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Naboth, der Jesreeliter

Untersuchungen zu den theologischen Motiven


der Überlieferungsgeschichte von I Reg 21
Von Manfred Oeming
(Rhein. Fricdrich-Wilhelms-Univcrsität Bonn)

/. Unsicherheiten und Grenzen der Literarkritik


Die Beurteilungen der literarischen Verhältnisse in I Reg 21 divergie-
ren in den neueren Untersuchungen sehr stark:
Noth 1 sieht das Kapitel zusammengesetzt aus drei Schichten: dem
ältesten Grundbestand in l -19.27-29, der dtr Redaktion in 22.24-26
und zwei nach-dtr Zusätzen 20.23.
Steck2, der mehr überlieferungsgeschichtlich als rein literarkritisch
argumentiert, findet vier Schichten bzw. Überlieferungsstufen: 1. den
ältesten Grundstock in 17.18a.l9a.20aba (Ahab ist allein der Schuldige);
2. die vor-dtr. Verlagerung der Erfüllung des Drohwortes in die Zeit der
Söhne durch Ahabs Buße in 27 — 29; 3. vor-dtr Erweiterung der Tradition
durch Isebelkritik in l — 16.23 (Isebel wird die Hauptschuldige); 4. spätere
dtr Erweiterungen in 18b.20bß.21.22.24-26.
Seebass3 sieht in l — 20ba.23.27-29a den ältesten Grundstock, in
20bß.29b findet er DtrG, in 21.22.24-26 DtrN bzw. nach-dtr Zusätze.
Hentschel4 differenziert zwischen der ursprünglichen Einheit l —
20abct, die allerdings noch überlieferungsgeschichtlich zu erklärende
Spannungen enthält, den vor-dtr Zusätzen 21b.23.24.27.28.29* und der
dtr Überarbeitung in 21a.22.25.26, wobei die Einfügung der vor-dtr Verse
21 b und 24 auf dtr Redaktionsarbeit zurückgehen soll.
Bohlen5, der mit subtilsten literaturwissenschaftlichen Methoden
den Text aufzuhellen versucht, unterscheidet fünf Schichten: 1. der älteste
Grundbestand in 17 — 20aba; 2. eine noch vor-dtr Tradition in 20bß.24;
3. einen noch vor-dtr Zusatz in 27-29; 4. DtrP (580-560 v.Chr.) in
20b-24; 5. DtrN (560 v.Chr.) in 25.26.
Würthwein 6 findet ebenfalls fünf Schichten, ordnet aber ganz anders
als Bohlen zu: in l - 16 findet er den ältesten nordisraelitischen Grundbe-
1
M. Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien, 1943 (Nachdruck 1963), 82f.
2
O. H. Steck, Überlieferung und Zeitgeschichte in den Eliaerzählungen, WMANT 26,
1968, 32-77.
-' H. Seebass, Der Fall Naboth in l Reg XXI, VT XXIV (1974), 475-488; vgl. ders.,
Art. »Elia«, TRE IX, 498-502.
4
G. Hentschel, Die Elijaerzählungen, EThSt 33, 1977, bes. 14-43.
s
R. Bohlen, Der Fall Nabot. Form, Hintergrund und Werdegang einer alttestamentlichen
Erzählung (l Kon 21), TThSt 35, 1978.
6
E. Würthwein, Naboth-Novelle und Elia-Wort, ZThK 75 (1978), 375-397.

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stand, die in sich abgeschlossene Naboth-Novelle; 2. in 21.22.24 den


älteren DtrP (wegen der kollektiven Vergeltung); 3. in 17.18.19B.23 den
jüngeren DtrP (wegen der individuellen Vergeltung; vielleicht ist 18 noch
späterer Zusatz); 4. in 19a.25.26 spät-dtr Einfügungen; 5. in 20.27-29
ganz späte nach-dtr Zusätze. Bei erneuter Analyse7 ordnet Würthwein
v. 19a.19b.20.25.26 anders zu und kommt zu folgendem Ergebnis: 1-16
sind Grundbestand; 17— 19a.21.22.24 eine durchgehende Ergänzung des
dynastischen DtrP, in die hinein ein individuell denkender DtrP 23
eingesetzt hat; 20 wird jetzt ebenso DtrN zugewiesen wie 25 und 26;
19b wird nachdtr Nachtrag, was 27 — 29 bleiben.
Ohne die z.T. sehr aufwendigen Argumentationen, die bei den
verschiedenen Autoren zu der jeweiligen Zuordnung der Verse und
Halbverse führen, hier eingehend würdigen zu können, zeigt der Ver-
gleich der vorliegenden Analysen8 recht deutlich die großen Unsicherhei-
ten und Schwankungen der Forschung. Als opinio communis kann
lediglich gelten, daß in v. 20* — 29 verschiedene, v. a. dtr Hände in mehre-
ren Stufen Zusätze angebracht haben.
Man mag zweifeln, ob die sprachlichen und formalen Kriterien für
eine präzise literarkritische Unterscheidung und sichere Quellenzuwei-
sung ausreichen.

//. Das Problem der Einheitlichkeit der v. l-20*:


eine überlieferungsgeschichtliche Lösung
Das für die inhaltliche Interpretation wichtigste literarkritische Pro-
blem scheint freilich die Frage zu sein, ob v. 1-20* eine Einheit bilden 9
oder ob l — 16 als eine in sich abgeschlossene Perikope angesehen werden
müssen10.
Die literarisch-stilistischen Verhältnisse der Verse l - 20* sind bereits
so sorgfältig analysiert worden, daß hier nur darauf verwiesen zu werden
braucht: die knappe, durchgeformte Erzählweise11, die kunstvolle Auf-

7
E. Würthwein, Die Bücher der Könige. 1. Könige 17-2. Könige 25, ATD 11,2, 1984.
8
Der Abdruck einer Vergleichstabelle ist aus Raumgründen hier nicht möglich; ihre
Anfertigung sei dem Leser empfohlen.
9
Nachdrücklich ist die Einheitlichkeit von l - 20* verteidigt worden von P. Welten,
Naboths Weinberg (1. Könige 21)*, EvTh 33 (1973), 18-32; aber auch Noth, Seebass
und Hentschel halten an der Einheit fest.
10
Steck, Bohlen, Würthwein und Timm (S. Timm, Die Dynastie Omri, FRLANT 124,
1982, 117 f.) treten für die Auffassung ein, l -20* sei aus zwei Teilen zusammengesetzt:
1-16 und 17-20*.
11
Sehr zutreffend vergleicht K. Baltzer, Naboths Weinberg. Der Konflikt zwischen israeli-
schem und kanaanäischem Bodenrecht, WuD 8 (1965), 73-88, 76 die Erzählweise
dieses Kapitels mit derjenigen von Gen 22, wie sie E. Auerbach in seinem Buch
»Mimesis«, 19643, 11 ff. so meisterhaft herausgearbeitet hat.

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gliederung in Szenen12, die geradezu raffinierte Verklammerung der Sze-


nen untereinander 13 sollen nicht nochmals nachgezeichnet werden. Hier
ist zu fragen, ob die Verse 15.16 den Schluß einer Novelle bilden können.
Sie lauten:
»Und als Isebel hörte, daß Naboth gesteinigt worden war und daß
er tot ist, da sprach Isebel zu Ahab: >Mache dich auf! (01p) Nimm
den Weinberg Naboths, des Jesreeliters, in Besitz, welchen dir für
Geld zu geben er sich geweigert hatte! Denn Naboth lebt nicht
mehr, denn er ist tot.<
Und als Ahab hörte, daß Naboth tot war, da machte er sich
1
auf ( * ), um hinabzusteigen ( ?) zum Weinberg Naboths, des
Jesreeliters, um ihn in Besitz zu nehmen
Man beachte das doppelte Dlp, einmal im Sinne einer aufmunternden
Aufforderung (v. 15), einmal im Sinne eines Sich-in-Bewegung-Setzens,
und die zwei Infinitive mit V in der Bedeutung von »um zu«. Es erscheint
doch sehr unwahrscheinlich, daß eine solche neue Bewegung, wie sie mit
Dlp eingeleitet ist, mit einer doppelten Erklärung über das, was noch zu
tun beabsichtigt ist, den Schluß einer Erzählung darstellen kann. Viel-
mehr steigern die beiden finalen Infinitive beim Leser/Hörer, der die
ganze Geschichte mit Betroffenheit und Empörung verfolgt hat, die
Spannung, ob das böse Spiel auch ein böses Ende nehmen wird. Diese
formalen Beobachtungen rechtfertigen den Schluß, daß v. l — 16 in der
jetzigen Gestalt keine in sich abgeschlossene Einheit darstellen, sondern
eine Fortsetzung haben müssen.
Allenfalls kann man erwägen, ob die Infinitive ursprünglich finite
Verbformen waren, also: »Ahab machte sich auf, stieg hinab und nahm
in Besitz.« Dann wären v. l - 16 in der Tat eine geschlossene Einheit,
die erst durch spätere leichte Umarbeitung für eine Fortsetzung geöffnet
wurde. Aber reichen die Gründe für eine solche Annahme aus?
Mit der Feststellung, daß v. l - 16 in der gegenwärtigen Fassung
eine Fortsetzung verlangen, ist keineswegs schon gesagt, daß v. 17 ff.
diese darstellen. Denn in unbestreitbarer Spannung zur Novelle ist hier
Ahab allein der Hauptschuldige, den die volle Härte des göttlichen
Gerichts trifft. Daß diese scharfe Verurteilung allein des Königs sehr
unvermittelt und überraschend erfolgt, ist oft beobachtet worden und
hat eine Reihe von Erklärungen provoziert: (1) Man meint, die Betonung
des Siegeins im Namen des Königs (v. 8) zeige, »daß nach Meinung des
Textes Ahab für alle Folgen der Handlung der Königin voll verantwort-

1
~ Vgl. bes. Würthwein, ZThK 75 (1978), 382 390 und die Übersicht bei Bohlen, a. a. O.,
38 41.
" Vgl. bes. Seebass, a.a.O., 478-482; Bohlen, 51-71.

