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HUSSERLS ABSCHIED VOM CARTESIANISMUS

Author(s): Ludwig Landgrebe


Source: Philosophische Rundschau , 1961, Vol. 9, No. 2/3 (1961), pp. 133-177
Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG

Stable URL: https://www.jstor.org/stable/42570491

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 13 3

logie der Welt zur irreduziblen Hypothese für die Möglichkeit der D
seinsfristung : wenn Naturerkenntnis als Bedingung der Möglichk
menschlichen Daseins ausgewiesen ist, dann müssen die Bedingunge
der Möglichkeit von Natur erkenntnis als gegeben vorausgesetzt werden.
Walter Burley kritisiert z. B. Ockhams Bestreitung der Realität der B
wegung mit dem folgenden Argument: negare motum esse est destru
scientiam naturalem (V, 46 f.).
Das kann doch in diesem Zusammenhang als kritisches Prinzip nu
heißen: die Metaphysik darf die Physik nicht unmöglich machen. D
wirft Licht auf die drängende Gewaltsamkeit, mit der im späten Mittel-
alter die Physik beginnt, nicht nur sich von der Metaphysik freizumach
sondern sich ihrerseits an die Stelle der Metaphysik zu setzen und damit
das Problem der kritischen Sicherung ihrer eigenen Voraussetzungen auf
zuheben. Naturerkenntnis erwies sich ständig selbst in ihrer Möglichkeit
durch ihre Wirklichkeit. Man kann die technische Manifestation des Er-
trages der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu verstehen suchen aus dem
hier in seinen Motiven angezeigten immensen Verifikationsbedürfnis des
metaphisch entbundenen theoretischen Anspruches. Die Geschichte, die
mit der im Werk von Anneliese Maier durchsichtig werdenden Vorberei-
tung der Neuzeit beginnt, ist durchwaltet von dem sie innervierenden
Akt der Selbstbehauptung.
Hans Blumenberg ( Gießen )

HUSSERLS ABSCHIED VOM CARTESIANISMUS

Einleitung: Die Bedeutung der Vorlesungen über „Erste Philosoph


I. Die Leitidee der Ersten Philosophie und ihre Problematik.
II. Die transzendentale Subjektivität als Feld absoluter Erfahru
blem der Wege zu seiner Erschließung - Phänomenologische un
Subjektivität.
III. Der Umfang des transzendentalen Erfahrungsfeldes - Das Horizontbewußtsein
und seine Bedeutung.
IV. Die Problematik der Absolutheit der transzendentalen Subjektivität und ihrer
Begründung durch die Theorie der phänomenologischen Reflexion.
V. Das Ergebnis der kritischen Analysen.

Einleitung
Der im 8. Band der „Husserliana" veröffentlichte Zweite Teil von
Husserls Vorlesungen über „Erste Philosophie" von 1923/24 1 hat einen
1 Husserliana , E. H. Ges. Werke, hersg. v. Rudolf Boehm , Bd. VIII, Haag (Nij-

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von den bisher erschienenen Werken völli


Waren die bisher veröffentlichten Texte zum Teil schon von Husserl selbst
publiziert worden, zum Teil für die Publikation bestimmt und schon recht
weit an einen druckfertigen Text angenähert, wie der zweite Teil der
„Ideen", so gilt dies nicht von dem Text der „Ersten Philosophie", insbe-
sondere nicht von ihrem zweiten, systematischen Teil. Zwar hatte Husserl
die Vorlesung im Wintersemester 1923/24 in der Absicht gehalten, sie
für den Druck auszuarbeiten, aber dieses Projekt, das ihn noch bis etwa
1930 beschäftigte, wurde dann aus noch zu erörternden Gründen fallen-
gelassen. Gleichwohl präsentiert sich der erste, historische Teil2 zusam-
men mit den beigefügten Beilagen als ein in sich geschlossenes Ganzes, in
das all das eingegangen ist, was Husserl in seinen Vorlesungen und Übun-
gen zur Geschichte der Philosophie schon seit seiner Göttinger Zeit zur
Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Tradition und zur geschicht-
lichen Begründung der Notwendigkeit der Phänomenologie erarbeitet
hatte, so daß dieser Entwurf der Vorlesung auf breiten und jahrzehnte-
langen Vorarbeiten basierte und daher eine große innere Geschlossenheit
erreichte. Anders ist es mit dem hier zu erörternden zweiten Teil; er ent-
hält nicht eine unter didaktischen Gesichtspunkten zusammengefaßte
Darstellung schon lange gehegter Gedanken, sondern hat den Charakter
eines ersten Entwurfs, der von Stunde zu Stunde ausgeführt und in die
Vorlesung gebracht wurde. Es ist der Weg eines experimentierenden Aben-
teuers des Denkens, dessen Gelingen in den die Vorlesung begleitenden
Reflexionen (vgl. z. B. 354 ff.) immer wieder in Frage gestellt wurde und
dessen Ausgang nicht von vornherein feststand, so daß es tatsächlich ganz
anderswohin führte, als Husserl anfangs vorgesehen hatte. Es war freilich
Husserls Absicht gewesen, in dieser Vorlesung eine Darstellung des Weges
in die Phänomenologie zu geben, die all den Fortschritten Rechnung tra-
gen sollte, die sein Denken seit dem Erscheinen der „Ideen" (1913) ge-
macht hatte, und mit der die Phänomenologie in ihrer historischen und
systematischen Notwendigkeit ein für allemal begründet werden sollte.
Aber es ist das paradoxe, von Husserl selbst in seiner ganzen Tragweite
erst allmählich verstandene Ergebnis dieses Versuchs, daß dieserVfeg und
diese Begründung überhaupt nicht gangbar ist, so daß dann schließlich
im Spätwerk der „Krisis" („Husserliana" Bd. VI) ein ganz anderer Weg
eingeschlagen wird.
Für das Verständnis der Entwicklungsgeschichte von Husserls Denken
hoff) 1959. Bei Zitaten aus diesem Band wird nur die Seitenzahl angeführt, bei
Zitaten aus den anderen Bänden Bandzahl und Seitenzahl.
2 Husserliana Bd. VII , vgl. die Besprechung von Henrich , Philos. Rundschau,
VI. Jg. 1958, S. 1 ff.

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 135

hat dieses Werk also eine ähnliche Bedeutung, wie Hegels „Phänom
logie des Geistes" in der Entwicklung seines Systems, und die Geschich
seiner Entstehung als die Geschichte einer immer weiter getriebenen I
provisation ist auch mit der Entstehungsgeschichte der Hegeischen Phä
menologie vergleichbar. Freilich, Hegel hat seine „Phänomenologie"
öffentlicht und damit selbst autorisiert, Husserl dagegen hat schlie
nach intensiven Bemühungen in den auf diese Vorlesung folgenden
ren diesen Entwurf als nicht vollendet und überhaupt nicht vollendbar
gengelassen. So ist die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Textes d
Geschichte eines Scheiterns. Wäre es aber bloß das Scheitern eines neuen
Versuchs der Einleitung in die Phänomenologie, dann müßte man das
Unternehmen, einen solchen Text zu veröffentlichen, als höchst fragwür-
dig ansehen. Aber dieses Scheitern ist - was weder Husserl selbst noch
den damaligen Hörern seiner Vorlesung sogleich klar werden konnte -
mehr als das zufällige persönliche Mißgeschick eines Autors- Es ist nicht
das Zeichen einer versagenden systematischen Gestaltungskraft; vielmehr
in keiner anderen seiner Schriften hat sich Husserls Radikalismus des im-
mer wieder neuen „voraussetzungslosen" Anfangens und Infragestellens
alles bisher Erreichten so sichtbar betätigt, in keiner hat er sich so sehr
der „Gewalt des Absoluten" (Hegel) ausgesetzt, so daß sich hier in beson-
derem Maße der Grundzug seines Denkens zeigt, das nicht auf ein Be-
herrschenwollen im System gerichtet ist, sondern in der restlosen Preis-
gabe an die „Sache" weiterschreitet. Erst der Rückblick aus der nunmehr
gewonnenen geschichtlichen Distanz läßt es verstehen, daß sich in diesem
Text ein Abschied von maßgeblichen Traditionen des neuzeitlichen Den-
kens und der Aufbruch auf einen neuen Boden denkender Besinnung voll-
zieht. Es ist ein widerwilliger Abschied, indem Husserl diese Tradition
vollenden und erfüllen wollte, ohne daß es ihm sogleich bewußt wurde,
wie sehr er sie bei diesem Versuche sprengte. So ist er das bewegende Do-
kument einer unerhörten Anstrengung, mit den Mitteln der terminologi-
schen Sprache der neuzeitlichen Tradition des Denkens einen Gehalt aus-
zudrücken, der sich ihť und ihren Alternativen und Perspektiven bereits
entzieht.

So ist das Wagnis der Veröffentlichung dieses problematischen Textes


in glänzenderWeise gerechtfertigt. Nicht nur, daß er den Schlüssel bedeu-
tet für das Verständnis der Entwicklung der Phänomenologie Husserls,
indem die in ihm zutagetretenden Aporien es erst ermöglichen, die späteren
Arbeiten Husserls richtig in den Gang dieser Entwicklung einzuordnen
und mit den früheren in Verbindung zu bringen, so daß von hier aus ver-
ständlich wird, warum dann Husserl im Spätwerk der „Krisis" sich genö-
tigt sieht, einen neuen Weg einzuschlagen - dessen Neuheit freilich durch

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die Selbstinterpretation, die er ihm gibt, auc


wird - über diese Bedeutung für die Interpr
selbst hinaus ist sein Gewicht darin begründ
vor den Augen des Lesers das Scheitern des tran
mus als eines geschichtslosen Apriorismus u
neuzeitlichen Rationalismus vollzieht. Wenn heute vor allem auf Grund
der Wirkung des Werkes Heideggers vom „Ende der Metaphysik" wie
mit Selbstverständlichkeit gesprochen wird, so verstehen wir den Sinn die-
ser Rede erst richtig, wenn wir genau verfolgen, wie in diesem Werk die
Metaphysik sich sozusagen hinter dem Rücken Husserls verabschiedet.
Man kann geradezu sagen, dieses Werk ist das Ende der Metaphysik in
dem Sinne, daß ein Weitergehen in den Bahnen ihres Denkens und ihrer
Begrifflichkeit, aus denen es die äußersten Möglichkeiten herauszuholen
sucht, nach ihm nicht mehr möglich ist. Freilich Husserl wußte das nicht
so ausdrücklich und seine damaligen Hörer auch noch nicht, und es wird
noch einer langen und intensiven Bemühung der Interpretation und der
weitergehenden denkenden Besinnung bedürfen, bis wir erfahren haben,
was hiermit alles zu Ende gegangen ist. Von daher wird auch neues Licht
auf das Verhältnis Heideggers zur Phänomenologie fallen können. Er
kannte aus seiner ersten Freiburger Zeit und aus vielen Gesprächen mit
Husserl die Gedankengänge, die diesen damals bewegten, und hat das
Scheitern dieses Versuchs aus eigener Anschauung miterlebt und daraus
das Fazit gezogen, indem er von da ab bereits versuchte, die Sprache der
Metaphysik, deren Husserl selbst sich noch bediente, zu verabschieden.
So wird die Mühe des Eindringens in den fast unentwirrbaren Gedan-
kengang des Werkes reichlich belohnt, der, ständig unterbrochen durch
Exkurse und rückblickende Uminterpretation von bereits Ausgeführ-
tem, sich mit immer neuen Ansätzen mühsam dahinzieht. Freilich stellt
sein Studium harte Anforderungen an den Leser, der dabei keinen klar
überblickbaren Gedankengang zum Leitfaden hat, sondern nur unter
Heranziehung der dem Haupttext beigefügten Beilagen, die drei Fünftel
des umfänglichen Bandes ausfüllen, sowie im Vorblick auf das Spätwerk
und im Rückblick auf die früheren Werke Husserls zum Sinn dessen vor-
dringen kann, was sich hier vollzieht.
Auf diesen eigentümlichen Charakter des Werkes hat bereits der Her-
aúsgeber in seiner sehr wichtigen und instruktiven Einleitung hingewie-
sen, und sein editorisches Vorgehen ist durch ihn in jeder Weise gerecht-
fertigt- Es ist richtig, daß der Haupttext der Vorlesung ohne jeden Ver-
such der Glättung, zu dem die späteren kritischen Bemerkungen Husserls
zum Text hätten verführen können, wiedergegeben wurde und alle selbst-
kritischen Reflexionen Husserls nur in den Anmerkungen und Beilagen

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erscheinen. Diese sind aus der unübersehbaren Fülle der Manuskrip


die zum Problembereich des Textes gehören, so geschickt ausgewählt, d
man auf keine von ihnen verzichten könnte, wenn man ein richtiges B
von der gesamten Problematik gewinnen will. Im textkritischen Ap
waltete die gleiche mustergültige Sorgfalt wie in den bisherigen Bä
der Edition; jedoch sah sich der Herausgeber hier vor unvergleichlich g
ßere Schwierigkeiten gestellt als in jenen, und die Art, wie sie von
bewältigt wurden, verdient höchstes Lob.
Aus diesen einleitenden Bemerkungen ergibt sich, daß die Würdi
des Werkes in dem hier gegebenen Rahmen sich darauf beschränken m
die Grundgedanken und ihren Zusammenhang herauszuheben, um
kritisch -interpretierende Bemerkungen zu knüpfen, mit denen wenig
in einigen Punkten und in ganz vorläufiger Weise erhärtet werden
was über die Bedeutung des Werkes bereits angedeutet wurde. Für
genauere Analyse des Gedankenganges, seiner Wendungen, Brüche
nachträglichen Korrekturen muß ein für allemal auf die „Einleitun
Herausgebers" verwiesen werden. Ihr noch weiteres hinzuzufügen,
dürfte wohl eines den gesamten Text begleitenden kritischen Kommen
Auch für das Auftreten des Titels „Erste Philosophie" und den Sinn
ner Verwendung in der Entwicklung von Husserls Denken muß auf
Einleitung verwiesen werden. Hier sei nur hervorgehoben, daß der
nach der Ausarbeitung dieser Vorlesung immer mehr zurücktritt, in d
Cartesianischen Meditationen nur mehr en passant (I. S. 47) und in
„Krisis" nur noch einmal, aber unter Anführungszeichen erscheint. W
der Herausgeber bemerkt, daß an seine Stelle dann der allgemeinere Au
druck „Transzendentalphilosophie" tritt, so wäre dies näher dahin zu p
zisieren, daß hier nicht bloß eine Änderung der Bezeichnung für ein u
dieselbe Sache eingetreten ist, sondern daß Husserl sich genötigt sah, d
gesuchte Sache selbst und das heißt die Leitidee der mit dem Titel „Ers
Philosophie" bezeichneten Grunddisziplin der Phänomenologie überh
als undurchführbar preiszugeben.
I

Zunächst ist nach der Leitidee des Werkes zu fragen, die mit dem Titel
bezeichnet sein soll. In einer schon etwas früher niedergeschriebenen Ab-
handlung (etwa 1921, vgl. S. 249) spricht Husserl von der Ersten Philo-
sophie als der „ Wissenschaft von der Methode überhaupt , von der Erkennt-
nis überhaupt und möglichen Erkenntniszielen überhaupt, d. i. möglichen
Erkenntnissen überhaupt, in der sich alle apriorischen Wissenschaften,
welche das Kontingente jeder Art (auch das materiale und kontingente
Apriori) ausgeschaltet haben, als entfaltete Verzweigungen ergeben. Über

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allen Wissenschaften steht eine Mathesis univers alissima ... als eine Ma-
thematik von Erkenntnisleistungen . . . . Diese höchste von absoluter Ver-
ständlichkeit durchleuchtete Logik . . . bewegt sich in ausgezeichneten Ge-
staltungen der reinen Subjektivität und fordert das Studium der vollen
reinen Subjektivität . . Das ist also nichts anderes als die Idee der phä-
nomenologischen Transzendentalphilosophie, wie sie bereits in den „Ideen"
gefordert wurde als die „erste aller Philosophien" (III, 8) in der Gestalt
einer Grundwissenschaft von der transzendentalen Subjektivität und ihren
konstituierenden Leistungen. Sie ist im Gegensatz zu allem konstituierten
Sein eine „Region" absoluten Seins, weil alles, wovon wir überhaupt als
Seiendem sprechen können, Sein für Bewußtsein ist und sich das Recht
«einer Setzung als seiend im Bewußtsein ausweisen lassen muß.
Nach der Vorlesung von 1923/24 dagegen soll die Erste Philosophie
nicht nur die Aufgabe der systematischen Darstellung dieser Idee haben,
sondern sie soll die Meditationen und Vormeditationen über den Weg zu
ihr und über den absoluten Anfang dieses Weges als gleichfalls zu ihrem
Systemgehalt gehörig in sich schließen (S. 5). Die Erste Philosophie ist
also sich selbst von einem absoluten Anfang her absolut begründende uni-
versale Wissenschaft. Sie ist diejenige, „die ,an sich', das ist aus inneren
Wesensgründen die erste ist" (VII, 4). „Der Name , Erste Philosophie4
würde dann hindeuten auf eine wissenschaftliche Disziplin des Anfangs."
„Der Anfang der Ersten Philosophie selbst wäre danach der Anfang aller
Philosophie überhaupt" (VII, 5). Als solche Erste Philosophie ist sie eine
sich in jedem ihrer Denkschritte selbst absolut rechtfertigende . Husserl
weist hierbei immer wieder auf das Beispielhafte der Cartesianischen
Suche nach dem fundamentum absolutum et inconcussum hin, das in der
undurchstreichbaren Evidenz des Ego cogito zu finden ist. Es ist also die
Idee einer ersten Wissenschaft, die von einer standhaltenden und undurch-
streichbaren, in diesem Sinne apodiktischen Evidenz ausgeht und jeden
weiteren ihrer Schritte in gleicher Weise auf diese aufbaut und von ihr
herleitet und rechtfertigt. Sie soll das, was Descartes in seinem Ansatz
erstrebte, aber in der Durchführung verfehlte, verwirklichen, indem sie
■die phänomenologische Reduktion auf das transzendentale Ego als die
Dimension letzter und absoluter Begründung vollzieht.
Schon die Einführung dieser Leitidee in den ersten drei Vorlesungen
(S. 3-23) läßt den Weg erkennen, den Husserl seit der Darstellung und
Einführung der phänomenologischen Reduktion in den „Ideen" zurück-
gelegt hat. Sie war dort nach der Auf Weisung der „Generalthesis der
natürlichen Einstellung", des all unser Denken und Tun schon immer
tragenden Weltglaubens, als „Sache unserer vollkommenen Freiheit"

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 159

(III, 65) eingeführt worden, als Ergebnis eines freien Entschlusses, dess
Notwendigkeit nicht weiter begründet wird. Der Übergang zur Re
tion erfolgt nach der Darstellung der natürlichen Einstellung einfach
•den Worten „anstatt nun in dieser Einstellung zu bleiben, wollen wir
radikal ändern" (S. 63). Nunmehr aber soll diese „Naivität" mit Me
tionen über die Motivationslage des „anfangenden Philosophen" ü
wunden werden. Aus ihr heraus muß die Begründung der Notwendi
dieses Schrittes erfolgen. So konkretisiert sich das Cartesianische Prinz
des Ausgangs vom „Ich bin" zum „ich als anfangender Philosoph".
Der Philosoph „bedarf notwendig eines eigenen, ihn als Philosophen überh
und ursprünglich schaffenden Entschlusses, sozusagen einer Urstiftung, d
sprüngliche Selbstschöpfung ist. Niemand kann in die Philosophie hineingera
(S. 19). Dieser Entschluß zur phänomenologischen Reduktion auf die Dime
absoluter und letzter Begründung bedeutet „radikale Weltentsagung" als den
wendigen Weg „die letztwahre Wirklichkeit zu erschauen und damit, ein
wahres Leben zu leben" (S. 166).

