Sie sind auf Seite 1von 66

In dieser Schrift nehmen zwei bekannte Mäpner des Evangeliums

Stellung zu einem Thema, das nicht gerne und darum nur selten
angesprochen wird. Es geht um die Sünden der „Frommen". Als der
Beitrag von W. J. Oehler 1934 zum erstenmal erschien, erwähnte der
Verfasser in seinem Vorwort u. a.: Diese Schrift ist nicht für Weltleute
geschrieben; denn sie wissen schon, was darin steht. Und wenn sie es
nicht wissen, dann schadet das nichts. Denn jedenfalls geht es nicht
um ihre, sondern um anderer Leute Sünden, und für die brauchen sie
sich nicht zu interessieren. Nein, diese Schrift ist für mich und meines-
gleichen geschrieben, weil es mir eines Tages aufging: ,,Wie schwer
werden die Reichen, vor allem die geistlich Reichen, ins Reich Gottes
kommen!" Ein Glück, daß Jesus hinzufügt: Zwar bei den Menschen
11

ist's unmöglich, doch bei Gott sind alle Dinge möglich." Aber sicher
wird es nur dann möglich, wenn wir Reichen", das heißt wir From-
11 11

men" anfangen, unsere Sünden zu erkennen, bekennen, hassen, lassen


und versuchen, sie wiedergutzumachen. Dazu will diese Schrift eine
Hilfe sein.

Die Verfasser

W. J. Oehler lebt als emeritierter Pfarrer in Basel. Pfarrer Lüthi, Bern,


nennt ihn einen Meister der Begegnung im Gespräch". Das kommt
11

in allen seinen Schriften zum Ausdruck.


Dr. Erich Lubahn (geb. 1923) steht im Verkündigungsdienst des Evan-
geliums in Evangelisationen, Bibelwochen , Freizeiten, Radioandachten
und ist besonders bekannt geworden durch seine verschiedenen Publi -
kationen.

CHRISTLICHES VERLAGSHAUS GMBH STUTTGART


W. J.Oehler · E. Lubahn / Wir Pharisäer
W. J. OEHLER / E. LUBAHN

'W"ir Pharisäer

CHRISTLICHES VERLAGSHAUS GMBH


STUTTGART
1971
Umschlaggestaltung: Erich Augstein, Gießen
Gesamtherstellung: Druckhaus West GmbH, Stuttgart
ISBN 3 7675 0022 1
INHALT

Vorwort 6
Anklagepunkte gegen die Pharisäer (E. Lubahn) 9
Die Selbstgerechtigkeit 15
Die Heuchelei 19
Die Lohnspekulation 22
Der fromme Terror 26
Von den Sünden der „Frommen" (W. J.Oehler) 32
Zweierlei „Bekehrung" (E. Lubahn) 53
Religion und christlicher Glaube (E. Lubahn) 58
VORWORT

Vor einiger Zeit kam die Schrift von W. J.Oehler mit


dem Titel „Wir Pharisäer - von den Sünden der ,From-
men"' in meine Hände. Der Titel sprach mich an, mehr
aber noch der Inhalt dieser Schrift.
Manchmal hatte ich beim Lesen den Eindruck, daß der
Schreiber mich kennen würde; denn vieles, was er sagte,
paßte genau für mich. Die Schrift wurde mir zum Segen.
Ich war der Meinung, daß sie es wert ist, neu auf gelegt
zu werden, und schlug dies dem Christlichen Verlags-
haus in Stuttgart vor. Der Verlag ging auf meinen Vor-
schlag ein mit der Bitte, die Schrift zu bearbeiten und zu
ergänzen. - Das ist geschehen. Die erweiterte Schrift
geht nun hinaus und wird gewiß manche Freunde fin-
den, aber auch solche, die sich an ihr ärgern. Vielleicht
darf ich denen, die sich ärgern werden, gleich im voraus
sagen, daß gerade dann die Schrift ihnen etwas Beson-
deres zu sagen hat.
Demjenigen, der die Schrift mit Vergnügen gelesen
hat im Blick auf andere, die während der Lektüre an
seinem inneren Auge vorbeigezogen sind, sich selbst
aber nicht getroffen fühlte, muß ich sagen, daß er beim
Lesen nicht den richtigen Blickwinkel gehabt hat. Wäh-
rend wir in der Regel an uns selbst zuletzt denken soll-
ten, darf es in diesem Fall einmal umgekehrt sein.

6
Die Schrift will jeden persönlich treffen. Nur der-
jenige sollte sie an andere weiterreichen, der sich selbst
darin zuerst gefunden hat.
W. J. Oehler ist es in seinem Beitrag, der 1934 zum
erstenmal erschien und in der vorliegenden Ausgabe,
die in nur wenigen Punkten geringfügig überarbeitet
wurde, gelungen, den frommen Leser in ernster und
zugleich humorvoller Weise anzusprechen und zum
Nachdenken zu bringen.
In seinem Vorwort schrieb W.J.Oehler damals:
Dieses Heftehen ist nicht für die Weltleute ge-
schrieben. Denn die wissen schon, was darin steht.
Und wenn sie es nicht wissen, dann schadet das
nichts. Denn jedenfalls geht es nicht um ihre, son-
dern um anderer Leute Sünden, und für die brau-
chen sie sich nicht zu interessieren.
Nein, dieses Heftehen habe ich für mich und mei-
nesgleichen geschrieben, weil es mir eines Tages
aufgestiegen ist: ,,Wie schwer werden die Reichen,
vor allem die geistlich Reichen, ins Reich Gottes
kommen!"
Ein Glück, daß Jesus hinzufügt: ,,Zwar bei den
Menschen ist's unmöglich, doch bei Gott sind alle
Dinge möglich." Aber sicher wird es nur dann
möglich, wenn wir „Reichen", das heißt wir
,,Frommen" anfangen, unsere Sünden zu erken-
nen, bekennen, hassen, lassen und versuchen, sie
wieder gutzumachen.

7
W. J.Oehler lebt als emeritierter Pfarrer in Basel. -
Der Verlag und ich danken Herrn Oehler herzlich für
die Bereitschaft, seinen gediegenen und originellen Bei-
trag in dieser Schrift mit herausgeben zu dürfen.
Erich Lubahn

8
ANKLAGE GEGEN DIE PHARISÄER

Jesus Christus spricht: ,,Weh euch, Schriftgelehrte


und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmel-
reich zuschließet vor den Menschen I Ihr gehet
nicht hinein, und die hinein wollen, lasset ihr nicht
hineingehen. Weh euch, Schriftgelehrte und Phari-
säer, die ihr der Witwen Häuser fresset und ver-
richtet zum Schein lange Gebete! Darum werdet
ihr ein desto schwereres Urteil empfangen.
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr
Heuchler, die ihr Land und Meer durchziehet, da-
mit ihr einen Judengenossen gewinnet; und wenn
er's geworden ist, machet ihr aus ihm ein Kind der
Hölle, zwiefältig mehr, als ihr seid!
Weh euch, ihr blinden Führer, die ihr sagt:
Wenn einer schwört bei dem Tempel, das gilt
nicht; wenn aber einer schwört bei dem Gold am
Tempel, das bindet. Ihr Narren und Blinden! Was
ist größer: das Gold oder der Tempel, der das
Gold heiligt? Oder: Wenn einer schwört bei dem
Altar, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei
dem Opfer, das darauf ist, das bindet. Ihr Blin-
den! Was ist größer: das Opfer oder der Altar, der
das Opfer heiligt? Darum, wer da schwört bei dem
Altar, der schwört bei demselben und bei allem,
was darauf ist. Und wer da schwört bei dem Tem-

9
pel, der sdtwört bei demselben und bei dem, der
darin wohnt. Und wer da sdtwört bei dem Him-
mel, der sdtwört bei dem Thron Gottes und bei
dem, der darauf sitzt.
Weh eudt, Sdtriftgelehrte und Pharisäer, ihr
Heudtler, die ihr verzehntet Minze, Dill und
Kümmel und lasset dahinten das Widttigste im
Gesetz, nämlidt das Redtt, die Barmherzigkeit
und den Glauben! Dies sollte man tun und jenes
nidtt lassen. Ihr blinden Führer, die ihr Mücken
seihet und Kamele versdtluckt 1
Weh eudt, Sdtriftgelehrte und Pharisäer, ihr
Heudtler, die ihr die Becher und Sdtüsseln aus-
wendig rein haltet, inwendig aber sind sie voll
Raub und Gier! Du blinder Pharisäer, reinige
zum ersten, was inwendig im Bedter ist, auf daß
auch das Auswendige rein werde!
Weh eudt, Sdtriftgelehrte und Pharisäer, ihr
Heudtler, die ihr seid gleidtwie die übertündtten
Gräber, weldte auswendig hübsdt sdteinen, aber
inwendig sind sie voller Totengebeine und lauter
Unrat! .So audt ihr: von außen sdteinet ihr vor
den Mensdten fromm, aber inwendig seid ihr
voller Heudtelei und Obertretung.
Weh eudt, Sdtriftgelehrte und Pharsiäer, ihr
Heudtler, die ihr den Propheten Grabmäler bauet
und sdtmücket der Geredtten Gräber und spredtt:
Wären wir zu unserer Väter Zeiten gewesen, so

10
wären wir nicht mit ihnen schuldig geworden an
der Propheten Blut! So gebt ihr über euch selbst
Zeugnis, daß ihr Kinder seid derer, die die Pro-
pheten getötet haben. Wohlan, erfüllet auch ihr
das Maß eurer Väter! Ihr Schlangen, ihr Ottern-
gezüchte! Wie wollt ihr der höllischen Verdamm-
nis entrinnen?
Darum siehe, ich sende zu euch Propheten und
Weise und Schriftgelehrte; und deren werdet ihr
etliche töten und kreuzigen, und etliche werdet
ihr geißeln in euren Synagogen und werdet sie
verfolgen von einer Stadt zu der andern, auf daß
über euch komme all das gerechte Blut, das ver-
gossen ist auf Erden, von dem Blut des gerechten
Abel an bis auf das Blut des Zacharias, des Sohnes
Barachjas, welchen ihr getötet habt zwischen Tem-
pel und Altar. Wahrlich, ich sage euch, daß solches
alles wird über dies Geschlecht kommen" (Mat-
thäus 23,13-36).
Wenn wir das Wort Jesu richtig verstehen wollen,
müssen wir es auf dem Hintergrund der damaligen Zeit
sehen. Während in unseren Tagen der .Name „Phari-
. sä~r" fast zu einem Schimpfwort geworden ist, war er
damals ein Ehrentitte!. Es war ein großes Vorrecht, zur
Gruppe der Pharisäer gezählt zu werden. Keines-
wegs konnte jeder dieser Gruppe angehören. Zu ihr
zählte sich eine besonders auserlesene Gruppe jüdischer
Männer, die die Beachtung des mosaischen Gesetzes

11
besonders ernst nahm. Aus diesem Grunde waren sie im
Volk zum größten Teil geehrt und gefürchtet.
Im Blick auf „Fleischesruhm" schrieb der Apostel Pau-
lus nach Phili pper 3, 5 : ,,Der ich am achten Tag beschnit-
ten bin, einer aus dem Volk Israel, vom Stamme Ben-
jamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein
Pharisäer." Dieser Stand war dem Apostel, als er noch
Saulus hieß, ein Gewinn (Philipper 3, 7). Im Blick auf
seinen Pharisäerstand sagte der Apostel rückblickend,
daß er im Gesetz unsträflich gewesen sei (Philipper 3, 6).
Der Apostel fährt jedoch fort: ,,Aber was mir Gewinn
war, das habe ich um Christi willen für Schaden geach-
tet" (Philipper 3, 7).
Zur genauen pharisäischen Beachtung des mosaischen
Gesetzes war nicht jedermann geschickt. Es bedurfte
dazu eines guten Charakters und eines starken Willens.
Zur Gruppe der Pharisäer zählten sich also grundsätz-
lich nur hervorragende Menschen. Sie lebten ein ein-
wandfreies Leben. Sie beherrschten ihre Triebe, sie
verrichteten ihre religiösen Pflichten mit großer Ge-
nauigkeit, sie verwalteten ihre Zeit und ihr Vermögen
pünktlich und korrekt. Sie bemühten sich mit allem
Fleiß, keinem Menschen einen Anstoß zu geben. Ihr
Tun war in vielen Dingen vorbildlich.
y\Tas aber war nun in den Augen Jesu das Verwerf-
liche? So wichtig dem Herrn Jesus auf der einen Seite
die. gute Tat war/weil gute Werke in seinen Augen
nicht nichts sind, so sieht er doch :zuerst~a:uf,idieGesin-