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lieh ist«14. Oder man rechnet damit (2), »daß der König in den Plan
eingeweiht war; denn aus der Nachricht, daß Naboth tot sei (15b),
folgte keineswegs die Erbberechtigung des Königs, sondern erst aus dem
Umstand, daß Naboth wegen der Verfluchung von Gott und König
gesteinigt worden war. Deshalb trug der König ohne Zweifel die Verant-
wortung für die Tat Isebels«15. Weiter nimmt man an (3), Ahab habe
Isebel den wahren Rechtsgrund für Naboths Weigerung - den nVm-
Status des Weinberges - schuldhaft und berechnend verschwiegen16.
Schließlich versucht man (4) die Spannung überlieferungsgeschichtlich
zu erklären: in der ursprünglichen Uberlieferungsstufe habe in 1-16
Isebel gar nicht die dominierende Rolle gespielt; sondern - wie der
Vergleich mit II Reg 9,25 zeige — Ahab selbst sei der allein Schuldige
gewesen. Die späteren Tradenten hätten - v. a. um den friedlichen Tod
Ahabs (II Reg 22,40) zu erklären und um Isebel-Kritik zu betreiben -
Ahab entlastet und Isebel belastet17. Diese Erklärungsversuche überzeu-
gen aber nicht, (ad 1) Die Mitwisserschaft Ahabs muß erschlossen wer-
den; der Text selbst sagt nichts davon. Solche argumenta e silentio sind
grundsätzlich schwach, (ad 2) Die Betonung des Siegeins in v. 8 »scheint
weniger die rechtliche Verantwortung Ahabs als vielmehr die Entschlos-
senheit Isebels hervorheben zu wollen, die königliche Macht so voll
einzusetzen, wie es Ahab nicht gewagt hat« 18 , (ad 3) Die Annahme, daß
Isebel nur deswegen so brutal mit illegalen Mitteln die königliche Macht
durchgesetzt habe, weil sie von Ahab über die wahren Rechtsverhältnisse
des Streitobjekts getäuscht wurde, hat im Text keinen Anhalt. Vielmehr
zeigt Isebel auch sonst, wie schon die Bestechung der Zeugen zeigt,
keinerlei Achtung vor dem geltenden Gesetz. Schließlich ist (ad 4) die
überlieferungsgeschichtliche Hypothese, Ahab sei ursprünglich in 1-16
allein schuldig gewesen, erst nachträglich sei Isebel belastet worden,
allenfalls als eine kühne Folgerung möglich, wenn die Einheit von l -
20* gesichert wäre, schwerlich aber als ein Beweis für diese Einheit.
V. 17-20* können nicht den ursprünglichen Schluß von 1-16
darstellen. Andererseits lassen sich 17 — 20* auch nicht überzeugend von
1-16 literarkritisch abtrennen. Dafür ist die vorliegende Verzahnung
von Prophetenwort und Novelle viel zu eng. Am deutlichsten wird die
Verschmelzung beider Textteile an der weitgehenden Parallelität von v. 16
und v. 18; v. 16: »Da machte sich auf (1) Ahab (2), um hinabzusteigen (3)
zum Weinberg Naboths (4), des Jesreeliters, um ihn in Besitz zu nehmen

14
Baltzer, 85; nachdrücklich Welten, 25.
15
Seebass, 181 f.
16
SoTimm, 115.
17
So insbes. G. Fohrer, Elia, AThANT 53, 19682, 62f.; vgl. auch ders., Art. »Ahab«,
TRE II, 124.
18
Würthwein, ZThK 75 (1978), 377.

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(5)«. V. 18: »Mache dich auf (1), steig hinab (3) Ahab (2) entgegen, dem
König von Israel, der in Samaria ist! Siehe, er ist im Weinberg Naboths
(4), wohin er hinabgestiegen (3) ist, um ihn in Besitz zu nehmen (5)«.
Die Lösung des problematischen Befundes kann nur auf überliefe-
rungsgeschichtlichem Wege gesucht werden. In I Reg 21 liegen offenbar
in einer literarischen Einheit verbunden zwei ursprünglich unabhängige
Traditionen vor.

///. Zwr Datierung der beiden Traditionen


Während das hohe Alter beider Traditionen bisher nicht bezweifelt
wurde und insbesondere v. 17-20* als sehr alt galten, hat Würthwein
nachzuweisen versucht, daß 17 — 20* dtr bzw. sogar z. T. nach-dtr 19 seien.
Folgende Argumente werden für die späte Entstehung von 17-20*
geltend gemacht:
1. Die Wortereignisformel (17a) sei in Prophetenerzählungen der
frühen Königszeit durchweg als dtr Bearbeitung anzusehen20.
2. Die Parallele von 18a zu den dtr Versen I Reg 17,3.9 und 18,lb
sei so eng, »daß v. 18a ebenfalls als dtr gelten muß« 21 .
3. Das Drohwort von 19b wird in I Reg 22,38 als erfüllt dargestellt.
»Dieses charakteristische Schema >Weissagung-Erfüllung< zeigt, daß so-
wohl IKön 21,19 wie IKön 22,38 Dtr zuzuweisen sind (genauer wohl
dem sog. prophetischen Dtr, DtrP)« 22 .
4. Wenn 17.18.19b dtr sind, dann scheide für 19a vor-dtr Herkunft
aus. Besonders durch das doppelte "ION HD bestärke sich der Ver-
dacht, daß 19a ein von einem späteren Dtr eingesetztes Scheltwort sei,
»dem die Drohung gegen den König zu unvermittelt kam« 23 .
5. V. 20 unterbreche die Jahwerede der v. 19-21 ff., so daß er
als späterer Einschub gelten müsse. Zudem passe die »Betonung des
Feindverhältnisses zwischen Prophet und König« 24 sprachlich und inhalt-
lich zu DtrN. Aus alldem folge, daß 17-20* dtr seien, ältester Grundbe-
stand sei die Nabothnovelle in v. l —16, die sich schon durch ihre nicht-
dtr Sprache als alt zu erkennen gebe. Dieser Argumentation kann man
freilich folgendes entgegenhalten:
Zu 1: Daß die Wortereignisformel wirklich dtr ist, wäre erst noch zu
beweisen; der Ansicht Würthweins stehen immerhin andere Meinungen

19
Würthwein, ZThK 75 (1978), 378-382.
20
Ebd., 378 unter Berufung auf Fohrer u.a., vgl. ebd., Anm. 11.
21
Ebd., 380.
22
Ebd., 380, anders in ATD-Kommentar: Wie l Reg 22,38 sei auch 21,19b nicht dtr-
Zusatz, sondern nach-dtr Nachahmung.
« Ebd., 381.
24
Würthwein, ATD 11,2, z. St.