Für einen solchen Entschluß gibt es freilich im Leben auf dem B


der „natürlichen Einstellung", der „Weltkindschaft" (S. 123) kein a
weisbares Vorbild. Es ist ein Leben, das sich mit dem Erreichen der näc
sten und beschränkten Ziele, der Gewinnung von Klarheit in der je
gegebenen und begrenzten Situation begnügt. Das gilt auch für das Hin
geraten in philosophische Grenzprobleme innerhalb der einzelnen
senschaften, die dann so weit verfolgt werden, als es zur Auflösung met
discher Schwierigkeiten und Paradoxien für eine bestimmte Problemst
lung erforderlich erscheint.
„Es handelt sich also in der Tat um eine ganz , unnatürliche' Einstellung und e
ganz unnatürliche Welt- und Lebensbetrachtung. Das natürliche Leben vollzieh
als eine ganz ursprüngliche, als eine anfangs durchaus notwendige Welthin
Weltverlorenheit. Das Unnatürliche ist das der radikalen und reinen Selbstbesin-
nung, der Selbstbesinnung auf das reine „ich bin", auf das reine Ichleben, und auf
die Weisen, wie in diesem Leben, was in irgendeinem Sinne sich als Objektives
gibt, eben diesen Sinn und diese Geltungsweise als Objektives gewinnt: rein aus
der inneren und eigenen Leistung dieses Lebens selbst" (S. 121).

Ist also im natürlichen Weltleben kein Vorbild für den Entschluß des
„anfangenden Philosophen" zu finden, so ist doch seine Möglichkeit schon
in ihm angelegt, wenn auch noch keineswegs ergriffen, nämlich v„in der
Motivation des Wissenschaftlers überhaupt", und das heißt in der Tat-
sache des Erkenntnisstrebens überhaupt. Denn es zielt seinem Wesen nach
auf standhaltende Wahrheit und damit nicht nur auf Erkenntnis, son-
dern auf begründete Erkenntnis 3, so daß dieses Streben schon die Tendenz
8 Vgl. die Beilage über „Das Prinzip vom zureichenden Grunde für jede wissen-
schaftliche Erkenntnis", S. 329 ff.

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auf Überwindung der „Naivität der Erkennt


schließt. Aber nicht nur das Erkenntnisstre
überhaupt, wie es schon zum natürlichen Leben
tigung und Verantwortung. Es wird also hie
wissenschaftlicher Wahrheit im Zusammenhang
antwortung jedes Strebens gesehen, im Zusam
reine Kultur sich spannenden Bedeutung" (
des Menschen nach dem Guten, Wahren und
seiner Wahrheit verantwortet in der Erkenntn
men, von denen es geleitet ist, so „daß sich in
theoretischen Wahrheit alle andere Wahrheit, s
was wir wahre und echte Werte nennen) und d
prädikativen Erkenntnisformen ausspricht, bes
nismäßige Begründungsformen annimmt. . . . V
die Echtheit des Wertes und die Wahrheit der
(S. 25). Daher ist das Erkenntnisstreben seinem
lität gerichtet, auf „Allwissenheit" (S. 196, 3
„universale Wissenschaft". Aber diese Ausdr
tive Bedeutung, sondern verweisen nur darauf,
isolierte den Charakter absoluter Begründun
eine solche nur im Universum aller möglich
zu gewinnen ist; denn die erkennende Vernunf
salität bedeutet nicht das All sämtlicher Erken
barer, sondern nur die Idee des Zusammengehö
lichen Erkenntnisse und ihrer Ordnung in der
die quantitative Universalität betrifft, ist Phil
schaft eine „im Unendlichen liegende Idee".
Der Entschluß des anfangenden Philosoph
ernstzumachen mit dem Streben, das im Leb
gelegt ist, Entschluß zur „universalen Kritik d
beschließt die Idee der Philosophie selbst eine A
Art Radikalismus der Endgültigkeit" (S. 21), de
setzt als „eine Art Zusammenbruch aller naiven
schaftswerte ... in der Erkenntnis . . ., daß ein
eine völlig neuartige Wissenschaft notwend
Aber dieses Streben auf letzte Erkenntnisvera
seine Bedeutung für die Besinnung des Ein
einer Gemeinschaft ist.

„Die Selbstverantwortung des Einzelnen, der sich als Glied und Funktionär der
Gemeinschaft weiß, umschließt auch die Verantwortung für diese Art praktischen
Lebens und beschließt somit eine Verantwortung für die Gemeinschaft" (S. 197 f;).

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 141

„Andererseits in dieser wirklichen und möglichen Verbundenheit gehört es


ner Selbstverantwortung, daß ich den Anderen zur Verantwortung ziehe"
«erwächst die Idee einer „höchsten axiologischen Gestalt einer Gemeinschaf
diese absolute Wertung in sich vollzöge" als „den Progressus der Gemeinsc
wußt leitende Zweckidee " (S. 200).

Es ist also die Idee einer menschheitlichen V erantwortung des Philos


nicht nur für sich selbst, sondern für die Menschheit, wenn in ihr
•das Streben nach nicht mehr traditionaler, sondern denkender Begr
ihres Daseins erwachsen ist, die bereits einige Jahre vorher von
an entlegener Stelle4 entwickelt worden war, und die hier nun
Gang der Meditationen über den absoluten Anfang der Philosoph
genommen wird. Hier klingt es freilich so, als ob dieser Anfang, we
einmal von einem Philosophen vollzogen ist, dann auch ein für a
in zwingender Evidenz feststünde und von jedem in gleicher E
reproduktiv nachvollzogen werden könnte. Aber schon indem im his
schen Teil der Vorlesung die Phänomenologie als die geheime Seh
des gesamten abendländisch -europäischen Denkens nachgewies
damit in ihrer Notwendigkeit historisch begründet werden soll,
eine Problematik in den hier gesuchten absoluten Anfang, der
Husserl erst allmählich bewußt wird, und die ihn schließlich zwingt,
aus Cartesianischem Geist gedachten Versuch der Begründung a
fundamentum absolutum et inconcussum preiszugeben. Wie sich
reits im weiteren Gang der Vorlesung und in den sie begleitend
flexionen ankündigt und schließlich zu dem neuen Weg des Spät
führt, ist im folgenden darzustellen.
Geleitet ist diese Zielidee der absoluten philosophischen Selbstv
wortung und Selbstrechtfertigung des Lebens von dem Hinblick
Erlebnisse der Evidenz als „Selbsthabe", Bewußtsein des Selbst -D
des Gemeinten: „Das erkennende Subjekt ist im erzielenden Gestalten
dessen bewußt, nun bei dem Ziele selbst zu sein. Es erschaut erke
die , Wahrheit', das ist eben das Erzielte, das ,es selbst' des urteilsmä
Meinens" (S. 8) im Gegensatz zur „bloßen", „leeren" Meinung. S
die Forderung einer absoluten Rechtfertigung zwei Seiten : die Erke
soll eine „ endgültige " sein, die Zielstellung ist geleitet von der Idee
standhaltenden, endgültigen und als endgültiger erlangten Wahrheit
sie soll auf der anderen Seite eine evidente sein „in jeder Hinsicht" 5

4 Die Idee einer philosophischen Kultur in „Deutsch- japanische Zeitschr


1923, und Erneuerung in „The Kaizo", Tokio 1923. Der für dieses Proble
scheidende Teil des erstgenannten Aufsatzes wurde von Husserl in den
Vorlesung, VII, S. 8-17 aufgenommen.
5 S. 31, vgl. dazu auch S. 9, 48 und 366 f.

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' 42 Ludwig Landgrebe

„Das Erkannte soll nicht ihm wesentlich zugehör


außerhalb der Blickrichtung meiner sonst vollkom
möge ihrer Unbekanntheit anfängliche Unklarheiten
(aaO). Eine solche Evidenz „nennen wir auch adä
das ist, erkennen wir also jedenfalls nur in einer z
denz, die selbst wieder eine adäquate sein muß"
einer adäquaten Evidenz „tritt hervor in der Prob
und Zweifel" (S. 35). Sie schließt zugleich die Ein
Nichtseins und Nicht-so-Seins in sich und ist in d
(S. 380). Husserl verweist dabei darauf (S. 125), d
Cartesianische Maxime der Zweifellosigkeit als de
fertigung. „Apodiktisch" und „adäquat" werden h
davon abgesehen, daß Husserl später beides unters
im folgenden (ab S. 36) ist nur noch von der Such
Rede und die Aufgabe einer Kritik der gewonnen
Apodiktizität hin wird erst als eine spätere und in
in Angriff genommene bezeichnet (S. 169 und 380

Fragen wir nun des Näheren, welches die


in dieser Explikation der Phänomenologie
einer absolut begründeten Wissenschaft er
wird die Möglichkeit geben, den weiteren Ged
Die Explikation der Leitidee der Ersten Phil
an den Gedankengang der ersten vier Vorl
an. Um ihre Problematik zu verstehen, m
Reflexionen Husserls herangezogen werden
schlag bereits in den ständig rückblickenden U
Gedankengangs im weiteren Verlauf der V
Diese Problematik kann kurz in folgender
Gesucht ist als Boden absoluter Rechtfertig
Bereich apodiktischer Evidenzen, welche die
sein-Könnens in sich schließen. Gäbe es nur
gefähr und zeitweise standhaltend", gäbe e
alle entsprechend gerichteten Meinungen - so
gültiger Wahrheit und alles Wahrheitsstr
(S. 366). Die gesuchte Apodiktizität muß als
erörterten Charakter der Wesenseinsicht , nä
bedingter Allgemeinheit und Notwendigkeit h
tizität im Sinne apodiktischer Evidenz zugle
Bewußtsein des Selbst -daseins des Gemeinten und in diesem Sinne als
Unmittelbarkeit , als unmittelbares Vor-der-Sache-Stehen.
Das Ergebnis der anfänglichen Meditationen war ja: „im Anfang müßte . . . eine
unmittelbare Erkenntnis stehen, event, ein durch eine unmittelbare Erkenntnis mit-
angezeigtes Feld ganz unmittelbar zugänglicher, also selbst unmittelbarer Erkennt-

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 145

nisse, und diese Unmittelbarkeiten müßten selbst in unmittelbarer Weise


sein" (S. 40).

Aber solche unmittelbare Gewißheit kann keine andere sein als die der
Erfahrung . Daher heißt es weiter, daß die Prüfung „auf die transzenden-
tale Subjektivität als einzigen Bestand an apodiktischen Unmittelbarkei-
ten, an absolut unbezweifelbaren Erfahrungsgegebenheiten44 führt (S. 41).
Dieser Gedanke wird weitergeführt in einer ungefähr gleichzeitigen Re-
flexion : alle Erfahrung geht letzten Endes zurück auf Anschauung, denn
Anschauung allein ist ja das Bewußtsein dieser gesuchten Unmittelbar-
keit: „ absolute Rechtfertigung setzt also absolute Anschauung voraus "
(S. 367). Die phänomenologische Reduktion auf das transzendentale Ego=
eröffnet daher „die Möglichkeit einer absoluten Erfahrung und Erfah-
rungswissenschaft44 (S. 362), und es ist die Frage, „wo solche unmittel-
baren Anschauungen, also absolute Erfahrungen44 zu finden sind.
„Gibt es absolute Erschauungen, so müssen sie so geartet sein, daß ich, während
ich sie ursprünglich im Vollzuge habe oder noch habe, mir schlechthin nicht vor-
stellen kann4, daß das Erfahrene nicht sei oder zweifelhaft sei oder nur möglich
sei" (S. 368).

Die Rede von „Erfahrung44 muß hierbei streng wörtlich verstanden


werden. Sie darf nicht im Sinne der alten Begriffe einer Ideenschau oder
einer intellektuellen Anschauung mißdeutet werden, und damit ist bereits
angezeigt, welcher radikale Bruch mit den Überzeugungen der traditio -
nelien Metaphysik hier erfolgt ist; denn zu ihren grundlegenden Voraus-
setzungen gehört, daß Einsichten von unbedingter Notwendigkeit und
Allgemeinheit, also Einsichten in „ewige44 und „notwendige44 Wahrheiten
niemals aus der Erfahrung geschöpft werden können, die es immer mit
dem Faktischen und in diesem Sinne Kontingenten zu tun hat. Im Lichte
dieser Tradition wäre eine absolute, Apodiktizität gewährleistende Erfah-
rung ein hölzernes Eisen. Die zahlreichen die Vorlesung begleitenden Re-
flexionen, in denen immer wieder aufs neue die Frage aufgerollt wird, ob
das Ziel der apodiktischen Begründung überhaupt erreichbar ist und nicht
vielmehr aufgegeben werden muß, zeigen, daß Husserl sich dieser Schwie-
rigkeit voll bewußt war. Wohl am deutlichsten sichtbar wird das an der
Stelle S. 452, wo er von der „normierenden Kraft ursprünglicher Selbst-
gegebenheit44 spricht. Wenn nämlich alle Selbstgegebenheit letzten Endes
auf absolute Erfahrung zurückweist, so ist damit nichts anderes als das
positivistische Prinzip der „ normativen Kraft des Faktischen " ausgespro-
chen, mit dem jede Möglichkeit der Unterordnung des faktisch Gegebenen
unter die Apodiktizität ewiger Wahrheiten aufgehoben ist. Der verbor-
gene Sinn des Positivismus als eines Protestes gegen die Unterdrückung

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144 Ludwig Landgrebe

der Faktizität durch das metaphysische Den


Deutlichkeit sichtbar, und wir stehen damit a
serl hinter die nur auf dem Boden des metaph
Alternative von Positivismus bzw. Empirismu
zugehen sucht.

Dieser Bruch mit der Tradition erfolgt freilic


angelegt in einer frühen (1908) und sich durchha
physik als der Lehre vom Faktum und in den Au
lesung (VII, 258).

