingeschnappt sein« oder eine Aufgabe »widerwillig«
aber auch um mehr oder weniger gleichbleibende geistige Ausrich- durchführen.
tungen handeln, die sich zu Qualifikationen eignen und der Öf- Eine explizite Sanktion ist von einer stillschweigenden leicht zu
fentlichkeit gegenüber zu Rechtfertigungen taugen. Schließlich unterscheiden. Wer eine explizite Sanktion verkündet, muß öffent-
kann es sich um überzeitliche Konfigurationen des Seelenlebens lich die Verantwortung für Urteil und Sanktionsforderung über-
handeln (wie die, auf die der Begriff» Unbewußtes« sich bezieht). nehmen. Er bringt sich selbst damit in eine Position, in der er von
Sich auf diese Orientierungshilfen verlassend, lernen die Akteure den anderen be- und verurteilt werden kann, die zum Beispiel der
nach und nach, das Notwendige zu tun und zu wiederholen. Ge-:- Meinung sein können, daß die geforderte Sanktion unbegründet
wohnheiten bilden sich heraus. Mit der Konsequenz, daß Bewe- oder übertrieben ist. Anders im Fall einer stillschweigenden Sank-
gungen von Akteuren im praktischen Register ohne Rückgriff auf tion: Hier muß derjenige sich gegebenenfalls öffentlich empören,
Regeln - im Sinne expliziter Instruktionen zugleich technischen den sie betrifft. Er muß das Implizite explizit machen auf die Ge-
und deontischen Charakters - beschrieben werden können, und fahr hin, daß sein Kontrahent und die anwesenden Beobachter leug-
zwar auch dann, wenn die Beobachtung von einem äußeren Stand- nen, daß es sich um eine wirkliche Sanktion handelt, und den Kläger
punkt aus Regelmäßigkeiten nachzuweisen erlaubt. 27 Was besagt, als Opfer einer Art von »Verfolgungswahn« hinstellen. Toleranz
daß die Handlung in einem praktischen Register stets situiert ist, und Vermeiden von Sanktionen können also schlicht damit zu tun
wie die pragmatische Soziologie unterstreicht, die ein zur Erfor- haben, daß niemand das Risiko des Sanktionierens auf sich nehmen
schung solcher Situationen besonders geeignetes Werkzeug dar- will, oft einfach auch deswegen, weil niemand über die entspre-
stellt. chende Autorität verfügt. Genereller jedoch finden die Toleranz und
In diesen praktischen Momenten herrscht innerhalb eines ziemlich das Fernhalten von Sanktionen ihr stillschweigendes Motiv in der
vagen allgemeinen Rahmens generell eine gewisse, mehr oder we- gemeinsamen Sorge, die Auseinandersetzung zu vermeiden oder zu
niger große Toleranz gegenüber Verhaltensabweichungen der ei- vertagen, die sich unweigerlich anbahnen würde, wenn die Verhal-
nen oder anderen Art, ganz als übe die Anforderung, gemeinsam tensunterschiede nicht mehr unter den Teppich gekehrt würden.
etwas zu vollbringen, was keiner der Teilnehmer allein schaffen (Aus diesem Grunde kann die praktische Toleranz von einem ethi-
könnte eine friedenstiftende Rolle aus. Toleranz heißt hier alles in schen Gesichtspunkt aus, der ihr vollkommen fern liegt, als Weisheit
allem daß man vor unterschiedlichen Verhaltensformen und Vor- gelobt werden - sie erlaubt, daß alles weiter nahezu glatt läuft- oder
gehe~sweisen nach Möglichkeit die Augen verschließt. Derartige auch umgekehrt als »Heuchelei« angeprangert.)
Die Toleranz, einer der besonders bezeichnenden Züge dieses
27 In Pierre Bourdieus Analysen des praktischen Sinns taucht dieses Thema in Registers, ist an ein niedriges Reflexivitätsniveau gebunden. Repa-
Form einer Kritik dessen auf, was er als Einfluß des »Gesetzesfetischismus« auf rationen (wie es Goffman nennt) und Anpassungen finden ständig
die Sozialwissenschaften beschreibt, zum Beispiel wenn er die »praktische Ver-
wandtschaft« den von Claude Levi-Strauss modellisierten Verwandtschaftsre- statt, haben aber lokalen Charakter. 28 Weil keine Position vorhan-
geln gegenüberstellt (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Aus dem
Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981). 28 Vgl. Laurent Thevenot, »L'action qui convient«, in: Patrick Pharo und Louis
IOO IOI
den ist, die einen Überblick gestattet, Dispositive zur Memorisie- zierung in jeder konkreten Situation eine vorrangige Aufgabe der
rung außerhalb des eigenen Körpers ebensowenig im Einsatz sind soziologischen Feldforschung sein sollte).
wie kategoriale Werkzeuge zur Erstellung von Äquivalenzen und Einige der für unseren Rahmen interessantesten Eigenschaften des
zum Explizitmachen unausgesprochener Vergleiche, allgemeiner praktischen Registers betreffen die Sprache. Zwar benutzen auch
Berechnungsgrundlagen, ist es so schwierig, Frustrationen und Un- die in einem praktischen Register agierenden Akteure die Sprache.
behagen in explizite Forderungen umzuwandeln. Jack Goody hat Aber einerseits ist diese Benutzung stark deiktisch bestimmt, die
in seinen Untersuchungen über die Anthropologie des Schriftlichen Produktion oder Rezeption von Äußerungen stützt sich auf den
herausgearbeitet, wie schwierig es ohne graphische Mittel zur To- Kontext und kann gestisch unterstützt werden (zum Beispiel mit
talisierung, insbesondere ohne Listen, Diagramme und Tabellen, einer Handbewegung: »Gib mir mal das Dings da«; »Du meinst
bleibt, Differenzen, Divergenzen und Abweichungen, wie sie zu un-