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entgegen, die mit vor-dtr Ursprung der Formel, etwa bis Jer oder früher,
rechnen25. Aber selbst wenn sich hinter der Formel als solcher die
Redaktionstätigkeit von DtrP »vermuten«26 läßt, beweist ihr Vorkommen
lediglich, daß der Passus dtr überarbeitet sein könnte.
Zu 2: Die Parallele von 18a (n Dip) zu I Reg 17,3 C]V), 17,9 (f?
01p) und 18,Ib ( "jV) zwingt keineswegs, dtr Ursprung anzunehmen.
T) Dip ist eine sehr allgemeine Aufforderungsfloskel, die sich ähnlich
auch in eindeutig vor-dtr Texten findet, z. B. v. 15 ( Dip) oder in
Num 22,20 (E)27, wo es in einer Gottesrede an Bileam heißt: "]V Dip28.
Schließlich sind die beiden exakten Parallelen zu I Reg 21,18a in Jdc
7,9 und ISam 23,4 wahrscheinlich vor-dtr Ursprungs, vielleicht sogar
Elemente alter Kultsprüche 29 .
Zu 3: Der Schluß, daß aufgrund des Erfüllungsvermerks I Reg
22,38, der in der Tat dtr sein dürfte, auch das Drohwort 19b dtr sein
müsse, ist nicht zwingend. Zumal in 22,40, in harter Spannung zu 22,38,
der friedliche Tod Ahabs mitgeteilt wird, läßt sich die Entstehung von
22,38 besser als dtr Harmonistik verstehen, die das alte Drohwort an
Ahab (21,19b; vgl. auch II Reg 9,25 f.) und Ahabs ehrenvollen Heimgang
zu seinen Vätern auszugleichen sucht.
Zu 4: Wenn also 17.18.19b nicht dtr sind, dann muß auch 19a nicht
notwendig dtr sein. Aber das Scheltwort bleibt dennoch, wegen des
doppelten 1 HD verdächtig, ein Nachtrag zu sein, muß aber
keineswegs dtr Provenienz sein. Würthweins Argument für spät-dtr An-
setzung - die individuelle Vergeltung — verfängt nicht. Die ganze
Geschichte ist von vornherein an Individuen orientiert! Eine nachträg-
liche Individualisierung ist völlig überflüssig. Darüber hinaus ist es ja
unbestreitbar, daß schon das Bundesbuch zahlreiche individuelle, auf
dem Talionsprinzip beruhende Strafandrohungen enthält, an deren ho-
hem Alter kein Zweifel möglich ist30.
Zu 5: Das Argument, daß v. 20 den Zusammenhang der Gottesrede
unterbreche, sticht nur dann, wenn man voraussetzt, daß 17 -19.21 ff.

25
Z.B. Steck, a.a.O., 42 Anm. 1; W. Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/1, 1969, 89f.;
Hentschel, a.a.O., 51.
26
R. Smend, Die Entstehung des Alten Testaments, 1978, 122.
27
Vgl. M. Noth, Das vierte Buch Mose. Numeri, ATD 7, 19824, z. St.
28
Vgl. auch Num 23,18 (E).
29
O. Eissfeldt, Einleitung in das Alte Testament, 19764, 95 f. erkennt hier die Gattung
eines Ephod-Orakels, die ihren Sitz im Leben im Heiligen Krieg hatte; ähnlich L.
Schmidt, Menschlicher Erfolg und Jahwes Initiative, WMANT 38, 1970, 53-57.
Würthwein hält freilich den gesamten Vorstellungskomplex des Heiligen Krieges für
eine theologische Fiktion des Dtr.
30
Im Kommentar, 1984, hat Würthwein selbst dieses Argument fallen lassen und 19a
zum älteren DtrP gezogen.

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eine ursprüngliche Einheit gebildet haben, die dann durch v. 20 gestört


wurde. Sieht man aber, wie allgemein üblich, in 21 ff. sekundäre An-
hänge, dann bestand ursprünglich auch keine einheitliche Gottesrede,
die durch v. 20 unterbrochen würde. Somit muß auch die Ausscheidung
von v. 20* als später Zusatz ungesichert bleiben.
Daß ^N als Bezeichnung des Verhältnisses von Prophet und König
zu DtrN gehöre, ist völlig unbewiesen. !TN begegnet im dtr Geschichts-
werk überwiegend im Plural und bezeichnet die inneren und äußeren
Feinde des Volkes oder des Königs, niemals aber die Propheten. TX
im Singular bezeichnet entweder ebenfalls den Volksfeind (z. B. I Reg
8,33.44.46; auch in dem von Würthwein als Analogie beigezogenen
Disput I Reg 18,17 f.) oder aber zumeist das spezifische Verhältnis zwi-
schen Saul und David (ISam 18,29; 19,17; 24,5.20; 26,8; IlSam 4,8), so
auch in der engsten Parallele zu I Reg 21,20a, dem Sprichwort in ISam
24,20: »Wenn jemand seinen Feind findet, läßt er ihn dann im Guten
seines Weges ziehn?« TN als Charakterisierung der Beziehung Prophet-
König ist somit völlig singulär 31 . Dieser Umstand spricht entschieden
gegen eine Zuweisung von 20a an DtrN. Dennoch hat Würthwein völlig
recht, wenn er die inhaltliche Diskrepanz zwischen 1-16 und 17 ff.
scharf herausstellt.
Diese innere Spannung darf aber nicht literarkritisch aufgelöst wer-
den. / Reg 21,1 — 20a muß vielmehr als eine literarische Einheit betrachtet
werden, die überlieferungsgeschichtlich gesehen aus zwei alten, ursprüng-
lich selbständigen, andersartigen Traditionen zusammengesetzt ist. Zur
sachgemäßen Erfassung des Textes muß daher seine Vorgeschichte bis
hin zur Endgestalt nachgezeichnet werden.

/V. Überlieferungsgeschichte als Spiegel der Zeitgeschichte?


Die Rekonstruktion des Überlieferungsganges durch Steck ist auf
den ersten Blick von bestechender Einfachheit und Überzeugungskraft:
Aus dem Vergleich mit II Reg 9 f., welche Steck für eine »Geschichtsquelle
hohen Ranges«*2 hält, eruiert er eine älteste Schicht, in der Ahab allein

Vgl. E. Jenni, Art. rx, THAT , 19843, Sp. 118-122.


Steck, a. a. O., 32 Anm. 2. Vgl. auch Bohlen, 287 Anm. 34. Neuerdings hat Timm
(a.a.O., 139-142) das hohe Alter von II Reg 9,25 f. mit folgenden Argumenten in
Zweifel gezogen: 1. Das gleich doppelte mrP'DKJ in v. 26 sei überraschend, da diese
Formel bei Amos primär auf redaktionelle Bearbeitung zurückgehe und auch bei Hosea
äußerst sparsam gebraucht werde. 2. Es gebe keinen Beleg dafür, »daß die frühen
Propheten Worte gegen Einzelpersonen WPQ genannt hätten« (140). 3. Die Synonymität
von WTQ und DK3 erweise diese Verse als »in Nachfolge der deuteronomistischen
Wort-Gottes-Theologie« (141) stehend. 4. Im selben Sinne hat Würthwein - mündlich
geltend gemacht, daß D^tf im Fiel in der Bedeutung von »vergelten« nur in der

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der Schuldige gewesen ist (17.18a.l9.20aba); diese Schicht stamme aus


Lebzeiten Ahabs, also ca. 870 — 851. Nach dessen friedlichem Tod, der
nicht mit dem prophetischen Drohwort vereinbar sei, habe man durch
die Erzählung von Ahabs Buße die Verlegung der angekündigten Strafe
in die Zeit der Söhne erklärt. Ahabs Frau, die phönizische Prinzessin
Isebel, habe ihre Stellung als Königinmutter zur Protegierung des kanaa-
näischen Bevölkerungsteils des Nordreiches ausgenützt, insbesondere zur
Förderung des Baalkultes und - vice versa - zur Verfolgung der
Jahweverehrer. Daher sei nun Isebel mit der Hauptschuld für den
Nabothmord belastet worden; diese Isebel-kritische Schicht finde sich
in l -16.23. Zuletzt sei die so entstandene Nabothtradition von Dtr
aufgegriffen und in seinem Sinne kommentiert worden (in 20bß.21.22.
24-26).
Als tragendes Movens der Überlieferungsgeschichte ist somit die
Zeitgeschichte herausgearbeitet worden. Hier liegen jedoch Probleme.
Es ist zunächst zu fragen, ob Stecks Rekonstruktion der Zeitgeschichte