12
~ung, auf die Stellung des Herzens. Hier liegt bei den
Pharisäern der wunde Punkt. Während ihr Tun in vie-
len Dingen gut war, war jedoch die Gesinnung ihres
Herzens in den Augen Gottes schlecht. Im Blick auf
seine eigene Gesinnung sagte der Apostel Paulus nach
Römer 7, 18: ,,Ich weiß, daß in mir, das ist in meinem
Fleische, wohnt nichts Gutes!"
Die durch Jesus angeklagten Pharisäer wurden von
Jesus grundsätzlich nicht im Blic:kauf ihr Tun,.sQngei:n
: v,' -~.,, \,;:.,.,-,.,,.
.im Blick au f ih
. re G 1
.. esinnµng \1~..IJ!J,teu. •' . .. ,.'-<:
Jesus spricht mit der Verkündigung des Evangeliums ?,,,,,,•. ,.tr,,-
alle Menschen an. Es ist aber eine Tatsache, daß gerade ,;•-•;,,.:..u..
die Pharisäer das Evangelium besonders schwer trifft. , ~" •·;•'.
1><,\.t,,., ••
Huren, Diebe, Mörder haben es leichter, Jesus mit sei-
nem Heilsangebot zu verstehen. Sie haben viel gesün-
digt. Die Sünden ihres Lebens überführen sie als Sün-
der. Pharisäer sind so „gute Menschen", daß sie offen-
sichtlich wenig sündigen. Ja, ihr Leben kann so ein-
wandfrei sein, daß sie in ihrem Leben grundsätzlich
keine Sünden erkennen. Darum halten sie sich auch
nicht für Sünder.
Der Mensch ist aber nicht deshalb ein Sünder, weil
er sündigt, sondern er ist vielmehr verflucht zu sün-
digen, weil er ein Sünder ist.
Die Sünden im Leben eines Menschen sind sehr diffe-
renziert und individuell. Ob nun einer viel oder wenig
gesündigt hat: jeder Mensch ist nach dem Zeugnis der
Schrift „in Adam" ein Sünder. Vor Gott ist kein Unter-

13
schied, ,,sie sind allzumal Sünder und mangeln des
Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten" (Römer 3,23).
Im Blick auf die Gesinnung des Menschen sagt Paulus:
,,Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer" (Rö-
mer 3,12).
Pharisäer haben es um ihrer guten menschlichen
QualifikatioI1en willen schwerer, ins Reich Gottes zu
kommen-t als solche, die wegen ihrer mannigfaltigen
Sünden um ihren Sünderstand wissen.
Als Junge kam mir einmal ein Buch in die Hand, das
etwa folgenden Titel hatte: ,,Können auch Pfarrer in
den Himmel kommen?" In meiner kindlichen Vorstel-
lung meinte ich damals, daß solche Menschen an der
Spitze derer marschieren müßten, die auf dem Weg
zum Himmel sind. Heute bin ich davon überzeugt, daß
es nicht nur Pfarrer schwerhaben, in den Himmel zu
kommen, sondern überhaupt religiös veranlagte Men-
schen, alle, die in irgendeiner Weise ihrer Religiosität
Ausdruck verleihen und sich mit eigener Kraft um
einen „guten", das heißt untadeligen Lebenswandelbe-
mühen.
Nur religiöse und fromme Menschen können Phari-
·-.... , säer
, \--1>hSGv;.€... - -
sein! Also meinen ·-die Worte Jesu an _Pharisäer
,,--~=~• -- .. ,~~-- -----·--•.. ·
:Wev-- .~1. k;_,~2,nderssolche, die religiö~,(,fromm und „christlich"
""'"'5 _sin~!,_
Als Jesus einmal von einem Pharisäer zum Essen ein-
geladen wurde, weil dieser ein Gespräch mit ihm haben
wollte, folgte Jesus dieser Einladung. Jesus bemühte

14
sich sehr um das Heil seines Gastgebers, indem er ihn
persönlich anredete: ,,Simon, ich habe dir etwas zu sa-
gen" (Lukas 7,40). Daß wir uns doch von Jesus persön-
lich ansprechen ließen! Jesus will auch Pharisäer zu-
rechtbringen. Aus dem siebenmaligen „Weh euch,
Schriftgelehrte und Pharisäer!" sollen die folgenden
vier Anklagepunkte gegen die_J>harisäer .herausge~i:-
beitet und dabei der Pharisäismus unserer Tage ~.&e.:-
Qrangert werden.

1. Anklagepunkt: Die Selbstgerechtigkeit

Die Selbstgerechten sind selbstgefülgg. Sie haben Lust


an der eigenen Frömmigkeit statt an Gott. Sie haben
Freude am eigenen Tun statt am Tun Gottes. Sie ver-
herrlichen ihr Ich statt Gott. Mit dem, womit sie vor
den Augen der Menschen glänzen, können sie aber vor
den Augen Gottes nicht bestehen. Darum ist ihre Ge-
rechtigkeit nur Schein. - Y,Vennwir ..lJ!!S, l?.eis_piels-
Jn,it H~l:>~r.is.wiirdigert.
~~!E.E'!. We>rten .nach .dem Wohl-
ergehen unsE!res.Mitmenschen erkundigen, obwohl es
uns ganz unwichtig ist; wenn wir mit unserer Frömmig-
keit, unseren guten Werken und unserem Egoismus
unser Ich befriedigen, ja, es geradezu berauschen und
uns dabei im Herzen an unserem eigenen Wesen ge- "--'
nügen lassen, statt in allem auf Gott gerichtet zu sein,
dann sind wir selbstgerechte Pharisäer.

15
Wenn wir uns fromm wähnen und dabei unsere Mit-
menschen in irgendeiner Weise verachten, dann hat uns
folgendes Gleichnis Jesu etwas zu sagen: ,,Es gingen
zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer
ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer
stand und betete bei sich selbst: Ich danke dir, Gott,
daß ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Unge-
rechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste
zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem,
was ich einnehme. Und der Zöllner stand von ferne,
wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel,
sondern schlug an seine Brust und sprach: ,Gott, sei
mir Sünder gnädig!' Ich sage euch: Dieser ging hinab
gerechtfertigt in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich
selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich
selbst erniedrigt, der wird erhöht werden" l'.!:?-kas18,
1.0-:-:-14).
Ein selbstgerechter Pharisäer ist auch der eine der
beiden Söhne in jenem Gleichnis Jesu von der Liebe des
Vaters. Der „ verlorene Sohn" kehrte, nachdem er das
Gut des Vaters verpraßt hatte und am Trog der Schwei-
ne geendet war, reumütig zum Vater zurück. Nun ver-
anstaltete der Vater ein großes Fest. Vorwurfsvoll sagte
der daheimgebliebene Sohn: ,,Siehe, so viel Jahre diene
ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und
du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen
Freunden fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn ge-
kommen ist, der dein Gut mit Dirnen verpraßt hat,

16
hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet" (Lukas
15,29.30).
Als Jesus im Haus eines Pharisäers war, kam eine
Sünderin zu ihm, ,,trat hinten zu seinen Füßen und
weinte und fing an, seine Füße zu netzen mit Tränen
und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und
küßte seine Füße und salbte sie mit Salbe" (Lukas 7, 38).
Der Pharisäer nahm daran Anstoß und meinte, Jesus
würde die Frau als die bekannte Sünderin nicht kennen.
Jesus entließ jedoch die Frau mit den Worten: ,,Dein
Glaube hat dir geholfen; gehe hin mit Frieden!" (Lu-
kas 7,50). Jesus hatte ihr die Sünden vergeben. Zum
Pharisäer aber sagte er: ,,Ihr sind viele Sünden ver-
geben, darum hat sie mir viel Liebe erzeigt; wem aber
wenig vergeben wird, der liebt wenig" (Lukas 7,47).
Der selbstgerechte Pharisäer haßt den Sünder statt die
Sünde. Jesus dagegen haßt die Sünde und liebt gren-
zenlos jeden Sünder! Wer in seiner Frömmigkeit der
Gesinnung des Pharisäers ähnelt, der ist von dem Bö-
sen inspiriert. Wer dagegen in seiner Frömmigkeit dem
Verhalten Jesu ähnlich ist, der lebt aus dem Heiligen
Geist.
Jg ei.ne unserer christlichen Versammlungen,
yVe.~:11:
die wir Gottesdienste nennen, eine Schar von jungen
Menschen hereinkommt, denen man es schon an ihrer
Kleidung und an ihrem Gehabe ansieht, daß sie bei uns
normalerweise nicht zu Hause sind - wie reagieren wir
dann auf ihr Erscheinen? Besteht nicht die Gefahr, daß

17
wir uns über diese Menschen erheben und uns fragen,
was sie bei uns verloren oder ob sie sich in der Ein-
gangstür geirrt haben?
Der Selbstgerechte erhebt sich über den andern und
andersartigen. Der geistlich Gesonnene dagegen ver-
mag sich im Namen Jesu voll Erbarmen zu erniedrigen,
ja, er ist sogar imstande, den anderen in Demut höher
zu achten als sich selbst (Philipper 2, 3).
Da es in den Augen Gottes entscheidend auf die Ge-
sinnung ankommt, wollen wir an Jesus lernen und hö-
ren, was uns der Apostel Paulus nach Philipper 2, 5 ff.
zu sagen hat: ,,Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Chri-
stus auch war: welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt
war, nahm er's nicht als einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsge-
stalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an
Gebärden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich
selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode
am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm
den Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in
dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die
im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und
alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der
Herr sei, zur Ehre Gottes des Vaters."
Eines Tages brachten die Pharisäer eine Frau zu Jesus,
die sie beim Ehebruch ertappt hatten. Sie wollten ihn
prüfen, ob er dem Gesetz treu ist, wonach eine solche
Frau zu steinigen wäre, und fragten: ,,Meister, diese

18
Frau ist ergriffen auf frischer Tat im Ehebruch. Mose
aber hat uns im Gesetz geboten, solche zu steinigen.
Was sagst du?" (Johannes 8,4.5). Jesus durchschaute
sie alle. Sein Blick muß sie getroffen haben. Er sagte
ihnen: ,,Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den
ersten Stein auf sie" (Johannes 8, 7). Vom Gewissen
überführt ging einer nach dem andern hinweg, bis
schließlich Jesus mit jener Frau allein stand und zu ihr
sagte: ,,Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich
niemand verdammt? Sie aber sprach: Herr, niemand.
Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht;
gehe hin und sündige hinfort nicht mehr" (Johannes
8, 10.11).
Selbstgerechte rühmen sich ihrer Erbanlagen und
ihrer Erziehung. Sie halten sich nicht für „Sünder", aber
sie sind Pharisäer! Eine solche Haltung hat jeder, der
sich in irgendeiner Weise über irgendeinen anderen er-
hebt.
Ist die SelbstgerechtigkeUnicht auch unsere Sünde?

2, Anklagepunkt: Die Heuchelei

Jesus sprach die Pharisäer als Heuchler an. Heuchler


kleiden die Selbstgefälligkeit in die Gestalt frommer
Dankgebete. In ihren Bußbezeugungen .genießen sie
ihre eigene Demut. Sie sind dabei hochmütig demü!i,g.
Pharisäer legen großen Wert darauf, in ihrer Fröm-

19
migkeit von den Leuten gesehen zu werden, weil sie
damit vor ihnen glänzen wollen (Matthäus 23, 5).
!11_der Zeit J~~1:1:. gehörte es unter den Jude!1-_.z1!tp
8:1:!~en I:9!12..fr9_1,!l~_;usein. Es .s:<!b-fromme und „arg
fromme" Menschen. Es sagte einmal ein Gottesmann,
daß bei den arg Frommen die Gefahr bestünde, daß sie
leider „mehr arg als fromm" seien.
Heuchlerische Pharisäer haben in den Gebetsver-
sammlungen lange Gebete gesprochen (Lukas 20,47).
Wie sieht ~~J.!:u~nserenT agel).in den Gebetsversamm-
Junge!l aus? Der Heilige Geist kann nicht nur gedämpft
werden, wenn wir nicht beten, sondern auch dadurch,
daß wir zu lange und zu eigensüchtig beten. Wer mit
seinen schönen, langen Gebeten vor den Menschen
glänzen will, dem gilt das Wort Jesu: ,,Wenn du aber
betest, so gehe in dein Kämmerlein" (Matthäus 6, 6).
,,Die heuchlerischen Pharisäer haben ein enges Ge-
wissen in kleinen Stücken und ein weites in großen"
(Luther), ,,sie seihen Mücken und verschlucken Kamele"
(nach Matthäus 23, 24).
Heuchlerische Pharisäer „machen ihre Gebetsriemen
breit und die Quasten an ihren Kleidern groß. Sie sit-
zen gerne obenan bei Tisch und in den Synagogen und
haben's gerne, daß sie gegrüßt werden auf dem Markt
und von den Menschen Rabbi genannt werden" (Mat-
thäus 23,5-7). Sie achten darauf, daß ihre „Becher und
Schüsseln" auswendig rein sind, ,,inwendig aber sind sie
voll Raub und Gier!" (Matthäus 23, 25).