In der Tat hat Husserl den Cartesianischen B


genommen bereits verlassen, indem er die
Evidenz des „ich bin" mit all dem in ihr be
absolute Erfahrung und zwar als einen ganzen
greift. Descartes konnte von seinem Ausgan
Ton den eingeborenen Ideen und ihre durch d
Stringenz zu weiteren in gleicher Weise gesich
- ein Weg, der für Husserl ausgeschlossen ist,
über den Ursprung der eingeborenen Ideen nu
Argumentation und nicht durch den Rückgan
gegeben wird. Aber auch für sie müssen solch
tionsleistungen des transzendentalen Subjek
Wahrheitsanspruch begründbar sein soll. A
geschlossen ist für Husserl Kants „regressiv
sion letzter Begründung von dem Faktum des
rung aus auf die „Bedingungen seiner Mögl
wieder Gegenstand einer Erfahrung sein könn
rung erst Ermöglichende sind. Beide Wege e
rung auf Evidentmachen, auf zur unmittelbar
Es gibt aber auch kein einfaches Erschauen
als an sich bestehender - dieser platonisiere
Begriff der kategorialen Anschauung in de
an - also keine Art von Platonischem ftiyeiv
nen; denn dann stünde der Evidenz der Sub
szendenz als ein Ansich gegenüber. Aber j
Ansich kann nur zugelassen werden, wenn i
auf ihren Ursprung aus konstituierenden Erf
jektivität ausgewiesen ist. Auch der Sinn der
Wahrheiten gilt nur in der Korrelation zu
Subjektivität, und das heißt nicht in der Korre
erfahrenden Bewußtsein überhaupt, sondern z

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 145

der Subjektivität. Nicht mehr gehen also die Möglichkeiten der Wirklic
keit voran, vielmehr dienen alle Möglichkeitserwägungen nur der A
hellung der Faktizität der transzendentalen Erfahrung (vgl. VII, 258
„daß überhaupt ein reales und ideales Sein, das die totale transzenden
Subjektivität überschreitet, ein Widersinn ist und als das einzusehen ist
(S. 482). Aus diesem Grunde kritisiert Husserl an Kant, daß er die L
und die logischen Evidenzen unbefragt hingenommen und vorauges
hätte, und geht er später in der „Formalen und transzendentalen Lo
daran, die Frage nach ihrem Ursprung aus Leistungen der Subjektiv
ans Ende zu führen. Von daher ist es auch zu verstehen, daß Husserl
seinen historischen Betrachtungen Hume mit seiner Ursprungsfrag
Vorläufer der Phänomenologie geradezu höher stellt als Kant.
Es würde den Rahmen dieser Abhandlung überschreiten, wenn ausgeführt w
den sollte, was sich daraus für die Auflösung der von Wagner und Henrich erö
ten Schwierigkeiten im Begriff einer Dimension letzter Begründung ergibt6,
nicht eine Dimension vorgängiger apriorischer Geltung, sondern eine solche ab
ter Erfahrung sein soll. Es ist hier nur darauf hinzuweisen, daß hierdurch
Frage nach dem Sinne des „vor" des Apriori eine neue Gestalt gewinnt (vgl
358, 363).

Faßt man all dies ins Auge, dann wird verständlich, inwiefern in die-
sen Aporien hinsichtlich der Apodiktizität nicht nur der Cartesianische
Weg selbst sich als unzulänglich erweist, sondern auch alle Weiterbil-
dungen der Frage nach den letztbegründenden Prinzipien von der Pro-
blematik der „eingeborenen Ideen" zu den „synthetischen Urteilen
a priori" hin und wie damit der Spielraum dieser Problematik in der
Philosophie der Neuzeit überschritten wird. Daher erhält das Problem
des Weges oder der Wege in die Dimension letzter Begründung von dieser
Vorlesung ab diejenige zentrale Bedeutung für Husserl, auf Grund deren
er ihm in den folgenden Jahren immer wieder neue Besinnungen widmet,
von denen das in den „Beilagen" Abgedruckte nur einen kleinen Aus-
schnitt darstellt; dieses Problem des Weges ist also nicht ein bloßes Pro-
blem der Darstellung und der richtigen didaktischen Einführung in die
Phänomenologie, sondern es gehört, wie schon oben vermerkt, zu ihrem
„Systemgehalt" selbst. Das gilt freilich nur solange, als die Voraussetzung
festgehalten wird, daß es einen absoluten, apodiktisch begründbaren An-
fang gebe, der, als standhaltende Wahrheit einmal gefunden, „ein für
allemal" feststehen muß. Wenn auch diese Voraussetzung für Husserl
selbst in dieser Vorlesung und in der Kette sich anschließender Reflexio-
nen bereits problematisch zu werden beginnt, so bleibt sie doch als bewe-

8 Vgl. Henrich , aaO, und Wagner „ Kritische Betrachtungen zu Husserls Nach-


laß«. Philos. Rundschau I 1953/54 S. 1 ff. u. 93 ff.

10 Philosophische Rundschau 9. Heft 2/3

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146 Ludwig Landgrebe

gendes Motiv auch in den folgenden Jahren


mit dem Verblassen der Leitidee der Ersten P
Hintergrund, womit dann auch die Frage
nach ihrem Verhältnis zueinander an Gewicht verliert.

II

Es ist nicht möglich, hier das Problem der Unterscheidung der verschie-
denen Wege in die Phänomenologie und ihres Verhältnisses zueinander
an Hand der Texte des Bandes eingehender zu erörtern7. Es sei vielmehr
nur verdeutlicht, welches Problem als treibendes Moment hinter dieser
Frage nach den Wegen steht. Auf diesen Wegen soll die transzendentale
Subjektivität als das „Feld" absoluter transzendentaler Erfahrung er-
schlossen werden, und es soll damit eine dreifache Frage beantwortet
werden :

1. In welchem Sinne kann hier von Erfahrung gesprochen werden?


2. Wie ist das Subjekt dieser Erfahrung zu bestimmen?
3. Was ist das Gebiet, das „Feld" dieser Erfahrung?
Selbstverständlich handelt es sich dabei nur um drei Seiten ein und der-
selben Frage, die voneinander gar nicht getrennt werden können, aber
je nachdem, auf welche Seite der Akzent gelegt wird, unterscheiden sich
auch die Wege zur Beantwortung dieser Frage- Wenn versucht wird, diese
drei Seiten zu unterscheiden, so muß darauf hingewiesen werden, daß sich
diese Unterscheidung mit keinem der Versuche Husserls, die Wege zu
unterscheiden, ganz deckt. Der aufmerksame Leser der Beilagen wird fin-
den, daß diese Versuche Husserls sich vielfach widersprechen und sich zum
Teil gegenseitig aufheben, so daß an Hand der in diesem Band vorliegen-
den Texte gar nicht endgültig festzustellen ist, wie viele Wege von Husserl
selbst eigentlich unterschieden werden, weil er eben nicht zu einer solchen
endgültigen Unterscheidung gekommen ist. Hier handelt es sich vielmehr
nur darum, einen Leitfaden zu finden, mit dem die innere Logik dieser
nicht ans Ende gekommenen Unterscheidungsversuche Husserls und der
Grund ihres Scheiterns aufgedeckt und gezeigt werden kann, daß es sich
dabei tatsächlich um ein Grundproblem der Phänomenologie handelt, das
trotz dieses Scheiterns nicht übergangen werden darf, sondern sich gerade
in ihm stellt. Nur auf diesem Wege kann es gelingen, den gerade in dieser
Hinsicht besonders schwierigen und in sich gebrochenen Gedankengang
der Vorlesung aufzuhellen.
ad 1) Die Frage, in welchem Sinne hier von Erfahrung zu sprechen ist,
wird von Husserl schon im Abschluß der Vormeditationen (I. Abschnitt)

7 Vgl. dazu die Einleitung des Herausgebers.

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 147

und dann speziell im 1. und 2. Kapitel des II. Abschnitts der Vorles
(S. 37-64) behandelt und dieser Begriff von Erfahrung von dem übliche
und nächstliegenden abgehoben. Diesem letzteren Begriff von Erfahrun
gemäß ist Erfahrung immer verstanden als Erfahrung von Seiendem
der Welt und von der Welt selbst als dem All des Erfahrbaren. Aber eine
solche Erfahrung kann dem Maßstabe der Apodiktizität nicht standhalten ;
sie ist immer präsumptiv, sich im weiteren Verlauf korrigierend, bereits
vermeintlich Erfahrenes als Schein entlarvend und negierend, ja es besteht
überhaupt keine apodiktische Gewißheit, daß sie als Welterfahrung über-
haupt kontinuierlich weitergeht, daß nicht an Stelle solchen kontinuier-
lichen Fortgangs sich das kontinuierliche Erfahrungsbewußtsein mit allen
seinen Präsumptionen, Korrekturen und Negationen in ein „Gewühl von
Empfindungen" auflöst (S. 49). Beruht diese Erfahrung auf der „ General -
thesis der natürlichen Einstellung" (Ideen I. Teil, III, 62), und das sagt
auf dem Glauben an das durchgängige Sein der erfahrenen Welt, so ist
dieser Glaube also nicht von der Art, daß er einer apodiktischen Recht-
fertigung und Begründung fähig wäre. Der Glaube, daß die erfahrene
Welt ist , schließt also in sich keine apodiktische Gewißheit, die zum Aus-
gang eines absoluten Begründungsweges genommen werden kann. Die
Welterfahrung ist nicht der gesuchte Boden absoluter Erfahrung. Der
Glaube an das Sein der Welt darf daher nicht mitvollzogen werden, son-
dern muß in den absoluten Umsturz aller bis dahin geltenden Überzeu-
gungen einbezogen werden (S. 68). Ihr wahres Sein ist nichts anderes als
die Idee eines harmonisch weiter verlaufenden und sich nicht auflösenden
Wahrnehmungsverlaufes (S. 52). Das Sein der Welt ist kontingent und
daher nicht als Notwendigkeit zu begründen. Der Weltglaube ist daher
das „universale Vorurteil der Positivität" (S. 461) und „Welt" nichts an-
deres als der Titel für Faktizität, deren Fragen zur Metaphysik aber nicht
zur anfangenden absoluten Wissenschaft gehören.
Welcher Art ist dann eine Erfahrung, die der Forderung der Absolut -
heit entspricht? Es kann keine andere Erfahrung sein als die reflektive
Selbsterfahrung des „ ich bin". Der Satz „ich bin" ist „das wahre Prinzip
aller Prinzipien" (S. 42). Daher geht dieser „erste" Weg zur gesuchten
Dimension absoluter Erfahrung über die „Kritik der mundanen Erfah-
rung" (Titel des II. Abschnitts). Er bedeutet den Versuch, den Cartesiani -
schen Ansatz ohne Descartes' metaphysische Substruktionen weiterzuden-
ken, und wird daher auch der Cartesianische Weg genannt.
ad 2) Wie ist das Subjekt dieser Erfahrung des Näheren zu bestimmen?
Es ist nicht ein Ich überhaupt, wie es zu allen denkenden Subjekten ge-
hört; denn die Rede von anderen denkenden Subjekten setzt bereits das
Sein der Welt voraus, das ja in den absoluten Umsturz einbezogen werden
10*

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ļ 48 Ludwig Landgrebe

muß. Daher kann die Meditation der Ersten


rede formuliert werden (S. 59). Die anderen sin
Subjekte in der Welt, und zwar gegeben in d
Dingen in der Welt ihre Leiber wahrnehme
wußtsein „einlege". Die Wahrnehmung des S
nehmung durch „Interpretation" (S. 63) und
nehmung ihrer Leiber gegründet, ist genauso
alles weltlich Seiende und wie die Welt selbst und muß daher in den Um-
sturz mit einbezogen werden. Die apodiktisch gewisse Erfahrungssphäre
ist nur die meines als Solus ipse gedachten „ich bin" (S. 66). Die transzen-
dentale Phänomenologie kann daher nur als Egologie beginnen : das eigene
Leben hat den Vorzug einer ersten ursprünglichen Gegebenheit (S. 174).
Im Zusammenhang der Kritik der mundanen Erfahrung wird diese
Kritik an der Erfahrung der Anderen zunächst freilich nur angedeutet
und erst im Schlußteil der Vorlesung (S. 174 ff.) ausführlicher erörtert,
der den Charakter eines Rückblicks auf die gewonnenen Ergebnisse hat 8.
Nach dieser Reduktion auf die Egologie erhebt sich aber die Frage, ob
mit ihr kein erkenntnistheoretischer Zirkel begangen ist.
In vereinfachter Fassung kann diese Frage wie folgt verstanden werden (vgl.
70 ff.)« Die Geltung der mundanen Erfahrung wurde ausgeschaltet, weil sie der
Kritik auf Apodiktizität hin nicht standhält (S. 69). Aber das reflektive Wissen um
mich selbst und mein „ich bin" habe ich doch nur gewonnen als reflektierend auf
mich, den die Welt Erfahrenden oder vermeintlich Erfahrenden, und behauptet, daß
wenigstens diese Gewißheit eine apodiktisch gesicherte sei. Jedoch diese Gewißheit
habe ich nur erlangt, weil ich eben schon zuvor diese Erfahrung oder vermeintliche
Erfahrung von Welt und weltlich Seienden hatte. Ist es also nicht eine „naive An-
nahme" daß ich auf diesem Wege einen apodiktisch gesicherten Boden gewonnen
hätte? Ist dabei nicht doch versteckterweise die Welt vorausgesetzt, weil ich nur
als Ich in der Welt überhaupt die Möglichkeit hatte, mich dergestalt reflektierend
auf mich und mein Bewußtsein zurückzuwenden? (S. 70).

Die Auflösung des anscheinenden Zirkels erfolgt in der Weise, daß


zweierlei Bedeutungen der Rede vom Ich unterschieden werden: Das
Menschen -Ich und das transzendentale Ich.

„Konkret voll genommen, bin ich beseelter Leib, psychophysische Realität, zur
Welt, dem All der Realitäten gehörig. Ich bin ein Objekt meiner mundanen Er-
fahrung unter anderen. Muß ich davon nicht scheiden dasjenige Ich, das hierbei
Subjekt der Erfahrung ist, das Ichsubjekt für das Ichobjekt? Genauer überlegt: ich,
der ich ein kontinuierliches Welterfahren vollziehend durchlebe, finde diese mannig-
faltig-einheitliche Welt vor und bin so als allvorfindendes Subjekt eben das Subjekt

8 Eine erste Darstellung der Reduktion der „Intersubjektivität" hat Husserl be-
reits in einer Vorlesung von 1910 gegeben, in den „Ideen" wurde sie nicht behandelt,
und die umfassende Darstellung folgt dann erst in den „Cartesianischen Medita-
tionen" von 1930.

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 149

für alle Objekte, für das Weltall. Als diesem eingeordnet finde ich auch mich sel
vor, das ist mich als Objekt, dieses menschliche Ich mit all seinem Seelenleb
(S. 71).

Freilich ist diese Äquivokation der Ichrede keine zufällige, sondern hat
ihren Grund darin, „daß ich, das Subjekt der Erfahrung, mit dem im Men-
schen objektiv gewordenen Ich identisch" bin (aaO). Ich kann also jeder-
zeit von der „reflektiven Erfahrung des Subjekt -Ich zur objektiv munda-
nen Erfahrung des Menschen -Ich zurückkehren" (S. 72). Indem ich eine
höhere, evtl. apodiktische Gewißheit für dieses Subjekt-Ich beanspruche,
habe ich also keineswegs verstecktermaßen das Sein der Welt vorausgesetzt
und damit einen Zirkel begangen, sondern wenn die geschaffene Welt, das
Objekt meiner Erfahrung, vernichtet wird, so bin darum nicht ich, das reine
Ich ihrer Erfahrung, und ist nicht dieses Erfahren selbst vernichtet" (S. 73)-
„Die Erkenntniskontingenz, welche die Welt vermöge des Wesens meiner
mundanen Erfahrung hat, und alles, was aus dieser Kontingenz sich ergibt,
betrifft nicht mein Ich in seiner Reinheit und mein Ich -leben in seiner
Reinheit" (S. 74). So hat die Kritik der mundanen Erfahrung die Funk-
tion, „die mir vordem verborgene transzendentale Subjektivität und ihr
transzendentales Leben erschaubar machen", „als eine von der Welt rein
abtrennbare Seinssphäre - und doch in keinem natürlichen Sinne getrennt,
als ob es sich um gesondert existierende Seinsreiche handelte. Das trans-
zendentale Sein ist in sich völlig abgeschlossen, und doch, gemäß dem eige-
nen Sinn der mundanen Erfahrung, also einer im transzendentalen Ich
sich vollziehenden Leistung, erfahrbar als Beseelung eines Leibes (S. 76 f.).
Diese Methode führt also zu der Erkenntnis, „daß ich in meiner letzten
und wahren Wirklichkeit ein absolut geschlossenes Eigenleben lebe, das
ein Leben ist in beständigem objektivierendem Leisten, ein Leben, das
mundane Erfahrungen bildend, in sich eine objektive Welt als sein Phä-
nomen bildet, also als Phänomen in dieser letzten Subjektivität (S. 78).
Damit ist zunächst das gesuchte Subjekt absoluter Erfahrung bestimmt,
und eine weitere Einsicht in den eigentümlichen Charakter seiner Erfah-
rung gewonnen. Sie ist eine reflektive Erfahrung, aber als solche von der
„ inneren Erfahrung" der Tradition grundsätzlich unterschieden. Denn, so
betont Husserl immer wieder, diese hätte das erfahrende Subjekt mit dem
Menschen-Ich gleichsetzt, mit dem Ich des Menschen in der Welt, und da-
mit die ganzen erkenntnistheoretischen Aporien heraufbeschworen, die das
Denken der Neuzeit beherrschen. Vielmehr ist diese reflektive Selbsterfah-
rung des transzendentalen Ich, des „Ur-Ich", von der psychologischen
reflektiven Erfahrung grundsätzlich zu unterscheiden, die niemals den
Charakter einer mundanen Erfahrung ablegt (S- 79). Das ist aber keines-
wegs ein Einwand, der sich nur auf die spezielle psychologische Analyse