Spätzeit des AT begegne. Aufgrund dieser Beobachtungen sehen Timm und Würthwein
in II Reg 9,25 f. eine späte, nach-dtr Glosse. Dieser Argumentation ist zunächst zuzuge-
ben, daß v. 25 f. eine sekundäre Einfügung in die ursprünglich zusammengehörigen
v. 24 und 27 sind. Es ist aber die Frage, ob diese Einfügung als späte Glosse gedeutet
werden kann und muß, oder ob sie sich nicht besser verstehen läßt als eine vor-dtr
apologetische Überarbeitung des Berichtes über den Jehu-Putsch (so H.C. Schmitt,
Elisa. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur vorklassischen nordisraelitischen
Prophetie, 1972, 25-27 und Bohlen, 279-284). Zwar beeindrucken die wortstati-
stischen und wortgeschichtlichen Beobachtungen von Timm und Würthwein. Aber die
Wortstatistik allein ist ein relativ stumpfes Messer, ein nur mit äußerster Vorsicht zu
benutzendes Instrument, das im Grunde nur Hilfsargumente liefern kann, niemals aber
klare Beweise. Wegen der schmalen Basis wirklich alter Texte beruhen die Ergebnisse
der Wortstatistik m. E. häufig auf Zufall. Aus der Tatsache etwa, daß das biblische
Hebräisch bei den alten Schriftpropheten keine Parallele für ein doppeltes mrP'DKl
enthält oder keine exakte Parallele für den Gebrauch von Ktfö (welches in der Bedeutung
von »Ausspruch« ohnehin nur 20mal im AT begegnet) bezeugt, sollte man nicht allzu
sicher auf spätnachexilische Entstehungszeit von II Reg 9,25 f. schließen. Wohl aber
begründen die wortstatistischen Beobachtungen — zumal in dieser Häufung — einen
Verdacht, zumindest den auf eine spätere Überarbeitung. Dieser wortstatistisch begrün-
dete Verdacht müßte sich am Inhalt der v. 25 f. bewähren. Inhaltlich aber fällt auf, daß
1. das Grundstück Naboths rTTO *? bezeichnet wird, nicht als 0"1D; daß 2. auch das
Blut der Söhne Ahabs geflossen sein soll; daß 3. der Acker Naboths in der Jesreel-
Ebene lokalisiert wird, nicht im Stadtareal von Jesreel; daß 4. vor allem der Name des
Propheten nicht genannt wird, der das Gotteswort übermittelt hat. Inhaltlich ist II Reg
9,25 f. von I Reg 21 derartig unabhängig, daß es wohl kaum als eine nach-dtr Glosse
begriffen werden kann, welche die Kenntnis von I Reg 21 voraussetzt. Daß Jahrhunderte
post festum, als schon eine feste schriftliche Tradition vorlag, eine so selbständige
Version erfunden und als Glosse eingefügt wurde, erscheint mir gänzlich unwahrschein-
lich. Glossen tragen keine originellen unverwechselbaren Züge.

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wirklich zutrifft. Denn Steck kann sich dazu nicht auf ungefärbte,
unabhängige Quellen stützen, sondern nur auf eine Darstellung, »in der
der Erzähler seine Vorstellung vom Lauf der Dinge entfaltet«33. Daher
wird man vom historischen Standpunkt aus sagen müssen: »Es ist außer-
ordentlich bedauerlich, daß die Quellenlage eine sichere Darstellung der
wichtigen Geschehnisse dieser Zeit ... nicht mehr zuläßt«34. Sodann und
vor allem ist das Urvertrauen problematisch, daß Überlieferungsprozesse
unmittelbar historisch ausgewertet werden können bzw. daß sich in
Überlieferungsprozessen notwendig historische Ereignisse spiegeln. Muß
man nicht sehr viel stärker mit anderen Überlieferungstendenzen und
Traditionsbildungskräften rechnen, wie z. B. bewußter Typisierung der
handelnden Personen, religiös motivierter Xenophobie und vor allem
mit kerygmatischer Deutung und Durchdringung, die nicht bloß auf
vorgegebene Tatsachen reagiert, sondern — wie etwa im Prophetenwort,
das die fordernde und richtende Präsenz Jahwes verkündigt - seine
eigene Wirklichkeit schafft? Als ein Beispiel für die Problematik des
Steckschen Ansatzes, die Überlieferung aus der Zeitgeschichte heraus zu
erklären, mag sein Versuch dienen, die Rolle Isebels in 1-16 dadurch
zu begründen, daß Isebel nach Ahabs Tod das Amt der Königinmutter
inne gehabt habe. Ihre Protegierung des Baalismus in dieser Zeit habe
dazu geführt, daß man ihr die eigentliche Schuld für den Mord an
Naboth zuschreibt. Darin ist zunächst problematisch, ob dieses Bild von
Isebels Wirken historisch zutreffend ist; dies hat zuletzt Timm mit
Gründen in Zweifel gezogen35.
Aber selbst wenn man sich von Stecks Wahrscheinlichkeitsbeweis
überzeugen läßt, so ist damit die Rolle Isebels immer noch nicht zurei-
chend einsichtig gemacht: Inwiefern spiegelt sich in der Intrige gegen
Naboth, deren Ziel die Durchsetzung des königlichen Wunsches nach
Erweiterung des Palastareals mit allen Machtmitteln ist, eine Protegie-
rung des Baalismus und eine Verfolgung der Jahweverehrer? Wird bei
solcher Deutung nicht doch zuviel zwischen den Zeilen gelesen? An
diesem Punkt setzt denn auch Bohlen seine Kritik an Steck an36.
Bohlen, der die kleine Einheit l - 16 nach 721 im Südreich entstan-
den sieht, ist mit Steck aber darin einig, daß allein die politische Zeitge-
schichte der Schlüssel zum Verständnis des Textes ist. Allerdings sei die
wahre »zeitgeschichtliche Problemstellung Judas im 8./7. Jhd.«, um die
die kleine Einheit kreise, die »Unterwanderung des nahala-Roden-
rechtes«37. Der theologische Skopus des Textes sei »herbe Kritik an der

33
Würthwein, a.a.O., 387 (Hervorhebung von mir).
34
A. H. J. Gunneweg, Geschichte Israels bis Bar Kochba, 19845, 105.
35
Vgl. Timm, a.a.O., 288-303.
36
Bohlen, a.a.O., 354-359.
37
F.bd., 359.

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372 M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter

bodenrechtlichen Praxis des israelitischen >Frühkapitalismus<« 38 . »Die


Zeichnung Isebels als Initiatorin und Regisseurin des Planes, den nahalä-
Besitz gegen den Willen seines Inhabers dem Krongut zuschlagen zu
können, brandmarkt die gerügten Praktiken als ein Ergebnis fremdländi-
schen, kanaanäisch-baalistischen Einflusses, der durch die tyrische Prin-
zessin repräsentiert wird« 39 .
Gegen die Deutung Bohlens sind ähnliche Einwände zu erheben wie
gegen diejenigen Stecks: Was wissen wir sicher über die Sozialgeschichte
dieser Zeit, insbesondere über das Bodenrecht des 8. Jhds.? Der Streit,
ob Naboth seinen Weinberg nicht verkauft, weil er aus bodenrechtlichen
qua theologischen Gründen gar nicht verkaufen darf40, oder weil er -
vielleicht aus landmännischer Sturheit - einfach nicht will, vielleicht
auch, weil »mit dem Weinberg die Begräbnisstätte der Vorfahren verbun-
den war« 41 , dieser Streit ist jedenfalls keineswegs im Sinne der ersten
Möglichkeit entschieden, sondern eher gegen sie42. Aber nehmen wir
einmal an, Bohlen hätte Recht und auch folgende Beschreibung der
Zeit wäre zutreffend: »Die Überverschuldung der kleinen Bauern, die
ungerecht verteilten Steuerlasten und die Zwangsveräußerungen der na-
halä führten zu dem Gegenüber von landbesitzender, kapitalkräftiger,
zahlenmäßig jedoch kleiner Oberschicht und der Masse der verarmten
Bauern, die ihres Landbesitzes beraubt und politisch entrechtet waren«43.
Selbst wenn also diese Skizze der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des
8./7. Jhds. für Juda zuträfe, so erscheint es immer noch höchst fragwür-
dig, ob dies wirklich den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Naboth-
Novelle trifft; denn einer aus der Masse der verschuldeten, politisch
entrechteten Bauern scheint Naboth nicht zu sein, ganz im Gegenteil;
und auch Ahab und selbst Isebel werden nicht wie raffgierige Großgrund-
besitzer dargestellt: Gar nicht nach Ausbeuterart macht Ahab Naboth
ein faires, ja großzügiges Angebot für seinen Weinberg (v. 2), und Isebel
geht es nicht um das Land, sondern um den Erweis der Königsmacht
(v. 7).

38
Ebd., 387 (Sperrung getilgt).
39
Ebd., 387 (Sperrung getilgt).
40
So bes. Baltzer, a.a.O. (s. Anm. 11): »Naboth kann und darf nicht verkaufen. Er hat
keine freie Verfügung über den Weinberg, denn im rechtlichen Sinne ist er nicht
Eigentümer, sondern Besitzer des Weinberges. Gibt er die nVm auf, so gibt er damit
das Heil, die Gnade Jahwes auf für seine Kinder und Erben. Ein Verkauf wäre
rechtswidrig vor Gott und den Menschen.« (81)
41
Würthwein, a. a. O., 385.
42
Vgl. Seebass, a.a.O., 474-478 und zuletzt Würthwein, 383-385.
43
Bohlen, 345; ganz ähnlich deutet T. Veerkamp, Die Vernichtung des Baal. Auslegung
der Königsbücher (1.17-2.11), Reihe Lehrhaus Buch 2 1983, 106-119.

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M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter 373

So überzeugen die überlieferungsgeschichtlichen Herleitungen der


Naboth-Novelle aus bestimmten zeitgeschichtlichen Konstellationen
nicht. Offensichtlich haben andere Faktoren entscheidend auf die Über-
lieferungsbildung eingewirkt, und zwar vor allem theologische.