20
In ihrem Innern vergleicht Jesus sie mit Unflat und
Totengebeinen und nennt sie „übertünchte Gräber 11
(Matthäus 23, 27).
Heuchlerische Pharisäer machen sich zum Sitten-
apostel über andere und entsetzen sich über deren Tun.
Gewiß ist vieles, was skh in unserenTagen regtund
\Vas geschieht, nur mit einem traurigen Herzen zµ be-
obachten. Vjer aber wollte sich über die.Entgleis1111.gen
11.11-cl..Aussch\Veifungenunserer Tage er~J:,1;!!,?Jedenfalls
vermag es niemand, der sein eigenes Herz im Lichte
Gottes sehen gelernt hat. Wenn wir zu manchen bösen
Taten noch nicht versucht und verführt wurden, dann
ist das einem gläubigen Menschen eine Bewahrung
Gottes, die ihn niemals über andere sich erheben läßt.
I::Iett.chle.rt.~.fh~
..Pharisäer ..richten iiJ?J~Idie..S.Ji_n,cl.en
.ande-
rer und verurteilen die Sünder. An dieser ungeistlichen,
fleischlichen Übung haben sie sogar Wohlgefallen und
wissen wohl nicht, daß möglicherweise jede Sünde auch
in ihrem Herzen eine Wurzel hat. Es ist immer Heuche-
lei, wenn wir uns über einen Sünder erheben!
Nehmen wir unsere erwachsenen Kinder, die uns
verließen und am „Trog der Säue" endeten, die ihr
Geld „mit Hurerei verschlangen 11 , gerne wieder auf,
wenn sie zerknirscht, elend und reumütig heimkehren,
oder schämen wir uns ihrer? (Vergleiche Lukas 15, 11 ff).
Eines Tages kam ein 17jähriges Mädchen zu mir. Ich
kannte seine Eltern. Diese bekannten sich zum christ-
lichen Glauben. Ihre Tochter sagte mir, daß sie ein Kind

21
erwarte. Es sei im dritten Monat. Sie berichtete unter
Tränen, daß sie das auch ihrem Vater bekannt habe.
Sie war nicht nur über diesen Tatbestand, sondern auch
über die Reaktion des Vaters traurig und tief erschüttert.
Der Vater verlangte nämlich, daß sie zu „jemandem"
ginge, der ihr das Kind „wegmachen" solle. Das hatte
die Tochter vorher für völlig ausgeschlossen gehalten,
da sie ihren Vater für christlich hielt. Nun aber fragte
sie mich: ,,Halten Sie es für möglich, daß ein so grau-
samer Vater vom Geist Christi geführt ist, wenn er
solches von mir verlangt?" Ich mußte jenem Mädchen
unumwunden zugeben, daß das, was der Vater von ihm
erwartete, nicht vom Geist Christi, sondern vom Geist
Satans veranlaßt war. Später sprach ich mit dem Vater
und auch mit der Mutter. Ich war tief betrübt über den
Tatbestand, daß sie um ihr christlich-bürgerliches An-
sehen mehr besorgt waren als um ein richtiges Verhal-
ten im Namen Jesu. Ein Mord war den Eltern in diesem
Fall lieber als die Schande vor den Menschen.
Bei jeder Art Frömmigkeit lauert die Sünde der Heu-
chelei vor der Tür. Wen hätte sie noch nicht überrum-
pelt? ~st die Heu,ch~l~L~md1:un_s~r,~)?Jindf??

3. Anklagepunkt: Die Lohnspekulation

Das Lohndenken ist dem Pharisäer eigen. Lohnspeku-


lanten denken bei ihrem frommen und sozialen Tun

22
gerne an den „Lohn im Himmel". In diesem Zusammen-
hang kann uns das Gleichnis Jesu von den Arbeitern im
Weinberg weiterhelfen (Matthäus 20,lff). Nach die-
sem Wort Jesu wurden Arbeiter für den Weinberg zu
verschiedenen Stunden des Tages gedingt. Am Ende
des Tages bekamen alle Arbeiter den gleichen Lohn, je-
doch erhielten die ersten nicht weniger als mit ihnen
ausgemacht worden war. Sie ärgerten sich nur darüber,
daß die zuletzt Geworbenen den gleichen Lohn emp-
fingen.
Vor Gott können wir uns keinen Lohn verdienen. Von
ihm gibt es lediglich einen Gnadenlohn. Am Reiche Got-
tes nimmt nicht teil, wer sich die Teilhabe verdient hat,
sondern der, dem es der Herr aus Gnaden schenkt. Ich
habe schon manchen Frommen gefragt, worauf er seine
Hoffnung gründet, in den Himmel zu kommen, bzw.
bei der Entrückung dabeizusein. Nicht selten bekam ich
zur Antwort, daß man sich ja bekehrt habe; darum
glaube man auf die Erfüllung dieser Hoffnung ein An-
recht zu haben. Fest steht, daß niemand deswegen einer
geistlichen Hoffnung gewiß sein kann, weil er sich be-
kehrt hat, sondern allein darum, weil Gott Gnade
schenkt. Wer diese Hoffnung auf seine Bekehrung grün-
det, der irrt! Wen der Heilige Geist bekehrt hat, derbe-
ginnt allein aus Gnade zu leben und rühmt sich auch
ihrer allein.
Mir sagte einmal ein „Bekehrter" im Blick auf die Un-
bekehrten: ,,Es ist ganz richtig, daß alle unbekehrten

23
Menschen ohne Aufhören in die Hölle verdammt wer-
den. Sie hätten sich ja bekehren können, dann wäre
ihnen das Himmelreich sicher gewesen ... " Wer um
seiner Bekehrung willen auf einen Lohn spekuliert, wird
enttäuscht werden, denn wer zu Jesus, dem Gekreu-
zigten, bekehrt wurde, kann das Heil nur aus Gnaden
von seinem Herrn erwarten.
Ist der Egoismus immer schon etwas Gräßliches, so
doch am allermeisten der fromme Egoismus. Den Lohn-
spekulanten zuwider sagt Jesus: ,,Die Zöllner und Hu-
ren mögen wohl eher ins Himmelreich kommen als ihr"
(Matthäus 21, 31). Zöllner und Huren merken es offen-
bar leichter, daß sie nichts für den Erwerb des Himmel-
reichs verdient haben, noch überhaupt je verdienen kön-
nen.
Wie sagt doch der ältere Sohn, als der Vater den
,,verlorenen Sohn" mit Freuden empfing und um seinet-
willen ein Fest bereiten ließ? ,,Siehe, so viele Jahre diene
ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und
du hast mir noch nie einen Bock gegeben, daß ich mit
meinen Freunden fröhlich wäre" (Lukas 15, 29). Der
„verlorene Sohn" bekam den Bock auf Grund der Liebe
und der Freude des Vaters. Der ältere Sohn glaubte, sich
den Bock durch seine Treue verdient zu haben. Darin
irrte er.
Ärgern wir uns als brave christliche Bürger, daß bei
Gott kein Ansehen der Person ist? Ärgern wir uns etwa,
daß im Gleichnis vom großen Abendmahl „Gerechte

24
und Ungerechte, Gute und Böse" (Lukas 14,16ff.) zum
Fest geladen sind?
Im Gleichnis J esu vom barmherzigen Samariter wird
uns berichtet, daß ein Mensch, wohl ein Jude, unter die
Räuber gefallen war und auf Hilfe wartete. Ein Priester
kam des Weges. Der unter die Räuber Gefallene freute
sich, daß ein Priester kam. Nun würde ihm die rettende
Hilfe zuteil werden. Jedoch täuschte sich der Hilfsbe-
dürftige. Der Priester sah nicht, was er nicht sehen
wollte. Er ging vorüber. Die gleiche Enttäuschung er-
lebte der Hilfsbedürftige mit einem Leviten. Und dann
kam der Samariter. Wir müssen wissen, daß Juden und
Samariter keine Gemeinschaft pflegten. Der unter die
Räuber gefallene Jude mußte erwarten, daß der Sama-
riter ihn liegen lassen würde. Doch gerade dieser brachte
ihm die ersehnte Hilfe! (Lukas 10,30ff.) Jesus sagt:
,,Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuch-
ler, die ihr verzehntet Minze, Dill und Kümmel und
lasset dahinten das Wichtigste im Gesetz, nämlich das
Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Dies sollte
man tun und jenes nicht lassen" (Matthäus 23, 23).
M~!P-.!!11'.:Yir..d~!lILilll ExnstLgc1Jsunsere Fi:.iimrrügk~_i,t
samt unseren Gebeten, dem Besuch christlicher Ver-
sal!}_!!l]1111J~~~ 111.14.ß<:1!1:
Qpfer vo!l Gabe:n ein AussleJch
. seirt könnte. für _9,.e?,waswir _im_.täglichen .Leben alll
Nächsten
- ......
.-~, __
.._
versäumen?
__ ..--~
, .....- -
., ~ -

Ein vom Heiligen Geist gewirkter Glaube drängt auf


die Verwirklichung und Auswirkung, er möchte sich in

25
der tätigen Liebe, im aufopfernden Dienst am Näch-
sten verzehren.
Wie gerne würden wir fromme Aktivität als Aus-
druck geistlichen Lebens sehen. Es ist vielmehr eine
leidige Tatsache, daß manche fromme Aktivität lediglich
eine Kompensation (ein Ausgleich) für einen ungött-
lichen Lebenswandel ist.
Wenn wir uns auch heute von dem mittelalterlichen
Ruf Tetzels lächelnd absetzen: ,,Sobald das Geld im
Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt!" so
hat doch das fromme Tauschgeschäft in unseren Tagen
noch kein Ende gefunden. Das bringt Gott keine Freude,
wenn wir jeden Sonntag in der Kirche sitzen, aber unser
christliches Leben im Alltag vernachlässigen. Allein ein
solcher Versammlungsbesuch, der eine Einübung für den
Gottesdienst bedeutet: den Dienst am Schwachen, den
Dienst am Nächsten (Jakobus 1,27), ist in den Augen
Gottes wohlgefällig.
Die pharisäische Sünde des frommen T auschgeschäf-
tes lauert vor der Tür eines jeden Christen. Ist das from-
$ün<:IeZ
me TauJ;chgeschäftJ:Iill~e,_re
0

4. Anklagepunkt: Der fromme Terror

Hier geht es wohl um den schwerwiegendsten Anklage-


punkt gegen die Pharisäer. Die Pharisäer zur Zeit Jesu
yermdlrten und radikalisiert~!l.4!!LihQrnJc!~~-göttliche

26
/t;J,-1'-.~\
.. · 1·~ ~~ ••

. .._,,P) ..,..JY".~ ~
$'.r ,.....), ~
r•
'\) .
Gesetz) durch den Talmud (Ausführungsbestimmungen
durch Schriftgelehrte und Pharisäer) in unermeßlicher
und unvorstellbarer Weis_~.Zum Sabbatgebot erließen
sie zum Beispiel 1521 Ausführungsbestimmungen. Kein
normaler Bürger war mehr imstande, alle Ausführungs-
bestimmungen zu kennen, geschweige denn zu prak-
tizieren. Dagegen kannten sich die Pharisäer darin gut
aus, praktizierten sie und glaubten sich deshalb der __
Masse des Volkes haushoch überlegep.-'-- Jesus dagegen
ladet gerade die durch die Radikalisierung und Vermeh-
rung der Thora „Mühseligen und Beladenen" ein, zu
ihm zu kommen und sagt: ,,Mein Joch ist sanft, und
meine Last ist leicht" (Matthäus 11,30). Jesus wollte
damit sagen, daß die Pharisäer mit ihren Bestimmungen
dem Volk eine unerträgliche Last auferlegten. In Mat-
thäus 23,4 erklärt er: ,,Sie binden schwere Bürden und
legen sie den Menschen auf den Hals." Durch den from-
men Terror verschließen die Pharisäer das Himmelreich
vor den Menschen (Matthäus 23, 13. Siehe auch Johan-
nes 7,49)! IA~
, ,1;>/A,?w,,.,.~-u.~~ v-,.._..,?.:w-~i.:(;J.
·-
... ,J
.
C