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150 Ludwig Landgrebe

und Theorie des Bewußtseins und insbesondere auf die erst im 19. Jahr-
hundert verselbständigte und von der Philosophie losgetrennte Psycholo-
gie bezieht. Vielmehr erstreckt er sich auf die gesamte neuzeitliche Pro-
blematik des Bewußtseins und nicht nur die Bewußtseins - und Seelenlehre,
sondern auf jede Fragerichtung nach dem Wesen des Menschen , die den
Menschen oder „ die Menschheit" zum Prinzip letzter Begründung erheben
will 9. Er richtet sich also, richtig verstanden, gegen jene ganze, mit Feuer-
bach einsetzende Bewegung des Anthropologismus , die das Denken der
späten Moderne in einem Maße beherrscht, das noch längst nicht durch-
schaut ist. Auch Kant hätte sich von diesem „Anthropologismus" nicht
freigemacht (vgl. VII, 354 ff., 357 ff.) und seine Transzendentalphiloso-
phie wäre nichts anderes als eine transzendentale Psychologie (VII, 401)-
Eine Auseinandersetzung mit den auf den ersten Blick als verwandt er-
scheinenden Unterscheidungen in den Systemen des Deutschen Idealismus
fehlt bei Husserl freilich 10. Schon diese Hinweise machen deutlich, daß die
Unterscheidung zwischen psychologischer und phänomenologischer Re-
flexion und Analyse des Bewußtseins, die von vielen Phänomenologen als
befremdlich, ja als überflüssig angesehen wurde, für das Verständnis der
Phänomenologie Husserls eine zentrale Bedeutung hat. Daher hat er ihr
auch in den dieser Vorlesung folgenden Jahren unablässige Bemühungen
gewidmet 11 .
Fürs erste ist nur darauf hinzuweisen, daß die Schwierigkeiten dieser Unter-
scheidung sich bereits in der von Husserl immer wieder betonten Tatsache zeigen,
daß rein psychologische Analyse und Deskription - wenn sie keine Theorien über
den psychophysischen Zusammenhang zugrunde legt, sondern sich an das Bewußte
hält, so wie es wirklich Bewußtes ist - in der Analyse der einzelnen und verschie-
denen Weisen des Bewußtseins, der verschiedenen Aktarten, zu den gleichen Ergeb-
nissen führen muß wie die phänomenologische, so daß solche psychologischen Ana-
lysen durch eine einfache „Vorzeichenänderung" auch als phänomenologische „ge-
lesen" werden können. Auf dieses Verhältnis wurde bereits im 1. Teil der „Ideen"
(III, 175) hingewiesen, aber dort der Unterschied zwischen Psychologie und Phäno-
menologie als der einer induktiven Tatsachenwissenschaft einerseits und einer
Wesens Wissenschaft vom Bewußtsein andererseits verstanden (aaO III, 193 ff. u.
220 f.) - wenngleich auch die Möglichkeit einer richtig verstandenen „rationalen
Psychologie", d. i. einer Wesenswissenschaft vom Seelischen im 3. Teil der „Ideen"
offengelassen wird (V, 37 ff.). Das Problem verschärft sich nunmehr, nachdem die
phänomenologisch reduzierte Subjektivität als ein Feld transzendentaler Erfahrimg
dargestellt und die Eidetik des transzendentalen Bewußtseins als Werkzeug für die
transzendentale Tatsachenwissenschaft charakterisiert wurde (VII, 258), einer Wis-
senschaft, die eben auf „absoluten Erfahrungen" beruht. In den „Ideen" dagegen

9 Vgl. das „Nachwort" zu den „Ideen", V, S. 140.


10 Vgl. Henrich , aaO, S. 17.
11 Die maßgebenden Texte werden im IX. Band der Husserliana demnächst er-
scheinen.

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 151

wird die Möglichkeit einer solchen transzendentalen phänomenologischen Erfah


rungswissenschaft ausdrücklich geleugnet (III, 149 Anm.). Das zwingt nunmeh
Psychologie und Phänomenologie nicht mehr einfach als induktive Erfahrungswi
senschaft einerseits und eidetische Wissenschaft andererseits voneinander zu unter-
scheiden, sondern es muß sowohl psychologische und phänomenologische Tatsachen-
wissenschaft wie auch psychologische und phänomenologische Eidetik unterschieden
und das Verhältnis dieser Fragerichtungen zueinander bestimmt werden. Es kann
hier nicht erörtert werden, wie dieses Problem in die Frage nach den Wegen in die
Phänomenologie weitere Komplikationen hineinbringt 12.

In der Tat ist damit ein Problem berührt, das auch die meisten der heu-
tigen Entwürfe einer philosophischen Anthropologie betrifft. Sie machen
für ihre Aussagen über den Menschen, seine Unterscheidung vom Tier,
seinen Bereich der Innerlichkeit und dessen Genesis etc. den Anspruch auf
Allgemeingültigkeit und begründen andererseits und mit Recht ihre Aus-
sagen auf die Ergebnisse empirischer, z. T. experimenteller Forschung.
Sofern diese Allgemeingültigkeit nicht durch die metaphysische Bezug-
nahme auf eine Wertlehre und ein Reich von Werten begründet wird,
bleibt völlig in Schwebe, welches ihr Charakter ist, ob nur der einer empi-
rischen und präsumptiven Allgemeinheit oder der einer unbedingten und
damit apriorischen Allgemeinheit. Exemplarisch deutlich wird das an der
Anthropologie Gehl ens mit ihrer reichen Fülle wichtigen Materials . Erst das
Begreifen der Dimension letzter Begründung als einer solchen „absoluter
Erfahrung" wird mit einer Revision der Alternative von „empirisch" und
„apriori" dazu führen können, diese Schwierigkeit zu beheben.

III

In der bisher erörterten Entwicklung des „ersten Weges" zur transzen


dentalen Subjektivität wird die Unterscheidung von transzendentaler un
psychologischer Subjektivität nur berührt, aber noch nicht ausführlich
handelt. Sie erfordert nämlich einmal eine genauere Unterscheidung vo
phänomenologischer und psychologischer Deskription und auf der ander
Seite eine Theorie der Reflexion. Zunächst jedoch folgt von S- 81-163 ei
Betrachtung, die einer „Überschau" über das Reich der transzendent
Erfahrung dienen soll. Sie stellt das Kernstück der Vorlesung dar und w
in einem Rückblick (S. 164) als eine Phänomenologie der phänomenol
schen Reduktion bezeichnet. In sie ist die Behandlung der beiden andere
Probleme eingeschoben: die Erörterung des Unterschiedes von phäno
nologischer und psychologischer Analyse im Zusammenhang mit ein
Vor- und Rückblick auf den Gang der ganzen Vorlesung (S. 120-130
139-146), die Theorie der phänomenologischen Reflexion in einem A
schnitt (S. 87-1 11), der später von Husserl als Exkurs gekennzeichnet w
12 Vgl. dazu die Beilagen S. 443 ff.

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152 Ludwig Landgrebe

Von beidem soll zunächst abgesehen und


Gedankengangs , der „Überschau" über das
Erfahrung skizziert werden. Diese Betrach
nannten Problem, nämlich der Frage, inwie
des Ich -bin als ein in sich geschlossenes Feld
angesehen werden kann. Diese Frage zu be
„Cartesianische" Weg in die Phänomenologie n
eine noch ganz leer bleibende Verweisung auf
soluter Begründung ls, indem er über die Kr
und den Umsturz des Glaubens an das Sein der Welt auf die undurch-
streichbare Evidenz des Ich -bin zurückführt. Nicht aber ist auf ihm zu
ersehen, was mit diesem Umsturz alles umgestürzt wurde und was mit
dieser Evidenz noch verbleibt, das heißt, wie diese augenblickliche und
ganz punktuelle Gewißheit meiner selbst als des undurchstreichbaren Ich
bereits weitere in gleicher Weise gesicherte Evidenzen in sich schließt,
mit denen sich ein „transzendentales Erfahrungsfeld" eröffnet.
Zunächst wird dieser Teil nur eingeführt als eine Betrachtung, die dazu
dienen soll, „die transzendentale Subjektivität näher ins Auge zu fassen".
Erst im Rückblick wird er als ein neuer „zweiter Weg" in die Phänomeno-
logie bezeichnet, auf dem unter Absehen von dem „Cartesianischen" Wege
der vorgängigen Ausschaltung des Weltglaubens die Durchführung der
Reduktion an einzelnen Aktarten exemplifiziert und gezeigt wird, wie
sich von ihnen aus das volle transzendentale Erfahrungsfeld erschließen
soll (S- 127). Es zeigt sich dabei zugleich auch erst von rückwärts her, daß
die verschiedenen Arten von Akten, die hierbei analysiert werden, keines-
wegs bloß als beliebige Exempel ausgewählt sind, sondern daß gerade an
ihnen sich erweisen läßt, wie in allem aktuellen Ich-bin, Ich - vollziehe -
jeweils -diesen -und -jenen -Akt, bereits das gesamte transzendentale Erfäh-
rungsfeld impliziert ist. Sie stellen also den Weg dar, auf dem in diesem
Texte die Lehre von den intentionalen Implikationen entwickelt wird
(S. 153).

Diese Lehre ist von zentraler Bedeutung, nicht nur weil erst in ihr der Begriff
der Welt im Husserlschen Sinne deutlich wird, sondern weil sie auch zeigt, daß
transzendentale Subjektivität als der Ort letzter Begründung nicht aufgeht in der
„Aktuosität" des Bewußtseins u, und nicht auf sie aller „Sinn" und alle „Bedeutung"
als nur konstituiert zurückgeführt wird. Dieser Anschein entsteht vielmehr durch
eine von Husserl nicht behobene Zweideutigkeit im Begriff der Konstitution und
des konstitutiven Leistens. Zu erörtern, welche Konsequenzen sich für die Frage

13 Vgl. dazu auch die aus späterem Rückblick stammenden Bemerkungen in VI,
157 f.
14 Vgl. dazu Henrich , aaO, S. 20.

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 153

nach der „Geltung" der logischen Relationen ergeben, wenn diese Zweideutigk
erst einmal durchschaut ist, würde hier zu weit führen.

Die systematische Bedeutung dieses Teiles beruht also in folgendem: e


war zunächst behauptet, daß nach der Reduktion auf die „apodiktische"
denz des Ich -bin nach Kritik der mundanen Erfahrung nicht nur ein l
punktuelles Bewußtsein zurückbleibt, sondern das Bewußtsein „ich
und bin diese Welterfahrung erlebend" (S. 81). Es ist also zu zeigen,
im jeweiligen Akt des Erfahrens, das zuunterst als Erfahrung von welt
Seiendem ein W ahrnehmen ist, nicht nur j eweils j etzt dieses und j enes wa
genommen ist, sondern wie in diesem aktuellen Wahrnehmen als ei
Gegenwärtigen eines Seienden, im „Selbst da" seiner sinnlichen Gegeben
heit bereits Welterfahrung impliziert ist. Das aktuelle Wahrnehmen
nämlich bewußt als ein Moment im Strom wahrnehmender Erfahrung.
ist ineins Bewußtsein vom soeben Wahrgenommenen und Erwartung
sogleich Kommenden - ein Zusammenhang, der zum erstenmal in
Vorlesungen über das Zeitbewußtsein ausführlich dargestellt wurde 15 .
Dort zeigt sich bereits, daß der Bereich der Synthesis im Bewußtsein viel ti
reicht, als dies in der Tradition gesehen wurde, und nicht nur die Verknüpfung
Aktfolge im Ablauf des Bewußtseins betrifft. Schon von daher ist Husserls entsc
dende Differenz gegenüber Kant zu verstehen, die zu erörtern freilich die Auf
einer eigenen Untersuchung wäre. Es kann hier nur darauf hingewiesen werd
daß es Husserl mit diesen Analysen gelingt, in eine Dimension des Bewußtseins
zudringen und Fragen zu beantworten, von denen Kant sagt „Das Wie? läßt
hier ebensowenig weiter erklären, als wie wir überhaupt das Stehende in der
denken, dessen Zugleichsein mit dem Wechselnden den Begriff der Veränderung
vorbringt" 1#.

Das aktuelle Bewußtsein als ein gegenwärtigendes impliziert also


sich bereits Vergegenwärtigung, die ihrerseits jederzeit in einen aktuel
Akt des Sicherinnerns oder des Ausmalens in Erwartungen übergefü
werden kann. So „weiß" ich in jedem aktuellen Ego cogito bereits „
meinem transzendentalen Sein oder Leben in Vergangenheit und Zukun
(S. 84). Dieses „Wissen" ist im gegenwärtigenden Bewußtsein immer sch
mit beschlossen, die Tatsache des vermeinten Erinnerns bzw. Sicherinner
könnens gehört zu seinem auf bloße Meinung unter Ausschaltung ih
Geltungsanspruchs reduzierten und phänomenologisch gesicherten
stand. Sie ist die Voraussetzung dafür, daß dann überhaupt gefragt w
den kann, ob und inwieweit die Erinnerung etwa täuscht und korrig
werden kann. Auf diesen vergegenwärtigenden Modi des Bewußts
15 Edmund Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewu
seins, hersg. v. Heidegger, Jahrbuch f. Phil. u. phän. Forschg., IX, 1928. (Die
lesungen wurden zum Teil bereits 1904/05 gehalten.)
18 Kritik d. r. V. B Einleitung, Anm. S. XLI.

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154 Ludwig Landgrebe

beruht es, daß die Evidenz des Ich -bin nicht


tuelle jetzt gegenwärtigende Bewußtsein, s
Bewußtsein von einem Zusammenhang des Erf
sich in Vergangenheit und Zukunft hineine
Erstreckung Bewußtsein von einer in ihm ver
Welt ist.
Aber es gibt nicht nur diese Akte des Reales vermeintlich wahrnehmen-
den Bewußtseins und der zugehörigen Erinnerungen und Erwartungen.
Sie sind als positionale Akte unterschieden von den quasi -positionalen
(S. 115) Akten der Phantasie oder eines mit realer Wahrnehmung ver-
bundenen Antizipierens und evtl. Ausmalens von Möglichkeiten. Das Be-
wußtsein ist nicht nur Bewußtsein von realem in der Welt Seiendem, son-
dern auch Bewußtsein idealer Gegenstände und Beziehungen, der logi-
schen, mathematischen etc., aber immer auf dem Grunde des Weltbewußt-
seins, denn auch alle idealen Welten der Wissenschaft, Kunst etc. und
ihrer Gebilde gehören mit zu unserer Welt. Bedenkt man nun, daß es sich
dabei nicht nur um Bewußtsein von faktischen, sondern auch von reinen
Möglichkeiten handelt, daß die Wesenseinsichten durch ein freies Variie-
ren des im gegenwärtigenden Erfahren faktisch Gegebenen gewonnen
werden, und daß im Lichte solcher schon immer irgendwie verstandenen
Allgemeinheit das Seiende bereits immer vorweg aufgefaßt ist als „ein
Mensch", „ein Tier" usw., so zeigt sich, welche Bedeutung dieser Analyse
der vergegenwärtigenden Akte zukommt und in welchem Maße Ver-
gegenwärtigung und Phantasie zur Konstitution von weltlicher Reali-
tät gehören. Sie als jeweils im aktuellen Bewußtsein schon immer impli-
zierte oder als das Hintergrundbewußtsein des „wenn ich in meiner Er-
fahrung so und so weitergehe ..." machen es aus, daß dieses Bewußtsein
des Ich-bin als ein erfahrendes schon immer das Bewußtsein „ diese meine
Welt ist " impliziert . Aber noch mehr, zu diesem Strom meines Erfahrens
gehört auch die Erfahrung von den Anderen, nach Husserls Darstellung
als eine nicht- gegenwärtigende. Gegenwärtigend wahrnehmend sind nur
die Leiber der Anderen gegeben und in ihnen indiziert ein Bewußtsein
„wie meines", das auch wie ich auf die gleiche Welt gerichtet ist und sie
erfährt. Dieses Wissen um den Anderen ist also Leistung einer ausgezeich-
neten Gruppe nicht gegenwärtigender, sondern vergegenwärtigender Akte,
auf Grund deren die von mir erfahrene Welt mir nicht nur als meine,
sondern als die gemeinsame Welt gilt. In der Erfahrung der Welt ist also
impliziert die Erfahrung der Menschheit als umfassender personaler Wir-
kungs gemeinschaft (S . 127).
Daher zeigt sich als Ergebnis dieser Überschau über das transzendentale
Erfahrungsfeld, daß es wirklich ein Feld und ihr Korrelat die Welt als

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 155

vermeinte ist; und es zeigt sich, daß die reduktive Analyse des ei
Aktbewußtseins nicht bei diesem stehenbleiben kann, sondern da
das in jedem Aktbewußtsein schon immer implizierte Horizontbewuß
hineinführt. Soll also wirklich phänomenologische Reduktion vo
werden, in der alle vorausgesetzte Objektivität außer Geltung
wird, so kann sie sich nicht nur auf die einzelnen Akte beschränken
dern muß das in jedem Aktbewußtsein implizierte Horizontbewu
mit einbeziehen, das letztlich Bewußtsein von Welt als Gesamth
ist. Sie muß also diese verborgene, im einzelnen Akt implizierte
geltung der Welt vorweg außer Kraft setzen (S. 153). Daher erforder
Analyse des Bewußtseins der einzelnen Aktarten ein e Analyse des Hor
bewußtseins (S. 146-164). Mit ihr schließt der zunächst als Übe
bezeichnete Teil, und erst mit ihr ist das Reich der transzendentalen
fahrung in seinem vollen Umfang zugänglich geworden (S. 146).
sich dabei gezeigt, daß auch der Versuch, die Reduktion zunächst
den einzelnen Akten durchzuführen, mit dem dieser Teil begann, er
als ein Weg zum transzendentalen Erfahrungsfeld angesehen w
kann, wenn nicht nur die Position des in ihnen jeweils als seiend Ge
außer Geltung gesetzt wird, sondern ihr Gesamthorizont, das S
Welt „eingeklammert" wird. So führt auch dieser Weg, zu Ende geg
zu dem gleichen Ergebnis wie der erste, nur daß auf ihm die Fra
antwortet werden können, die auf dem ersten offengeblieben waren
Im vorliegenden Text geht der Gedankengang freilich nicht diesen bru
Weg. Die Notwendigkeit, auch die Horizonte einzuklammern, um vom e
Akt zum transzendentalen Erfahrungsfeld zu gelangen, zeigt sich erst hint
sein Ergebnis und wird zunächst motiviert durch eine allerdings später wider
Erwägung, ob nicht die versuchte Reduktion an den einzelnen Akten mit ihr
thesen und Korrelaten eben die bloß psychologische Reduktion ist, und du
Frage, wie sich diese von der transzendental-phänomenologischen unter
(S. 142). Davon muß hier abgesehen werden.