V. Die theologischen Motive der Überlieferungsgeschichte


Zur Rekonstruktion der theologischen Motive der Überlieferungsge-
schichte soll hier eine Beobachtung fruchtbar gemacht werden, die bisher
erstaunlich wenig bedacht wurde, nämlich die signifikante Häufung von
VKSnr: in v. l (2x).4.6.7.15.16.23; durch das viermalige 1TS7 in v. 8.11
(2x).13 wird dieses Stichwort nochmals eingeschärft, ja geradezu pene-
trant eingehämmert. Auch Vtfsnr in v. l ist entgegen der üblichen
Meinung gerade keine Glosse. Dies kann keine Nebensache oder gar
Zufall sein. Aber die Erklärungen dieses auffälligen Befundes reichen
nicht aus. Seebass deutet die Apposition ^ als Gegenbegriff zu
den in v. 8.11, welche eine soziologische Schicht darstellen sollen,
»die mit dem Königshaus speziell verbunden waren, etwa als vom König
mit Grundbesitz und Privilegien versehene Freiherren« 44 , quasi eine Art
Lehnsmänner des Königs.
Naboth dagegen werde deshalb so prononciert nVxsnr genannt,
weil er »in Jesreel zu den wenigen Freien gehört haben (dürfte), die im
Unterschied zu den Chorim überhaupt über ein Erbe der Väter verfügten,
die dort alteingesessen waren und die am wenigsten Veranlassung sahen,
sich dem König erkenntlich zu zeigen«45. Dieser Deutung aber steht
entgegen, daß in v. 8.11 nicht nur die , die Handlanger Isebels,
sondern auch die D^pT genannt sind. Der ganze Rat der Stadt wird also
als korrupt dargestellt, nicht nur wenige Königstreue46.
47
Timm vermutet ein Wortspiel VfcttHP - ^ . Dies mag gut
möglich sein, aber zur Erklärung des Stichwortes, das 1 — 16 geradezu
beherrscht, muß doch weiter ausgeholt werden.
Der Stamm nW^XSnr kommt im AT 48mal vor. Jesreel bezeichnet
zum einen die fruchtbare große Ebene zwischen dem samarischen und
galiläischen Gebirge (z.B. in Jos 17,16; Jdc 6,33; Hos 1,5); zum ändern
die am Südostrand der Ebene gelegene Stadt Jesreel (z. B. II Reg 8,29;
9,16), die wohl schon zur Richterzeit in israelitischem Besitz war und zu
kurzer Bedeutung gelangte, weil sich dort die Winterresidenz der Dyna-

44
Seebass, a.a.O., 479.
45
Ebd., 480, bes. Anm. 1.
*· So sehr treffend Würthwein, 387.391.
47
Timm, a.a.O., 121, Anm. 47.

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374 M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter

stie Omri befand48. Die Unterscheidung zwischen beiden Bedeutungen


ist nicht immer eindeutig sicher, z.B. ISam 29,11 und IlSam 2,4. Mögli-
cherweise gab es im Süden Judas noch einen zweiten Ort mit Namen
Jesreel (vgl. Jos 15,56). Davids Frau Ahinoam dürfte aus diesem »wahr-
scheinlich kenitischen Ort Jesreel«49 stammen (vgl. ISam 25,43; 27,3;
30,5; IlSam 2,2; 3,2; IChr 3,1).
Die Jesreel-Ebene »ist eine der fruchtbarsten Alluvialebenen Palästi-
nas, seit grauer Vorzeit eine Kornkammer ersten Ranges«50. Von der
großen Fruchtbarkeit der Ebene51 dürfte sich auch ihr Name herleiten:
»Gott sät«52. Die Vorstellung von der reichen göttlichen Saat dürfte in
Hos 2,2 im Hintergrund stehen53. Die Jesreel-Ebene aber »hat neben
ihrer landwirtschaftlichen Nutzbarkeit eine nicht minder wichtige ver-
kehrsgeographische Bedeutung: Durch sie verläuft der Verbindungsweg
von Ost nach West, der sich mit der alten nordsüdlichen Küstenstraße
in der Nähe von Megiddo kreuzt. Nicht zuletzt deshalb ist die Ebene im
Altertum das klassische Schlachtfeld Palästinas gewesen«54. Deswegen
hat Jesreel neben der neutralen Ortsbezeichnung in Josl5,6; 19,18; IlSam
2,9; I Reg 4,12 - charakteristischerweise taucht Jesreel hier in längeren
Ortslisten auf - im Alten Testament durchweg einen Konnex zu bedroh-
lichen und blutigen Ereignissen: Die Kanaanäer haben eiserne Wagen in
der Ebene Jesreel, deswegen müssen die Stämme im Gebirge siedeln (Jos
17,16); die Feinde sind im Tal Jesreel, und blutige Schlachten werden
gegen sie dort geschlagen: gegen die Kanaanäer (Jdc 4,7 u. ö.), gegen die
Midianiter (Jdc 6,33), gegen die Philister (ISam 29,1.11). Besonders
gehäuft taucht Jesreel in den Elia-Geschichten und im Zusammenhang
mit Jehus Putsch auf (I Reg 18,45.46; 21,1.4.6.7.15.16.23; II Reg 8,29;
9,10.15.16.17.21.25.30.36; 10,1.6.7.11; IChr 22,6). Es geht eben um die
Bluttat an Naboth, dem Jesreeliter, um die Androhung eines grausamen
Endes an Ahab, Isebel und ihre Söhne auf dem Acker Jesreels, um den
verwundeten Joram und schließlich um das brutale Abschlachten »des

48
Die These von A. Alt, Der Stadtstaat Samaria, KS III, 258-302, Jesreel sei im
Zweivölkerstaat Israel die Hauptstadt des israelitischen Bevölkerungsteiles gewesen,
während Samaria die des kanaanäischen Bevölkerungsteiles gewesen sei, ist wiederholt
in Zweifel gezogen worden; vgl. zuletzt Timm, 142- 148.
49
A. H. J. Gunneweg, a. a. O., 73.
50
H. Donner, Einführung in die biblische Landes- und Altertumskunde, 1976, 30.
51
Zur wirtschaftlichen Bedeutung dieser Fruchtbarkeit für das heutige Israel vgl. Y.
Karmon, Israel, a regional geography, London 1971, 191-195.
52
Gegen Noth, Die Welt des Alten Testaments, 19624, 56, der annimmt, die Ebene habe
ihren Namen von der Stadt Jesreel her, deren Stadtflur erst nachträglich auf die ganze
Ebene ausgeweitet worden sei.
53
Vgl. H. W. Wolff, Hosea, BKAT XIV, 19763, 32.
54
Donner, a.a.O., 30f.; vgl. auch Karmon, a.a.O., 192f.

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M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter 375

ganzen Hauses Ahab in Jesreel« (II Reg 10,12) durch Jehu. Übersieht man
die Hekatomben von Blut, die in Jesreel geflossen sind, dann wird man
sagen dürfen, die Verbindung von Jesreel mit Schlachtgemetzel, Blutvergie-
ßen, Mord und Totschlag ist die beherrschende im Alten Testament55. Von
daher ist auch Hos 1,4 zu verstehen: Hier haben wir es m. E. nicht mit
einem »Rätselwort«56 zu tun; vielmehr dürfte den Hörern, genau wie bei
den beiden anderen Symbolnamen HDm K1? und 57 X1? das Bedrohliche,
Beängstigende dieses Namens klar gewesen sein57. Ein weiterer Beleg für
die geradezu symbolische Kraft des Ortsnamens Jesreel ist IlSam 4,4; dort
wird die Körperbehinderung des Jonathan-Sohnes Mephiboscheth ( =
Merib-Baal) damit erklärt, daß die Amme auf die Nachricht vom Tode
Sauls und Jonathans hin mit dem fünfjährigen Mephiboscheth geflohen
sei, auf der Flucht aber das Kind so unglücklich habe fallen lassen, daß es
gelähmt war. Auffälligerweise wird die Todesbotschaft mit den Worten
»Kunde von Saul und Jonathan aus Jesreel« bezeichnet, obgleich der Tod
Sauls und Jonathans sich nach ISam 31,1.8 auf dem Gebirge Gilboa, die
Leichenschändung an ihnen in Beth-Schean (ISam 31,9 f.) ereignet hat. Die
Anziehungskraft des Blutortes Jesreel aber war offenbar so groß, daß man
diese Ereignisse an diesen Ort verlegt hat58.
Als Fazit der Konkordanzarbeit zu Jesreel halten wir also fest:
Jesreel ist im AT ein Ort, der aufgrund der blutigen Ereignisse, die sich
dort abgespielt haben, zu einem Symbol für Blutvergießen, Schlachten
und Brutalität geworden ist59.
Nach diesem Exkurs zurück zu I Reg 21,1 - 16 und der Frage, wieso
Jesreel hier so gehäuft begegnet. Wenn man prima vice davon ausgehen
will, daß sich in dieser Lokalisierung schlicht die Historie spiegelt, so
würde sich allein daraus doch nicht die ständig wiederholte Betonung