Ich fragte einen katholischen ..Priester,_


. -
warum sie dem
---

Menschen erst auf dem Sterbebett in Verbindung mit


dem Sakrament der letzten Ölung die volle Gnade an-
bieten und den Menschen darauf hinweisen, daß nicht
seine Frömmigkeit, sondern die Gnade J esu Christi der
Grund der biblischen Hoffnung sei. Der Priester ant-
wortete mir, daß das pädagogische Bedeutung habe,
nämlich die, daß der Mensch die Botschaft der Gnade

27
mißbrauchen könnte. Außerdem könnte durch die Bot-
schaft der Gnade die Masse der Gläubigen die notwen-
dig enge Bindung zur Kirche verlieren. Die Bedenken
jenes Priester, der sich zum Sprachrohr seiner Kirche
machte, sind verständlich. Sie waren schon zur Zeit
des Apostels Paulus akut (vergleiche Römer 5,20; 6,2).
Der fromme Terror bindet den Menschen an Menschen
und Organisationen. Er bindet ihn an die „allein selig-
machende Kirche" statt an den allein seligmachenden
Herrn Jesus. Jede christliche Gemeinschaft, die den
Menschen an sich zu ketten bemüht, um ihn für sich zu
gewinnen, terrorisiert den Menschen.
Es ist ein Jron.:i:m~rTerror, wenn wir dem Menschen
qJe HqJI~ heiß m~chen,gndihn mit dem.Mi.ttel 4~.i:..Augst
~-':~f:!l-ti:~i:t.Y':fSt1che}-!.'.
2:1:1: Eine angstmachende Verkün-
digung des Evangeliums führt zu „Angstbekehrungen".
Solche Bekehrungen können geradezu zu einer „from-
men" Verkrampfung bis hin zu „frommen" Komplexen
und zu einer Neurose führen. Solche Bekehrungsprak-
tiken sind total abzulehnen!
Ich weiß aus Erfahrung, wie sehr oftmals Ki.nder aus
~hristlichen Elternhäusern unter dem1Jrnn:unen Terror
leiden, Buße tun und sich bekehren, :zt,t)!IB§E.~!l-
Aus der
biblischen Bekehrungsfreude wird ein Bekehrungs-
krampf. Ich habe viele Jugendliche kennengelernt, die
in einem Bekehrungskomplex leben, d. h. sie haben vor
allem Angst, was mit dem Stichwort „Bekehrung" zu-
sammenhängt, besonders dann, wenn man sie schon

28
mehrfach - eine religiöse Stimmung ausnützend - zu
gewissen Bußbekenntnissen und zur Bekehrung ge-
zwungen hat. Gott zwingt keinen Menschen, weder zur
Buße noch zur Bekehrung. Er lädt lediglich dazu ein. Ins
Reich Gottes kommen nur Freiwillige!
-~~h.ke,111.:1:e,
c,hr.!st.!i~he,
.Ye.r.?_cl,!!1Q!l11ggen,
in denen die
Mt!'ßlieder z:t1: ...B11ßbel<e,n.:11hll~e.n.,,g~?;W.W:1Ke.Il
werde'.!.}.
Man verlangt von ihnen, daß sie Einzelheiten ihrer Ver-
gehungen berichten. Man dringt so lange in sie, bis sie
jeden Schmutz in allen Einzelheiten ausgebreitet haben.
Die Folge solchen frommen Terrors ist oft sehr traurig.
Frank Buchmann hat gesagt: ,,Das Bekennen unserer
Sünden, das heißt dessen, was der Teufel getan hat,
soll unter vier Augen geschehen. Das, was Gott getan
hat, soll vor die Gemeinde."
Ebensoist es ein pharisäischer frommer Terror, wenn
wir unsere Mitmenschen in ihrem Tun kontrollieren und
-•• • -,e~ ,.,,.,,.,,.,_,s,.,~~,-,.,,.,,.,,.,~,.....-~,~<••,s•-,, ••~•,.•------•------

schikanieren, wenn wir 4!~:..Y.e.~:tJ:Y.filtmg ihrer z~g, cHe


A,.rt.ihEe.t ~le,Jc!11ng,ihren T,J):gga};i.g11Ü! l\:!e,_ll-
..e:!!4~r..ei:i_
schen kontrol~ieren .und sie dabe,i n_as:hge.111 ..M~ßst,ab
unserer Fr~l11ll}igke,itbeurteilen und „ermahnen,". Jch
lernte eine gläubige Frau kennen, die zu den Stillen im
Lande zählte. Sie hatte eine Haartracht, wie man sie in
jener Gemeinde, zu der die Frau gehörte, für fromm
hielt. Als Folge eines Autounfalls fielen ihr die Haare
aus. Der Arzt riet ihr, die wenigen langen Haare abzu-
schneiden und die Haare in Zukunft kurz zu tragen.
Sie tat es. Daraufhin distanzierten sichdie „Geschwister"

29
der Gemeinde von ihr. Sie wußte nicht, warum das ge-
schah, und geriet in eine notvolle Vereinsamung. Wer
gibt uns das Recht, den Menschen nach seiner Haar-
frisur zu beurteilen oder sogar zu verurteilen? Nicht
jeder darf das gleiche tun, und nicht für jeden ist das
gleiche verboten.
In diesem Zusammenhang muß auch ~in Wort über
die Mode fallen. Tatsache ist, daß das, was nach Mei-
nung mancher frommer Leute heute geziemend und
christlich ist, vor vielen Jahren absolut ungeziemend
und unchristlich war. Warum wird gerade das zum
Maßstab gemacht, was vor 20 oder 30 Jahren die Mode
diktierte? Müssen denn Christen unbedingt rückständig
sein?
Freilich ist es eine Tatsache, daß sich geistliches Le-
ben auf den gesamten Lebensstil eines Menschen aus-
wirkt, also auch auf Kleidung und Haartracht. Jedoch
sollte Geistliches nicht zum Gesetzlichen entarten.
Für jeden Christen lauert die pharisäische Sünde des
frommen Terrors vor der Tür.
Ist_cJ.erfr2.~e: ..Terror unsere Sünde?
„Weh euch,ihr Schriftgelehrten und Pharisäer!" Dies
Wort hat jedem etwas zu sagen, der im Ernst~ Christ
, g;jJ.
Buße üper unseren Pharisäismus tut not! Nichts hin-
dert uns so sehr, in der Welt unseren Auftrag im Namen
JE1:suzu erfüllen, ihr das Evangelium anzubieten, wie
gerade der Pharsäismus ! Wer sich als Christ noch nicht

30
als Pharisäer ertappt hat, der sollte den Mut haben,
sich vom Heiligen Geist von seiner Sünde des Pharisä-
ismus überführen und im Blick auf die pharisäischen
Sünden sich von Jesus sagen zu lassen: ,,Ich habe mit
dir zu reden!"

31
VON DEN SÜNDEN DER „FROMMEN"

Wenn von Pharisäern gesprochen wurde, so stellte ich


mir immer Leute vor in wallenden orientalischen Ge-
wändern, mit langen Bärten und seltsamer Kopfbe~
deckung, wie ich sie aus der Schnorrschen Bilderbibel
kannte und wie man ihnen heutzutage bei uns nicht
mehr begegnet. Erst viel später habe ich gesehen, daß
es auch heute noch Pharisäer gibt, daß sie angezogen
sind wie andere moderne Menschen, und noch später
habe ich gemerkt, daß ich selber dazu gehörte.
Das, was die Pharisäer zu Jesu Zeit kennzeichnete,
war ihre Sattheit. Wir haben's, wir sind die Träger der
Kirche, der Frömmigkeit, auf uns kann man sich verlas-
sen. Und das Merkwürdige war: Diese Leute waren
wirklich großenteils „fromm". Sie nahmen' s sehr g~
nau, sie waren sehr moralisch, sie eiferten wirklich für
Gott.
Um so auffallender ist es, wie leidenschaftlich Jesus
sie bekämpft, wie hart er, der Sanftmütige, sie schilt.
Weshalb? Er kann allen helfen, nur gerade ihnen nicht.
Warum nicht? Weil sie satt sind. Sie brauchen keinen
Erlöser. Sie tun so, als seien sie schon erlöst, oder sie
erlösen sich selber. Er steht ihnen gegenüber wie der
Arzt den Gesunden oder denen, die sich einbilden, es
zu sein. Nichts zu machen, sie brauchen ihn nicht!
Pharisäer - das ist beachtlich - wissen nie, daß sie
es sind. Sobald sie es erkannt haben, sind sie es nicht

32
mehr. Wir werden daher die Pharisäer immer in den
Kreisen suchen müssen, die sich für fromm halten.
Ob einer sich nur für fromm hält oder fromm ist,
kann man an vielem erkennen. Ein Erkennungszeichen
ist seine Ansteckungskraft. Wo eine Kirche nicht mehr
wirbt, die Männer nicht mehr halten, die Jugend nicht
mehr gewinnen kann, da ist das ein Symptom für pha-
risäische, das heißt unlebendige Frömmigkeit. Leben
schafft Leben, Unlebendigkeit ist die Folge von Leb-
losigkeit, und Leblosigkeit ist hier das gleiche wie Lieb-
losigkeit.
Die Rechtgläubigkeit tut es nicht. Es kann einer den
ganzen Katechismus bejahen und doch lieblos und hart
sein. Es kann einer an den auferstandenen Christus
als seinen Erlöser glauben und doch ihm ungehorsam
sein und an ihm vorbeigehen. Es gibt eine Flucht in die
Orthodoxie, das heißt in die Rechtgläubigkeit, um nicht
praktisch tätig sein zu müssen. Es gibt eine Frömmig-
keit, die tut so, als würde uns Christus am Tage des
Gerichts den Katechismus abfragen - und eben das tut
er nicht.
Rechtgläubigkeit, bei der auf der ersten Silbe des Wor-
tes der Akzent liegt, ist Sünde. Er muß auf der zweiten
Silbe liegen. ,,Rechtgläubig" sollen wir sein, das heißt
vertrauend und gehorsam, kindlich und demütig.
Neben der Rechtgläubigkeit lauert gleich eine zweite
Sünde, die mit ihr verwandt ist: die Rechthaberei. Oeser
sagt einmal: ,,Recht gehabt zu haben ist in der Ehe das

33
traurigste Geschäft." Es ist auch in anderen mensch-
lichen Beziehungen so, und am meisten Gott gegenüber.
Pharisäer haben Gott gegenüber recht, und darum brau-
chen sie nicht mehr die „Rechtfertigung aus dem Glau-
ben", von der Paulus zeugt. Sie brauchen sie nicht, selbst
wenn sie sie noch so lehrhaft vertreten.
Pharisäer haben auch den Menschen gegenüber recht.
Die größere Liebe aber ist die, die unrecht haben kann.
Das fällt uns „erleuchteten" Frommen furchtbar schwer.
Daß wir uns bei unserer Rechthaberei immer auf die
Bibel berufen, auf das „Es steht geschrieben", macht die
Sache nicht besser, oft genug nur schlimmer.
Noch ein Wort mit „recht" gehört hierher: die Selbst-
gerechtigkeit. Selbstgerecht kann man sehr gut sein, ob-
gleich man sich als Sünder bezeichnet. Es gibt nämlich
zweierlei Sünder: hochmütige und demütige. Die Selbst-
gerechten gehören zu der ersteren Art. Sie verzichten
beileibe nicht auf den Erlöser; damit würde ja ihre ganze
christliche Glaubenslehre zusammenfallen. Aber sie
fühlen sich nicht als Sünder. Sie haben das im Grunde
hinter sich, sie sind ja bekehrt. Es gibt eine Altersweit-
sichtigkeit, die in die Ferne scharf sieht, aber in der
Nähe nicht. Das ist ihre Krankheit. Sie sehen ausge-
zeichnet die Sünden der anderen, aber ihre eigenen
sehen sie nicht, weil sie zu nahe sind. Wenn einer seinen
Anzug für rein erklärt, so kann das zwei Gründe haben:
entweder der Anzug ist rein, oder der Besitzer sieht
schlecht und ist zu früh zufrieden. Das letztere ist die