Die Bedeutung dieser Analyse des Horizontbewußtseins und de


sicht in die Notwendigkeit, daß auch dieses in seinem vollen Um
den Umsturz der Reduktion einbezogen werden muß, die Husserl als
der wichtigsten Entdeckungen dieser Vorlesung angesehen hat,
mehrfache. Sie begründet die Behauptung, daß Welt und nicht nur
des in der Welt tatsächlich erfahren ist. Sie ist freilich nicht erfah
erfahrbar als ein Gegenstand neben anderen Gegenständen der Erfa
oder als das All der erfahrenen und möglicherweise erfahrbaren
stände - als solche ist sie „Idee" -, aber sie ist schon immer erfahren
ihrem Sein geglaubte, als der unbestrittene Horizont des „Undso
unserer Erfahrung. Das Bewußtsein ist nicht nur Bewußtsein von di

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und jenem in der Welt Seienden, sondern e


dieser seiner Aktualität immer zugleich W
mit dieser Lehre von der Implikation des Ges
zelnen aktuellen Bewußtsein, sei es Aktbewuß
sein, ein wesentlicher Schritt über die gesamt
Bewußtseinstheorie hinaus gemacht, der diese
stellung und den dadurch entstehenden Apori

Insbesondere für die Beurteilung des Verhältn


Kantschen Transzendentalphilosophie ergibt sich
das „diskursive", das Einzelne durchlaufende un
pieren ist, das zur Totalität der Erfahrung nur als e
gelangt. Das Erfahren hält sich vor aller Diskursi
immer im Ganzen als dem Horizont der Welt, der
könnens und des erinnernd in Vergangenheit Zu
wußtsein nicht nur begleitet, sondern vielmehr d
Horizontbewußtseins kann hier nicht erörtert werden. Dieser Horizont ist als ein
offener bewußt in einer unbestimmten Offenheit, „ohne eigentliche Grenzen, und
doch begrenzt und veränderlich begrenzt" (S. 467), in einer Offenheit also, die für
das unmittelbare Haben von Welt weder als Bewußtsein einer endlichen noch als das
einer unendlichen Offenheit bezeichnet werden kann, so daß dieser Begriff von Welt
als offenem Horizont nicht unter die Antinomie der aus der Reflexion stammenden
Begriffe „endlich" und „unendlich" fällt.

Auf der anderen Seite bedeutet diese Entdeckung ein Motiv , das für
die weitere Entwicklung von Husserls Denken zum Spätwerk hin von
größter Bedeutung ist. Wird auch hier zunächst die Lehre von den Impli-
kationen an dem Bewußtsein der Wahrnehmung und des in ihr wesenhaft
implizierten Vergegenwärtigungsbewußtseins ausgeführt, so zeigt sich
doch schon, daß der Horizont der Welt nicht nur Horizont des aktuell
Wahrgenommenen und Wahrnehmbaren ist, sondern als Horizont einer ge-
meinsamen Welt impliziert er in sich all die Meinungen und „Vorurteile",
Schemata des Auffassens und der Normierung, die auf sein geschichtlich -
gemeinschaftliches Gewordensein verweisen ; nicht minder auf das Gewor-
densein der in dieser Welt schon maßgeblichen Fragestellungen und
Fragerichtungen der Wissenschaften, die selbst zum Horizont dieser Welt
gehören, und durch die sie schon immer in einem bestimmten Lichte ver-
standen ist. So ist durch diese Einsicht eine doppelte Problemstellung moti-
viert , die von Husserl erst im Spätwerk in Angriff genommen wird 17, ein-
mal der Rückgang von dem schon wissenschaftlich interpretierten Welt-
horizont in die Bedingungen seiner Bildung aus der vorwissenschaftlichen
und außerwissenschaftlichen Auseinandersetzung der Subjektivität mit

17 Zur Interpretation des Spätwerkes vgl. A. Gurwitsch , The last work of E. Hus-
serl, Philosophy and phenomenological Research, XVI, 1956, S. 380 ff.

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 157

ihrer Welt - m. a. W. der Rückgang auf die „Lebenswelt" - zum and


-die Frage nach den Bedingungen dieses Werdens als eines geschichtlich
Werdens.
Ist also der Horizont ein Horizont absoluter Erfahrung und als solcher
der Horizont je meines Ich, so kann sich die Analyse des Horizontbewußt -
seins nicht darauf beschränken, die allgemeinen Strukturen von Horizont
in ihrer Bedeutung für die Konstitution der Welt freizulegen in allen Stu-
fen von der vorwissenschaftlichen zur wissenschaftlich ausgelegten Welt,
sondern sie verschärft sich zur Frage nach diesem bestimmten geschicht-
lichen Ego in seiner bestimmten geschichtlichen Herkunft, und das heißt
zur Frage nach dem geschichtlichen Horizont dieses „ ich bin", das sich
^um Ziele eine solche apodiktische Begründung und Rechtfertigung stellen
kann, also nach dem Horizont der abendländischen Wissenschaft, Philoso-
phie und Weltgewißheit. Das sind freilich Perspektiven, die von Husserl
erst in späteren Jahren ausgearbeitet werden, und die sich zunächst nur in
seinem Bewußtsein um die Unabgeschlossenheit des Weges dieser Vor-
lesung ankündigen.
Im Rückblick auf den bisherigen Gang der Vorlesung (S. 169) stellt er
fest, daß mit der Forderung, jede Objektivität auszuschalten und die Re-
duktion auch auf die verborgenen, nur als Horizont noch dunkel mitwir-
kenden objektivierenden Meinungen und Überzeugungen auszudehnen,
noch nicht das Ziel einer apodiktischen Begründung der transzendentalen
Subjektivität als eines Feldes absoluter Erfahrung erreicht ist, sondern
daß die Aufgabe einer apodiktischen Kritik der transzendentalen Erfah-
rung noch zu leisten bleibt. In der Tat hat er diese Kritik nirgends durch-
geführt - aus dem einfachen Grunde, weil sie im alten Sinne als Begrün-
dung eines Anfangs ein für allemal nicht durchführbar ist. Die völlige
Klarheit hierüber hat Husserl freilich erst im Zusammenhang mit den
Arbeiten an der „Krisis" erlangt. In einer wichtigen Reflexion von 1955
{VI, 508) lesen wir: „ Philosophie als Wissenschaft , als ernstliche, strenge,
ja apodiktisch strenge Wissenschaft - der Traum ist ausgeträumt Das
Wort steht im Zusammenhang eines Textes, welcher der Frage gilt, „wie
bedarf es der Geschichte" für die radikale philosophische Besinnung? Es
zeigt sich hier, wie die Verabschiedung der Leitidee der apodiktischen Wis-
senschaft Hand in Hand geht mit der entschiedenen Zuwendung zur ge-
schichtlichen und geschichtsphilosophischen Begründung des Weges der
Besinnung. Sie ist kein Bruch mit Husserls früheren Ansätzen, sondern
die Konsequenz aus dem Programm einer letzten Begründung philosophi-
scher Wahrheit auf „absolute Erfahrung". Erst die Analyse des Horizont -
"bewußtseins, das als Bewußtsein von Welt zum jeweils vollzogenen Akt-
bewußtsein untrennbar gehört, und die Feststellung, daß auch dieses in

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158 Ludwig Landgrebe

den „Umsturz", in die reduktive Einklamm


muß, hat den Weg zu dieser Konsequenz eröff
aus dem Horizont hereinwirkenden selbstve
die zuvor als solche ungeprüft übernomme
Selbstverständlichkeit der Überzeugung von d
gangs von der Evidenz des Ich-bin in Frage st
tigen. Aber das ist nicht möglich in einem
Wesen des Bewußtseins und seines intentionalen Leistens und Weltbil-
dens - ein Weg, der für Husserl in dem Augenblick ungangbar wurde, in
dem an die Spitze die Forderung gestellt wurde, jede Rechtfertigung und
Verantwortung auf absolute Erfahrung und auf das Subjekt absoluter
Erfahrung zu gründen. So erfolgt auch die Begründung im Krisis-Werk
in ganz anderer Weise, nämlich in der Rückbesinnung auf die Vor-
geschichte dieser Forderung in der europäischen Wissenschaft und Philo-
sophie, die sie als das Telos dieser Geschichte erweisen soll 18. So kann man
sagen, daß die geschichtsphilosophische Begründung der Phänomenologie
im Krisis-Werk die in dieser Vorlesung noch leer gebliebene Stelle ausfüllt. ,
die durch die Unerfülltheit der Forderung einer apodiktischen Kritik ge-
blieben ist. Diese Ausfüllung ergibt sich nicht auf Grund einer neuenWen-
dung, sondern als Konsequenz aus Husserls Rückgang auf „absolute Er-
fahrung". Es ist also nicht zuviel gesagt, wenn behauptet wird, daß in die-
sem Rückgang, wie er in der „Ersten Philosophie" zum ersten Male er-
folgt, das Motiv liegt, das in seinen Konsequenzen zur Sprengung des
Spielraumes führt, in dem sich das metaphysische Denken der Tradition
und insbesondere ihrer neuzeitlichen Cartesianischen Gestalt gehalten hat.
Husserl selbst ist sich freilich der Tragweite dieses Bruchs mit der Tradi-
tion nie in vollem Umfang bewußt geworden. Er spielt sich in seinen von
der „Ersten Philosophie" ab einsetzenden unablässigen Bemühungen um
die Begründung der Phänomenologie sozusagen hinter seinem Rücken ab.
Zum Verständnis der Bedeutung dieser Entwicklung in Husserls Denken, und die
in ihr angelegten Konsequenzen weiterbedenkend, muß folgendes gesagt werden.
Diese geschichtliche Begründung kann selbstverständlich keine apodiktische im alten
Sinne mehr sein, nämlich keine aus ewigen Wahrheiten und Vernunftnotwendig-
keiten herzuleitende; es ist vielmehr die Begründung auf ein geschichtliches Fak-
tum und auf die Bereitschaft, den „Entschluß" des Philosophen, zu der in ihm ange-
botenen Möglichkeit Ja zu sagen und sie zu ergreifen. Ohne daß Husserl dies aus-
führt, würde man seine geschichtsteleologische Begründung der Phänomenologie
mißverstehen, wenn man sie als eine „dogmatische", theoretisch zu begründende
These über den Gang der Geschichte auffassen wollte. Sie hat vielmehr durchaus
den Sinn eines „regulativen", das Handeln und die Haltung des Menschen bestim-

18 Vgl. dazu auch Stephan Strasser , Das Gottesproblem in der Spätphilosophie


Edmund Husserls. Philos. Jahrbuch, 67. Jahrg., S. 130 ff.

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 159

menden Prinzips. Denn der Entschluß zur Reduktion ist als Entschluß des „
fangenden Philosophen" ein Willensakt, und bedeutet in diesem Sinne eine „vö
personale Umwandlung". Diese Teleologie der Geschichte wird nur entdeckt, w
sie in den Willen des sich Besinnenden aufgenommen wird, der damit dieses
eigenes Dasein begründende Faktum übernimmt. Insofern ist die Teleologie
Idee, aber nicht eine in einem absoluten Bereich zu schauende, sondern eine d
die eigene Geschichte gestellte und im Entschluß ergriffene Aufgabe, so daß
Entschluß zu ihrer Übernahme als einer gegebenen jedes Moment der Willkür
geht. So stellt sich heraus, daß die „absolute Erfahrung", auf die sich alle Ver
wortung und Rechtfertigung des Lebens gründet, eine geschichtliche Erfahrung
Ihre Absolutheit und Endgültigkeit beruht nicht auf einer Erkenntnis einer an
seienden Wahrheit, nicht auf dem Ergreifen oder Uberwältigtwerden von e
„ewigen Wahrheit", sondern sie ist absolut im Sinne des Gestelltseins vor eine
übersteigliche und nur hinzunehmende Faktizität. Die Begründung ist eine
gültige in dem Sinne, in dem der Entschluß zu ihrer Übernahme „so soll es se
Abschluß von Erwägungen und damit endgültig ist. Dies allein kann der Sinn e
absoluten Begründung sein, nachdem sich das Ideal ihrer Apodiktizität als uner
bar erwiesen hat.

Daß der Empirismus und Positivismus mit seinen skeptischen Konse-


quenzen der dauernde Begleiter der Metaphysik ist, worauf Husserl im-
mer wieder hinweist, das liegt an der Unmöglichkeit, auf ihrem Boden
diese Wendung zu vollziehen, mit der dem legitimen Anliegen, das er zur
Geltung zu bringen suchte, erst sein ihm selbst verborgen gebliebenes
Recht werden kann. Wenn die Kennzeichnung der Phänomenologie als
eines „transzendentalen Positivismus" 19 einen begründbaren Sinn haben
soll, muß er in diesem Zusammenhang gesucht werden.
Zu dem möglichen Einwand, daß eine solche, die Konsequenzen weiter-
ziehende Interpretation dem Husserlschen Werke Gewalt antäte, ist dar-
auf hinzuweisen, daß sie allein es ermöglicht, die Kontinuität und innere
Logik in der Entwicklung des Husserlschen Denkens von den „Ideen" über
die „Erste Philosophie" bis zum Spätwerk der „Krisis" zu begreifen. Vor-
bereitet ist der Weg zu einer geschichtlichen Begründung der Phänomeno-
logie allerdings schon lange in der Bedeutung, die Husserl der Betrachtung
der Philosophiegeschichte beimißt, die er freilich des öfteren als seine
„Mär", zuletzt als seine „Dichtung der Philosophiegeschichte" (VI, 513)
bezeichnet hat, mit der die Phänomenologie in der Verweisung auf frühere
Ansätze als die „geheime Sehnsucht" der europäischen Philosophie erwie-
sen werden soll. Aber diese Betrachtung hält sich nicht nur in seinen son-
stigen Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, sondern auch im
historischen Teil der „Ersten Philosophie" vorwiegend im Rahmen der
reinen Philosophiegeschichte; erst in der „Krisis" mit ihrer Genealogie

19 Vgl. W. Szilasi , Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls , Tübin-


gen 1959, S. 116 f.

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150 Ludwig Landgrebe

des „Objektivismus" als der Grundhaltung


gründung der Notwendigkeit der Phänomeno
weltgeschichtlichen und kulturkritischen Asp
tische Begründung, die für Husserl in den
ren nach dem ersten Weltkrieg im Zentrum
mal systematisch zusammengeschlossen mi
rung des europäischen Menschentums". Sich
len" Wendung für Husserl die Auseinander
und Zeit" nicht ohne Einfluß gewesen, aber si
verstanden werden. Das Thema war in den
früher, wenn auch nur sehr allgemein beha
dieser letzte Schritt Husserls nicht aus eine
kens - nur seine Möglichkeit ist durch die Pr
sophie" eröffnet worden - es waren vor allem
rungen der dreißiger Jahre, in denen Hus
wurde, daß der „Zusammenbruch" mehr b
krisis der Wissenschaften, daß er vielmehr n
Grund eines geschichtlichen Zusammenbru
schentums". Und wo gäbe es einen großen D
geschichtlichen Erfahrungen seine letzten un
halten hätte?

Kehren wir nach diesem Ausblick auf die Perspektiven, die durch die
Entdeckung der Horizontstruktur des Bewußtseins eröffnet wurden, zum
Text der Vorlesung selbst zurück. Die Aufweisung der Horizontstruktur
diente in ihrem Zusammenhang dem Nachweis, daß es sich bei dem durch
die Reduktion gewonnenen „absoluten" Boden des Ich-bin nicht nur um
die punktuelle Evidenz des gerade vollzogenen Ichaktes handelt, sondern
daß mit ihm einFeld transzendentaler Erfahrung gewonnen ist. Das heißt,
die Forderung, die reduktive Einklammerung auch auf das im Horizont
eines jeden Aktes implizierte Weltbewußtsein zu erstrecken, bedeutet
nicht, daß nach dieser Einklammerung nur das punktuelle Jetzt des Ich-bin
übrigbliebe, sondern die im Horizontbewußtsein mitgegebene Welt bleibt
als vermeinte in der Klammer erhalten. Es bleibt das Ich-bin mit seinem
Bewußtsein von vermeinter Welt, es bleibt dieser Strom seines vermein-
ten Welterfahrens - wie immer es sich mit dem wahrhaften Sein der in

ihm vermeinten Welt verhalten mag. Auf dieses strömende Erfahren rich-
tet sich die phänomenologische reflektive Erfahrung, die also nicht einfach
Erfahrung von Welt ist, sondern reflektive Erfahrung des Weiter fahr ens,
und das sagt, der Konstitution von vermeinter Welt in meinen Erfahrungs-
leistungen. Sie ist das nach der Reduktion Verbleibende und absolut Ge-

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 161

gebene, und im Hinblick auf diese Leistungen kann allein über Sinn,
lichkeit und Grenzen jeder zu erlangenden Wahrheit von Seiende
schieden und sie verantwortet werden.
So verstanden kann die durch die Reduktion gewonnene transzendentale
Subjektivität im Sinne der Tradition eigentlich nicht mehr als Subjektivi-
tät bezeichnet werden . Sie ist vielmehr nichts anderes als die unzertrenn-
liche Einheit von Welterfahren und seinem intentionalen Korrelat , der in
ihm erfahrend vermeinten Welt, in der erst die Unterscheidung von „sub-
jektiv" und „objektiv", von „innen" und „außen" im herkömmlichen
Sinne den Grund ihrer Möglichkeit hat. So ist also das, was nach der Re-
duktion verbleibt, nicht nur die Gewißheit vom einzelnen in lebendiger
Gegenwart vollzogenen Ich- Akt, der allein unmittelbar gegebenen Lebens-
gegenwart (S. 175), sondern Gewißheit von dem Gesamthorizont als der
immer schon mitvermeinten Welt als vermeinter, und in diesem Sinne von
der „Allheit eines endlosen Lebenszusammenhangs" (S. 153). Dieses Ho-
rizontbewußtsein als ein Leerbewußtsein kann umgewandelt werden in
ein „umfassendes Gesamtbewußtsein".