55
Ca. 75% der Stellen sind mit diesem Konnotat verbunden.
56
Wolff, a.a.O., 18.
57
Dieses negative Konnotat scheint aber mit der Zeit abgeblaßt zu sein. In IChr 4,3
scheint Jesreel ein ganz normaler Eigenname zu sein; vielleicht aber hat sich in diesem
Namen wieder die Tradition von Hos 2,2 durchgesetzt; M. Noth, Die israelitischen
Personennamen, 1928, 213 deutet ihn als Wunschnamen: »Gott möge fruchtbar
machen.«
58
Dieser auffällige Befund wird in den Kommentaren entweder nicht erwähnt oder mit
dem Hinweis »erklärt«, Jesreel habe am Fuß des Gebirges Gilboa gelegen.
59
Nach Apc 16,13 — 16 werden Teufelsgeister die Könige des ganzen Erdkreises nach
zur letzten Schlacht des großen Gottestages versammeln. Mit
dürfte die Jesreel-Ebene gemeint'sein, vgl. z. B. E. Lohse, Die Offenbarung des Johan-
nes, NTD 11, 1971, 92. Es sei angemerkt, daß auch in nachbiblischer Zeit noch
blutige Schlachten in der Jesreel-Ebene geschlagen wurden: die Kreuzritter gegen die
Muselmanen unter Saladin; die Franzosen 1799 unter Napoleon und 1918 die Engländer
unter Lord Allenby gegen die Türken, 1948/49 die Juden gegen die Araber (vgl.
Karmon, a.a.O., 193).
25 Zeitschr. f. alrtestamentl. Wiss., Band 98

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376 M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter

des Tatorts Jesreel erklären. Offensichtlich hat im jetzigen Text Jesreel


seinen neutralen Sinn als historische Ortsangabe längst transzendiert und
ist zum Symbolnamen geworden. Die Novelle wird ganz bewußt und
nachdrücklich von einem Mann aus Jesreel erzählt. Gerade hier in Jesreel,
dem Blutort, sind exaltierte Machtansprüche, Intriganz, Korruption,
Rechtsverdrehung und Mord paradigmatisch konzentriert. Nimmt man
die Grausamkeiten des Jehu-Putsches, der ja auch nachdrücklich in
Jesreel gespielt haben soll, hinzu, besonders die sadistisch ausführliche
Erzählung vom Ende Isebels (aus dem Fenster gestürzt, von Pferd und
Wagen zertrampelt, das Blut an die Mauern gespritzt, die Knochen von
den Hunden abgenagt, wie Mist auf dem Felde Jesreels zerstreut, II Reg
10,33 — 37), so erscheint Jesreel geradezu wie ein zweites Sodom und
Gomorra60; der Symbolname des Hoseasohnes ist nur allzu beredt.
Nun zum Prophetenwort in 17-20: Es fällt auf, daß in diesem
Abschnitt keine klare Verbindung von Naboth mit Jesreel vorliegt, um
so mehr, als dies Stichwort vorher so betont wurde. Im Drohwort v. 19b
fehlt jegliche Lageangabe des Weinbergs; unpräzise ist von dem Dlpö,
»wo die Hunde das Blut Naboths geleckt haben«, die Rede.
Auch in dem fast allgemein61 als sehr alte Tradition anerkannten
anonymen Drohwort in II Reg 9,26 ist eine ursprüngliche Verbindung
von Naboth und Jesreel nicht nachweisbar. Aus I Reg 21,18 muß man
sogar den Eindruck gewinnen, Naboths Weinberg liege in Samaria. Dies
wird durch I Reg 22,38 bestätigt, wo die Hunde das Blut Ahabs in
Samaria lecken, was offenbar als Erfüllung des Elia-Wortes verstanden
wird62. In I Reg 21,17-20* ist offenbar eine selbständige Tradition
erhalten, welche die Nabothaffäre nicht mit Jesreel, sondern mit Samaria
in Verbindung bringt. Die Analyse der Bedeutung des Ortes Jesreel
bestätigt somit nachträglich den bei der Literarkritik gewonnenen Befund
zweier ursprünglich unabhängiger Traditionen in 1-16 und 17-20*
und eröffnet einen neuen Zugang zur Überlieferungsgeschichte, die nun
nachgezeichnet werden soll.
Im Anfang steht, nur noch dunkel erkennbar, mit großer Sicherheit
ein historischer Konflikt zwischen dem Königshaus der Omriden und
Naboth (mit seinen Söhnen63), der mit dem gewaltsamen Tod Naboths
60
Dieser Eindruck liegt freilich nicht in der Absicht der jetzigen Darstellung des Jehu-
Putsches, welche diese Brutalitäten als Gott wohlgefällig ausgibt (2 Köln 10,30).
61
Vgl. Anm. 32.
62
Es gab offenbar eine Tradition, für die »Samaria als Todesort Naboths vorgegeben
war« (Timm, 121); vgl. auch Hentschel, a.a.O., 25-31, bes. 29f. Es finden sich also
nicht weniger als vier Lokalisierungen des Ereignisses: ein unbekannter Ort, die Flur
von Jesreel, Jesreel-City und Samaria.
63
Man kann nur mutmaßen, ob Naboths Söhne ursprünglich dazugehörten oder ob sie
im Verlauf der Traditionsgeschichte in Angleichung an den Tod der Ahab-Söhne
hinzugewachsen sind.

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M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter 377

(und seiner Söhne) geendet hat. Um dieses Ereignis haben sich zwei
Traditionen gebildet: die Novelle 1-16 und die Prophetengeschichte
17-20*.
Zunächst zu 17 — 20*: Im Laufe der wohl mündlichen Tradierung
ist folgendes zu beobachten:
a) Schon sehr früh — wohl noch zu Lebzeiten Ahabs — hat sich
an die Ermordung Naboths ein anonymes Prophetenwort geheftet, das
gerade Ahab einen schändlichen Tod für das Verbrechen an Naboth
voraussagt. Ob historisch Ahab wirklich der Alleinschuldige gewesen
ist, muß ungewiß bleiben. Jedenfalls wird er allein, als das Oberhaupt
des Königshauses, durch das Prophetenwort belangt.
b) Das anonyme Prophetenwort wächst Elia in den Mund 64 . Daß
dies Gerichtswort Jahwes in II Reg 9 namenlos ist, ist ein starkes Argu-
ment dafür, daß historisch Elia dem Ahab zumindest dieses Wort nicht
ausgerichtet hat65. Die nachträgliche Einführung Elias hängt vielmehr
mit der Vorstellung zusammen, daß gerade in diesem Propheten Jahwe
selbst zugänglich ist.
c) Das Geschehen wird von einem nicht näher bestimmten Dlpö
recht bald nach Samaria (bzw. in die Jesreelebene) verlegt66. Es lassen
sich also drei Überlieferungstendenzen beobachten: Zum einen die Kon-
zentrierung des Geschehens auf die Hauptpersonen der Zeit. Gerade
Ahab, der König, wird für das Verbrechen belangt, auch wenn - was
historisch wahrscheinlich ist — noch andere in die Gewalttat verwickelt
waren; gerade Elia hat die prophetische Drohung ausgesprochen, nicht
irgendein Anonymus. Zum anderen wird das Geschehen durch ein Pro-
phetenwort bewertet. Im Wort des Propheten meldet sich Jahwe, der
die Geschichte seines Volkes nicht ihren Eigengesetzlichkeiten überläßt,
sondern fordernd, richtend und strafend die Handlungen der Menschen

64
In diesem Punkt hat II Reg 9,26 gegenüber I Reg 21,19 die ältere Traditionsstufe
bewahrt, denn hier ist das Wort anonym geblieben.
65
Die überlieferungsgeschichtlichen Verhältnisse zwischen II Reg 9 und I Reg 21 sind
recht komplex (vgl. schon J. Wellhausen, Die Composition des Hexateuchs und der
historischen Bücher des Alten Testaments, 19634, 281). J. M. Miller, The Fall of the
house of Ahab, VT XVII (1967), 307 - 324 glaubt, aus dem Vergleich beider Traditionen
den Schluß ableiten zu dürfen: »Naboth was not murdered during Ahab's reign, but
soon before the death of Ahab's son, Jehoram« (316 f.). »Only by accident has this
tradition come to be connected with Ahab« (315). - An dieser wie »eine phantastische
Konstruktion« (Steck, a.a.O., 52, Anm. 1) wirkenden Theorie ist sicher soviel Wahr-
heit, daß man nicht allzu großes Zutrauen in die historische Zuverlässigkeit der
Darstellung haben sollte. Ein Zusammentreffen von Elia mit Ahab in der Naboth-
Sache muß als historisch unwahrscheinlich gelten (vgl. zuletzt Timm, a.a.O., 128).
66
Analoge Prozesse lassen sich im Pentateuch häufig beobachten (vgl. M. Noth, Überliefe-
rungsgeschichte des Pentateuchs, 1948, passim, z.B. 70-77 o. 150-155).