34
Lage der Selbstgerechten. Und gerade diese Haltung
hat der Kirche Christi, die doch grundsätzlich eine Kir-
che von erlösungsbedürftigen Sündern ist, am meisten
geschadet. Chesterton hat recht, wenn er sagt: ,,Das
Christentum wurde unpopulär, nicht wegen der Demut,
sondern wegen des Hochmuts - und das will das gleiche
sagen wie: wegen der Selbstgerechtigkeit der Christen."
Noch ein letztes Wort des gleichen Stammes gehört
hierher. Es nennt eine Hauptsünde der Frommen: das
Richten. Natürlich kennen wir alle das Wort: ,,Richtet
nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet", aber wir be-
ziehen es nicht auf uns.
Vom verlorenen Sohn heißt es in seiner Entschei-
dungsstunde: ,,Da schlug er in sich", und das heißt:
er wendete die Kritik gegen sich selbst. Wir Frommen
haben oft so schrecklich viel mit der bösen Welt um uns
herum zu tun, daß wir gar nicht Zeit haben, uns mit
unseren Sünden zu beschäftigen und in uns zu schlagen.
Wir schlagen viel lieber nach außen. Wehe dem, der
in die Hände der „Frommen" fällt! Bei diesem Gericht
pflegt es nicht nach dem Rat des Katechismus zu gehen:
„Wir sollen Gutes von ihm reden und alles zum Besten
kehren."
Aller Tratsch ist häßlich, aber der fromme Tratsch,
der über andere herfällt, weil sie anders sind, vielleicht
freier, vielleicht „weltlicher", vielleicht „liberaler", der
ist der häßlichste. Wir Frommen haben geradezu eine
Leidenschaft, die Grenzen zwischen „fromm" und „gott-

35
los" zu ziehen und dann über Grenzüberschreitungen
zu Gericht zu sitzen. Wir haben von unseren „Vorfah-
ren", den Pharisäern, die Leidenschaft der Gesetzlich-
keit geerbt. Es ist uns nicht wohl, wenn wir' s nicht
katalogisiert haben: das ist erlaubt, und das ist ver-
boten, das ist Sünde, und das ist es nicht.
Wir tun genau das Gegenteil von dem, was Jesus
tat. Wir richten den Buchstaben und damit die Gesetzes-
zäune wieder auf, die Jesus so mühselig niedergelegt
hat. Damals ging's um Sabbat, um Fasten und Speise~
gebote. Heute geht es manchmal auch um diese Dinge,
mehr aber noch um die modische Kleidung, um die kurze
oder zu lange Frisur, um das Rauchen oder den Alkohol
und noch einiges andere mehr. Ich kenne ganz wenig
Fromme, die sicq hier zurückhalten, über den anderen
nicht den Stab zu brechen und ihn (mitleidig) zu ver-
urteilen.
Bei diesen Gerichtsakten kehrt ein Wort in unserer
frommen Sprache immer wieder: ,,Ärgernis". Es ist ein
sehr schweres Wort. Aber nicht alles, was mich ärgert,
ist Ärgernis. ,,Ärgernis" ist nur da, wo die Seele des
anderen gefährdet ist. Oft genug gebrauchen wir dieses
Wort falsch, und es ist nur mein Machtgelüste und
meine Rechthaberei geärgert.
Manchmal sogar ärgere ich mich darüber, daß der
andere etwas zu können und zu dürfen scheint, was ich
nicht kann, und was ich auch können und dürfen möchte.
Ich glaube, wenn wir Frommen das Wort „Ärger-

36
nis" brauchen, so sollten wir immer auch daran denken,
wie schwer wir anderen mit unserer gesetzlichen, recht-
haberischen Frömmigkeit, unserer unfrohen Engherzig-
keit, unserem frommen Gerede, hinter dem das Tun
zurückbleibt, Ärgernis bereiten und sie durch unsre
falsche, richtende, hochmütige Frömmigkeit von Chri-
stus abdrängen und ihn den andern veTleiden.
Der Fehler der Pharisäer war der, daß sie über der
Formulierung und Form den Inhalt verloren. Das ist
immer die Gefahr, wo man die bloße Lehre und die
Formulierung überschätzt und„ Wort" und „Lehre" mit-
einander verwechselt.
„Das Wort sie sollen lassen stahn", das muß für alle
Zeiten gelten. Die Lehre aber ist das Menschliche, das
Abgeleitete und darum auch das dem Irrtum und dem
Wechsel Unterworfene.
So kann unsere Lehre uns zur Gefahr werden. Aber
die noch größere Gefahr, glaube ich, ist nicht die Lehre,
sondern der Mangel an Leben. Mangel an Leben in der
Kirche ist aber immer Mangel an Liebe. (,,Und wenn
ich allen Glauben hätte und hätte der Liebe nicht, so
wäre ich nichts.") Das aber wird uns „Frommen" von
der Welt vorgeworfen. Und daß unsere Frömmigkeit
an Untertemperatur leidet, das einzugestehen ist ein
Gebot der Wahrhaftigkeit.
Und jetzt muß ich von einer Sünde sprechen, deren
Festnagelung mir meine frommen Freunde sehr übel-
nehmen werden, nämlich den Mißbrauch des Wortes

37
Gottes. Ich meine hier nicht das viele fromme Reden,
so schädlich auch das ist. Das ist vielleicht oft mehr eine
Unart. Sondern ich meine den bewußten Mißbrauch.
Daß der möglich ist, lehrt uns auch die Versuchungsge-
schichte Jesu. Der Teufel und Jesus berufen sich beide
auf das Wort Gottes. Und wir sehen daran, daß man
auch das Wort Gottes falsch oder fahrlässig gebrau-
chen, ja, daß man in seinem Gebrauch zum Falschspieler
werden kann.
Das geschieht da, wo man das Wort Gottes benützt,
um eigensüchtige Interessen zu festigen; wo man sich
darauf beruft, wenn es gilt, seine eigene Position oder
die Stellung seiner Gemeinschaft zu verteidigen, es aber
unterschlägt, wo es sich gegen einen selbst richtet.
Es ist mir aufgefallen, daß die Frommen alle die
Stellen kennen, wo Paulus sagt: ,,Lasset die Frauen
schweigen in der Gemeinde", oder: ,,Eine Frau, die da
betet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt",
daß sie aber sehr leicht das Wort Jesu vergessen: ,,Ihr
sollt euch nicht Schätze sammeln", oder: ,,Leihet, wo
ihr nichts dafür hoffet", oder: ,,Richtet nicht!" Und weil
Pharisäer immer Gesetzesleute sind, so haben sie eine
große Tüchtigkeit darin, einzelne Vorschriften aus der
Bibel herauszuheben und daraus einen richtigen Zaun
zu machen. Aber die herrlichen Paulusstellen, von der
Freiheit der Kinder Gottes, von dem Buchstaben, der
tötet, von dem „alles ist euer", über diese Stellen gehen
sie stillschweigend hinweg.

38
Kommt das nicht auf eine Verkürzung des Evange-
liums heraus? Wird nicht der Zeuge vor Gericht darauf
vereidigt, nichts zu verschweigen? Warum wir das wohl
tun? Ich bin mir selbst auf die Schliche gekommen und
glaube, es ist das: Das Gesetz ist ein herrliches Mittel,
über andere zu herrschen. Man kann damit die Gewis-
sen knechten. Es gibt viel fromme Herrschsucht, die sich
die Menschen durch das Gesetz untertan zu machen
sucht. Mit dem „Es steht geschrieben" ist - siehe die
Versuchungsgeschichte - noch nichts entschieden. Auch
hier bedarf es des Geistes, und zwar des Heiligen Gei-
stes, um Klarheit zu schaffen, wann und wo dieser Buch-
stabe gilt.
Und dann ist da im Zusammenhang mit dem Schrift-
gebrauch noch auf eine weitere Sünde von uns From-
men der Finger zu legen: ich meine die falsche Erbau-
lichkeit, die Erbaulichkeit auf Kosten der Wahrhaftig-
keit, unter Vergewaltigung des eigentlichen Zusam-
menhangs.
Man kann ein Bibelwort aus dem Zusammenhang
herausschneiden und ihm damit einen völlig anderen
Sinn geben.
Man kann auch während der Auslegung die Metho-
den wechseln: einmal nimmt man es wörtlich, dann, weil
es nicht mehr paßt, symbolisch. Jetzt bezieht man nur
auf den engsten Apostelkreis, dann wieder läßt man das
Wort an die ganze Christenheit gerichtet sein. Durch
eine fromme Willkür haben wir die Autorität der Hei-

39
ligen Schrift elend untergraben, und diese fromme Un-
wahrhaftigkeit hat die „Welt" schon längst durch-
schaut und die Konsequenzen daraus gezogen: Sie
nimmt uns nicht mehr ernst.
Wir haben uns allzugern unter die Autorität des
Wortes Gottes geflüchtet, auch da, wo es galt, unsere
eigene menschliche und allzu menschliche Meinung
zu befestigen. Wer aber Autoritäten falsch und fahr-
lässig anruft, untergräbt sie. Das ist mit ein Grund,
warum die Heilige Schrift in der Welt ihre Autorität
verloren hat, und das ist unsere, der Frommen Schuld.
Wenn Jesus die Pharisäer schilt, so gebraucht er wie-
derholt das Wort „ihr Heuchler". Er macht ihnen also
den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit, vor allem sich selbst
gegenüber. Sie merkten schon gar nicht mehr, wie ver-
logen sie eigentlich waren, wie sehr sie mit zweierlei
Maß maßen, wieviel sie scheinbar zur Ehre Gottes, aber
in Wirklichkeit zur eigenen Ehre taten, wie oft sie die
Ehre Gottes nannten, aber ihre eigene Macht oder Ehre
meinten.
Wir Frommen führen doch mit Vorliebe all die gro-
ßen, schweren Worte im Munde: Glaube, Liebe, Demut,
Gehorsam, Wahrhaftigkeit, Reinheit. Wenn man ein-
mal anfängt, sich selber unter die Lupe zu nehmen, er-
schrickt man.
Wir reden vom Glauben, wir sagen, wir sind gläubig.
Wir wissen gar das Datum anzugeben, da wir's wurden.
Aber praktisch tun wir doch oft so, als wäre Gott nicht

40
da, oder als wäre er ein Nichtskönner. Wieviel Angst
haben wir, wieviel Sorgen und Rechnen trotz des „Sor-
get nicht"! Wie viele menschlichen Sicherungen und
Versicherungen trotz unseres „starken" Glaubens! Ich
habe in unseren Reihen erschreckend viel praktischen
Atheismus gefunden.
Ein Zweites, dessen uns die Welt anklagt, ist, daß es
uns an der Liebe fehlt. Liebe hat Ehrfurcht vor der Stel-
lung des anderen, Liebe ist streng gegenüber sich selbst,
aber weit gegenüber andern. Liebe ist nicht nur gerecht.
Wenn Gott nur gerecht wäre, wären wir alle verloren.
Liebe ist barmherzig. Liebe macht den andern nie zu
seinem Objekt, auch nicht zum Bekehrungsobjekt. Liebe
demütigt sich selbst vor dem andern. Liebe liebt den
Sünder und weigert ihm nicht die Gemeinschaft, son-
dern setzt sich mit ihm an einen Tisch. Je größer die
Liebe ist, desto weniger fromme Worte hat sie nötig,
dem andern zu helfen.
Liebe wäscht die Füße und nicht den Kopf. Liebe opfert
nicht Dinge, sondern sich selber. Bei echter Liebe ist
immer das eigene Herzblut beteiligt. Bei allem, was sie
tut, ist ein Tropfen dabei. Liebe gewinnt den anderen
nicht für die Kirche, nicht für die Gemeinschaft, nicht
für die Gruppe, nicht für sich, sondern für Christus. Die
Liebe ist geduldig, ist freundlich. Sie ist nicht rücksichts-
los, sie trägt nicht nach, sie sucht nicht das Ihre, sie ent-
schuldigt alles, sie erträgt alles. 1. Korinther 13 ist eine
Anklageschrift gegen uns „Fromme".