Daher heißt in der Reduktion „mein Leben überschauen ... in eins damit und
in korrelativer Wendung: die Welt überschauen, die, in freilich vielfältiger Wand-
lung des Inhaltes in meiner Intentionalität, in meinen Urteilsgewißheiten und -Wahr-
scheinlichkeiten, in meinen Wertsetzungen und Handlungen gestaltete und immer
neu umgestaltete Welt" (S. 157). Freilich handelt es sich dabei „nicht ernstlich um
eine Schau, nicht um eine wirkliche Reproduktion des vergangenen Lebens in einer
Kontinuität expliziter Wiedererinnerungen . . . und . . . um eine explizite Aus-
malung der Vermutlichkeiten und Möglichkeiten meines zukünftigen Lebens .
(S. 155), vielmehr um die allgemeinen Wesensstrukturen dieses leistenden, welt-
bildenden Lebens, insbesondere um die „wesensmäßige Eigenart meines Lebens, daß
es in jeder Gegenwartsphase ein wenn auch leeres - Fernbewußtsein, ein Horizont-
bewußtsein hat und fortströmend immer neu erzeugt" (S. 161). Auf diese Weise
„gewinne ich das reine universale Leben , und das weltliche Universum verwandelt
sich in die universale intentionale Gegenständlichkeit als solche" (S. 162). In dieser
Weise eröffnet also die Reduktion „ein neues Reich der Erfahrung" (S. 165).

Damit schließt der zentrale Teil der Vorlesung. Auf ihren Abschluß
(S. 1 64 ff.) ist nur noch kurz einzugehen. Er hat den Charakter eines Rück-
blicks auf die gewonnenen Ergebnisse und bekräftigt zunächst die Not-
wendigkeit des egologischen Charakters der bisherigen Betrachtungen
durch eine weitergeführte Analyse der Fremdwahrnehmung, in der der
Andere niemals als Anderer „selbst da", sondern nur in seiner Leiblichkeit
als einem Objekt in der Welt indiziert ist. Aber es bleibt damit nicht bei
einem Solipsismus, der nur ein methodischer Durchgang ist. Denn gerade,
wenn nach der Wahrheit des Seins alles vermeintlich Seienden am Maß-
stabe des Selbst -daseins gefragt wird, und wenn der Andere als Anderer

11 Philosophische Rundschau 9. Heft 2/3

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162 Ludwig Landgrebe

diesem Maßstab nicht standhält, so ist dies


¡eine echte Transzendenz gegenüber dem jew
sammenhang besteht, die ihre eigene Weise
durchhalten der Apperzeption „Anderer" im V
S. 495). Es geht also „absolutes Sein", und das
dender absoluter Erfahrung, die transzendent
der jeweils eigenen, in der phänomenologische
jektivität und ihren weltkonstituierenden L
Universum transzendentaler Subjekte, das
„Das einzige absolute Sein ist aber Subjektsein, a
Konstituiertsein, und das gesamte absolute Sein ist
Subjekte, die miteinander in wirklicher und mö
führt die Phänomenologie auf die von Leibniz in gen
dologie" (S. 190, vgl. auch 482 ff.).

IV

Leitet damit aber die Phänomenologie nicht über in eine spiritualisti -


sehe Metaphysik und Vollendung des neuzeitlichen Rationalismus, obwohl
doch Husserl auf der anderen Seite den „Dogmatismus" der Leibnizschen
Metaphysik kritisiert (VII, 366); und wie ist damit die Behauptung ver-
träglich, daß gerade in dieser Vorlesung die Erfahrung des Scheiterns die-
ser Metaphysik gemacht wird? In der Tat hat Husserl diese These über die
transzendentale Subjektivität als das absolute Sein, die schon in den
„Ideen" aufgestellt und auch in den Cartesianischen Meditationen von
1930 festgehalten wurde, niemals revoziert. Sie war es aber, die schon
nach dem Erscheinen der „Ideen" den Widerspruch der Göttinger Schüler
Husserls herausforderte, die sich weigerten, diese Wendung zum „Idealis-
mus" mitzu vollziehen. War dieser Widerstand auch vielfach mit unzu-
länglichen Argumenten begründet, die aus dem Arsenal des erkenntnis-
theoretischen „Realismus" stammten, so lag ihm doch das berechtigte
Bedenken zugrunde, ob diese Wendung das letzte Wort sein müßte, zu dem
der phänomenologische Ansatz führt. Eine kritische Prüfung der Begrün-
dung dieser These wird also zugleich die Aufgabe haben, den berechtigten
Kern dieser Bedenken herauszuschälen. Sie muß ausgehen von dem Wi-
derspruch, der darin liegt, daß der Gedankenzug der „Ersten Philosophie"
die erwähnten Momente enthält, deren Konsequenz dazu führen müßte,
die These über die transzendentale Subjektivität als das absolute Sein in
Frage zu stellen, daß aber Husserl diese Konsequenz nicht gezogen hat,
so daß sein Abschied von der Metaphysik nicht ans Ende gekommen ist.
Hierin liegt der Grund aller Schwierigkeiten, vor die sich von jeher die
Husserlinterpretation gestellt sah, daß nämlich sowohl der Charakter der

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 16Ò

Absolutheit der transzendentalen Subjektivität wie auch der davon h


zuleitende Sinn der grundlegenden „operativen" Begriffe, mit den
Husserl arbeitet, wie Konstitution, Leisten, transzendentales Leben i
einer Schwebe geblieben ist, die einander widersprechende Deutunge
herausforderte 20 . Eine kritische Stellungnahme muß sich daher bemüh
den Grund dieser Unklarheiten herauszufinden, und zwar als einen sol-
chen, der sich schon im Gang von Husserls Analyse selbst zeigen läßt,
und den aufzuweisen es daher nicht einer von außen herangetragenen
argumentierenden Kritik bedarf.
Es ist also zunächst zu fragen, welche Gedankengänge in der Vorlesung
es sind, in denen die Begründung für die These über das absolute Sein der
transzendentalen Subjektivität zu suchen ist. Die Aufweisung des Hori-
zontbewußtseins hatte zur Einsicht geführt, daß die unmittelbare Evidenz
des Ich -bin nicht nur Evidenz von dem jeweils jetzt vollzogenen Akt mit
seinem intentionalen Korrelat ist, sondern daß sie immer schon Bewußt-
sein von vermeinter Welt in sich impliziert, und daß daher durch die Re-
duktion die Subjektivität als Feld der phänomenologischen Erfahrung er-
schlossen wird. Es folgt daraus aber noch nicht, daß dieses Feld der tran-
szendentalen Erfahrung ein Feld absoluten Seins ist. Diese These gründet
vielmehr in Husserls Auffassung von Wesen und Leistung der phänomeno-
logischen Reflexion. Läßt sich zeigen, daß diese Auffassung der Kritik
nicht standhält, dann wird mit ihr auch die These über die transzendentale
Subjektivität als das absolute Sein hinfällig. Husserls Theorie der Reflexion
ist als Exkurs in das Kernstück der Vorlesung eingeschoben21. Ihre Erörte-
rung, die bisher aufgeschoben wurde, um die Darstellung des geschlos-
senen Gedankengangs nicht zu unterbrechen, muß also nachgeholt wer-
den, um den Ausgangspunkt für die kritische Betrachtung zu gewinnen.
Dazu sind zunächst die Grundgedanken dieser Theorie kurz zusammen-
zufassen.

Eine erste Besinnung gilt der allgemeinen Struktur der Reflexion, die
wieder an dem „einfachen" Beispiel der äußeren Wahrnehmung dar-
gestellt wird. Wahrnehmend bin ich auf das Wahrgenommene gerichtet.
Das wahrnehmende Ich ist dabei im Zustand der „Selbstvergessenheit",
oder, wie sich Husserl korrigiert: es ist latent. Es kann sich aber jederzeit,
indem es noch weiter wahrnimmt, auf sein Wahrnehmen zurückwenden,
das es als Soeben- wahrgenommen- Haben noch retentional bewußt hat. Es
vollzieht damit das ausdrückliche reflektive Bewußtsein „ich nehme

20 Vgl. E. Finky Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie , Zeitschr. für


philos. Forsch ff. XI, 1957, S. 521 ff.
21 S. 87-111; die Analyse ist weitergeführt in der Kant-Abhandlung von 1924,
VII, S. 259 ff.

11 *

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1Ö4 Ludwig Landgrebe

wahr", wobei das vordem latente Ich des Wahr


Die Reflexion ist also ein „Nachgewahren" (S
das reflektierende Ich vollziehendes eines Aktu
Ich zum Objekt des Aktus, zum intentionalen
die Reflexion vollziehende Ich seinerseits latent und kann in einer höher -
stufigen Reflexion zum patenten werden. Wesentlich ist dabei aber, daß
das Vollzugs -ich im Vollzuge seiner Akte immer latentes Ich bleibt. So
haben wir in der lebendigen Gegenwart, z. B. eines Wahrnehmungsverlau-
fes „in Koexistenz das verdoppelte Ich und einen verdoppelten Ichaktus,
also das Ich, das jetzt kontinuierlich das Haus betrachtet, und das Ich, das
den Aktus vollzieht: ,ich werde dessen inne . . . 4 " (S. 89). Dies führt aber
keineswegs zu einem unendlichen Regreß der Reflexion, vor der das voll-
ziehende Ich sozusagen ständig davonliefe, sondern weil sich das voll-
ziehende Ich, das „Subjekt -Ich" mit dem Objekt -Ich als dem Gegenstand
seiner Reflexion identisch weiß, folgt daraus, daß diese mögliche Iteration
außer Betracht bleiben kann, weil sie zu nichts Neuem, sondern immer wie-
der zu demselben mit sich identischen und um seine Identität wissenden
Ich führt. So läßt sich also sagen, „daß die vielen Aktpole in sich evident
dasselbe Ich sind oder ein und dasselbe Ich in allen diesen Akten seine Auf-
tritte hat . . ., daß Ichleben in Aktivität durchaus nichts anderes ist als ein
Sich-immerf ort -in-tätigem-Ferhalten- spalten . . ." (S. 91). Die Reflexion
ist also dargestellt als das zum intentionalen Gegenstand -Machen des vor-
dem latenten Ich. Das Ich-Subjekt wird damit zum intentionalen Objekt
$ einer eigenen Betrachtung.
Soviel über die Struktur der Reflexion im allgemeinen. Was nun die
natürliche, mundane Reflexion von der phänomenologischen unterschei-
det, ist dies, daß die mundane Reflexion jederzeit im Zuge eines Interesses
am Sein des Gegenstandes erfolgt (S. 95), auf den das Ich vordem gerade -
3iin gerichtet war, z. B. in der Wahrnehmung suche ich mich von Sein und
Sosein des vermeintlich Wahrgenommenen zu vergewissern durch die
xeflektive Besinnung „was habe ich wirklich gesehen?" etc. Das Wahr-
nehmen setzt dabei seinen intentionalen Gegenstand als wirklichen ; es ist
positionales Bewußtsein und steht damit auf dem Boden der „ General -
thesis" des Weltglaubens, es vollzieht ihn mit und dient den Zielen welt-
licher Erfahrung. Sie beruhigt sich, wenn sie sich von dem Erfahrenen
eine für ihre Ziele zulängliche Gewißheit beschafft hat. Die phänomeno-
logische Reflexion dagegen hat vorweg diesen Glauben außer Spiel ge-
setzt ; sie lebt rein im Interesse am subjektiven Ablauf des Vermeinens
xind am Vermeinten als solchen als dem Korrelat des Vermeinens, ohne
die ihm zugehörige Position mitzuvollziehen. Für sie ist „nichts da als das
rein Subjektive, und mein theoretisches Interesse betätigt sich in der Be-

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 155

trachtung und Bestimmung dieses rein Subjektiven und seiner rein imma
nenten Gehalte" (S. 97). In welchem Sinne hier von Subjektivität un
„subjektiv" die Rede ist, nämlich als der unauflösbaren Korrelation vo
Welterfahren und seinem intentionalen Korrelat, der „Welt", braucht
nicht noch einmal betont zu werden.
In Anbetracht dieses spezifischen Interesses, von dem die phänomeno-
logische Reflexion geleitet ist und das von allen in natürlicher Einstellung
und Reflexion mitvollzogenen weltlichen Interessen grundsätzlich unter-
schieden ist, ergibt sich also die Möglichkeit, „einen weitesten Begriff eines
mit sich selbst gleichsam sympathisierenden oder nicht sympathisierenden,
vielmehr sich aller Sympathie mit sich selbst sich entschlagenden Re-
flexions -Ich zu konzipieren, und damit die Idee . . . eines ganz allgemein
unbeteiligten theoretischen Selbstbetrachters und Selbsterkenners" (S. 99).
Er etabliert sich, frei von allen weltlichen Interessen, als der „unbeteiligte
Zuschauer" dieses in die Interessen der Welt verflochtenen mundanen Ich.
Wenn Husserl sein Interesse als „theoretisches" bezeichnet, so ist damit
dieses Moment des Unbeteiligtseins, des nicht Mitsympathisierens mit den
mundanen Interessen gemeint. Das theoretische Thema des Ich der phäno-
menologischen Reflexion ist das Feld der reflektiven Erfahrung des Ablaufs
des mundanen Interessenspiels als eines „subjektiven" Spiels, das in der
universalen phänomenologischen Reflexion aufgedeckt wird. Ihr Interesse
„ist reines Interesse am subjektiven Sein" (S. 108), den „reinen Akterleb-
nissen". Sie definieren sich „als das, was in Erfahrung setzbar und jeder-
zeit setzbar und erkennbar ist, wenn ich als Reflektierender alles geradehin
Geltende außer Geltung setze" (S. 110). In einer Beilage (S.417) fügt
Husserl hinzu : „Vorher ist die transzendentale Subjektivität für sich selbst
absolut anonym - und nicht nur unbemerkt da, außerthematisch; und
offen, erfahrungsmäßig da, vorgegeben da ist nur Weltliches und darunter
das Ich als Ich-Mensch, als „Weltkind". Nach dieser Bemerkung wird man
also unterscheiden müssen die Latenz des mundanen Ich , das in der mun-
danen Reflexion patent werden kann und vorher schon, wenn auch unbe-
merkt und außerthematisch da ist, von der schlechthinnigen Anonymität
des transzendentalen Ich , die nicht einfach durch eine jederzeit mögliche
thematische Zuwendung aufgehoben werden kann. Das mundane Ich ist
jederzeit auch in der „geraden" Richtung auf seine Gegenstände „mit da"
in einer Weise, die freilich von Husserl nicht näher charakterisiert wird,
und kann in der Reflexion thematisch werden. Daher hat er auch den Aus-
druck „Selbstvergessenheit" für dieses Mitdasein in den der Latenz modi-
fiziert. Das transzendentale Ich zu entdecken, bedarf es eines besonderen
Entschlusses. Es ist der Entschluß des „anfangenden Philosophen" zu ab-
soluter Rechtfertigung und Verantwortung.

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155 Ludwig Landgrebe

In dieser Unterscheidung liegt aber die Prob


phänomenologischen Reflexion , in der die Be
transzendentalen Subjektivität als absolutem
Es ist zu fragen, ob sie tatsächlich imstande i
nehmen. Dafür ist von dem Problemzusamm
die Theorie der phänomenologischen Reflexion
Frage nach der besonderen, in keinen weltl
Motivation dieses Strebens nach Befreiung
mit den Interessen des mundanen Ich. Schon
auf hin, daß es kein Vorbild im natürlichen L
Es ist „eine ganz , unnatürliche4 Einstellun
Welt- und Selbstbetrachtung" (S. 121). Zwar
Leben, wenigstens soweit es von wissenscha
geleitet ist, schon ein Streben nach Begründu
heit und nach erkennender Begründung au
und seine Interessen bestimmenden Normen.
es eine für die jeweiligen Interessen als zureic
dung erlangt hat, und steigt nicht auf zur Fo
das ist universalen Begründung, Rechtfertigu
„universalen Kritik des Lebens". Der Entsc
motiviert. Er beruht vielmehr in einem Akt
in meiner Freiheit diesem natürlichen Mitglau
(S. 92). „Nur durch die freie Tat der Urteils
sich -Loslösens vom ursprünglichen Mitinte
stellung des unbeteiligten Betrachters Zustand
dere Motivation muß mich von dieser Sym
ergibt sich also die Frage „was kann hier
diese Frage bleibt im weiteren Text eigent
Beilage versucht Husserl freilich, eine sol
klar: ich werde dessen inne und vertiefe mich
Meinen über die Welt . . . aus meiner eigenen
Damit ist nicht bloß die erkenntnistheoretisc
zes des Bewußtseins" gemeint, sondern die
mir meine Welt mit den in ihr mich bestimm
ein schlechthin Gegebenes und Hinzunehme
mir nur gilt kraft meines Jasagens, meiner A
ich meine gegebene Welt nicht nur hinzunehm
gen Ja zu sagen habe, sondern daß ich sie so,
habe. Aber eine solche Einsicht ist nichts ander
ner selbst als eines freien, keinem mundanen
Zusammenhang schlechthin eingeordneten Ich

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Husserls Abschied vom Cartesianismus ļg7

deres ist das „ transzendentale Ich". Es ist das sittliche Ich , das Geric
über seine sämtlichen weltlichen Interessen hält .