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378 M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter

begleitet. Daß dies eine erst dtr Eintragung ist67, kann für I Reg 21,17-
20* nicht nachgewiesen werden. Drittens wird das blutige Geschehen
an einen Ort verlegt, der von seinem symbolischen Konnotat her den
geeigneten Rahmen für ein Verbrechen abgibt. Bei dieser Verlegung des
Geschehens an einen markanten Ort kommt in II Reg 9 die Symbolkraft
von Jesreel zum Tragen. In I Reg 21,17 — 20* dagegen ist Samaria zum
Ort des Geschehens gemacht, sei es, weil man die Hauptpersonen auch in
der Hauptstadt agieren lassen wollte, oder sei es, weil man in polemischer
Absicht gerade die Hauptstadt der Omriden als mit Unrecht erbaut
brandmarken wollte. Lokalisation bedeutet Qualifikation.
Jetzt zur Naboth-Novelle. Hier hat das gleiche historische Gesche-
hen folgende Traditionsbildung aus sich herausgesetzt:
a) Die Verlegung des Geschehens an einen markanten Ort kommt
hier in aller Breite zum Tragen. Ganz nachdrücklich wird die Naboth-
affäre als eine Jesreel-Geschichte erzählt; hierbei spielt die symbolische
Bedeutungskraft von Jesreel als Blutort eine wesentliche Rolle.
Eine klassische Parallele zu solch einer nachdrücklichen Verlegung eines bestimmten
Ereignisses an einen bestimmten Ort ist Gen 11,1—9. Es ist sicher kein Zufall, daß der
gewaltige Turm gerade in Babel gebaut sein soll. Mögen sich auch dort historische
Reminiszenzen an die großartige Architektur der Stadt oder an ihre Tempeltürme verber-
gen68, so ist der Name Babel doch längst theologische Chiffre geworden. »Der Ort größter
menschlicher Prachtentfaltung, von dem alle Völker mit Staunen reden, trägt in seinem
Namen schon das Brandmal des Sündenortes«69. Babel, »dieser Ort als Zentrum und
Sinnbild gottfeindlicher Mächte«70 ist geradezu »Symbol der Sündhaftigkeit, des Hochmuts
und der Gottesferne«71.

b) Es zeigt sich eine zweite Tendenz, die die Lokalisierung betrifft:


Die streitenden Parteien werden räumlich konzentriert, eng aneinander
gerückt. Das Grundstück Naboths ist aus einer nicht näher lokalisierten

67
Selbst R. Bickert, Die Geschichte und das Handeln Jahwes. Zur Eigenart einer deutero-
nomistischcn Offcnbarungsauffassung in den Samuelbüchern, in: Textgemäß, Fest-
schrift E. Würthwein, 1979, 9-27, der es als Charakteristikum gerade von DtrP
herausarbeiten möchte, mittels Prophetenauftritten die Geschichte als unter Jahwes
Urteil stehend zu offenbaren, gesteht zu, daß es ältere Vorformen für diese Anschauung
gibt. »DtrP findet in 2. Sam 12,1-12* einen willkommenen älteren Beleg für seine
eigene Überzeugung, daß die Geschichte unter bestimmten Umständen von Jahwe
seinem Urteil unterstellt wird.« (16)
68
So z.B. H. Ringgren, Art. Vaa, ThWAT I, (503-507) 504; doch wird diese Sicht seit
langem bestritten, vgl. z.B. C. Westermann, Genesis, BKAT I/l, 720f.: »Der Erzähler
hat bei Vilö wahrscheinlich an einen Festungsturm gedacht..., was es Ri 8,9 und 9,46 f.
bedeutet« (721).
69
W. Zimmerli, 1. Mose l -11. Die Urgeschichte, Zürcher BKAT 1.1, 19673, 406.
70
M. Lurker, Wörterbuch der biblischen Bilder und Symbole, 1973, 37.
71
Ebd., vgl. auch K. Galling/B. Altaner, Art. Babylon, RAG I, 1118-1134, bes. 1128 f.

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M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter 379

Gegend über die Jesreel-Ebene in die Stadt Jesreel hineingewandert,


unmittelbar neben den Palast Ahabs.
c) Die Erzählung ist künstlerisch durchgeformt worden, es entsteht
Kunstprosa von bestechender Erzählkunst 72 . In holzschnittartigen Sze-
nenbildern werden die Hauptfiguren dialogisch miteinander konfrontiert.
d) Bei der Zuweisung der Schuld gerade an die Ausländerin Isebel
wird sicher auch eine im Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes begründete
Xenophobie eine nicht zu leugnende Rolle gespielt haben73.
e) Die am Konflikt beteiligten Personen werden auf Grundstruktu-
ren menschlichen Verhaltens hin typisiert: Naboth ist der idealtypische
freie Israelit, der vor der königlichen Macht keine Angst hat und den
Wunsch der Obrigkeit selbstsicher zurückweist; Ahab, der Machthaber,
respektiert die - wenn auch brüskierend aufgezeigte - Grenze seiner
Macht, leidet aber im Innersten an dieser Ohnmacht; Isebel, seine Frau,
der typische Machtmensch74, will aber die Macht der Macht um jeden
Preis beweisen; subtil ist gesehen, daß das eigentliche Machtzentrum das
Schlafzimmer des Königs ist und daß die Macht von der Frau ausgeht,
die es versteht, raffinierte Intrigen zu spinnen; der Stadtrat von Jesreel
ist der typische Untertan, der diensteifrig dem Vorgesetzten zur Hand
geht, autoritätshörig auch, wenn er sich an einem Verbrechen beteiligen
soll; Ahab schließlich ist allzu gerne bereit, die Früchte der Macht zu
ernten und fragt nicht weiter nach ihren Opfern. Das geheime Thema
der Novelle ist somit das Verhältnis des Menschen zur Macht in all
seinen Spielarten, das hier exemplarisch »narrativ durchreflektiert« wird.
So wie die Joseph-Novelle den idealtypischen Weisen in eine Erzählung
hinein entfaltet 75 , so setzt die Naboth-Novelle Einsichten der weisheit-
lichen Skepsis in eine Geschichte um bzw. deutet ein historisches Ereignis
im Lichte skeptischer Weltsicht: »In dem Königswort ist Macht, und wer
darf zu ihm sagen: was machst du?« (Koh 8,4) »Des Königs Grimm ist

Vgl. R. Bohlen, Alttestamentliche Kunstprosa als Zeitkritik. Zur Naboterzählung in


l Kon 21*, TThZ 87 (1978), 192-202.
Wiewohl die Ablehnung des Fremden in Israel gewiß primär theologische Gründe hat
(vgl. R. Martin-Achard, Art. , , 19844, 520-522 und ders., Art. -Dl, THAT
3
, 1984 , 66-68), so erscheint dennoch auch die Einbeziehung psychologischer Erwä-
gungen zur Erklärung der Rolle Isebels nicht unangemessen. Denn die Bedeutung der
Xenophobie für das Tradieren ist durch die Sozialpsychologie experimentell bewiesen
worden, z. B. durch die schon klassischen Versuche, die G. W. Allport und L. J.
Postman Anfang der 40er Jahre in den USA durchführten; vgl. dies., The basic
psychology of rumor, in: E. E. Maccoby u.a. (Hg.), Readings in social psychology,
19583, 54-65.
Zur Typisierung Isebels vgl. J. A. Soggin, Jezabel, oder die fremde Frau, in: Melanges
bibliques et orientaux en l'honneur de M. Henri Cazelles, AOAT 212, 1981, 453 -459.
Vgl. G. von Rad, Josephsgeschichte und ältere Chokma, in: ders., Gesammelte Studien
/um Alten Testament, ThB 8, 197l4, 272-280.

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380 M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter

ein Bote des Todes« (Prov 16,14). »Bitterer als der Tod ist die Frau, die
ein Fangnetz ist und Stricke ihr Herz und Fesseln ihre Hände.« (Koh
7,26) »Weiter sah ich unter der Sonne: an der Stätte der Rechtsprechung
war Gottlosigkeit, und an der Stätte der Gerechtigkeit war Frevel.« (Koh
3,16; vgl. auch 4,1; 5,7; 7,15)
Das historische Ereignis ist also in zweifacher Weise bearbeitet,
gedeutet, weitergedacht und durchreflektiert worden. Einmal in prophe-
tischem Sinne wird das Geschehen am Willen Jahwes gemessen und
entsprechend der Untat Strafe angedroht; zum ändern wird in einer
lebensweisheitlich-skeptischen Jesreel-Erzählung am Exempel des Falles
Naboths das Thema Macht »narrativ durchdacht«. Es liegt auf der
Hand, daß beide Erzählungen unterschiedlichem geistigen Milieu ent-
stammen: 17 - 20* offenbar einer Tradition, die am Wirken der Propheten
sehr interessiert ist, wahrscheinlich aus »Kreisen der mit Elisa verbunde-
nen Prophetengenossenschaft«76; 1 — 16 dagegen aus gebildeten, grund-
sätzlich und realistisch denkenden Kreisen, die mit dem Prophetismus
ursprünglich wohl nichts verband. Diese weisheitliche Herkunft erklärt
auch, wieso die Novelle nichts von Gott sagt, sondern mit herbem
Realismus, der zur Skepsis hinneigt, Grundmodelle menschlich allzu-
menschlichen Verhaltens in Konfrontation mit Macht erzählend »aufli-
stet«.