41
Man wirft uns vor, daß wir nicht demütig sind. Wir
gleichen dem Mann im Tempel, der betete: ,,Ich danke
dir, Gott, daß ich nicht bin wie andre Leute." Man hat
das Wort „vom geistlichen Hochmut" gefunden, und es
stimmt. Man kann auch Pastor, Diakon, Diakonisse
oder Missionar werden oder sein, um eine Rolle zu
spielen. Ich habe mich schon manches Mal dabei ertappt,
wie ich meinem eigenen schönen Beten zugehört habe.
Ich habe auch gefunden, daß die Kanzel - überhaupt
der Ort, von dem aus wir „predigen", erbaulich reden -
ein beliebtes Versteck ist für den Teufel. Ich brauche
hier bloß ein Wort auszusprechen: Predigereitelkeit!
Ich habe auch beobachtet, daß wir mit falschem Maß
messen. Jesus nimmt die Sünden der Pharisäer viel
schwerer als die Sünde der Ehebrecherin. Er wird mit
den Sünden der Zöllner und Huren leichter fertig als
mit der selbstgerechten Frömmigkeit der Pharisäer.
Es gibt Sünden des heißen und Sünden des kalten
Blutes. Die letzteren gleichen den chronischen, die er-
steren den akuten Krankheiten. Die akuten sind viel
leichter zu heilen. Die „frommen" Sünder leiden an
chronischen Krankheiten, sie leiden an schleichender
Tuberkulose. Manchmal kann sie eine dazukommende
akute Erkrankung retten. Ein tiefer Fall hat manch-
mal aus einem Pharisäer einen bußfertigen Sünder ge-
macht.
Man unterscheidet bekanntlich auch zwischen Tat-
sünden und Unterlassungssünden. Und wieder sind die

42
letzteren die unheimlicheren und zugleich die, deren
man uns „Fromme" besonders anklagt.
Es ist wahr, wir haben fromme Gemeinschaft, aber
der Ort, wo wir zusammenkommen, liegt in der breiten
Ebene und sollte doch auf dem Bergpredigtberg liegen.
Und der Punkt, von dem aus dieser Berg bestiegen wer-
den muß, ist die Stellung zum eigenen dicken Ich und
zur Familie ... Die Welt wirft uns vor, daß wir diesen
Punkt umgehen und nach leichteren Anstiegsstellen
suchen und dabei immer wieder um diesen Berg nur
herumgehen.
Wir sind die Auskunftsleute auf dem Reisebüro. Wir
wissen alle Züge, alle Verbindungen, wir beherrschen
das Kursbuch mit verblüffender Gewandtheit. Aber wir
bleiben immer hinter dem Tisch. Wir fahren nicht sel-
ber. Das Kursbuch der Frommen ist die Bibel. Wo aber
sind die Passagiere?
Ich habe gefunden, daß es nicht selten bei uns vor-
kommt, daß Gemeinschaften solchen, die nicht wie sie
denken, die Gemeinschaft weigern. So kann es geschehen,
daß einer sagt: ,,Junge Leute mit so langen, unordent-
lichenHaaren sindnichtbekehrt." Auf welche Seite wür-
de sich Jesus gestellt haben 7 Aber natürlich haben wir
gleich einen Bibelspruch parat, etwa den: ,,Ziehet nicht
amfremdenJoch mitdenUngläubigen",obgleich er ganz
und gar nicht hierher gehört, oder: ,,Habt nicht lieb die
Welt, noch was in der Welt ist", obgleich er wiederum
falsch angebracht wäre, denn „Welt" ist für Johannes

43
,,sündige Welt". Was aber wissen wir, was einem ande-
ren Sünde ist und was einen von Gott trennt? So decken
wir unseren Hochmut und unsere Lieblosigkeit noch
gar fahrlässig mit der Autorität des Wortes Gottes.
Als Jesus die Pharisäer schalt, warf er ihnen Unwahr-
haftigkeit vor. Es ist das gleiche, dessen auch uns die
Welt beschuldigt. Einiges haben wir bereits genannt, als
wir vom Mißbrauch des Wortes Gottes und von falscher
Erbaulichkeit sprachen. Aber da ist noch mehr zu sagen:
Ich habe einmal einen gekannt, der bei unseren Haus-
andachten beim Singen oft mitten im Vers nicht mehr
mittat. Ich hatte schon oft das Bedürfnis, es auch so zu
machen. Ich finde es ganz schrecklich, wieviel wir sin-
gend lügen. Wenn das persönlich wahr wäre, was wir
Frommen singen, stünde es anders in der Welt und
vor allem: wir stünden anders in ihr und würden anders
respektiert.
Wie trotzig singen wir: ,,Nehmen sie den Leib, Gut,
Ehr', Kind und Weib, laß fahren dahin", und wie er-
bärmlich knickerig und schmutzig sind wir, wenn um
dieses Reiches willen viel weniger, vielleicht ein paar
Mark, vielleicht eine kleine Demütigung, vielleicht ein
bißchen Zeit oder auch nur Bequemlichkeit gefordert
wird!
Wie oberflächlich sind wir auch im Singen mancher
frommen Lieder, die in ihrer „Weil-ich-Jesu-Schäflein-
bin-Stimmung" mit der Wirklichkeit nicht übereinstim-
men und ein Christentum vortäuschen, das an dem

44
Wort Jesu vorbeigeht: ,,Wer nicht sein Kreuz auf sich
nimmt und folgt mir nach, der ist mein nicht wert."
Jemand hat gesagt, wir brauchten eine Reformation
unserer Kirche, weil sie in Wortheiligkeit verfallen sei.
Da ist viel Wahres dran.
In der deutschen Inflationszeit nach dem Ersten Welt-
krieg kam es vor, daß ein Gauner einen anderen, der
von dieser Inflation nichts wußte, mit Inflationsgeld
bezahlte, als wäre es solches mit voller Deckung. Das ist
unsere Sünde. Unsere frommen Worte haben durch all-
zu häufigen und fahrlässigen Gebrauch eine Entwertung
erfahren. Es fehlt ihnen die volle Golddeckung. Wir
aber bieten sie nach wie vor an, als hätten sie noch vollen
Gehalt. Das ist unsere fromme Lüge. Und wir selbst
sind an dieser Inflation schuld. Wir haben die Worte:
Kreuz, Blut, Gnade, Sünde, und wahrlich nicht nur
diese, allzuoft und allzubreit in den Mund genommen
und allzubillig angeboten. Nun haben sie die Valuta
in unserem Munde verloren.
Oft schon kam es bei uns vor, daß wir von der „hei-
ligen Sache" sprachen, und im tiefsten Innern meinten
wir uns, weil diese „heilige Sache" uns trug, uns Ehre
oder Brot gab. Oft schon sagten wir: ,,Der Herr will es",
und wenn man genau nachsah, so wollten wir es und
versteckten uns nur hinter die Autorität des Herrn, um
unseren Willen desto besser durchzusetzen und unser
Ziel zu erreichen.
Aber unsere Unwahrhaftigkeit geht noch viel weiter.

45
Wahrhaftige Menschen sind auch natürlich. Wie viele
von uns aber sind feierlich, pathetisch, gesalbt, haben
ein Tönlein, das nicht sie selber sind! Und wie wenige
unter uns sind bereit, ihre fromme Maske abzulegen,
sich einem Seelsorger zu stellen und schonungslos von
ihren Sünden zu sprechen 1
Wie schön können wir von der Versöhnlichkeit reden
und von der Liebe, und wie viele nennen wir „Brüder
und Schwestern", tun so, als ob wir mit ihnen „im
Herrn verbunden" wären! Aber das hindert uns nicht,
über sie ungut und unfreundlich zu reden mit Dritten,
oder ihnen neidisch zu sein. Wie gut kennen wir das
Gebot: ,,Laß dich nicht gelüsten"! Aber uns gelüstet
nach den Kirchgängern und Gemeindemitgliedern des
anderen, und wenn einer lieber zu einem anderen zur
Predigt kommt, so sind wir empfindlich und beleidigt.
Und das alles wird erst anders, wenn wir diese Dinge
schonungslos bei uns selber aufdecken und beim Namen
nennen, ,,daran wird jedermann erkennen, daß ihr
meine Jünger seid", hat Jesus gesagt.
Von der Reinheit möchte ich hier nicht sprechen. Wer
von uns kann sagen, daß er rein ist, auch in Gedanken,
in Phantasien, in Wünschen?
Ich möchte sagen: Nicht das ist das schlimmste, daß
wohl keiner unter uns ist, ,,der ohne Schuld und ganz
rein dasteht", aber das ist böse, wenn wir so tun, als
wären wir völlig über diese Not erhaben, und wenn wir
wie jene Pharisäer über andere, die schuldig geworden

46
sind (wie es jene ehebrecherische Frau, die sie vor Jesus
zerrten, gewesen ist) zu Gericht sitzen und über sie den
Stab brechen.
Unsere Unreinheit ist schlimm, aber unser Hochmut
und unsere Unbarmherzigkeit sind schlimmer.
Pharisäer legen Wert auf den Gehorsam. Denn Ge-
setz und Gehorsam gehören zusammen. Aber unser
Gehorsam ist oft genug doch nicht so, daß er Gott freut.
Er ist knechtisch und sollte doch kindlich sein. Der Vater
will das gar nicht, daß die Kinder alle Forderungen, die
er einmal gestellt hat, katalogisieren und nun peinlich
sich quälen, ja keine zu vergessen. Der Vater lebt ja
und sagt seinen Kindern immer neu und immer anders,
was er von ihnen haben will. Er will sie mit seinen Au-
gen leiten. Ich habe noch nie einen Vater gesehen, der
seine Kinder nur an Hand von Erlassen und Gesetzes-
sammlungen erzieht. Und damit, daß sich ein Kind an
die traditionelle Hausordnung hält, ist es noch nicht ein
gehorsames Kind. Denn gehorchen kommt von „hor-
chen", und Gehorsam ist die Bereitschaft, das zu tun,
was man von Gott „hört". Es geht also nicht an, sich
nur an frühere Willensäußerungen des Vaters zu klam-
mem, sondern es gilt, den gegenwärtigen Willen des
Vaters zu vernehmen und ihm zu entsprechen.
Unter uns sind viele, die pedantisch - also unkind-
lich - am Buchstaben kleben, und wenn der Vater zu
ihnen spricht, dann horchen sie nicht und gehorchen nicht,
denn sie sind damit beschäftigt, erst festzustellen, was

47
alles der Vater früher einmal dem großen Bruder ge-
sagt hat.
Wie es eine Flucht in die Orthodoxie gibt, so gibt
es auch eine in die Gesetzlichkeit, um nicht den gegen-
wärtigen, vielleicht noch viel anspruchsvolleren Forde-
rungen Gottes folgen zu müssen. Es gibt eine Flucht
in frommes Reglement, um sich nicht dem Führer aus-
liefern zu müssen, der mehr fordert, als im Reglement
steht. Wir paragraphieren, um nicht hören zu müssen.
Wer aber nicht hört, der ist auch nicht gehorsam. Der
Erfolg ist der, daß unsere Frömmigkeit eine ungeführte,
unkindliche und knechtische wird. Dazu kommt, daß
wir angeblich so peinlich gehorsamen Frommen nicht ein-
mal konsequent und gradlinig sind und den Geist doch
nicht entbehren können, der uns das eine Mal sagt:
diese Forderung der Bibel ist örtlich oder zeitlich bedingt
und gilt für dich nicht, und jene wiederum ist verbind-
lich.
Lukas 10 zum Beispiel sagt Jesus zu seinen Aposteln:
„Tragt keinen Beutel noch Tasche noch Schuhe und
begrüßt niemand unterwegs." Matthäus 23,9 steht:
111hr sollt niemand euren Vater heißen auf Erden; denn
einer ist euer Vater, der im Himmel ist." Bei diesen
Versen maßen wir uns an, den Geist über den Buch-
staben zu setzen und sie nicht wörtlich zu verstehen.
Aber andere Stellen, die genau auf derselben Ebene
liegen, nehmen wir plötzlich, weil es uns paßt, wörtlich.
Doch die Welt ist uns schon auf die Schliche gekommen

48
und hat sich über uns ihr Urteil gebildet. Jesus aber,
wenn er uns so sähe, würde auch heute wieder ausrufen:
,,Ihr Heuchler!"
Und nun möchte ich aus der Fülle unseres Sünden-
registers nur noch eine Anzahl von Sünden herausgrei-
fen, damit wir' s endlich begreifen, wie es um uns steht
und was für harmlose Namen die Sünde oft annimmt,
um uns über ihren Ernst zu täuschen.
Sich wichtig nehmen ist Sünde, weil das immer auf
Kosten des einzig Wichtigen, des Reiches Gottes, geht.
Empfindlichkeit, Beleidigtsein sind damit verwandt
und verraten, daß man seine eig.eneEhre sucht.
Minderwertigkeitskomplexe sind Sünde. Sie sind die
Umkehrung des ichhaften Geltungstriebes, also des
Sich-selber-Suchens.
Herrschsucht ist Sünde, erst recht, wenn sie sich, wie
so oft, eines frommen Gewandes bedient, um über Ge-
wissen Macht zu bekommen.
Fromme Betriebsamkeit ist Sünde. Sie hat nicht selten
ihre Wurzel im Geltungstrieb oder im Unentbehrlich-
keitskomplex. Manchmal ist sie Flucht vor der Stille
und Angst vor dem Alleinsein mit sich und Gott.
Keine Zeit haben ist Sünde, denn sie ist Folge man-
gelnder Haushalterschaft und falschen Maßstabes.
Sachgebundenheit ist Sünde. Mein Haus, meine Mö-
bel, mein Zimmer, mein Teppich, meine Bücher, meine
Zeit, mein Auto. Immer mein, mein, mein. Von den
Jüng.em hieß es: ,,... und sie verließen alles."