Aber das freie Ich ist nicht schlechthin frei als Ich einer „Tathandlung": es ist
Subjekt absoluter Erfahrung und als das zunächst je meine Subjektivität, mein Be-
wußtsein. Es ist nicht wie in Hegels „Phänomenologie des Geistes" die Selbsterfah-
rung des absoluten Geistes, der auf dem Wege seiner Erfahrung erfährt, was er
schon an sich ôvvá ļiei war und damit vom Ansichsein zum Fürsichsein und An-
und-für-sich-Sein aufsteigt. Die Faktizität der absoluten Erfahrung des transzen-
dentalen Ego geht vielmehr jeder Möglichkeit voran, die als solche erst in ihm kon-
stituierte ist22, und daher ist die Interpretation der Absolutheit der absoluten Sub-
jektivität im Sinne des absoluten Idealismus ausgeschlossen. So verstanden wäre sie
keine Erfahrung vom „strömenden transzendentalen Leben" mit seinem unbestimmt
offenen Horizont von Erfahrung. In dieser Offenheit gründet die Möglichkeit seiner
Freiheit zur Verantwortung des Erfahrenen.

Offen bleibt allerdings, wie die Absolutheit der absoluten Subjektivität


positiv zu verstehen ist. Der Grund dafür, daß ihr Charakter von Husserl
in dieser Schwebe gelassen wird, läßt sich durch eine kritische Analyse sei-
ner Theorie der phänomenologischen Reflexion aufdecken. An sie muß
die Frage gestellt werden, wie dieses seiner Freiheit bewußte Ich vor der
Reduktion „gänzlich anonym" sein kann. Ist dieses sein Bewußtsein der
Freiheit nicht für die Möglichkeit des Entschlusses zur Reduktion bereits
vorausgesetzt? Der Entschluß zu absoluter Verantwortung und Rechtfer-
tigung kann nicht durch die Einsicht, daß die Welt für mich ist, was sie
ist, kraft meiner freien Stellungnahme, motiviert sein, sondern das Be-
wußtsein um die Notwendigkeit von Verantwortung und Rechtfertigung
ist die Voraussetzung dafür, überhaupt zu dieser Einsicht zu gelangen. Es
ist also nicht zufällig , daß alle Versuche Husserls , die Motivation zur phä-
nomenologischen Reduktion aufzudecken , von denen insbesondere auch
die Beilagen dieser Vorlesung Kunde geben, zu keinem befriedigenden
Resultat gelangen konnten. Seine Theorie der phänomenologischen Re-
flexion und die darin gründende These vom absoluten Sein der transzen-
dentalen Subjektivität hat ihm selbst den Weg zu der gesuchten Antwort
verstellt. Dies zeigt sich, wenn man fragt, warum Husserl dieses Gewicht
auf die absolute Anonymität der transzendentalen Subjektivität vor der
Entdeckung des Weges der Reduktion legen muß. Nur durch sie gewinnt
er nämlich das Kriterium der Unterscheidung der transzendentalen Sub-
jektivität als eines eigenen und zwar des absoluten Seinsbereiclis von der
mundanen Subjektivität, dem Menschen -Ich, das sich, wenn auch zumeist
latent, schon vor der phänomenologischen Reduktion als ein Ich weiß. Und
eben diese These der absoluten Anonymität hat ihre Grundlage in der

22 Vgl. oben S. 145.

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168 Ludwig Landgrebe

Theorie der phänomenologischen Reflexion.


ihr folgt.
Die Reflexion hat die zeitliche Struktur des „Nachgewahrens" ; das
reflektierende Ich richtet sich, um beim Beispiel des fortlaufenden äuße-
ren Wahrnehmens zu bleiben, auf das retentional noch lebendige Eben-
wahrgenommen- Haben und wird dabei seiner selbst gewahr als desselben ,
das soeben wahrgenommen hat und sich nun reflektiv auf dieses Wahr-
genommenhaben richtet. Es wird dabei seiner gewahr in der Identität sei-
nes Seins als einer solchen, die sich für sich selbst als zeitliche konstituiert,
als das Sichdurchhalten des Ich in seiner Verzeitlichung. Durch diesen
Gedanken wurde bereits der Schritt von der zunächst punktuell erschei-
nenden Evidenz des Ich-bin zum Ich-bin als dem „Erlebnisstrom" getan,
als das es in seinem erlebenden, weltkonstituierenden Leisten das Feld der
transzendentalen Erfahrung wird. Das „eigentlich Wahrgenommene in
dem strömenden Jetzt, auf dessen reinen Gehalt wir reduzieren, ist ein ab-
solutes Selbst" (S. 466), zu dem aber unabtrennbar der zeitliche Horizont
gehört, so daß „reines Ich sehr viel weiter reicht, als man zunächst in den
Griff bekommt" (S.477). „Die konkrete strömende Gegenwart , das Im-
manente als Fortwährendes und sich im strömenden Währen in wechseln-
dem Gehalt doch einheitlich Gebendes ... ist in seiner absoluten Origina-
lität gegeben als Währendes und sich so und so Entfaltendes" (S. 467). In
diesem Bewußtsein um seine Identität, die sich in seiner Zeitigung kon-
stituiert, ist das transzendentale Ich „absolut für sich selbst da" und das
einzige absolut für sich selbst Daseiende in dem „Sinn eines absoluten
Seins, das absolut sich darstellt" (aaO). Dieses sein Sichselbstdarstellen ist
grundsätzlich unterschieden von dem Sichdarstellen eines Dinges in der
Wahrnehmung im Wandel seiner Erscheinungsweisen, in dem diese Dar-
stellung seiner selbst immer präsumptiv ist und daher im weiteren Verlauf
der Wahrnehmung die Möglichkeit der Täuschung und damit der „Durch-
streichung", des Nichtseins offenläßt (S. 466). Im Gegensatz dazu ist das
„Erscheinen" des Ich als identischen in der Abfolge seiner Akte ein abso-
lutes Sichdarstellen, das heißt, ein Sichdarstellen seiner, das jede Möglich-
keit des Nichtseins ausschließt. In diesem Sinne ist es also zu verstehen,
wenn Husserl von der transzendentalen Subjektivität als einem absoluten
Seinsbereich spricht, der als solcher zum Feld der Deskription wird. Sie
legt nicht nur seine Leistungen der Konstitution von Dingen und ihrem
Horizont, der Welt, frei, sondern auch die „Leistungen" der Zeitigung,
durch die es sich als dieses in jedem Jetzt identische konstituiert.
Diese Selbstkonstitution des Ich , auf Grund dessen es das absolut für sich
Seiende ist, ist also dargestellt nach dem Grundmodell aller Konstitution ,
das für Husserl leitend ist: als Konstitution von gegenständlicher Einheit

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 159

durch die Mannigfaltigkeit seiner Gegebenheitsweisen hindurch. In


phänomenologischen Reflexion wird sich das transzendentale Ich the
tisch und das heißt gegenständlich in seiner sich durch alle seine Akte
ständig durchhaltenden Einheit, als das Ich, das auch in seinem nat
lichen, geradehin auf die Objekte gerichteten Weltleben - wenn auch zu
meist latent und seiner selbst „vergessen" - schon immer mit dabei
Diese Ständigkeit seines Mitdabeiseins wird es also sein, auf die die
von der Anonymität des transzendentalen Ich vor der phänomenologisc
Reflexion zu beziehen ist; denn vor ihr, in der natürlichen Reflexion w
sich das Ich immer nur gelegentlich und nur im Dienste beschränk
mundaner Interessen seines Mitdabeiseins bewußt. Durch die phänomeno
logische Reduktion und ihre Aufweisung der Ständigkeit des Mitda
seins wird dem Ich also sozusagen jede Möglichkeit einer Ausrede genom
men und es vor die Universalität seiner Verantwortlichkeit für all das
stellt, als was ihm seine Welt gilt.
So verstanden wird der Rede vom „unbeteiligten Zuschauen" des p
nomenologisch reflektierenden Ich jeder Beigeschmack einer müßig
„theoretischen" Neugier genommen, und es erweist sich diese Weise
universalen Reflexion als der Weg , auf dem die an das Ich gestellte For
rung einer „ radikalen Kritik des I^ebens" und seiner absoluten Selbstve
antwortung erst in ihrer Notwendigkeit begründet werden kann. Si
nur möglich durch die „Befreiung von der Weltkindschaft", durch „We
entsagung", d. h. durch Befreiung vom einfachen Hinnehmen und M
vollziehen aller gegebenen weltlichen Interessen, Rücksichten und
dungen. Die phänomenologische Reduktion bedeutet also den Akt, in dem
sich das Ich dieser seiner Freiheit zu absoluter Selbstverantwortung
wußt wird . Nur weil die phänomenologische Reflexion als unbeteili
Zuschauen diesen Sinn hat, nämlich sich seiner als des absoluten „V
zugs-Ich" bewußt zu werden, das Welt und Weltliches niemand einfach
Gegebenes hinnehmen darf, kann Husserl später in der „Krisis" sag
daß sie zu einer „völligen personalen Umwandlung" des Menschen führe
werde. Sie verliert damit den Anschein, nur einer beruhigten Befriedig
im Aufsuchen und Analysieren der unendlichen Fülle des Spieles sub
tiver intentionaler Leistungen zu diesen. Wenn Husserl immer wieder d
Augustinische „in te redi , in interiore homine habitat Veritas" zitiert,
kann er das mit Recht, weil dieser Weg der Besinnung dem gleichen Zie
dient.
Aber wie nun zu zeigen ist, wird dieser einfache Sachverhalt auf
anderen Seite wieder verschleiert, indem die durch die Reduktion a
gedeckte Ständigkeit des Mitdabeiseins des transzendentalen Ich in e
idealistisch klingenden Wendung als gegenständliches Feld absoluten Sei

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170 Ludwig Landgrebe

dargestellt wird. Dies ist eine Konsequenz a


Tatsache, daß für Husserl Sein prinzipiell be
ein darauf gerichtetes Vorstellen. Nur aus
Selbstkonstitution des Ich in seiner Zeitigun
nach seinem Grundmodell aller Konstitution
von gegenständlicher Einheit durch die Manni
heitsweisen hindurch. Das absolute Selbstdasein des transzendentalen Ich
kann daher nur bedeuten Dasein als sich in seiner durchhaltenden Einheit
bewährendes Objekt des reflektiv auf dieses Dasein gerichteten Ich. Die
Wahrheit seines absoluten Seins bedeutet also Sichbewährthaben und Be-
währenkönnen in Akten der Identifizierung. Sie ist nichts anderes als die
in der phänomenologischen Reflexion gegenständlich werdende Beständig-
keit seiner als des Vollziehers in allen von ihm vollzogenen Akten. Weil
also für Husserl Wahrheit prinzipiell bedeutet sich bewährende gegen-
ständliche Beständigkeit des Selbst das eins, kann er es als die Leistung der
phänomenologischen Reflexion ansehen , das vollziehende Ich in der zuvor
anonymen Beständigkeit seines Mitdabeiseins und konstituierenden Lei-
stens als einen Bereich absoluten Seins und damit als Feld deskriptiver
Analyse aufzudecken .
Aber ist diese absolute Subjektivität in ihrer Selbstzeitigung für sich
tatsächlich so da, daß sie in ihrem absoluten Fürsichselbstdasein Gegen-
stand reflektiv vorstellender Vergegenwärtigung werden kann? Geschieht
mittels der phänomenologischen Reduktion die universale Aufweisung der
Welt als eines Gebildes aus intentionalen Leistungen, die ich als Bildender
zu verantworten habe, geschieht also diese Befreiung des Ich zu seiner ab-
soluten Verantwortung durch die Freilegung einer Dimension absoluten
Seins als eines neuen Erfahrungsfeldes? Finden sich nicht vielmehr in
Husserls Analyse der zeitlichen Selbstkonstitution des Ich die Momente,
im Hinblick auf die dies fraglich werden müßte? Bereits in den Vorlesun-
gen über das Zeitbewußtsein (S. 63) ist festgestellt, daß die absolute Sub-
jektivität „absoluter Fluß" ist - in einem späten Manuskript spricht Hus-
serl vom „Heraklitischen Fluß" -, für dessen konstituierende Momente
„uns überhaupt die Namen fehlen", weil nämlich alle Namen nur Namen
sind für das im Fluß konstituierte weltlich objektivierte Seiende. In die-
sem Fluß ist also von gegenständlicher Beständigkeit nichts zu finden. Sie
wird erst aufgedeckt im „Nachgewahren" und auf Grund davon im reflek-
tiven Rückblick auf die im Fluß schon immer erfolgte Konstitution von
Einheit und Identität des Ich, das sich erinnernd in allen abgelaufenen
Phasen des „Erlebnisstromes" als dasselbe wiederfindet. Soll diese Bestän-
digkeit als eine solche eines absoluten Seins verstanden werden, so ist dabei
vorausgesetzt, daß das „Vollzugs -ich" völlig aufgeht in dem, was die nach-

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Husserls Abschied vom Cartesianismus '7 '

gewahrende vorstellend vergegenständlichende Reflexion auf seine schon


vollzogenen Leistungen und ihr Ergebnis als seine Einheit feststell
kann. Wenn dies richtig wäre, dann würde das Ich in seiner absolute
Identität sich nur aus seinem zunächst retentional festgehaltenen un
dann reflektiv in der Erinnerung zu vergegenständlichenden Gewesen -s
konstituieren. Es erfaßte sich nur als das bis jetzt schon gewesene. D
steht aber entgegen, daß zum Bewußtsein des Ich in seiner „lebendig
Gegenwart" als Konstituens seiner Identität nicht nur das retentio
Behaltene gehört, sondern auch die in das „künftig" weisenden Prätentio
nen , mit denen es sich dem sogleich zu Erwartenden und zu Erfahrende
entgegenrichtet und sich in diesem Sichrichten mit dem in der Reflexio
„nachgewahrten" Ich identisch weiß ; und eben in diesem protentiona
Gerichtetsein auf das „Künftige" und das „sogleich" gründet die Möglich
keit des Offenseins für neue Erfahrung und für faktische Verantwortun
dieser Erfahrung.
Es ist freilich kein Zufall, daß die Struktur der Protention in den Vor
lesungen über das Zeitbewußtsein nur ganz kurz behandelt wird 28. I
weiteres Bedenken hätte nämlich dazu geführt, die Lehre von der Selbst
konstitution des Ich aus seinem Gewesensein und der Gewinnung sein
gegenständlichen Identität als der eines beständigen Feldes absolute
Seins im „Nachgewahren" und im reflektiven Rückblick in Frage zu stel-
len. Die Husserlsche Lehre von der Identität des absoluten Ich kann also
nicht verständlich machen, wie diese immer im Rückblick auf schon voll-
zogene konstitutive Leistung bewußt werdende Identität des Ich eine
solche ist, in der es identisch ist mit dem gegenwärtig vollziehenden und
das heißt, in das „künftig" sich voraus erstreckenden24. Das Vollzugs-ich
in seiner Identität geht also nicht auf in dem, was die nachgewahrende,
vorstellend vergegenständlichende Reflexion als seine bereits erfolgten
Vollzüge feststellen kann. In dieser seiner sich wissenden Identität ist es
vielmehr für die Möglichkeit eines solchen nachgewahrenden und reflek-
tierenden Rückblicks bereits vorausgesetzt. Es muß also schon im Vollzuge
eine Art Wissen um sich haben, das freilich nicht aufgeht in dem Wissen,
das es in der Reflexion von seinem Vollzuge erlangt. Aus diesem Grunde
hat schon Scheler betont, daß das Wesen von Akten „nur im Vollzuge er-
lebt werden kann" und daß die Reflexion „verschieden ist von aller vor-
stellig machenden Haltung überhaupt"25. Das durch vergegenständlichende
Reflexion zu erlangende Wissen des Ich um sich selbst ist nämlich nur ein

23 Vgl. Vorlesungen zur Phän. d. Inn. Zeitbew. S. 410 f.


24 Auf diese Schwierigkeiten zielen auch die im Anhang zu den Cartesianischen
Meditationen abgedruckten kritischen Bemerkungen von Ingarden.
25 Formalismus II, GW. S. 46 u. 385.