VI. Zum theologischen Profil des Endtextes


Abschließend gilt es nachzuzeichnen, wie diese Traditionen zusam-
mengewachsen sind und was ihre Verschmelzung zu dem einen Text, wie
er jetzt vorliegt, theologisch bedeutet. Eine Affinität beider Erzählungen
zueinander ist schon durch den gemeinsamen Wurzelgrund in der einen
Nabothaffäre gegeben; daß zwei Naboth-Traditionen irgendwann zu-
sammenkommen, ist von vornherein zu erwarten. Ein zweites wesent-
liches Movens für das Zusammenfinden der beiden Traditionen ist die
Anziehungskraft des Blutortes Jesreel. Daß die prophetische Nabothver-
sion früh nach Jesreel hintendiert, belegt II Reg 9. So ist es leicht ver-
ständlich, daß sich die weisheitliche Nabothversion, die ja ganz empha-
tisch eine Geschichte der Stadt Jesreel ist, und die prophetische Version
angezogen haben und miteinander verschmolzen sind.
Das Zusammenwachsen der weisheitlich-skeptischen und der pro-
phetischen Nabothtradition zum jetzigen kanonischen Text, der durch
seine Spannungen und Brüche die ursprünglichen Bausteine jedoch noch
recht deutlich erkennen läßt, bedeutet theologisch weit mehr als bloße
Addition. Die weisheitliche Nabothversion schildert idealtypisch, aber
doch realistisch die Mechanismen der Macht: Derjenige, der sich mit

76
Steck, a. a. O., 146.

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M. Oeming, Naboth, der Jesreeliter 381

Zivilcourage gegen den Mächtigeren auflehnt, gerät in das Räderwerk


von Intrige und Korruption Jesreels und kommt darin um. Diese fast
kafkaeske Erzählung beläßt den Hörer in skeptischer Resignation und
provoziert die Frage: Wo bleibt Gott? Ausgehend von der Beobachtung
menschlichen Umgangs mit der Macht führt die weisheitliche Deutung
des Nabothgeschehens zu der offenen Frage nach der praesentia Dei.
Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, daß die Novelle bloß fragmentarisch
erhalten ist.
Dagegen geht die prophetische Nabothversion von der fordernden
und richtenden Gottesgegenwart aus und belegt - darin ebenfalls ideal-
typisch zuspitzend - gerade durch Elia, den Hauptpropheten dieser
Zeit, gerade Ahab, die politische Hauptfigur dieser Zeit, mit dem wir-
kungsmächtigen Gerichtswort Jahwes. Insofern verhalten sich die weis-
heitliche und die prophetische Nabothgeschichte zueinander wie Frage
und Antwort. In ihrer Jetztgestalt faßt die biblische Nabotherzählung
in l - 20* also die profane, skeptisch-resignative und die theologisch-
optimistische« prophetische Interpretation zusammen zu einer span-
nungsvollen Einheit. Ihre Verschmelzung bedeutet eine Synthese zweier
Deutungen zu einer neuen Sicht, in welcher die harte, gottlose Wirklich-
keit nicht verdrängt, sondern göttlichem Gericht unterstellt wird.
Damit ist aber das Ringen um eine theologische Bewältigung des
Falles Naboth noch nicht zu Ende gekommen. Die späteren Zusätze -
von wem sie im einzelnen auch stammen mögen — stellen sich den
Problemen, die trotz oder gerade wegen der Synthese von weisheitlicher
und prophetischer Sicht noch offen geblieben sind:
Isebel, die Schuldige in der weisheitlichen Novelle, die im Propheten-
wort ungestraft davonkam, muß gemäß dem prophetischen Prinzip der
göttlichen Vergeltung von Schuld auch mit einer Strafandrohung belegt
werden; daher erklärt sich v. 23.
Viel schwerer aber wiegt das Problem, daß die historische Wirklich-
keit dem theologischen Anspruch der richtenden Gegenwart Gottes
widerspricht. Dieses Auseinanderklaffen von Glauben und Erfahrung
suchen die anderen Zusätze in mehrfacher Weise zu heilen: Einmal,
indem das Eintreffen des göttlichen Gerichts in die Zukunft verschoben
wird (v. 27 — 29), und zwar deswegen, weil Ahab Buße getan habe für
seine Schuld und von Jahwe selbst begnadigt worden sei. So bleibt Jahwe
der geglaubte Herr der Gemeinde.
Zum ändern, indem im harten Widerspruch zur historischen Reali-
tät, der Glaube festgehalten wird und behauptet wird: Jahwe hat sein
Gerichtswort tatsächlich erfüllt (I Reg 22,38). Dieses Bekenntnis führt
aber nicht zu einer Eliminierung der historischen Tatsache. Vielmehr
bleibt das Auseinanderfallen von Glauben und Wirklichkeit als Wider-
spruch unmittelbar nebeneinander stehen (I Reg 22,40). Die dialektische
Antinomie von Faktum und Creditum wird nicht in einer Synthese
aufgehoben.

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Drittens, indem die Schuld (und die Strafe) der Omriden ins Allge-
meine gesteigert (v. 24 - 26) und eingereiht wird in eine Kette von Schuld
(v. 21.22). Die historische Wirklichkeit wird fast übertrieben in ihrer
Gottlosigkeit angeprangert. Dadurch wird die Spannung von prophe-
tischem Anspruch und faktischem immer neuen Abfallen von Jahwe
bewußt gesteigert. Diese geradezu unerträgliche Unausgeglichenheit hat
im Rahmen der deuteronomistischen Geschichtstheologie die Funktion,
verständlich zu machen, wieso der Verlust der Eigenstaatlichkeit und das
Exil unvermeidlich kommen mußten. Überspitzt könnte man sagen, daß
das Exil geradezu eine »Erlösung« bedeutet, weil jetzt im Exil endlich
die Spannung von Glaube und Empirie aufgehoben ist. Das, was nach der
prophetischen Sicht der Wirklichkeit schon längst über die weisheitlich
erfaßte gottlose Wirklichkeit hätte kommen müssen, ist jetzt tatsächlich
eingetroffen. Ende der Eigenstaatlichkeit und Exil bedeuten die endliche
Lösung des theologischen Grundproblems der Übereinstimmung von
Glauben und Erfahrung (das auch der Fall Naboth aufwirft). Vielleicht
ist das ein Grund, warum die Königsbücher mit dem Exil enden können,
ja müssen.
Es zeigt sich also, daß die Zusätze in I Reg 21,20*-29 die in l -
20* angelegten theologischen Probleme verstanden haben und in je
verschiedener Weise aufgreifen und lösen. Damit wird zum Schluß als
Hauptergebnis unserer Analyse deutlich: Das Movens der Überlieferungs-
geschichte von l Reg 21 ist nicht primär die Zeitgeschichte, sondern die
theologische Frage nach Gott in der Geschichte. Trotz oder gerade wegen
mancher »fiktiven« Elemente erweist sich I Reg 21 ebenso wie andere
Erzählungen aus dem Elia-Elisa-Zyklus - etwa die von Elia am Horeb
oder die Naeman-Geschichte — als erstaunlich durchreflektierte, kunst-
und geistvolle narrative Theologie77.

I Reg 21 ist in den letzten Jahren auffällig häufig Gegenstand wissenschaftlicher


Analysen gewesen. Methodisch war dabei die Literarkritik beherrschend. Ihre bisherigen
Resultate sind aber in sich problematisch (I - III). Eine stärkere Berücksichtigung überliefe-
rungsgeschichtlicher Fragestellungen erscheint nötig. Die bislang dazu vorgelegten Lösun-
gen (IV) gehen aber recht einseitig davon aus, daß sich in der Überlieferungsgeschichte
schlicht die Zeitgeschichte spiegelt. Demgegenüber zeigt eine kritische Untersuchung, in
welch hohem Maße die theologische Reflexion lebensweisheitlicher und prophetischer
Kreise auf die Entstehung des Endtextes eingewirkt hat.

77
Vgl. M. Oeming, Bedeutung und Funktionen von »Fiktionen« in der alttestamentlichen
Geschichtsschreibung, EvTh 44 (1984), 254-266.

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