49
Schockiertsein ist Sünde, denn es ist Mangel an Liebe
und Demut. Alles, was im anderen uns empört, ist auch
in uns keimhaft vorhanden.
Moralismus ist Sünde, denn er ist Gehorsam ohne
Liebe.
Kritisieren ist dann Sünde, wenn es Besserwissen ist,
ohne helfen zu wollen.
Sichabsondern kann Sünde sein, denn es ist Mangel
an Verantwortungsgefühl und geistliche Selbstsucht.
Vorurteile sind Sünde, denn sie verstoßen gegen die
Wahrhaftigkeit.
Frühurteile sind Sünde, denn sie verstoßen gegen die
Gerechtigkeit.
Prüderie ist Angst vor der Wirklichkeit, und die
meiste Angst ist Sünde.
Pedanterie ist verkappte khhaftigkeit und Rechtha-
berei und darum Sünde.
Der Märtyrerkomplex kommt aus der Eitelkeit, und
diese ist Sünde.
Die Eifersucht ist Sünde, denn sie kommt aus der
khhaftigkeit und hat Angst, etwas zu verlieren.
Bitterkeit ist Protest gegen die Vergangenheit, die
Gottes ist. Sie ist auch Kritik an Gott und als solche
Sünde.
Fromme Routine ist Sünde, denn sie ist Ehrfurchts-
losigkeit gegenüber dem Göttlichen.
Religiöse Sicherheit ist Sünde; statt ihrer muß es hei-
ßen Gewißheit.

50
Religiöse Gleichmachereiist Sünde, denn sie ist Man-
gel an Respekt vor der Führung des andern.
Spielverderberei ist Sünde, denn sie ist heimliche
Herrschsucht und ärgert die Kindlichen.
Kopfhängerei ist praktischer Unglaube und deshalb
Sünde.
Fromme Redseligkeit sucht sich selbst statt den an-
dern, und das ist Sünde.
Falsches Zeugnis ablegen tun wir dann, wenn wir
von Dingen reden, als hätten wir sie selbst erfahren,
wissen sie aber nur aus Büchern und vom Hörensagen.
Engherzigkeit ist immer Lieblosigkeit (die Liebe trägt
alles, hofft alles, duldet alles). Darum ist Engherzigkeit
eine schwere Sünde.
Eitelkeit ist immer Sünde, aber unter allen Eitelkeiten
ist die der Frommen die ärgerlichste.
Falsche Vertraulichkeit gegenüber Gott ist Sünde,
denn sie entsteht aus mangelnder Ehrfurcht und vergißt,
daß einer hat sterben müssen, damit ich zu Gott „du"
sagen darf.
Wenn man alle diese Sünden unter die Lupe nimmt,
so wird man immer finden: ihre Wurzel ist das „dicke
Ich". Und immer, wo das Ich zu dick ist, kommen Gott
und der Nächste zu kurz. Denn solange wir uns mit un-
serem Ich beschäftigen, denken wir nicht an Gott und
den Nächsten.
Jesus wirft den Pharisäern vor, daß sie Mücken seih-
ten und Kamele verschluckten. Wenn ich einem Men-

51
sehen, weil er raucht, weil er sich modern kleidet, weil
er eine moderne Frisur trägt oder über diese oder jene
Frage anders denkt als ich, die Gemeinschaft verweigere
oder seine Frömmigkeit in Zweifel ziehe, so habe ich
gleichsam Mücken geseiht und ein Kamel verschluckt.
Statt dessen sollen wir wissen: wo wir uns gegen die
Forderung der Liebe, der Wahrhaftigkeit, der Demut
vergehen, da handelt es sich immer um das Größte,
immer um das, was man im Reich Gottes sehr ernst
nimmt.
Es ist gerade wie in der Kinderstube. Ein Glas zer-
schlagen, einen Flecken aufs Tischtuch machen, nicht
aufgeräumt haben, eine Schulaufgabe vergessen, zu spät
heimkommen - das soll nicht sein, aber es sind „läßliche
Sünden".
Jedoch Lieblosigkeit, Unwahrhaftigkeit, Ehrfurcht-
losigkeit, Heuchelei, Ichsucht - das ist ernst, da
geht's um das Entscheidende.
Was wir „Frommen" brauchen, ist eine Bekehrung
aus unsrer starr und muffig gewordenen „Frömmig-
keit". Sie war einmal lebendig, aber es hat sich Schim-
mel darauf gesetzt, und nun muß alles wieder in den
Kessel und neu aufkochen, anders läßt sich der schlim-
me, muffige Geruch nicht beseitigen.
Und noch eines: H. Oeser hat unter sein Ehzucht-
büchlein geschrieben: ,,Wer ein Ehzuchtbüchlein
schreibt, der schreibt eine Selbstanklage." Wer von den
,,Sünden der Frommen" schreibt, der tut ein Gleiches.

52
ZWEIERLEI „BEKEHRUNG"

In der Seelsorge begegnen wir immer wieder Menschen,


die sagen, daß sie sich schon einmal oder sogar mehr-
fach „bekehrt" hätten; dennoch wüßten sie nicht, ob
sie Gottes Kinder seien.
Aus diesen und ähnlichen Erfahrungen weiß ich, daß
es zweierlei „Bekehrungen" gipt. Die eine ist vom Ge~
setz, die andere vom Evangelium geprägt. Gerade im
Blick auf unser Bekehrungsverständnis ist die Unter-
scheidung von Gesetz und Evangelium geboten.
Vereinfachend kann gesagt werden, daß bei einer Be-
kehrung auf dem Boden des Gesetzes der Mensch der
Angelpunkt ist; auf dem Boden des Evangeliums dage-
gen ist Jesus Christus der entscheidend Handelnde. Das
eine Mal wendet sich der Mensch von einem Eigen- und
Irrweg ab hin zu Gott. Er bleibt dabei eine von Gott ge-
trennte Persönlichkeit, die aber gewillt ist, auf Gottes
Willen einzugehen und mit Gottes Hilfe zu rechnen.
Das andere Mal ergreift Gott einen Menschen derge-
stalt, daß die Wende zwar Ähnlichkeit mit der auf dem
Boden des Gesetzes hat, aber der Mensch nicht mehr
eine Persönlichkeit außerhalb und neben Gott ist, son-
dern in Christo eins wird mit Gott.
Eine Bekehrung auf dem Boden des Gesetzes bringt
kein neues Leben, kein ewiges Leben, keine neue Krea-
tur. Darum ist eine solche Bekehrung der Möglichkeit

53
des Wechsels unterworfen. Bei ihr spielt der Mensch mit
seinen menschlichen Qualitäten (Charakter und Wille)
eine wesentliche, vielleicht sogar ausschlaggebende Rol-
le. Auf dem Boden des Evangeliums dagegen sind die
menschlichen Qualitäten nicht entscheidend oder gar
ausschlaggebend (1. Korinther 1, 26-29), sondern Gottes
Gnade, die dem Menschen das Heil zeigt und ihn zu sich
zieht.
Ein auf dem Boden des Gesetzes Bekehrter wird er-
klären: ,,Ich habe mich bekehrt." Einer, der auf dem
Boden des Evangeliums steht, kann im Grunde nur
ßekennen: ,,Der Herr hat mich bekehrt." Ihm ist klar
geworden, daß das Entscheidende nicht von ihm, son-
dern von Christus kommt.
Bei der einen Bekehrung ist die eigene Seligkeit bzw.
Errettung der beherrschende Gedankengang, während
es bei der evangeliumsgemäßen Bekehrung nicht zuerst
um das eigene Seelenheil geht, sondern um die Heils-
absichten Gottes mit seiner ganzen Schöpfung. Geht
es das eine Mal darum, wie wir „in den Himmel" kom-
men, geht es das andere Mal vielmehr darum, wie „der
Himmel" in der gegenwärtigen und zukünftigen Welt
(,,Siehe, ich mache alles neu!") Gestalt gewinnt. Das
eine Mal steht der Mensch im Mittelpunkt der Fröm-
migkeit, das andere Mal ist es Jesus Christus als der
Herr im Himmel und auf Erden.
Bei neu bekehrten Menschen ist eine Unterscheidung,
ob die Bekehrung auf dem Boden des Gesetzes oder auf

54
dem Boden der Gnade erfolgte, schwer, meist kaum
möglich. Das wird erst in der Bewährung des Lebens
offenbar.
Ein auf dem Boden des Gesetzes Bekehrter ist nicht
in Chritsus, darum wird er zum Beispiel um das bitten,
was ein Gläubiger in Christus bereits hat. So bittet er:
„Herr, gib mir Vergebung! Hilf mir, über die Sünde Herr
zu werden! Schenk mir mehr Liebe!" - Ein Mensch in
Christus bekennt seine Sünde und weiß, daß er in Chri-
stus Vergebung hat (1.Johannes 1,9), daß er erlöst ist
(Römer 5, 1), daß die Liebe Gottes in unsere Herzen aus-
gegossen ist (Römer 5, 5). Ein Gläubiger in Christus wird
im Gegensatz zu dem in anderer Weise Glaubenden
mehr zu danken als zu bitten haben.
Die entscheidende Wende für unser Heil ist am Kreuz
auf Golgatha ein für alle Mal geschehen. Wer um das
bittet, was auf Golgatha geschehen ist, steht subjektiv
vor dem Kreuz. Wer im Glauben angenommen hat, was
auf Golgatha geschehen ist, der steht unter dem Kreuz
und kann Gottes Gnade rühmen.
Mir persönlich ist es ganz klargeworden, daß
Gott in unserer Zeit Bekehrungen auf dem Boden des
Evangeliums bewirken möchte. Andersartige Bekeh-
rungen können nur als ein Durchgangsstadium betrach-
tet werden, um dem Menschen durch seine Willigkeit,
dem Gebot Gottes zu folgen, seine eigene Unfähigkeit
und damit seine Erlösungsbedürftigkeit zu zeigen (,,Das
Gesetz ist ein Zuchtmeister auf Christus hin").