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172 Ludwig Landgrebe

Wissen um das, was er bereits vollzogen hat,


tentionaler Richtung, in denen sich für es
stituiert. Das Ich erfährt sich auf diese Weise
bereits vollzogenen Leistungen, aber nicht
stungen. Seine eigene, beides übergreifende Id
für es werden, sondern ist jeder Objektivieru
durch die vergegenständlichende Reflexion n
immer mehr als das, als was es sich in solche
für sich selbst gegenständlich darstellend d
vorweg. Aber es hat vor aller Reflexion imm
tität, weswegen Sartre den Versuch machte
Cogito reflexiv zu unterscheiden. Die Identitä
selbst ist also niemals gegenständlich werden
griffen gegenständlich werdenden Seins zu b
das „dialektische" Verhältnis des Eins -seins -i
ist das transzendentale Ego, gemessen am
selbstdaseins als absoluten Sichselbstdarste
diese Anonymität kann durch keine verge
gehoben werden. Sie ist das, wodurch das Ich
wart vorweg ist, in welchem Vorwegsein es o
und Verantwortung dieser Erfahrung. Ab
des Ich kann Husserl auf Grund seiner Gleich
ständlicher Identität nicht in den Griff beko
des Zeitbewußtseins dazu bereits den Ansatz b
halb kann die transzendentale Subjektivität v
Reduktion zu erschließendes Seinsfeld dargest
Das Weiterdenken von Husserls Analysen
tution des Ich zwingt also zur Preisgabe d
Kantschen Kritik der Paralogismen der Seelen
dung der Kategorie der Substanz auf den
haben - und nichts anderes ist Husserls Begri
lich werdender Einheit. Weil also Husserl trotz aller Kritik an Descartes
doch ver st eckt ermaß en an dem Substanzbegriff der neuzeitlichen Meta-
physik festgehalten hat , bleibt seine Analyse des Selbstbewußtseins und
damit die Verabschiedung der Metaphysik auf halbem Wege stehen.
Es bestätigt sich damit die oben aufgestellte Behauptung, daß auf Grund
des leitenden Begriffs von wahrhaftem Sein als sich bewährender vorstel-
lig zu machender gegenständlicher Identität das unter dem Titel der tran-
szendentalen Subjektivität und ihrer Absolutheit rechtmäßig Gesehene so
26 Vgl dazu vom Vf. Das Problem der Dialektik in „Marxismusstudien" Bd. III,
1960, S. 1 ff.

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 175

verschleiert wird, daß Husserl zu keiner eindeutigen Bestimmun


Begriffe gelangen konnte. Denn auf Grund dieses Begriffs von Wah
muß die transzendentale Subjektivität als Boden absoluter Begr
und Rechtfertigung Boden eines absoluten Seins sein, und die Theor
phänomenologischen Reflexion soll dies bestätigen. Aber als freie Su
tivität ist sie gerade dieses nicht - und nur eine solche kann in
Motiv für absolute Selbstverantwortung finden und sich auf den W
reduktiven Aufhebung ihrer „Anonymität" machen. Daher kann
auch keine zureichende Antwort auf die Frage nach dem Motiv zur
kalen Kritik des Lebens" finden; denn dieses „Motiv" ist nichts and
ihre Freiheit als Offenheit für absolute Erfahrung, und gerade sie
ihre Subsumtion unter einen Begriff von Sein als beständiger Gegen
lichkeit aus. Darum schillert der Begriff der absoluten Subjektivitä
schen dem eines freien und in seinem Sichvorwegsein für absolute
rung und Verantwortung offenen Ich und dem idealistischen Begri
absoluten Seins, das in der interesselosen theoretischen Betrachtung
selbst sich dieses Seins vergewissert. Die Frage nach dem Motiv des
bens nach absoluter Rechtfertigung und der Reduktion als de
dieser Rechtfertigung ist nicht zu beantworten, wenn das sich vera
tende und rechtfertigende Ich als ein absoluter Seinsboden dargeste
Die in den Beilagen veröffentlichten selbstkritischen Bemerkungen Hus
gen, daß er selbst immer neue Schwierigkeiten an diesem Punkte findet.
daß es ihm nicht gelingt, den Zusammenhang zwischen dem „theoretisch"
Begründung der Erkenntnis gerichteten Ich und dem „praktischen", dem
sittlichen Ich in befriedigender Weise herzustellen, obzwar seine Bemühu
diese Richtung zielen. Ein Hinweis auf diese Lücke ist es auch, daß das Ph
des Gewissens als einer „reflektiven Gemütsstellungnahme" zwar unter d
der Reflexion erwähnt (S. 103), aber merkwürdigerweise gar nicht in Ve
gebracht wird mit der Frage nach dem Motiv des Rechtfertigungsstrebens, v
das Verfahren der Reduktion geleitet ist.

Weil Husserl also nicht zum letzten Grunde der absoluten Selbstge
heit des Ich vordringen kann als einem solchen, der sich nicht eine
gegenständlichenden Reflexion erschließt, bleibt nicht nur der Begr
transzendentalen Subjektivität in jener Schwebe, sondern auch a
ren „operativen Begriffe", wie „Konstitution", „Leistung", „transze
tales Leben", mit denen das Wesen der transzendentalen Subjektivit
gelegt werden soll.
V

Es kann nur noch kurz das Ergebnis dieser kritischen Analyse angedeu-
tet werden. Es hat sich in ihr gezeigt, daß Husserls Terminus der „ trans-
zendentalen Subjektivität" nicht eindeutig ist, sondern daß zweierlei in
ihm unterschieden werden muß :

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174 Ludwig Landgrebe

1 . das Subjekt als freies und zu seiner Ver


welchen Anruf es in seiner Innerlichkeit als eines Selbst erfährt. In die-
sem Sinne ist die transzendentale Subjektivität, das Subjektsein des Sub-
jektes, mit Kant zu sprechen der „intelligible Charakter" des Menschen.
Als solche ist sie aber nicht reflektiv zu vergegenständlichen und kein
„Feld" der Deskription.
2. jene im alten Sinne gar nicht mehr als „Subjektivität" zu bezeich-
nende (vgl. oben S. 161) unaufhebbare Korrelation von weltkonstituieren-
dem Leisten und dem in ihr Geleisteten . Sie darzustellen ist tatsächlich
die große Aufgabe der phänomenologischen Analyse mittels der Methode
der Reduktion, und sie hat hierin ihr „Feld". Wenn sie zu dem Ergebnis
führt, daß dieses Leisten das Wesen des transzendentalen „Lebens" als
Lebens einer transzendentalen Wir- Gemeinschaft, des „transzendentalen
Ich-alls" ist, so ist damit gesagt, daß dies, was wir „Welt" nennen, nichts
anderes ist als die Interpretation eines Erfahrenen, von dem „an sich",
ohne diese Korrelation zu erfahrendem vergemeinschaftetem Bewußtsein
überhaupt nichts gesagt werden kann. In dieser Hinsicht nennt Husserl
die Phänomenologie zu Recht transzendentale Phänomenologie, und zwar
„transzendental" im Kantischen kritischen Sinne, wenn sie auch nach
Methode und Umfang ihrer Thematik von Kants Transzendentalphiloso-
phie unterschieden ist. „Welt" ist danach das in der Geschichte des Men-
schen sich ständig wandelnde Ergebnis der Konstitution als einer Inter-
pretation, Auslegung eines vor dieser Auslegung und ohne sie Namenlosen
und Unaussprechlichen. Aber wenn man versucht, dieses Spiel der Korre-
lation von schon immer in Auslegung gebildeter Welt und konstitutiver
Weltbildung als „Walten" der Welt selbst zum Absolutum zu erheben27,
so geht in solchem Verständnis ihres Waltens, wie uns scheinen will, ver-
loren, daß sie in diesem Walten nichts anderes ist als der Spielraum, der
Horizont der Stellungnahmen der transzendentalen Subjektivität im erst-
genannten Sinne, als einer freien und damit offenen für fortschreitende,
von ihr zu verantwortende geschichtliche Erfahrung. Das Dasein der tran-
szendentalen Subjektivität in jenem ersten Sinne sprengt die Immanenz
eines in sich geschlossenen Waltens der Welt. Die Erfahrung der absoluten
Subjektivität als einer freien ist nämlich nicht nur die in ihrem Stellung -
nehmen zu verantwortende Erfahrung von Welt und Weltlichem, sondern
zugleich absolute Gewißheit ihrer selbst als freier und zu absoluter Ver-
antwortung aufgerufener, in welcher Gewißheit sie ihren Bezug zum
„Absoluten" im eigentlichen (Hegeischen) Sinne erfährt, d. h. zur Quelle

27 Vgl. dazu E. Fink , Sein , Wahrheit , Welt. Phaenomenologica Bd. I (Rezension in


Phil. Rdsch. XXX, Anm. d. Red.) Haag, 1958.

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Husserls Abschied vom Cartesianismus 175

der Möglichkeit ihrer von allen weltlichen Interessen und Beding


freien Verantwortung; und daher kann die Welt in ihrem Walte
das Absolute sein. Diese in der absoluten Selbstgewißheit des frei
jektes eingeschlossene Gewißheit von ihrem Grunde, die ebenso
Gewißheit ihrer Freiheit in der Reflexion nicht vergegenständlic
unter Begriffe gegenständlichen Seins gebracht werden kann, ist als
wißheit von einer Transzendenz im Sinne von Nicht -weltlichem, die
aber nicht als getrenntes Objekt gegenübersteht, sondern sich in
einer freien Subjektivität bekundet. In diesem Sinne also ist die tran
dentale Subjektivität als das seiner Freiheit bewußte Subjekt nich
das Absolute , sondern der Ort seiner Erfahrung - wobei von Erf
selbstverständlich in einem grundsätzlich anderen Sinne gesproc
als dem der Erfahrung von Weltlichem und von Welt, was im Ei
steht mit Husserls Forderung, daß jede Transzendenz, wenn sie nicht
leerer Gedanke sein soll, die ihr angemessene Art der Ausweisun
kundung im Bewußtsein haben muß.
Die Subjektivität ist in ihrer „Anonymität" als freie vor aller Refl
schon immer ihrer selbst absolut gewiß. Weil Husserl aber glaub
das „Vollzugs-ich", das „Ich der Stellungnahmen" in seiner Freihe
los in den Griff der „nachgewahrenden", vergegenständlichende
flexion gebracht werden könne, hat er dieses unmittelbare Ihrer- se
Innesein als den Grund der Möglichkeit sowohl von Reflexion w
Verantwortung nicht aufdecken können. Es ist zwar unter dem Tite
„Untergrundes der Intentionalität" von Husserl irgendwie gesehe
der Versuch, diesen „Untergrund" in seinem Verhältnis zur exp
Subjektives thematisierenden Reflexion näher zu bestimmen, führt
lich zu der schwer verständlichen Behauptung, daß das Ich, solange e
nerlei Reflexionsakte vollzieht, nicht einmal seiner Subjektivitä
. . . bewußt ist28, weil eben der Begriff des „Bewußtseins" von vorn
orientiert ist an dem vergegenständlichenden, etwas zum intent
Objekt machenden Bewußtsein.
Es kann hier nicht mehr ausgeführt werden, wie diese Revisio
Begriffs der absoluten Subjektivität zu einer Präzisierung des Sinnes
der weiteren, sie auslegenden operativen Grundbegriffe Husserls die
lichkeit gibt. Auch bedürfte es einer eigenen Abhandlung, zu zeigen
dieses unmittelbare vorreflektive „Wissen" um sich selbst nicht das
„reinen" Subjektivität ist, deren Reinheit eben die des universale

28 Diese Stelle findet sich in dem für diese Problematik sehr wichtigen Abs
„ Natürliche und transzendentale Reflexion und der Untergrund der lntention
der Kant-Abhandlung (VII, 259 ff., insbes. 266).

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176 Ludwig Landgrebe

retischen reflektiven Zuschauens und Verg


wie es den Grund seiner Möglichkeit gerade i
zu ihre Leiblichkeit gehört, so daß Leiblichke
tes, wenn auch ausgezeichnetes „Ding" ist -
ständlichen Reflexion erscheint -, sondern in
sie erfahren ist (vgl. S. 61), selbst zu den Kon
in seiner Freiheit, in seinem Können sich b
ergibt sich daraus zugleich die Revision vo
Analysen der Konstitution des „Anderen" 2
Sinnes der Unterscheidung von transzendenta
jektivität.
Diese hat, wie schon angedeutet, ihre bleibende Bedeutung in der Kritik
•des modernen „Anthropologismus" . Aber der mit ihr gemeinte Unterschied
kann nicht mehr als der von zwei Seinsbereichen erfahrender Deskription
und darauf zu gründender Eidetik gedeutet werden, wodurch das Problem
der Parallelität psychologischer und phänomenologischer Analyse weg-
fällt, mit dem Husserl unablässig gerungen hatte. Bestehen bleibt der Un-
terschied zwischen der „transzendentalen Subjektivität" im erstgenannten
Sinne als der Dimension „absoluter" und das heißt letztbegründender Er-
fahrung, die aber kein „Feld" von vergegenständlichender Deskription
und Eidetik ist, und auf der anderen Seite die „transzendentale Subjek-
tivität" als jene unauf hebliche Korrelation von konstitutiver Weltbildung
als dem Prozeß der fortschreitenden Geschichte und der jeweils schon kon-
stituierten Welt als dem Horizont ihres Fortschreitens. Sie ist tatsächlich
•das Feld phänomenologischer Erfahrung, aber einer Erfahrung, in die alle
Ergebnisse psychologischer und anthropologischer empirischer Forschung
immer mit eingehen. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß die methodi-
sche Begründung dieser Möglichkeit, daß Empirisches den Zugang zu
„absoluten Erfahrungen" vermitteln kann, zu einer Revision der Unter-
scheidung von „empirisch" und „apriori" Anlaß geben wird, deren Cha-
rakter als einer erschöpfenden Alternative auch bereits von anderer Seite
her in der Grundlagenforschung der Logik fraglich geworden ist.
All dies sei hier nur als Andeutung und als Hinweis darauf gesagt, wie
•dieser in seiner eigenen Absicht gescheiterte Entwurf der „Ersten Philo-
sophie" gerade in seinem Scheitern nicht ein Ende, sondern einen Anfang,
•die Eröffnung der ganzen Fülle von Problemen bedeutet, die nicht nur das
Verständnis des Husserlschen Werkes und seiner Einheit betreffen, son-
29 Vgl. zu ihren Problemen A. Schütz , Das Problem der transzendentalen lnter-
subjektivität bei Husserl , Phil. Rdsch. V/1957, S. 81 ff. und Dieter Sinn , Die tran-
szendentale Intersubjektivität mit ihren Seinshorizonten bei E. Husserl , Diss. Heidel-
berg 1958.

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Robert Heiss , Allgemeine Tiefenpsychologie 177

dem den Horizont der Fragen, die sich nach dem Ausgang der neuzeit-
lichen Metaphysik als unabweisliche mit der Aussicht auf einen Weg
ihrer Beantwortung stellen.
Ludwig Landgrebe (Köln)

Robert Heiss: Allgemeine Tiefenpsychologie. Methoden , Probleme und Ergebnisse .


Bern 1956. Verlag Hans Huber. 371 Seiten.

Heiss versucht in diesem Buch einer »tiefenpsychologischen Systematik"


nachzugehen und dadurch eine „Versöhnung" zwischen der von ihm als
„Bewußtseinspsychologie" charakterisierten „akademischen" Psychologie
und der Tiefenpsychologie herbeizuführen.
Das wissenschaftliche Grundgerüst der Tiefenpsychologie sieht Heiss in
drei „Grundaspekten" gegeben, von denen sich der erste auf Begriff und
Bedeutung des Unbewußten bezieht, der zweite auf die „dynamische" Na-
tur von Persönlichkeit und seelischem Geschehen, der dritte auf die inte-
grative Einheit von Bewußtem und Unbewußtem in der menschlichen
Persönlichkeit. Dieses „Grundgerüst" darzustellen und zu interpretieren,
ist das „eigentliche Anliegen" des Buches. Dabei sollen weder „Abweichun-
gen" noch „Ungesichertes" berücksichtigt werden. Infolgedessen schließt
sich die Argumentation fast stets an Freud, sporadisch an Jung, selten an
Adler, und so gut wie nicht an irgendeinen der neueren „Nachfolger"
oder Interpreten von Freud an.
Das „Neue" des Begriffes des „Unbewußten" bei Freud erblickt Heiss
in der „dynamischen" Konzeption dieses Terminus, die von einer „topi-
schen" abgerückt wird: dabei wird auf die Theorie des verdrängten Un-
bewußten von Freud Bezug genommen, die dieser ja selbst (in seiner
Selbstdarstellung) als den Schlüssel zu seiner Lehre bezeichnete. Das Un-
bewußte als „Verdrängt-Unbewußtes" ist - einer Formulierung von Heiss
zufolge - ein „dynamischer Hintergänger des Bewußtseins". Es ist vom
Bewußtsein entfernt und wirkt doch auf dieses. Die Bedeutung der Ent-
deckung dieser Funktionseinheit des Verdrängt -Unbewußten werde auch
durch die üblichen Einwände theoretischer oder moralisch -ethischer Natur
nicht widerlegt. Dagegen habe die inner-tiefenpsychologische Diskussion
um diese Freudsche Konzeption zu einer neuen Fassung des Begriffs des
Unbewußten geführt, wonach dieses nur als „Rahmenbegriff" für eine
Reihe von „tiefenseelischen Phaenomenen" erscheint. Als Hinweis auf
das Unbewußte in diesem Sinne werden die tiefenseelischen Erscheinun-

12 Philosophische Rundschau 9. Heft 2/3

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