55
Der Pietismus hat von Anfang an die Notwendigkeit
einer Bekehrung herausgestellt. Die pietistischen Väter
vertraten Bekehrungen, die vom Evangelium geprägt
sind. Jedoch haben sie die Möglichkeit einer gesetzlichen
Bekehrung wohl nicht immer klar genug erkannt,
um sich vor ihr abzuschirmen. Bei der Entwicklung des
Pietismus hat sich hier und da ein Gemisch von Evange-
lium und Gesetz eingebürgert, das so weit geht, daß
heute in manchen pietistischen Kreisen die Bekehrungs-
praxis dem Gesetz gemäß gepredigt und geübt wird.
Nur zu oft hat der Pietismus in solchen Fällen seine
Leucht- und Salzkraft verwirkt. Das Gesetz führt immer
zu frommer Verkrampfung, zu Pharisäismus und zur
,,Gesetzlichkeit".
Wegen dieser Mißbildungen und solchen im Pietis-
mus verschiedentlich zu Tage tretenden Fällen wollen
wir aber das Grundanliegen des Pietismus nicht aus cfem
Auge verlieren. Es bleibt uns nicht erspart, dem Men-
schen zu sagen, daß eine Bekehrung auf dem Boden des
Evangeliums notwendig ist, daß er sich dem Handeln
Gottes an ihm nicht entziehen darf.
Noch einmal: Bei einer evangeliumsgemäßen Bekeh-
rung ergreifen nicht wir Gott, sondern wir lassen uns
von Gott ergreifen. Das Sich-ergreifen-Lassen ist die
Verantwortung des Menschen. Eine Bekehrung im Sin-
ne des Von-Gott-ergriffen-Sein geht mit dem Hand in
Hand, was die Bibel mit neuem Leben, ewigem Leben,
neuer Kreatur bezeichnet.

56
Es gäbe aus der Sicht meiner seelsorgerischen Erfah-
rungen nicht so viele bittere und tragische Enttäuschun-
gen über erlebte „Bekehrungen", wenn in Lehre und
Verkündigung, nun auch im Blick auf die Frage nach
der Bekehrung, Gesetz und Evangelium konsequent un-
terschieden würden.

57
RELIGION UND CHRISTLICHER GLAUBE

Im vorangegangenen Artikel „Zweierlei Bekehrung"


versuchte ich eine Ursache pharisäischen Verhaltens
deutlich zu machen. Eine Bekehrung auf dem Boden des
Gesetzes statt auf dem Boden des Evangeliums führt
zur „Gesetzlichkeit". Dies scheint mir eine bedeutende
Wurzel des Pharisäismus zu sein.
Jetzt soll näher auf die theologischen Hintergründe der
zweierlei Bekehrung hingewiesen werden durch die
Unterscheidung von Religion und christlichem Glauben.
Das beiden gemeinsame Grundanliegen führt jedoch zu
völlig entgegengesetzten Folgerungen.
Sowohl bei den Religionen als auch beim christlichen
Glauben geht es um ein Gottesverhältnis des Menschen.
Nach dem Zeugnis der Bibel ist der Mensch von Gott
und zu ihm hin geschaffen. ,,Die Sache mit Gott" ist
dem Menschen als Frage von seinem Schöpfer in die
Wiege gelegt. Das Gottesverhältnis qualifiziert den
Menschen! Ohne Gott gerät der Mensch in Gefahr, ins
Tierische zu entarten. Mit Gott hat der Mensch die Mög-
lichkeit, ein Heiliger zu werden. Steht nicht jeder Mensch
in der Spannung des Tierischen und des Heiligen? Diese
Spannung ist wohl des Menschen Bürde und Würde.
Welche der beiden Seiten sich besonders ausprägen
kann, wird wesentlich vom Gottesverhältnis des Men-
schen abhängen. S. Kierkegaard sagt dies absoluter:

58
„Die Größe eines Menschen hängt einzig und allein
von der Stärke des Gottesverhältnisses in ihm ab" (aus:
,,Die Leidenschaft des Religiösen").
Es geht bei den Religionen und dem christlichen Glau-
ben darum, die Trennung des Menschen von seinem
Schöpfer zu überwinden. Die Bibel spricht davon, daß
zwischen dem Menschen und Gott ein verzehrend Feuer
besteht. Mit dem Feuer ist Gottes Heiligkeit und Ge-
rechtigkeit dargestellt. Der sündige Mensch kann vor
dem heiligen Gott nicht bestehen. Wenn er sich ihm
nahte, müßte er brennen.
An Stelle des Feuers können wir auch das Bild eines
Grabens gebrauchen, der den Menschen von Gott trennt.
Wie kann der Graben überwunden werden?
Das Gemeinsame der Religionen und des christlichen
Glaubens darf uns aber nicht dazu verleiten, im christ-
lichen Glauben „christliche Religion" zu sehen. Der
christliche Glaube und die Religion müssen im Ansatz
unterschieden werden. Der christliche Glaube ist keine
Religion. Das Vorherrschende bei der Religion ist der
Mensch. Er sucht von sich aus über den Graben eine
Brücke zu Gott zu bauen. Das Vorherrschende beim
christlichen Glauben ist Gott. Er hat bereits eine Brücke
über den Graben gebaut. Das tat er in der Person des
Herrn Jesus Christus, des Gekreuzigten.
Von „christlicher Religion" zu sprechen ist ein Wider-
spruch in sich selbst. Das eine schließt konsequenter-
weise das andere aus. freilich gibt es in der Praxis eine

59
Vermischung von Religion und christlichem Glauben.
Diese Vermischung (Synhetismus) liegt auch dann vor,
wenn über den Graben von jeder Seite her ein Stück ge-
baut werden müßte, um dann irgendwo zusammenzu-
treffen. Im Raum der „Christenheit beobachten wir
11

immer wieder solche Bemühungen, die aber nach der


Bibel keine Verheißung haben. Sie schmälern die Tat
Gottes in dem Gekreuzigten, welche ein „allgenugsa-
mes Opfer für die Sünden der ganzen Welt darstellt.11

D. Bonhoeffer suchte den christlichen Glauben von den


Schlacken der Religion zu befreien und sprach in diesem
Zusammenhang vom „religionslosen Christentum 11

Wo der christliche Glaube zur Religion umgeprägt


wurde, da lassen sich gewisse Folgen nicht vermeiden.
Sie treten auch offensichtlich im Laufe der Kirchenge-
schichte zutage. Man kann als „Pietist als „Liberaler
11
,
11

oder Vertreter der sogenannten modernen Theologie


den gleichen Bazillus in sich tragen. Jeder steht in der
Gefahr dieser Infektion.
Da wird zum Beispiel christianisiert beziehungswei-
se christifiziert statt evangelisiert. Wir haben ja gar nicht
die Verheißung, heute alle Menschen zu Christus führen
zu können. Zwar versuchen wir, es allen zu sagen, was
Gott in Christus für die Welt getan hat; aber es werden
immer nur wenige sein, die bereit sind, den Ruf zu
hören und anzunehmen.
Die „christliche Religion versucht den Menschen in
11

die Zwangsjacke des Kultischen zu zwängen. Der christ-

60
liehe Glaube dagegen ruft den Menschen zum Evange-
lium, zur Gnadenbotschaft des Kreuzes.
Bei einer „christlichen Religion" wird unversehens
aus der Frohbotschaft eine Drohbotschaft. Wenn der
Mensch nicht zu seinem Teil an dem Bau über den Gra-
ben beiträgt, dann wird ihm die Hölle heiß gemacht.
Angst soll ihn zur Bekehrung treiben, statt der Liebe
Gottes, die sich im Kreuz offenbart.
Ferner wird bei einer „christlichen Religion" die
Ethik zum Gesetz. Da das Gesetz unerfüllbar ist, be-
steht die akute Gefahr, daß diese Ethik eliminiert (un-
tergraben, ausgehöhlt) wird. Solche Ethik muß der Voll-
macht zum Gehorsam entbehren, da sie keine Kraft zum
Tun in sich birgt. Eine vollmachtslose Ethik führt am
Ende zur Gesetzlosigkeit.
Am Ende einer „christlichen Religion" steht, wie wir
es heute erschreckend erleben müssen, auch die Mög-
lichkeit eines „christlichen Atheismus" mit der unglaub-
lichen Parole: ,,Gott ist tot!" Es wird Zeit, daß wir das
Trugbild einer „christlichen Religion" erkennen und
begraben, um zum Evangelium der Gnade zurückzu-
finden, wie es in der Bibel bezeugt wird.
Es ist dringend geboten, die Texte der Bibel in ihrem
Zusammenhang zu sehen und von daher das „Gesetz"
vom „Evangelium" zu unterscheiden. Das Neue Testa-
ment stellt das Halten des Gesetzes als Religion und das
Evangelium als christlichen Glauben dar.
Beim Gesetz steht der Imperativ (Aufgabe) ganz vom,

61
ihm folgt ein Indikativ (Gabe). Das sieht in der Praxis
etwa so aus: ,,Wenn du das und das tust und jenes
läßt, dann darfst du die Seligkeit erhoffen."
Beim Evangelium ist es umgekehrt: Dem Indikativ
folgt der Imperativ. Das sieht dann so aus: ,,Weil dich
Gott zu einem neuen Leben in Jesus erlöst hat, darum
kannst und sollst du in diesem neuen Leben dich be-
währen." Mit anderen Worten: ,,Weil du die Seligkeit
in Jesus hast, darum lebe wie ein Erlöster."
Das Gesetz führt zur frommen Dressur, das Evange-
lium zur neuen Kreatur. Das eine sucht den Menschen
von außen nach innen zu ändern, und bringt es doch
nicht fertig. Das andere ändert den Menschen von in-
nen, was sich auch nach außen auswirkt.
Das Gesetz kann nicht zur Vollendung führen. Das
Evangelium verheißt den Anfang und das Ende aus
Gnade.
Das Gesetz führt nicht zur Gotteskindschaft und zur
Heilsgewißheit. Das Evangelium schenkt beides aus
Gnade!
Beim Gesetz sucht der Mensch einen Weg zu Gott.
Er versucht von sich aus den Graben ganz oder teilweise
zu überbrücken. Beim Evangelium hat Gott einen Weg
zum Menschen gefunden. Er selbst hat in Jesus Christus
den Graben überbrückt.
Der Graben zwischen dem Menschen und Gott ist die
Sünde. Gott hat allein aus Gnade das „Gesetz der Sün-
de" durch das „Gesetz des Geistes" (Römer 8, 1 ff) in

62
Jesus Christus überwunden. Es geht dabei um zwei ver-
schiedene Lebensordnungen.
Der Christ lebt durm den aus Gottes Wort und dem
Heiligen Geist geborenen Glauben ganz und allein aus
dem, was Gott in Jesus Christus für ihn am Kreuz ge-
tan hat. Damit hat er aufgehört, religiös zu sein und
wird fortan Religion und christlichen Glauben nimt
mehr verwechseln.

63
Vom gleichen Verfasser liegen vor:
Das Wort sie sollen lassen stahn
Eine Stellungnahme zur „modernen Theologie"
4. Auflage. 73 Seiten. Kartoniert DM 3,-
Dazu schreibt Univ.-Professor D. Dr. Künneth DD, Erlangen,
in seinem Begleitwort: ,,Die Schrift Dr. Lubahns will der Ge-
meinde dienen. Diese theologische Hilfe ist in einer Zeit, in der
die Grundlagen der christlichen Verkündigung in Frage gestellt
und über den Glauben hin und her diskutiert wird, dringend ge-
boten. Dem Verfasser ist es gelungen, in sachlicher, gründlicher
und zugleich verständlicher Weise die nicht einfachen Probleme
zu untersuchen und eine klare Wegweisung zu geben. Die Ge-
meinde wird für diese hilfreiche Antwort dankbar sein, vor allem
aber auch für das seelorgliche Bemühen, den Glauben zu stärken
und neue Freude an dem biblischen Zeugnis zu wecken."

Fromme Verführungen
Information und Wegweisung
78 Seiten. Kartoniert DM 3,-
Kirchenrat D. Dr. Kurt Hutten schrieb dem Verfasser dazu: ,,Ihre
Schrift ist aus einer reichen Erfahrung und einem reifen geist-
lichen Urteil entsprungen. Darum ist sie lebensnah. Und als
biblisch fundierte Schrift wird sie vielen Angefochtenen oder
fragenden Lesern einen guten Dienst seelsorgerlicher Zurecht-
hilfe und geistlicher Orientierung leisten können."

Worauf es beim Christsein ankommt


63 Seiten. Kartoniert DM 3,-
Mit dieser Schrift tritt der Verfasser einem vielfach entstellten
Christentum entgegen. Nicht fromme Dressur, aber Erlösung von
sich selbst wird als Grundsatz biblischer Verkündigung heraus-
gestellt. Nur so ist es möglich, das Liebesgebot Christi zu erfül-
len. Ein Zeugnis über persönliche Glaubenserfahrungen rundet
die klaren Aussagen dieser Schrift ab, die manchen seelsorge-
rischen Rat zu geben vermag.

CHRISTLICHES VERLAGSHAUS GMBH


STUTTGART

Das könnte Ihnen auch gefallen